Im Exil in Schweden: Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren 3854764251, 9783854764250

EXIL IN SCHWEDEN: VON MENSCHLICHKEIT UND MISSTRAUEN Schweden wurde zur Zuflucht für ca. 700 bis 1000 ExilantInnen aus Ös

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German Pages 304 [307] Year 2013

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Im Exil in Schweden: Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren
 3854764251, 9783854764250

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mandelbaum verlag

Exilforschung heute Buchreihe der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge), hg. von Fritz Hausjell/Konstantin Kaiser/Sandra Wiesinger-Stock Band 3

Für Siglinde Bolbecher, Peter Kreisky und Tomas Böhm

IM EXIL IN SCHWEDEN Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren Herausgegeben von Irene Nawrocka unter Mitarbeit von Simon Usaty

mandelbaum verlag

Gedruckt mit Unterstützung von: Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Zukunftsfonds der Republik Österreich Kulturamt der Stadt Wien, Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung Schwedische Botschaft/Sveriges Ambassaden, Wien

Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. Sollten darüber hinaus Ansprüche bestehen, bitten wir um Benachrichtigung. © mandelbaum verlag wien 2013 alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-85476-425-0 Bildredaktion: Simon Usaty Satz & Umschlaggestaltung: Michael Baiculescu Umschlagbild: Das Flüchtlingslager in Tostarp, Anfang der 1940er Jahre Druck: Primerate, Budapest

Inhalt

GRUSSWORTE Margit Fischer

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Nils Daag

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Hans Lundborg

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Ulrike Tilly

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Irene Nawrocka Vorwort

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ÖSTERREICHISCHES EXIL IN SCHWEDEN Klas Åmark Schwedens Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich 1938 – 1945

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Helmut Müssener 46 »Warum redeten wir so wenig über die zurückliegende Zeit?« (Otto Binder). Österreicher im schwedischen Exil. Flucht, Aufnahme, Aufgabe, Probleme, Leistung Oliver Rathkolb Otto Binder – Eine Persönlichkeit aus einer anderen Zeit

67

Siglinde Bolbecher Anni und Otto Binder: Widerstand – Illegalität – Inhaftierung – Exil. Vom Exilland Kolumbien zum Exilland Schweden

77

Henrik Rosengren Im Schatten von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg – Maxim Stempel und Hans Holewa im schwedischen Exil

90

Simon Usaty Namentliche Erfassung österreichischer ExilantInnen in Schweden. Ein Projektbericht

110

Thomas Pammer Die Schwedische Israelmission und ihre Kindertransporte

137

Irene Nawrocka Deutschsprachige Exilautoren und der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm WIDERSTAND – HAFT – EXIL – RÜCKKEHR Otto Binder Was Schweden für mich bedeutet hat und heute noch bedeutet

149

170

Peter Kreisky Stockholm – Wien: Spuren der Erinnerung

178

Otto Heinz Ein kurzer Bericht über eine lange Reise

187

Tomas Böhm Aus den Aufzeichnungen meines Vaters Paul Böhm

194

Lutz Popper (Vertreibung – Exil –) Rückkehr

204

Tanja Schult Leben und Nachwirken Raoul Wallenbergs

217

Walter Heller Von Raoul Wallenberg gerettet

227

GENERATIONEN DES EXILS Helena Lanzer-Sillén Aus meinem Leben

236

Miguel Friedmann (M)Eine Kindheit in Schweden. Ein Exil-Zeugnis

250

Hellmut Weiss Ein »Mischling« im Exil und Leben

264

Lennart Weiss Ein Schwede mit österreichischen Wurzeln

271

ANHANG Zeittafel Österreichische Exilantinnen und Exilanten in Schweden AutorInnen Abbildungsnachweis Namensregister

280 288 295 301 302

Grußworte

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Margit Fischer

Als ich die Einladung erhielt, ein Vorwort zur Publikation »Im Exil in Schweden« zu verfassen, habe ich gerne zugesagt. Der Tagungsband fußt auf der Tagung »Exil in Schweden«, die im Juni 2010 zum 100. Geburtstag von Otto Binder, meinem Vater, abgehalten wurde. Eingeladen waren auch Freunde und Kinder von Weggefährten, deren Beiträge in diesem Band ebenfalls veröffentlicht werden. Ich bin dankbar, dass mein Vater in diesem Buch mit einem Beitrag zu Wort kommt, den er im Jahr 1988 verfasst hat. Ich bin auch sehr froh, dass er sich nach einem gemeinsamen Schwedenurlaub im Jahr 1991 entschlossen hat – als er realisierte, dass er über die Erlebnisse nicht erzählen konnte, weil ihn die Erinnerungen immer aufs Neue sprachlos machten – seine Erinnerungen in einem Buch für seine Nachkommen niederzuschreiben.1 Dies ist sein zutiefst persönliches Zeugnis. Zeugnis seines in dieser schweren Zeit geformten Wesens sind auch Berichte von ehemaligen Mitarbeitern der Wiener Städtischen, die von ihren Begegnungen mit Otto Binder berichten – und für mich immer wieder Momente der Freude und des Stolzes bedeuten. Heute denke ich oft darüber nach, warum ich dies oder jenes aus dem Leben meines Vaters nicht nachgefragt habe – aber ich hatte Hemmungen. Und ich denke mir heute oft, das hätte Otto interessiert, oder schade, dass er dies nicht mehr erleben durfte. Interessanterweise habe ich gerade in letzter Zeit Bücher gelesen, die mein Verständnis für meinen Vater und meine Mutter wesentlich verbessert haben.2

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8

Otto Binder: Wien – retour: Bericht an die Nachkommen. Wien – Köln – Weimar: Böhlau Verlag 1997. Alle im Folgenden genannten Bücher beschreiben ein Umfeld, wie Anni und Otto es als Emigranten erlebt haben oder das sie erfolgreich bewältigt haben, z. B. Göran Rosenberg: Ett kort uppehåll på vägen från Auschwitz. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2012 (Deutsche Übersetzung: Ein kurzer Aufenthalt. Berlin: Rowohlt 2013).

Otto hat immer betont, dass er das KZ nicht überlebt hätte, wenn Anni, meine Mutter, nicht auf ihn gewartet hätte. Anni war ihm, aber auch den Freundinnen und Freunden in Schweden eine große Stütze. Sie war eine einfache junge Frau aus Saalfelden ohne Berufsausbildung, Küchenhilfe auf verschiedenen Schutzhütten in Salzburg, nur mit der Erfahrung eines halbjährigen Berlinaufenthaltes. Aber sie hat alles unternommen, um ihrem Partner Rückhalt zu geben und der jungen Familie eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen.3 Sie war der ruhende Pol während der Emigration und auch das Fundament seiner erfolgreichen Rückkehr nach Wien. Meine Eltern hatten Glück: Sie landeten in Stockholm, trafen schon am ersten Tag ihres Aufenthaltes Freunde, wurden von Schweden verständnisvoll und freundschaftlich aufgenommen und bekamen die Chance, eine neue Existenz aufzubauen. Ich möchte an dieser Stelle, stellvertretend für alle, einiger Wegbegleiter meiner Eltern gedenken – auch wenn sie heute nicht mehr unter uns sind: Axel Granath, Botschafter Lennart Nylander und seiner Frau, Gerda Gustavsson, Nils Blomberg, Seved Apelquist. Meine Eltern haben ihren Aufenthalt in Schweden immer als eine Bereicherung ihrer Persönlichkeit betrachtet. Sie haben vieles, ob Lebensstil, Wohnstil, Offenheit für Flüchtlinge und sozial Benachteiligte, ob Frauenfragen und Förderung von Kindern etc. mitgenommen und auch an die nächsten Generationen weitergegeben. Ich werde Schweden immer dankbar sein, dass es meine Eltern 1939 aufgenommen und ihnen auch eine erfolgreiche Rückkehr4 in die Heimat ermöglicht hat.

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Dagmar Fenninger: Jetzt, wo sie fortgeht. Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2013. Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Salzburg – Wien: Jung und Jung 2010. Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Salzburg – Wien: Jung und Jung 2008.

9

Nils Daag Schwedens Botschafter in Österreich seit 2011

Historisch gesehen hat sich Schweden von einem Auswanderungsland in ein Einwanderungsland entwickelt. Vor allem seit den 1950er Jahren hat Schweden viele Einwanderer aufgenommen. Die ersten Migranten-Generationen unterschiedlicher Herkunft sind zu einem Teil unserer Gesellschaft verschmolzen. In der Vergangenheit gab es sukzessive Einwanderungswellen. Während des Zweiten Weltkrieges galt das neutrale Land Schweden als Zufluchtsort für Flüchtlinge, darunter viele Intellektuelle, die aus ihrem Heimatland vertrieben wurden oder der vorherrschenden Politik in ihrer Heimat den Rücken kehren wollten. Die gelungene Einwanderungspolitik der 1950er Jahre war geprägt vom Zuwachs an Arbeitskräften. Eine neue Einwanderungswelle ab den 1970er Jahren hat vor allem politische Flüchtlinge nach Schweden gebracht, vielfach aus Lateinamerika, Afrika und dem Nahen Osten. Statistiken zeigen, dass Schweden unter den europäischen Ländern die meisten Flüchtlinge aufnimmt. In letzter Zeit hat es über die schwedische Einwanderungspolitik umfassende Diskussionen gegeben und es gibt Probleme bei der Integration. Fremdenfeindlichkeit hat sich in der Bevölkerung eingeschlichen. Beispiel dafür ist die Partei Sverigedemokraterna im schwedischen Parlament. In Schweden ist man in folgenden Punkten weitgehend gleicher Meinung: Schweden braucht die Arbeitskrafteinwanderung und eine EU-weite gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik wäre erstrebenswert.

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Hans Lundborg Schwedens Botschafter in Österreich 2005 – 2011

In Stockholm wurden sie Wien-pojkarna (Wien-Buben) genannt. Sie waren Kinder von Flüchtlingen aus Wien Ende der 1930er Jahre. Ein alter Freund von mir, Tomas Böhm, war einer von ihnen und er war auch Teilnehmer am Seminar »Exil in Schweden«. Das Seminar, welches am 17. und 18. Juni 2010 in der Schwedischen Residenz abgehalten wurde, war eine Kooperation zwischen der Schwedischen Botschaft und der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. Die treibende Kraft hinter dem Zustandekommen des Seminars war ein Tagungsteam, dem Siglinde Bolbecher, Miguel Friedmann, Fritz Hausjell, Irene Nawrocka, Lutz Popper, Simon Usaty und Sandra Wiesinger-Stock angehörten. Die österreichischen Exilflüchtlinge in Schweden hielten zusammen. Sie waren Juden und/oder Sozialdemokraten. Es handelte sich um bis zu 1.000 Personen, die in den 1930er Jahren von Österreich nach Schweden kamen. Sie bildeten Netzwerke und konnten einander gegenseitig unterstützen. Nach dem Krieg wollte ein Teil nach Österreich zurückkehren, während andere sich entschlossen, in Schweden zu bleiben. Nach dem Krieg war die humanitäre Hilfe für Österreich umfassend. Mehrere ehrenamtliche und kirchliche Organisationen boten vielseitige Hilfe an. Das Seminar ermöglichte uns, an eine schwierige Zeit erinnert zu werden, gleichzeitig sprechen wir aber auch von einer Zeit der Freundschaft und Solidarität. Das Seminar gab uns auch die Gelegenheit, in die Zukunft zu blicken. Wie nehmen wir heutige Flüchtlinge auf und helfen ihnen? Wie können wir von unserer Geschichte lernen, um die Zukunft besser zu gestalten? Wir wurden auch an große Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky und Otto Binder und seine Tochter Margit Fischer erinnert. Persönlichkeiten, die eine bedeutende Rolle spielten in der Verknüpfung zwischen Schweden und Österreich. Von der fruchtbaren und konstruktiven Zusammenarbeit können wir noch heute die Früchte ernten. 11

Ulrike Tilly Österreichische Botschafterin in Schweden 2010 – 2013

Schweden zeichnet sich traditionell durch vorbildliches und umfangreiches humanitäres Engagement aus und gestaltet seit vielen Jahren führend den internationalen Standard für die Aufnahme politisch sowie rassistisch verfolgter Personen mit. Die menschliche Großzügigkeit Schwedens gegenüber Österreich reicht in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Sie wird, wie auch die Unterstützung in den Jahren nach 1945, in dankbarer Erinnerung behalten und ist durch topographische Benennung – ein prägnantes Beispiel ist der Schwedenplatz im Zentrum von Wien – immer noch sehr präsent. Zahlreichen Österreichern wurde in Schweden nicht nur temporäre Aufnahme gewährt, sondern in vielen Fällen eine neue Heimat geboten. Unter den Exilanten finden sich, um nur einige zu nennen, Bruno Kreisky und Otto Binder ebenso wie Lise Meitner, Josef Frank oder Harry Schein. Viele jener Persönlichkeiten, die nach Österreich zurückgekehrt sind, haben aus Schweden entscheidende Erfahrungen mitgenommen, welche in Österreich zur Anwendung kamen und das politische Leben über Jahrzehnte mitbestimmt haben. Umgekehrt haben auch Österreicher in Schweden Spuren hinterlassen, die bis heute lebendig sind und sich großer Aktualität erfreuen, sei dies nun in der Welt des Designs, des Films oder in Forschung und Wissenschaft. Der Beitrag der vorliegenden Publikation zur österreichischen Exilforschung und zur schwedischen Geschichtsforschung kann nicht hoch genug geschätzt werden, und ich würde mir wünschen, dass sie Referenz und Anregung für weitere Untersuchungen zu diesem Thema sein möge.

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Irene Nawrocka

Vorwort

Von den ca. 135.000 Österreicherinnen und Österreichern, die ab 1938 aus Österreich bzw. ab 1939 aus der »Ostmark«1 flüchteten, gelangte nur ein sehr geringer Prozentsatz nach Schweden. Das lag einerseits an der geografischen sowie politischen Lage, in der sich das skandinavische Land in der angespannten Situation Europas befand, andererseits an der Art und Weise, wie die Flüchtenden dort aufgenommen wurden. Schweden agierte mit einer zweigeteilten Flüchtlingspolitik: Sozialdemokratische Flüchtlinge – jedoch nicht Kommunisten – nahm man bereitwillig auf. Als Juden Verfolgte hingegen wurden nicht als Flüchtlinge anerkannt und man verwehrte ihnen den Asylstatus. Um jüdische Flüchtlinge als solche zu erkennen, drängte man dem Deutschen Reich gegenüber auf eine Markierung in ihren Pässen. Auf den Druck Schwedens und der Schweiz hin führten die deutschen Behörden schließlich im Oktober 1938 den roten J-Stempel in den Pässen ein, sodass man jüdische Flüchtlinge bereits an der Grenze abweisen konnte.

Schweden als Exilland War Schweden um die Jahrhundertwende wegen der herrschenden Hungersnot selbst noch ein Auswanderungsland, wandelte es sich in den 1930er und 1940er Jahren zu einem Einwanderungsland, das es bis heute geblieben ist. Schweden, in dem gegenwärtig 9,5 Millionen Menschen leben, war im Ersten Weltkrieg neutral gewesen und strebte während des Zweiten Weltkrieges nach einer wirtschaftspolitischen Balance zwischen Deutschland und den Alliierten. Anfang der 1930er Jahre hatte Schweden an die 6,1 Millionen Einwohner und war ein wichtiger Lieferant von Rohstoffen, vor allem Eisenerz und Holz, sowie Lebensmitteln. Die Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren jedoch von wirtschaftlichen Problemen und den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise geprägt. Es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit mit einer damit einhergehenden Armut. Gleichzeitig nahm die industrielle Produktion ab. Im März 1932 erreichte die Arbeitslosigkeit

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Nach dem »Anschluss« wurde Österreich rechtlich dem Deutschen Reich eingegliedert und 1939 aufgelöst. Vgl. Gustav Spann: Österreich 1938 – 1945. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 630.

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mit 187.000 Betroffenen ihren bis dahin höchsten Stand in der Geschichte des Landes.2 Als nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 Flüchtlingsströme auch das skandinavische Land im Norden erreichten, reagierte man mit abwehrenden Maßnahmen. Im Mai 1938 führte Schweden für Inhaber österreichischer Pässe die Visumspflicht ein und im September 1939 für sämtliche deutsche Staatsbürger, nachdem die österreichischen Reisepässe gegen deutsche ausgetauscht worden waren. Rund 5.000 – 6.000 Personen aus dem Deutschen Reich gelangten nach Schweden3, wobei man Flüchtlinge, die beabsichtigten, in absehbarer Zeit weiterzureisen, bevorzugte. Dies galt auch für Kinder, die ab Februar 1939 ohne Eltern mit einem Kindertransport ins Land kamen. Voraussetzungen für die Einwanderung und die Asylbewilligung waren eine Garantie für die finanzielle Absicherung sowie der Nachweis von in Schweden lebenden Verwandten, die für den jeweiligen Flüchtling oder die Flüchtlingsfamilie bürgten. Im Oktober 1941 schloss das Deutsche Reich seine Grenzen und für jüdische Bürger war nun keine legale Ausreise mehr möglich. Die Nationalsozialisten hatten die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen. In der zweiten Kriegshälfte wendete sich Schwedens Haltung und es verstärkte seine Bemühungen, möglichst viele jüdische Opfer des deutschen Terrorregimes zu retten. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens am 9. April 1940 flohen dort lebende Juden über die Grenze nach Schweden. Nachdem die Deutschen in Dänemark den Ausnahmezustand verhängt hatten, flüchteten im Oktober 1943 rund 7.000 dänische Juden mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung über den Öresund.4 Im Juli 1944 sandte Schweden den Diplomaten Raoul Wallenberg nach Budapest, um mit schwedischen Schutzpässen Juden vor der Deportation zu retten.5 Auch andere Flüchtlingsströme erreichten Schweden. An die 30.000 Menschen flüchteten nach der sowjetischen Besetzung der baltischen Staaten im Sommer 1944 nach Schweden. Nach dem Waffenstillstand zwischen Finnland und der Sowjetunion im September 1944 kamen 48.000 finnische

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Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974, S. 52. Vgl. Einhart Lorenz: Schweden. In: Claus-Dieter Krohn (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 372. Helmut Müssener geht von bis zu 5.500 deutschsprachigen Flüchtlingen aus, die zwischen 1933 und 1943 nach Schweden gelangten. Dies schließt auch jene mit ein, die aus Norwegen, Dänemark und der Tschechoslowakei kamen. Siehe Müssener, Exil in Schweden, S. 93. Siehe dazu u. a. Sofie Lene Bak: Jødeaktionen oktober 1943. Forestillinger i offentlighed og forskning. København: Museum Tusculanums Forlag 2001. Siehe den Beitrag von Tanja Schult in diesem Band.

Flüchtlinge in das neutrale Nachbarland. Auch an die 5.000 Sudetendeutsche fanden hier Zuflucht.6 Zahlreiche Wehrmachtsangehörige versuchten, sich während des deutschen Transits abzusetzen oder sich von Finnland und Norwegen nach Schweden zu retten. Nach Kriegsende nahm Schweden an die 15.000 Überlebende der KZs auf. Im Frühjahr 1945 erreichte Graf Folke Bernadotte, ein Neffe des schwedischen Königs Gustav V., bei Heinrich Himmler die Erlaubnis, eine Rettungsaktion mit dem schwedischen Roten Kreuz für die skandinavischen KZ-Häftlinge durchzuführen. Mit den »Weißen Bussen« gelangten ca. 20.000 Personen nach Schweden.7 Der Hunger leidenden Bevölkerung in Österreich half u. a. die schwedische Hilfsorganisation »Rädda Barnen« (»Rettet die Kinder«), die die tägliche Verteilung von 70.000 Essensrationen ermöglichte.8

Schwedens Politik vor und während des Zweiten Weltkrieges Seit 1814, als es vor der Entstehung der Union zu einer kurzen kriegerischen Auseinandersetzung mit Norwegen kam, war Schweden nicht mehr in einen Krieg involviert. Die Union mit Norwegen wurde 1905 wieder aufgelöst. In den 1930er Jahren entwarf man in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Armut den schwedischen Wohlfahrtsstaat in seinen Grundzügen, der durch Reformen in den 1940er und 1950er Jahren schließlich verwirklicht werden konnte. Von 1936 bis 1939 bestand in Schweden eine Koalition zwischen der sozialdemokratischen Partei und der Bauernpartei unter Staatsminister Per Albin Hansson und Außenminister Rickard Sandler.9 Während des Zweiten 6

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Zur sudetendeutschen Fluchtbewegung nach Schweden siehe Rudolf Tempsch: Från Centraleuropa till folkhemmet: den sudettyska invandringen till Sverige 1938 – 1955. Göteborg: Göteborgs universitet 1997, sowie auf Deutsch: Aus den böhmischen Ländern ins skandinavische Volksheim. Sudetendeutsche Auswanderung nach Schweden 1938 – 1955. Göttingen: Wallstein Verlag 2013. Siehe dazu Steven Koblik: »No Truck with Himmler«. The Politics of Rescue and The Swedish Red Cross Mission, March – May 1945. In: Scandia, Band 51, Nr. 1 – 2, 1985, S. 173 – 195. Die Busse waren weiß gestrichen, um bei Bombenangriffen für die Alliierten unterscheidbar zu sein. Helmut Müssener gibt eine Anzahl von 7.000 dänischen und norwegischen Häftlingen und weitere 12.000 französische und jüdische verschiedener Nationalitäten an. Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 60. 1949 wurde ein Wiener Park nach Arne Karlsson benannt, einem Mitarbeiter von »Rädda Barnen«. Karlsson war am 11. Juni 1947 in der Gemeinde Berg in Niederösterreich bei seiner humanitären Tätigkeit von einem sowjetischen Militärposten erschossen worden. Rickard Sandler (1884 – 1964) war von 1925 bis 1926 sozialdemokratischer Staatsminister und von 1932 bis 1939 Außenminister. Als Sandler nach dem sowjetischen Überfall auf Finnland die skandinavischen Nachbarn entgegen der Politik des Staatsministers Hansson unterstützen wollte, führten diese Uneinigkeiten zum Rücktritt Sandlers. Sein Nachfolger wurde Christian Günther. Nach dem Krieg leitete Sandler den staatlichen Untersuchungsausschuss zum schwedischen Geheimdienst und zu

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Weltkrieges bildeten die vier demokratischen Parteien10 mit Ausnahme der Kommunisten eine Koalitionsregierung. Seit Mitte der 1920er Jahre gab es eine nazistische Bewegung mit zwei rivalisierenden Führern, Birger Furugård und Sven Olof Lindholm, die in mehreren Splittergruppen und Vereinigungen unter verschiedenen Namen agierte (Sveriges Nationalsocialistiska Parti, Nationalsocialistiska Arbetarparti, Svensk Socialistisk Samling), jedoch nie eine größere Rolle in der Innenpolitik Schwedens spielte. 1936, als man in Deutschland bereits die Nürnberger Rassengesetze eingeführt hatte, erzielten die nationalsozialistischen Parteien einen Anteil von 0,7 % der Wählerstimmen und erreichten bei den Reichstagswahlen somit kein Parlamentsmandat. Schweden hatte ab 1890 ein rapides Industriewachstum erlebt und zählte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den größten Industrieländern in Europa. Schweden und Deutschland verbanden enge wirtschaftliche Beziehungen, die auch Schwedens politische Rolle während des Krieges beeinflussten. Das skandinavische Land exportierte an die 40 % des Eisenerzes über den norwegischen Hafen Narvik nach Deutschland. Am 8. April 1940 verminten die Alliierten die norwegische Küste, worauf am folgenden Tag der deutsche Überfall auf Norwegen erfolgte und damit der Norwegenfeldzug begann. Norwegische Juden versuchten sich über die Grenze nach Schweden zu retten. Der deutsche Überfall auf das neutrale Norwegen war militärstrategisch sowie rüstungswirtschaftlich motiviert. Die deutsche NS-Führung wollte ein Festsetzen der Alliierten in Skandinavien sowie ein Abschneiden ihrer Rohstoffzufuhr verhindern. Nachdem die britischen und französischen Einheiten wegen der deutschen Offensive im Westfeldzug abgezogen worden waren, kapitulierte die norwegische Armee am 10. Juni 1940. Von April 1940 an, nach dem Überfall auf Norwegen und Dänemark, sah sich Schweden mit deutschen Forderungen konfrontiert. Doch die zunehmende Solidarität der schwedischen Bevölkerung mit den kämpfenden Norwegern setzte die Regierung in Stockholm unter Druck. Schweden gab den deutschen Forderungen nach, um einem Ultimatum seitens des Deutschen Reiches zuvorzukommen und nicht in einen Krieg, womöglich gegen Finnland, das sich im Kriegszustand mit der Sowjetunion befand, oder gegen Deutschland auf Seiten der Sowjetunion involviert zu werden. Der Gütertransit durch Schweden war für den deutschen Nachschub nach Norwegen und Finnland notwendig. Im Juli 1940 schlossen die beiden Länder ein Abkommen, in dem der Transit deutscher Soldaten von und nach Norwegen durch schwedisches Territorium geregelt wurde.

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Schwedens Flüchtlingspolitik, die so genannte Sandlerkommission, deren Bericht kritisch gegenüber der Regierung ausfiel. Sveriges socialdemokratiska arbetareparti, Högerns Riksorganisation, Bondeförbundet, Folkpartiet liberalerna.

Der »J-Stempel« in einem deutschen Pass, 1939

Nach der Besetzung Norwegens gestattete Schweden den Deutschen auch, schwedische Telefonleitungen für kodierte Telegramme zu verwenden. Allerdings gelang es dem schwedischen Mathematikprofessor Arne Beur17

ling, den deutschen Code zu entschlüsseln, sodass die Schweden über deutsche militärische Vorhaben gut informiert waren.11 Im Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. In der Folge verlangte Deutschland den Transfer einer ganzen Division von Oslo via Haparanda in Nordschweden nach Finnland. Schweden akzeptierte die deutschen Forderungen, nachdem in dieser Frage eine Regierungskrise gedroht und die Sozialdemokraten unter Per Albin Hansson schließlich nachgegeben hatten. Diese Entscheidung spaltete vor allem die sozialdemokratische Partei auch in der Frage, welche Rolle Schweden im Falle eines deutschen Sieges einnehmen sollte, wenn ein nationalsozialistisches Deutschland Europa beherrschte. Nach Kriegsausbruch wurde auf die schwedische Presse ein starker Druck ausgeübt, der erst im Frühjahr 1943 gelockert wurde. Dadurch wollte man Kritik an den kriegsführenden Ländern und an der schwedischen Regierung vermeiden und eine aktive Mobilisierung der schwedischen Bevölkerung verhindern. Es sollte die Neutralität auch seitens der Bevölkerung bewahrt bleiben. Die Regierung war bemüht, eine negative Berichterstattung vor allem zu Deutschland zu unterbinden. Die schwedischen Medien waren somit bei Berichten über Gräueltaten und Terror sowie die systematische Gewalt an Juden zurückhaltend. Dennoch beanstandete man im Deutschen Reich eine vermeintliche Deutschfeindlichkeit in der schwedischen Presse. Von der deutschen Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden hatte die schwedische Regierung bereits seit Herbst 1941 Kenntnis.12 Ab dem Frühjahr 1942 drangen auch verstärkt Nachrichten über die gewaltsamen Handlungen der Deutschen im besetzten Norwegen durch. Die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland und dessen bis dahin erfolgreiche Kriegsführung führten zu einer Politik des Nachgebens und dem Bemühen um freundschaftliche Beziehungen. Die Politik der schwedischen Sammlungsregierung (samlingsregering) war vom Standpunkt bestimmt, dass mit einer kooperativen Haltung gegenüber Deutschland mehr zu erreichen sei als mit politischem Druck. Berlin hingegen konnte auf die schwedischen Importe für die Rüstungsproduktion nicht verzichten. Von 1939 bis 1943 exportierte Schweden an die 10 Millionen Tonnen Eisenerz von den Häfen in Luleå und Oxelösund sowie Narvik im nördlichen Norwegen nach Deutschland. Von deutscher Seite gab es keine konkreten Angriffspläne für Schweden. Die deutschen Forderungen stellten in dieser Hinsicht keine politische Vereinnahmung dar, sondern aus deutscher Sicht eine militärische Notwendigkeit. Doch der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion, der in Schweden eine schwere außen- und innenpolitische Krise (»midsommarkrisen«) 11 12

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Klas Åmark: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2011, S. 122 ff. Sven Radowitz: Schweden und das »Dritte Reich« 1939 – 1945. Die deutsch-schwedischen Beziehungen im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Hamburg: Krämer 2005, S. 593.

ausgelöst hatte, stellte in der Folge den Wendepunkt der schwedischen Neutralitätspolitik dar. Die proalliierten Stimmen in der Regierung und auch in der schwedischen Gesellschaft nahmen zu. Gleichzeitig ließ aufgrund der veränderten Kriegslage der Druck Deutschlands auf Schweden nach. Dennoch kam es bis Mitte 1942 zu erneuten Zugeständnissen beim Transit sowie den Überflugsrechten und bei der Benutzung schwedischer Hoheitsgewässer. Erst 1943 wurde schließlich auf Druck der Westmächte der Export reduziert. Die wichtigsten Handelsabkommen zwischen Schweden und Deutschland waren meist auf ein Jahr begrenzt, was regelmäßige Verhandlungen erforderte. Für die deutschen Eisenbahntransporte durch Schweden, die in der Regel mit schwedischen Zügen durchgeführt wurden, bekam der schwedische Staat bezahlt. Die deutschen Truppen hatten laut Abkommen unbewaffnet zu sein, und es sollte dieselbe Anzahl an Soldaten, die durch Schweden fuhren, auch wieder zurückfahren. Aus schwedischer Perspektive wollte man durch die Verhandlungen mit Deutschland dessen Handlungsspielraum gegenüber Schweden begrenzen und eine friedliche Relation der beiden Länder sichern, zumal Deutschland vom Warentransport aus Schweden, allen voran vom Eisenerz, abhängig war. Die Sozialdemokraten waren nicht bereit, für eine verstärkte Aufrüstungspolitik während des Krieges den Ausbau des Wohlfahrtstaates aufzugeben. Aufgrund der zunehmenden Knappheit an Rohstoffen, die entstand, nachdem Schweden im April 1940 vom Weltmarkt weitgehend abgeschnitten war, trat die Außenhandelspolitik in den Vordergrund. Um den Zusammenhalt der Sammlungsregierung sicherzustellen, machten die Sozialdemokraten, die ab 1940 die absolute Mehrheit im Parlament stellten, Zugeständnisse an die konservativen Parteien. Die großschwedische högern13 und der den Sozialdemokraten beigetretene Außenminister Christian Günther forderten aufgrund ihrer Haltung gegenüber Finnland in Bezug auf Berlin eine offenere Politik ein und verhinderten eine ideelle Festlegung zugunsten der Alliierten, während die Militärführung bis etwa 1942/43 noch deutlich weiter zu gehen bereit war. Die ideologische Grundlage für diesen für Stockholm extrem gefährlichen Kurs bildete die Annahme, Schweden könne mit einem siegreichen nationalsozialistischen Deutschland – zumindest bei einer Veränderung der Regierung in eine autoritäre Richtung – konstruktiv zusammenarbeiten.14 Die Sozialdemokraten nahmen eine konträre Haltung ein. Dass Norwegen und Finnland im Krieg auf verschiedenen Seiten standen, stellte Schweden vor unüberbrückbare Schwierigkeiten. Die Konservativen traten für eine Unterstützung Finnlands und die Abwehr des Bolschewismus ein, 13

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Högerns Riksorganisation (Reichsorganisation der Rechten) erhielt bei der Wahl zum schwedischen Reichstag im September 1940 18 % der Stimmen, Sveriges socialdemokratiska arbetareparti 53,8 %. Radowitz, Schweden und das »Dritte Reich« 1939 – 1945, S. 590.

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die Liberalen und Sozialdemokraten sahen in einer möglichen Hilfe für Finnland eine gleichzeitige Unterstützung der Nationalsozialisten in Europa und somit auch in Norwegen und Dänemark und wollten im Gegenzug die besetzten skandinavischen Länder stärken. Im Herbst 1942 begannen die Deportationen norwegischer Juden. Viele versuchten nach Schweden zu fliehen. Die deutschen Terrormaßnahmen lösten bei der schwedischen Bevölkerung große Entrüstung aus. Schwedens Außenminister Günther bot der deutschen Regierung an, norwegische Juden, die deportiert werden sollten, aufzunehmen. Bis September 1942 konnten 300 norwegische Juden dank schwedischer Pässe nach Schweden einreisen.15 Ende 1942 änderte Schweden auch sein Vorgehen gegenüber Wehrmachtsflüchtlingen, die man zuvor an die Grenze zurückgebracht und der Wehrmacht ausgeliefert hatte, obwohl ihnen als Deserteuren die Todesstrafe drohte. Bruno Kreisky setzte sich im schwedischen Exil dafür ein, dass sie als »Militärflüchtlinge« anerkannt und ihnen Asyl gewährt wurde.16 Der britische Geheimdienst verbreitete in Norwegen und Finnland mit Hilfe einheimischer Widerstandsgruppen sogar Informationen, wie sich Wehrmachtssoldaten bei einer Flucht nach Schweden verhalten sollten.17 1943 nahm der Druck der Alliierten, besonders von London und Washington, zu, den deutschen Transit abzuwickeln und Obergrenzen für den Güteraustausch mit Deutschland festzulegen.18 Schweden lenkte ein. Im Laufe des Jahres 1944 nahm das Handelsvolumen immer mehr ab, auch wegen Deutschlands Kriegslage und den damit in Zusammenhang stehenden Zahlungsschwierigkeiten. Schweden wandte sich immer mehr den Alliierten zu und bezog eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber dem Deutschen Reich.

Die Rückkehr der österreichischen Emigrantinnen und Emigranten nach Kriegsende »Kann es in Anbetracht dessen, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die äußeren Bedingungen sich verändern, überhaupt eine Rückkehr geben?«, fragen die HerausgeberInnen des öge-Bandes »Vom Weggehen«.19 15 16

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Ebd., S. 547. Bruno Kreisky: Memoiren in drei Bänden. Hg. Oliver Rathkolb, Johannes Kunz, Margit Schmidt. Band 1: Zwischen den Zeiten. Wien – München – Zürich: Kremayr & Scheriau 2000, S. 367 ff. Siehe Peter Pirker: »… den Dreck unterschreib ich nicht!« Anton Kutej, Štefan und Janko Messner – drei Entziehungsversuche aus der Wehrmacht. In: Thomas Geldmacher, Magnus Koch, Hannes Metzler, Peter Pirker, Lisa Rettl (Hg.): »Da machen wir nicht mehr mit …«. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht. Wien: Mandelbaum Verlag 2010, S. 106 ff. Radowitz, Schweden und das »Dritte Reich« 1939 – 1945, S. 585. Sandra Wiesinger-Stock, Erika Weinzierl, Konstantin Kaiser (Hg.): Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft (Exilforschung heute, Band 1). Wien: Mandelbaum Verlag 2006, S. 12.

Nach dem Krieg standen die Exilanten vor der Entscheidung, ob man in Schweden bleiben oder in ein Nachkriegsösterreich zurückkehren wollte. Adolf Schärf kam nach Stockholm und riet den Exilanten von einer Rückkehr in ein kriegszerstörtes Land, wo die Bevölkerung hungerte, ab.20 Die, die im Exilland blieben, fühlten sich oft ihr weiteres Leben lang entwurzelt. Umgekehrt bedeutete die Rückkehr für die zweite Generation, vor allem für die im Exil geborenen Kinder, ihrerseits eine neue, ihnen unbekannte und fremde Heimat zu bekommen und zugleich die bisherige zu verlieren. In Gesprächen mit Zeitzeugen hört man immer wieder Ausdrücke wie »verpflanzt worden sein«, während die im Exil Verbliebenen sich auch weiterhin als »entwurzelt« empfanden und empfinden. Nach der Rückkehr sah man sich mit der Frage konfrontiert, welche Haltung Bekannte, Nachbarn oder Arbeitskollegen während des Krieges eingenommen hatten. Wer von den Familienangehörigen, Freunden und Bekannten war noch am Leben? Wer war ermordet worden? Die österreichische Gesellschaft hieß die Rückkehrer nicht gerade willkommen und konfrontierte sie mit dem Vorwurf, sie hätten die Schrecken des Krieges nicht erleben müssen. Den Rückkehrern sagte man, wie Otto Binder im Buch »Vom Weggehen« berichtet, »Du hast alles – den Krieg, die Bomben und den Hunger – hier nicht mitgemacht«.21 Otto Binder, ein österreichischer Emigrant in Schweden, spricht »die bislang wenig beachtete Entfremdung zwischen den Weggegangenen und den Hiergebliebenen und die Schwierigkeiten beim Wiedereinleben«22 an. Das »Weggehen« aus dem Exil, in dem man einige Jahre verbracht hatte, war nicht leicht, kostete Kraft und warf neuerlich die Frage auf: »Wie wird es werden?« Wer von den Freunden und Bekannten ist noch am Leben? Wie wird man empfangen werden? Und wieder ist es ein Neuanfang mit ungewissem Ausgang. Otto Binder schreibt in »Vom Weggehen«: Eine offizielle Einladung Österreichs an die Vertriebenen, zurückzukommen, ist nie erfolgt. Warum ich froh darüber bin, dass man diese Einladung nicht gemacht hat? Weil ich die Reaktionen aus der Bevölkerung gefürchtet hätte, nicht so sehr aus vordergründigen antisemitischen Gründen, sondern aus den Gründen des »Hungers« – und sagen wir es offen – auch des Neids.23

Zur Entstehung des Bandes »Im Exil in Schweden« Österreich und Deutschland sind mehr als andere Länder von der Schuld und dem Unrecht durch Vertreibung und Shoah geprägt und haben die Verpflichtung, sich diesem Thema zu stellen, auch wenn geschehenes Unrecht nicht wieder gut gemacht werden kann. Wir haben uns zu fragen, 20 Otto Binder: Rückkehr – wer musste, wer wollte, wer konnte? Beispiele aus dem Leben. In: Wiesinger-Stock, Weinzierl, Kaiser, Vom Weggehen, S. 171. 21 Ebd., S. 170. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 173.

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welche Auswirkungen diese Geschehnisse und der gewaltsame Verlust von Familienmitgliedern auf unsere Gesellschaft auch heute noch haben. 2010 nahm die Österreichische Gesellschaft für Exilforschung (öge) den 100. Geburtstag ihres Ehrenmitglieds Otto Binder zum Anlass für eine Tagung zum österreichischen Exil in Schweden, die unter der Schirmherrschaft von Otto Binders Tochter Margit Fischer stand und in der Residenz des damaligen schwedischen Botschafters S. E. Hans Lundborg in Wien am 17. und 18. Juni 2010 stattfand. Die Konzeptplanung und die Organisation hatten Siglinde Bolbecher, Miguel Friedmann, Fritz Hausjell, Irene Nawrocka, Lutz Popper sowie Simon Usaty und Sandra Wiesinger-Stock übernommen. Otto Binder (1910 – 2005) wurde 1934 wegen des Versuchs, die verbotene Revolutionäre Sozialistische Jugend wiederzuerrichten, inhaftiert und in der Folge als Angestellter der »Gemeinde Wien – Städtische Versicherungsanstalt« fristlos entlassen. Im September 1938 neuerlich verhaftet, wurde er ins KZ Dachau und danach ins KZ Buchenwald gebracht. 1939 emigrierte er nach Schweden, wo er eine Umschulung zum Metallarbeiter machte und dem Klub österreichischer Sozialisten in Schweden sowie der Österreichischen Vereinigung in Schweden angehörte. Otto Binder kehrte 1949 mit seiner Familie – Ehefrau Anni und den beiden im Exil geborenen Kindern Margit und Lennart – nach Wien zurück und leitete von 1959 bis 1981 als Generaldirektor die Wiener Städtische Versicherung. An der Tagung zu Ehren Otto Binders nahmen neben österreichischen und schwedischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch Zeitzeugen des österreichischen Exils in Schweden während der NS-Zeit und aus dem Umfeld von Otto Binder teil. Der hier vorliegende Band wurde – um ein umfassenderes Bild zum Thema »österreichisches Exil in Schweden« zu vermitteln – um Beiträge zur schwedischen Flüchtlingspolitik (Klas Åmark), zum österreichischen Musikexil in Schweden (Henrik Rosengren) und zur Arbeit der schwedischen Israelmission in Wien (Thomas Pammer), zu Raoul Wallenberg (Tanja Schult) und einem von ihm geretteten Österreicher (Walter Heller) sowie einem Projektbericht zur »Namentlichen Erfassung der nach Schweden emigrierten Österreicher und Österreicherinnen« (Simon Usaty) und einem autobiografischen Text von Otto Binder erweitert. Dieser Band enthält wissenschaftliche Artikel sowie persönliche Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Die Beiträge von Letzteren sind mit Kommentaren in den Anmerkungen ergänzt, wo es für ein breiteres Verständnis sinnvoll erschien. Die Zeittafel im Anhang enthält wichtige Ereignisse in der geschichtlichen Chronologie.

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Danksagung Wir möchten den UnterstützerInnen der vorliegenden Publikation danken: der Kulturabteilung der Stadt Wien, dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie Botschafter S. E. Nils Daag und der Schwedischen Botschaft in Wien. Unser ganz besonderer Dank gilt Eva Kreisky und Konstantin Kaiser für die Bearbeitung der Vorträge von Peter Kreisky (1944 – 2010) und Siglinde Bolbecher (1952 – 2012) nach Tonbandmitschnitten der Tagung. Siglinde Bolbecher hat sich als Gründerin und Leiterin der FrauenAG der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung besonders für das Zustandekommen dieses Buches eingesetzt. Weiters danken wir Laura Neill und Katarina Thurell vom Archiv der Schwedischen Missionskirche (MCCS Archives), Michael Baiculescu und allen Mitarbeiterinnen des Mandelbaum Verlags, Ingela Bruner, Ulrike Denk, den MitarbeiterInnen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Eva Douglas, Primavera Driessen Gruber, Margit Fischer, Rudolf Handl, Fritz Hausjell, Mikael Holewa, Christer Klausberger, Helena Lanzer-Sillén, S. E. Hans Lundborg, Eva Offenthaler, Ulrike Rack, Paul Stempel, den MitarbeiterInnen der Stiftung Bruno Kreisky Archiv, I. E. Ulrike Tilly, der Familie Otto Ullmanns, Hellmut Weiss, Paweł Zelichowski und Elisabeth Åsbrink. Ganz herzlich möchte ich mich bei Simon Usaty für seine Mitarbeit (Bildredaktion, Transkription, Korrektorat und die Erstellung des Namensregisters) bedanken sowie bei Johanna Dollhäubl für ihre stets konstruktive Kritik! Und ganz besonderen Dank allen Beitragenden! Diese Zusammenarbeit hat für uns persönlich eine große Bereicherung dargestellt und uns motiviert sowie in unserer Überzeugung und Arbeit bestärkt, wie wichtig die Kenntnisnahme von erlittenem Unrecht während der NS-Zeit nach wie vor ist und wie groß unsere Verpflichtung als nachkommende Generationen, die Erinnerung daran angesichts heutiger politischer Entwicklungen in Europa nicht achtlos zur Seite zu drängen, sondern sie als Teil unserer gemeinsamen Geschichte und der damit verbundenen gemeinsamen Verantwortung bewusst wahrzunehmen.

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ÖSTERREICHISCHES EXIL IN SCHWEDEN

Klas Åmark

Schwedens Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich 1938 – 19451

Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler 1933 waren in Deutschland immer mehr Bevölkerungsgruppen dem nationalsozialistischen Terror ausgesetzt. Damit beginnt auch aus schwedischer Perspektive ein neuer Abschnitt in der Geschichte. Hunderttausende Juden und zehntausende politische Gegner der neuen Diktatur verließen in den 1930er Jahren das Deutsche Reich. Gegen Ende dieses Jahrzehnts nahm der anhaltende Flüchtlingsstrom drastisch zu, bedeutend größere Personengruppen befanden sich auf der Flucht. Die schwedischen Behörden befürchteten, immer mehr Menschen könnten in Schweden um Asyl ansuchen. Mehr als 350.000 Personen flüchteten vor Kriegsausbruch 1939 aus Deutschland.2 Die Flüchtlinge versuchten dorthin zu gelangen, wo es ihnen am lebenswertesten erschien. Die nordischen Länder zählten in der Regel nicht dazu. 1940 befanden sich ungefähr 6.000 Vertriebene aus dem Deutschen Reich in Skandinavien.3

Der Begriff »Flüchtling« Im Europa der Zwischenkriegszeit galt ein eingeschränktes Asylrecht.4 Formell gesehen hatten Flüchtlinge keinerlei Rechtsanspruch, sondern es stand dem Staat zu, Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Der Begriff »politischer 1

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Dieser Beitrag basiert vorwiegend auf Klas Åmark: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2011. Siehe auch Klas Åmark: Sweden and the refugees 1933 – 1945. In: Mikael Byström, Pär Frohnert (Hg.): Reaching a State of Hope. Refugees, immigrants and the Swedish Welfare State, 1930 – 2000. Lund: Nordic Academic Press 2013. Michael Marrus: The unwanted. European refugees in the twentieth century. New York: Oxford University Press 1985, S. 203. Einhart Lorenz, Klaus Misgeld, Helmut Müssener, Hans Uwe Petersen (Hg.): Ein sehr trübes Kapitel? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hamburg: Ergebnisse Verlag 1998, S. 17 – 25, Statistik auf S. 24. Statens offentliga utredningar (SOU) 1936:53, Utredning angående revision av bestämmelserna om utlännings rätt att här i riket vistas och därmed sammanhängande spörsmål (Studie über die geänderten gesetzlichen Bestimmungen für Ausländer, sich hier im Reich aufhalten zu dürfen und die in diesem Zusammenhang stehenden Fragen), S. 57; Gesetzesentwurf Nr. 269/1937, S. 46. Von 1914 bis 1954 war Roma die Einreise nach Schweden untersagt.

Flüchtling« wurde von Anfang an eng ausgelegt – er galt nur für Personen, denen eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund ihrer politischen Betätigung drohte. Hingegen galt dieser Begriff aus Sicht des schwedischen Staates nicht für jene, die »aufgrund ihrer Rasse, ihrer begrenzten Versorgungsmöglichkeiten oder ihrer möglichen Gefährdung« flohen, nicht einmal, wenn Letztere in einer staatlich organisierten systematischen und gewaltsamen Verfolgung bestand. Die Regierung versuchte, den Flüchtlingsstrom unter Kontrolle zu halten, indem sie u. a. Quoten nach verschiedenen Kategorien einführte. Der Gedanke dahinter war, dass jene Flüchtlinge, die nach Schweden kamen und in weiterer Folge wieder ausreisten, aus der Quote herausfielen. Sobald jemand Schweden wieder verließ, wurden weitere Flüchtlinge aufgenommen. Durch das Quotensystem wurde die Einreise so reguliert, wie es Schweden wollte. Es berücksichtigte jedoch nicht den Asylbedarf seitens der Flüchtlinge.5

Die Auswahlkriterien Wie wählten die schwedischen Verantwortlichen jene Personen aus, denen Asyl gewährt wurde? Laut Gesetzesvorlage zählten politische Flüchtlinge zur obersten Kategorie. Meist waren dies Männer, vor allem Sozialdemokraten, die die schwedischen Behörden bereitwillig aufnahmen. Rassistisch Verfolgte – vorwiegend Juden – wurden bereits durch die Gesetzesvorlage diskriminiert, da man sie nicht als Flüchtlinge anerkannte. Bei Juden aus Deutschland bevorzugte man die so genannten Transmigranten, die bereits ein Visum für andere Länder vorweisen konnten, oder die beabsichtigten, bei nächster Gelegenheit weiterzureisen. Vor allem die Quoten der jüdischen Gemeinden waren für solche Personen vorgesehen. Großteils handelte es sich dabei um Kinder oder Jugendliche, denen man für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren eine Ausbildung in Schweden ermöglichte, bevor sie nach Palästina, in die USA oder nach Kanada weiterreisten.6 Voraussetzung für die Einreise nach Schweden war auch, dass er oder sie sich durch eigene Arbeit oder Ersparnisse selbst versorgen konnte oder eine schwedische Hilfsorganisation für den Lebensunterhalt aufkam. Dies wiederum bedeutete, dass der Arbeitsmarkt ausschlaggebend dafür war, wie viele Flüchtlinge Schweden aufnahm. Anfang der 1930er Jahre war die Situ5

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Socialstyrelsen, Utredning rörande den med statens stöd bedrivna hjälpverksamheten för flyktingar (Studie zu der mit staatlicher Unterstützung betriebenen Hilfstätigkeit für Flüchtlinge), 15. Februar 1941, S. 17 f., B 1, Vol. 1, Statens Flyktingsnämnds arkiv, Riksarkivet (RA); Svante Hansson: Flykt och överlevnad. Flyktingverksamhet i Mosaiska församlingen i Stockholm 1933 – 1950. Stockholm: Hillelförlaget 2004, Kapitel 10. Hansson, Flykt och överlevnad, S. 95 – 102; Karin Kvist Geverts: Ett främmande element i nationen: svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938 – 1944. Uppsala: Uppsala Universitet, Historisks Institutionen 2008, S. 157 ff.

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ation aufgrund der extrem hohen Arbeitslosigkeit sehr prekär. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verbesserte sie sich allerdings zunehmend. Die politischen Flüchtlinge kamen meistens aus der Arbeiterbewegung und konnten häufig eine Ausbildung in der Industrie oder als Handwerker vorweisen, wohingegen viele Juden in intellektuellen Berufen oder als Kleinunternehmer tätig waren und sich deshalb schwerer auf dem schwedischen Arbeitsmarkt zurechtfanden.7

Der J-Stempel im Pass Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 wurden umgehend alle Verordnungen gegen Juden, die man im Dritten Reich im Verlauf von fünf Jahren erlassen hatte, eingeführt. Zehntausende österreichische Juden und politisch Verfolgte verließen daraufhin das Land oder trugen sich zumindest mit dieser Absicht. Tausende flohen in die Schweiz, Hunderte nach Schweden. Beide Länder führten in der Folge gegen Inhaber österreichischer Pässe Visumspflicht ein. Das bedeutete, dass ehemalige österreichische Staatsbürger eine Einreisegenehmigung für diese Länder vorweisen mussten. Vor der Einführung der Visumspflicht konnte man ungehindert nach Schweden einreisen und sich dort drei Monate lang aufhalten. 1926 hatten sowohl die Schweiz als auch Schweden mit Deutschland ein gegenseitiges Übereinkommen zur Abschaffung der Visumspflicht getroffen. Ein Problem war nun jedoch zunehmend, dass der NS-Staat begonnen hatte, zeitlich begrenzte Pässe auszustellen, die nur im Ausland Gültigkeit besaßen. Damit war eine Ausreise aus Deutschland möglich, jedoch keine Einreise mehr. Auf schwedischer Seite stellte man auch mit zunehmender Beunruhigung fest, dass Personen, die beim Versuch, nach Schweden zu emigrieren und abgewiesen wurden, bei ihrer Rückkehr nach Deutschland Repressalien ausgesetzt waren.8 England löste dieses Problem, indem es eine Visumspflicht für sämtliche deutsche Staatsbürger einführte. Für Schweden und die Schweiz hingegen war diese Lösung nicht zufriedenstellend und noch weniger für die nationalsozialistischen Machthaber. Als Deutschland am 15. August 1938 beschloss, österreichische Pässe gegen deutsche auszutauschen, wurde die Situation sowohl für Schweden als auch für die Schweiz brenzlig. Man suchte 7

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Rudolf Tempsch: Från Centraleuropa till folkhemmet. Den sudettyska invandringen till Sverige 1938 – 1955. Göteborg: Ekonomisk-historiska institutionen vid Göteborgs universitet 1997, S. 47. Siehe die Übersicht über die schwedische Flüchtlingspolitik in: SOU 1946:36, Betänkande angående flyktingars behandling. Parlamentariska undersökningskommissionen angående flyktingärenden och säkerhetstjänst (Überlegungen zur Flüchtlingsbehandlung. Parlamentarische Untersuchungskommission zu Flüchtlingsangelegenheiten und Sicherheitsdienst), Kapitel II, sowie Hans Lindberg: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck 1936 – 1941. Stockholm: Allmänna förlaget 1973, Kapitel VI.

nach Möglichkeiten, um im Pass zu vermerken, ob die jeweiligen Reisenden beabsichtigten, wieder nach Deutschland zurückzukehren oder eine Aufenthaltsgenehmigung für Schweden zu erwirken. Schweizer Wissenschaftler konnten bislang nicht eindeutig nachweisen, ob der Vorschlag, Pässe jüdischer Inhaber mit einem großen J zu versehen, zuerst von deutscher oder von Schweizer Seite kam.9 Wie auch immer, dieser Vorschlag kam offenbar aufgrund des zunehmenden Druckes und der Forderungen seitens der Schweiz und Schwedens ab dem Frühjahr 1938 zustande. Zuerst akzeptierte die Schweizer Regierung – wenn auch widerwillig – den J-Stempel. Als Gegenleistung dafür nahm man von der Visumspflicht für deutsche Staatsbürger Abstand, lehnte aber gleichzeitig die deutsche Forderung, auch Pässe von Schweizer Juden mit einem J zu versehen, ab. Schweden lag in den Verhandlungen mit Deutschland stets einen Schritt hinter der Schweiz, verfolgte allerdings auf diplomatischer Seite die Entwicklung genau. Das schwedische Abkommen, das am 15. Oktober 1938 mit dem Dritten Reich geschlossen wurde, basierte auf jenem zwischen Deutschland und der Schweiz. Im Unterschied dazu vermieden die Schweden allerdings, darin direkt auf die Juden hinzuweisen, sondern wählten stattdessen diverse Umschreibungen. Am 27. Oktober verfolgte das Zentralamt für Sozialwesen (Socialstyrelsen) die Angelegenheit weiter, indem die Passkontrolle im Geheimen angewiesen wurde, keine Personen mit einem J-Stempel im Pass nach Schweden einreisen zu lassen, sofern sie nicht eine Sondergenehmigung dafür vorweisen konnten.10 Indem man auf den JStempel in deutschen Pässen gedrängt hatte, anerkannten sowohl die Schweiz als auch Schweden die nationalsozialistischen Nürnberger Rassengesetze aus dem Jahr 1935 und trugen dadurch zu der systematischen Diskriminierung von Juden im NS-Staat bei. Beide Länder übernahmen somit in der Ausübung ihrer eigenen Staatsgewalt die Kategorisierung der Staatsbürger nach den Rassengesetzen. Der J-Stempel erschwerte jedoch gleichzeitig dem NS-Staat die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt noch eine Zielsetzung war. Die schwedische Regierung verschärfte noch während der Verhandlungen mit Deutschland die Regeln, nach denen Reisende aus anderen Ländern bereits an der Grenze abgewiesen werden sollten. Im September 1938 wurde eine Bekanntmachung erlassen, wonach Reisende abzuweisen waren, sobald es Hinweise für ihre Absicht gab, nicht in ihre Heimat zurückzukehren. Dieser Beschluss wurde von leitenden Beamten aus diversen zuständigen Behörden, insbesondere vom Nachrichtendienst der Oberen Landesverteidigung (Försvarsstaben), veranlasst. Diese handelnden Personen hegten ein 9 10

Jean-François Bergier u. a.: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern: Unabhängige Expertenkomission Schweiz 1999, S. 75 – 87. Lindberg, Svensk flyktingpolitik, Kapitel VI, sowie Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 56.

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beträchtliches Misstrauen gegenüber politischen Flüchtlingen aus dem Dritten Reich, die in der Regel aus dem linken Lager kamen, viele von ihnen waren sogar Kommunisten. Doch die schärferen Einreisebedingungen richteten sich vor allem gegen Juden, die Deutschland nicht vorwiegend aus politischen Gründen verlassen hatten. Man wies nicht direkt auf sie hin, jedoch drückt dies die Formulierung, wonach diejenigen abgewiesen werden sollten, die keine Aufenthaltsgenehmigung für Schweden hatten und von denen man gleichzeitig annehmen konnte, dass sie »das Land bereits mit der Absicht verlassen hätten, nicht mehr zurückzukehren«, klar aus.11 Diese Sonderbehandlung deutscher Juden mit einem J-Pass hörte erst nach Kriegsausbruch im September 1939 auf, als Schweden die Visumspflicht für sämtliche deutsche Staatsbürger einführte.12 Gleichzeitig mit der Einführung des J im Pass wuchs der Flüchtlingsstrom nach Schweden erheblich an, nicht zuletzt auch aufgrund der Novemberpogrome 1938. Zwischen November 1938 und August 1939 suchten ungefähr 4.200 Juden aus dem Dritten Reich um eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden an. Ca. 2.500 davon beziehungsweise ca. 60 % bekamen eine Bewilligung. Vor der Einführung des J im Pass wurden 98 % der Anträge deutscher Juden, die sich bereits in Schweden aufhielten, positiv entschieden.13 Je mehr Menschen das Deutsche Reich aufgrund der zunehmenden Verfolgung verlassen mussten, desto restriktiver wurde die Aufnahmepolitik der Nachbarländer. Trotzdem nahm die Zahl der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich in Schweden von weniger als 1.500 Anfang 1938 bis rund 4.000 bei Jahreswechsel 1940/1941 zu. Bedenkt man gleichzeitig, dass viele, die nach Schweden kamen, tatsächlich weiterreisten, muss die Anzahl aufgenommener Flüchtlinge bedeutend höher gewesen sein.14 55 % der jüdischen Flüchtlinge, die eine Aufenthaltsgenehmigung beantragten, erhielten sie. Für die politischen Flüchtlinge galt im Vergleich dazu ein Prozentsatz von 80 %, was zeigt, dass die schwedischen Behörden Juden tatsächlich restriktiver behandelten.15 Die schwedische Gesellschaft hätte in den Jahren 1938 bis 1940 problemlos weitere Tausende jüdische Flüchtlinge aufnehmen können, vorausgesetzt, der Staat wäre bereit gewesen, für ihren Aufenthalt aufzukommen, bis sie sich selbst hätten versorgen können. Aber 11 12 13 14

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Lindberg, Svensk flyktingpolitik, Kapitel V sowie S. 136 ff.; Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 56, 76 ff. Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 475 – 479. Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 303, 306 f. Socialstyrelsen, Utredning rörande den med statens stöd bedrivna hjälpverksamheten för flyktingar (Studie zu der mit staatlicher Unterstützung betriebenen Hilfstätigkeit für Flüchtlinge), 15. Februar 1941, Seite 4 – 13, B 1, Vol. 1, Statens flyktingsnämnds arkiv, RA. Weiters Lindberg, Svensk flyktingpolitik, S. 217, und Hansson, Flykt och överlevnad, Kapitel 2.2. Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, Kapitel 6.

Verzeichnis der Kommunisten für die Ausweisung in die Sowjetunion, 1935

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damals war man der Ansicht, eine einmal geöffnete Tür hätte neue große Flüchtlingsströme nach sich gezogen. In einem Bericht des Außenministeriums vom August 1938 heißt es: Jeder Emigrant, dem zur Zeit die Einreise nach Schweden gelungen ist, zieht anscheinend eine große Zahl weiterer nach sich. [...] Sobald bekannt wird, dass jemand aus Deutschland heraus gekommen ist, ziehen ganze Gruppen auf Gedeih und Verderb los.16 Hier wird deutlich, wie sich die damalige Einstellung zur Flüchtlingsproblematik auf die restriktive Praxis auswirkte. Nach Kriegsausbruch im September 1939 rissen die Flüchtlingsströme in Europa weitgehend ab und viele Länder schlossen ihre Grenzen. Das Problem der Auswahlkriterien, das im Zeitraum von März 1938 bis September 1939 drastische Züge angenommen hatte, verlor an Bedeutung. Gleichzeitig übertrug man den Hilfskomitees die Aufgabe, die Transmigranten – Flüchtlinge auf der Durchreise –, die nicht weiterreisen konnten, zu versorgen. Sie fanden finanziell kaum ihr Auslangen. Da griff schließlich der Staat ein und übernahm größere Verantwortung für die Flüchtlingshilfe.17

Die Beamten, »die Judenfrage« und der Antisemitismus Die schwedische Politik war somit gegenüber den vielen jüdischen und politischen Flüchtlingen, die aus dem NS-Staat flohen, lange Zeit sehr restriktiv. Aber worauf ist diese Restriktion zurückzuführen? Gab es bei Beamten und Sachbearbeitern Antisemitismus, der dazu führte, dass nach Schweden geflüchtete Juden gegenüber anderen Ausländern diskriminiert wurden? Bei der damaligen Haltung zu Gesellschaft und »Rassen« war es nur ein kleiner Schritt zu stereotypen Beschreibungen von Juden, seien es feindliche oder nicht. Diese Denkweise führte zu einer Absonderung der Juden, die man als eine eigene Kategorie ansah, sogar wenn es sich dabei um Menschen handelte, deren Familien seit Generationen Staatsbürger in ihren jeweiligen Ländern gewesen waren.18 Ein markantes Beispiel für diese Trennungspolitik war die Ausländerzählung, die das Zentralamt für Sozialwesen (Socialstyrelsen) im Februar 1939 durchzuführen gedachte. Die Absicht dahinter war, die aggressiv, fremdenfeindlich und antisemitisch geführte Diskussion, die nicht zuletzt auch an den Universitäten entstanden war, einzudämmen.19 In dieser Zählung wurden »Juden« als eigene Kategorie angeführt, unabhängig von ihrer 16 17

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Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 515 f. Socialstyrelsen, Utredning rörande den med statens stöd bedrivna hjälpverksamheten för flyktingar (Studie zu der mit staatlicher Unterstützung betriebenen Hilfstätigkeit für Flüchtlinge), 15. Februar 1941, B 1, Vol. 1, Statens flyktingsnämnds arkiv, RA; Hansson, Flykt och överlevnad, S. 401. Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 10. Lindberg, Svensk flyktingpolitik, S. 216 ff.; Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 79 – 88.

Staatsbürgerschaft. Somit wandte das Zentralamt eine biologische, keine religiöse Definition an, was den Anordnungen im Ausländergesetz aus dem Jahr 1937 entsprach. Die Angelegenheit war sensibel, und es gab verschiedene Entwürfe, bevor man eine endgültige, etwas vorsichtiger formulierte Auswertung des Ergebnisses veröffentlichte. Daraus ging hervor, dass es in Schweden 3.410 ausländische Juden gab, wovon 233 als politische Flüchtlinge eingestuft wurden. Ob die knapp 2.000 Juden aus Deutschland, die nicht als politische Flüchtlinge galten, als Flüchtlinge gesehen wurden oder nicht, wird nicht angegeben. Hingegen ist erkennbar, dass ca. 1.300 Juden aus anderen Ländern als Deutschland kamen, vor allem aus der Sowjetunion (610 Personen). Die Sonderbehandlung von Juden innerhalb dieser restriktiven Flüchtlingspolitik ist auffallend. Bei manchen Personen war sie auf einen mehr oder weniger offenen Antisemitismus zurückzuführen. Aber man kann kaum behaupten, dass alle Formen der Sonderbehandlung und der Kategorisierung mit Begriffen wie »Rasse« darauf zurückgehen, dass die betreffenden Beamten eine ablehnende Haltung Juden gegenüber einnahmen. Diese Restriktion beruhte nicht primär auf Feindseligkeit, sondern darauf, dass man Menschen in verschiedene Völker einteilte und dabei die Ansicht vertrat, eine ethnische Homogenität sei für Schweden vorteilhaft und sollte deshalb erhalten bleiben. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Beamte, die ihre antisemitische Einstellung deutlich zum Ausdruck brachten, besonders negativ gegenüber der Aufnahme von Juden in Schweden eingestellt waren.

Die Hilfskomitees Ohne die freiwilligen Hilfeleistungen, besonders in den 1930er Jahren, hätten viele Flüchtlinge außerhalb Schwedens bleiben müssen oder wären nur mit großen Schwierigkeiten zurechtgekommen. Den Hauptanteil der Verantwortung bei der Flüchtlingsaufnahme überließ der Staat freiwilligen Hilfsorganisationen. Die bereits existierenden oder ab 1933 gegründeten Hilfskomitees hatten jeweils ihre konkrete Zielgruppe.20 Die mosaischen Gemeinden in Stockholm, Göteborg, Malmö sowie Norrköping und in anderen Städten leisteten größtmögliche Hilfe für Personen ihrer Religionszugehörigkeit. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung organisierte ihre Tätigkeit innerhalb der Arbetarrörelsens flyktinghjälp (Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung, AF), während die kommunistische Internationale Komintern die Röda hjälpen (Die Rote Hilfe) mit einer schwedischen Niederlassung betrieb, die unter der Leitung von Schwedens Kommunistischer Partei stand.21 20 SOU 1945:1, Omhändertagande av utlänning i anstalt eller förläggning (Fremdenbetreuung in Heim oder Internierungslager), S. 116 mit einem Verzeichnis der 16 Komitees, die 1944 immer noch tätig waren; Lars Olsson: På tröskeln till folkhemmet. Malmö: Förlaget Morgonrodnad 1995, S. 45 ff. 21 Jan Peters: Exilland Schweden: deutsche und schwedische Antifaschisten 1933 – 1945. Berlin: Akademie-Verlag 1984.

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Die Spendensammlung für geflüchtete Intellektuelle (Insamlingen för landsflyktiga intellektuella) widmete sich jenen Berufsgruppen, die nicht von den Hilfsaktivitäten der Arbeiterbewegung erfasst wurden. Während der 1930er Jahre finanzierte das Komitee seine Tätigkeit mit Einnahmen aus Lotterien, aber die Spendensammlung war nur sehr begrenzt erfolgreich und ab 1940 wurde die Arbeit weitgehend eingestellt. Weiters existierten kirchliche und freikirchliche Hilfsorganisationen, inklusive der Schwedischen Israelmission, die sich konvertierten Juden zuwendete und hauptsächlich in Wien tätig war.22

Die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung Die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung AF (Arbetarrörelsens flyktinghjälp) wurde im Mai 1933 vom Gewerkschaftsbund LO (Landsorganisationen) und der sozialdemokratischen Partei gegründet. Die LO übernahm die Finanzierung, die Partei die Organisation sowie die Räumlichkeiten und stellte die politischen Kontakte her. Man unterstützte vorwiegend Sozialdemokraten aus Deutschland, später auch aus Österreich und der Tschechoslowakei. Der Schriftführer des Hilfskomitees hatte gute Kontakte zum Außenministerium und den zuständigen Behörden. Daraus ergab sich, dass die betreffenden Flüchtlinge in der Regel ein Unterstützungsschreiben der AF für die Bewilligung einer Aufenthaltsgenehmigung in Schweden benötigten. Bis Mai 1939 beantragten ca. 1.200 Flüchtlinge bei der AF Unterstützung, und bei knapp der Hälfte wurde das Ansuchen bewilligt. In den 1930er Jahren versorgte die AF einige hundert Personen. In den Kriegsjahren standen zwischen 600 und 700 Flüchtlinge unter ihrem Schutz, während die kommunistische Rote Hilfe etwa 100 Personen betreute. Ca. 15 % von denjenigen, die Unterstützung von der AF erhielten, waren Kinder und cirka 20 % Juden. Die meisten, die die AF unterstützte, waren bereits vor Kriegsausbruch nach Schweden gelangt. Später gestaltete sich eine Ausreise aus dem Deutschen Reich immer schwieriger. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940 floh auch ein Teil der dortigen Flüchtlinge über die Grenze nach Schweden. Die AF war international gut vernetzt, was auch bei der Entscheidung half, welchen Flüchtlingen man Unterstützung gewährte. Dabei hielt man sich an die Richtlinien des Internationalen Gewerkschaftsbundes und der Sozialistischen Internationale. Um zu vermeiden, dass sich auch nationalsozialistische Spitzel als Flüchtlinge ausgaben, verlangte man Garantien für die politisch »korrekte« Haltung der Antragsteller. Es existierte sogar eine »Schwarze Liste« mit ungefähr 370 Namen, die die deutsche Parteileitung der Sozialdemokraten in Prag zusammen mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund erstellt hatte, um diese Personen von der Flüchtlingshilfe auszuschließen.

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Siehe auch den Beitrag von Thomas Pammer in diesem Band. (Anm. der Hg.)

Von kommunistischer Seite bemühte man sich, von der AF wirtschaftliche Unterstützung für gewerkschaftlich organisierte Flüchtlinge zu bekommen. Doch obwohl die LO und später auch der schwedische Staat die Tätigkeit der AF finanzierten, nahm die abweisende Haltung gegenüber kommunistischen Flüchtlingen immer mehr zu, besonders nach dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 und dem sowjetischen Überfall auf Finnland im Dezember 1939. Jene Flüchtlinge, die durch die Rote Hilfe nach Schweden gelangten, unterstützte die AF nicht mehr.

Die Mosaische Gemeinde in Stockholm Die Mosaische Gemeinde entwickelte während des gesamten Krieges sowie in den Jahren danach eine umfangreiche Hilfstätigkeit. Die jüdischen Gemeinden hatten wie jene der Staatskirche ein eigenes Besteuerungsrecht und verwendeten davon eine relativ hohe Summe für die Flüchtlingshilfe. Allerdings lebte zu dieser Zeit nur eine geringe Anzahl an Juden in Schweden, 1930 handelte es sich um ca. 7.000 Personen. Der Gemeinde in Stockholm gehörten ca. 4.000 Mitglieder an, wovon 1.753 Personen im Jahr 1939 steuerpflichtig waren. 1938 beteiligte sich ungefähr die Hälfte der Gemeindemitglieder an einer zusätzlichen Spendensammlung.23 In der kritischen Zeit der 1930er Jahre war der Spendenerlös eher gering und die Stockholmer Gemeinde brachte keine zusätzlichen Eigenmittel auf. 1938 und 1939 stieg allerdings die Höhe der Spendeneinnahmen beträchtlich an. Gleichzeitig wendete die Gemeinde eigene Mittel auf, und weitere Zuschüsse kamen vom schwedischen Staat. Ab 1940 beteiligten sich auch internationale jüdische Hilfsorganisationen finanziell. Von 1944 bis 1949 erhöhte die Gemeinde neuerlich ihren Beitrag. Zuerst half man den dänischen Juden, die im Herbst 1943 nach Schweden geflohen waren. 1945 und in den folgenden Jahren kamen ungefähr 15.000 jüdische Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager nach Schweden, die man zuerst einmal medizinisch versorgte, denn die meisten waren gesundheitlich in einem sehr schlechten Zustand. In der Folge unterstützte man sie bei der Auswanderung in andere Länder. Im Zeitraum von 1945 bis 1955 verließen ungefähr 11.000 Juden Schweden wieder. 24 Während des gesamten Zeitraums von 1933 bis 1955 zeichnet sich die Flüchtlingspolitik der jüdischen Gemeinde durch die starke Prioritätensetzung auf jene Flüchtlinge aus, bei denen man davon ausging, dass sie nach einer absehbaren Zeit weiteremigrieren würden. Jene allerdings, die mit der Absicht nach Schweden kamen, hier zu bleiben, oder für die keine Möglichkeit zur Weiteremigration bestand, sah man weniger gerne. Das kennzeichnet sowohl die Haltung der jüdischen Gemeinde als auch die des Staates. Dennoch kam eine nicht unbeträchtliche Zahl an Juden in der Absicht hierher, zu bleiben, allerdings mit anderer Hilfe als der der jüdischen Ge23 Hansson, Flykt och överlevnad, S. 163 ff. 24 Ebd., S. 410.

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meinde. Teilweise handelte es sich dabei um politische Flüchtlinge, die mit Unterstützung der Hilfskomitees der Arbeiterbewegung nach Schweden kamen. Andere erhielten Beistand und Hilfe beim Antrag auf Einreisegenehmigung durch die Spendenaktion für landesflüchtige Intellektuelle. Weitere Flüchtlingsgruppen wurden direkt durch Bekannte oder Personen, die sie in Schweden kennen gelernt hatten, unterstützt.25

Die Israelmission In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in Schweden eine christliche Mission, die, vorwiegend von der schwedischen Kirche verwaltet, die Absicht verfolgte, Juden zum Christentum zu bekehren.26 Der Schwerpunkt der Tätigkeit lag allerdings nicht in Schweden, sondern vorwiegend bei den Juden Osteuropas. Nach Ende des Ersten Weltkrieges entstand eine Niederlassung in Wien. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 fand diese Tätigkeit unter radikal veränderten Verhältnissen statt. Die SA sah in der Schwedischen Israelmission in Wien einen jüdischen Verband und beabsichtigte, sie zu schließen. Doch der Leitung der Israelmission gelang es schließlich, die Nationalsozialisten davon zu überzeugen, dass es sich um eine nicht-jüdische Organisation handelte mit dem Ziel, Juden die Auswanderung aus Österreich zu ermöglichen. Das war zu dieser Zeit gleichfalls ein Ziel der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik, weshalb die Israelmission ihre Tätigkeit fortsetzen konnte. Das geschah sogar in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo. Die Israelmission verfügte über ein eigenes Büro im Palais Rothschild in der Prinz Eugen-Straße, dem Sitz von Adolf Eichmanns Zentralstelle für jüdische Auswanderung, und erwirkte durch ihre guten Kontakte zu den Behörden Ausreisegenehmigungen. Die Israelmission widmete sich vorwiegend Juden, die zum Christentum konvertierten. Darunter befanden sich auch Personen, die (vergeblich) hofften, dadurch einer noch schlimmeren Verfolgung zu entgehen. Man bot Unterstützung bei der Auswanderung in Länder wie England, die Niederlande und in die Vereinigten Staaten an. Nach Angaben der Israelmission gelangten bis 1941 ungefähr 400 konvertierte Juden mit ihrer Hilfe nach Schweden und insgesamt ca. 3.000 Juden hatte man die Auswanderung aus

25 Ebd., Kapitel 5. 26 Diese Darstellung basiert auf Lars Edvardsson: Kyrka och judendom: svensk judemission med särskild hänsyn till Svenska Israelsmissionens verksamhet 1875 – 1975. Lund: Gleerup 1976, Kapitel 3. Siehe auch Steven Koblik: The stones cry out: Sweden’s response to the persecution of Jews 1933 – 1945. New York: Holocaust Library 1988, Kapitel 3; Pär Frohnert: »De behöver en fast hand över sig?» Missionsförbundet, Israelmission och de judiska flyktingarna 1939 – 1945. In: Lars M. Andersson, Karin Kvist Geverts: En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar I Sverige 1920 – 1950. Uppsala: Historiska institutionen, Uppsala universitet 2008, sowie Elisabeth Åsbrink: Och i Wienerwald står träden kvar. Stockholm: Natur & Kultur 2011.

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Österreich ermöglicht. Gleichzeitig verhalf das jüdische Auswanderungsbüro in Wien ungefähr 140.000 Juden zur Ausreise. Im Juni 1941 schlossen die NS-Behörden das Wiener Büro der Israelmission, nachdem eine Auswanderung weitgehend unmöglich geworden war. Der Schwedischen Israelmission gelang es jedoch, mit vielen konvertierten Juden, denen man geholfen hatte, in Verbindung zu bleiben und ihnen Essenspakete zu schicken, nachdem sie in die Ghettos Polens und später weiter in die Vernichtungslager deportiert worden waren, wo man viele ermordete. Die Israelmission baute in ihrer Grundhaltung auf typischen christlichen antisemitischen Stereotypen des Juden auf. In einem Buch, das sie 1943 – als der Vernichtungsapparat am stärksten arbeitete – veröffentlichte, drückten viele hochstehende Vertreter der Mission ihre Sicht auf Juden und die jüdische Kultur folgendermaßen aus: Die jüdische Eigenart, das spezifisch jüdische Wesen erschöpfend zu beschreiben, ist keineswegs leicht. Es besteht nicht nur in der bekannten Energie, die sich leider nur zu oft auf unsympathische Weise in einer Ellenbogentechnik äußert. [...] Doch die größte Schuld des jüdischen Volkes besteht nicht so sehr in Wucher und Betrug, sondern liegt vielmehr darin, seinen Messias verstoßen und im entscheidenden Moment im Stich gelassen zu haben. [...] Als das jüdische Volk Christus den Rücken zuwandte, da ergriff Gott sein abtrünniges Volk und schob es zur Seite.27 Bei dieser Einstellung war es naheliegend, in der Bekehrung von Juden zum Christentum die Lösung des »jüdischen Problems« zu sehen.28

Die nicht nach Schweden kommen durften In den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges öffneten sich in Europa viele Grenzen. Schweden gehörte zu jenen Ländern, die die Visumspflicht für eine Anzahl europäischer Länder aufhoben, allen voran für Deutschland. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konnten somit deutsche Staatsbürger (mit gültigem Pass) nach Schweden einreisen und sich drei Monate dort aufhalten. Danach war eine besondere Aufenthaltsgenehmigung erforderlich, und wollte man hier für seinen Lebensunterhalt arbeiten, benötigte man eine Arbeitsgenehmigung. Der Visumszwang wurde in der Folge schrittweise wieder eingeführt, zuletzt im Spätherbst 1940 für skandinavische Staatsbürger. Einen ausländischen Staatsbürger konnte man durch Ablehnung einer Einreisegenehmigung abweisen, entweder bereits direkt an der Grenze noch vor der Einreise oder durch Abschiebung und Ausweisung danach. Falls der Bescheid zur Abschiebung oder Ausweisung nicht durchgeführt werden konnte, wurde die betreffende Person in der Zwischenzeit inhaftiert. Grund-

27 Kan judafolket räddas? Stockholm: Israelsmissionens Andelsförenings Bokförlag 1943, S. 10. 28 Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 514.

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Das Zentralamt für Sozialwesen kommentiert ein Schreiben der Gefängnisverwaltung an die Regierung über die Behandlung von Ausländern, 1942

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sätzlich war es schwierig, Menschen aus Schweden auszuweisen, weshalb dies auch selten vorkam.29 Diejenigen, denen eine Einreise nach Schweden in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch gelang, hatten entweder Verwandte in Schweden oder waren Transitflüchtlinge, die in eine der jeweiligen Flüchtlingsquoten fielen. Doch es kamen immer mehr Flüchtlinge, besonders Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die mit zunehmender Verzweiflung nach einem Land suchten, in das sie sich retten konnten. Eine umfassende Untersuchung zur schwedischen Flüchtlingspolitik, die so genannte Sandler-Kommission, zeigte zahlreiche Fälle auf, in denen die Ablehnung einer Einreisebewilligung als unbegründet anzusehen war und katastrophale Konsequenzen nach sich zog.30 B war ein deutscher Jude und beantragte im Alter von 50 Jahren die Einreisegenehmigung für Schweden. Seine Tochter arbeitete in der Ausbildungsstätte des Hechaluz in Kristinehov. Zu diesem Zeitpunkt lebte B in Polen. Nach dem deutschen Sieg wurde sein Sohn deportiert und er selbst fürchtete, in ein Konzentrationslager zu kommen. Das Stockholmer Hilfskomitee erklärte sich bereit, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er hatte somit beides, einen nahen Angehörigen und die finanzielle Absicherung, die Voraussetzungen für die Einreise. Sein Ansuchen wurde jedoch sowohl vom Zentralamt für Sozialwesen als auch vom Außenministerium abgelehnt. Laut der Mosaischen Gemeinde, die den Fall der Kommission meldete, wurde B »deportiert und verstarb«. Die Kommission vermerkte kurz, sein Ansuchen hätte bewilligt werden müssen. Dann hätte er überlebt. C war eine deutsch-jüdische Ärztin, die im Frühjahr 1939 mehrere Kindertransporte nach Schweden mitorganisiert hatte. Danach suchte sie zweimal um ein Transitvisum für Schweden an in der Absicht, in die USA weiterzuemigrieren, für die sie bereits ein Visum hatte und auf deren Warteliste für die Einreise sie stand. Das Hilfskomitee der Mosaischen Gemeinde unterstützte ihren Antrag. Diese meldete auch den Fall der Kommission und gab an, dass C deportiert worden und vermutlich gestorben war. Die Kommission hielt den abschlägigen Bescheid für »bemerkenswert«, in diesem Zusammenhang ein starker Ausdruck. F war eine Dr.in phil. in ihren 50er Jahren. Sie hatte einen Bruder, der seit 1911 in Schweden lebte und schwedischer Staatsbürger war. Sie stellte im Oktober 1939 erstmals einen Einreiseantrag für Schweden. Dieser wurde bereits vom Außenministerium abgelehnt. Einige Monate später stellte ihr Bruder neuerlich einen Einreiseantrag, diesmal mit der Begründung, dass die deutschen Juden in Gefahr waren, deportiert zu werden. Aus dem nächs29 SOU 1946:36, Betänkande angående flyktingars behandling. Parlamentariska undersökningskommissionen angående flyktingärenden och säkerhetstjänst (Überlegungen zur Flüchtlingsbehandlung. Parlamentarische Untersuchungskommission zu Flüchtlingsangelegenheiten und Sicherheitsdienst), Kapitel 4 – 5; Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 86, 118. 30 SOU 1946:36, S. 316 – 335.

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ten Antrag vom Sommer 1940 ging hervor, dass der Name der Schwester bereits auf der Warteliste für die Einreise in die USA stand. Dennoch lehnte das Außenministerium den Antrag neuerlich ab. Aus drei weiteren Ansuchen aus den Jahren 1940 und 1941 geht die zunehmende Bedrohung der deutschen Juden hervor. Laut dem letzten Ansuchen vom September 1941 war F gefangen genommen worden und saß im Gefängnis. Am 1. Oktober 1941 bewilligte das Außenministerium schließlich ihren Antrag, nur wenige Wochen bevor das NS-Regime endgültig die deutschen Grenzen für Juden schloss. F konnte nicht mehr ausreisen und starb im Frühjahr 1942 im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Kommission befand es beachtenswert, dass sie keine Einreiseerlaubnis bekommen hatte, solange ihr noch die Ausreise möglich gewesen war. Obwohl sie einen nahen Angehörigen in Schweden und ausreichende Garantien für die Weiteremigration hatte, kostete ihr die Ablehnung des Außenministeriums schließlich das Leben. Es sind noch zahlreiche weitere ähnlich gelagerte Fälle bekannt. Es handelt sich um deutsche Juden mit Verwandten in Schweden und garantiertem Lebensunterhalt, die trotz wiederholter Antragstellung nicht rechtzeitig die Einreisegenehmigung für Schweden erhielten. Viele dieser Beispiele, in denen die Behörden die Einreisegenehmigung verweigerten, stehen im Widerspruch zu den ohnedies bereits sehr strengen Bestimmungen, die zu der Zeit in Schweden galten: den zwei Voraussetzungen, einen nahen Verwandten und eine Garantie für den Lebensunterhalt zu haben. Zusätzlich ist diesen Fällen gemein, dass die Ablehnung von schwedischer Seite ein indirektes Todesurteil bedeutet hatte.31

Die Internierten Die schwedischen Behörden machten in den 1930er Jahren von ihrer Befugnis, Flüchtlinge bereits an der Grenze abzuweisen oder ihnen die Einreise zu verweigern, eifrig Gebrauch. Doch bereits früh gab es Ausnahmeregeln für politische Flüchtlinge – sie durften nicht in ihr jeweiliges Land zurückverwiesen werden. Dadurch war es oft schwierig, einen abschlägigen Bescheid auszustellen. Als sich jedoch während des Krieges die Türen nach Schweden öffneten, kamen auch Flüchtlinge ins Land, die die Behörden in der Regel abgewiesen hätten oder denen man zumindest mit großem Misstrauen begegnet wäre. Mit dem Verbot politischer Tätigkeit für Emigranten wollte man vor allem der Spionage und Sabotage vorbeugen. Aber Kommunisten und Linke standen auch ganz allgemein unter Verdacht. Bereits nach Kriegsausbruch im September 1939 traf das Zentralamt für Sozialwesen Maßnahmen, um politische Flüchtlinge besser überprüfen zu können. Zuerst verbot man verdächtigen Personen den Aufenthalt in Großstädten, besonders in Stockholm, und schickte sie stattdessen aufs Land. Derartige Maßnahmen hatte

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die Landesverteidigung bereits seit einigen Jahren gefordert.32 Man war jedoch der Ansicht, das funktioniere nicht zufriedenstellend. Ende 1939 wandte sich das Zentralamt für Sozialwesen mit dem Vorschlag, »bestimmte Ausländer in dafür extra eingerichteten Lagern zu betreuen«, zuerst an den Sozialminister Gustav Möller.33 Die Regierung stimmte diesen Plänen zu und beauftragte das Zentralamt für Sozialwesen mit der Organisation solcher Internierungslager. Das Zentralamt für Sozialwesen übernahm zwei bestehende Einrichtungen mit Personal und sämtlicher Einrichtung, Långmora und Smedsbo, die zuvor als Arbeiterheime verwendet worden waren.34 Im Laufe des Jahres 1940 wurden insgesamt an die 400 politische Flüchtlinge, überwiegend Deutsche, ehemalige Deutsche und Staatenlose, eingesperrt. Für die meisten war die Dauer ihrer Internierung zeitlich begrenzt, zum Jahresende ließ man rund dreiviertel der Insassen wieder frei. Bedenkt man, dass sich zu diesem Zeitpunkt ca. 1.000 politische Flüchtlinge in Schweden befanden, war eine beträchtliche Anzahl davon interniert.35 Von jenen, die in den Einrichtungen festgehalten wurden, blieben ziemlich viele eine lange Zeit in Internierungshaft. Laut Gesetz sollte das Zentralamt für Sozialwesen die Internierung nach einem Jahr neuerlich überprüfen. 1942 waren 41 Personen länger als zwei Jahre interniert und weitere 11 länger als ein Jahr. Davon waren insgesamt 41 Deutsche, die restlichen kamen aus verschiedenen anderen Ländern.36 Besonders schlimm traf es entweder psychisch Kranke oder politische Flüchtlinge. Einige der Letztgenannten wurden erst interniert und dann in einer großen Razzia in Långmora und Smedsbo im Herbst 1942 aufgegriffen und u. a. der Vorbereitung zur Spionage verdächtigt. Der Verdacht konnte niemals bewiesen werden, dennoch blieben einige von ihnen lange im Gefängnis. Als man im Frühling 1943 im Reichstag auf ihre Situation aufmerk-

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Frank Meyer: »Dansken, svensken og nordmannen …«. Skandinaviske habitusforskjeller sett i lys av kulturmøtet med tyske flyktinger. En komparativ studie. Oslo: Unipub forlag 2001, S. 110 – 120. Förläggningskommittén, Betänkande med förslag rörande Differentiering av det flyktingklientel, som anses böra omhändertagas i förläggning, m.m. (Flüchtlingslagerkomitee für die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Auswahl jener Flüchtlinge, für die die Betreuung in einem Lager vorgesehen ist), 26. März 1942, F 3, Band 2, Hemliga arkivet: utlänningsärenden, Socialstyrelsen, RA, S. 1 f.; Meyer, »Dansken, svensken og nordmannen …«, S. 103 – 115. Förläggningskommitténs Betänkande, S. 3 f.; SOU 1945:1, S. 128 f. Utlänningsbyrån, protokoll A VII, Band 1 1940, Socialstyrelsen, RA. Weiters Jörg Lindner: »Att röka på förbjuden plats kostar en månads fickpengar«: svenska interneringsläger under andra världskriget: diskriminiering, dagradering och disciplinering. Arbetshistoria, H. 1, 1994 über das Lager Långmora; Kvist Geverts, Ett främmande element i nationen, S. 215 f. zur Anzahl der Flüchtlinge in Schweden. Das dort angeführte Personenregister zu den Protokollen mit Angabe der Nationalität ermöglicht die Berechnung der Anzahl Internierter. Protokoll, utlänningsbyrån, A VII, Band 3, Socialstyrelsen.

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sam machte, ließ die Regierung die Rechte der Internierten überprüfen und die meisten, die bereits lange Zeit in Haft saßen, kamen frei.37 Eine Bedingung für die Aufenthaltsgenehmigung politischer Flüchtlinge war die Unterlassung jedweder politischer Betätigung. Als Flüchtlinge vereinzelt um eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung ansuchten, wurde ausdrücklich vermerkt, ob sie sich daran gehalten hatten. Schweden verlangte somit, dass politische Gegner des NS-Regimes, sobald sie nach Schweden kamen, jede politische Betätigung unterließen.

Die Deserteure Nach der deutschen Besetzung Norwegens im April 1940 schickte man größere Truppenverbände dorthin. Vom Sommer 1940 bis zum frühen Herbst 1943 zogen gut 2 Millionen deutsche Soldaten durch Schweden. Einige nutzten die Gelegenheit, vom Zug abzuspringen und sich als Deserteure zu melden. Gegen Ende des sowjetisch-finnischen Krieges im September 1944 wurde den Finnen von der Sowjetunion auferlegt, die ca. 200.000 deutschen Soldaten im Land zu vertreiben. Für sie führte der Weg von Finnland ins nördliche Norwegen. Dabei war es nicht weiter verwunderlich, dass sich eine Anzahl Deserteure von der deutschen Kriegsmacht nach Schweden absetzte. Die große Regierungskoalition in Schweden und die schwedischen Behörden sahen mit großer Unruhe und Misstrauen die von Anfang an wenigen deutschen Deserteure. Sie wurden in Gewahrsam genommen, wie es hieß, was bedeutete, dass sie im Gefängnis saßen. Im Herbst 1940 betreuten die schwedischen Behörden vierzehn Deserteure.38 Auf Druck der deutschen Botschaft in Stockholm sowie auf Initiative von Sozialminister Gustav Möller und seinem Staatssekretär Tage Erlander beschloss die Regierung am 1. November 1940, die Provinzialregierungen und andere lokale Behörden in einem geheimen Brief zu instruieren, deutsche Fahnenflüchtige umgehend abzuschieben.39 Für die betroffenen Deserteure war das ein folgenschwerer Beschluss – wenn sie von deutscher Seite aufgegriffen wurden, riskierten sie harte Strafen bis hin zur Hinrichtung.40 Möller und Erlander waren sich dessen offenbar bewusst. Deshalb fügten sie hinzu, dass »die Abweisung nur unter der Voraussetzung zu geschehen habe, dass der Deserteur die Möglichkeit habe, die Grenze zu überschreiten, ohne von jemandem auf der anderen Seite beobachtet zu werden«.41 37 38

Utlänningssakkunniga, PM 1. August 1943, S. 14. Siehe u. a. auch Gösta Engzells Rechenschaftsbericht im Anschluss an die parlamentarische Anfrage von Knut Pettersson, Folkpartiet, 22. Januar 1943, sowie das Schreiben des Außenministeriums an die deutsche Botschaft, 16. Oktober 1940 im Band P 1312, 1920 års dossiersystem, UD:s arkiv, RA, und SOU 1946:36, S. 248. 39 Geheimes Protokoll des Staatsrates, 1. November 1940, Socialdepartementet, RA. 40 Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner: Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus: Zerstörung einer Legende. Baden-Baden: Nomos 1987, S. 91. 41 Gösta Engzells Rechenschaftsbericht, 22. Januar 1943 im Band P 1312, 1920 års dossiersystem, UD:s arkiv.

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Geheimes Schreiben des Außenministeriums zur Abschiebung eines deutschen Deserteurs, 1942

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So geschah es in der Regel auch. Die schwedische Regierung organisierte Flüchtlingsschmuggel in ein Nachbarland. Nach gängiger Praxis kontaktierte das Landespolizeikommissariat das Außenministerium vor der Abweisung von Deserteuren und Außenminister Christian Günther entschied, ob sie bleiben durften oder nicht. Als dieser dann dem Auswärtigem Amt Bericht in Sachen Deserteure erstattete, wählte er eine optimistische Darstellung: »Es konnte nicht festgestellt werden, welche Strafe die Betreffenden bei ihrer Rückkehr ausfassten. In einem Fall kam indessen ein früherer Deserteur als Flüchtiger zurück, nachdem er zwischenzeitlich wieder im Dienst gestanden hatte.«42 Sie wurden auf jeden Fall nicht hingerichtet, meinte der Minister. In einem Resümee vom August 194243 wurde über die 41 Deserteure der deutschen Armee, die von den Behörden betreut wurden, berichtet, was mit ihnen seit dem 1. November 1940 geschehen war. Acht saßen in Schweden im Gefängnis. Zwei davon, die Österreicher Gottfried Auer und Franz Streller, waren außerdem zweimal im Herbst 1941 abgewiesen worden; es gelang ihnen allerdings beide Male, wieder nach Schweden zurückzukehren. Schließlich durften sie bleiben, kamen jedoch ins Landesgefängnis nach Luleå, wo sie ein halbes Jahr eingesperrt blieben. Formal gesehen galten sie als aus dem Reich abgeschoben, mit dem Zusatz, dass man sie nicht gegen ihren Willen nach Deutschland abschieben könnte. Nachdem der Abschiebungsbescheid nicht durchgeführt werden konnte, wurden sie stattdessen inhaftiert.44 Das Zentralamt für Sozialwesen merkte an, dass die Inhaftierung »unzufriedenstellend« sei in Hinblick darauf, dass diese Personen eine lange Zeit im Gefängnis sitzen könnten und dort einem starken psychischen Druck ausgesetzt wären. Insgesamt kamen nach dem Beschluss vom 1. November 1940 bis zum August 1942 27 Deserteure nach Schweden, die jedoch bleiben konnten. Gleichzeitig waren insgesamt 14 Personen, die sich als Deserteure ausgegeben hatten, abgewiesen worden.45 Nach weitgehend vertrauenswürdigen Angaben von schwedischer Seite verloren einige von ihnen das Leben.46 Schwedens Möglichkeiten, mit Sicherheit festzustellen, was mit den abgewiesenen Deserteuren passierte, waren jedoch klar begrenzt, sodass es 42 Engzells Rechenschaftsbericht, 22. Januar 1943, S. 2, und SOU 1946:36, S. 248. 43 Überblick über die Betreuung deutscher Deserteure, 21. August 1942, M. Hallenborg, Band P 1312, UD:s arkiv, 1920 års dossiersystem. 44 Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 565 – 570. Auer veröffentlichte später eine Autobiografie, in der er hauptsächlich über seine Zeit als Deserteur in Schweden berichtet. Gottfried Auer: Desertör på flykt genom Sverige: minnen från andra världskriget. Stockholm: Hägglund 2000. (Vgl. auch den Beitrag von Simon Usaty in diesem Band, Anm. der Hg.) 45 Über Hallenborg hinaus siehe auch das Schreiben des Generaldirektors des Zentralamts für Sozialwesen Karl Höjer an das Außenministerium, 22. Juli 1942, Band P 1312, UD:s arkiv, 1920 års dossiersystem. 46 SOU 1946:36, S. 248, Knut Petterssons parlamentarische Anfrage, FK Nr. 3/1943, S. 27 f.

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nicht leicht auszumachen ist, ob es sich um Gerüchte handelte oder in den einzelnen Fällen der Wahrheit entsprach.47 Im Frühjahr 1943 änderte sich die schwedische Politik gegenüber den deutschen Deserteuren. Die harte Kritik an der Neutralitäts- und Flüchtlingspolitik der Koalitionsregierung nahm zu. Die Regierung setzte Maßnahmen zur Wahrung der Flüchtlingsrechte, veranlasste u. a. eine öffentliche Untersuchung zur Zwangsinternierung – und änderte den Beschluss betreffend die deutschen Deserteure. Im April 1943 bewilligte die Regierung ihnen ein Bleiberecht.48

Schlussbemerkung Die schwedische Gesellschaft durchlief während des Zweiten Weltkrieges einen komplizierten Lernprozess. Man fand schnell heraus, wie viel man mit öffentlichen Mitteln leisten konnte, insbesondere wenn der öffentliche Sektor eng mit Interessensverbänden und Freiwilligen zusammenarbeitete. Eine Steuererhöhung weit über jenem Maße, das man bislang als Schmerzgrenze angesehen hatte, war machbar. Die Menschen waren in einem erstaunlichen Ausmaß bereit, das Land zu verteidigen und gefährdeten Nachbarländern zu helfen. Die Behörden lernten ebenfalls, eine große Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen. Die Evakuierungspläne der staatlichen Raumplanungsbehörde für die Bevölkerung in den Großstädten bei einem möglichen Bombenkrieg zeigten, dass es genügend Gebäude für eine vorübergehende Unterbringung von größeren Gruppen gab. Als zehntausende Flüchtlinge im Herbst 1943 nach Schweden kamen, lagen somit bereits eine entsprechende Organisation und Planung sowie die Bereitschaft und die Überzeugung vor, dass Lösungen im großen Stil möglich waren. Dabei spielte auch der Zeitpunkt eine Rolle. In den 1930er Jahren hatte man Anlass zu der Befürchtung, die Flüchtlinge könnten eine längere Zeit in Schweden bleiben, möglicherweise sogar den Rest ihres Lebens. Als der große Flüchtlingsstrom im letzten Kriegsjahr einsetzte, wusste man, dass der Krieg in absehbarer Zeit vorbei sein würde und die meisten Flüchtlinge beabsichtigten, nach Hause zurückzukehren. In der Flüchtlingsbetreuung ging es somit weniger darum, Fremde in die schwedische Gesellschaft zu integrieren, als ihnen vielmehr vorübergehend Betreuung und Unterstützung anzubieten. Gegen Kriegsende wurde es für die schwedischen Verantwortlichen ein zunehmend wichtiger werdendes Motiv, mit humanitärem Engagement den in den Augen der Alliierten sehr beschädigten internationalen Ruf Schwedens zu verbessern. (Übersetzung: Irene Nawrocka) 47 Siehe Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 567 f., Karl Höjers Schreiben an das Außenministerium, 22. Juli 1942, in dem er darauf hinweist, dass neun Deserteure, u. a. Auer und Streller, bereits seit längerer Zeit interniert sind. 48 SOU 1946:36, S. 250.

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Helmut Müssener

»Warum redeten wir so wenig über die zurückliegende Zeit?« (Otto Binder) Österreicher im schwedischen Exil. Flucht, Aufnahme, Aufgabe, Probleme, Leistung

Es ist mehr als 100 Jahre her, dass Otto Binder in Wien geboren wurde, einer von den siebenhundert bis neunhundert Personen aus Österreich, die nach der »Annexion« des Landes am 12. März 1938 in Schweden für kurze Zeit, ehe sie beispielsweise nach Großbritannien oder in die USA weiter flohen, oder auch für immer ihre Zuflucht fanden. Otto Binder stellt die Frage »Warum redeten wir so wenig über die zurückliegende Zeit?« in seinem Buch »Wien – retour. Bericht an die Nachkommen«.1 Zwar bricht er selbst, wenn auch spät, dieses Schweigen, aber die Frage ist dennoch bis heute, fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, aktuell geblieben. Sie soll und kann aber im Folgenden nicht beantwortet werden. Es wäre ein allzu weites Feld. Dagegen möchte ich nun aus zweiter Hand reden, das heißt, das beschreiben, was ich wie andere über diese Zeit erfahren und weitergegeben habe. Ich möchte also über »die zurückliegende Zeit reden«, spät, aber noch nicht zu spät für die zweite Generation, die der Kinder, die auch die meine ist, und die dritte, die der Enkelkinder, und ich möchte versuchen, eine notgedrungen allzu kurze Antwort darauf zu geben, wie es in dieser zurückliegenden Zeit aussah, warum Personen wie Otto Binder fliehen mussten, was sie im Aufnahmeland Schweden erwartete, wie man sich organisierte, welche Aufgaben man sich stellte, welche Probleme man vor allem mit sich selbst hatte und was man leistete.2 700 – 900 Personen, das ist eine kleine Zahl, denn insgesamt verließen bis zu 170.000 politisch und »rassisch« Verfolgte das Land, das heißt, nur etwa 0,5 Prozent dieser 170.000 erreichten das Gastland Schweden. Sie wa1 2

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Otto Binder: Wien  – retour. Bericht an die Nachkommen, 3., ergänzte Auflage. Wien – Köln - Weimar: Böhlau 2010, S. 118. Vgl. hierzu in chronologischer Reihenfolge u. a. Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974; Jan Peters: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933 – 1945. Berlin/DDR: Akademieverlag 1984; Helmut Müssener: Österreichische Wissenschaftler im schwedischen Exil. In: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaftler, hg. von Friedrich Stadler. Wien – München: Verlag Jugend und Volk 1988; Thomas Kiem: Das österreichische Exil in Schweden 1938 – 1945. Innsbruck u. a.: Studienverlag 2001.

ren eine bunte Mischung. Sie bestand zum einen, der weitaus größten Mehrheit, etwa 85 Prozent, aus denjenigen Männern, Frauen und Kindern, die von der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung betroffen waren, zum anderen aus politisch Verfolgten jeglicher Couleur, einer deutlichen Minderheit von etwa 15 Prozent. Zum dritten traf aber auf viele dieser so diskriminierten Individuen wie Otto Binder zusätzlich der Tatbestand der Verfolgung durch die »Nürnberger Gesetze« von 1935 zu. Dabei sollte die von außen aufoktroyierte Rassenzugehörigkeit oft schwerere Folgen haben als die Zugehörigkeit zu einer Ideologie, der man rein theoretisch abschwören konnte. Diese Verfolgung aus so genannten »rassischen« Gründen traf alle, die für Humanismus und soziale Gerechtigkeit eintraten3, um das Vorwort des Buches von Otto Binder zu zitieren, aber traf auch die Anhänger des autoritären Regimes. Sie traf Kommunisten wie Sozialisten, Anhänger des Ständestaates wie Anhänger der Monarchie, politisch Engagierte wie politisch völlig Desinteressierte, assimilierte wie geistig noch dem Stetl verhaftete so genannte orthodoxe Juden. Ihnen allen stellte sich nun unfreiwillig die Frage nach der eigenen Identität. Sie hatten sich zu fragen: Bin ich derjenige, für den ich mich halte, oder derjenige, für den mich die anderen halten? Eine Aufforderung, die bereits am Apollo-Tempel in Delphi zu lesen war, ein Γνῶθι σαυτόν, »Erkenne dich selbst«, bekam bestürzende Aktualität. Sie galt nicht zuletzt auch für diejenigen, die, wie Otto Binder es formuliert, dem Teil des Wiener Judentums entstammten, in dem »der Platz der Religion von der stark freidenkerisch orientierten Sozialdemokratie eingenommen«4 worden war. Die Aufforderung, sich selbst zu erkennen, traf aber nicht nur für ihn und seine Genossen aus der Arbeiterbewegung zu. Sie galt auch für die weitaus größere Zahl seiner bürgerlichen Schicksalsgenossen. Sie alle hatten einen Preis bezahlt für den Eintritt »in eine höhere, in die deutsche, in die europäische Kultur«5. Sie hatten ihn bezahlt mit dem Anschluss an eine marxistisch gefärbte Ideologie, mit Bildung und Arbeit, mit Heirat, mit Taufe. Aber nun waren Taufurkunden und Bekenntnisse jeglicher Art ungültig geworden, die »Konvertierten galten als ›Volljuden‹«6, auf welche Art und Weise sie auch immer konvertiert waren. Die Situation all dieser Flüchtlinge war verzweifelt. Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar, selbst einer der Betroffenen, beschrieb 1938 die Lage mit den Sätzen: »Ein Mensch fällt in den Strom. Er droht zu ertrinken. Von beiden Seiten springen, eigener Gefahr nicht achtend, Leute ins Wasser, ihn zu retten. Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und ins Wasser geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen 3 4 5 6

Dr. Günter Geyer, in: Binder, Wien – retour, S. 4. Binder, Wien – retour, S. 26. Otto Binder behandelt die Frage nach (s)einer jüdischen Identität eingehend in den ersten beiden Kapiteln seines Buches. Ebd., S. 27. Ebd., S. 73.

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Schreiben von Julius Horn an die Mosaische Gemeinde in Stockholm, Dezember 1938

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mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet.«7 Diese Sätze charakterisieren die Haltung der gesamten damaligen Staatenwelt einschließlich Schwedens und der Mehrheit seiner Einwohner. Ergänzt wurde sie durch ein Gebet, wie es bis heute an österreichischen Bauernhäusern zu lesen ist: »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an.« Es bestimmte die Haltung der Verantwortlichen bis nach den deutschen Niederlagen bei El Alamein und Stalingrad. Schweden war zudem damals alles andere als ein Gelobtes Land, in dem man Milch und Honig hätte vermuten können. In dem Hilferuf eines Julius Horn, Mariannengasse 25 in Wien 9, vom 6. Dezember 1938 an die Mosaische Gemeinde in Stockholm heißt es zunächst: »Ich bitte Sie, mir und meiner Frau womöglich zu helfen, Deutschland verlassen zu können, da es uns nicht mehr möglich ist, hier unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben keine Lebensmöglichkeit mehr, auch sind wir völlig mittellos.« Danach verdeutlicht der handschriftliche Brief die Gewichtung der eventuellen Zufluchtsländer: »Wir haben bis jetzt Absagen von Australien, Argentinien, England und Irland bekommen. Antworten von Bolivien, USA und Mexiko stehen noch aus.«8 Erst danach kam Schweden, das neutrale Land im kalten Norden, als Notlösung. Zwar gewährte es politischen Flüchtlingen wie Otto Binder ausdrücklich Asyl, aber diejenigen, die »lediglich« von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren, also Juden, galten nicht als politisch Verfolgte. In der schwedischen Gesetzgebung wie in der öffentlichen Debatte lassen sich zudem Argumente erkennen, die andere Personen als die Angehörigen der »arischen Rasse« für nicht wünschenswert erklären. Dieses Rassenargument war aber nur mitverantwortlich für den schwedischen Stoßseufzer, »wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet«. Denn ein zweites, zumindest ebenso schwerwiegendes Argument ging mit dem ersten Hand in Hand, nämlich Angst vor Arbeitslosigkeit und vor eventueller Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit waren 1938 in Schweden keineswegs überwunden. Organisationen wie die der Kleingewerbetreibenden, der Privatangestellten und der Musiker fürchteten sich vor Konkurrenz, und diese Angst teilten sogar akademische Standesvertretungen. Die notwendige Arbeitserlaubnis zu bekommen, war den Geflohenen schier unmöglich, und der Bedarf an privaten Sprach- und Klavierlehrern war nicht allzu groß. Zudem gab es nicht so viele freie Stellen als Dienstmädchen, um die Wünsche all der österreichischen Frauen und Mädchen zu erfüllen, die in schwedischen Zeitungen per Stellenanzeige eine solche An7 8

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Alfred Polgar, Prager Tagblatt, 18. September 1938. Archiv von Mosaiska Församlingen (Mosaische Gemeinde), Stockholm in Riksarkivet, Stockholm-Arninge. Photokopie des Briefes im Besitz des Verfassers.

stellung suchten. Eine staatliche Arbeitsmarktpolitik war zudem nur rudimentär vorhanden und existierte ebenso wenig wie eine geordnete Flüchtlingspolitik. Hinzu kam, dass das schwedische Bürgertum in seiner Mehrheit seit alters her deutschfreundlich war und sich nicht vorzustellen vermochte, dass das »Volk der Dichter und Denker« begonnen hatte, sich in ein »Volk der Richter und Henker«9 zu verwandeln. Dabei trug gefühlter, wenn auch nicht immer artikulierter Antisemitismus das Seinige dazu bei, all das zu relativieren, was sich in Deutschland seit 1933 und in Sonderheit auf Wiens Straßen seit März 1938 abspielte. Deutschfreundliche Zeitungen schürten darüber hinaus nach der »Annexion« Österreichs geschickt mit falschen Zahlen die Angst vor – so expressis verbis – einem »Judenimport«.10 Der Höhepunkt dieser Hysterie wurde im Februar 1939 erreicht, als die Studentenschaften der Universitäten Uppsala und Lund durch Mehrheitsbeschluss in Resolutionen, adressiert an König und Regierung, dagegen protestierten, dass sieben namhafte deutsche Ärzte, die von der NS-Rassengesetzgebung betroffen waren, eine Arbeitserlaubnis in Schweden erhalten sollten. Die Fachschaft der traditionsreichen Medizinischen Hochschule in Stockholm, des berühmten Karolinska Institutet, entblödete sich sogar nicht, zusammen mit einer kleinen schwedischen NS-Partei mittels eines Fackelzugs zu protestieren. Die Argumente waren die üblichen: Angst vor zukünftiger Arbeitslosigkeit und Überfremdung. Auch die Behörden errichteten bürokratische Hindernisse, um einer, so die Schlagzeile einer anderen schwedischen Zeitung, »Judeninvasion« vorzubeugen. Anderthalb Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen verlangte man von den Inhabern österreichischer Pässe ein Einreisevisum, und ab 9. September 1938 von allen Inhabern deutscher Pässe – österreichische Pässe waren ungültig geworden  – eine »Grenzempfehlung«. Eine schwedische diplomatische Vertretung musste bestätigen, »dass man Verwandte in Schweden hatte, die dort länger ansässig waren, dass man niemandem zur Last fallen würde und dass man die Absicht hatte, Schweden wieder zu verlassen«. Diese Hürden bedrohten aber die grundsätzliche Visenfreiheit zwischen Schweden und Deutschland, an der beiden Staaten gelegen war. So kam es zu Verhandlungen, in denen Schweden forderte, man möge auf deutscher Seite eine Lösung des Problems finden. Diese Lösung sollte es den schwedischen Behörden ermöglichen, bereits an der Grenze jüdische Böcke von deutsch-arischen Schafen zu scheiden. Die Schweiz, die im gleichen Boot wie Schweden saß, verhandelte parallel dazu und stellte, aller Wahrscheinlichkeit nach in Abstimmung mit Schweden, die gleiche Forderung. So ei9 10

Karl Kraus: Schriften, hg. von Christian Wagenknecht (= suhrkamp taschenbuch 1311-1322). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, Band 12 (Dritte Walpurgisnacht), S. 41. Zur schwedischen Flüchtlingspolitik und zur Arbeit der verschiedenen Hilfsorganisationen siehe Müssener, Exil in Schweden.

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nigten sich die Bevollmächtigten dieser drei Staaten am 5. Oktober 1938 in wenig schöner Kumpanei darauf, den berüchtigten J-Stempel als Allheilmittel einzuführen. Dies dunkle Bild des offiziellen Schweden wird allerdings aufgehellt durch die Solidarität und Hilfsbereitschaft verschiedener Gruppen der schwedischen Gesellschaft, vornehmlich der Arbeiterschaft, aber auch des radikal-liberalen Bürgertums. Sie setzten sich bereits seit 1933 im Zeichen von Humanität, Mitmenschlichkeit und Klassensolidarität für die Flüchtlinge aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa ein und rechneten nun selbstverständlich auch die Österreicher hinzu. Allerdings zogen auch sie nicht immer an einem Strang, sondern unterschieden ihrerseits ebenfalls zwischen Böcken und Schafen. Die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung, die größte und bestausgestattete Hilfsorganisation, nahm sich so nur der Angehörigen der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften wie Otto Binder an. Für Kommunisten war dagegen die weniger bemittelte Rote Hilfe zuständig. Gläubige Juden und solche, die es wieder geworden waren, konnten auf die Hilfe der Mosaischen Gemeinde zählen. Eine Sammlung für landesflüchtige Intellektuelle versuchte ihrerseits all denen zu helfen, die an nichts anderes als an Vernunft und Wissenschaft geglaubt hatten und somit zu diesem Zeitpunkt zwischen allen ideologischen Stühlen saßen. Unter den zahlreichen anderen kleinen und kleinsten Organisationen sei hier nur noch die Schwedische Israelmission erwähnt. Sie nahm sich derjenigen »Nichtarier« an, die zum Christentum übergetreten waren, aber auch anderer Bedrohter. Sie waren samt und sonders auf Spenden der Allgemeinheit und Beiträge ihnen nahe stehender Organisationen angewiesen. Dieser auf die Dauer unhaltbare Zustand wurde erst kurz vor Kriegsausbruch im Mai 1939 beendet, als erstmalig in Europa eine Behörde eingerichtet wurde, die staatliche Mittel unter den Gruppen und Organisationen verteilte. Sie wurden u. a. für die Kurse ausgegeben, in denen Versicherungsangestellte wie Otto Binder zu Metallarbeitern umgeschult wurden, um dann nach Ausbruch des Krieges die Arbeitsplätze zu füllen, die durch die Einberufung eines Großteils der schwedischen Arbeiterschaft frei geworden waren. Die österreichischen Flüchtlinge erreichten Schweden zu unterschiedlichen Zeitpunkten und auf unterschiedlichen Wegen, »öfter die Länder als die Schuhe wechselnd«11. Die meisten von ihnen kamen 1938 oder 1939 direkt aus der Heimat oder aus der Tschechoslowakei oder, wie Otto Binder, nach einem unfreiwilligen Zwischenaufenthalt in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald ins Land. Andere, darunter manche, die es ebenfalls zunächst in die Tschechoslowakei verschlagen hatte, erreichten Schwe11

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In Bertolt Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen« heißt es: »Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd | Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt | Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.«

den im April 1940 nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch deutsche Truppen, oder sie entkamen in den Jahren 1942 beziehungsweise 1943 den einheimischen und deutschen Schergen, als die Juden dieser Länder nach Auschwitz oder Theresienstadt verbracht wurden beziehungsweise verbracht werden sollten. Zu ihnen stießen vornehmlich während der drei letzten Kriegsjahre noch etwa 120 bis 150 so genannte Militärflüchtlinge, das heißt österreichische Soldaten der deutschen Wehrmacht, die von Finnland oder Norwegen nach Schweden geflohen waren. Es war Bruno Kreisky zu verdanken, der bei den schwedischen Behörden vorstellig wurde, dass sie nicht wie ihre deutschen Kameraden interniert wurden. Die Zahl der Flüchtlinge wurde gegen Kriegsende noch ergänzt durch einige wenige, fast ausnahmslos weibliche KZ-Häftlinge, die mit den weißen Bussen des Roten Kreuzes ins Land gelangten und sich als Österreicher beziehungsweise als Österreicherinnen zu erkennen gaben. Diejenigen, die »in den Fluss gestoßen worden waren, sich aber ans schwedische Ufer hatten retten können«, lebten danach unter höchst unterschiedlichen Aufenthaltsbedingungen.12 Das Prinzip »Zufall« konnte entscheidend sein, aber des Öfteren konnte man großen Nutzen ziehen aus Netzwerken von persönlichen Beziehungen und/oder wie Otto Binder der Zugehörigkeit zu Parteien und politischen wie religiösen Organisationen. Diese insgesamt höchstens 900 Flüchtlinge, die Schweden auf ihrer Flucht aus politischen Gründen erreicht hatten und/oder weil sie von der NS-Rassengesetzgebung betroffen waren, organisierten sich zum großen Teil in insgesamt vier, teilweise miteinander konkurrierenden Gruppierungen. Sie können zwar als Beispiel dafür angeführt werden, dass ein gemeinsames Schicksal manchmal eher trennt als verbindet, aber sie erfüllten in erster Linie die Aufgabe, österreichische Interessen im Gastland wahrzunehmen sowie und vor allem auch österreichische Souveränität, Identität und Kultur aufzuheben, und das in dreifacher Bedeutung des Wortes aufheben, also vieles bewahren, einiges für ungültig erklären und das Verbliebene auf eine höhere, neue Ebene heben. Der Klub österreichischer Sozialisten, dessen 120 – 150 Mitglieder sich spätestens ab 1941 unter dem Obmann Bruno Kreisky zusammenfanden, bildete auf neutralem Boden, ohne direkte Einwirkung der Westalliierten und der Sowjetunion, gewissermaßen den Gegenpol zu den Vertretungen der österreichischen Sozialisten im Exil in New York und London. Diesen gegenüber vertrat der Klub bereits im Juli 1943 Positionen, die sich erst allmählich durchsetzen, aber die die offizielle Haltung Österreichs nach Kriegsende ausmachen sollten. Man postulierte, dass »das österreichische Volk und Land durch die bewaffnete Gewalt des dritten Reichs annektiert 12

In diesem Zusammenhang sei die Lektüre der Seiten 92 – 104 des Buches von Otto Binder nachdrücklich empfohlen; sie vermitteln ein überzeugendes Bild vom alltäglichen Leben einer normalen – sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt von Normalität sprechen kann – Flüchtlingsfamilie im schwedischen Exil.

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wurde«, man forderte ein »freies, demokratisch-republikanisches Österreich« und man beanspruchte ein »Selbstbestimmungsrecht im Rahmen einer gerechten europäischen Friedensordnung«. Darüber hinaus erklärte man sich bereit, »mit der kommunistischen Partei Österreichs zusammenzuarbeiten und die Einigung vorzubereiten«, aber dies nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die Kommunistische Partei Österreichs jede Zusammenarbeit mit den »Dollfußfaschisten und Monarchisten« beendete.13 Die Landesgruppe der Kommunistischen Partei Österreichs hatte etwa fünfzig äußerst aktive Mitglieder. Auch ihre Haltung wurde dadurch beeinflusst, dass man sich auf neutralem Boden befand. So war man bereit, gegen den Willen der Parteibonzen im Londoner Exil so manchen Kompromiss zu schließen. In der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden trafen sich dann beide Gruppen gewissermaßen auf ideologisch neutralem Boden. In ihren Plenardiskussionen und Arbeitsausschüssen konnten alle Probleme des Nachkriegsösterreichs angesprochen und kontrovers diskutiert werden. Als am 28. Februar 1944 eine österreichische Delegation den alliierten diplomatischen Vertretungen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion eine von Bruno Kreisky verfasste Resolution über die Einberufung eines österreichischen Nationalkongresses überreichte, war dies die De-factoGründung einer überparteilichen Vertretung aller österreichischen Flüchtlinge in Schweden. Denn diese Delegation setzte sich zusammen aus vier Sozialisten, zwei Kommunisten und dem ehemaligen österreichischen Gesandten in der Türkei, Carl Buchberger, als bürgerlichem Vertreter. De jure wurde diese Vertretung dann am 11. Juni 1944 als Österreichische Vereinigung in Schweden gegründet. Sie wählte Bruno Kreisky zu ihrem ersten Obmann. Ihr gehörten zunächst etwa 130 Mitglieder des Klubs Österreichischer Sozialisten, etwa 40 Genossen der Kommunistischen Partei Österreichs und bis zu 80 so genannte Bürgerliche an. Dabei lassen diese Zahlen in etwa die relative Größenordnung der einzelnen Gruppen ebenso erkennen wie die Omnipotenz des politischen Exils gegenüber denjenigen, die ausschließlich von der NS-Rassengesetzgebung betroffen waren. Im März 1946 sollte sie etwa 600 Mitglieder umfassen. Ausdrücklich wird postuliert: »Die Österreichische Vereinigung ist unpolitisch«. Sie sollte eine diplomatische Vertretung ersetzen und nahm Schweden gegenüber die gleichen Aufgaben wahr wie die Gesandtschaften Dänemarks, Norwegens und der Tschechoslowakei, also anderer besetzter Länder. Darüber hinaus sollte 13

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Vgl. hierzu und den folgenden Abschnitten die Arbeiten von Müssener, Exil in Schweden, und Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, sowie vor allem den Aufsatz von Helmut Müssener: Ein großes Tabu? Zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit im österreichischen Exil im Exilland Schweden. In: Austrian Writers and the Anschluss: Understanding the Past – Overcoming the Past. Edited and introduced by Donald G. Daviau. Riverside/California: Ariadne Press 1991, S. 348 ff.

sich die Österreichische Vereinigung, wie es im Programm heißt, zum einen »schwedischen Institutionen zur Verfügung stellen für allfällige Hilfsmaßnahmen für Österreich nach dem Kriege«, zum anderen nach innen »durch Veranstaltungen kulturellen und geselligen Charakters den Zusammenhalt mit der Heimat unter den Österreichern in der Fremde enger gestalten« sowie drittens »einen Beitrag zur Erneuerung der kulturellen Beziehungen zwischen Schweden und Österreich leisten«. Es waren Aufgaben, die man in der Tat weitgehend erfolgreich erfüllte, eine Leistung, die nicht hoch genug einzuschätzen ist. Aber der Streit um den Anschluss an die Freie Österreichische Weltbewegung als angebliche Einheitsorganisation des österreichischen Exils wucherte von Anbeginn an als Spaltpilz in der noch jungen Vereinigung. Dieser Streit war von außen herangetragen worden, denn die Führung der Kommunistischen Partei Österreichs in Schweden forderte quasi auf Parteibefehl aus London wider bessere Überzeugung den Beitritt zu dieser kommunistisch geführten, aber sich nach außen überparteilich gebenden Organisation. Marxistische Linke, aber auch Exil und Emigration pflanzen sich bekanntlich durch Zellteilung fort. Dies wurde in Stockholm knappe zwei Monate vor Kriegsende, am 24./25. Februar 1945, erneut unter Beweis gestellt wurde. Es kam zur Spaltung, als auf der Jahresversammlung ein Antrag einer Ortsgruppe aus der Provinz abgelehnt wurde. Sie hatte den Anschluss an die Freie Österreichische Bewegung gefordert, weil »diese die Mehrheit der im Ausland lebenden Österreicher und die im Lande kämpfende Freiheitsbewegung verkörpert«. Diese unterlegene Minderheit war eine bunte Volksfrontmischung aus Genossen der Kommunistischen Partei Österreichs und bürgerlichen Legitimisten, Mitgliedern der Vaterländischen Front und vergrämten Sozialisten sowie Militärflüchtlingen. Sie erklärten ihren Austritt aus der Österreichischen Vereinigung und gründeten kurz vor Toresschluss am 8. April 1945 noch schnell eine höchst kurzlebige Freie Österreichische Bewegung in Schweden, die sich der »Weltbewegung« anschloss. Die konträren Stellungnahmen waren allerdings schon lange virulent. Sie werden erkennbar in einem Brief Bruno Kreiskys von Ende Oktober 1944, in dem er erklärt: »Wir wollen die Einheit der kommunistischen und sozialistischen Kräfte Österreichs, wir wollen die Einheit mit allen Konsequenzen, aber wir glauben nicht, dass sie erzielt werden kann auf der Basis unserer Unterwerfung unter Eurem [sic] Diktat [gemeint sind die Kommunisten in Schweden]. So kann man weder die Einheit i[m] Ausland noch im Inland erzielen«.14 Die Position der Gegenseite wird in einem Ukas eines KPÖ-Repräsentanten aus London deutlich, wenn er ein führendes Mitglied 14

Bruno Kreisky an August Moser, 31. Oktober 1944, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Akt Nr. 17137/a. Zitiert nach Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 92 (Hervorhebung von Helmut Müssener).

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Programm einer Matinee der Österreichischen Vereinigung in Schweden in Köping, November 1944 seiner Partei in Schweden mit Sätzen vergattert, die von Verbalinjurien strotzen: »Jede Verständigung muß gegen dieses Verbrechergesindel«, also Bruno Kreisky und seine Genossen, »auf einer eindeutig österreichischen, anti-deutschen, nationalen Linie erfolgen. Es ist ebenso wenig möglich, sich mit Oscar Pollak, Friedrich Adler oder irgendeinem von dieser Sippschaft zu verständigen, wie eine Verständigung zwischen Tito und Michailovic oder zwischen anderen nationalen Freiheitskämpfern und Agenten des deutschen Imperialismus.«15 Damit waren die Fronten abgesteckt, die seit August 1944 auch in den beiden maßgebenden Publikationen des Exils in Schweden deutlich geworden waren, in der »Österreichischen Information« und in der »Österreichischen Zeitung«. Sie diskutierten strittige Punkte der österreichischen Geschichte und des österreichischen Selbstverständnisses, die teilweise bis heute Gegenstand innerösterreichischer Kontroversen sind. Die »Österreichische Information« erschien als Organ österreichischer Sozialisten ab September 1943. Sie beschränkte sich im Allgemeinen auf sachliche Informationen und reagierte nur gelegentlich auf die Angriffe der Konkurrenz. Diese Konkurrenz war die »Österreichische Zeitung«, die im August 1944 auf kommunistische Initiative hin gegründet worden war und 15

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Brief von Hans Winterberg an Willi Brandeker, 7. September 1944. Nachlass Hans Winterberg. Hier zitiert nach Ulf Brunnbauer: Der Nachlass Hans Winterberg im AGSÖ. In: Newsletter des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Juni 1994, S. 33.

um die sich die Anhänger der Freien Österreichischen Bewegung scharten. Sie sollte bis März 1946 erscheinen. Dort führte ein Militärflüchtling aus Vorarlberg die schärfste Klinge. Er stellte sich als junger Österreicher und Katholik vor, aber auch als reumütiger Angehöriger der Vaterländischen Front.16 Er suchte nun quasi als Scharfmacher und Wadenbeißer, Absolution zu erlangen. So verstieg er sich u. a. zu der Behauptung, die »Österreichische Information« und die Sozialisten leisteten durch ihre Weigerung, der Freien Österreichischen Weltbewegung beizutreten, Goebbels »Helferdienste«.17 Ebenso wird das sozialistische London-Büro ständig angegriffen und als Anhänger des Anschlussgedankens abqualifiziert. Darüber hinaus geht es um die Propagierung einer österreichischen Identität, die die »Österreichische Zeitung« primär aus der Abgrenzung gegenüber dem Anderen, d. h. Deutschland und allem Deutschen, heraus begründet. So erklärt sie kurz und bündig im Oktober 1944: »Die Österreicher sind keine Deutschen«18, und konstatiert im April 1945 »eine gewaltige Verschiedenheit in der Mentalität der beiden Völker«19, ohne dies aber zu begründen. Deutsch wird stets gleichgesetzt mit »faschistisch, nationalsozialistisch, militaristisch«, die Existenz eines »anderen Deutschland« geleugnet. Man spricht gebetsmühlenhaft von »Vergewaltigung« und »Fremdherrschaft«, und in Umkehrung der nationalsozialistischen Rassenpolitik hebt man hervor, »[e]in großer Teil der Österreicher ist nicht deutsch, sondern ein Gemisch von germanischem, slawischem Blut mit romanischen und madjarischen Beimischungen«. Und so verwundert wenig, wenn die »Österreichische Zeitung« die Beitrittserklärung eines Prinzen Ferdinand zu Liechtenstein begeistert begrüßt, der bekannte, er würde, »vor die Wahl gestellt, meine deutsche Muttersprache aufgeben zu müssen oder Deutscher zu werden, weit lieber meine Muttersprache aufgeben«.20 Dagegen akzeptiert die »Österreichische Information« ihrerseits die Existenz eines »anderen Deutschlands«. Sie ist überzeugt davon, dass »Deutschland immer ein wichtiger Partner für Österreich« sein wird. Aber auch sie sucht sich bis in die Sprache hinein vom großen Nachbarn abzugrenzen. So überlegt man noch im Juni 1945, »wie sich die Österreicher in Zukunft vor den Folgen der durch die gemeinsame Sprache mit den Reichsdeutschen leicht möglichen und bestimmt zu erwartenden Verwechslungen schützen können«. 16

Es handelt sich um Dr. Karl Pontesegger, der kurz nach Kriegsende nach Vorarlberg zurückkehrte und dort kurzzeitig Erster Sekretär der Arbeiterkammer in Feldkirch war. Er starb am 8. Juni 1954. 17 Müssener, Exil in Schweden, S. 227. 18 Österreichische Zeitung, 15. Oktober 1944. 19 Leopold Bruckmann: »An die Redaktion der ÖZ«. In: Österreichische Zeitung, 1. April 1945. Hervorhebung im Original. 20 »Deshalb schließe ich mich der Österreichischen Weltbewegung an«. In: Österreichische Zeitung, 15. März 1945.

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Mitgliedskarte der Freien Österreichischen Bewegung Die »Österreichische Information« lehnt ferner immer wieder klar und deutlich die Monarchie ebenso ab wie jegliche Zusammenarbeit mit Legitimisten und Anhängern der Vaterländischen Front, es sei denn, sie zeigten tätige Reue. Die »Österreichische Zeitung« dagegen verwahrt sich ihrerseits ausdrücklich gegen diese Vorleistung. Sie betont stattdessen, »die Frage des Staatsprinzips [sei] der Entscheidung des österreichischen Volkes nach dem Sturze der Fremdherrschaft [zu] überlassen«.21 Bohrte die »Österreichische Zeitung« ständig auf dem Nerv der Haltung des sozialistischen London-Büros zum »Anschluss«, so wühlte die »Österreichische Information« ihrerseits ebenfalls in einer offenen Wunde des Widersachers. Sie forderte unter der Parole »Der 12. Februar 1934, der erste bewaffnete Kampf gegen den Faschismus«, dass die Freie Österreichische Bewegung zum Bürgerkrieg von 1934 Stellung beziehen und die Schuldigen, die Anhänger der Vaterländischen Front, eindeutig und entschieden verurteilen müsse, obwohl diese ja nun die Verbündeten der Kommunistischen Partei Österreichs in der propagierten »Volksfront aller Österreicher im Exil« waren.22 Notgedrungen erklärte nun die »Österreichische Zeitung« diesen Tag zu »Österreichs Unglückstag«23, forderte aber gleichzeitig dazu auf, ihn zu vergessen und nicht in der Vergangenheit zu graben.

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August Moser: Stockholm contra London, undatiert. Nachlass Hans Winterberg, Briefe 19/4.1. Zitiert nach Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 77. Die erste Schlacht gegen den Faschismus. In: Österrikiska informationer Nr. 2, 1944. Österreichische Zeitung, 1. Oktober 1944.

Äußerst verwirrend für Leser und Leserinnen beider Publikationen war auch die Darstellung des Widerstands in Österreich. Zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten wurden postuliert, die mit der Realität nichts oder nur wenig zu tun hatten. Beide gingen von einem massiven Widerstand in allen Lagern des österreichischen Volkes aus, den man in Ausmaß und Leistung mit dem Widerstand in Norwegen oder gar Jugoslawien gleichsetzte. Glaubte man den Publikationen, so verbargen sich zehntausende Deserteure allein in Wien, und zwei österreichische Bataillone in der Armee Titos in Slowenien warteten nur darauf, den antifaschistischen, antideutschen Kampf nach Österreich hineinzutragen und das Signal zu einem allgemeinen Volksaufstand zu geben. Jede noch so kleine Meldung wurde in geradezu inbrünstiger Hoffnung als Beweis für einen lebendigen Widerstand gedeutet, sei es, dass eine Bauersfrau angeblich nicht beim Löschen einer Fabrik geholfen habe, sei es, dass Arbeiter dadurch Sabotage leisteten, dass sie zu spät zur Arbeit kamen, oder sei es, dass ein Militärflüchtling voller Stolz berichtete, wie die Österreicher in seiner Einheit in einem strengen Winter entgegen dem Befehl weder mit Holz noch mit Kohle beim Heizen gespart und damit die Wehrkraft der deutschen Armeen zersetzt hätten. Aber man vermochte sich nicht darüber zu einigen, wer diesen Kampf leitete. Die »Österreichische Information« leugnete die Existenz einer Österreichischen Befreiungsfront als Teil der Freien Österreichischen Weltbewegung, wie sie dagegen vehement von der »Österreichischen Zeitung« propagiert wurde. Ebenso energisch bestritt diese nun die Existenz der überparteilichen Widerstandsgruppe O5. Sie erklärte sie so lange zur Chimäre, bis einer ihrer Repräsentanten, der österreichische Emigrant Ernst Lemberger, als Offizier der französischen Armee unter dem Namen Jean Lambert leibhaftig in Schweden erschien und Zeugnis für die Existenz der Organisation ablegte. Obwohl der Weltkrieg im Mai 1945 zu Ende war, sollte es bis März 1946 dauern, bis sich die beiden konkurrierenden Organisationen erneut in der Österreichischen Vereinigung in Schweden zusammenschlossen, die übrigens bis heute besteht. Bereits vorher aber hatten Österreichische Vereinigung und Freie Österreichische Bewegung, jede für sich, ihren Einsatz für das Not leidende Heimatland begonnen. Schon September 1945 setzten sie erste Hilfssendungen auf abenteuerlichen Wegen über Marseille und Gdynia in Marsch. Otto Binder notiert mit Stolz, »wir waren in der Lage, lange vor den amerikanischen ›Care‹-Paketen, Nahrungsmittel nach Österreich zu schicken«.24 Vor allem der Einsatz der Österreichischen Vereinigung ist hier zu nennen, aber nicht nur in diesem Bereich. Dank seiner guten Verbindungen zu den schwedischen Behörden hatte ihr Vorsitzender Bruno Kreisky bereits 1944 erreicht, dass österreichische Militärflüchtlinge als politische Flüchtlinge anerkannt und aus den Internierungslagern entlassen wurden. Er nutzte 24 Binder, Wien – retour, S. 104.

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diese Verbindungen nun, um durchzusetzen, dass Listen der Personen erstellt wurden, die die österreichische Staatsangehörigkeit verloren hatten, und dass in den Fremdenpässen der Hinweis auf eine »ehemalige deutsche Staatsangehörigkeit« ersetzt wurde durch den auf eine »ehemalige österreichische«. Dies waren kleine, aber wichtige Fortschritte auf dem Weg zur Wiederherstellung einer österreichischen Souveränität und Identität. Ihm gelang es auch, die Erlaubnis dafür zu erwirken, dass erste Delegationen aus Österreich nach Schweden kommen konnten. Darüber hinaus wurde er vom schwedischen Innen- und vom Sozialministerium beauftragt, für das schwedische Hilfswerk Rädda barnen (Rettet die Kinder) Verbindung mit Österreich herzustellen, um die Lieferung von Medikamenten und Lebensmitteln für tausende österreichische Kinder und anderes mehr zu koordinieren. Die Österreichische Vereinigung und auch die Freie Österreichische Bewegung erfüllten ihre oben erwähnten programmatischen Ziele trotz aller ideologischen Kontroversen im Übermaß. Es war ihnen in der Tat nicht nur gelungen, »sich schwedischen Institutionen zur Verfügung zu stellen für allfällige Hilfsmaßnahmen für Österreich nach dem Kriege«. Sie hatten auch erreicht, dass »durch Veranstaltungen kulturellen und geselligen Charakters de[r] Zusammenhang mit der Heimat unter den Österreichern in der Fremde enger« gestaltet wurde.25 Legio sind die Veranstaltungen in Stockholm wie in der Provinz, auf denen Tee und Gebäck angeboten wurde, aber zu denen Zuckerstückchen mitzubringen waren. Auf ihnen wurde durch eine bunte Mischung von Klaviermusik und Liedern österreichischer Komponisten, durch Lesungen und Rezitationen österreichischer Dichter, durch kleinere Sketches österreichischer Autoren, dargeboten und vorgetragen von österreichischen Künstlern im schwedischen Exil, Kultur als gemeinsamer Nenner gefeiert.26 Kultur bewahrte und stiftete Identität. Nicht zuletzt leisteten die beiden Organisationen ferner einen großen Beitrag »zur Erneuerung der kulturellen Beziehungen zwischen Schweden und Österreich«, als man das Österreichbild, das in Schweden seit der Jahrhundertwende fest verankert war, schon im November 1945 durch eine »Österreichische Woche« in Stockholm endgültig festigte. Sie wurde zusammen mit der bereits erwähnten Hilfsorganisation Rädda barnen (Rettet die Kinder) durch einen ad hoc von der Freien Öster25

Statuten der Österreichischen Vereinigung in Schweden, Västerås stadsbibliotek, hylla 16: »Österrikisk emigration i Sverige – Österreichische Emigration in Schweden« (heute im Arbetarrörelsens arkiv, Stockholm). Zitiert nach Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 77. 26 Vgl. hierzu Elisabeth Röhrlich: Donauweisen und Arbeiterlieder – Zur österreichischen Kulturpolitik im schwedischen Exil. In: Exil. Forschung. Erkenntnisse. Ergebnisse, 28. Jg., H. 1, 2008, S. 47 – 58. Röhrlich geht aber ausschließlich auf die Arbeit des Klubs österreichischer Sozialisten ein. Sie ignoriert leider völlig die kulturelle Arbeit der Freien Österreichischen Bewegung, die nach dem gleichen Strickmuster durchgeführt wurde.

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reichischen Bewegung und der Österreichischen Vereinigung in Schweden gebildeten Österreichischen Repräsentationsausschuss in Schweden veranstaltet. Ihr Programm mit Kirchenkonzerten, wissenschaftlichen Vorträgen, Filmvorführungen, musikalischen Soirées sowie einer Festvorstellung in der Königlichen Oper in Stockholm mit einem Potpourri österreichischer Kunst von der »Leonoren-Ouvertüre Nr. 3« Ludwig van Beethovens und dem dritten Akt von Wolfgang Amadeus Mozarts »Figaros Hochzeit« über FranzLehár-Lieder und Arthur Schnitzlers »Abschiedssoupé« bis hin zur »Fledermaus-Ouvertüre« und dem »Kaiserwalzer« von Johann Strauss war eine beispiellose Abschiedsmanifestation des österreichischen Exils in Schweden. Ihr Reingewinn von 500.000 Kronen wurde durch die schwedische Regierung mit einer Million aufgestockt und kam den Not leidenden Kindern Österreichs, in Sonderheit Wiens, zugute. Diese Soirée war auch der endgültige Beweis dafür, dass die Österreicher und Österreicherinnen im schwedischen Exil erfolgreich verhindert hatten, dass ihre Heimat in der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung ihres Gastlandes zur Ostmark, zu einem Bestandteil des Großdeutschen Reiches geworden war. Österreich war im Urteil Schwedens Österreich geblieben. Hier ist es endlich auch an der Zeit, der etwa 40 Schriftsteller, Journalisten, Musiker, bildenden Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler zu gedenken, die es nach Schweden verschlug. Sie machen immerhin nahezu 10 Prozent aller derjenigen aus, die als Erwachsene das rettende Ufer erreichten und in Schweden blieben. Was sie erwartete, beschreibt der dänische, sozialkritische Romancier Martin Andersen-Nexö mit den Worten: »Die Aufgabe der Emigration ist die schwerste, aber auch die wertvollste, die es gibt. Wie Keime und Samen der Freiheit wehen sie über die Grenzen und bereichern die Kultur der Länder, wo sie Obdach finden«, wobei aus nahe liegenden Gründen zu bezweifeln ist, dass die Aufnahmeländer die anschließende Mahnung »Jedes Land sollte die Emigranten mit offenen Armen aufnehmen – und dazu dankbar sein«27 verstanden oder gar beherzigten. Zusammen mit all denjenigen, die im Schweiße ihres Angesichts mit ehrlicher, gewöhnlicher Arbeit ihr Geld verdienten, verdeutlichten sie den kulturellen, den intellektuellen und wirtschaftlichen Verlust des Heimatlandes; es war ein schwerer Aderlass. Sie alle wären einer eingehenden Würdigung wert, aber da das Risiko eines reinen Name-Dropping nahe liegt, möchte ich nur einige, stellvertretend für alle, durch eine Kürzestbiografie vorstellen. Lise Meitner (1878 – 1968) war die engste Mitarbeiterin des deutschen Nobelpreisträgers von 1946, Otto Hahn. Ihr gelang im Januar 1939 die erste physikalisch-theoretische Erklärung der Kernspaltung, und sie hätte damit den Nobelpreis wohl ebenso verdient gehabt wie der Experimentator. Ab 1946 leitete sie die Abteilung für Kernphysik an der Stockholmer Techni27 Deutscher Freiheitskalender für die Leser und Freunde der Zukunft. Strassburg/Strasbourg: Edition Sebastian Brant 1939.

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schen Hochschule. Immerhin ehrte sie die Stadt Wien bereits 1947 mit ihrem Preis für Naturwissenschaften. Und als 85-jährige hielt sie ihren vermutlich letzten Vortrag an der Urania Volksbildungsanstalt in dieser Stadt, in Wien. Unter den Schriftstellern und Journalisten, quantitativ wohl die umfangreichste Gruppe, nenne ich hier nur Ernst Benedikt und Robert Braun (1896 – 1972), den rassistisch verfolgten, 1934 katholisch getauften Bruder Felix Brauns und Käthe Braun-Pragers.28 In Büchern wie »Im Schatten des Wienerwalds«29 – so die Übersetzung des schwedischen Titels – und in vielen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln schildert er einem zahlreichen schwedischen Publikum immer wieder die verloren gegangene Heimat, beschwört das alte Wien, aber auch die Verfolgung durch nationalsozialistische Machthaber und die Mühseligkeiten des Exils. Mit Besorgnis verfolgt er die Entwicklung Schwedens zum säkularisiertesten Staat Europas und kritisiert diese als streitbare Kassandra.30 Ernst Benedikt (1882 – 1973), ehemals Chefredakteur und Herausgeber der »Neuen Freien Presse«, gelangte 1939 über England nach Schweden. Zwar trat er öffentlich nicht weiter in Erscheinung, aber behandelte in seinen häufigen Rezensionen in der »Judisk Tidskrift«, der jüdischen Zeitschrift Schwedens, immer wieder österreichische Schriftsteller, Musiker und Maler. Eine Rückkehr in die alte Heimat lehnte er ab. Er war der Auffassung, »aber für uns Juden ist Zurückhaltung am Platz, bis eine ausdrückliche Aufforderung zur Rückkehr vorliegt«31, aber diese wurde bekanntlich nie ausgesprochen. Dennoch stand er unter anderem als Schwedenkorrespondent der »Presse« mit Österreich und seiner Heimatstadt auch weiterhin in Verbindung, in die er schließlich 1962 zurückkehrte. Unter den zahlreichen ausübenden Musikern und Komponisten seien ebenfalls zwei erwähnt, Hans Holewa und Maxim Stempel.32 Hans Holewa (1905 – 1991), Mitglied des Schönberg-Kreises, war Kapellmeister an der Wiener Volksoper gewesen. Seine Musik stieß im provinziellen, aber auch 28

Vgl. hierzu die Aufsätze des Verfassers: Ernst Moritz Benedikt. Österreicher und Jude im schwedischen Exil. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse, 9. Jg., H. 1, 1989, und Helmut Müssener: »Gott ist’s, der Flüchtlingen ein friedlich Heim verleiht« (Psalm 67). Zu Robert Brauns Exil(?)-Roman »Die Mutter der Flüchtlinge«. In: Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1933 – 1945, hg. von Johann Holzner, Sigurd Paul Scheichl und Wolfgang Wiesmüller (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft – Germanistische Reihe). Innsbruck: Institut für Germanistik 1991. 29 Robert Braun: I skuggan av Wienerwald. Stockholm: Norstedt 1969. 30 Robert Braun: Was geht in Schweden eigentlich vor? Analyse und Kritik einer Entchristlichung. Nürnberg: Glock und Lutz 1967. Das Buch liegt auch in einer schwedischen Übersetzung vor, Robert Braun: Vad händer i Sverige. Stockholm: Pro Veritate 1971. 31 Ernst Benedikt: Die Stellung der Juden gegenüber einem neuen Deutschland. Offener Brief an einen Freund. In: Judisk Tidskrift, März 1944, S. 103. 32 Siehe dazu auch den Beitrag von Henrik Rosengren in diesem Band. (Anm. der Hg.)

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futterneidischen Musik-Schweden nicht nur anfänglich auf großen Widerstand, eine Haltung, die er in dem Satz, »was unten verboten war, galt hier auch nicht«33, zusammenfasste. Es sollte bis in die sechziger Jahre dauern, bis seine großen Kompositionen erstmalig aufgeführt wurden, unter anderem in Sveriges Radio, dem schwedischen Rundfunk. Immerhin wurde er 1979, als Vierundsiebzigjähriger, noch zum Mitglied der Königlichen Musikalischen Akademie Schwedens gewählt. Maxim Stempel (1898 – 1972) war Kapellmeister am Theater in der Josefstadt in Wien gewesen und vorher 1924 – 1933 Lehrer am Robert-Schumann-Konservatorium in Düsseldorf. In Schweden trat er als Pianist, Musiklehrer und Musikkritiker hervor. Sein Sohn Paul Stempel wiederum legte als einer der führenden Opernregisseure Schwedens und Intendant der Norrlandoper im nordschwedischen Umeå Zeugnis für die Bedeutung der zweiten Generation der Flüchtlinge für das Aufnahmeland ab, die der Kinder und Jugendlichen. 2007 veröffentlichte er das Buch »Protektionismus oder Loyalität?  – Der schwedische Musikerverband und die Ausländer 1933 – 1945«34. Es ist eine Abrechnung mit der negativen Haltung des Verbandes zur Aufnahme von Flüchtlingen. Im Bereich der Filmkunst ist ein weiterer Angehöriger dieser zweiten Generation zu nennen, Harry Schein (1924 – 2006). Er kam 1938 als 14-jähriger mit einem Kindertransport aus Wien nach Schweden und entwickelte sich hier zum Selfmademan par excellence. Nach dem Verkauf seines erfolgreichen Unternehmens im Jahre 1960 konnte er sich ungestört seinen kulturellen Interessen widmen, wurde Medienexperte der regierenden schwedischen Sozialdemokratie und leitete 1963 – 1970 sehr erfolgreich das Schwedische Filminstitut, seine eigene Schöpfung. Hier, in diesem gesellschaftspolitisch wichtigen Bereich, konnte er einen Teil seiner kulturpolitischen Ideen verwirklichen und, wie auch die übrigen bisher Genannten, die Kultur des Aufnahmelandes bereichern. Adolf Schütz (1894 – 1974) war in Wien vor seiner Flucht Operettenund Revueregisseur und als Verfasser des Librettos maßgeblich beteiligt am großen Wiener Erfolg Zarah Leanders in dem musikalischen Lustspiel »Axel an der Himmelstür« von Ralph Benatzky. Zusammen mit seinem Mitemigranten Paul Baudisch (1899 – 1977) schrieb er für schwedische Filmgesellschaften die Drehbücher zu nahezu 30, teilweise sehr erfolgreichen Filmen, darunter solchen mit schwedischen Stars wie Viveca Lindfors und Nils Poppe, dem Heinz Rühmann des schwedischen Films. Und so weiter, und so fort … Sie alle, die hier genannten und die nicht genannten, die Angehörigen der ersten Generation wie die der zweiten, »Keime und Samen« sie alle, bereicherten »die Kultur des Landes, in dem sie Obdach« fanden, bereicherten die Kultur Schwedens. 33 34

Müssener, Exil in Schweden, S. 293. Paul Stempel: Protektionism eller lojalitet? Svenska musikerförbundet och utlänningarna 1933 – 1945. Stockholm: Bo Ejeby Förlag 2007.

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Ich bin überzeugt davon, dass nicht nur Otto Binder Martin AndersenNexö darin zugestimmt hätte, sondern wohl ausnahmslos alle Heimgekehrten. Ebenso überzeugt bin ich davon, dass es zum großen Teil das Verdienst der österreichischen Flüchtlinge war und ist, dass ihre Heimat in schwedischer Sicht stets das kleine, liebenswerte Land blieb, das vom großen, bösen Nachbarn überfallen und vergewaltigt worden war. Sie hatten darüber hinaus aber die Souveränität und Identität Österreichs fruchtbringend diskutiert und seine Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt. Spätestens Ende 1945 stellte sich dann die Frage, ob die Flüchtlinge zurück in die Heimat gehen sollten, wollten … und konnten. Viele, vor allem die von der Rassenverfolgung Betroffenen, lehnten die Heimkehr in ein Land ab, aus dem sie mit Schimpf und Schande verjagt worden waren und das mitschuldig war an dem Tod und an der Vergasung ihrer Angehörigen, andere hatten Angst, ständig mit eventuellen Tätern konfrontiert zu werden, dritte wagten es nicht, eine gerade neu gegründete Familie ins Chaos des Not leidenden Österreich zu überführen. Stellvertretend für manche gesteht Otto Binder: »Für mich, ohne finanzielle Reserven, mit Frau und einem kleinen Kind, gab es aber praktisch keine Möglichkeit, zurückzukehren. Wir sollten in Schweden bleiben, weil man uns in Österreich weder Arbeit noch Essen noch Wohnung geben könnte.«35 Es war eine Stellungnahme, die er aber nur bis 1949 aufrechterhielt. Hinzu kommt, dass »die pflichtgemäße Einladung an die Vertriebenen«36 von österreichischer Seite nie ausgesprochen wurde. Dennoch kehrten etwa 25 Prozent der einst Geflohenen in die Heimat zurück, eine vergleichsweise große Zahl, die fast ausnahmslos dem ideologisch-politischen Hintergrund der Verfolgten zu schulden ist. Es waren die politischen Flüchtlinge, die am Wiederaufbau der Heimat teilnehmen wollten, darunter, um nur einige wenige zu nennen, Sozialisten wie Bruno Kreisky, Josef Pleyl, Josef Hindels, Rudolf Holowatyi, Alois Reitbauer, Otto Binder und aus der Kommunistischen Partei Österreichs August Moser, Oskar Deubler, Ludwig Berg, Jakob Rosner. Die ersten erreichten die Heimat bereits Ende 1945, andere wie eben Otto Binder in den Jahren bis 1949, beladen mit Erfahrungen und Erlebnissen. Bruno Kreisky betrachtete die Jahre in Schweden stets als eine wesentliche Bereicherung und Abrundung seiner politischen Vorstellungen. Ich denke, auch seine Schicksalsgenossen dürften ihm zugestimmt haben, wenn er konstatiert: »Schweden war für mich das große Erlebnis einer funktionierenden und lebendigen Demokratie.«37 Die österreichischen Flüchtlinge hatten, um noch einmal Martin Andersen-Nexö zu zitieren, »Keime und Samen mit sich« geführt, die die Kul35

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Binder, Wien – retour, S. 103. Auch hier sei die Lektüre des Berichtes von Otto Binder nachdrücklich empfohlen, in dem das Für und Wider einer unsicheren Rückkehr sorgfältig abgewogen wird. Ebd. Bruno Kreisky: Erinnerungen. Das Vermächtnis eines Jahrhundertpolitikers. Hg. von Oliver Rathkolb. Wien u. a.: Styria-Verlag 2007, S. 253.

Fragebogen der Freien Österreichischen Bewegung zur Rückkehr nach Österreich

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tur des Aufnahmelandes Schweden bereichert hatten. Es hatte zwar die Emigranten nicht gerade »mit offenen Armen aufgenommen«, aber es hatte daher umso mehr Grund, »dankbar zu sein«. Mir scheint, ihr Schicksal und ihre Erfahrungen haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren, wie denn auch wir Heutigen stets der Mahnung Martin Andersen-Nexös eingedenk sein sollten: Die Aufgabe der Emigration ist die schwerste, aber auch die wertvollste, die es gibt. Wie Keime und Samen der Freiheit wehen sie über die Grenzen und bereichern die Kultur der Länder, wo sie Obdach finden. Jedes Land sollte die Emigranten mit offenen Armen aufnehmen – und dazu dankbar sein.38

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In: Deutscher Freiheitskalender.

Oliver Rathkolb

Otto Binder – Eine Persönlichkeit aus einer anderen Zeit

Als Otto Binder am 15. Februar 2005 im 96. Lebensjahr verstorben ist,1 wurde in den Nachrufen auf den langjährigen Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung, die er 22 Jahre lang geleitet hatte, auf seine Prägungen in der Sozialistischen Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit hingewiesen. Weitere Eckpfeiler seiner Biografie waren die Extremerfahrung in den NS-Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald, wo er ein Jahr inhaftiert war und gequält wurde, aber auch die positiven Erfahrungen im schwedischen Exil bis 1949. Ich selbst hatte das Privileg und Vergnügen, Otto Binder Mitte der 1980er Jahre im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Gründungsdirektor des Bruno Kreisky Archivs kennen zu lernen. Gemeinsam mit Irene Etzersdorfer interviewte ich ihn am 31. Juni 1985. Dieses Interview, das im Bruno Kreisky Archiv als Transkript dokumentiert ist, wird ebenso als Basis für die nachfolgende biografische Kurzdarstellung herangezogen wie sein erstes Erinnerungsmanuskript, datiert mit November 1986. In weiterer Folge vermittelte ich den Kontakt mit der Historikerin und Lektorin Dr. Doris Sottopietra, die Otto Binder bei der Publikation seiner Autobiografie unterstützte.2 Bemerkenswert ist, dass er auf die erste Frage in dem oben zitierten Interview hinsichtlich des sozialen Milieus als Antwort sofort seine jüdischen Vorfahren aus dem böhmischen beziehungsweise südmährischen Raum thematisierte. Ebenso wie Bruno Kreisky betrachtete sich Binder der »Schicht der jüdischen Einwanderer« zugehörig, die sehr bald – so im Falle Otto Binders – »in kleinbürgerlich kulturelle, intellektuelle Lebensweisen hineingefunden« hatten.3 Hier gibt es einen Unterschied, da Kreisky suggerierte, eher einer wohlhabenden Schicht anzugehören4; tatsächlich war dies nur in der Familie seiner Mutter, einer geborenen Felix aus Trebitsch, der Fall. Sein Vater Max war Angestellter in einem Textilunternehmen, aber 1938 1 2 3 4

Apa-Original-Textservice 0219 vom 16. Februar 2005. Otto Binder: Wien – retour. Bericht an die Nachkommen, 2., unveränderte Auflage. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2004. Interview von Irene Etzersdorfer mit Otto Binder, 27. Juni 1985, S. 2. Stiftung Bruno Kreisky Archiv Wien (SBKA), Box I.1.-1.2 / 12. Vgl. dazu die entsprechenden Familienporträts im ersten Band der Memoiren Bruno Kreiskys: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Siedler 1986.

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letztlich ohne nennenswertes Vermögen, ein Angehöriger der bürgerlichen Mittelschicht, dessen Einkommen für einen etwas gehobenen Lebensstandard aufging. Wie bei vielen anderen jüdischen Migranten war der Assimilationsgrad auch bei Otto Binder sehr hoch, seine Großmutter, die im Familienverband gelebt hatte, war sogar »in gewisser Weise antireligiös. Das hat zum Assimilantentum gehört und auch zu unserer Assimilation«.5 Hier steht Otto Binders Familie in einer breiten Tradition der jüdischen Zuwanderer, die ganz intensiv das Bildungsideal hochhalten. Alle Ressourcen werden für die Bildung der Kinder mobilisiert, wobei es aber eine klare Geschlechterhierarchie gibt – so auch in Otto Binders Familie. Otto sollte das Gymnasium besuchen, seine Schwester Heddy musste sofort nach der Volksschule arbeiten gehen. Nur in wohlhabenden Industriellen- und Unternehmerfamilien sowie in Familien mit hohem Bildungsniveau konnten die Mädchen ebenfalls aufs Gymnasium gehen beziehungsweise studieren. Gleichzeitig wurde Otto Binder aber früh bewusst, dass Bildung die antisemitischen Vorurteile nicht auflöst, ganz im Gegenteil. Gerade an den Universitäten wie auch der Universität Wien war bereits seit 1875 der Antisemitismus gegen jüdische Studenten stark und steigerte sich radikal bis zur Jahrhundertwende.6 So wurde er mit dem Antisemitismus sogar schon als Vorschulkind konfrontiert, eine negative Erfahrung, die in der Schule durch die Trennung im Religionsunterricht intensiviert wurde. Julius Binder, Ottos Vater, hatte mit einem Partner ursprünglich eine Spiegelbelegerei und Glasschleiferei gegründet. Der Erste Weltkrieg zerstörte den sozialen Aufstieg der Familie, da Julius – bereits 42 Jahre alt – während eines exzessiven Eilmarsches mit schwerem Gepäck in der Nähe von Sokal im nordöstlichen Galizien tot zusammenbrach. Seine Witwe Hermine, geborene Weissenstein, kaufte mit der Lebensversicherungssumme eine Wohnung in der Alser Straße 28 im 9. Bezirk und vermietete Zimmer, um die Familie, Otto und seine Schwester Heddy, über Wasser zu halten – unter anderem an ostjüdische Kriegsflüchtlinge. Zu Recht hielt Otto Binder fest, dass »seine Eltern ›Aufsteiger‹ waren«7 mit einem intensiven Bildungsanspruch im Theater- und Museumsbereich. Auch dies ist typisch für jüdische Assimilationsgruppen, wie zum Beispiel die Darstellungen von Albert Fuchs und Stefan Zweig nachhaltig zeigen.8 5 6

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Interview mit Otto Binder, 27. Juni 1985, S. 4. SBKA, Box I.1.-1.2/12. Vgl. dazu zuletzt verschiedene Beiträge in Oliver Rathkolb (Hg.): Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress 2013. Binder, Wien – retour, S. 19. Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich 1867 – 1918. Wien: Löcker 1996 (Neuauflage); vgl. zu Fuchs auch Hannes Stekl (Hg.): »Höhere Töchter« und »Söhne aus gutem Haus«. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 1999, S. 184 – 203; Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/Main: S. Fischer 1982.

Arthur Schnitzlers Roman »Der Weg ins Freie«9 wäre ebenfalls ein Beleg für die Bedeutung von Kultur und Kunst für das assimilierte jüdische Bürgertum. Genau an diesem Punkt setzte schon die zeitgenössische Kritik ein, wie beispielsweise Hermann Wendel in der sozialdemokratischen Wochenschrift »Die Neue Zeit«, der auf diese Konstruktion Schnitzlers eines »geistigen Wien« – eines »Literaten-Wien« – hinwies, dabei nicht das »arbeitende, das kämpfende Wien, das Wien der Nationalitäten- und Klassenkämpfe, […] auch nicht das kleinbürgerliche Wien, das Wien der Luegerei und der christlichsozialen Interessencliquen und auch nicht das großbourgeoise und nicht das aristokratische Wien«10 thematisierte. In diesem Sinne gehörte Otto Binder zu dem arbeitenden und kleinbürgerlichen Wien. Diese starke Affinität zur deutschen Kultur (mit österreichischen Spezifika) zeigte sich ebenso in dem erwähnten hohen Bildungsanspruch, sodass Otto trotz der großen finanziellen Probleme aufgrund von Schulgeld und der Kosten für Bücher die Mittelschule besuchen sollte. Teilweise erlebte er bereits in der Volksschule die positiven Auswirkungen der Gegenbewegung pädagogischer Natur gegen den autoritären Traditionalismus, der mit Drill und Dressur die Kinder zur passiv rezeptiven Arbeitshaltung erzog. Eine fortschrittliche Gruppe von Schulreformern um den sozialdemokratischen Unterstaatssekretär des Unterrichtsamtes Otto Glöckel hatte umfassende Reformkonzepte entwickelt, die aber ansatzweise nur im sozialdemokratisch dominierten Wien umgesetzt wurden. Vor allem auf Grund seiner antiklerikalen Maßnahmen, aber auch wegen seiner erzieherischen Toleranz und Liberalität fand Glöckel bei der Kirche und der Mehrheit der christlichsozialen Politiker keine Unterstützung. 1920 begann Otto Binder die Mittelschule im Realgymnasium in der Albertgasse – in einer Zeit einer »ersten virulenten Welle eines sehr rabiaten Antisemitismus«.11 Entsprechend den damals üblichen Kriterien wurden die Klassen geteilt: Klasse A war völlig jüdisch, Klasse B katholisch und die Klasse C bestand zu je einem Drittel aus Protestanten, Katholiken und Schülern israelitischer Konfession. Trotz des – übrigens sehr liberalen – Religionsunterrichts blieb die jüdische Religion für Otto Binder nicht erstrebenswert, hingegen fand er eine für ihn spannende und umfassende ideologische Betätigung in der sozialistischen Bewegung. In dieser »Teilung« nach Konfessionen spiegeln sich übrigens bereits diverse Konfliktlagen der Ersten Republik wider, doch sollten diese »Segregationstrends« die Probleme nur intensivieren und keineswegs die Konflikte auflösen oder zumindest entschärfen. 1924 musste er die Mittelschule verlassen, da seine Mutter das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte, und er begann als kaufmännischer Lehrling 9 10 11

Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman. Berlin 1908 (9. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1990). Nikolaj Beier: »Vor allem bin ich ich ...« Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk. Göttingen: Wallstein 2008, S. 159. Interview mit Otto Binder, 27. Juni 1985, S. 5. SBKA, Box I.1.-1.2 / 12.

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eine Ausbildung bei der Textilfirma Lederer & Wolf am Rudolfsplatz 13a im 1. Bezirk. Ursprünglich hatte sich Otto Binder bei den Pfadfindern engagiert, war aber dann im Februar 1926 mit seiner ganzen Gruppe in die Sozialistische Arbeiterjugend im 1. Bezirk eingetreten. Seit dieser Zeit war Binder politisch aktiv und nützte das umfangreiche Bildungsangebot der sozialdemokratischen Organisationen beziehungsweise der Volkshochschulen in Wien. In der Retrospektive fasste Otto Binder seine Motivationslage, der Sozialdemokratie beizutreten, wie folgt zusammen: Wir lebten in einer Welt, die geprägt war vom Zerfall eines Großreiches, auch mentalitätsmäßig ... In dieser Welt gab es zwei Dinge, zu denen man aufschauen konnte … das eine war die Sowjetunion, die Folgen der Russischen Revolution, der Aufbau des neuen Staates … Und das zweite war das »Rote Wien«. Wenn man sich das vorstellt – in dieser Stadt … in der wirkliches Elend herrschte, in der Hunderttausende arbeitslos waren, eine Weltstadt, die keine mehr war; … die Sozialdemokraten forderten die Brechung des Bildungsmonopols, den Abbau der Klassendünkel, die Akzeptanz der politischen Demokratie und die demokratische Durchdringung aller Lebensbereiche, also auch der Arbeitswelt ...12 Viele Kinder aus jüdischen Familien haben gerade wegen des offensiven Bildungsangebotes der Sozialdemokratie dort eine familienartige Heimat mit starker emotionaler Gruppenbindung gefunden. Otto Binder wurde sogar Obmann der SAJ I (im ersten Bezirk) und war bei der Obmännerkonferenz und im Bezirksparteivorstand vertreten. 1928 ging er zu einer Büromaschinenfirma (Mercedes), wo er 1931 entlassen wurde, um dann zur Wiener Städtischen Versicherung nach Salzburg zu wechseln. Sofort setzte er seine politische Aktivität als Jugendlichenobmann fort und hatte in der Kreisleitung der SAJ in Salzburg Sitz und Stimme. Die Vorurteile, die dem »Weaner« und Juden, aber auch dem Sozialisten in Salzburg entgegenschlugen, waren deutlich spürbar, doch Otto Binder blickte darüber hinweg. Auch in der Sozialdemokratie und gerade außerhalb Wiens war der Antisemitismus durchaus indirekt innerhalb der Arbeiterbewegung spürbar, wenngleich nicht einmal ansatzweise vergleichbar mit dem aggressiven und rabiaten Antisemitismus der Christlichsozialen sowie dem rassistischen Antisemitismus der deutschnationalen Gruppen. Doch im Gefolge des Bürgerkriegs vom Februar 1934 wurde Binder am 12. April 1934 verhaftet, drei Monate inhaftiert und aufgrund einer Verwaltungsstrafe wegen des Versuches der Wiedererrichtung einer verbotenen Partei – die Sozialdemokratische Partei wurde nach dem Bürgerkrieg verboten und aufgelöst – nach dem § 27 des Angestelltengesetzes fristlos von der Wiener Städtischen Versicherung entlassen. Der Grund war ein Brief, der abgefangen worden war, in dem sich Binder nach dem Zustand der Partei erkundigte. 12

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Binder, Wien – retour, S. 43.

Damit wurde er endgültig in den Untergrund gedrängt und trat der Revolutionären Sozialistischen Jugend bei. Aus Existenzgründen kehrte er nach Wien zurück, blieb aber in der Illegalität gegen den Austrofaschismus tätig. Trotz dieser mehrfachen Ausgrenzung als Sozialdemokrat jüdischer Herkunft ist Otto Binder eigentlich – und das zieht sich durch seine Erinnerungen – in der Retrospektive ein versöhnlicher Analytiker der Vergangenheit. An mehreren Stellen in seinem Buch attackiert er mit sehr heftigen Worten die Zeitgeschichte, die aus seiner Sicht die Geschichte nicht versteht, und Binder versucht, eher zu erklären und zu rechtfertigen, warum sozusagen diese große Begeisterung für den Nationalsozialismus entstanden ist. Hier argumentiert er ähnlich wie Bruno Kreisky. Dieser gehörte zu den Opfern des Nationalsozialismus – er war ja mehrere Monate in GestapoHaft, wurde geprügelt, gepeinigt, ausgewiesen, vertrieben – und trotzdem war es ihm möglich, mit einer relativ versöhnlichen Position in die Zweite Republik zu gehen. Das hängt wohl damit zusammen, dass Kreisky sein ganzes Leben immer wieder versucht hat, auch Menschen in einem aufklärerischen Sinn für die Demokratie zu begeistern, vielleicht sogar für die Demokratie zu erziehen. Und er war überzeugt – und hat das auch immer wieder artikuliert –, dass es möglich sein muss, ehemalige Mitglieder der NSDAP, aber auch Mitläufer von den Vorzügen der Demokratie zu überzeugen. Auch gegenüber dem autoritären Dollfuß- und später dem Schuschnigg-Regime bleibt Otto Binder versöhnlich, was eher atypisch für seine Generations- und Politikkohorte ist – so beispielsweise verglichen mit Bruno Kreisky, der in dieser Hinsicht nicht so milde gegenüber den Kanzlerdiktaturen Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg war. Diese Haltung mag vielleicht damit zusammenhängen, dass Otto Binder im Zusammenhang mit seinen beiden Konzentrationslagerhaftzeiten in Dachau und Buchenwald und den dort erlebten Stigmatisierungen und Folterungen auch die Leiden von prominenten, christlich-sozialen ehemaligen Funktionären gesehen hat, bis hin zur Quälerei und zum Tod des Richters am Oberlandesgericht Alois Osio, einer zentralen Figur im Sozialistenprozess 1936 (u. a. mit Bruno Kreisky als Angeklagten), der bereits 1934 den jungen Sozialisten Josef Gerl zum Tode verurteilt hatte. Otto Binder selbst war von der Gestapo am 24. April 1938 noch vor der angestrebten Emigration verschleppt und über das Lager in einer Schule in der Karajangasse in das KZ Dachau deportiert worden. Er überlebte das Martyrium vor allem aufgrund von Solidaritätsnetzwerken im KZ und wurde 1939 auf Antrag seiner Mutter aus dem KZ Buchenwald entlassen, wobei das »Matteotti-Komitee« eine wichtige Rolle spielte und ein Visum nach Schweden organisiert hatte. Otto Binders langjährige Salzburger Freundin Anni Pusterer, die auch politisch sehr aktiv war, konnte als Nicht-Jüdin und mit Glück ausreisen und kam kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Schweden. Die 71

Otto Binder, 2004 Jahre in Schweden sollten ihn wie die anderen österreichischen Exilanten wie Bruno Kreisky nachhaltig prägen. Sehr getrübt wurde dieses neue Lebensgefühl durch die Tatsache, dass es Otto Binder nicht gelang, wie Kreisky seine Familie, d. h. seine Mutter und seine Schwester, nach Schweden zu holen. Beide wurden 1942 Opfer der Shoah, von Otto Binders engerer Familie überlebten nur vier Mitglieder den Holocaust. Seine Mutter Hermine wurde am 2. Juni 1942 in Maly Trostinec ermordet, seine Schwester Heddy am 17. Juli 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und hat nicht überlebt. Selbst in seiner Darstellung der eigenen Verschleppung ins KZ Dachau, der brutalen Verhöre, der Folterungen, der Quälereien, bleibt Otto Binder letzten Endes, obwohl er eher ein sehr nüchterner und präziser Erzähler ist, relativ versöhnlich. So versucht er beispielsweise im Zusammenhang mit der Analyse der Diskussionen zum »Anschluss«-Jahrestag 1988 – zwei Jahre nach Beginn der heftigen Auseinandersetzung mit der NS- und Kriegsvergangen72

heit von Kurt Waldheim – eine Position zu diskutieren, die mich manchmal an jene von Viktor Frankl erinnert, die also versucht zu verstehen, zu verzeihen und nicht eine verurteilende Bewertung der Verhaltensweisen der Folterknechte und Täter des NS-Regimes umzusetzen. Aber letztlich quält ihn die Bedrohung seiner Familie durch die nationalsozialistische Stigmatisierung und Verfolgung. So beschreibt er die ersten Jahre in Schweden als Jahre im »Paradies voller Sorgen«13. Und zwar ging er dabei nicht so sehr auf die Lebensbedingungen der Flüchtlinge ein, die sehr restriktive Asylpolitik, die Polizeiobservationen, die sehr deutsch- beziehungsweise nazifreundliche Polizei etc. in Schweden, sondern ihn beschäftigte, was in Wien mit seiner Mutter, mit seiner Schwester und der übrigen Familie passierte. Verzweifelt versuchte er, sie nach Schweden zu holen. Was Bruno Kreisky schaffte, d. h. seinen Eltern die Flucht nach Schweden zu ermöglichen, gelang Otto Binder in tragischer Weise nicht. Gleichzeitig konnte Otto Binder aber nach einer einjährigen Umschulung als Metallarbeiter eine berufliche Tätigkeit finden, um dann später eine Familie zu gründen und seine geliebte Anni zu heiraten. Trotzdem litt er emotional, weil er seine Familie durch den nationalsozialistischen Terror verloren hatte. Und er beschreibt das auch am Anfang seines Buches, als er sich mit den Gräbern der Großeltern im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs auseinandersetzt und dann feststellt, dass aus der engeren Familie nur insgesamt vier Personen die Shoah überlebt haben. Er ist, und das unterscheidet ihn von manchen Funktionären wie Bruno Kreisky und anderen, nicht so politisch aktiv, was primär mit seinem sehr anstrengenden Beruf zusammenhing, aber er beobachtete und nahm, soweit es ihm möglich war, an den politischen Aktivitäten teil.14 Auch waren er und seine Frau Anni privat eng mit Paul und Lary (Klara) Böhm, Alois und Marianne Reitbauer, Bruno und Vera Kreisky und anderen befreundet. In seiner Darstellung des politischen Exils in Schweden streicht er die Bedeutung der Österreichischen Vereinigung in Schweden (ÖVS)15 um Bruno Kreisky hervor, weil Kreisky damit ein doppelter Coup gelungen ist. Erstens hat er es geschafft, auf der einen Seite Sozialdemokraten, aber auch konservative, bürgerliche Gruppen im schwedischen Exil zu vereinigen; und zweitens – etwas, das in seinen publizierten Memoiren fehlt, aber in diesem zitierten Interview vorkommt – meinte Otto Binder, dass diese Phase für Bruno Kreisky der eigentliche Einstieg in die Politik war. »Natürlich hat er, also Kreisky, einen großen Namen gehabt vom Sozialistenprozess. Aber den haben andere auch gehabt, das hat dann nicht gewirkt, nein, 13 14 15

Binder, Wien – retour, S. 92. Oliver Rathkolb, Irene Etzersdorfer (Hg.): Der junge Kreisky. Schriften, Reden, Dokumente 1931 – 1945. Wien: Jugend und Volk 1986, S. 168. Vgl. dazu ausführlich Thomas Kiem: Das österreichische Exil in Schweden 1938 – 1945 (Bruno Kreisky International Studies, Bd. 4). Innsbruck u. a.: Studien-Verlag 2001, S. 76 ff. Vgl. dazu auch als Kontext Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974.

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Gruppenfoto von 1939. Vorne: 3. v. l. Klara Böhm, 4. v. l. Alfred Stern; hinten (v. l. n. r.): Sophie Stern, Bruno Kreisky, Marianne Reitbauer, Alois Reitbauer sondern den Bruno Kreisky hat eine Eigenschaft immer ausgezeichnet, er hat immer ein phantastisches Gedächtnis gehabt. Der Bruno hat es verstanden und zwar durch den Buchberger16 in Kompanie mit ihm.«17 Gegen Ende seines Buches versucht Binder vorsichtig, eine heikle Frage anzusprechen, nämlich die Frage nach der aktiven Rückholung der Exilantinnen und Exilanten durch die sozialdemokratische Führung in Österreich. Binder weicht hier etwas aus und zieht sich auf die eigene Biografie und persönliche Erfahrung zurück, was durchaus legitim ist. Es ist seine Autobiografie. Wenn man aber dieses Thema in einen historischen Kontext stellt und z. B. mit der Politik der deutschen Sozialdemokratie in der Trizone vergleicht, ergibt sich ein anderes Bild. Die SPD tritt nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit einer klar antifaschistischen Linie auf und versucht, möglichst rasch die politischen Funktionäre zurückzuholen, auch gegen Widerstand der Westalliierten, die in den ersten Jahren primär auf totale militärische Kontrolle setzten und politische Unruhe durch die zurückkehrenden Exilanten fürchteten. Diesen vor allem bei den Westalliierten auftretenden Widerstand gab es ebenfalls in Österreich18, aber gleichzeitig läuft in der dortigen Sozialdemokratie die Rückholungs-Debatte anders. Viele bekannte sozialdemokratische Exilan16 17 18

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Der frühere österreichische Gesandte Carl Buchberger (1887 – 1974). Interview mit Otto Binder, 31. Juni 1985, Teil II, S. 38. SBKA, Box I.1-1.2/12. Vgl. Oliver Rathkolb: Die Paradoxe Republik. Österreich 1945 – 2005. Wien: Zsolnay 2005, S. 162 f.

ten wie Adolf Sturmthal oder z. B. Otto Leichter dokumentieren sehr deutlich, dass die innere Kerngruppe der SPÖ um Karl Renner, Adolf Schärf, später auch Oskar Helmer, eher bestrebt war, die jüdischen, linken, marxistischen – unter Anführungszeichen – Genossen draußen zu halten, oder zumindest »abkühlen« zu lassen, ehe sie wieder ins politische System integriert wurden, mit Ausnahme von Experten wie dem Zeitungsfachmann Oscar Pollak und wenigen anderen, die man unbedingt brauchte. Interessant ist, dass mir Otto Binder selbst, ohne ihn in seinen Memoiren wirklich auszuwerten, einen spannenden Briefwechsel zwischen dem bedeutenden ehemaligen Wiener Finanzstadtrat Hugo Breitner19 und Norbert Liebermann20, dem bereits 1934 zwangspensionierten Leiter der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt, in Kopie übergegeben hat. Liebermann, der bereits ab 1922 erfolgreich die Städtische Kaiser Franz-Joseph-JubiläumsLebens- und Rentenversicherungsanstalt reformiert und restrukturiert hatte, war 1947 vom sozialdemokratischen Bürgermeister Theodor Körner aus dem Exil in den USA zurückgeholt worden. Er sollte die Wiener Städtische Versicherung, die inzwischen in der NS-Zeit ziemlich gewachsen war, übernehmen und in der extrem schwierigen Nachkriegszeit konsolidieren. Hugo Breitner, der bereits nach seiner Inhaftierung 1934 im Jahr 1936 nach Florenz und dann 1939 weiter ins Exil in die USA flüchten musste, zeigte sich im Briefwechsel mit Liebermann total irritiert, dass ein höchst verdienter Funktionär als Finanzstadtrat kein Signal bekam, zurückzukehren, und er vermutete dahinter irgendwelche Winkelzüge der antisemitischen ehemaligen christlichsozialen Funktionäre. Hingegen erkannte er in dieser Korrespondenz eigentlich nicht, dass es die eigenen »Genossen« waren, die sich hier vor einer Einladung drückten. Als dann endlich unter massivem, auch internationalem Druck Schärf diese Einladung aussprach, war es zu spät. Breitner starb am 5. März 1946 im Exil in Claremont. Otto Binder thematisiert diese Problematik der »Rückholung wider Willen« nur am Rande. Er will sich eigentlich diesem Thema nicht stellen, sondern erzählt seine persönliche Geschichte, seine erste Rückkehr im März 1947 im Zusammenhang mit der Jugendinternationale, wo versucht wurde, auch noch die osteuropäischen, sozialdemokratischen Jugendbewegungen in einen internationalen Verband zu bringen, was im Kalten Krieg aber scheiterte. Genau rekonstruiert er die endgültige eigene Rückkehr auf Betreiben von Liebermann. Otto Binder überlegt persönlich sehr lange, ob er zurückkehren soll, und entscheidet letzten Endes nüchtern. Er lässt dabei alle emotionalen Faktoren draußen und überlegt sich, welche Chance er in der Versicherung in Wien haben könnte. Er hatte inzwischen bereits bei der schwedischen Versicherung »Folksam« als Angestellter eine Stelle gefunden.

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Dazu Wolfgang Fritz: Der Kopf des Asiaten Breitner. Politik und Ökonomie im Roten Wien. Hugo Breitner. Leben und Werk. Wien: Löcker 2000.  20 Vgl. http://www.dasrotewien.at/liebermann-norbert.html.

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ÖVS-Mitgliedskarte Bruno Kreiskys Letztlich hat sich Otto Binder dann aus diesen sehr pragmatischen Gründen entschlossen, spät aber doch nach Wien zurückzukehren. Er hat sehr rasch eine beachtliche Karriere in der Wiener Städtischen Versicherung gemacht und war, glaube ich, der einzige Generaldirektor eines großen, bedeutenden Unternehmens, der 1934 aufgrund einer dreimonatigen Haft aus eben diesem Betrieb fristlos entlassen worden war. Otto Binder repräsentierte für mich bis ins hohe Alter einen unglaublich spannenden, lebendigen und kritischen Diskutanten – u. a. bei Veranstaltungen im Bruno Kreisky Forum für Internationalen Dialog. Abschließend möchte ich betonen, dass Otto Binder ein Mensch war, der vielfache Traumatisierungen erfahren hat, durch den Verlust seiner engsten Familie und vieler Freunde, und dass er trotzdem ein freundlicher, liebevoller und bescheidener, kluger und wissbegieriger Mann geblieben ist. Die intensive Beschäftigung mit den Idealen der sozialdemokratischen Jugendbewegung ist wohl ein Erklärungselement für diese höchst bemerkenswerte innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die er ausstrahlte.

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Siglinde Bolbecher

Anni und Otto Binder: Widerstand – Illegalität – Inhaftierung – Exil Vom Exilland Kolumbien zum Exilland Schweden1

Eine Studienreise nach Kolumbien, die ich 1993 auf Anstoß und Rat von Hanny Hieger (die selbst mit einem Kindertransport nach England entkommen war und später in ihrem Berufsleben u. a. Kultursekretärin an der österreichischen Botschaft in Bogotá war) unternommen hatte, verlieh meinen Kenntnissen und Arbeiten zur Exilkultur und -literatur, deren bescheidene Anfänge in den 1980er Jahren lagen, einen entscheidenden Antrieb. Ziel dieser Reise war es, den Fotonachlass von Hermi Friedmann zu sichten und vielleicht eine Möglichkeit ausfindig zu machen, Teile dieses Nachlasses nach Österreich zu bringen, was mir damals in den frühen 1990er Jahren nicht gelungen ist – damals war niemand daran interessiert. Zweiter Anlass war Trude Krakauer, eine Lyrikerin und Schriftstellerin, die selbst erfolglos versucht hatte, in Österreich etwas zu publizieren, kennen zu lernen und ihr möglicherweise bei einer Publikation ihrer Gedichte behilflich zu sein.2 Aus Bogotá gab es eine Einladung der Soziologin Anita Weiss Belalcazar, Tochter von Kurt und Thea Weiss, ebenfalls nach Kolumbien geflüchtete Österreicher. Der Vater, Kurt Weiss, war verwitwet und befreundet mit Trude Krakauer; und wie sich dann später herausstellte, waren Thea und Kurt Weiss sowie dessen Schwester, die Sozialarbeiterin Elfi (Weiss) Lichtenberg, und ihr Mann, der Graphiker Franz Lichtenberg, wiederum Freunde von Otto Binder aus Jugendjahren und der Zeit der Illegalität. Ein weiteres wichtiges Bindeglied zwischen Kolumbien und Schweden war der teils in Wien lebende jüngere Bruder von Hermi Friedmann, der Chemiker Hans Friedmann3, der wiederum mit Understatement von seinem Freund, einem hohen Direktor, sprach, der im Widerstand während der Ständestaatsdiktatur 1934 – 1938 ein führender Funktionär der Revolu1

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Dieser Vortrag, den Siglinde Bolbecher am 18. Juni 2010 im Rahmen des Symposiums «Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren« hielt, wurde von Konstantin Kaiser für den vorliegenden Band überarbeitet, wofür wir ihm herzlich danken. Gedichte von Trude Krakauer erschienen erstmals in der Zeitschrift der Theodor Kramer-Gesellschaft »Mit der Ziehharmonika« beziehungsweise ab 2000 »Zwischenwelt« (Jg. 11, 1994, H. 3, S. 8 ff.; Jg. 13, 1996, H. 1, S. 26 f.). Siehe auch den Beitrag von Hans Friedmanns Sohn, Miguel Friedmann, in diesem Band.

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tionären Sozialistischen Jugend (RSJ) gewesen und nach Schweden ins Exil gegangen war. Ich wollte Ihnen mit diesen einleitenden Worten das politische, aber zugleich auch private Netzwerk, die Bedeutung der Freundschaften und der Zeitgenossenschaft, die in einem politisch-jüdischen Milieu eine ganze besondere Rolle gespielt haben, vor Augen führen. Diese Netzwerke sind auch wesentlicher Bestandteil einer österreichischen Exilkultur, wenn wir Autobiographien als Quellen ernst nehmen, sie einer kritischen Lektüre und Interpretation unterziehen. In seiner Autobiographie schreibt Otto Binder: Mich hat seit meiner Rückkehr nach Österreich, in steigendem Maße seit dem Gedenkjahr 1988, die klischeehafte, vereinfachende, Menschen in fixe Kategorien einteilende Darstellung der Zeit vor 1938 gestört. [...] Dies aufzuzeigen, ist mir aus folgenden Gründen wichtig: Ich befinde mich seit Jahren in wachsendem Gegensatz zu einer Literatur und Journalistik, die die Sicht auf die damaligen Geschehnisse simplifiziert und sie damit entstellt. Das gilt auch für Bereiche der Arbeiterbewegung, wie die Haltung zum Anschluß und vieles andere.4 Eigentlich nicht ganz logisch folgend führt Binder dann im nächsten Satz als Beispiel an, dass die Emigration in Schweden nach 1945 »kaum jene Berührungsängste mit Österreich zeigte, wie sie besonders stark aus der amerikanischen Emigration fühlbar wurden. Wir waren doch Österreich viel näher und daher eher imstande, die einzelnen Menschen zu sehen«5 und nicht in ein Kollektivschulddenken zu verfallen. Dahinter steht für mich – und das ist sicher ein durchgängiges Charakteristikum der Exilautobiographik – die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Diese impliziert die Frage, inwieweit in den 1930er Jahren der antifaschistische Widerstand den Antisemitismus, die gnadenlose Verfolgung in der politischen Analyse erfassen konnte. Otto Binder, am 2. Jänner 1910 in Wien geboren, entstammte einer jüdischen Familie. Sowohl die Vorfahren mütterlicherseits als auch väterlicherseits waren als Deutschsprachige aus Böhmen und Mähren zugewandert und hatten es zu kleinem Wohlstand gebracht. Von einer Atmosphäre der Geborgenheit geprägt sind die frühen Erinnerungen an die Besuche am heutigen Mexikoplatz (damals Erzherzog Karl-Platz), wo der Großvater Weissenstein eine Kaffeekonditorei und eine Greißlerei betrieb. Die Familie gehörte zu jenem Teil des Wiener Judentums, der sich »bewusst« assimilierte. Der Platz der Religion wurde zunehmend von der eher freidenkerisch orientierten Sozialdemokratie eingenommen: »Das Verhältnis zur Religion reichte von einer gewissen sentimentalen Anhänglichkeit über Distanziertheit 4 5

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Otto Binder: Wien – retour. Bericht an die Nachkommen. Wien – Köln – Weimar: Böhlau Verlag 1997, S. 63. Ebd., S. 62 f.

bis zur radikalen Ablehnung.«6 Und: »Äußere Frömmigkeit empfand man als fremd, die Orthodoxie östlicher Art verachtete man. [...] das Bewußtsein, Jude zu sein, gab es, weil es einerseits Antisemitismus gab und weil andererseits in dieser Menschengruppe starke Traditionen vorhanden waren, die man schätzte und pflegte.«7 Wieder zum zuerst angeführten Zitat Binders, der Klage über Simplifizierung, zurück: Der politische Bogen spannte sich von der eigenen, in der Illegalität gegen den austro-faschistischen Ständestaat 1934 bis 1938 gerichteten Tätigkeit als Funktionär in der RSJ über die politischen Positionen der Revolutionären Sozialisten (RS) zur »Gesamtdeutschen Revolution«, von der »Österreichischen Nationsfrage« hin zur Opposition gegenüber der (kommunistischen) Volksfront. Er berührt die Fragen einer sozialistischen Exilpolitik im Kontext des Brünner Auslandsbüros, das im Februar 1934 unter dem geflüchteten Parteivorsitzenden Otto Bauer sowie im Konflikt mit dem sich durchaus abgrenzenden Selbstständigkeitskurs der illegalen sozialistischen Bewegung in Österreich unter Joseph Buttinger gegründet worden war.

»... wieder arbeitslos, was eine viel ärgere Strafe als die Haft war« Im April 1934 wurden Otto Binder und seine damalige Freundin und spätere Frau Anni Pusterer in Salzburg wegen Betätigung für eine verbotene Partei verhaftet und verurteilt. Seit 1931 hatte Otto Binder bei der dortigen Geschäftsstelle der Wiener Städtischen Versicherung gearbeitet. Es folgte die »fristlose Entlassung« Otto Binders nach § 27 des Angestelltengesetzes wegen Abwesenheit durch Haft. Im Herbst 1934 kehrte er nach Wien zurück und beteiligte sich am Aufbau der illegalen RSJ: Kontakte hatte er schon über Josef Pfeifer, den Leiter der RS in Salzburg, der 1932 ebenfalls aus Wien zur Salzburger Städtischen gekommen war, geknüpft. In Wien stieß Otto Binder auf den alten Freundeskreis: Die neuen Revolutionären Sozialisten und die Jugendorganisation waren zu einem Teil aus dem Funktionärsstab der früheren Organisation, also jener vor 1934, gebildet worden: Egon Breiner (Schlosser, Exil in Schweden, dann ab 1941 in den USA), Roman Felleis, Bruno Kreisky, Manfred Ackermann, Otto Probst, Paula Mraz, Hans Bock (aus Hernals, illegaler Name »Gärtner«), Karl Hubeny, Hans Fellinger (aus Ottakring, eigentlicher Organisator der illegalen Sozialistischen Jugend, illegaler Name »Bussi«), Hans und Steffi Kunke (beide kamen im KZ ums Leben) sowie die jüngeren Mitglieder wie Alois Reitbauer (ebenfalls Exil in Schweden), Hasi (Joseph) Simon (flüchtete über Dänemark und Schweden in die USA, wurde Leiter des Kreises Wien-Nord der RSJ), Peter Strasser, Jenny Berger-Strasser, Anny Feuermann, Luki Landwehr (Jus-Student, Emigration nach Palästina; als 6 7

Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 26.

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David Landor hoher Beamter im israelischen Informationsdienst, Pressesprecher der Regierung), Adolf Kozlik (Exil in den USA). Ich zitiere nun aus Joseph T. Simons autobiographischem Bericht »Augenzeuge«, in dem er die folgende, mir sympathische Charakteristik Otto Binders gibt: »Otto Binder war mir schon in der legalen Zeit aufgefallen, zunächst durch seine hohe Stirn, die bis zum Nacken reichte, und dann durch sein ruhiges und überzeugendes, eindrucksvolles Argumentieren.«8 Eine deutliche Parallele zwischen den Erinnerungen Otto Binders in »Wien – retour« und der politischen Autobiographie Joseph Simons findet sich in der Nennung dieses politischen Kreises, den ich nicht als Ersatzfamilie bezeichnen, jedoch als menschliche Beziehung hervorheben will, welche die Illegalität erst ermöglichte und sich als ganz wesentlich für das Überstehen der Qualen des Exils erwies. Anni Pusterer ist nach der Haft 1934 – und dies hat mir ihre Tochter, Margit Fischer, im Gespräch vom 14. Juni 2010 nochmals bestätigt – nicht mit nach Wien gegangen. Da sie beide arbeitslos und der Polizei bekannt waren, wollte Anni Pusterer Otto Binder nicht gefährden. Als einen Grund für ihr Verbleiben in Salzburg gab sie immer an: »Ich geh nicht mit dir, weil ich kann nicht lügen und ich würde dich verraten, wenn irgendetwas passiert.« Sie dürfte weiterhin bei der Gruppe der RSJ Salzburg mitgearbeitet haben. Erst 1937 konnte man eine Anstellung, die sich als schrecklich erwies, für sie finden. Sie arbeitete als Hausmädchen bei einer Familie mit einem weißen Windhund, der die Gewohnheit hatte, sich im Kot zu wälzen, woraufhin Anni ihn reinigen musste. Danach kam sie nach Wien und musste am 10. April 1938 an der Volksabstimmung teilnehmen.

Politische Ziele der Revolutionären Sozialisten »[W]ir [wollten]«, schreibt Otto Binder, »den Widerstandswillen gegen den Faschismus aufrechterhalten, dem Abgleiten der Menschen zu den Nazis oder den Kommunisten entgegenwirken, das Informationsmonopol des Regimes unterlaufen, Zellenorganisationen aufbauen [...]«.9 Aber was die »Gesinnung« betrifft, schreibt und sagte Otto Binder auch, es habe abseits von Sozialismus und Kommunismus im Sinne eben dieser politischen und auf Freundschaft beruhenden Beziehungen überhaupt keine Gesinnung gegeben. Auch die so genannten gutgläubigen Nazis hätten irgendwann eingesehen, dass der Nationalsozialismus keine gesellschaftliche Erneuerung ermögliche. Nazis habe man in der Illegalität, wo man sich unter seinen Vertrauensleuten, seinen Freunden und Gesinnungsgenossen bewegt habe, überhaupt nur in der Haft kennengelernt. Zum Beispiel erwähnt 8

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Joseph T. Simon: Augenzeuge. Erinnerungen eines österreichischen Sozialisten. Eine sehr persönliche Zeitgeschichte. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1979, S. 157. Binder, Wien – retour, S. 64.

Otto Binder bezüglich seiner Haft im Jahr 1934: »Meine Nazi-Mithäftlinge dispensierten mich vom obligaten Aufwaschen des Fußbodens in der Zelle und im Korridor, damit ich mich, Roter und Jude, der ich war, mit meiner ›arischen‹ Freundin treffen und von ihr Essen erhalten konnte – unter Aufsicht des diensthabenden Polizisten.«10 Anni Pusterer war zu diesem Zeitpunkt in der Küche des Gefangenenhauses eingesetzt. Und Binder kommentiert: »Die Kameraderie der politisch Verfolgten war diesen kleinen Nazis näher als die ganzen Theorien und Parolen, von denen sie im Grunde ohnehin nicht viel hielten. Die zielbewußte Barbarisierung der österreichischen Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt auch nicht so weit gediehen wie vier Jahre später.«11 1936 als »Kontaktmann« abermals festgenommen, saß Binder als Häftling im Polizeigefangenenhaus Roßauerlände. Nach der Amnestie für politische Gefangene im Februar 1938 herrschte um den 12. März 1938 »eine Stimmung des Aufbruchs. Beim Treffpunkt waren nicht vier, sondern mindestens 50 Genossen, die meisten seit kurzem aus dem Anhaltelager Wöllersdorf entlassen. Aus diesen ›persönlichen Gründen‹ sahen sich viele außerstande, bei der von Schuschnigg beabsichtigten Volksabstimmung mit ›Ja‹ zu stimmen. [...] und ich wußte, in der Polizeidirektion am Schottenring saß bereits die Gestapo.«12 Otto versteckte sich nach dem deutschen Einmarsch für einige Tage bei den schon erwähnten Freunden Franz und Elfi Lichtenberg beziehungsweise bei einem Freund aus Pfadfindertagen, mit dessen Pfadfindergruppe zusammen er einst zur Sozialistischen Jugend übergetreten war, bei Kurt Weiss und dessen Frau Thea. Doch einige Wochen später, vierzehn Tage nach der Hitler-Volksabstimmung über den »Anschluss«, wird er am 24. April 1938 verhaftet. Es ist ihm wichtig zu sagen: Es war ein österreichischer Kriminalbeamter vom Polizeikommissariat in der Boltzmanngasse; er ist als »Politischer« verhaftet worden und vorerst nicht als Jude. Nach drei Tagen im improvisierten Gestapogefängnis Karajangasse (man wartete, bis das geforderte Kontingent von 5.000 Juden erreicht war) und methodischer sadistischer Einschüchterung durch die SS folgte der Transport in das KZ Dachau. Dort fand er Arbeit im Kommando »Plantage«, das riesige Felder mit Basilikum zu bepflanzen hatte, um die deutsche Abhängigkeit von der Einfuhr ausländischer Gewürze zu verringern. Nach dem Abtransport der jüdischen Häftlinge (unter ihnen auch Otto Binder) nach Buchenwald im September 1938 mussten burgenländische Roma diese Arbeit übernehmen; der Frost zerstörte die Pflanzungen, die »Zigeuner« wurden dafür auf das Schlimmste bestraft. Der Erhalt eines Schweden-Visums, welches durch das »Comité Matteotti Français« (Matteotti-Komitee mit Sitz in Paris) organisiert werden konnte, bewirkte im Mai 1939 die Freilassung Otto Binders aus dem KZ 10 11 12

Ebd., S. 61. Ebd. Ebd., S. 67.

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Siglinde Bolbecher am Symposium »Exil in Schweden«, Juni 2010 Buchenwald. Das Matteotti-Komitee, benannt nach dem italienischen sozialistischen Parlamentsabgeordneten Giacomo Matteotti, der 1924 von den Faschisten ermordet worden war, stand unter der Schirmherrschaft der französischen sozialistischen Partei unter dem Vorsitz Léon Blums sowie der französischen Gewerkschaft. Finanziell wurde es vom Internationalen Gewerkschaftsbund gestützt. Über die Verbindungen zur Sozialistischen Internationale und dem Internationalen Gewerkschaftsbund leistete das Matteotti-Komitee Flüchtlingshilfe durch Geldunterstützungen (kleine Überlebenshilfen), die Ausstellung von Bestätigungen der politischen Tätigkeit beziehungsweise der Gefährdung als politisch Verfolgter, was auch für VisaAnträge wichtig war. Walter Wodak z. B. erhielt eine solche Bestätigung, wodurch ihm die Flucht nach England erleichtert wurde.13 Harry Kriszhaber, ein Wiener Genosse, war in dem Flüchtlingskomitee, das sich auch um die Beschaffung von Visa bemühte, tätig. Durch diese Flüchtlingshilfe des Komitees konnte Otto Binders Mutter von Wien aus seine Entlassung durchsetzen; bei seiner Rückkehr sollte er seine Mutter und seine Tante Finni zum letzten Mal sehen. Mit dem Zug fuhr er über Berlin nach Schweden. Im Juni 1939 kam er in Stockholm an.

Zur Frage der Exilpolitik und der Qual des Exils Die politischen Gegner des Nationalsozialismus und die rassistisch Verfolgten »gingen ins Exil« – diese Formulierung unterstellt, das »Exil« sei als bezugsfertiges Gehäuse irgendwo auf der Welt bereitgestanden, und unter13

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Bernhard Kuschey: Die Wodaks – Exil und Rückkehr. Eine Doppelbiografie. Wien: Braumüller 2008, S. 73.

schlägt, dass das »Exil« von den Vertriebenen erst erkämpft und erschlichen, erkauft und erbettelt werden musste. Die Wucht und die Gewalt des Nationalsozialismus wurden vom politischen Widerstand zwischen 1934 und 1938 zwar erkannt, doch war man zugleich völlig unvorbereitet. Ich würde sagen, dass das Exil in der österreichischen Geschichte keine Tradition hatte; dies umso weniger bis 1918, und auch nicht im 19. Jahrhundert, als die sozialistische Partei illegal war. In dieser Zeit ist man einfach in einem anderen Gebiet der Monarchie abgetaucht. Hier unterscheidet sich die geschichtliche Situation von jener Russlands oder Polens, die zu allen Zeiten wiederholt eine Tradition des Exils erlebten. Heute, könnte man sagen, erstaunt es vor allem, dass die extrem gefährdeten Genossen, deren Akte in die Hände der Gestapo geriet und die zugleich nach den Nürnberger Rassengesetzen vogelfrei waren, keine oder wenig Überlegungen bezüglich Flucht und Rettung anstellten. Worauf Otto Binder entschieden hinweist, sind die persönlichen Vertrauensverhältnisse, die Freundschaften, die ja durch die illegale Arbeit oder auch schon vorher entstanden waren. Nach dem Einmarsch Hitlers zeigte sich jedoch, dass jeder auf sich gestellt, isoliert, sich selbst preisgegeben war. Die große Qual des Exils, die Jahr für Jahr zunahm, war die angsterfüllte Ungewissheit über das Schicksal der zurückgebliebenen Verwandten und Freunde, begleitet von verzweifelten Bemühungen, diese Menschen zu retten. Auch Otto Binder schreibt über die Hoffnung jener Jahre, bis zum letzten Brief im Juni 1942, Mutter, Schwester und Tante aus Wien zu retten. Worüber Otto Binder interessanterweise nichts schreibt, ist seine Bemühung, von Sommer 1940 bis Juni 1941, hervorgerufen durch die deutsche Besetzung Dänemarks und Norwegens, um eine Ausreise in die USA. Es existiert ein ein Jahr dauernder Briefverkehr mit Joseph Buttinger, der sich auch aufgrund der finanziellen Möglichkeiten, die er durch Muriel Gardiner, seine Frau, hatte, wirklich persönlich verantwortlich fühlte für all die illegalen RS-Genossen, und das waren an die 2.000. Die Listen, die zu ihrer Rettung erstellt wurden, sind es auch gewesen, die diesen höchst gefährdeten politischen Funktionären oft zum Überleben verhalfen. Aus den USA schickten Muriel und Joseph Buttinger Affidavits. Otto Binder wie auch Bruno Kreisky verzichteten aus ähnlichen Gründen: Die Chance, Verwandte doch noch aus Hitlers Reich retten zu können, schien von Schweden aus größer, und man hätte vorerst auch die Lebensgefährtinnen zurücklassen müssen, die ja nicht als Flüchtlinge registriert waren. Man kann in diesem Briefwechsel wieder die Komplikationen des Exils studieren, was nämlich alles erforderlich war, um weiterzuemigrieren, noch dazu in der Situation, eine Nicht-Ehefrau zur Frau zu haben: Anni Pusterer kam im August 1939 mit einem Touristenvisum nach Schweden; sie hatte eine Anstellung in Berchtesgaden gefunden und dort einen Pass beantragt und ausgestellt erhalten, ein kleines Wunder, hatte man ihr ihn doch in Salzburg und Wien verweigert. Im »Altreich« waren sie, wie es scheint, vielleicht nicht so übergenau. 83

Nachdem Schweden – und das sind so kleine Details zum Gesamtbild der Torturen des Exils – Unterzeichner der Menschenrechtskonvention war, galten für deutsche Reichsangehörige eherechtlich selbstverständlich die Gesetze, die im Deutschen Reich galten. Das heißt, eine Ehe zwischen einem jüdischen Mann und einer »arischen« Frau war zunächst nicht möglich. Die Eheschließung musste später nachgeholt werden. Axel Granath, Leiter des Flüchtlingskomitees, vermittelte Anni Pusterer eine Stelle als Kindermädchen bei der Diplomatenfamilie Nylander. Als dieser nach Moskau versetzt wurde, lebte sie noch einige Wochen auf deren »Herrensitz«. Wenn es gelang, die Eltern, Großeltern, Geschwister, den Ehepartner nachkommen zu lassen, aus dem KZ zu befreien (diese Möglichkeit bestand in einzelnen Fällen bis zum Kriegsausbruch), so war dies ein Sieg über Hitler und den ganzen NS-Staat. Eine große Leistung des politischen Exils bestand darin, dass seine Organisationen, Publikationen, Veranstaltungen ein Forum für die Exilierten boten, zu Orten des Meinungs- und Informationsaustausches, der gegenseitigen Hilfe und der kulturellen Selbstvergewisserung wurden. Darüber hinaus spielten sie eine wichtige Rolle in der Repräsentation und Vertretung der Exilierten gegenüber den öffentlichen Stellen der Exilländer. Die Exilorganisationen leisteten aktive Fluchthilfe für verfolgte Gesinnungsgenossen und betrieben die Befreiung von KZ-Inhaftierten. Sie bestanden auf der Anerkennung der Exilierten als »ÖsterreicherInnen« und setzten sich gegen die Stigmatisierung als »feindliche Ausländer«, gegen die Entrechtung der Flüchtlinge ein. Sie haben durch ihre publizistische Tätigkeit, wie etwa durch den »Zeitspiegel« und die »Austro American Tribune«, und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen an die Existenz Österreichs immer wieder erinnert und dessen Zukunft verteidigt. In Schweden waren es die »Österreichische Information« der Sozialisten (herausgegeben von Hermann Lamm, redigiert u. a. von Bruno Kreisky und Rudolf Holowatyi) und die »Österreichische Zeitung« der Kommunisten. Das London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain hat mit seinen guten Kontakten zur Labour Party und zu den britischen Gewerkschaften die Beziehungen zu Österreich nach der Befreiung positiv beeinflusst. Das Austrian Labor Committee in den USA kann als wesentlichen Erfolg für sich verbuchen, dass eine Restauration beziehungsweise eine konstitutionelle Monarchie unter Otto Habsburg als zukünftige Staatsform Österreichs aus den Nachkriegsplanungen verschwand.

Exil – »ein Paradies voll Sorgen« Am 1. Juni 1939 hatte Otto Binder Schweden erreicht. Ein provisorisches Quartier war von Bruno Kreisky bei der Familie Popelka (auch er ein ehemaliger Angestellter der »Wiener Städtischen«) besorgt worden.

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Titelblatt der Exilzeitschrift »Österreichische Zeitung« vom 1. Oktober 1944

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»Was ich in Dachau und Buchenwald erlebt hatte, gab mir allen Grund zur Angst um meine Familie«14, schreibt Otto Binder in seiner Autobiographie. Die Situation war prekär, denn als Unterstützungsempfänger (Geldzuwendungen vom Flüchtlingskomitee der Gewerkschaften) war es ihm unmöglich, Verwandte nachzuholen. In letzter Minute konnte er sich in einen von der schwedischen Regierung für Emigranten eingerichteten einjährigen Ausbildungskurs zum Metallarbeiter hineindrängen. Auch Paul Neurath war dort zur Umschulung. Schweden musste nach der Okkupation von Dänemark und angesichts der politischen Situation in Norwegen befürchten, von Hitlers Armeen angegriffen zu werden; das Land tätigte Maßnahmen zur Mobilisierung seiner Truppen und zur Ankurbelung der Kriegsproduktion. Otto Binder erhielt eine Arbeitsgenehmigung und übte den Beruf des Eisen- und Metalldrehers bis 1945 aus. Als die Schlagzeilen der »Dagens Nyheter« den Fall von Paris am 14. Juni 1940 verkündeten, war »[e]ine Welt […] untergegangen, aber unsere schwedischen Arbeitskollegen öffneten die Zeitung wie gewöhnlich auf der letzten, auf der Sportseite«.15 Eine latente Gefährdung verwandelte sich in die akute Lebensbedrohung, dass auch Schweden vom Dritten Reich überrollt werden könnte. Otto Binder hatte 1940 unter sehr elenden Bedingungen in der abgeschiedenen Gegend des mittelschwedischen Grubengebietes Högfors Bruk zu arbeiten begonnen. Hans Marosi, ein Freund aus Wien, war behilflich und brachte Binder als Metalldreher bei der Firma Finquist unter. Im Akkord wurden dort verteidigungswichtige Kupplungsteile hergestellt. Nun war es möglich, der Familie in Wien und Salzburg das tägliche Leben zu erleichtern. »Über Portugal konnten wir nämlich Eßpakete nach Wien schicken. Sie enthielten unter anderem Sardinen und Kaffee. Mit dem Sardinenöl konnten sie kochen, und Kaffee war im Dritten Reich bereits ein wertvolles Tauschobjekt.«16 Ich glaube, dass es für Otto Binder, nachdem er seine Metalldreherausbildung gemacht hatte, sehr wichtig war, im Frühjahr 1941 nach Stockholm zu kommen. Denn hier waren eben Beziehungen möglich, hier waren die anderen Exilanten, hier war politische Diskussion. Es war eine nicht allzu große sozialdemokratische Emigrantengruppe, die doch zueinander fand, sich gegenseitig unterstützte und Verbindungen zur schwedischen Arbeiterbewegung knüpfte.

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Binder, Wien – retour, S. 92. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95.

Anni und Otto Binder mit ihrer einen Monat alten Tochter Margit, 1943

»... Emigranten können auf mancherlei Art allein sein« Die Wiener Wohnung in der Alser Straße war in der Zwischenzeit konfisziert worden. Hermine Binder und ihre Schwester Frieda lebten mit anderen ihres Obdachs beraubten Juden in einem verlassenen Trödlerlokal auf der Fischerstiege. Die Schwester Heddy war zum Arbeitseinsatz ins »Altreich« verpflichtet worden. »Über Freunde und Bekannte haben wir nichts 87

zu berichten, weil keine mehr hier sind«, schrieb Hermine Binder am 17. März 1942 in einem ihrer letzten Briefe aus Wien, vor der Deportation, an ihren Sohn Otto. Ihr schwedisches Visum lag seit Jänner am Konsulat, doch die Nazi-Behörden stellten keine J-Pässe mehr aus. »Dieses Bild, wie diese drei Frauen des letzten, was sie noch hatten, der Gemeinschaft mit Mutter, Tochter, Schwester, beraubt und allein in der Menschenmenge, auf dem Gelände des Aspangbahnhofes in Viehwaggons gepfercht und in den Tod geschickt werden, in der Menschenmenge und doch allein – dieses Bild hat mich nie mehr losgelassen«, so Otto Binder im Jahr 2004. Noch im März 1947, als ich zum ersten Mal die »Städtische« besuchen konnte, redete man in der Anstalt, wie eigentlich in ganz Wien, vor allem über die Zeit nach dem Kriege. In erster Linie stieß ich auf den kaum überstandenen Hunger und bei allen meinen Besuchen auf das Trauma der »Stalinerbsen«, mit denen die Wiener noch vorm völligen Verhungern bewahrt worden waren. Ich glaubte immer zu verstehen, warum diese Notzeit, bei meinen ersten Besuchen im März 1947, aber auch noch später, warum die tägliche »Russenplage« so im Vordergrund standen und in den Erzählungen, die ich in der Anstalt über die Nazizeit erhielt, die Schreckensperiode unter dem Naziregime schon Vergangenheit war und warum in den Gesprächen mit dem Besucher, der aus dem »Paradies Schweden« kam, von der Naziperiode eher das Lächerliche, Skurrile, Absurde übrig blieb. Vielleicht lag in dieser Haltung auch ein Stück Galgenhumor. Aber noch Ende der Sechzigerjahre, als ich schon eine ganze Zeit Anstaltsleiter war – ich war mit 1. Jänner 1959 Vorstandsvorsitzender geworden –, bestand unsere damals größte Abteilung, die Inkasso-Abteilung mit ca. 70 Beschäftigten, aus diesen ehemaligen »Dienstverpflichteten«, die nun für die innerbetriebliche Weiterentwicklung, nicht zuletzt auch für Anstaltsarzt und Betriebsrat – der damals auch so etwas wie ein Fürsorgerat sein musste –, ständige Problemkinder geworden waren.17 In den letzten Jahren führte Otto Binder einen offenen Diskurs um eine differenzierte Darstellung und Verarbeitung der österreichischen Nachkriegsgeschichte, der Zweiten Republik, von der er in besonderer Weise persönlich betroffen war und in die er als zunächst leitender Angestellter der »Wiener Städtischen Versicherungsanstalt« und von 1959 bis 1981 als deren Generaldirektor in außerordentlicher und sonst seltener Weise eingriff. Das sozialistische Exil in Schweden strebte  – sicherlich angetrieben durch Bruno Kreisky – einen differenzierteren politischen Kurs an. Man löste sich von der Idee einer gesamtdeutschen Revolution. Bereits ab 1941/42 wurde ersichtlich, dass in Österreich selbst niemand mehr beim Deutschen Reich bleiben wollte. Bruno Kreiskys meinte 1939: »Wir sind für die Wiederherstellung eines selbständigen Österreichs; ob wir eine Nation sind oder 17

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Otto Binder: Dr. Rudolf Neumayer und die »Wiener Städtische«. In: Zwischenwelt, Jg. 21, 2004, Nr. 1 – 2, S. 5.

nicht, darüber werden wir reden, wenn es dieses selbständige Österreich wieder gibt.«18 Das Zitat belegt seine vernünftig pragmatische Position zur Frage der Wiederherstellung Österreichs. Dennoch konnte die Frage nach der adäquaten Bündelung der wesentlichen politischen Kräfte (Linke, liberal-bürgerliche Gruppen, Legitimisten, Monarchisten) im Exil nicht gelöst werden. Als Konsequenz erreichte das politische Exil Österreichs keine anerkannte, gemeinsame Vertretung. Es wurde nicht möglich, wie etwa für die Niederlande, für Belgien, Jugoslawien oder Albanien, eine Exilregierung in einer gewissen Geschlossenheit zu etablieren. Dies hat sich maßgeblich auf die Situation der Rückkehr ausgewirkt. Wir sagen natürlich zu Recht, dass es keine Einladung der Exilanten gegeben hat, dass jegliche politische Geste diesbezüglich gefehlt hat. Aber ein mächtiges politisches Exil, welches nicht derart zerstritten, uneinheitlich und in seiner Qualität unterschiedlich gewesen wäre, hätte natürlich eine ganz andere Position bei der Rückkehr einnehmen können.

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Josef Hindels: Die Österreichische Emigration in Schweden. In: Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1933 bis 1945. Hg. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1977, S. 198. Zitiert nach Thomas Kiem: Das österreichische Exil in Schweden 1938 – 1945. Innsbruck u. a.: Studien-Verlag 2001, S. 66.

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Henrik Rosengren

Im Schatten von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg – Maxim Stempel und Hans Holewa im schwedischen Exil1

Maxim Stempel (1898 – 1972) und Hans Holewa (1905 – 1991) sind zwei von ungefähr sechzig Persönlichkeiten aus dem Musikleben, die vor den faschistischen Strömungen in Mitteleuropa nach Schweden flohen.2 Sie verließen Österreich bereits vor dem »Anschluss«, hatten aber beide den zunehmenden Antisemitismus und Antikommunismus in Deutschland und Österreich erlebt. Als Juden wurden sie nach antisemitischer Auffassung als »Feinde der Nation« gesehen. Holewa und Stempel hatten jedoch einen gänzlich unterschiedlichen Zugang zum Judentum. Stempel war Sohn jüdischer Eltern, jedoch konvertiert; Holewa behielt zeit seines Lebens seine jüdische Identität bei. Im schwedischen Exil erlebten sie die Überwachung durch die Sicherheitspolizei (Säkerhetspolisen, SÄPO), die allgemeine Angst vor dem Kommunismus und das Misstrauen gegenüber vielen Exilanten.

Hans Holewa: Von Wien nach Stockholm Hans Holewa wurde 1905 in eine jüdische Mittelklassefamilie in Wien hineingeboren. Der Vater war Kaufmann, und es war vor allem die Mutter Johanna, geborene Kleineibst, die sich für Musik begeisterte. Hans und seine zukünftige Ehefrau Alice wuchsen im selben Viertel auf und lernten sich früh kennen.3 Die Geschäftsverbindungen, die die Familie Holewa in der Zwischenkriegszeit mit Schweden unterhalten hatte, bestimmten Holewas Wahl des Fluchtlandes.4 Alice soll die treibende Kraft hinter dem Ent1

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Dieser Beitrag basiert auf meinem Buch »Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen och kalla kriget«, das demnächst erscheinen wird. Aus Uta Kristin Kretschmanns Darstellung geht hervor, dass 64 Exilanten aus der Musikbranche im Zeitraum von 1933 bis 1944 aus dem Dritten Reich oder aus von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten nach Schweden kamen. 38 davon waren von den nationalsozialistischen Rassengesetzen betroffen. Siehe Uta Kristin Kretschmann: Hans Holewa und das Musikexil in Schweden. Die Rezeption des Komponisten vor dem Hintergrund seiner Exilbiographie. Wissenschaftliche Arbeit zum ersten Staatsexamen, Stuttgart 2008, S. 16 – 22. Claes Witthoff: »910906 minnesanteckningar från samtal med Alice Holewa denna dag«. Hans Holewa-Archiv (HH-arkiv), Claes Witthoffs deposition (CW-dep), Statens Musikbibliotek (SMB), Stockholm, S. 134. Claes Witthoff, »910611 Samtal med Alice Holewa«. Ebd., S. 167.

schluss gewesen sein, Österreich zu verlassen und sich in Schweden niederzulassen.5 Die Familie wohnte in den Jahren 1909 bis 1917 in Berlin, wo Holewa eine jüdische Schule besuchte.6 1917 zog sie nach Wien, Holewa besuchte das Gymnasium und studierte eine kurze Zeit Jus. Gleichzeitig war er Schüler am Neuen Wiener Konservatorium, wo er Klavier sowie Musiktheorie studierte und die Ausbildung zum Kapellmeister absolvierte. Anfang der 1930er Jahre war Holewa Korrepetitor an der Wiener Volksoper und musikalischer Leiter des radikalen »Theaters für 49« am Schottentor.7 Nach einigen Aufträgen als Chorleiter und Einkünften aus seiner Tätigkeit als Klavierlehrer innerhalb der sozialdemokratischen Jugendbewegung war es für Holewa schwer, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nachdem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im Februar 1934 verboten worden war. Er bekam vereinzelt Musikaufträge von Theatern oder Kabaretts, hielt jedoch an seinem Traum fest, als Komponist sein Auslangen zu finden. Während seiner Zeit in Wien vollendete Holewa zahlreiche Kompositionen. Ein zunehmend schärferes politisches, antisemitisches und wirtschaftliches Klima bewirkte, dass Holewa schließlich von Österreich nach Schweden zog, wo er hauptsächlich für das Radio sowie als Komponist und Musiker arbeitete.8 Mit 140 schwedischen Kronen in der Tasche kamen Holewa und sein Bruder Erich am 2. August 1937 in Schweden an. Holewas Berichte über seine Emigration gestatten einen Einblick in die Arbeit der schwedischen Fremdenbehörden. Bei seiner Ankunft gab er an, er sei wegen der schlechten Zeiten aus Österreich ausgereist. Im Polizeibericht finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass er Antisemitismus und politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre. In den Randvermerken des Polizeiberichts steht, Holewa hätte Österreich nicht aus politischen Beweggründen verlassen. Dieser handschriftliche Kommentar wurde nachträglich eingefügt. Dadurch betonte der Bearbeiter nochmals diese Tatsache mit der Konsequenz, dass Holewa von der Ausweisung bedroht war.9

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Interview mit Mikael Holewa am 14. Januar 2013. Lebenslauf von Hans und Alice Holewa, Mosaiska församlingen i Stockholms flyktingsektion, »Holewa«, Judiska (Mosaiska) församlingen i Stockholm, Huvudarkivet, Riksarkivet (RA), Arninge. Rolf Haglund: Holewa, Hans. In: Sohlmans musiklexikon, Bd. 3. Stockholm: Sohlman 1976, S. 461; Claes Witthoff: »Minnesanteckningar från samtal med Hans Holewa som uppvärmning till intervju nummer 2«, 6. Dezember 1984, HH-arkiv, CWdep, SMB, S. 129. Claes Witthoff: Interview mit Hans Holewa, Reinschrift, Nr. 1 vom 26. November 1984, HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 9. Stockholms polis, kriminalavdelningen, »Rapport ang. Hans och Alice Holewa ansökan om uppehållstillstånd«, 27. Juli 1938, Hans Holewas akt (HH), Statens utlänningskommission (SUK), RA, Stockholm.

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Die ersten Wochen wohnte Holewa im Internat Viggbyholm, wo er u. a. auch die bekannte schwedische Autorin Karin Boye kennen lernte. Nachdem er einen Monat bei Kurt Singer (Kurt Deutsch) gewohnt hatte, zog Holewa am 1. Oktober 1937 in eine Zwei-Zimmer-Wohnung am Kungsholmstorget in Stockholm. Singer war in Wien geboren und arbeitete als Journalist. Er wurde von der schwedischen Sicherheitspolizei wegen seiner linksgerichteten Aktivitäten beobachtet, und der Umgang mit ihm und anderen Kommunisten führte dazu, dass Holewa ebenfalls die Aufmerksamkeit der SÄPO auf sich zog.10 Im Oktober 1938 zog das Ehepaar Holewa in den neu erbauten Stockholmer Stadtteil Traneberg, wo es während seines gesamten Berufslebens über wohnte. Nach Monaten der Ungewissheit, in denen Holewa mehrmals von der Ausweisung bedroht war, konnte er sich mit seiner Ehefrau allmählich eine Existenz in Schweden aufbauen.11 Bei Holewas Ankunft in Schweden vermerkte man nach der damals üblichen Vorgehensweise seinen jüdischen Hintergrund als besondere Zusatzinformation in Form einer Notiz in den Polizeiakten. Auf einer Karteikarte, die vermutlich um 1938 geschrieben wurde, ist Folgendes vermerkt: »Verheiratet. Komponist. Wohnhaft am Kinnekullevägen 22 in Traneberg. Komponierte für Rosenberg, Hilding. Jude.«12 Im Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung stand die Religionszugehörigkeit, im Falle Holewas war das mosaisch. In der erwähnten Kartei war die Bezeichnung »Jude« mehr im Zusammenhang mit Abstammung und Rassentheorie als als Religionszugehörigkeit zu verstehen. Diese Information wurde für relevant erachtet und ist im Kontext zur damals verbreiteten Meinung, Juden seien ein potenzielles Sicherheitsrisiko, zu sehen. In der Gefahr einer vermeintlichen jüdischen Flüchtlingsinvasion sah man in der älteren Forschungsliteratur den Grund für Schwedens restriktive Einwandererpolitik.13

Schweden – kein Musikland Laut seiner Ehefrau Alice erlebte Holewa die 1940er Jahre in Schweden als ein sehr schweres Jahrzehnt, da er bei vielen Verantwortlichen innerhalb der Musikbranche auf Ablehnung stieß.14 Er selbst war bezüglich des Niveaus im schwedischen Musikleben ebenso skeptisch. Verwurzelt in einem 10 11 12 13

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Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974, S. 300, 520. Polizeibericht, Ansuchen um die schwedische Staatsbürgerschaft, 19. Dezember 1947, HH, SUK, RA, S. 3. Registerkarte, Personalakt (HH), Säkerhetspolisens arkiv (SÄPO), RA, Arninge. Hans Lindberg: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck 1936 – 1941. Stockholm: Hanser 1973, S. 48 f. Karin Kvist Geverts: Ett främmande element i nationen. Svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938–1944. Uppsala: Hanser 2008, S. 53 – 58. Claes Witthoff, »910814 minnesanteckningar från samtal med fru Alice Holewa denna dag«, HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 139.

Wien, in dem die künstlerischen Avantgarden im Jahr von Holewas Auswanderung ihren Höhepunkt erlebten, empfand er Schweden nicht als ein »Land der Musik«.15 Anfangs beabsichtigte Holewa ähnlich wie viele andere deutschsprachige Emigranten, Schweden wieder zu verlassen, weil dieses Land seiner Aussage nach »musikalisch unterentwickelt«16 wäre. Eine Rückkehr nach Österreich war jedoch ausgeschlossen. So versuchte er, in die USA zu emigrieren.17 In einem Interview mit Helmut Müssener verwies Holewa auf die Kontinuität, mit der seiner Meinung nach die radikale Musik auf Widerstand und Unverständnis stieß; in Österreich war sie verboten und in Schweden fehlte es ihr an Wertschätzung.18 Im Nachhinein änderte Holewa seine kritische Einstellung hin zu einer mehr wertschätzenden Haltung. In den 1970er Jahren lobte er die Entwicklung der Kunstmusik in Schweden und erklärte, die Grundlagen für neuere Musik seien hier besser als an den meisten anderen Orten.19

Schwedische Staatsbürgerschaft und Anstellung beim Radio Zwischen 1938 und 1949 arbeitete Holewa als Klavierlehrer und Komponist, Arrangeur und Konzertpianist, vor allem für den zu dieser Zeit bedeutendsten schwedischen Komponisten Hilding Rosenberg, aber auch im Auftrag der Interessensvertretung der schwedischen Komponisten STIM (Svenska Tonsättares Internationella Musikbyrå), des Konzertvereins in Stockholm und der schwedischen Radiogesellschaft Radiotjänst. 1948 wurde Holewa schwedischer Staatsbürger. Eine gewisse Erleichterung, zumindest was seinen Lebensunterhalt und seine berufliche Verankerung im Musikleben betraf, trat 1949 ein, als seine Anstellung beim Radiotjänst verlängert wurde.20 Zeitgleich mit der Tätigkeit für das Radio, wo Holewa mit Notentranskription und Chorleitung beschäftigt war, komponierte er mit unterschiedlicher zeitlicher Intensität. In den 1940er Jahren handelte es sich dabei meist um Klaviermusik, bespielsweise die »Sonate für Flöte und Klavier« aus dem Jahr 1947. 15

Polizeibericht, Ansuchen um die schwedische Staatsbürgerschaft, 19. Dezember 1947, HH, SUK, RA, S. 3; Claes Witthoff, »910814 minnesanteckningar från samtal med fru Alice Holewa denna dag«, HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 139. 16 Claes Witthoff, »Sammanträffande med Alice Holewa 910811«, HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 144. 17 »Fragebogen«, Hans Holewa, Judiska församlingens arkiv, Huvudarkivet, Hjälpkommittén E1:22, RA, Arninge. 18 Claes Witthoff, »Sammanträffande med Alice Holewa 910811«, HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 144; Müssener, Exil in Schweden, S. 293. 19 Hans Holewa om Schönberg och Sverige berättat för Ulla-Britt Edberg. In: Musikalisk Revy 5, 1974, S. 231. 20 Claes Witthoff: »910814 minnesanteckningar från samtal med fru Alice Holewa denna dag«. HH-arkiv, CW-dep, SMB, S. 139.

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Holewas und Stempels unterschiedlicher Zugang zur Musik Arnold Schönbergs ist in Stempels Besprechung dieses Werkes aus dem Jahr 1948 spürbar, in der er schreibt: »Hans Holewa pflegt unerschütterlich den orthodoxen Stil Schönbergs, was zunehmende Isolation und ein asketisches Eremitendasein in der atonalen Wüste mit sich bringt. Seine Sonate für Flöte und Klavier ist Musik, die sich ihrer gemeinnützigen Aufgabe verweigert.«21 Stempel war der Ansicht, dass Schönbergs Musik aufgrund der Kluft zwischen Gesellschaft und Musik nirgendwo hinführe. Ausgehend von seiner sowjet-kommunistisch geprägten Haltung sollte die Musik Stempels Meinung nach gemäß den Idealen des sozialistischen Realismus eine bedeutende gesellschaftliche Relevanz haben. Kunst um der Kunst willen sollte man verwerfen – das stand völlig konträr zu Holewas Auffassung. Diese diametral verschiedenen Zugänge zur Musik, zu denen sich Holewa und Stempel bekannten, hinderten sie jedoch nicht daran, mehrmals Dmitri Schostakowitschs siebente Symphonie, die so genannte Leningrader Symphonie, vierhändig am Klavier aufzuführen. Für Holewa und Stempel verkörperte Schostakowitschs Symphonie ein ästhetisches Bollwerk gegen den Nationalsozialismus.22

Von der schwedischen Sicherheitspolizei überwacht Die Art und Weise, wie Stempel und Holewa in Schweden aufgenommen wurden, hing stark mit der von der Sowjetunion und den schwedischen Kommunisten ausgehenden Bedrohung sowie mit dem Antikommunismus im Kalten Krieg zusammen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges führte zu einer zunehmenden Überwachung von Kommunisten und Ausländern, die man als potenzielle Gefahr für die Nation sah. Die Zusammenarbeit zwischen der Sicherheitspolizei und der Fremdenbehörde wurde ausgebaut, und beide Organisationen verstärkten sogar in der Zeit nach 1945 die Kontrolle von Flüchtlingen und Immigranten. In den Akten der Sicherheitspolizei zu Stempel und Holewa belegt das umfangreiche Dokumentenmaterial der Einwanderungsbehörden eine intensive Zusammenarbeit.23 In diesen Unterlagen finden sich beispielsweise Berichte darüber, dass Holewa an einer Kantate zu den Februar-Ereignissen 1934 in Wien arbeitete, die anlässlich eines Clartétreffens am 1. Mai 1944 im Medborgarhuset in Stockholm aufgeführt wurde. Laut diesen Aufzeichnungen der Sicherheitspolizei soll Holewa an dieser Veranstaltung auch mitgewirkt haben.24 Allein dieser Umstand in Verbindung mit seinem Status als 21

Maxim Stempel: Musikkrönika. Friska fläktar från Wien. In: Ny Dag, 15. November 1948. 22 Kretschmann, Hans Holewa und das Musikexil in Schweden, S. 44. 23 Ann-Marie Ekengren, Henrik Oscarsson: Det röda hotet. De militära och polisiära säkerhetstjänsternas hotbilder i samband med övervakning av svenska medborgare 1945 – 1960. Lund: Nordic Academic Press 2002, S. 199. 24 »Sammanställning angående österrikiske medborgaren Hans Holewa«. HH, SÄPO, RA, Arninge.

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»Ausländer« war Anlass genug für einen Akteneintrag und die Überwachung. Aber auch seine Tätigkeit als Komponist und Musiker galt bereits als kompromittierend und somit wichtig genug, um festgehalten zu werden. Man kann also sagen, dass die Sicherheitspolizei der Musik innerhalb der politisch linken Bewegung eine stärkende und vereinende Wirkung zuschrieb. In den Kreisen, in denen sich Holewa im Umfeld der ViggbyholmSchule bewegte, interessierten sich mehrere Mitglieder für die Sowjetunion und für die radikale Gruppierung der Clarté-Bewegung. Holewas Vergangenheit innerhalb der österreichischen sozialistischen Jugendbewegung in Verbindung mit vereinzelten Hinweisen von Denunzianten waren mit ein Grund für die Überwachung bis Anfang der 1950er Jahre. Laut Sicherheitspolizei, die während des Krieges Holewas Post kontrollierte, soll er auch die »Politische Information«25, eine dem Kommunismus nahe stehende Zeitschrift, abonniert haben, was ebenfalls als belastend ausgelegt wurde.26 Ganz offensichtlich konnte die Sicherheitspolizei bei ihrer Ausforschung von Exilanten auch auf die Unterstützung einzelner Auskunftspersonen zählen. Im November 1951 beispielsweise gab der Opernsänger Gösta Bäckelin (1903 – 1988) an, Hans Holewa 1949 getroffen zu haben, und in diesem Gespräch soll sich gezeigt haben, dass dieser »kommunistische Ansichten hege«.27 Bäckelin hatte übrigens bei der Aufführung von Moses Pergaments Chor »Das jüdische Lied« 1947 eine der Solistenrollen gesungen und vermutlich haben sich Holewa und Bäckelin bei dieser Repetitionsarbeit kennen gelernt. Bäckelins Kontakt zur Sicherheitspolizei fiel zeitlich mit einer antikommunistischen Informationskampagne zusammen, durch die der Bevölkerung die potenzielle Gefahr durch Kommunisten bewusst gemacht werden sollte. Innerhalb kürzester Zeit wurde dieses Bild gezielt verstärkt und verbreitet.28 Bäckelins Kontakt mit der Sicherheitspolizei spiegelt somit den Zeitgeist und die Bereitschaft der Bevölkerung wider, Angaben über verdächtige Personen und Vorhaben zu machen. Im Gegensatz zu Stempel, der zu den aktiven Mitgliedern innerhalb Schwedens Kommunistischer Partei (Sveriges Komunistika Parti, SPK) gehörte und regelmäßig an der Zeitung »Ny Dag« mitarbeitete, weist nichts darauf hin, dass sich Holewa in der SPK engagierte. Die Sicherheitspolizei überwachte ihn wegen der Kreise, in denen er verkehrte, den Zeitungen, die 25

Die »Politische Information« erschien seit 1943 und wurde von der kommunistischen und antinationalsozialistischen Organisation »Freies Deutschland«, die auch in Schweden aktiv war, herausgegeben. Vgl. dazu Müssener, Exil in Schweden, S. 187. 26 »Sammanställning angående österrikiske medborgaren Hans Holewa«. HH, SÄPO, RA, Arninge. 27 »Till Hans Holewas personakt«, handschriftliche Mitteilung, 26. November 1951, HH, SUK, RA. 28 Ekengren, Oscarsson, Det röda hotet, S. 121 – 124, 128, 196; Ulf Eliasson: Politisk övervakning och personalkontroll 1945–1969, SOU 2002:88. Stockholm 2002, S. 51.

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er las, und einiger Auskünfte über ihn.

Von der Stille zum langsamen Durchbruch Von 1952 bis 1953 war Holewa Kapellmeister am Großen Theater in Göteborg29 und schrieb gleichzeitig ein kantatenähnliches Stück mit dem Titel »Vier Sonette aus Der Mann ohne Weg« (»Fyra sonetter ur Mannen utan väg«) nach einer Gedichtesammlung von Erik Lindegren.30 Es war eines der wenigen Stücke Holewas, bei denen er Lyrik vertonte. Die KammermusikHans Holewa in Wien, 1930er Jahre Vereinigung Fylkingen hatte die Komposition bestellt; sie war sein erstes Auftragswerk und wurde 1953 uraufgeführt.31 Ein Auftragswerk kann als eine Art Gradmesser der Bedeutung eines Komponisten innerhalb der Musikwelt gesehen werden und in Holewas Fall war dies seine erste offizielle Anerkennung als Komponist.32 Lindegrens Gedichtesammlung spielte zu dieser Zeit für viele moderne Komponisten in Schweden eine Rolle, zum Beispiel für Karl-Birger Blomdahl, dessen Komposition »Im Saale der Spiegel« (»I speglarnas sal«) in Zusammenarbeit mit Lindegren entstand und große Beachtung fand, u. a. 1953 beim Festival der International Society for Contemporary Music in Oslo.33 Für Blomdahl stellte dieses Werk den Beginn einer internationalen Karriere dar und möglicherweise drängte diese Beachtung Holewas Werk in den Hintergrund. In den 1950er Jahren war es großteils still um den Komponisten Holewa und seine Arbeit zu dieser Zeit von der Suche nach der richtigen Ausdrucksweise in der Zwölftontechnik geprägt. Zwischen 1953 und 1959 schrieb er acht Streichquartette, die er alle verwarf. Einige Kammermusikstücke wurden aufgeführt und besonders für das Streichtrio aus dem Jahr 1959 bekam er gute Kritiken. Holewa betrachtete dieses Stück als sein Debüt im schwedischen Musikleben. 29 Bengt Hambreaus: Hans Holewa och hans Två Dikter. In: Nutida musik 7, 1965/66, S. 17. 30 Bo Wallner: Vår tids musik i Norden: Från 20-tal till 60-tal. Kopenhagen – Oslo: Nordiska musikförlaget 1968, S. 212. 31 Olof Höjer: Hans Holewa och »Mannen utan väg«. In: Musikalisk revy 5, 1968, S. 199. 32 Yngve Flyckt: Match för tyngdlyftare. In: Expressen, 29. März 1953. 33 Herbert Connor: Svensk musik 2. Från Midsommarvaka till Aniara. Stockholm: Bonnier 1977, S. 343 f.

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In den 1960er Jahren konzentrierte er sich auf Orchestermusik und Solokonzerte, jedoch wurden vor allem seine »Miniatyrer för stråkkvartett« (»Miniaturen für Streichquartett«) ein Erfolg. Auch das Violinkonzert von 1963 ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Ende der 1960er Jahre begann er mit der Arbeit an der Oper »Apollos förvandling« (»Apollos Verwandlung«), die Holewa als sein bedeutendstes Werk sah. Sie wurde in Sveriges Radio in Stockholm 1975 uraufgeführt und kann als Holewas musikalisches und ästhetisches Credo verstanden werden, das er in der Oper so formuliert: »das größte Geschenk, das uns die Götter bereiten: das Leben zu meistern ohne die Hilfe der Götter«.34

Seinem Land habe man Respekt zu erweisen Exilanten, die die schwedische Sprache schriftlich in der Öffentlichkeit verwendeten, hatten mit Kritik und dem Vorwurf des mangelnden Sprachgefühls zu rechnen. Dass Komponisten im Exil bei ihrer Integration angeblich weniger Achtsamkeit auf die Sprache legten, widerlegt das Beispiel Holewas. Es war eine bittere Erfahrung für ihn, dass das Urteil des Dirigenten und Musikpädagogen Lars af Malmborg über das Libretto von »Apollos Verwandlung« vernichtend ausfiel. In dieser negativen Kritik ging es nicht nur um mangelndes sprachliches Ausdrucksvermögen, sondern sie war vor allem ein Plädoyer für die möglicherweise gefährdete schwedische Kultur, letztere personifiziert in Hans Holewa. Af Malmborg schrieb: Was die Textgestaltung anbelangt, muss ich direkt kritisch werden. Abgesehen von dem Prätentiösen in diesem sprachlichen Kleid aus Hexametern und allzu schön gereimtem Versmaß wie eine Ode von Tegnér oder Viktor Rydberg enthält der Text derartig viele Unklarheiten und richtige sprachliche Fehler, dass man niedergeschlagen ist. [...] Lassen Sie uns festhalten – auch wenn ich nicht glaube, dass das im Jahre 1975 noch notwendig ist –, dass Schwedisch eben keine Art schlechteres Deutsch, sondern vielmehr eine eigene Sprache mit eigener Grammatik, Syntax und Seele ist. Die Tatsache, dass schwedische Kunst- und Gebrauchsprosa früher unter starkem ausländischen Einfluss standen, ändert nichts daran. Ich bin besonders deshalb empört, weil ich während meines gesamten Berufslebens gegen diese geringe sprachliche Achtsamkeit, besonders unter Sängern, angekämpft habe, verzweifelt war wegen schlechter Opernübersetzungen und überhaupt wegen all dem Fremden, das nach wie vor unbewusst oder bewusst für so viel besser als das Unsrige gehalten wird. [...] Meiner Meinung nach hätte Holewa seinem neuen Land den Respekt zol-

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Connor, Svensk musik, S. 254 f.; Leif Jonsson, Hans Åstrand: Musiken i Sverige. Konstmusik, folkmusik, populärmusik 1920 – 1990. Stockholm: Fischer & Company 1994, S. 486 f.

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len sollen, dass er mit einem schwedischen Dichter zusammenarbeitet, der es versteht, in der Lyrik Schwedisch zu verwenden.35 Af Malmborgs Verteidigungsrede für die schwedische Sprache und für die nationale Kunst ist klar verständlich, ebenso dass Holewa somit eine Bedrohung darstelle. Holewa stehe stellvertretend für eine respektlose Haltung gegenüber schwedischer Kultur und der schwedischen Sprache; bezeichnend dafür ist laut af Malmborg, welchen Stellenwert die vokale Musik, insbesondere die Operntradition, habe. Aber Holewa stehe ebenso für die Ansicht, dass nicht-schwedische Musik – womit hier vor allem das deutsche Musikerbe gemeint ist – angeblich qualitativ besser sei. Als Einwanderer trage man nach af Malmborgs Ansicht besonders große Verantwortung dafür, dem Aufnahmeland gegenüber Respekt zu zeigen. Af Malmborgs Argumentation veranschaulicht exemplarisch den langwierigen Kampf um Anerkennung, dem Exilanten als Einwanderer und Repräsentanten für das Nicht-Schwedische ausgesetzt sein konnten. Hier verläuft ein roter Faden vom Angriff des Musikerverbandes36 auf eingewanderte Musiker in Hinblick auf den Arbeitsmarkt in der Zwischenkriegszeit bis hin zu einer ästhetisch begründeten Vorstellung einer vermeintlich bedrohten schwedischen Kultur und schwedischen Werten in der Nachkriegszeit. Af Malmborgs Angriff war ein Einzelfall, jedoch zeigen seine Aussagen aus einer geachteten Position innerhalb der Musikbranche heraus, dass selbst in den 1970er Jahren noch ein solch vehementes Eintreten für alles Schwedische zur Hemmschwelle für Akzeptanz innerhalb des schwedischen Musiklebens werden konnte.

Holewa, der etablierte Komponist Auch wenn af Malmborg Holewa als Bedrohung für die schwedische, nationale Kunst sieht, so steht seiner Kritik jene Wertschätzung gegenüber, die man ihm sehr wohl entgegen brachte. Im Laufe der 1960er Jahre spielte Holewa eine zunehmend größere Rolle als geachteter und bedeutender Komponist in Schweden. 1961 wurde er Mitglied im wichtigsten Interessensverband für schwedische Komponisten, der Vereinigung schwedischer Komponisten (Föreningen Svenska Tonsättare, FST) und 1979 auch der Kö35 36

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Lars af Malmborg: Apollos dilemma. In: Nutida Musik 4, 1974/75, S. 30. Der Musikerverband, der bedeutendste Fachverband der schwedischen Musiker, versuchte seit seiner Gründung im Jahr 1907 die öffentliche Meinung und die Behörden hin zu einer restriktiveren Einwanderungspolitik zu beeinflussen. Mit schwedischnationaler Rhetorik wollte man für ausländische Musiker Möglichkeiten, in Schweden tätig zu werden, einschränken. In den 1930er Jahren, als die Lage auf dem Arbeitsmarkt zunehmend angespannt war, forderte der Verband einen totalen Einwanderungsstopp und schrittweisen Einzug der Arbeitserlaubnis für Fremde. In einer Petition verlangte der Verband 1933, deutschen jüdischen Musikern die Einreise nach Schweden zu verweigern. Erst nach der »Reichskristallnacht« änderte der Verband seine negative Haltung. Siehe dazu auch Tomas Hammar: Sverige åt svenskarna. Invandringspolitik, utlänningskontroll och asylrätt 1900 – 1932. Stockholm: Dissertation 1964, S. 335 – 340.

Hans Holewa an seinem Schreibtisch, ca. 1970 niglichen Musik-Akademie (Kungliga Musikaliska Akademien). Zusätzliche Anerkennung erhielt er 1983 durch die Verleihung des Hilding RosenbergPreises der FST. Hans Holewa starb 1991 und wurde auf dem jüdischen Friedhof im Skogskyrkogården in Stockholm begraben.37

Maxim Stempel: Von Odessa bis zu den Karpaten Maxim Stempel wurde 1898 in Odessa geboren und verbrachte dort seine ersten Lebensjahre gemeinsam mit seinen Eltern und älteren Geschwistern. Stempels Muttersprache war neben Deutsch auch Russisch. In seinem ersten Schuljahr besuchte er eine russischsprachige Schule und die Verwurzelung in der russischen Kultur sollte ihn sein ganzes Leben hindurch begleiten. Im Revolutionsjahr 1905 zog die Familie nach Wien und im Jahr darauf nach Düsseldorf. Aufgrund der politisch unsicheren Lage sowie antisemitischer Ausschreitungen in Odessa hatte sich die Familie in einer unsicheren Situation, die auch die Geschäfte des Vaters gefährdete, befunden.38 Dazu kam auch das Assimilationsbestreben der Eltern. In Bad Godesberg in der Nähe von Bonn besuchte Stempel die evangelische Internatsschule, was – zumindest in Hinblick auf ihren Sohn – die Absicht der Familie zeigt, mit

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Kretschmann, Hans Holewa und das Musikexil in Schweden, S. 28. Interview mit Paul Stempel am 7. November 2011.

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der jüdischen Tradition zu brechen.39 Die Stempels konvertierten im Juni 1908, ein weiterer Schritt in Richtung Assimilation. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zog die Familie nach Den Haag im neutralen Holland, während sich Maxim Stempel in Düsseldorf niederließ. 1915 maturierte er und meldete sich im selben Jahr freiwillig zur österreichischen Armee. Nach seiner Offiziersausbildung wurde er im nordöstlichen Italien stationiert, wo er an der Schlacht am Isonzo teilnahm. Aufgrund seiner russischen Sprachkenntnisse wurde er zwei Jahre später an die österreichisch-ungarische Front in den Karpaten versetzt und als Dolmetscher und Unterhändler eingesetzt. Für diesen Auftrag erhielt er die Beförderung zum Leutnant und wurde mit dem Goldenen Verdienstkreuz ausgezeichnet.40 Die Zeit an der Front spielte eine zentrale Rolle in einem autobiografischen Bericht Stempels aus dem Jahr 1938, wie auch in seinen damaligen Plänen für diverse Bücher.41

Wien – Düsseldorf – Wien Im Frühjahr 1918 zog Stempel wieder zu seiner Mutter, die nach wie vor in Holland wohnte. Sein Vater war 1916 verstorben. Stempel begann Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Bonn zu studieren. Im Sommer 1919 zog er nach Wien, wo er seine Studien wieder aufnahm.42 Für seinen Studienabschluss beantragte er 1921 neuerlich die österreichische Staatsbürgerschaft, die ihm bewilligt wurde.43 Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte er in Holland um die russische Staatsbürgerschaft angesucht. Von 1919 bis 1924 studierte er in Wien Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule.44 1921 kam Stempel erstmals zu Besuch nach Schweden, wohin er, zusammen mit weiteren Studenten, von der Universität Uppsala eingeladen worden war. Während der Zugreise übten sie gemeinsam die schwedische Nationalhymne, um sie bei Erreichen der Endstation zu singen. Nach diesem ersten Aufenthalt empfand Stempel große Verbundenheit mit Schweden und den Schweden.45 Diese frühen Kontakte sollten bei der Wahl seines späteren Zufluchtsortes eine Rolle spielen.46 39 40

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Maxim Stempels Antwort auf den Fragekatalog »Rundfrage« von Helmut Müssener im August 1970, Bestand »Exilen«, Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm. »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, Maxim Stempels Akt, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA; Maxim Stempel: När fredsängeln dansade wienervals. Skjortor på tork lurade fredliga parlamentärer. In: Stockholms Tidningen, 20. Februar 1938. Stempel, När fredsängeln dansade wienervals, ebd. »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA. Bundesministerium für Inneres und Unterricht, Mag. Bezirksamt für den II. Bezirk, Wien, »Maxim Stempel«, 31. Mai 1921, Österreichisches Staatsarchiv, Wien. Maxim Stempel: Den månsjuke pajasen. In: Ny Dag, 23. Februar 1957. Erik Schenks Interview mit Maxim Stempel im österreichischen Radio am 12. August 1969, privat. Zum neutralen Schweden als Zufluchtsort für Kommunisten siehe Alf W. Johansson, Karl Molin: Övervakningen av SKP-komplexet, SOU 2002:93, S. 16. (http://www.

Nach dem Examen im Jahr 1924 erhielt Stempel eine Anstellung als Kapellmeister eines zwanzigköpfigen Orchesters an Max Reinhardts Theater in der Josefstadt. Nach einem Jahr übersiedelte Stempel nach Düsseldorf, wo er als Lehrer für Musiktheorie und Komposition arbeitete und Kurse in Musikgeschichte und Instrumentenkunde am angesehenen Buths-Neitzel-Konservatorium, das sein Lehrer Julius Buths begründet hatte, abhielt. Außerdem wirkte er als Chor- und Orchesterleiter.47 Darüber hinaus war er Kultur- und Musikkritiker bei verschiedenen Zeitungen in Düsseldorf und Umgebung, beendete diese Tätigkeit jedoch im Mai 1933, da ihm aufgrund der nationalsozialistischen Politik ein Berufsverbot drohte. Er flüchtete aus Deutschland und kehrte noch im Mai 1933 nach Österreich zurück.48 1934 wurde Stempel in Wien Dozent in der sozialdemokratischen Volksbildung. Für diese Tätigkeit hatte ihn der spätere österreichische Bundespräsident Karl Renner empfohlen, was Stempels Nähe zur österreichischen Sozialdemokratie zeigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit leitete Stempel neben seinen Vorlesungen und Kursen u. a. auch einen Arbeitslosenchor. Außerdem war er bis zu seiner Reise nach Schweden am 3. April 1937 wieder journalistisch tätig.49

Als Auslandskorrespondent und Gegner des Nationalsozialismus nach Schweden Bei seiner Ankunft konnte Stempel frühere Kontakte zu diesem Land vorweisen, da er, wie schon erwähnt, bereits 1921 und 1922 mehrmals nach Schweden gereist war, u. a. um einen seiner Brüder zu besuchen, der bereits seit den 1920er Jahren in Schweden wohnte und mit einer Schwedin verheiratet war. Während dieser Besuche lernte der sprachbegabte Stempel auch Schwedisch in Wort und Schrift.50 Als die schwedischen Behörden ihn bei seiner Ankunft verhörten, scheint es Stempels Strategie gewesen zu sein, einen Zusammenhang zwischen seiner Ausreise und den nationalsozialistischen Rassengesetzen zu umgehen. So gab er beispielsweise nicht an, dass ihm wegen seiner jüdischen Herkunft die Entlassung bei den deutschen Zeitungen gedroht hatte. Stattdessen stellte er es so dar, als ob es sein eigener Entschluss gewesen wäre, diese Tätigkeit aufzugeben und Deutschland zu verlassen, da er »kein Befürworter des Nationalsozialismus»51 sei. Er betonte vielmehr seinen Widerregeringen.se/content/1/c4/04/47/615c0fee.pdf, Zugriff am 8. Juli 2013). 47 Schenk, Interview am 12. August 1969. 48 Historische Meldeunterlagen, MA-8-B-MEW-7790/2011, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 49 »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA, S. 4; Interview mit Paul Stempel am 7. November 2011. 50 »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA; »Ansökan om uppehållstillstånd«, 4. Juli 1938, MS, SUK, RA; »Ansökan om uppehållsvisering«, 15. Februar 1941, MS, SUK, RA; Schenk, Interview am 12. August 1969. 51 »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA.

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stand als die Opferrolle. Auch seine Ausreise aus Österreich verstand er als Protestakt und verwies auf seine Mitgliedschaft sowie sein Engagement bei der Vaterländischen Front und dem Wiener Heimatschutz.52 Anders äußerte er sich jedoch in den Verhören zu seiner ideologischen Haltung. Stempels kommunistische Kontakte in Wien finden in den frühen Unterlagen zu den Polizeiverhören keine Erwähnung. Stattdessen betonte er sein antikommunistisches Engagement mit Hinweis auf seine Mitgliedschaften in den genannten österreichischen Organisationen. In späteren Dokumenten finden sich jedoch Angaben zu Stempels Kontakten in die Sowjetunion als Grund für seine Flucht aus Österreich. In den Akten der Sicherheitspolizei aus dem Jahr 1949 steht, dass Stempel während seiner Zeit in Deutschland mit »sowjet-russischen Kreisen» in Verbindung stand und mit einer Person namens Vogel, dem Leiter eines sowjetisch-deutschen Vereins, befreundet war. Die Sicherheitspolizei sah in diesen Kontakten den Grund für seine Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Österreich.53 Hätte Stempel 1938 gegenüber den schwedischen Behörden seine Sympathie für den Kommunismus zugegeben, wären seine Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung gesunken. Der damals vorherrschende Antikommunismus schürte bei den Schweden die Haltung, nicht Schweden, sondern die Sowjetunion sollte kommunistische Flüchtlinge aufnehmen.54 Bei seiner Ankunft gab Stempel als Garantie für seine Selbstversorgung an, Vertreter der Presse und Mitarbeiter der österreichischen Zeitungen »Wiener Kunst-Courier«, »Die Stunde« und »Das Echo» zu sein. Selbst für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, ohne der Allgemeinheit zur Last zu fallen, war die unabdingliche Voraussetzung für die Bewilligung einer Aufenthaltsgenehmigung.55

Vielfältige Kompetenzen als Basis für die erforderliche Selbstversorgung In Schweden sah sich Stempel gezwungen, sich anstatt der Aufträge deutschsprachiger Zeitungen andere Verdienstmöglichkeiten zu suchen. Wie viele Exilanten aus der Musikbranche, die zu dieser Zeit aus Mitteleuropa flohen, profitierte er von seinem beruflich vielfältigen Hintergrund, der ihm ermöglichte, eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Aufgaben zu übernehmen. Er konnte als Kapellmeister, Veranstalter, Musikhistoriker, Musiklehrer, Musiker, Journalist, aber auch als Sprachlehrer tätig werden, wobei Letzteres eine seiner kontinuierlichen Einkommensquellen darstellen sollte. Seine gediegene Musikausbildung, aber vor allem seine beruflichen Erfah52 53 54 55

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»Ansökan om uppehållstillstånd«, 4. Juli 1938, MS, SUK, RA. »Sammanträffande med Maxim Stempel, Valhallavägen 112«, 11. November 1949, Akt P813, SÄPO, RA, Arninge, S. 89. Klas Åmark: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2011, S. 493. Ebd., S. 469.

rungen, die er sich in Deutschland und Österreich erworben hatte, boten ihm zahlreiche Möglichkeiten, in Schweden als Nicht-Schwede innerhalb einer Musikbranche, die nur geringe Chancen auf ein fixes Einkommen bot, wirtschaftlich zu überleben. Einige Beispiele zeigen seine berufliche Bandbreite: Beim 300-Jahr-Jubiläum von Schloss Gripsholm im Juni 1937 dirigierte Stempel ein Konzert mit Musik aus dem 17. und 18. Jahrhundert nach einem Text von Georg Stiernhielm.56 Während seines ersten Jahres in Schweden wirkte Stempel bei zahlreichen Veranstaltungen auch als Pianist und musikalischer Begleiter.57 Im Februar 1938 beantragte er eine Arbeitsgenehmigung für eine Zusammenarbeit mit der in Russland geborenen Choreografin und Tänzerin Senta von Knorring für ein Programm mit Schwerpunkt auf russischem Ballett. Das Ansuchen wurde ohne Begründung abgelehnt.58 Er arbeitete dennoch mit Knorring weiter und im März 1941 traten sie erstmals gemeinsam öffentlich auf, wobei er sie am Klavier begleitete.59 Außerhalb von Schloss Gripsholm wirkte Stempel weiters als Dirigent am Schloss in Drottningholm sowie am Konzerthaus in Stockholm. Für das dortige Musikhistorische Museum schrieb er ältere Opern um.60 1947 erhielt Stempel die schwedische Staatsbürgerschaft.61 Das bedeutete, dass er im selben Jahr Mitglied in Schwedens Kommunistischer Partei (SKP) werden konnte. Seine regelmäßige Mitarbeit bei der wichtigsten Parteizeitung »Ny Dag« nahm er 1948 zu einem Zeitpunkt auf, als die Kritik an der Sowjetunion in Folge des Februar-Umsturzes in Prag ihren Höhepunkt erreichte, was auch zu einer geringen Wählerunterstützung bei den schwedischen Kommunisten führte. Seine Arbeit als Musikkritiker ermöglichte es Stempel, nicht mehr einer Vielzahl an beruflichen Verpflichtungen nachgehen zu müssen, sondern sich auf eine überschaubare Zahl von Tätigkeiten konzentrieren zu können. Neben seiner Tätigkeit als Musikkritiker gab er in seinen letzten Lebensjahren in Schweden vor allem den Angestellten der sowjetischen Botschaft 56

»Gripsholmsjubileets generalprogram, juni 1937«; Schenk, Interview am 12. August 1969. 57 Siehe dazu u. a.: En ny teater (Stempel ansvarar för den musikaliska ledningen i samband med ett mindre operaprogram på Musikhistoriska museet). In: Svenska Dagbladet, 17. Mai 1938; Musikalisk afton med flyktingproblem (musikalisk afton till förmån för flyktinghjälpen på Kvarntorp, Stempel spelar solopiano). In: Ariel 6, Mai 1939, S. 4; Ortodoxa soarén (pianosolo). In: Svenska Dagbladet, 15. Dezember 1939; Konsert till förmån för konstnärlig utsmyckning av Helenelunds nya Folkskola (Stempel spelar »Wiener-melodien«). In: Svenska Dagbladet, 8. November 1939. 58 Senta von Knorring an K. Socialstyrelsen, 6. Februar 1938; »Ansökan om arbetstillstånd«, 12. Februar 1938; K. Socialstyrelsen an Maxim Stempel, 3. März 1938, alle MS, SUK, RA. 59 Aftonbladet, 31. März 1941. 60 »Rapport ang. ansökan om uppehållstillstånd«, 23. Juli 1938, MS, SUK, RA. 61 »Bevis angående upptagande till svensk medborgare«, 12. Dezember 1947, justitiedepartementet, MS, SUK, RA.

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Sprachunterricht. Während einer kurzen Phase 1957 bis 1958 arbeitete er auch bei der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass, für die er Nachrichten aus schwedischen Zeitungen auf Russisch zusammenfasste. Gemeinsam mit der Sängerin Molly Åsbrink – später eine bedeutende Kulturpolitikerin innerhalb der Sozialdemokratie – leitete Stempel in den 1960er Jahren kurze Zeit auch eine Musikschule. »Unsere Musikschule bot Gesangs- und Klavierunterricht, Musiktheorie sowie Musikgeschichte und hatte eine Ausrichtung auf die Gegenwartsmusik.«62 Als Mitarbeiter des bedeutendsten schwedischen Nachschlagewerks zum Thema Musik, »Sohlmans Musiklexikon« (1948 – 1952), wo er für russische und sowjetische Musik zuständig war, leistete Stempel einen seiner wertvollsten Beiträge zum schwedischen Musikleben.63 Stempel machte auch die schwedische Musik durch Zeitschriftenartikel, Vorträge und Radiobeiträge in der Sowjetunion, Westdeutschland, Österreich und dem kommunistischen Osteuropa bekannt.64

»Ein gewöhnlicher, schmutziger Jude« Es finden sich keine Hinweise dafür, dass Stempel bei seiner Ankunft seitens der schwedischen Behörden Antisemitismus ausgesetzt gewesen wäre. Genauso wenig bot seine jüdische Herkunft bei seiner Mitarbeit beim »Ny Dag« oder während der Überwachung durch die schwedische Sicherheitspolizei eine Angriffsfläche. Der Antisemitismus, dem er begegnete, kam aus dem russischen, nationalsozialistischen und schließlich sowjetischen Umfeld. Ein Protokoll der schwedischen Sicherheitspolizei aus dem Jahr 1954, basierend auf den Berichten eines internen Mitarbeiters über die Bewachung Stempels, zeigt eine Momentaufnahme des antisemitisch gefärbten Misstrauens auf sowjetischer Seite gegenüber Stempel: Erstmals erwähnte Smirnov [Übersetzer und Angestellter der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass] mir gegenüber [gemeint ist der interne Mitarbeiter], dass Maxim Stempel Jude war; er betonte: »ein gewöhnlicher, schmutziger Jude«. Ich entgegnete ihm, dass ich das nicht glaube, da Stempel während des Ersten Weltkrieges österreichischer Offizier gewesen war. Außerdem sei ich verwundert, dass er im Zusammenhang mit einem Juden die Worte »gewöhnlich und schmutzig« verwende, da diese ja auch Menschen seien und die selben Rechte in der Sowjetunion besäßen wie andere Nationen. Smirnov antwortete, dass die Juden selbstverständlich die selben Rechte besäßen, dennoch hätte die Sowjetunion feststellen müssen, dass Ju-

62 »På upptäcksfärd i musikens värld med Vår Musikskola«, Informationsblatt, Privatbesitz. 63 M.T. (d. i. Martin Tegen): Sohlmans musiklexikon har nu avslutats. In: Ny Dag, 14. September 1953. 64 Müssener, Exil in Schweden, S. 292.

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Maxim Stempel um die Zeit seiner Ankunft in Schweden 1937 den aufgrund ihrer internationalen Kontakte nicht vertrauenswürdig und viele von ihnen amerikanische Spione seien.65 Smirnovs Urteil über Stempel baute auf dem alten antisemitischen Bild von Juden und Schmutz auf. Die Verbindung von »Juden« mit Schmutz geht bis ins 18. Jahrhundert zurück und fand im 19. Jahrhundert eine noch stärkere Verbreitung, als man mit der jüdischen Bevölkerung einen besonderen Geruch nach eng bewohnten und hygienisch unzureichenden Unterkünften in den jüdischen Vierteln und Ghettos verband. Dieser Geruch 65

»Smirnov vid Tass«, geheimer Bericht, 26. Oktober 1954, P813, SÄPO, RA, Arninge.

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wurde in späteren rassentheoretischen Ansätzen mit »dem Juden« und nicht mit dem Umfeld, in dem viele Juden leben mussten, in Verbindung gebracht.66 In dem oben erwähnten Protokoll kommt jener Antisemitismus sowjetischer Prägung zum Ausdruck, der besonders während der Ära Stalins und im Zusammenhang mit der so genannten antikosmopolitischen Kampagne von 1949 verbreitet war. Das Zitat drückt die Vorstellung von den Juden als einer nationalen konspirativen Gefahr, die sie wegen ihrer vermeintlichen internationalen Kontakte für die sowjetische Gesellschaft darstellen würden, aus. Dieses Bild des Landesverräters passte in die Rhetorik des Kalten Krieges; in diesem Fall ging es um den Verdacht von Kontakten zur oder Spionage für die USA. Das Zitat zeigt, dass dieser Antisemitismus auch noch nach Stalins Tod präsent war und auf sowjetischer Seite Stempels Ruf prägte.67

Stempel und die rote Gefahr Der Akt der Sicherheitspolizei zu Stempel ist mit 400 Seiten bedeutend umfassender als der zu Holewa. Allein der Umfang belegt, wie sehr die Behörden in Stempel einen Feind der Nation sahen. Stempel wurde den Großteil seiner Zeit in Schweden überwacht, vor allem wegen seiner Sympathie für den Kommunismus. Die Überwachung setzte noch vor seinem Eintritt in die SKP ein und wurde, als er Mitarbeiter des »Ny Dag« wurde, verstärkt.68 Doch nicht nur wegen seiner Mitgliedschaft in der SKP und seiner Mitarbeit beim »Ny Dag« zog Stempel das Interesse der Sicherheitspolizei auf sich. Im Rahmen eines Russisch-Sprachkurses, den Stempel leitete, gründete er 1945 mit einigen Kursteilnehmern einen schwedisch-russischen Chor, der in ideologisch gefärbtem Zusammenhang und im Rahmen eines Kulturaustausches zwischen Schweden und den kommunistischen Ländern Osteuropas auftrat. Die schwedische Sicherheitspolizei sah in dem Chor eine Zentrale für den Nachrichtenaustausch vor allem innerhalb sowjetischer Spionage und ein Instrument der Propaganda.69 Stempels Chorleitung sowie seine zahlreichen und guten Kontakte, die er zu Personen besonders aus dem Umfeld der sowjetischen, aber auch aus dem anderer kommunistischer osteuropäischer Gesandtschaften pflegte, waren Grund genug für die Überwachung. Indem sie in den Chor Informanten einschleuste, erhoffte sich die Sicherheitspolizei Angaben zu Kommunisten in Schweden und ihrer Beziehung zur Sowjetunion. Hauptsäch66 George L. Mosse: Toward the Final Solution. A History of European Racism. New York: Howard Fertig Publisher 1997, S. 29. 67 Siehe auch Paul Olberg: Antisemitismen i Sovjet. Stockholm: Natur och Kultur 1953. Zu Olberg siehe auch Müssener, Exil in Schweden, S. 328. 68 Curt Trepte – Personalabteilung der S.E.D., 9. September 1949, Nachlass Steinitz vol. 24, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft, Berlin. 69 »V.P.M«, 10. Dezember 1943, Akt P813, SÄPO, RA, Arninge, S. 62.

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Maxim Stempel mit Dmitri Schostakowitsch, 1959 lich von diesen Informanten stammte das Material der Sicherheitspolizei. Stempel zählte – im Unterschied zu Holewa – zum so genannten »SKPKomplex«, d. h. Personen, Verbände und Zeitschriftenorgane, die Verbindungen zu Schwedens kommunistischer Partei hatten oder von denen man das annahm. Dieser Komplex stellte für den schwedischen Sicherheitsdienst die größte Gefahr dar.70 In Stempels kommunistischer Haltung und seiner Tätigkeit als Musikkritiker des sowjettreuen »Ny Dag« lag vermutlich seine mangelnde Anerkennung innerhalb des schwedischen Musiklebens begründet, die man sich aufgrund seiner großen und tiefen Kenntnisse über Musik sowohl in praktischer als auch theoretischer Hinsicht eigentlich hätte erwarten können. Die Überwachung durch die Sicherheitspolizei blieb zeit seines Lebens aufrecht. Im letzten Bericht liest man: STEMPEL, Maxijm Ilitj, geboren am 21. 8. 1898, wohnhaft Valhallavägen 112, Stockholm, unterrichtete mehrere Jahre lang russische Beamte in Schwedisch. Montag, den 13. 11. 1972 gegen 8 Uhr wurde S. bei seiner Ankunft mit dem Lidingö-Zug in der Geschäftsabteilung71 gesehen. Gegen 8 Uhr 30 wurde beobachtet, wie ein Krankenwagen zur Geschäftsabteilung kam und ein Mann hinausgetragen wurde. Kurz darauf war die Polizei vor Ort.

70 Alf W. Johansson, Karl Molin: Övervakningen av SKP-komplexet, SOU 2002:93. Stockholm 2002, S. 5. 71 Dies ist vermutlich eine Umschreibung der Polizei für die sowjetische Botschaft.

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Kriminalkommissar Westman von der Lidingö-Polizei teilte telefonisch mit, dass der oben erwähnte Stempel während einer Unterrichtsstunde überraschend verstorben sei. Die Ermittlungen der Polizei werden fortgeführt. Ein Verbrechen scheint jedoch nicht vorzuliegen.72

Stempel und Holewa – Feinde der Nation Stempel und Holewa waren auf vielfältige Weise Gegensätze, was ihr Verhältnis zum Judentum, zur modernen Musik und zu ihrem politischen Engagement betrifft. Stempel war ein Mann der Sprache, Holewa einer des musikalischen Handwerks. Was sie jedoch vielschichtig verband, waren ihre Erfahrungen als Verfolgte aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze, Opfer von Antisemitismus sowie der verbreiteten Angst vor dem Kommunismus und als Betroffene sicherheitspolizeilicher Überwachung. Wie ein Ariadnefaden zieht sich dieses Bild von ihnen als Feinde der Nation vom Zeitpunkt vor dem Exil bis zum Aufenthalt in Schweden, allerdings mit unterschiedlichen Ausgangspunkten. Sie waren Opfer einer nationalsozialistischen Rassengesetzgebung, die in ihren Grundzügen Juden und Kommunisten als Feinde der Nation definierte. Holewa scheint in Schweden in größerem Ausmaß als Stempel antisemitischen Vorurteilen bei Behörden und einzelnen Personen begegnet zu sein, die besonders in den Kriegsjahren seine Integration in die schwedische Gesellschaft erschwerten. In den 1970er Jahren wurde Holewas Loyalität zu Schweden hinterfragt und er als indirekte Gefahr für die schwedische Musik dargestellt. Seine radikale musikalische Ausdrucksweise als Komponist von Zwölftonmusik galt auch innerhalb des modernistisch-kritischen Lagers als Provokation. Der internationale Modernismus wurde als Bedrohung für die mehr traditionelle und national verankerte Tonkunst gesehen. Trotz Widerstand und nationalistischen Angriffen gelang es Holewa, sich in Schweden als Komponist zu etablieren, und seine Musik wird heute als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der musikalischen Moderne in Schweden gesehen. Auch wenn die schwedische Sicherheitspolizei Holewa ebenfalls überwachte, ist dies in keinem Ausmaß mit der Akribie vergleichbar, mit der man Stempels Tätigkeiten beobachtete. Als Mitarbeiter des kommunistischen »Ny Dag« und als Leiter des schwedisch-russischen Chores stand er klar im Fokus der Sicherheitspolizei. Er verkörperte die verbreitete Angst vor dem Kommunismus, die das Schweden der 1940er und 1950er Jahre stark prägte. Stempels Exil in Schweden war großteils von seiner kommunistischen Einstellung sowie seiner Beziehung zur Sowjetunion, zur russischen Kultur und zu den übrigen Staaten im kommunistischen Block Osteuropas geprägt. Er zog mehrmals eine Übersiedelung in die Sowjetunion oder nach Ostdeutschland in Erwägung. Während die schwedischen Behörden seinem jüdischen Hintergrund offenbar keine Aufmerksamkeit zollten, begegnete man ihm hingegen in ge72 »RC för kännedom«, Akt P813, SÄPO, RA, Arninge, S. 372.

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wissen sowjetischen Kreisen sogar nach Stalins antisemitischer Kampagne mit jenem Misstrauen, mit dem man in Juden eine potenzielle nationale Gefahr für die Sowjetunion sah. Das politische System, dem Stempel sich aufgrund seiner kommunistischen Haltung verbunden fühlte und das er als die bedeutendste Kraft gegen den Nationalsozialmus verstand, verhinderte nicht, dass er diesen Vorurteilen ausgesetzt war. (Übersetzung: Irene Nawrocka)

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Simon Usaty

Namentliche Erfassung österreichischer ExilantInnen in Schweden Ein Projektbericht

Einleitung und Quellenlage Das Projekt »Namentliche Erfassung der nach Schweden emigrierten Österreicher und Österreicherinnen (1933/34 – 1938 – 1945)« wurde unter der Leitung von Dr. Irene Nawrocka am Institut Österreichisches Biographisches Lexikon und biographische Dokumentation (ÖBL)1 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von September 2011 bis August 2012 durchgeführt und von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) finanziert. Neben einschlägiger Literatur, darunter im Besonderen Helmut Müsseners nach wie vor als Standardwerk geltendes Buch »Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933« (1974), Thomas Kiems Darstellung »Das österreichische Exil in Schweden 1938 – 1945« (2001) sowie das »Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933« (1980 ff.), wurden Quellenbestände aus mehreren Archiven in Wien ausgewertet. Im Archiv der Stiftung Bruno Kreisky wurde Material aus dem Bestand zu Kreiskys Zeit im Exil eingesehen, darunter u. a. Korrespondenzen, Exilzeitschriften, Material der Österreichischen Vereinigung in Schweden und Kopien aus dem Archiv der schwedischen Arbeiterbewegung (Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek) in Huddinge zu deren Unterstützung für Flüchtlinge. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) verfügt über Dokumente zu Exilorganisationen und Einzelpersonen sowie über die Exilzeitschrift »Österreichische Zeitung«. Im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) konnten durch Einsicht in Auswanderungsfragebögen und Matriken biografische Eckdaten zu einigen Personen ergänzt werden. In der Evangelischen Akademie Wien liegen Scans von Akten der Schwedischen Israelmission Wien (im Original im schwedischen Kirchenarchiv, Svenska kyrkans arkiv, in Uppsala) und weiteres Material zur Arbeit der Organisation. Die Datenbank zum von Ilse Korotin geleiteten Projekt »biografiA – Biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen« konnte am Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) genutzt werden. Thomas Kiem stellte mir die im Zuge der Recherchen zu 1

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Seit 2013 Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, Forschungsbereich Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL).

seiner Arbeit angelegte Personendatenbank zur Verfügung. Weiters dienten die Manuskripte der im vorliegenden Band veröffentlichten Beiträge als Quelle.2 Eine Erweiterung des Projekts unter Einbeziehung von Quellen in Schweden ist angedacht.

Projektbeschreibung Im Rahmen des Projekts konnten 614 Personen namentlich ermittelt werden, die zwischen 1933/34 und 1945 aus Österreich vertrieben wurden und in Schweden, teils endgültig, teils mit späterer Weiteremigration in ein anderes Land, Exil fanden. Bereits in der Emigration geborene Kinder wurden nicht aufgenommen.3 Dazu gehören politische und von rassistischer Verfolgung betroffene Flüchtlinge, Deserteure aus der Wehrmacht, die in den 1940er Jahren aus Norwegen und Finnland nach Schweden flohen, aber auch aus Konzentrationslagern befreite ÖsterreicherInnen4, die im Frühjahr 1945 durch das schwedische Rote Kreuz nach Schweden kamen (teils im Rahmen der »Bernadotte-Aktion«, siehe den Abschnitt »Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager«). Ein weiteres Kriterium für die Aufnahme in das Projekt war eine eindeutige lebensgeschichtliche Beziehung zu Österreich nach 1918; die Staatsbürgerschaft und die Geburt innerhalb der heutigen Grenzen des Landes war keine Voraussetzung. Auch jene Österreicher und Österreicherinnen, die, aus anderen Exilländern kommend, sich erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Schweden niederließen, wurden aufgenommen, da der Prozess von Vertreibung, Flucht und der Mühen, die das Schaffen einer neuen Existenz bedeutete, nicht mit dem Jahr 1945 ein Ende fand. Für jede der 614 Personen wurde ein Datensatz in der Datenbank des Österreichischen Biographischen Lexikons angelegt. Skandinavien spielte zahlenmäßig für das Exil keine große Rolle. Nach Dänemark emigrierten bis November 1938 1.600 Menschen, in Norwegen waren zur selben Zeit 1.000 Personen offiziell als Flüchtlinge registriert. Etwa 5.500 Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland kamen zwischen 1933 und 1945 nach Schweden.5 2

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Für persönliche Auskünfte und den Zugriff auf Dokumente möchte ich mich weiters sehr herzlich bei Eva Böhm, Tomas Böhm, Eva Douglas, Primavera Driessen Gruber, Gertraud Fletzberger, Miguel Friedmann, Maria Heidenreich, Otto Heinz, Helena Lanzer-Sillén, Gerda Lissy, Karl Marosi, Catrin Neumüller, Paul Stempel, Lilian Radoh, Theodor Venus und Hellmut Weiss bedanken. Zum Leben von über 500 weiteren erfassten Personen konnten nicht genügend Informationen ermittelt werden. Es ist aber wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil ebenfalls dem österreichischen Exil in Schweden zugerechnet werden kann. Im Folgenden sind in den männlichen Bezeichnungen auch weibliche Personen miteingeschlossen, im Text werden lediglich die männlichen Endungen verwendet. Einhart Lorenz: Exil in Skandinavien. In: Neutralität und totalitäre Aggression. Nordeuropa und die Großmächte im Zweiten Weltkrieg, hg. von Robert Bohn, Jürgen Elvert, Hain Rebas u. a. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1991, S. 251 – 253.

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Die Gesamtzahl der nach Schweden exilierten Österreicher wird in der Literatur mit 700 – 1.000 angegeben, wobei die herangezogenen Parameter nicht immer vergleichbar sind. Helmut Müssener geht von einer Maximalzahl von 900 Flüchtlingen aus, wobei er Wehrmachtsdeserteure und KZHäftlinge nicht inkludiert.6 Einer Statistik zufolge, die die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und die Israelitische Kultusgemeinde Wien im August 1941 dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) vorlegten, waren bis zu diesem Zeitpunkt 725 österreichische »Nichtarier« (also auch Konvertiten) nach Schweden emigriert.7 Diese Angabe kann auf die Gesamtzahl allerdings nur hinweisen, da 1942 und 1943 aus Dänemark und Norwegen weitere Juden und Jüdinnen nach Schweden flüchteten. Von ca. 1.000 österreichischen Flüchtlingen geht Thomas Kiem aus, der ebenfalls KZ-Häftlinge nicht einbezieht, Deserteure nur zum Teil. Ca. 100 Kinder oder Jugendliche, die in Schweden landwirtschaftlich geschult wurden und nach Palästina weiterreisten, sind in der Zahl ebenfalls nicht enthalten.8 Hierbei könnte es sich um Angehörige der zionistischen Organisation Hechaluz handeln, in der in landwirtschaftlichen Hachschara(Vorbereitungs-)Lagern in Europa junge Auswanderer praktisch und ideologisch auf das Leben in Palästina vorbereitet wurden.9 Im März 1946 erhoben die beiden wichtigsten österreichischen Exilorganisationen, die kurz vor ihrer Wiedervereinigung standen, ihren Mitgliederstand. Zusammen gehörten der Österreichischen Vereinigung in Schweden (ÖVS) und der Freien Österreichischen Bewegung in Schweden (FÖB) 926 Personen an. Dazu zählten sicher auch Wehrmachtsdeserteure – möglicherweise auch ehemalige Soldaten, die erst nach Kriegsende nach Schweden gekommen waren und somit nicht als Exilanten zu betrachten sind – und KZ-Überlebende (Personengruppen, die in den oben zitierten Berechnungen teilweise ausgeklammert werden).10 Ein Jahr später bezifferte der seit Februar 1947 als österreichischer Gesandter in Schweden wirkende Paul Winterstein die dort lebenden Österreicher auf 900, wovon 75 % aufgrund von politischer oder rassistischer Verfolgung gekommen waren. Abzüglich der regulär eingewanderten Personen schätzte Winterstein die Zahl der Exilanten im März 1947 also auf 675, wo6

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Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974, S. 93 f.; ders.: Österreichische Wissenschaftler im schwedischen Exil. In: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposium 19. bis 23. Oktober 1987 in Wien, hg. von Friedrich Stadler. Wien – München: Jugend und Volk 1988, S. 965 f.; vgl. auch Helmut Müsseners Beitrag im vorliegenden Band. Müssener, Exil in Schweden, S. 44 f. Thomas Kiem: Das österreichische Exil in Schweden 1938 – 1945 (= Bruno Kreisky International Studies, Bd. 4). Innsbruck u. a.: Studien-Verlag 2001, S. 15 und 35 f. Vgl. Gabriele Anderl: »9096 Leben«. Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer. Berlin: Rotbuch Verlag 2012, S. 126 und 143 f. Österreichische Zeitung (ÖZ), Nr. 2/3, 20. 3. 1946, S. 9. Verfügbar im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), EX 3014 C.

bei seinen Angaben zufolge 250 zu diesem Zeitpunkt bereits nach Österreich zurückgekehrt waren; die Summe läge also erneut bei etwa 925.11

Statistische Auswertung Die im Rahmen des Projekts ermittelten 614 Personen, die auch in der Namensliste im Anhang angeführt sind, stellen somit nur einen Teil der österreichischen Exilanten in Schweden dar; dennoch lassen die Ergebnisse Rückschlüsse auf allgemeine Tendenzen zu. Eine Unschärfe liegt in der fehlenden oder unvollständigen Nennung von Familienmitgliedern, besonders Kindern und auch Ehefrauen, in manchen Quellen; ein großer Teil der ab 1920 geborenen Exilanten wurde durch Material zur Schwedischen Israelmission (siehe unten) namentlich erfasst. Nicht bei jeder Person konnten alle relevanten biografischen Angaben wie Lebensdaten oder der Zeitpunkt der Einwanderung nach Schweden (zweifelsfrei) erfasst werden. Daher wird bei der zahlenmäßigen Auswertung nach verschiedenen Gesichtspunkten die Gesamtzahl der in Frage kommenden Datensätze angeführt, die – abgesehen von der Kategorie Geschlecht – immer unter 61 liegt. Geschlecht

248

männlich weiblich 366

Aufenthaltszeitraum der Flüchtlinge Das Jahr der Ankunft in Schweden war bei 320 Personen feststellbar. Am sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahl 1938 zeichnen sich deutlich die Auswirkungen der »Annexion« Österreichs im März und die damit einsetzenden antijüdischen Maßnahmen ab. So schildert etwa der aus Überzeu11

Paul Winterstein (Österreichische Gesandtschaft in Schweden) an Bundeskanzleramt. Stockholm, 28. 3. 1947. Stiftung Bruno Kreisky Archiv (SBKA), Box I.1.-1.2/13; Karl Fischer, Franz Parak, Maria Wirth: Österreich – Schweden. Die zwischenstaatlichen Wahrnehmungen 1945 – 1995 im Rückblick. In: Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955 – 1990, hg. von Oliver Rathkolb u. a. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2002, S. 457.

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Anzahl Personen Anzahl Personen

gung zum Katholizismus konvertierte Schriftsteller Robert Braun, wie ihn ein Plakat, das für eine Sondernummer des Hetzblattes »Der Stürmer« warb (»Judentum ist Verbrechertum«), im Frühsommer 1938 endgültig davon überzeugte, dass ein Leben in Österreich nicht länger möglich war.12 Von den 33 zwischen 1942 und 1944 in Schweden angekommenen Flüchtlingen sind 22 Wehrmachtsdeserteure (von diesen wiederum erreich12

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Robert Braun: Abschied vom Wienerwald. Ein Lebensbekenntnis. Graz u. a.: Verlag Styria 1971, S. 203 f. Robert Braun (1896 – 1972) flüchtete im September 1938 nach Schweden (seine Frau Ottilie und seine Tochter Hildegard folgten ihm bald nach) und arbeitete dort als Journalist, Übersetzer und Schriftsteller (vgl. u. a. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. Werner Röder. München u. a.: K. G. Saur 1980 ff. [in der Folge HBE)]; Müssener, Österreichische Wissenschaftler im schwedischen Exil, S. 970).

ten drei das Land bereits 1941). Den Großteil der 31 Personen, die 1945 ankamen – 27 – machen Überlebende von Konzentrations- und Vernichtungslagern aus. Schweden als erstes Exilland oder Einwanderung aus anderen Ländern Für 388 der 614 aufgenommenen Personen war Schweden das erste Exilland, bei weiteren 37 Personen ist dies wahrscheinlich. 115 Exilanten kamen aus anderen Ländern als Österreich nach Schweden; zahlenmäßig bedeutsame Stationen waren die Tschechoslowakei, in die unter anderem viele Sozialdemokraten schon nach dem Februar 1934 emigrierten, sowie Norwegen, aus dem mehrere kommunistische Exilanten nach der deutschen Besetzung im April 1940 nach Schweden flüchteten. Direkt aus der Tschechoslowakei, in die sie aus Österreich gelangt waren, immigrierten 27 Personen, für weitere 18 war sie die erste von mehreren Fluchtstationen vor der Ankunft in Schweden. 36 Personen erreichten Schweden aus Norwegen, davon der Großteil ab 1940. Neun Personen lebten in Dänemark vor ihrer Ankunft in Schweden. 9 der 27 in die Datenbank aufgenommenen KZ-Überlebenden waren vor ihrer Inhaftierung bereits aus Österreich emigriert, bevor sie 1945 aus dem (ehemaligen) Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten nach Schweden kamen. Der Emigrationsweg der weiteren 65 Menschen konnte nicht eruiert werden. Weiteremigration Bei mindestens 82 der im Rahmen des Projekts erfassten Personen konnte festgestellt werden, dass sie Schweden wieder verließen, um – zum Großteil noch während des Krieges – in ein anderes Land weiterzuemigrieren. Darunter waren lateinamerikanische Staaten wie Argentinien und Mexiko (mit acht Personen am stärksten vertreten), Großbritannien und die Schweiz und Palästina beziehungsweise ab Mai 1948 Israel. Der Großteil, 44 Personen, zog weiter in die USA (davon 39 vor Juni 1941, als der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion den Fluchtweg über Russland und den Pazifik unmöglich machte, der Rest nach Kriegsende). Diese Tendenz deckt sich mit dem von Thomas Kiem ermittelten Ergebnis, wonach ebenfalls die meisten Transmigranten in die USA weiterwanderten.13 Einige wenige kehrten nach Kriegsende von Schweden aus in ihr Erstaufnahmeland Norwegen oder Dänemark zurück, aus dem sie nach der deutschen Okkupation hatten fliehen müssen. Rückkehr 100 der erfassten Personen kehrten, soweit den zugänglichen Quellen zu entnehmen war, nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Österreich zurück, bei weiteren 29 ist dies wahrscheinlich. Von den 100 zurückgekehrten Exi13

Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 41. Kiem geht dabei von 61 Transmigranten aus, von denen 41 aus Schweden in die USA emigrierten.

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lanten erreichten zehn bereits 1945 ihr Herkunftsland, drei 1945 oder 1946. Zumindest 31 der namentlich bekannten Personen kamen 1946 nach Österreich; in diesem Jahr ging auch der erste von der ÖVS organisierte »Rückkehrertransport« aus Stockholm ab, an dem ca. 160 Leute teilnahmen (eine Namensliste war für diesen Transport nicht verfügbar). Mindestens 13 Personen remigrierten 1947 und 1948. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre folgten neun weitere, darunter auch Bruno Kreisky, der Anfang des Jahres 1951 nach Wien zurückkehrte. Bei 16 Personen konnte das Jahr der Rückkehr nicht eruiert werden. Während Kiem und Müssener davon ausgehen, dass insgesamt ca. ein Viertel der österreichischen Exilanten nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrte, liegt der Anteil der Remigranten hier zwischen einem Sechstel und einem Fünftel (unter Einbeziehungen der wahrscheinlich Zurückgekehrten).14 Die politische Betätigung kann als Faktor betrachtet werden, der die Entscheidung zur Rückkehr aus einem Exilland erleichterte. Wegen des Willens, am Aufbau eines demokratischen Österreich mitzuwirken, nahm man die unsichere politische und wirtschaftliche Nachkriegssituation in Kauf. Von den 100 Rückkehrern waren 37 Personen Mitglieder der – nicht parteipolitischen, aber dennoch mit der aktiven Identifikation mit dem Herkunftsland verbundenen – ÖVS, 7 standen zumindest mit ihr in Kontakt. 21 (eventuell 22) gehörten der kommunistisch geprägten FÖB an. 15 bis 16 waren im Klub österreichischer Sozialisten (KöS) engagiert, 28 (davon neun KöS-Mitglieder) wurden von der Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung (Arbetarrörelsens flyktinghjälp) unterstützt. Diese wurde 1933 von der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei und dem Gewerkschaftsbund (Landsorganisationen i Sverige, LO) unter dem Namen »Fackliga och politiska emigranternas hjälpkommitté« (Hilfskomitee der gewerkschaftlich organisierten und politischen Flüchtlinge) gegründet und war die größte der Hilfsorganisationen. Um Unterstützungsleistungen beantragen zu können, musste ein Flüchtling Mitglied einer sozialdemokratischen Partei oder einer Gewerkschaft sein. Bis zu seiner Weiterreise in die USA 1941 hatte der österreichische Exilant Karl Heinz eine führende Position in der Leitung dieser Organisation inne.15 32 Personen gehörten der 1942 gebildeten Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden an. Mindestens 7 oder 8 Personen hatten in der schwedischen Exilorganisation der KPÖ gewirkt. Viele der hier Eingerechneten waren im Lauf der Zeit in mehreren Organisationen engagiert – 70 der 100 Rückkehrer hatten ein Naheverhältnis zu mindestens einer der (abgesehen von der ÖVS klar politischen) Exilgruppen.

14 15

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Vgl. den Beitrag Helmut Müsseners in diesem Band und Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 49 f. Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 77; Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 28.

Betroffene rassistischer Verfolgung Von mindestens 368 Personen konnte festgestellt werden, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von rassistischer Verfolgung durch die Nationalsozialisten betroffen waren. Bei vielen spielte aber sowohl die Herkunft als auch die politische Betätigung als Fluchtgrund eine Rolle; mindestens 53 wurden von der Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung betreut und standen dieser ideologisch somit auf jeden Fall nahe. 157 der im Rahmen des Projekts in die Datenbank des ÖBL aufgenommenen »rassisch« Verfolgten wurden bei ihrer Emigration von der Schwedischen Israelmission unterstützt. Mitgliedschaft in Exilorganisationen Die größte der österreichischen Exilorganisationen in Schweden, die ÖVS, wurde im Juni 1944 offiziell gegründet. Im April 1945 trat ein Teil der Mitglieder, einzelne Ortsgruppen auch geschlossen, der Freien Österreichischen Bewegung in Schweden bei, die als Teilorganisation des internationalen, kommunistisch dominierten Free Austrian World Movement geführt wurde. Im März 1946 wurden beide Organisationen unter dem Namen Österrikiska Föreningen i Sverige (Österreichische Vereinigung in Schweden) wieder vereint.16 Für den Klub österreichischer Sozialisten, für die KPÖ-Gruppe und die ÖVS waren keine Mitgliederlisten auffindbar. Die Verbindung zu diesen Gruppen konnte durch einschlägige Literatur und – wie im Fall von ÖVS und KöS – durch Quellenmaterial zu den Vereinen, etwa durch die Nennung von Mitgliedern in Zeitschriften oder durch Korrespondenzen hergestellt werden. Obwohl die Unterstützung durch die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung keine Zugehörigkeit zu einer Exilorganisation im eigentlichen Sinn bedeutet (Bezieher von Unterstützung mussten nachweisen, dass Verbindungen zu einer sozialdemokratischen Partei oder Gewerkschaft bestanden hatten, was vermuten lässt, dass sich diese Personen auch im Exil innerhalb des KöS oder der Gewerkschaftsgruppe engagierten), wird hier auch die Anzahl jener genannt, die eine solche Hilfeleistung erhielten (die in der zweiten Säule angeführte Zahl bezieht sich auf weitere Personen, deren Mitgliedschaft wahrscheinlich ist):17

16 17

Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 224 – 229. Die Vereinigung freier österreichischer Sozialdemokraten in Schweden (VFÖS), die kaum in Erscheinung trat, wurde etwa zeitgleich mit der FÖB von Friedrich Schleifer gegründet und gehörte dieser an (vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 231; ÖZ, Nr. 10, 18. 5. 1945, S. 2. DÖW EX 3014 C).

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Anzahl Personen

Wenn die Mitgliedschaft in der KöS, der KPÖ und der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter sowie die Unterstützung durch die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung als Indiz gelten können, so waren 174 Personen, also knapp 30 %, nicht »nur« in den erst im Exil gegründeten Organisationen ÖVS und FÖB aktiv; bei diesen Personen ist anzunehmen, dass die politische Verfolgung zumindest Mitgrund für die Flucht war (mindestens 74 der 174 galten nach den Nürnberger Rassengesetzen als jüdisch).

Einzelne Flüchtlingsgruppen Mit Hilfe der Schwedischen Israelmission nach Schweden gelangte Exilanten18 Die Schwedische Israelmission (Svenska Israelsmissionen), 1875 gegründet, betrieb seit 1921 eine Wiener Niederlassung im neunten Bezirk, Seegasse 16 (heute befindet sich dort die evangelische Messiaskapelle). Pfarrer Göte Hedenquist, seit 1936 Direktor der Wiener Mission, leitete nach dem »Anschluss« die Hilfsaktionen für die nach den Nürnberger Rassengesetzen als jüdisch geltenden Verfolgten. Während die Israelitische Kultusgemeinde »Glaubensjuden« und die Erzbischöfliche Hilfestelle für nichtarische Katholiken in Wien katholische Konvertiten betreuten, kümmerte sich die Israelmission vor allem um Protestanten jüdischer Herkunft, aber schließlich auch um nicht Getaufte; die Fluchthilfe war ab 1938 ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit. Im Juni 1941 musste die Mission ihre Tätigkeit einstellen.19 18 19

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Vgl. auch den Beitrag von Thomas Pammer in diesem Band. Vgl. Fischer u. a., Österreich – Schweden. Die zwischenstaatlichen Wahrnehmungen, S. 429 f.; Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht: Die Heilandskirche und ihre »Ju-

Von den im Projekt erfassten Personen wurden 157 von der Schwedischen Israelmission nach Schweden gebracht; von diesen wiederum waren 101 achtzehn Jahre alt oder jünger. Im Februar 1939 ging ein größerer Transport mit ca. 60 Kindern von Wien ab, den Schwester Anna-Lena Peterson, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Wien tätig war, begleitete; auch Auguste Sommer (1900 – 1997) wanderte als österreichische Begleitperson dieser Reise aus.20 Neben Kindern und Jugendlichen konnten mit Hilfe der Mission teilweise auch Familien oder ein Elternteil mit Kind emigrieren. »Nicht-arische« Mitarbeiter der Mission mussten oft schnell in Sicherheit gebracht werden; so etwa Walter Figdor (1914 – 1992), der im Mai 1941 in Schweden ankam.21 Figdor war 1946 Vorstandsmitglied der ÖFS, im selben Jahr kehrte er mit dem ersten Heimkehrertransport nach Österreich zurück.22 Gerold, Gertraud und Gerda Propper kamen Ende Jänner 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden (möglicherweise handelt es sich auch um den bereits erwähnten größeren Transport im Februar). Ihre Mutter Leopoldine (1905 – 2009) konnte ihnen Ende August folgen. Der Vater Felix Propper (1894 – 1962), jüdischer Herkunft und 1916 evangelisch getauft, kam nach Jahren des Exils in Frankreich und der Schweiz im Oktober 1945 in Schweden an. Die Verbindung der Familie zur evangelischen Kirche erleichterte 1939 wohl die Kontaktaufnahme mit der Israelmission. Gerold (geb. 1928), Gertraud (geb. 1932, verheiratete Fletzberger) und Gerda (geb. 1933, verheiratete Lissy) waren nach ihrer Ankunft in Schweden anfangs wie die meisten Kinder privat untergebracht, Gerold in Råsunda, Gerda in Södertälje (nahe Stockholm), Gertraud bei dem Malermeister Ivar Cahle in Stockholm.23 Gertraud Fletzberger, im Jänner 1939 sieben Jahre alt, schildert die Belastung der erzwungenen Auswanderung: »Obwohl mich meine Pflegefamilie mit viel Umsicht versorgte, hatte ich, als ich aus der Geborgenheit meiner Familie so plötzlich herausgerissen wurde, große Probleme zu bewältigen (ich verweigerte anfangs jede Essensaufnahme, litt unter Übelkeit, musste wegen eines heftigen Hautekzems, solange ich in Schweden war, behandelt denchristen« zwischen 1880 und 1955. Graz: CLIO 2010, S. 141 – 143; Ulrich Trinks: Die schwedische Mission in der Seegasse (http://www.christenundjuden.org/artikel/ geschichte/58-die-schwedische-mission-in-der-seegasse, 14. 11. 2011). 20 Anna-Lena Peterson: Meine Tätigkeit für die schwedische Israelsmission. In: Erinnerungen an Schweden. Österreicher in Schweden – Schweden in Österreich in den Jahren 1938 – 1945 (= Schweden Österreich, 11. Jg., H. 2, 1988), S. 13. 21 Göte Hedenquist: Meine Begegnung mit Adolf Eichmann. In: Erinnerungen an Schweden, S. 10; Walter Figdor: Einige Erinnerungen an meine Zeit in Schweden. In: Erinnerungen an Schweden, S. 22 f.; Svenska kyrkan, Kyrkokansliets arkiv, Uppsala, Bestand Schwedische Israelmission, F1b:4 (Scan Evangelische Akademie Wien). 22 Österreich, Monatsblätter, April 1946, S. I f. und April/Mai 1947, S. 36. SBKA, Box I.1.-1.2/10. 23 Svenska kyrkan, Kyrkokansliets arkiv, Uppsala, Bestand Schwedische Israelmission, F1b:4 (Scan Evangelische Akademie Wien).

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werden).«24 Nach etwa zwei Jahren, im Dezember 1940, konnte Leopoldine Propper, die sich ihren Lebensunterhalt als Hausschneiderin verdiente, Gertraud und Gerold bei sich in einer kleinen Wohnung in Råsunda aufnehmen. »Unter fast unmenschlichen Anstrengungen als Schneiderin gelang es ihr uns zu versorgen, wobei es oft zu argen Engpässen kam und nicht einmal das Notwendigste des ohnehin sehr bescheidenen Essens eingekauft werden konnte. Meine Mutter ermöglichte aber meinem Bruder und mir, eine höhere Schule zu besuchen, wozu unsere Pflegeeltern in keiner Weise bereit gewesen wären.« 1944 konnte Leopoldine Propper eine größere Wohnung beziehen und sich als Schneiderin selbstständig machen; nun war es ihr auch möglich, Gerda zu sich nehmen. Im Mai 1947 kehrten sie nach Österreich zurück.25 Felix Propper, bereits seit 1946 in Wien, empfing 1948 die Ordination zum Pfarrer und arbeitet von 1951 bis 1960 als Seelsorger der Israelmission in Wien.26 Von den über die Israelmission nach Schweden gelangten Personen scheinen – obwohl hier im Detail weitere Nachforschungen für exaktere Angaben notwendig wären – wenige nach Kriegsende zurückgekehrt zu sein; die Familie Propper und Walter Figdor bilden Ausnahmen. Nur acht der 157 kehrten mit Sicherheit zurück, bei weiteren fünf ist es wahrscheinlich. Dies kann zum Teil durch das Alter der Exilanten erklärt werden. Als Kinder oder Jugendliche nach Schweden gekommen, waren die Kriegsjahre prägend für ihre Entwicklung; viele erfuhren nach Ende des Krieges vom Tod ihrer Eltern und anderer Verwandten. Lilian Radoh (geb. 1930), heute in Lund lebend, gehört zu jenen, die nicht nach Österreich zurückkehrten. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet, ihre Mutter überlebte die Shoah und wurde nach der Befreiung BergenBelsens vom Roten Kreuz nach Schweden gebracht. Lilian Radoh kam im Juli 1939 nach Höör im damaligen Bezirk Malmöhus (heute Skåne län), wo sie bei zwei Schwestern, eine davon Diakonisse, untergebracht war. Auf Druck der Israelmission konvertierte sie, vermutlich erst in Schweden, zum evangelischen Glauben. Auch sie hatte unter der Umstellung an die neue Umgebung zu leiden und vermisste ihre Eltern. Ihre Gastgeberinnen waren zwar bemüht, aber wenig geeignet, auf die Bedürfnisse eines Kindes einzugehen. Sie registrierte auch eine kühlere Mentalität der Schweden, der sie ihre Lebhaftigkeit opfern musste. Nach 1945 hatten Lilian Radoh und ihre Mutter Helene Hoffmann-Radoh (1900 – 1974) oft mit Geldsorgen zu kämpfen. Ihre Mutter war gezwungen zu arbeiten, obwohl sie von der KZ-Haft schwer gezeichnet war. Den Übertritt zum Christentum (auch ihre Mutter konvertierte) bewertet Lilian Radoh mittlerweile negativ, denn auch ihre Konversion änderte nichts an der abweisenden Haltung der schwedischen Kirche. Der jüdischen 24 Mitteilung Gertraud Fletzberger an den Autor (E-Mail, 7. 1. 2012). 25 Ebd. 26 Lebenslauf Felix Propper, zur Verfügung gestellt von Gertraud Fletzberger.

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Gemeinde wiederum galt sie als Christin. Lilian Radoh fühlt sich heute sowohl als Christin als auch als Jüdin. Sie gehört einer christlichen Gemeinschaft an, besucht aber auch Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde in Malmö.27 Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager Ab April 1945 trafen Österreicher, anfangs vor allem Frauen, in Schweden ein, die die Internierung in Konzentrations- und Vernichtungslagern überlebt hatten. 27 Personen, zu deren Lebenslauf weitere Informationen auffindbar waren, wurden in die Datenbank aufgenommen. In den Exilzeitschriften »Mitteilungsblatt der Österreichischen Vereinigung in Schweden« und »Österreichische Zeitung« wurden Listen veröffentlicht, in denen insgesamt knapp hundert Überlebende angeführt sind.28 Die KZ-Häftlinge wurden zum Teil im Rahmen einer Rettungsaktion des schwedischen Roten Kreuzes befreit und aus dem deutschen Reichsgebiet, meist über Dänemark, nach Schweden gebracht.29 Seit Ende des Jahres 1944 hatten Pläne der schwedischen Regierung, in Zusammenarbeit mit Vertretern der norwegischen Exilregierung und des World Jewish Congress, Gestalt angenommen, eine Rettungsaktion für Internierte deutscher Konzentrationslager zu starten; diese sollte nicht über konventionelle diplomatische Kanäle, sondern mithilfe des Roten Kreuzes durchgeführt werden. Waren die Überlegungen anfangs darauf fokussiert, Skandinavier zu befreien, konnte die Aktion schließlich auch auf Häftlinge anderer Nationen ausgeweitet werden. Maßgeblich am Erfolg beteiligt war Graf Folke Bernadotte, 1944 Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes. Nachdem in einem ersten Schritt ab März 1945 skandinavische Häftlinge in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg verlegt und dort vom Roten Kreuz betreut wurden, konnte Bernadotte Heinrich Himmler im April zu weiteren Zuge27 Svenska kyrkan, Kyrkokansliets arkiv, Uppsala, Bestand Schwedische Israelmission, F1b:4/Göte Hedenquist an Birger Pernow. Wien, 28. 6. 1939/»Liste der Kinder nach Schweden«, undatiert (alle Scans Evangelische Akademie Wien); Mitteilungsblatt der ÖVS, Juli 1945 (nicht paginiert). SBKA, Box I.1.-1.2/10; Lilian Radoh: En resväska berättar. In: Israels Vän, H. 6, 2011, S. 4 – 6 (pdf-Version, www.israelsvan.com/tidningen/Nr. 6_11.pdf, 11. 1. 2012); Telefoninterview mit Lilian Radoh, geführt von Simon Usaty, 19. 7. 2012. Auf der »Liste der Kinder nach Schweden«, auf der Lilian Radohs Religion mit mosaisch angegeben wird, ist vermerkt: »Sämtliche Kinder gehören dem Kinderkreise [an] und ihre Eltern möchten, dass sie evangelisch erzogen werden.« Dieses Zugeständnis könnte sich an die Leitung der Israelmission in Stockholm gerichtet haben. 28 Mitteilungsblatt der ÖVS, Juni 1945, S. 5 und Juli 1945 (nicht paginiert). SBKA, Box I.1.-1.2/10; ÖZ, Nr. 11, 5. 6. 1945, S. 5, Nr. 13, 5. 7. 1945, S. 8 und Nr. 14, 18. 7. 1945, S. 10. DÖW EX 3014 C. 29 Vgl. zum Folgenden Steven Koblik: »No Truck with Himmler«. The Politics of Rescue and the Swedish Red Cross Mission, March – May 1945. In: Scandia, Tidskrift för historisk forskning, H. 1 – 2, 1985, S. 173 – 195.

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ständnissen bewegen: Ausgewählte (u. a. kranke) Häftlinge wurden ab dem 2. April nach Schweden gebracht, Mitte des Monats folgten einige Hundert skandinavische Juden, und wenig später war es möglich, alle Skandinavier nach Schweden zu transportieren; am 25. April fuhren 4.000 Frauen30 aus Ravensbrück Richtung Schweden ab. Kurz davor hatte Himmler, im Zuge von Versuchen, Gespräche mit den westlichen Alliierten anzubahnen, Bernadotte die Erlaubnis erteilt, alle Gefangenen seiner Wahl zu befreien. Vor Kriegsende gelangten insgesamt ca. 21.000 Internierte verschiedener Nationen31 nach Schweden; davon waren etwa 6.500 von antisemitischer Verfolgung betroffen, auch wenn die exakte Zahl schwer festzulegen ist. »Whatever the actual count, the Red Cross mission represented one of the most sucessful efforts to aid Jews during the war.«32 Die österreichischen Exilanten entfalteten eine umfangreiche Hilfstätigkeit für die in Schweden angekommenen Überlebenden. Für die FÖB stellten Robert Peiper33, für die ÖVS Alois Reitbauer34 und Erich Filz35 den ersten Kontakt zu ihren Organisationen her. Reitbauer schilderte 1985 seine Eindrücke vom 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation Deutschlands, als er im südschwedischen Helsingborg nach Österreichern unter den Geretteten suchte:

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Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Robert Peiper (1902 – 1966) war Mitglied der KPÖ. Er wirkte in Wien als Schauspieler u. a. am Raimundtheater und an Kleinbühnen. Er emigrierte 1934 gemeinsam mit seiner Frau Else (1902 – 1988) als politischer Flüchtling in die Tschechoslowakei, 1937 weiter nach Dänemark und 1938 nach Norwegen. 1941 flüchtete Peiper nach Schweden. Ab 1943 war er Schauspieler an der Freien Bühne in Stockholm. Er war Mitglied der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden und der FÖB. Später war er im Theater- und Filmbereich in Schweden tätig (vgl. u. a. HBE; Müssener, Exil in Schweden, S. 295, 381, 515). Alois Reitbauer (1915 – 1997) stieß 1935 zu den Revolutionären Sozialisten beziehungsweise zur Revolutionären Sozialistischen Jugend. Ab 1934 studierte er Jus in Wien und arbeitete illegal in sozialistischen Studentengruppen. Er emigrierte im September 1939 direkt nach der Promotion nach Schweden, wo er Mitglied der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden und der ÖVS war (ab Ende 1949 Vorsitzender). 1950 trat er in Stockholm in den diplomatischen Dienst ein, 1957 – 1960 arbeitete er im Außenministerium in Wien unter Kreisky. Ab 1960 war er Generalkonsul in Zürich, 1964 – 1968 ao. und bevollmächtigter Botschafter in Canberra/Australien, dann wieder im Außenministerium in Wien und Botschafter in Kopenhagen. Ab Mai 1975 leitete er die Personalsektion des Außenministeriums in Wien (vgl. u. a. HBE). Erich Filz (eigentlich Filz von Reiterdank, 1902 – 1973) war Jurist. Er flüchtete nach Malmö, wo er als Gärtner arbeitete. 1945 und 1946 war er im Vorstand der ÖVS und nach der Wiedervereinigung der ÖVS und der FÖB im Vorstand der ÖFS. Nach Kriegsende arbeitete er als Diplomat, 1961 – 1966 in Mexiko (vgl. Karl Bittner an F C West. O. O., 14. 7. 1945. SBKA, Box I.1.-1.2/18; http://www.bmeia.gv.at/botschaft/ mexiko/bilaterale-beziehungen.html, 11. 4. 2012).

Berichterstattung der »Österreichischen Zeitung« über nach Schweden gerettete österreichische KZ-Überlebende, Juni 1945 Das war für mich ein makabrer Tag. Ich bin in diesen Schulen gewesen, sah diese ausgemärgelten Menschen, wie man sie heute noch im Film sieht. Dann hat man ihnen irgendwo einen Grammophonapparat gegeben. Alle aus verschiedenen Nationen, Österreicherinnen waren leider nicht sehr viele dabei. Und sie haben dort gespielt und dazu getanzt. Sie waren alle im Pyjama, nein, mit Schlafröcken bekleidet und das war so makaber, es war wie ein Gespenstertanz. Draußen sind die Schweden auf der Straße gestanden und haben geschrien und gejohlt und gejubelt – auch begreiflich – daß der Krieg zu Ende ist. Und ich bin immer wieder von einer Schule zur anderen gegangen, durch alle Säle, durch alle Zimmer durch und habe, wie gesagt ... Es war ein eigentümliches Erlebnis. Die Erleichterung, die man 123

selbst gefühlt hat über »Jetzt ist das aus, jetzt kommt eine andere Zeit«. [...] Und dazu dieses Elend so direkt vor Augen zu haben. Ich kann es bis heute nicht vergessen, das ist etwas Entsetzliches.36 Mitte Mai 1945 konnte die »Österreichische Zeitung« berichten, dass dreißig Überlebende von der FÖB finanzielle Unterstützung und Hilfspakete erhalten hatten. An die Leser erging ein Spendenaufruf, auch Kleidung und Bücher wurden gesammelt. Die Ortsgruppe Uppsala hatte bis 8. August an 32 Österreicher Pakete verschickt. Helene Freud (geb. 1901) bedankte sich dafür: »Für Ihre lieben Wünsche danke ich Ihnen gleichfalls, da ich nun ›zum Leben verurteilt bin‹, tue ich mein Möglichstes, um bald meine Lungen auszuheilen. Bin auch schon von 43 Kilo auf 52 gekommen, also ein schöner Erfolg, wenn man bedenkt, dass ich schon 2 mal vor der Gaskammer stand ... .«37 Unter den Ende April aus Ravensbrück befreiten Frauen waren auch die österreichischen Widerstandskämpferinnen Lisa Gavrič38 und Mela Ernst39. Obwohl beide bereits 1945 nach Österreich zurückkehrten, engagierten sie sich während ihres Aufenthalts in Schweden in der Exilszene. Gemeinsam zeichneten sie im Juni einen Brief im »Mitteilungsblatt« der ÖVS, in dem sie mit Freude ihren Beitritt zur Organisation erklärten und ihre Entschlossenheit betonten, bald nach Österreich zurückkehren und am Aufbau des Landes mitwirken zu wollen. Über die Zerwürfnisse zwischen den beiden großen Gruppen bereits informiert, gaben sie ihrer Hoffnung auf Einigung des österreichischen Exils Ausdruck.40 Anfang Juli erschien in der von der 36

Interview mit Botschafter Alois Reitbauer, geführt von Irene Etzersdorfer, 10. 7. 1985, Teil II, S. 7. SBKA, Box I.1.-1.2/12. 37 ÖZ, Nr. 10, 18. 5. 1945, S. 2, Nr. 11, 5. 6. 1945, S. 5, Nr. 12, 18. 6. 1945, S. 2, Nr. 15/16, 8. 8. 1945, S. 2 (Zitat Helene Freud) und Nr. 17, 8. 9. 1945, S. 3. DÖW EX 3014 C. 38 Nach illegaler Tätigkeit innerhalb der KPÖ ab 1934 war Lisa Gavrič (1907 – 1974) nach Paris geflüchtet. Ab 1937 nahm sie als Krankenschwester am Spanischen Bürgerkrieg teil, 1939 kehrte sie nach Frankreich zurück. Nach der Okkupation gehörte sie einer »Mädelgruppe« des Widerstands an, 1943 zog sie als französische Staatsbürgerin nach Wien und arbeitete unter anderem als Hausgehilfin eines SS-Angehörigen. Im Juni 1944 wurde sie von der Gestapo verhaftet, später in Ravensbrück inhaftiert. Vgl. Charlotte Rombach: Lisa Gavric – Kommunistin und Widerstandskämpferin. In: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, H. 4, 2006, S. 19f.; DÖW, Aktualisierte und erweiterte Online-Veröffentlichung des Lexikons der österreichischen Spanienkämpfer 1936 – 1939. 39 Mela Ernst (1893 – 1949) war in Wien Mitglied der KPÖ, 1937 zog sie nach Spanien und arbeitete als Schreibkraft für den Servicio Sanitario Internacional (Sanitätsdienst der Internationalen Brigaden). Wegen ihrer Arbeit im französischen Widerstand im Herbst 1943 verhaftet, war sie von April 1944 bis zur Rettung durch das schwedische Rote Kreuz in Ravensbrück, wo sie dem illegalen Lagerkomitee angehörte. Vgl. DÖW, Aktualisierte und erweiterte Online-Veröffentlichung des Lexikons der österreichischen Spanienkämpfer 1936 – 1939; biografiA, Biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen, Eintrag zu Hermine Jursa (http://www.univie.ac.at/ biografiA/projekt/Widerstandskaempferinnen/Jursa.htm, 15. 5. 2012). 40 Mitteilungsblatt der ÖVS, Juni 1945, S. 5 f. SBKA, Box I.1.-1.2/10.

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Titelblatt der Exilzeitschrift »Österreich – Monatsblätter«, März 1946 FÖB herausgegebenen »Österreichischen Zeitung« ebenfalls eine Beitrittsmitteilung von Ernst und Gavrič; im Rahmen der FÖB – deren Linie ihnen als Kommunistinnen näher stehen musste – wollten sie sich am Wirken der österreichischen Emigration beteiligen.41 Auch andere KZ-Überlebende entfalteten eine rege Tätigkeit im Rahmen der Exilorganisationen. Im Juli wurde eine FÖB-Ortsgruppe in Holsbybrunn gegründet, die ausschließlich aus dort untergebrachten Überleben-

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ÖZ, Nr. 13, 5. 7. 1945, S. 4. DÖW EX 3014 C.

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den bestand; deren weibliche Mitglieder beteiligten sich an Näh- und Strickarbeiten im Rahmen einer Hilfsaktion für Kinder in Österreich.42 Rebekka Liwerant (Liverant) und ihre Mutter Johanna kamen im Juli 1945 mithilfe des Roten Kreuzes nach Schweden.43 Im August 1944 waren die Salzburgerin (geb. 1923) und ihre Mutter (geb. 1906) aus dem Ghetto von Łódź nach Auschwitz deportiert worden. Nach etwa einem Monat verlegte man sie nach Christianstadt (Brandenburg). Als die Rote Armee näher rückte, wurden die Gefangenen auf einen fünfwöchigen Todesmarsch geschickt, dem zwei Drittel zum Opfer fielen. Mit dem Zug brachte man die Überlebenden unter furchtbaren Bedingungen nach Bergen-Belsen, wo sie am 15. April die Befreiung durch britische Soldaten erlebten. Nach einigen Wochen im britischen Notspital wurden Rebekka und Johanna Liwerant vom schwedischen Roten Kreuz nach Malmö gebracht; anfangs war nur ein Aufenthalt von sechs Monaten geplant. »Hier sollen wir uns erholen und unser Leid vergessen. Ist das nicht furchtbar nett.»44 Eine Rückkehr kam für sie nicht in Frage: »Ich will Deutschland nie mehr wiedersehen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was Haß bedeutet.»45 Rebekka Liwerant konnte sich schließlich in Schweden niederlassen und zog 1946 nach Göteborg, wo sie Meinhold Mueller heiratete.46 Wehrmachtsdeserteure Die Namen von 34 Wehrmachtsdeserteuren, die Schweden zwischen 1941 und 1945 erreichten, wurden in die Datenbank des ÖBL aufgenommen. Vor Ende 1942, bevor bekannt wurde, dass die Abschiebung nach Norwegen oder Finnland oft ein Todesurteil bedeutete, war für diese die Flucht nach Schweden schwer möglich. Danach wurden Deserteure nicht zurückgeschickt, aber in Lagern interniert. Bemühungen der österreichischen Exilorganisationen und besonders Bruno Kreiskys führten dazu, dass die »Militärflüchtlinge«47 in den Lagern von deutschen Soldaten getrennt wurden, aus der Internierung entlassen werden konnten und nicht mehr den 42 ÖZ, Nr. 13, 5. 7. 1945, S. 2, Nr. 17, 8. 9. 1945, S. 2 und Nr. 19, 15. 10. 1945, S. 2. DÖW EX 3014 C. In der Nr. 19 der ÖZ (S. 6) wurde auf das eben erschienene Buch des nach Schweden geretteten österreichischen Auschwitz-Überlebenden Freddy (Friedrich) Bauer, »Jag sjöng mig genom helvetet« (Ich sang mich durch die Hölle) hingewiesen, das wohl zu den ersten autobiografischen Berichten über die Internierung in Vernichtungslagern gehören dürfte. 43 Vgl. ÖZ, Nr. 14, 18. 7. 1945, S. 10 (DÖW EX 3014 C), und Leo Baeck Institute, Dokumentensammlung Rebekka Liwerant – Letters from Ré, AR 11767 (online einsehbar auf der Website des Center for Jewish History, www.chj.org). 44 Rebekka Liwerant an Familie Wolff, Malmö, 4. 7. 1945. Leo Baeck Institute, Dokumentensammlung Rebekka Liwerant – Letters from Ré, AR 11767. 45 Ebd. 46 Biographical Note. Leo Baeck Institute, Dokumentensammlung Rebekka Liwerant – Letters from Ré, AR 11767. 47 Die Österreicher in Schweden benutzten diesen Begriff, um den politischen Aspekt der Desertion zu betonen.

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Zeitschrift der Österreichischen Vereinigung in Schweden (ÖVS) Militär-, sondern den Zivilbehörden unterstanden.48 Die ÖVS wie auch der KöS kümmerten sich besonders ab 1944, als deren Zahl zunahm, um die Deserteure, informierten sie über das Kriegsgeschehen und versuchten, Probleme des alltäglichen Lebens zu lösen. Während in einem US-amerikani48 Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 94 und 257; Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 23 f.; HBE, Eintrag zu Bruno Kreisky.

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schen Bericht aus Schweden zwar festgehalten wurde, dass im Zuge der Hilfstätigkeit keine politische Arbeit betrieben werde (die Deserteure hätten die Tendenz gezeigt, die selben Parteien bzw. ab 1933/34 illegalen Gruppen wie vor dem »Anschluss» zu unterstützen, die meisten Wiener etwa bezeichneten sich als Sozialdemokraten49), gab Alois Reitbauer doch den Versuch einer gewissen Einflussnahme auf die ehemaligen Wehrmachtssoldaten zu.50 Die österreichischen Sozialisten in Schweden informierten die Deserteure auch durch die Herausgabe der »Österreichischen Information – Wochenausgabe«, die ab Jänner 1945 über aktuelle politische Ereignisse und Aktivitäten der Exil-Community, nach Kriegsende auch die Bemühungen um die Rückkehr nach Österreich berichtete und an die Internierungslager und Privatadressen verschickt wurde.51 Nach der Gründung der FÖB im April 1945 wurde auch in deren Rahmen ein Komitee zur Betreuung von Militärflüchtlingen gegründet, das aber vermutlich weniger Personen als die ÖVS erreichen konnte.52 Anfang Juli 1946 legte Kreisky Außenminister Karl Gruber eine Liste von 152 Deserteuren vor und erbat seine Intervention, um deren Rückkehr nach Österreich zu ermöglichen.53 Im Begleitschreiben bezeichnete Kreisky die Personen als »Militärflüchtlinge, die während des Krieges aus der deutschen Armee nach Schweden flüchteten. Einige der Männer haben mit der norwegischen oder dänischen Widerstandsbewegung Kontakt gehabt, andere wieder sind der alliierten Radiopropaganda folgeleistend, die deutsche Armee zu verlassen, nach Schweden gekommen«.54 Auf dieser Liste findet sich auch der 1915 in Wörgl/Tirol geborene Josef Huber. Er arbeitete als Waldarbeiter in Lobonäs, war Mitglied der ÖVS und vermutlich des KöS beziehungsweise der Auslandsorganisation der SPÖ und ließ sich in Schweden nieder.55 Reitbauer schildert, wie Huber nach Schweden gelangte: »Phantastisch auf der einen Seite, da ist z. B. einer aus

49 Herschel V. Johnson an Secretary of State, Austrian Desertions into Sweden from the German Army. O. O., 14. 11. 1944. SBKA, Box I.1.-1.2/18. 50 Interview mit Botschafter Alois Reitbauer, geführt von Irene Etzersdorfer, 10. 7. 1985, Teil II, S. 9 – 11. SBKA, Box I.1.-1.2/12. Alois Reitbauer drückte dies so aus: »Die wir natürlich auch politisch – das gehört dazu – für die Fraktion ...« 51 Österreichische Information, Wochenausgabe, Nr. 43, Jänner 1946, S. 5. SBKA, Box I.1.-1.2/10. 52 ÖZ, Nr. 10, 18. 5. 1945, S. 2 und 15/16, 8. 8. 1945, S. 2. DÖW EX 3014 C. 53 Da nicht zu allen Personen weitere Quellen auffindbar waren, wurde die Liste nicht vollständig in die Datenbank aufgenommen. 54 Liste von österreichischen Militär- und Zivilflüchtlingen in Schweden und Schreiben Bruno Kreisky an Außenminister Karl Gruber. Wien, 3. 7. 1946. SBKA, Box I.1.1.2/13. 55 Österreichische Information, November/Dezember 1945, S. 27, und Österreich, Monatsblätter, April 1946, S. II (beide SBKA, Box I.1.-1.2/10); Josef Huber an Bruno Kreisky. Lobonäs, 8. 9. 1948 und 9. 10. 1946. SBKA, Box I.1.-1.2/15.

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Wörgl, der ist losgezogen mit einer Gruppe von 18 Leuten und hat sie wirklich kolonnemäßig rübergebracht und die sind mitgegangen.«56 Die Arbeitssituation der Deserteure schien in vielen Fällen relativ vorteilhaft gewesen zu sein. Laut Reitbauer wurden sie zu fairen Konditionen als Forstarbeiter angestellt und konnten sich einen finanziellen Polster ansparen, der ihnen die Remigration erleichterte. Auch ein britischer Bericht von Anfang 1945 erwähnt die guten Verdienstmöglichkeiten der Österreicher.57 Bereits 1941 gelang Gottfried Auer (1920 – 2004) und Franz Streller (1923 – 1967) die Flucht nach Schweden. Streller, einem Schreiben der deutschen Gesandtschaft in Stockholm58 zufolge seit April 1941 Kriegsfreiwilliger, und Auer entfernten sich im September unerlaubt von ihrer Einheit in Finnland und wurden am 1. Oktober von der finnischen Polizei in Tornio, direkt an der schwedischen Grenze gelegen, der dortigen Ortskommandantur der Wehrmacht übergeben. Es gelang ihnen, einen Offizier zu überwältigen und am 5. Oktober die schwedische Grenze zu überschreiten. Von Haparanda, der Tornio gegenüberliegenden Kleinstadt auf schwedischer Seite, fuhren sie mit einem Güterzug nach Stockholm, wo sie von der schwedischen Polizei verhaftet, nach Haparanda zurückgebracht und der finnischen Polizei übergeben wurden, die sie wieder an die deutschen Behörden überstellte. Bald darauf glückte Streller und Auer erneut die Flucht, seit Anfang November waren sie im schwedischen Luleå inhaftiert. Streller, vermutlich auch Auer, saß bis Mitte Mai 1943 im dortigen Gefängnis; wie die deutsche Gesandtschaft in Schweden an das Oberkommando des Heeres in Berlin berichtete, sollte Streller seiner eigenen Aussage nach bald in ein Internierungslager kommen.59 Gottfried Auer, der später in Stockholm lebte, war dort in der Jugendgruppe der ÖVS aktiv.60

Bleiben oder Zurückkehren? – Lebenswege einiger österreichischer Exilanten Die Exilorganisationen FÖB und ÖVS begannen nach Ende des Krieges mit Vorbereitungen, um rückkehrwillige Exilanten bei der Heimreise zu unterstützen. Beide sandten Fragebögen an ihre Mitglieder aus und bildeten Referate beziehungsweise Kommissionen, die die Remigranten unterstütz-

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Interview mit Botschafter Alois Reitbauer, geführt von Irene Etzersdorfer, 10. 7. 1985, Teil II, S. 11. SBKA, Box I.1.-1.2/12. 57 Ebd., S. 9; Press Reading Bureau/Stockholm an Political Intelligence Department/ London. Stockholm, 10. 1. 1945. SBKA, Box I.1.-1.2/18. 58 Deutsche Gesandtschaft, Militärattaché an OKH Berlin. Stockholm, 12. 5. 1943. DÖW 02219. 59 Dokumente zur Fahnenflucht von Franz Streller. DÖW 02219; Datenbank Exilanten in Schweden, angelegt von Thomas Kiem. 60 ÖZ, Nr. 2, 1. 10. 1944, S. 5. DÖW EX 3014 C; Kurt Hahn: Als »Flykting« (Flüchtling) in Schweden. In: Erinnerungen an Schweden, S. 28.

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Spendenliste für die Österreichhilfe der ÖVS (Zeitschrift »Österreich – Monatsblätter«, Mai 1946) ten. Für die FÖB war ab Juli 1945 Hans Hebein61, für die – mittlerweile wieder mit der FÖB vereinte – ÖFS/ÖVS ab April 1946 Hans Menzl62 mit der 61

Hans Hebein (geb. 1902) war 1945 im Vorstand der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden. Er lebte in Stockholm und arbeitete als Schweißer (vgl. Liste von österreichischen Militär- und Zivilflüchtlingen in Schweden. SBKA, Box I.1.-1.2/13; Kiem, Das österreichische Exil in Schweden, S. 121). 62 Hans Menzl (1894 – 1951) war Metallarbeiter in Ternitz/Niederösterreich, Mitglied der SDAP, des Republikanischen Schutzbundes und der Gewerkschaft. Im Februar 1934 verhaftet, flüchtete er im April 1934 nach Bratislava, anschließend nach Prag. Ab Fe-

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Koordination der »Repatriierung« beauftragt.63 Die mit der Kapitulation Deutschlands nun wieder mögliche Rückkehr in die Heimat gab auch Anlass zu einigen allgemeinen Überlegungen. Der Journalist und Sozialist Herbert Löwy schrieb über die Schwierigkeiten der politischen Arbeit im Exil, aber auch über die Demütigungen, die ihm als Österreicher jüdischer Herkunft widerfahren waren, als er im März 1938 von einem schadenfrohen Mob gezwungen wurde, die Fenster der Synagoge in der Wiener Seitenstettengasse zu putzen. Dennoch sehnte sich Löwy danach zurückzukehren: »Heimat, das bedeutet somit für mich die Summe der Erinnerungen und Eindrücke, die Form des Lebens und die Art des Umganges der Menschen untereinander, die meine Persönlichkeit formten schon lange ehe der Schatten des Pogroms und der Verfolgung sie mir hätte entfremden können.«64 Seit Februar 1946 bereitete die ÖVS einen größeren Rückkehrertransport vor; Anstoß dazu gab unter anderem der Heimreisewunsch vieler Wehrmachtsdeserteure.65 Bis der erste Transport mit ca. 160 Personen am 30. August von Stockholm abgehen konnte66, mussten viele organisatorische Hürden genommen werden. Hans Menzl berichtete darüber im Juni, ein wenig erschöpft wirkend, an Kreisky: Daneben wird die Repatriierungssache eine immer weniger begeisternde Angelegenheit. Gerade heute bekam ich wieder einen, der nunmehr typisch werdenden Jammerbriefe, diesmal von Kreindl67, der mir einen Brief seiner bruar 1937 kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg in der Artillerie. Im November 1938 gelangte er über Prag nach Stockholm. Im August 1946 wurde er als Nachfolger Bruno Kreiskys in den Vorstand der ÖFS kooptiert. 1946 oder 1947 kehrte er nach Österreich zurück. 1949 – 1951 war er sozialdemokratisches Mitglied des Bundesrats. Vgl. u. a. HBE; DÖW, Aktualisierte und erweiterte Online-Veröffentlichung des Lexikons der österreichischen Spanienkämpfer 1936 – 1939. 63 Mitteilungsblatt der ÖVS, Mai 1945, S. 6; Österreichische Information, Wochenausgabe, Nr. 46, Februar 1946, S. 4; Österreich, Monatsblätter, April 1946, S. V. Alle SBKA, Box I.1.-1.2/10; ÖZ, Nr. 10, 18. 5. 1945, S. 2, und Nr. 14, 18. 7. 1945, S. 2. DÖW EX 3014 C. 64 ÖZ, Nr. 10, 18. 5. 1945, S. 3. DÖW EX 3014 C. Ob Herbert Löwy nach Österreich zurückkehrte, konnte nicht festgestellt werden. 65 Österreichische Information, Wochenausgabe, Nr. 50, Februar 1946, S. 5. SBKA, Box I.1.-1.2/10. Die Einstellung der Wochenausgabe im August 1946 wurde auch damit begründet, dass der Großteil der Leser nun bald die Heimreise antreten werde (Österreichische Information, Wochenausgabe, Nr. 60, August 1946, S. 2. SBKA, Box I.1.-1.2/10). 66 Österreich, Monatsblätter, September/Oktober 1946, S. 9 f., 1947. SBKA, Box I.1.1.2/10. 67 Gottfried Kreindl (geb. 1912) desertierte vermutlich im Frühjahr 1945 und flüchtete nach Schweden, wo er Mitglied des KöS beziehungsweise der Auslandsorganisation der SPÖ war (vgl. Liste von österreichischen Militär- und Zivilflüchtlingen in Schweden. SBKA, Box I.1.-1.2/13; Österreichische Information, November/Dezember 1945, S. 27. SBKA, Box I.1.-1.2/13; SPÖ, Bezirksorganisation Bruck a/Mur an Zentralsekretariat der SPÖ. Bruck a/Mur, 6. 2. 1946. SBKA, Box I.1.-1.2/19).

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Angehörigen schickt und mich bittet, von hier aus an sie zu schreiben, warum er noch nicht zu Hause sein kann. [...] Ich werde also nun nicht nur unsere Burschen hier, sondern auch noch ihre Familien daheim trösten müssen. [...] Manchmal spiele ich schon wirklich mit dem Gedanken, mich an der Spitze dieser 150 Leute aufs Rad zu setzen und mit ihnen südwärts zu ziehen.68 Einem Bericht des bereits erwähnten Walter Figdor zufolge, der den ersten Transport begleitete, erreichte dieser Anfang September ohne größere Probleme sein Ziel.69 Im Februar 1947 folgte ein zweiter Transport mit 28, im Mai desselben Jahres ein dritter mit 35 Personen.70 Eine jener 100 in der Datenbank erfassten Personen, die sich für die Rückkehr entschieden, war die 1922 in Niederösterreich geborene Eva Pogner. Sie erreichte Schweden im April 1939; auf dem von der ÖVS im Zug der Vorbereitungen für den Rückkehrertransport ausgegeben »Erhebungsbogen Nr. 2« gab sie als Grund für ihren Aufenthalt in Schweden lapidar an: »Mein Vater ist Jude«.71 Martha Schimmerl (1896 – 1981) flüchtete, sowohl von politischer als auch rassistischer Verfolgung betroffen, im November 1938 nach Schweden, wo sie (wie etwa auch Helena Lanzer-Sillén und in der ersten Zeit nach seiner Ankunft Otto Binder) im Stockholmer Viertel Lilla Essingen wohnte. Sie war Kauffrau und vor ihrer Emigration Vizevorsitzende der österreichischen Gewerkschaft der Bankangestellten gewesen. Ihre politische Tätigkeit setzte sie in Schweden als Mitglied des KöS, der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter und der ÖVS (in den beiden letzteren zeitweise im Vorstand) fort; als Sozialdemokratin wurde sie von der Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung unterstützt. Obwohl sie vermutlich bereits 1946 ihre Rückkehr geplant hatte, gelangte Schimmerl erst im September 1949 nach Österreich.72 68 Hans Menzl an Bruno Kreisky. Stockholm, 2. 6. 1946. SBKA, Box I.1.-1.2/16. 69 Österreich, Monatsblätter, September/Oktober 1946, S. II f. SBKA, Box I.1.-1.2 / 10. 70 Österreich, Monatsblätter, April/Mai 1947, S. 38, und Juni/August 1947, S. 40. SBKA, Box I.1.-1.2/10. 71 Erhebungsbogen Nr. 2 (ausgegeben von der ÖVS), Eva Pogner. SBKA, Box I.1.-1.2/13; Eva Pogner an Bruno Kreisky. Groß-Siegharts, 22. 12. 1946. SBKA, Box I.1.-1.2/16. 72 Müssener, Exil in Schweden, S. 454; Der junge Kreisky, Schriften, Reden, Dokumente 1931 – 1945, hg. von Oliver Rathkolb und Irene Etzersdorfer (= Schriftenreihe der Stiftung Bruno Kreisky Archiv I). Wien – München: Jugend und Volk 1986, S. 321; Kassabuch der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden, Sammlung Josef Pleyl, Emigration in Schweden, 1943 – 1946. DÖW 19221/11; Österreichische Information, November/Dezember 1945, S. 27, und Österreich, Monatsblätter, Juni/August 1947, S. 40. Beide SBKA, Box I.1.-1.2/10; Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek, Namnförteckning över de flyktingar, vilka efter den 15 oktober 1938 anlända från Tjeckoslovakien i Sverige (mottagits av Arbetarrörelsens flyktingshjälp) med utgifter till 30 dezember 1939. SBKA, Box I.1.-1.2/13; Walter Citrin (General Secretary, Trades Union Congress, London) an Ernest Bevin, Secr. of State for Foreign Affairs. O. O., 7. 1. 1946. SBKA, Box I.1.-1.2/18.

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Johanna Bibring wird die Wohnung gekündigt, Juli 1938 Das Ehepaar Edwin (1897 – 1992) und Johanna Bibring (1908 – 1972) kam 1939 nach Schweden. Johanna Bibring, geborene Windt, arbeitete als Beamtin am Rechnungshof, bis sie im März 1938 wegen ihrer Ehe mit einem Juden gekündigt wurde. Edwin Bibring flüchtete mit seiner Familie 1914 aus Stanislau (Stanislawów) in Galizien nach Wien. Er maturierte, begann 1916 seinen Kriegsdienst und wurde u. a. an der Isonzo-Front eingesetzt. 1918 setzte er sein vor dem Einrücken begonnenes Jus-Studium fort, das er 1920 mit dem Doktorat abschloss, und bekam einen Posten als juristischer Sekretär einer Großbank. Edwin und Johanna Bibring heirateten 1932. Auch Edwin Bibring verlor nach dem »Anschluss« Österreichs seinen Job. Anfang 1939 konnte er mit Hilfe eines Freundes und seiner Frau nach Schweden flüchten. Johanna Bibring pflegte ihren erkrankten Vater bis zu dessen Tod und folgte ihrem Mann zur Zeit des Kriegsausbruchs nach. Edwin Bibring arbeitete in Schweden anfangs als Kürschner und Übersetzer, später war er bei einer Handelsfirma beschäftigt. Johanna Bibring verdiente als Nachhilfelehrerin für Deutsch und mit Näharbeiten. Kontakt zu Hilfsorganisationen bestand wahrscheinlich nicht. Wie Eva Douglas, Tochter der Bibrings, schildert, war ihr Vater vermutlich zu stolz, um dort um Unter-

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stützung zu bitten; so bemühte er sich nach Kriegsende auch nicht um »Wiedergutmachung« für die durch die Vertreibung erlittenen Verluste.73 Auch Edwin und Johanna Bibring waren in Stockholm in die ExilCommunity integriert und traten der ÖVS bei.74 Die Religion spielte im Leben der Familie kaum eine Rolle – Eva Douglas wurde evangelisch getauft, da die Eltern der Meinung waren, dass dies in Schweden von Vorteil sein könnte; Edwin Bibring trat in die Stockholmer Kultusgemeinde ein. So wurden Feiertage des jüdischen, evangelischen und katholischen Kalenders begangen. Das Ehepaar Bibring erlebte in Schweden keinerlei Fremdenfeindlichkeit. Wenn ihre Herkunft im Umgang mit Schweden zur Sprache kam, wurde sie eher als Bereicherung erlebt. Dies war wohl auch ein Grund dafür, nach Ende des Krieges nicht nach Österreich zurückzukehren. Die Familie hatte bereits eine eigene Wohnung, Edwin Bibring einen Posten, 1946 wurde Eva Douglas geboren. Da die weitere Entwicklung in Österreich schwer einschätzbar war, fiel die Entscheidung für das Bleiben. Eva Douglas lebt heute in Schweden und Österreich. Besonders Edwin Bibrings Verhältnis zu Österreich blieb zwiespältig. Ohne den Anlass, Verwandte seiner Frau zu besuchen, hätte er, so Eva Douglas, wohl kaum dort Urlaube verbracht. Im Alter, nach dem Tod Johanna Bibrings 1972, fuhr Edwin Bibring regelmäßig auf Kur in seine ehemalige Heimat. Die Erfahrung der Vertreibung sowie die Ermordung seiner Mutter und seiner beiden Brüder durch die Nationalsozialisten hatten die Beziehung zu Österreich aber maßgeblich beeinflusst. »Wenn ich also jetzt nach Österreich fahre, so tue ich es mit einem lachenden und einem weinenden Auge«, schrieb er 1987.75 Hans und Margarethe Marosi kamen bald nach dem »Anschluss« mit Touristenvisa nach Schweden, für die der Besuch von Hans Marosis Halbschwester, die mit einem Schweden verheiratet war, als Vorwand galt. Beide erhielten jedoch bald eine Aufenthaltsgenehmigung. Hans Marosi (1903 – 1963), eigentlich Jurist, bekam eine Stelle als Metallarbeiter im damals nahe Stockholm gelegenen Älvsjö (heute ein Teil der Stadt), wo er auch seinem Freund Otto Binder einen Posten verschaffen konnte. Margarethe Marosi (1909 – 1998) war Handelskorrespondentin, durfte anfangs allerdings nur als Hausangestellte arbeiten. Später stieg sie auf eine Karriere als Chemotechnikerin um. Beide waren Mitglied der ÖVS, Hans Marosi ab Ende der 1940er Jahre bis zu seinem Tod in den Funktionen der Kontrolle beziehungsweise des Kassiers. 73

Interview mit Eva Douglas, geführt von Simon Usaty, Wien, 6. 2. 2012; unveröffentlichte autobiografische Aufzeichnungen von Edwin Bibring (1987); Gemeindeverwaltung des Reichsgaus Wien, Bestätigung über die Ausstellung des Ehescheins, 29. 8. 1940; Magistrat der Stadt Wien, Heimatschein Johanna Windt, 4. 7. 1932; Magistratisches Bezirksamt II., Heimatschein Edwin Bibring, 30. 4. 1925 (alle Dokumente in Kopie zur Verfügung gestellt von Eva Douglas). 74 Österreich, Monatsblätter, Jänner/Februar 1946, S. 36. SBKA, Box I.1.-1.2/10. 75 Autobiografische Aufzeichnungen von Edwin Bibring, S. 2 (1987).

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Meldebestätigung Edwin Bibrings, Jänner 1939

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Schon in Österreich waren Hans und Margarethe Marosi in der Sozialdemokratie aktiv gewesen; in Schweden traten sie 1945 der Auslandsorganisation der SPÖ bei. Hans Marosi war von 1948 bis 1963 Buchhalter der jüdischen Gemeinde in Stockholm. Wie viele österreichische Exilanten war er sowohl von politischer als auch rassistischer Verfolgung betroffen. Enttäuscht von Österreich, beschloss das Ehepaar früh, nicht dorthin zurückzukehren. Dennoch hielten sie durch die ÖVS und häufige Besuche im Sommer eine Bindung zu ihrer früheren Heimat aufrecht.76

Schlussbemerkung Manche Persönlichkeiten des österreichischen Exils in Schweden gelangten in ihrem Herkunftsland zu einiger Popularität, allen voran der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky. Auch die Errungenschaften der Physikerin Lise Meitner oder des Publizisten Ernst Martin Benedikt sind durch die (wissenschaftliche) Beschäftigung mit dem Exil heute weiteren Kreisen bekannt. Die Chance dieses Projekts lag daher auch darin, dem so genannten »Exil der kleinen Leute«, jenen, deren Leben und Wirken bisher kaum nachgegangen wurde, Aufmerksamkeit zu schenken. Zahlreiche Biografien zeigen deutlich, wie sehr der Weg ins Aufnahmeland und die Existenz in einer für den Großteil der Flüchtenden anfangs unbekannten Umgebung mit Mühen und Entbehrungen verbunden war. Umso beeindruckender ist die Hilfsbereitschaft, die zahlreiche Exilanten der österreichischen Bevölkerung nach Kriegsende entgegenbrachten. Durch Spenden aus oft spärlichen Einkünften und praktische Mitarbeit bei der Organisation beteiligten sie sich an den Hilfsaktivitäten, die der Bevölkerung jenes Landes zugute kamen, in dem sie gedemütigt, zum Teil in Konzentrationslager gesperrt und aus dem sie vertrieben worden waren. Auch jene, die nicht an eine Rückkehr dachten, wirkten daran mit. Die im Rahmen des Projekts erstellten Datensätze können für weitere Forschungen genutzt werden und so hoffentlich dazu beitragen, das Wissen um das österreichische Exil in Schweden zu erweitern.

76 Mitteilung Karl Marosi an den Autor (E-Mail, 6. 3. 2012); Otto Binder: Wien – retour. Bericht an die Nachkommen, 3., ergänzte Auflage. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2010, S. 96 und 98; Kassabuch der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden, Sammlung Josef Pleyl, Emigration in Schweden, 1943 – 1946. DÖW 19221/11; Mitteilungsblatt der ÖVS, März/April 1950 (nicht paginiert). SBKA, Box I.1.-1.2/14; Mitgliederliste Auslandsorganisation Schweden der Sozialistischen Partei Österreichs, Beilage zu Schreiben Otto Binders an (Josef ) Kratky. Stockholm, o. D. SBKA, Box I.1.-1.2/19.

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Thomas Pammer

Die Schwedische Israelmission und ihre Kindertransporte1

Vorbemerkung Das österreichische Exil in Schweden stellt sich aus Sicht der heimischen Geschichtswissenschaft nach wie vor als ein primär politisches Exil dar. Doch während die Aktivitäten geflohener Sozialdemokraten, Kommunisten, aber auch Bürgerlicher bereits eingehend erforscht wurden, gerät oft aus dem Blickfeld, dass daneben zwei weitere zahlenmäßig bedeutende Gruppen österreichischer Flüchtlinge in Schweden Zuflucht gefunden hatten. Zum einen waren dies etwa 140 ausschließlich jüdische Kinder im Alter von unter 16 Jahren, welche von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG)2 in Zusammenarbeit mit ihrer Stockholmer Schwesterorganisation, der Mosaischen Gemeinde (Mosaiska församlingen), im Verlauf des Jahres 1939 nach Schweden gelangten. Im vorliegenden Artikel soll jedoch hauptsächlich von der anderen Gruppe die Rede sein: von etwa 250 bis 300 Personen, welche über die Vermittlung der Missionsgesellschaft Schwedische Israelmission (Svenska Israelsmissionen, SIM)3 im skandinavischen Land aufgenommen wurden. Diese Gruppe war deutlich heterogener als die erste, sowohl bezüglich des Alters als auch der Konfession der Flüchtlinge. Zu einem beträchtlichen Teil handelte es sich aber um evangelisch getaufte, nach den Bestimmungen der Nürnberger Rassengesetze von 1935 jedoch als »nicht-arisch«4 beziehungsweise »halb-arisch« geltende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. 1

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Dieser Artikel beruht zum Großteil auf Thomas Pammer: »Barnen som var räddning värda«? Die Schwedische Israelmission in Wien 1938 – 1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs. Wien: Diplomarbeit 2012. An der Aktion waren jedoch auch die Kultusgemeinden weiterer österreichischer Städte, etwa Graz und Klagenfurt, beteiligt. Obwohl die Bezeichnung »Svenska Israelsmissionen« (SIM) im Schwedischen bereits die bestimmte Wortform darstellt (»Die Schwedische Israelmission«), wird der Artikel (»die SIM«) aus Gründen der stilistischen Lesbarkeit für Deutschsprachige verwendet. Mangels brauchbarer Alternativen verwende ich den aus der nationalsozialistischen Rassenideologie stammenden Begriff »nicht-arisch« als Bezeichnung für jene Personen, welche – unabhängig von ihrer tatsächlichen Konfession – nach den Nürnberger Rassengesetzen als »jüdisch« galten und diskriminiert wurden.

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Obwohl diese beiden Flüchtlingsgruppen zusammen 1939 – 1945 gut ein Drittel des österreichischen Exils in diesem Land gestellt haben dürften, fanden sie in der hiesigen Forschung bislang so gut wie keine Beachtung. Somit besteht ein eklatantes Defizit im Vergleich zu Schweden, wo hierzu nicht nur eine Reihe von Forschungsarbeiten sowie Sach- und sogar Kinderbücher erschienen sind, die sich mit dem Schicksal der jungen Flüchtlinge aus Österreich beschäftigen5, sondern die Israelmission 2011 auch im Mittelpunkt eines heftigen öffentlichen Diskurses stand.

Der Diskurs Die Schwedische Israelmission meinte es natürlich gut und wollte gerne Juden retten. Allerdings nicht unbedingt vor dem Nationalsozialismus als vielmehr vor ihrem Judentum, nicht so sehr wegen ihres Lebens, sondern für das Christentum.6 Diese Passage ist die Kernaussage eines Buches der schwedischen Journalistin Elisabeth Åsbrink, das im Sommer 2011 erschienen war und einen Frontalangriff auf die Israelmission darstellt. Dieser unterstellt sie einen ausgeprägten Antijudaismus, erhebt den Vorwurf systematischer Zwangstaufen jüdischer Kinder und verurteilt das Schweigen und die Untätigkeit der SIM in Anbetracht des anlaufenden Holocaust.7 Ausgangspunkt der Betrachtungen sind rund 500 aufbewahrte Briefe seiner Eltern an Otto Ullmann, einen jüdischen Flüchtling aus Wien, der 1939 als 13-Jähriger mit einem Kindertransport der Mission nach Schweden gelangt war. Über das sowohl kommerziell als auch bei der Kritik höchst erfolgreiche Werk8 entspann sich daraufhin im Kulturteil der liberalen Stockholmer Tageszeitung »Dagens Nyheter« eine intensive und emotional geführte Diskussion. So sahen die Nachkommen des in Wien wirkenden Pastors Göte He5

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So etwa Pär Frohnert: »De behöver en fast hand över sig«. Missionsförbundet, Israelsmissionen och de judiska flyktingarna 1939 – 1945. In: Lars M. Anderson, Karin Kvist Geverts (Hg.): En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920 – 1950. Uppsala: Historiska institutionen Uppsala universitet 2008, sowie stellvertretend für die vierteilige Kinderbuchreihe der schwedischen Autorin Annika Thor: En ö i havet. Stockholm: Bonnier Carlsen 1996. Elisabeth Åsbrink: Och i Wienerwald står träden kvar. Stockholm: Natur & Kultur 2011, S. 65. »Svenska Israelsmissionen ville naturligtvis väl, ville gärna rädda judar. Men inte så mycket från nazismen som från deras judiskhet, inte så mycket till liv, som till kristendom.« Siehe dazu Åsbrink, Wienerwald, S. 71f., 240, 269, sowie einen Artikel der Autorin unter http://skma.se/blogg/2011/12/att-skuldbelagga-offren/. So wurde es im November 2011 mit dem renommierten Augustpreis für das beste Sachbuch des Jahres ausgezeichnet. Zusätzliche Brisanz erhielt das Werk dadurch, dass Ullmann von 1944 bis 1947 auf dem Gut der Familie Kamprad arbeitete. Bald verband den jüdischen Flüchtling eine tiefe Freundschaft mit dem gleichaltrigen Sohn des Hauses, dem späteren IKEA-Gründer Ingvar Kamprad, obwohl dieser zur gleichen Zeit aktives Mitglied faschistischer und antisemitischer Organisationen war und für diese Mitgliederwerbung betrieb.

denquist das Andenken ihres Vaters beschmutzt9; die Historikerin Ingrid Lomfors wiederum warf Åsbrink – nicht völlig zu Unrecht – vor, Fakt und Fiktion zu vermischen sowie wissenschaftliche Mindeststandards nicht einzuhalten und forderte eine historische Deutungshoheit über den Holocaust für die Geschichtswissenschaft.10 Die Journalistin entgegnete11 mit der provokanten Frage, womit sich die Historiker denn in den letzten Jahrzehnten abseits ihrer Lehrveranstaltungen beschäftigt hätten, habe die Forschung doch bislang nicht eine einzige Abhandlung zu den Kindertransporten der Israelmission nach Schweden zustande gebracht – eine im Übrigen durchaus zutreffende Feststellung.12 Damit waren nun auch die Kindertransporte der Mission im öffentlichen Diskurs über die Rolle Schwedens vor und während des Zweiten Weltkriegs angekommen. In einem Diskurs, der weniger von der Wissenschaft als vielmehr von (oft investigativen) Journalisten getragen wurde und wird13 – und in dem die ursprünglich sehr positive Deutung der Hilfsaktionen der SIM ins Gegenteil verkehrt wurde.

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Jan-Anders Hedenquist u. a.: »Vår far hjälpte alla människor«. In: Dagens Nyheter vom 5. Oktober 2011. Göte Hedenquists Tochter Monika Sjögren verfasste auch eine Biographie über ihren Vater, die zum Großteil auf dessen eigenen Aufzeichnungen beruht: Monika Sjögren: Det var en gång en vallareman. Boken om Göte Hedenquist – en modig präst och ovanlig pappa. Stockholm: Kulturhistoriska Bokförlaget 2013. Ingrid Lomfors: Glöm inte forskningen om förintelsen. In: Dagens Nyheter vom 12. Oktober 2011. Elisabeth Åsbrink: Provocerande introvert på universiteten. In: Dagens Nyheter vom 13. Oktober 2011. Grundlegende, in Österreich verfügbare Arbeiten zur SIM sind Lars Edvardsson: Kyrka och judendom. Svensk judemission med särskild hänsyn till Svenska Israelsmissionens verksamhet 1875 – 1975 (Biblioteca Historico-Ecclesiastica Lundensis VI). Mit einer deutschen Zusammenfassung. Lund: Gleerup 1976, besonders S. 83 – 95, sowie Herbert Unterköfler: Die Evangelische Kirche in Österreich und ihre »Judenchristen«. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 1991/92, S. 109 – 136. An Selbstzeugnissen der SIM ist in Österreich zugänglich: Christusbote. Vierteljahrsbrief der Schwedischen Mission für Israel. Stockholm – Wien u. a. Wichtige populärwissenschaftliche Werke zur schwedischen »Vergangenheitsbewältigung« sind: Maria-Pia Boëthius: Heder och samvete. Stockholm: Norstedt 1991; Thomas Sjöberg: Ingvar Kamprad och hans IKEA. En svensk saga. Stockholm: Gedin 1998; Tobias Hübinette: Den svenska nationalsocialismen. Medlemmar och sympatisörer 1931 – 1945. Stockholm: Carlsson 2002. Wissenschaftliche Beiträge sind etwa: Alexander Muschik: Schweden und das »Dritte Reich«. Die Geschichte einer späten Aufarbeitung. In: Robert Bohn, Christoph Cornelißen, Karl Christian Lammers (Hg.): Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945. Essen: Klartext-Verlagsgesellschaft 2008, S. 57 – 67; Klas Åmark: Att bo granne med onskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och forintelsen. Stockholm: Albert Bonniers förlag 2011.

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Die Mission Einen der Hauptangriffspunkte gegen die 1875 in Stockholm gegründete Missionsgesellschaft lieferte dabei freilich auch die nach heutigen Maßstäben als überaus obskur anzusehende Weltsicht vieler Missionare. So vertrat etwa Missionsdirektor Birger Pernow die Ansicht, dass alle irdischen Geschehnisse Teil eines göttlichen Heilsplanes waren14 – in seiner Vorstellung war der Holocaust folglich die Strafe Gottes für die Weigerung des jüdischen Volkes, Christus als seinen Erlöser anzuerkennen. Als beispielhaft kann hierbei sein Kommentar zu den Novemberpogromen 1938 – mit Hunderten ermordeten Juden der eigentliche Auftakt der Shoah – gelten: »Jetzt ist Gott am Werk.«15 Der Theologe Ulf Carmesund interpretiert die Einstellung der Missionare folgendermaßen: »Pernows Denken ist vordemokratisch und abergläubisch, und die Ethik seiner christlichen Theologie aus heutiger Sicht unbegreiflich zynisch und instrumentell. Der Leser von heute vermag seine Schlussfolgerungen kaum aufzunehmen: Die Juden selbst sind am Holocaust schuld.«16 Nur mit dieser Weltsicht ist es auch zu erklären, warum die Israelmission keinerlei Versuche unternahm, die breite schwedische Öffentlichkeit detailliert über die Vorgänge in Deutschland zu informieren – obwohl sie früher als viele andere ausländische Beobachter zum Schluss gelangte, dass das Ziel der Nationalsozialisten tatsächlich die vollständige Vernichtung des jüdischen Volkes war.17 Das Streben der Missionare richtete sich 14

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Zur theologischen Weltsicht Pernows vgl. Ulf Carmesund: Refugees or Returnees. European Jews, Palestinian Arabs and the Swedish Theological Institute in Jerusalem around 1948. Uppsala: Dissertation 2010, S. 146 – 172. Diese Arbeit ist über das skandinavische Universitätsportal diva-portal.org auch online zugänglich. Es bleibt aber anzumerken, dass einige in Wien tätige Missionare, etwa Göte Hedenquist oder Seth Asklund, diese Weltanschauung nicht im selben Ausmaß teilten, andere – so etwa Johannes Ivarsson – sehr wohl. Vgl. Pammer, Israelmission, S. 41 – 45. Zit. nach Carmesund, Refugees, S. 159. Ulf Carmesund: Upprörande passivitet hos svenska präster. In: Dagens Nyheter vom 27. Oktober 2011. Vgl. Stephen Koblik: »Om vi teg, skulle stenarna ropa«. Sverige och judeproblemet 1933 – 1945. Översättning av Erik Frykman. Stockholm: Norstedts Förlag 1987, S. 100 – 108. Das in der älteren Forschung zuweilen vertretene Argument, wonach eine solche Berichterstattung aufgrund der strikten schwedischen Neutralitätspolitik und damit verbundenen Zensur nicht möglich gewesen wäre, trifft nur teilweise zu. So legt etwa Klas Åmark (Att bo granne, S. 259) dar, dass sich diese »Zensur aus Staatsräson« nur auf einen begrenzten Zeitraum von April 1940 bis Oktober 1942 erstreckte und eine detaillierte Berichterstattung über deutsche Verbrechen davor und danach durchaus möglich war. Ein Beispiel dafür war die evangelikale Judenmission, welche in ihrer Zeitschrift im Februar 1943 über Gaskammern in polnischen KZ berichtete, was von Pernow heftigst kritisiert wurde (Koblik, Om vi teg, S. 107 f.). Dass eine solche Berichterstattung über deutsche Gräueltaten – hätten sie eine gewisse Breitenwirksamkeit erreicht – keineswegs sinnlos gewesen wäre, belegt Åmark (Att bo granne, S. 253) durch seine Feststellung, dass sich die alliierten Regierungen über die Verhältnisse in Europa auch stark durch die Presse der neutralen Staaten informierten. Auch vereinzelte SIM-Missionare erhoben Ende 1942 die Forderung, das christliche

Die schwedischen MissionarInnen und ihre Angehörigen in Wien Anfang 1939. 1. v. l. Schwester Anna-Lena Peterson, 2. v. l. Pastor Seth Asklund, 5. v. l. Pastor Göte Hedenquist, 1. v. r. Schwester Greta Andrén hauptsächlich auf die Rettung einer bestimmten Gruppe von Menschen, die aus christlicher Perspektive als Getaufte scheinbar irrtümlich von der Verfolgung betroffen war: evangelischen Christen jüdischer Herkunft. Seit 1921 hatte sich die Missionsgesellschaft von ihrem Haupthaus18 in der Seegasse aus – in Wien-Alsergrund, dem Zentrum des assimilierten, wohlhabenden jüdischen Bürgertums der Stadt – durchaus erfolgreich der Bekehrung von Juden zum Christentum gewidmet: Allein 1932 – 1937 verzeichnete man etwa 260 Taufen.19 Das Verhältnis zur jüdischen Gemeinde war ausnehmend schlecht, wofür vor allem die eigenwillige, stark auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Missionsstrategie verantwortlich war.20 Der »Anschluss« brachte massive Veränderungen. Nachdem der bisherige Missionsleiter Friedrich Forell, ein aus Deutschland stammender Pastor »nicht-arischer« Abstammung, fliehen musste, wurde dem schwedischen Pastor Göte Hedenquist die Leitung übertragen. Bald darauf habe die Israelmission auf Wunsch des österreichischen Oberkirchenrates die geistliche Schweden müsse einen Protest gegen die Vernichtung der Juden Europas einlegen, um sein Gesicht wahren zu können (Pammer, Israelmission, S. 48). Dieser Vorstoß wurde von Pernow jedoch nicht weiter verfolgt. 18 Eine weitere Niederlassung der Schwedischen Israelmission in Wien war ein Altersheim in Weidling bei Klosterneuburg, welches bis zur Schließung im August 1941 unter der Leitung der schwedischen Diakonisse Anna-Lena Peterson stand. Vgl. dazu Anna-Lena Peterson: Meine Tätigkeit für die Schwedische Israelsmission. In: Erinnerungen an Schweden. Österreicher in Schweden – Schweden in Österreich in den Jahren 1938 – 1945 (Schweden Österreich, 11. Jg., H. 2, 1988), S. 12 – 17, hier: S. 17. 19 Edvardson, Kyrka och Judendom, S. 172. 20 Unterköfler, Judenchristen, S. 116.

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Betreuung aller rund 8.000 Wiener Protestanten »nicht-arischer« Herkunft übernommen21, die sukzessive aus den stark nationalsozialistisch geprägten evangelischen Kirchengemeinden22 ausgeschlossen wurden, was eine massive Ausweitung der dennoch stets überfüllten Gottesdienste erforderlich machte. Zudem musste die soziale Fürsorge aufgestockt werden: So wurde für die zusehends verarmenden Gemeindemitglieder eine Ausspeisung eingerichtet sowie eine Kleidersammlung unter den schwedischen Gläubigen organisiert. Der für Vereinsfragen zuständige Stillhaltekommisar machte jedoch die weitere Existenz der Mission von der Bedingung abhängig, jene Tätigkeit massiv anzukurbeln, an der die Nationalsozialisten das größte Interesse hatten: die Emigrationshilfe für christliche »Nicht-Arier«.23 Tatsächlich war diese Tätigkeit die wohl beeindruckendste Leistung der Mission. Unter erheblichen finanziellen Anstrengungen und in intensiver Zusammenarbeit mit anderen christlichen Hilfsorganisationen24 ermöglichte die SIM bis zur Schließung der Missionsstation durch die Gestapo im Juni 1941 etwa 1.500 Verfolgten die Flucht.25 Hedenquist führte dies auch darauf zurück, dass es ihm gelang, in Verhandlungen mit Adolf Eichmann26, der zu diesem Zeitpunkt die Vertreibung der österreichischen »Nicht-Arier« leitete, Animositäten zwischen den Berliner und Wiener Behörden auszunutzen und bei untergeordneten Stellen den Eindruck zu vermitteln, Eichmann sei eine Art »Protektor« der Israelmission. Anders als man vermuten könnte, gelangte jedoch nur etwa ein Fünftel der Geretteten nach Schwe21

Diese Angabe beruht – wie viele andere über die SIM – einzig auf den Aussagen Hedenquists in seiner Schilderung: Undan Förintelsen. Svensk hjälpverksamhet i Wien under Hitlertiden. Älvsjö: Verbum 1983, S. 33 f. 22 So befanden sich Anfang 1938 unter den 126 evangelischen Pastoren in Österreich über 100 illegale NSDAP-Mitglieder. Vgl. Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte: Österreicher und Judenverfolgung 1938 – 1945. Graz: Styria 1986, S. 110. 23 Unterköfler, Judenchristen, S. 127 f. 24 So etwa mit dem Auswanderungsbüro der katholischen Kirche, den amerikanischen Quäkern sowie der nominell von einem niederländischen Priester geleiteten »Aktion Gildemeester«, die aber den nationalsozialistischen Behörden zum organisierten Vermögensentzug nicht-jüdischer »Nicht-Arier« diente. Vgl. Karl Fischer, Franz Parak, Maria Wirth: Österreich – Schweden. Die zwischenstaatliche Wahrnehmungen 1945 – 1999 im Rückblick. In: Oliver Rathkolb, Otto M. Maschke, Stefan August Lütgenau (Hg.): Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955 – 1990 (Österreichische Nationalgeschichte nach 1945, Band 2). Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2002, S. 429. 25 Die von Hedenquist stammende und in der Forschung oft unkritisch übernommene Zahl von 3.000 Emigranten erscheint mir als zu hoch gegriffen. Laut einem Dokument aus dem Evangelischen Kirchenarchiv in Wien betrug die Anzahl der zur Auswanderung gebrachten Personen im November 1939 – als keine großen Emigrationsbewegungen mehr möglich waren – nämlich erst 1.256. Vgl. Pammer, Israelmission, S. 31 f. 26 Hedenquist thematisierte diesen Umstand in einigen seiner Aufsätze. Vgl. Hedenquist, Undan Förintelsen, S. 35 – 40, oder Göte Hedenquist: Meine Begegnung mit Adolf Eichmann. In: Erinnerungen an Schweden, S. 7 – 10.

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den, der Großteil hingegen nach Großbritannien, ferner in die USA, die Niederlande, nach China und in eine Reihe weiterer Staaten. Der Grund dafür lag in der schwedischen Einwanderungspolitik, welche im Gegensatz zur relativ großzügigen Aufnahmepraxis für politische Flüchtlinge gegenüber solchen »Nicht-Ariern«, die nicht in diese Kategorie fielen, äußerst restriktiv war.27 Nachteilig wirkte sich zudem aus, dass die für Einwanderungsfragen zuständige Behörde, das Zentralamt für Sozialwesen (Socialstyrelsen), gleichzeitig mit Arbeitsmarktagenden betraut war und angesichts der noch nicht völlig überwundenen Wirtschaftskrise Arbeitsbewilligungen nur sehr sparsam erteilte. Ursprünglichen Versuchen der SIM, jungen Frauen »nicht-arischer« Abstammung ab etwa 16 Jahren in Schweden Stellen als Dienstbotinnen zu vermitteln, war damit nur ein geringer Erfolg beschieden.28

Die Idee zu den Kindertransporten Der Plan, unbegleitete Kinder auch nach Schweden zu schicken, ging vom Berliner »Büro Grüber« aus. Diese unter der Leitung des Pastors und Widerstandskämpfers Heinrich Grüber stehende Organisation widmete sich ähnlich wie die Israelmission in Wien der Auswanderungshilfe für evangelische »Nicht-Arier«. In einem Brief an Erling Eidem, den Erzbischof von Uppsala und somit Primas der Schwedischen (Staats-)Kirche, bat eine Mitarbeiterin des Büros im Spätsommer 1938 um Hilfe für die verfolgten Kinder.29 Tatsächlich setzte sich Eidem sogleich mit dem Zentralamt für Sozialwesen in Verbindung und beauftragte Pernow mit den Verhandlungen über einen Transport von unbegleiteten, »nicht-arischen« Kindern und Jugendlichen nach Schweden. Ein solcher erschien den schwedischen Behörden akzeptabel, war doch davon auszugehen, dass Flüchtlingskinder in der Bevölkerung Mitleid erregten und vorläufig keine Gefahr für den Arbeitsmarkt darstellten. Außerdem wurde ihre Anwesenheit in Schweden als zeitlich begrenzt angesehen: Ihre Eltern hatten schon bei der Antragstellung eine Möglichkeit zu einer baldigen gesicherten Ausreise nach Übersee nachzuweisen und mussten sich dazu verpflichten, ihre Kinder nach spätestens ein bis zwei Jahren nachzuholen. Zwar seien, wie die Behörde großzügig konzedierte, in 27 Zur schwedischen Einwanderungspolitik vgl. etwa die Einleitung von Åmark, Att bo granne; Karin Kvist Geverts: Ett främmande element i nationen. Svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938 – 1944. Uppsala: Dissertation 2008, oder Ingrid Lomfors: Veränderliche oder unveränderliche schwedische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges. In: Irène Lindgren, Renate Walder (Hg.): Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg. Frankfurt/Main: Peter Lang 2001, S. 221 – 232. Siehe auch den Beitrag von Klas Åmark in diesem Band. 28 Insgesamt konnten etwa 30 Flüchtlinge aus Wien als Dienstmädchen nach Schweden vermittelt werden. Archiv der Evangelischen Kirche in Österreich/Neuere allg. Reihe/ Fasz. 451/Akten des Oberkirchenrates/Vereine (Fasz. 451)/Schwedische Gesellschaft für Israel/Für den Haushalt für Schweden unterzubringende Mädchen. 29 Pammer, Israelmission, S. 57 – 59.

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Flüchtlingskinder im Kinderheim Hemhult, Februar 1939 Einzelfällen Ausnahmen möglich, doch sollte sichergestellt werden, dass die große Mehrheit der Kinder tatsächlich innerhalb weniger Jahre das Land wieder verließ. Untergebracht sollten die jungen Flüchtlinge vor allem bei Pflegefamilien werden, die älteren auch in Heimen. Schließlich erhielt die Mission die Einreisegenehmigung für 100 Kinder unter vierzehn Jahren; weitere 50 Jugendliche unter achtzehn Jahren sollten in Schweden eine Ausbildung in Land- beziehungsweise Hauswirtschaft erhalten.30 Darüber hinaus konnten bis Kriegsbeginn vereinzelt noch weitere von ihr vermittelte Flüchtlingskinder nach Schweden einreisen. Auch wenn der Mosaischen Gemeinde eine ungleich größere Quote von 500 österreichischen und deutschen Kindern bewilligt wurde31, erscheinen die schwedischen Hilfsaktionen als noch unzureichender als in anderen Staaten, etwa Großbritannien und den Niederlanden. So konnten in den bereits gut beforschten britischen Kindertransporten32 ab Dezember 1938 innerhalb von neun Monaten etwa 10.000 Kinder aus dem Gebiet des Deutschen Reiches evakuiert werden – etwa ein Viertel davon aus Österreich –, bevor der Kriegsausbruch alle weiteren Transporte stoppte.

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Da die Initiative vom »Büro Grüber« ausgegangen war, wurden 40 % der Plätze von dieser Organisation vergeben und 60 % von der Israelmission. Zu dieser Hilfsaktion liegt bereits eine ausführliche Untersuchung vor: Ingrid Lomfors: Förlorad barndom  – återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Uddevalla: Dissertation 1996. Vgl. dazu Wolfgang Benz, Claudia Curio, Andrea Hammel (Hg.): Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003.

Dieser Umstand war durchaus überraschend, hatten doch 1919 – 1924 auf Vermittlung des Roten Kreuzes rund 8.000 Kinder aus dem aushungerten Wien ihre Sommerferien bei schwedischen Familien verbracht, was einen schwedischen Kommentator zur Bemerkung veranlasst hatte, seine Heimat sei eine »Großmacht in Menschenliebe«33. Mit einer solch herzlichen Aufnahme konnten die jungen Flüchtlinge Anfang 1939 nicht rechnen. Die Öffentlichkeit nahm gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen eine verhaltene Position ein, und Pernow erhielt, als die Aktion bekannt wurde, anonyme Drohbriefe. Aus diesem Grund erschienen in Schweden auch im Unterschied zu Großbritannien keine großen Aufrufe in Zeitungen, für die Hilfsaktionen zu spenden oder Pflegekinder aufzunehmen. Weder die Mission noch die Behörden hatten Interesse an einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit für den Transport, erreichte doch die fremdenfeindliche Hysterie34 in Schweden etwa gleichzeitig mit dem Eintreffen der ersten Kinder Anfang 1939 ihren Höhepunkt.

Die Auswahlkriterien Angesichts der enormen Schwierigkeiten, Verfolgten die Flucht zu ermöglichen, war die Frage der Auswahl der Flüchtlinge ein zentrales Problem aller Hilfsorganisationen. Die Verantwortlichen der Kindertransporte hatten sowohl die jeweilige Bedürftigkeit der jungen Flüchtlinge als auch die Bedingungen der Behörden des Ziellandes sowie die Wünsche der künftigen Pflegeeltern zu berücksichtigen. Darüber hinaus waren die Organisationen bestrebt, ihre beschränkten Mittel möglichst nur für die eigene Klientel einzusetzen. Im Falle der SIM war das wichtigste Kriterium für die Auswahl eines »nicht-arischen« Kindes seine Konfession. Da die Mosaische Gemeinde über eigene Einwanderungsquoten verfügte und die Missionare ohnehin immer argwöhnten, »Glaubensjuden« wären durch ihre »internationalen Kontakte« in allen Belangen der Emigration besser gestellt als die christlichen »Nicht-Arier«, sahen sie die Rettung evangelischer Kinder jüdischer Abstammung als vorrangig an.35 Der Großteil von ihnen gehörte dem Burschen- oder Mädchenkreis der Mission an, die von der schwedischen Diakonisse Greta Andrén geleitet wurden; auch die meisten der älteren Flüchtlinge waren zuvor im Jugendkreis aktiv gewesen. 33

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Renate Schreiber: »Großmacht in Menschenliebe«. Schwedische Kinderhilfe nach dem Ersten Weltkrieg. In: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 64, H. 3, 2009, S. 54 – 80, hier: S. 71. So verabschiedete am 17. Februar 1939 die Studentenschaft von Uppsala mit großer Mehrheit eine Resolution, in der sie sich gegen die Aufnahme intellektueller Flüchtlinge aussprach. Wenige Tage später kam es im Reichstag zu einer hitzigen Debatte über einen (geringen) staatlichen Finanzierungsbeitrag zur Flüchtlingshilfe, in deren Verlauf sich ein Abgeordneter der Bauernpartei, welche mit den Sozialdemokraten die Koalitionsregierung bildete, stolz als Antisemit bezeichnete. Pammer, Israelmission, S. 60.

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Tatsächlich waren im ersten Transport  – der am 2. Februar 1939 in Schweden eintraf – 49 der Kinder protestantisch, vier katholisch, eines altkatholisch, drei konfessionslos und acht jüdisch, wobei die letzten meist von anderen Hilfsorganisationen36 vorgeschlagen worden waren. Zudem wurden einige Kinder bald nach ihrer Ankunft in Schweden, meist auf Betreiben der Pflegeeltern, getauft. Jedoch findet sich in den Personenbögen37 geretteter jüdischer Kinder auch der Hinweis, die leiblichen Eltern wünschten eine christliche Erziehung ihrer Nachkommen – unklar bleibt, ob dies eine Bedingung der SIM darstellte oder der bloßen Erkenntnis geschuldet war, dass eine jüdische Glaubensunterweisung in den ländlichen Gebieten Schwedens ohnedies nicht möglich wäre. Da die Kinder in Schweden vorrangig in Privathaushalten untergebracht werden sollten, mussten die Missionare zudem auch auf die Wünsche der Pflegeeltern Rücksicht nehmen. Dies führte jedoch zu logistischen Problemen: So wurden in den Anfragen viel öfter Mädchen gewünscht als Burschen. Dies lag zum einen daran, dass Erstere als problemloser galten; die älteren konnten zudem im Haushalt oder zur Kinderbetreuung eingesetzt werden. Im Gegensatz dazu waren die Eltern eher zurückhaltend, ihre Töchter allein zu Unbekannten zu schicken, sodass schließlich am ersten Transport trotz Urgenzen Pernows 39 Burschen und nur 26 Mädchen teilnahmen und zahlreiche männliche Flüchtlinge keine Pflegefamilie fanden. Auch wünschten sich die meisten schwedischen Pflegeeltern sehr kleine Kinder im Alter von unter sieben Jahren – wohl in der Hoffnung, dass diese weniger unter Heimweh litten und leichter »formbar« waren als ältere. Von entscheidender Bedeutung waren außerdem die charakterlichen und physischen Eigenschaften der Kinder, was zwischen Hedenquist und Pernow immer wieder zu Spannungen führte. Während sich die Missionare in Wien – spürbar erschüttert und überfordert vom täglich auf sie einströmenden Elend – oftmals an der individuellen Notlage der Jugendlichen orientierten, pochte der Missionsdirektor in Stockholm auf die strikte Einhaltung seiner Kriterien: tüchtig, wohlerzogen, evangelisch, körperlich und geistig gesund. Für große Verstimmung sorgte etwa Pernows Ablehnung eines Mädchens, dessen Blick ihm auf einem Foto geisteskrank erschien. Dies war aus seiner Position durchaus nachvollziehbar, sollten doch die jungen Flüchtlinge selbst die beste Werbung für weitere Transporte darstellen.38

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Im Fall dieses Kindertransportes hauptsächlich von der Aktion Gildemeester. Immer wieder tauschten die Organisationen untereinander Plätze aus, wenn jemand passender für ein Reiseziel schien. Die Personenbögen befinden sich heute im Archiv der Schwedischen Kirche in Uppsala (Svenska Kyrkans Arkiv/SIM/E I:43/Kinder nach Schweden) sowie im Archiv der Evangelischen Kirche in Wien (AEKiÖ/ Schwedische Mission, Seegasse – Fürsorge). Pammer, Israelmission, S. 61.

Kurt Lehsmann und Robert Weiss, zwei der ersten Flüchtlinge im Heim Tostarp Häuften sich hingegen die Probleme mit den Kindern, stand zu befürchten, dass die – ohnehin nicht große – öffentliche Unterstützung einbrach und die Behörden die auf jeweils nur sechs Monate befristeten Aufenthaltsbewilligungen nicht verlängerten. Außerdem war die behördliche Zusage zu den Transporten an die Bedingung gebunden, dass die Flüchtlingskinder der staatlichen Fürsorge nicht zur Last fallen durften, wofür die SIM mit ihrem eigenen Vermögen zu garantieren hatte. Auch wenn uns aus heutiger Perspektive diese Auswahlkriterien als grausam und mit Prinzipien christlicher Nächstenliebe absolut unvereinbar erscheinen, muss allerdings angefügt werden, dass viele andere Hilfsorganisationen nicht anders handelten. So wurden bei der britischen Hilfsaktion Kinder schon bei kleinen alterstypischen Verhaltensauffälligkeiten, wie Aufsässigkeit in der Schule, von den Transportlisten gestrichen. Otto Schiff, der Vorsitzende des Jewish Refugee Committee, meinte im August 1939 sogar, da es ohnehin unmöglich sei, alle Juden aus Deutschland zu retten, solle man nicht ausgerechnet den »Hinkenden und Lahmen« die Flucht ermöglichen.39

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Vgl. Claudia Curio: »Unsichtbare« Kinder. Auswahl- und Eingliederungsstrategien der Hilfsorganisationen. In: Benz, Curio, Hammel, Die Kindertransporte 1938/39, S. 60 – 81, hier: S. 73 f.

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Resümee Der Schwedischen Israelmission, die zur Zeit des »Anschlusses« mit nur zwei schwedischen Pastoren und zwei Diakonissen in Wien präsent war, gelang es in kürzester Zeit, eine bemerkenswerte und durchaus effiziente Hilfsaktion zu organisieren. Hunderte verfolgte evangelische Christen, die aufgrund ihrer Konfession ansonsten kaum oder zu spät Hilfe erhalten hätten, konnten so gerettet werden. Dass eine Glorifizierung der Tätigkeit der Mission dennoch nicht angebracht ist, liegt hauptsächlich an den moralischen Grundsätzen einiger Missionare. Die Problematik ist dabei weniger das Weltbild an sich, dessen antijüdisch-apokalyptischer Inhalt auch für andere protestantische Kirchen und Organisationen durchaus zeittypisch war, als vielmehr in dem dieser Weltsicht inhärenten, geradezu ehrfürchtigen Respekt vor Behörden und Staatsgewalten als vermeintliche Exekutoren eines »göttlichen Willens«. Dies führte dazu, dass die SIM weder versuchte, über ihren beträchtlichen Einfluss innerhalb der Staatskirche die schwedische Politik zu einer Lockerung der fatalen Asylgesetzgebung zu bewegen, noch einen öffentlichen Protest gegen die ihnen schon früh bekannten Massenmorde im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten einlegte.

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Irene Nawrocka

Deutschsprachige Exilautoren und der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm1

März 1938 Der Verleger Gottfried Bermann Fischer erlebte den »Anschluss« Österreichs im März 1938 in Wien. In seiner Autobiografie erinnert er sich: Donnerstag, den 11. März 1938. Ich hatte mich am Nachmittag einen Augenblick niedergelegt. Das Telefon schreckte mich auf. Unser Freund Johannes Hollnsteiner, Professor für kanonisches Recht an der Universität Wien, teilte uns mit, daß deutsche Truppen soeben in Österreich einmarschierten, Schuschnigg würde in wenigen Minuten im Radio die Lage bekanntgeben und seinen Rücktritt verkünden. [...] Die italienische Grenze schien uns am wenigsten gefährlich zu sein. Man hatte tatsächlich noch zwei Schlafwagenabteile mit vier Betten für Samstag, den 13. März, für uns frei [...]. Aber noch einen Tag und noch eine Nacht mußten wir in Wien verbringen. Es war zu einem Hexenkessel geworden. Johlende Massen, weißbestrumpft, mit Hakenkreuz im Knopfloch, zogen durch die Straßen. Die Hakenkreuzfahnen wehten aus allen Fenstern. Wo kamen sie nur alle her? Hunderte von deutschen Kampf- und Bombenflugzeugen dröhnten am Himmel. In dieser letzten Nacht hörten wir blutrünstiges Gebrüll, sogar in den sonst so stillen Straßen Hietzings: »Juden raus ... wenn Judenblut vom Messer spritzt.«2 Gottfried Bermann Fischer besaß einen deutschen Pass. Beim Einsteigen in den Zug wurde er danach gefragt, und der Gepäckträger sagte zu ihm: »Dann ist es ja gut [...], mit einem österreichischen kämen Sie nicht mehr raus.«3 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Verleger gerade etwas über zwei Jahre in Wien gearbeitet und hier Werke von Autoren herausgebracht, die in Deutschland nicht mehr erscheinen konnten. Am 13. März floh er mit seiner Frau Brigitte und ihren drei Kindern unter Zurücklassen von Möbeln und Wertgegenständen nach Rapallo in Italien.

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Dieser Beitrag basiert auf Irene Nawrocka: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933 – 1950). Ein Abschnitt aus der Geschichte des S. Fischer Verlages. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Band 53, 2000, S. 1 – 216. Gottfried Bermann Fischer: Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag GmbH 1971, S. 121 f. Ebd., S. 122.

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Die Auswanderung aus Deutschland Der S. Fischer Verlag war 1886 von Samuel Fischer, einem gebürtigen Ungarn, in Berlin begründet worden. Fischer galt als der Verleger des Naturalismus. Zu seinen Autoren zählten u. a. Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, George Bernard Shaw, Felix Salten, Richard Dehmel, Arthur Schnitzler und die Skandinavier Henrik Ibsen, Herman Bang und Gustaf af Geijerstam. 1889 eröffnete Fischer seine erste Buchreihe, »Nordische Bibliothek«, für die er als Herausgeber Joseph Peter Hoffroy, Professor für skandinavische Literatur an der Berliner Universität, gewinnen konnte. Dort erschienen skandinavische Autoren wie Edvard Brandes, Jan Peter Jacobsen, Arne Garborg, Aage Madelung, Ellen Key, Bjørnstjerne Bjørnson und Peter Nansen. Der schwedische König Oscar II. verlieh S. Fischer sogar in Anerkennung seiner Verdienste um die skandinavische Literatur den Titel »Königlich Schwedischer Hofbuchhändler«. Fischers verlegerisches Prinzip war, nicht nur vereinzelte Werke eines Autors vorzulegen, sondern sein gesammeltes Werk. So war bereits 1920 eine Gesamtausgabe der Werke Jakob Wassermanns beschlossen worden, wurde aber als Folge der Inflation in der Nachkriegszeit erst verspätet 1924 begonnen. Wassermann zählte in den 1920er Jahren zu den meistgelesenen Autoren im deutschsprachigen Raum, stieß jedoch im Zuge der nationalsozialistischen Kulturpolitik auf immer stärkere Ablehnung und es kam zu vereinzelten Verboten seiner Werke. 1934 gab er schließlich den Roman »Joseph Kerkhovens dritte Existenz« im Amsterdamer Exilverlag Querido heraus. 1921 begann der S. Fischer Verlag, Berlin, mit der Gesamtausgabe der Werke des Nobelpreisträgers für Literatur von 1929 Thomas Mann. Da die einzelnen Bände nicht chronologisch angeordnet waren, konnten sie durch nachkommende Werke ergänzt werden. Als Gottfried Bermann Fischer, Samuel Fischers Schwiegersohn, 1939 in Schweden mit dem Aufbau der Stockholmer Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns begann, sollte dieses große Unternehmen des deutschsprachigen Exilverlages vor allem die Autorenrechte nach dem Verlust des Wiener Buchlagers 1938 sichern. Gottfried Bermann, ursprünglich Arzt, heiratete 1926 Samuel Fischers Tochter Brigitte und trat auf Wunsch seines Schwiegervaters in das Verlagsgeschäft ein, um die Fortführung des Familienunternehmens zu sichern. 1928 wurde Bermann Fischer, der den Namen seiner Ehefrau an seinen anhängte, Geschäftsführer des S. Fischer Verlages. Einen ersten verlegerischen Erfolg erzielte er 1929 mit der Veröffentlichung von Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«.

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Die nationalsozialistische Kulturpolitik Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Januar 1933 hatte auch in höchstem Maße Auswirkungen auf die Kulturpolitik.4 Bereits zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, als die Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreichte, beschäftigte sich die NSDAP mit Gesetzesentwürfen, die das »deutsche Kulturgut vor fremdrassigen Einflüssen« schützen sollte.5 Im August 1932 bezeichnete der »Völkische Beobachter«, das Organ der NSDAP, eine Liste von Autoren als dekadent und kündigte ein Verbot ihrer Werke an. Darunter fanden sich die Namen von Klaus Mann, Ernst Toller, Franz Werfel, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer und Hugo von Hofmannsthal. Der Schutzverband deutscher Schriftsteller, die Interessensvertretung in Honorar- und Rechtsfragen, wurde im Juli 1933 in den kurz zuvor gegründeten Reichsverband deutscher Schriftsteller überführt. Die Mitgliedschaft im Reichsverband war für die Autoren die Voraussetzung dafür, in Deutschland verlegt werden zu können.6 Ausländische Schriftsteller, also auch österreichische, waren vorerst davon ausgenommen. Jüdische Autoren waren als Mitglieder noch zugelassen und bekamen eine eigene Mitgliedsnummer, durch die sie als Juden erkennbar waren. Am 10. Mai 1933 kam es zu öffentlichen Buchverbrennungen. Betroffen waren u. a. die Werke der S. Fischer-Autoren Alfred Döblin, Arthur Schnitzler und Schalom Asch. Danach wurde die deutsche Literatur »systematisch gereinigt«. Am 16. Mai 1933 veröffentlichte das »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« die »erste amtliche Schwarze Liste« mit Autorennamen, deren Werke aus den Büchereien zu entfernen seien. Sie enthielt bereits 131 Namen, darunter die S. Fischer-Autoren Jakob Wassermann, Klaus Mann, Alexander Lernet-Holenia und Arthur Schnitzler. Ab Dezember 1933 lagen auch so genannte »goldene Listen« mit besonders empfehlenswerten Büchern auf, die zur Orientierung für Volksbibliotheken bei der Auffüllung der Bestände mit geeigneter völkisch-nationaler und nationalsozialistischer Literatur dienten.7 Stefan Zweig berichtete seinem amerikanischen Verleger Benjamin Huebsch von den Vorgängen in Deutschland, ohne sich der kommenden Gefahr bewusst zu sein: Gegen uns »internationale« Schriftsteller ist bereits eine regelrechte Hetze eröffnet worden, ich schicke Ihnen zum Spaß eine jener Hetznotizen, die 4

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Eine fundierte Darstellung der Literaturpolitik im nationalsozialistischen Deutschland stammt von Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995. Vgl. Hans-Albert Walter: Bedrohung und Verfolgung bis 1933. Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945. Band 1. Darmstadt: Hermann Luchterhand 1972, S. 45. Für die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer, einer von sieben Kammern der Reichskulturkammer, war der Ariernachweis zu erbringen, anderenfalls drohte der Ausschluss. Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 147 f.

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Sämtliche Titel des Bermann-Fischer Verlages sind ab 1938 im Deutschen Reich verboten durch die ganze internationale Presse wandert; es besteht eine gewisse Tendenz, unsere Bücher aus dem Buchhandel und den öffentlichen Bibliotheken usw. auszuschalten und dabei scheuen sie kein Mittel. Aber ich nehme diese Dinge nicht ernst. Alles das läuft sich in einigen Jahren tot und das Publikum liest immer nur was es lesen will, nicht was von irgendeiner äußern Stelle ihm aufgedrängt wird.8 Stefan Zweig schrieb dies im Februar 1933. Als ein Jahr später, wenige Tage nach dem Februaraufstand in Österreich, Polizisten eine Hausdurchsuchung in seinem Salzburger Haus durchführten, ging Stefan Zweig unmittelbar danach ins Exil nach Großbritannien.9 Zuständig für den deutschen Buchhandel und die Verlage war Propagandaminister Joseph Goebbels, in dessen Verantwortungsbereich auch die Arisierung von Verlagen fiel. Arisiert wurde beispielsweise bereits 1934 der Ullstein Verlag.10 Zahlreiche Autoren wie Alfred Döblin, Thomas Mann oder Bertolt Brecht11 verließen Deutschland. Doch nicht nur die Autoren, auch ihre Verleger dachten über eine Auswanderung nach. Bereits im Frühjahr 1933 kam es zur Gründung von zwei der bedeutendsten deutschsprachigen Exilverlage, des Querido und des Allert de Lange Verlages, beide mit 8 9

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Stefan Zweig am 13. Februar 1933 an Benjamin Huebsch. Benjamin Huebsch Collection. Library of Congress, Manuscript Division, Washington. Stefan Zweigs Bücher waren bis 1933 im Insel Verlag, Leipzig, erschienen, danach im Wiener Verlag von Herbert Reichner, und nach 1938 schloss er einen Verlagsvertrag sowohl mit dem Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange und dem Bermann-Fischer Verlag, Stockholm. Siehe auch Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 128 ff. Volker Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1979. Teil 1: Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler, S. 108 ff. Brecht hielt sich eine Zeit lang auch mit Helene Weigel und ihren Kindern in Schweden auf, sie erhielten dann jedoch keine weitere Aufenthaltsgenehmigung.

Sitz in Amsterdam. Sie boten den exilierten und verbotenen Autoren die Möglichkeit, außerhalb Deutschlands zu veröffentlichen.12 Der S. Fischer Verlag blieb nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, da der 74-jährige Samuel Fischer sich weigerte, einer Auswanderung zuzustimmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits sein Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer weitgehend die Verlagsgeschäfte übernommen, und als Samuel Fischer im Oktober 1934 starb, wurde seine Witwe Hedwig die Alleinerbin. Sie verließ Deutschland erst 1939.

Der Verkauf des S. Fischer Verlages, Berlin Gottfried Bermann Fischer, nunmehr alleiniger Geschäftsführer des S. Fischer Verlages, führte schließlich die Verlagsarbeit ab 1935/1936 im Exil weiter. Zuerst war Wien der Verlagssitz des Bermann-Fischer Verlages. Nach den politischen Ereignissen in Österreich im März 1938 fand der Verlag die Möglichkeit zur Weiterarbeit in Stockholm. Einen ganzen Verlag ins Ausland zu übersiedeln, war keine einfache Sache. Die Erlaubnis zur Auswanderung musste durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erteilt werden. Gottfried Bermann Fischer nahm im März 1935 die Verhandlungen über die Auswanderung des in Deutschland unerwünschten Verlagsteils mit dem Propagandaministerium auf. Eine Überführung des »genehmen« Verlagsteils in nicht-jüdischen Besitz kam der Intention des Propagandaministers entgegen, um den bekannten S. Fischer Verlag auch weiterhin als Aushängeschild für deutschsprachige Literatur dem Ausland gegenüber präsentieren zu können.13 Schließlich übernahm Peter Suhrkamp den in Deutschland verbleibenden Verlagsteil und Gottfried Bermann Fischer schied im April 1936 offiziell aus dem Verlag aus.14 Gleichzeitig erhielt er von der Reichsschrifttumskam12

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Auch Thomas Mann überlegte bereits zu diesem Zeitpunkt einen Wechsel von S. Fischer zu Querido in Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines ersten JosephRomans »Geschichten Jaakobs«. Er befürchtete, dass das Buch in Deutschland falsch verstanden werden würde, als »Judenbuch« gesehen oder gar antisemitisch ausgelegt werden könnte. Vgl. Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger 1932 – 1955. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1974, S. 36. Zu den Exilverlagen Querido und Allert de Lange siehe auch Kerstin Schoor: Verlagsarbeit im Exil. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Abteilung des Amsterdamer Allert de Lange Verlages 1933 – 1940. Amsterdam – Atlanta, GA: Rodopi 1992; HansAlbert Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933 – 1950. Mit einer Bibliographie Querido (= Marbacher Magazin 78). Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1997. Das Propagandaministerium verlangte bei der Teilung des S. Fischer Verlages auch die Beibehaltung des Namens für den in Deutschland verbleibenden Verlagsteil. Aufgrund einer ministeriellen Verfügung erfolgte im Juli 1942 die Umbenennung in »Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer Verlag«, nachdem im März 1941 eine Verordnung über Firmennamen erlassen worden war, die eine Tilgung aller jüdischen Firmennamen vorsah. Anfang 1943 musste auch der Zusatz »vormals S. Fischer Verlag« im Firmennamen wegfallen. Vgl. Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 31 ff.

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mer die offizielle Genehmigung zur Auswanderung mit einem Teil der Autorenrechte, darunter die der österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal und Siegfried Trebitsch. Zusätzlich wurde ihm »ausnahmsweise gestattet, die gesamten Buchvorräte einschließlich der Rohbestände dieser Schriftsteller bis zum 31. Mai nach Wien abzutransportieren«.15 Dieses Schreiben des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer erhielt weiterhin die Zusage, dass der inzwischen in Wien gegründete Bermann-Fischer Verlag »von der Kammer grundsätzlich nicht anders behandelt werden wird als jeder andere ausländische Verlag: d. h., der Vertrieb Ihrer Verlagsproduktion kann in Deutschland unter den für den deutschen Buchhandel geltenden Bedingungen geschehen, mit Ausnahme der in Deutschland unerwünschten Autoren und Büchern«.16 Bei dem Buchlager, das Gottfried Bermann Fischer nach Wien abtransportierte, handelte es sich um rund 780.000 Bände.17 Die Autorenrechte brachte er in eine eigens dafür gegründete Schweizer Aktiengesellschaft ein18, was später bei der Verhandlung mit dem schwedischen Verleger Bonnier eine bedeutende Rolle spielen sollte.

Der Bermann-Fischer Verlag in Wien (1936 – 1938) Gottfried Bermann Fischer war nicht der einzige jüdische Verleger, der von Deutschland nach Österreich auswanderte. Neben dem S. Fischer Verlag wählten auch der Piper-Verlag und der Verlag Jakob Hegner Wien als neuen Firmenort und firmierten dort als Bastei-Verlag beziehungsweise Thomas-Verlag Jakob Hegner.19 15

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Zitiert nach Friedrich Pfäfflin, Ingrid Kussmaul: S. Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Katalog des Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Stuttgart: Deutsche Schillergesellschaft 1985, S. 470 f. Ebd., S. 471. Die »unerwünschten Autoren« waren Siegmund Bing, Alfred Döblin, Harry Graf Kessler, René Schickele, Arthur Schnitzler, Richard Specht, der George Bernard Shaw-Übersetzer Siegfried Trebitsch und Jakob Wassermann. Der Buchbestand hatte einen Verkaufswert von rund 1.570.000 Mark und bestand aus 262 lieferbaren Titeln von 22 Autoren. Dem gegenüber verblieben bei Suhrkamp 120 Autoren mit 500 lieferbaren Titeln und einem Buchbestand von 1 ½ Millionen Bände mit einem Verkaufswert von ungefähr 3.000.000. Vgl. dazu Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1970, S. 1324. Ein Niederlassungsgesuch im Schweizer Kanton Zürich war im März 1936 abgelehnt worden: »Die Zukunft des Verlages wird allgemein als derart unsicher bezeichnet, dass es weder eine schweizerische noch eine europäische Aufgabe Zürichs sein kann, einen solchen Fremdkörper in der heutigen Zeit intra muros aufzunehmen.« Brief der Direktion der Polizei des Kantons Zürich an den Stadtpräsidenten von Zürich vom 23. März 1936. Zitiert nach: Fluchtpunkt Zürich. Zu einer Stadt und ihrem Theater. Schauplätze der Selbstbehauptung und des Überlebens 1933 – 1945. Ausstellungskatalog. Zusammengestellt von Ute Cofalka und Beat Schäpfer. Nürnberg 1987, S. 31. Vgl. dazu Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Band 1: Geschichte des österreichischen Verlagswesens 1918 – 1938. Wien – Köln – Graz: Hermann Böhlaus Nachf., 1985, S. 324 ff.

Der erste Katalog des Bermann-Fischer Verlages, Wien

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Der Bermann-Fischer Verlag, Wien, unter kommissarischer Leitung Die Familie Bermann Fischer ließ sich in der Wattmanngasse 11 im Wiener Gemeindebezirk Hietzing unweit von Schloss Schönbrunn nieder. Das Verlagsbüro befand sich am Esteplatz 5 in Wien-Landstraße. Es war die zweite Niederlassung in der Geschichte des S. Fischer Verlages. Im Zuge der Wirtschaftskrise und der in Deutschland herrschenden Papierknappheit hatte der Verlag eine Niederlassung in der Marokkanergasse 11 gehabt. Die

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Wiener Filiale war 1918 vorwiegend für die Herstellung von Arthur Schnitzlers »Gesammelten Werken« errichtet worden.20 Das Gründungsjahr des Bermann-Fischer Verlages, Wien, fiel mit dem 50-jährigen Jubiläum des S. Fischer Verlages zusammen. Im Verlagsalmanach aus dem Jahr 1936 wurde der Bruch in der Verlagsgeschichte deutlich zum Ausdruck gebracht: Seine Geschichte seitdem ist nicht mehr die Geschichte seiner Ausbreitung, sondern sie ist eine einzige große Probe, die der Verlag vor der deutschen Gegenwart zu bestehen hatte; die Probe ging wie ein echtes Schicksal bis nahe an die Existenz.21 Das erste Programm, mit dem sich der neue Verlag präsentierte, enthielt Titel bekannter Autoren wie Thomas Manns Vortrag »Freud und die Zukunft«, den er im Mai 1936 in Wien gehalten hatte, Hermann Hesses »Stunden im Garten« sowie Hugo von Hofmannsthals Romanfragmente »Andreas oder Die Vereinigten« und stellte gleichzeitig neu zum Verlag gekommene Autoren wie den österreichischen Justizminister Hans von Hammerstein, Ralph Roeder und Jean Giraudoux, dessen Drama »Kein Krieg in Troja« Annette Kolb ins Deutsche übersetzt hatte, vor. Ein Verlagsprospekt über die Neuerscheinungen vom Herbst 1936, das für den reichsdeutschen Buchhandel bestimmt war, zeigte allerdings zwei Neuerscheinungen nicht an: Thomas Manns »Freud und die Zukunft« und Carl Zuckmayers »Salwàre oder die Magdalena von Bozen«, da sie auf der »Schwarzen Liste« standen und in Deutschland nicht verkauft werden durften.22 In den zwei Jahren seiner Wiener Tätigkeit stand der Bermann-Fischer Verlag in enger wirtschaftlicher Beziehung zu Deutschland und setzte dort den Großteil seiner Buchproduktion ab. Im Zuge der Ereignisse im März 1938 ging jedoch der deutsche Absatzmarkt verloren. Nach der Flucht des Verlegers nach Zürich wurde ein kommissarischer Verwalter eingesetzt, bis der Verlag schließlich im September 1939 liquidiert und aus dem Handelsregister gelöscht wurde. Zuvor war ein Teil der verbotenen Bücher in die Schweiz verkauft worden.

Die Verlagsarbeit nach dem März 1938 Für Gottfried Bermann Fischer war im März 1938 schnelles Handeln erforderlich, um seine Autorenrechte nicht zu verlieren. Außerdem waren in Folge der politischen Ereignisse viele Schriftsteller verlegerlos geworden, da sie in Deutschland kein Buch mehr veröffentlichen konnten. Neben den 20 Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918 – 1938, Band 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien – Köln – Graz: Hermann Böhlaus Nachf. 1985, S. 83. 21 Almanach. Das 50. Jahr. 1886 – 1936. Wien: Bermann-Fischer Verlag, S. 7. 22 Zum Verbot von Zuckmayers »Salwàre« siehe auch Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 52 ff. Weiters Carl Zuckmayer – Gottfried Bermann Fischer. Briefwechsel. Mit den Briefen von Alice Herdan-Zuckmayer und Brigitte Bermann Fischer. Hg. Irene Nawrocka. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007, siehe Register der Werke Carl Zuckmayers.

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deutschsprachigen Exilverlagen Allert de Lange und Querido gab es keine weiteren mehr, die mit einem vergleichbaren Produktionsumfang auftraten. Auf der anderen Seite zeigten bereits einige große Verlage in England und den USA ihr Interesse, deutschsprachige Bücher in der Originalausgabe in ihr Programm aufzunehmen. Nachdem Bermann Fischers Niederlassung in der Schweiz bereits Anfang 1936 durch den dortigen Buchhändler- und dem Verlegerverein aus Angst vor Konkurrenz verhindert worden war, überlegte er, seine Verlagstätigkeit eventuell in Zusammenarbeit mit einem amerikanischen Verleger fortzusetzen, und nahm diesbezüglich Kontakt mit Benjamin Huebsch von der Viking Press auf. Dieser lehnte den Vorschlag jedoch ab. Huebsch zweifelte daran, dass die deutschsprachige Exilliteratur außerhalb des deutschsprachigen Marktes eine Überlebenschance hätte. Auch Thomas Mann riet Bermann Fischer dringend davon ab, einen Neustart als Verleger von deutschsprachigen Büchern in den USA zu wagen. Er ging sogar soweit, seinem langjährigen Verleger zu raten, wieder zu seiner ursprünglichen Tätigkeit als Arzt zurückzukehren.23 Doch Gottfried Bermann Fischer dachte nicht daran, seinen Beruf als Verleger und somit das große kulturelle und familiäre Erbe Samuel Fischers aufzugeben. Durch Franz Horch, einen österreichischen Dramaturgen24, der ihm in Zürich leidenschaftlich von Schweden vorgeschwärmt hatte, kam Bermann Fischer auf die Idee, sich an den langjährigen schwedischen Geschäftspartner von Samuel Fischer und auch des Wiener Bermann-Fischer Verlages, den Albert Bonnier Verlag, zu wenden. Der Stockholmer Verlag war – und ist – einer der bedeutendsten belletristischen Verlage in Schweden und konnte wie der S. Fischer Verlag auf eine lange Tradition als Verlags- und Familienunternehmen zurückblicken. Der Verlag war 1804 von Gerhard Bonnier25 gegründet worden und hatte seinen Sitz ursprünglich in Kopenhagen. Sein Sohn Adolf Bonnier wanderte 1827 nach Schweden aus und eröffnete in Göteborg eine Leihbibliothek und einen Kommissionsbuchhandel. Sein Bruder Albert folgte ihm nach Schweden und gründete 1837 den Albert Bonniers Förlag in Stockholm. Albert Bonniers Sohn Karl Otto wurde ebenfalls Verleger und erhielt seine Ausbildung in Leipzig bei dem Kommissionär K. F. Koehler und in Wien in der Sortimentsbuchhandlung Gerold & Co.26 Bonniers waren Verleger so bedeutender schwedischer Autoren wie Gustaf Fröding, Verner von Heidenstam, Selma Lagerlöf, August Strindberg oder Hjalmar Söderberg. Zu

23 Mann, Briefwechsel mit seinem Verleger Bermann Fischer, S. 144 f. 24 Franz Horch (1901 – 1951) war Dramaturg bei Max Reinhardt in Berlin und Wien, ab 1932 Leiter der Bühnenvertriebsabteilung des Paul Zsolnay Verlages in Wien und emigrierte nach dem »Anschluss« in die USA. 25 Gerard Bonnier hieß ursprünglich Gutkind Hirschel und stammte aus Dresden. 26 Zur Verlagsgeschichte siehe auch Albert Bonniers förlag. Ett familjeföretag 1837 – 1962. Etthundratjugofem år. Stockholm: Albert Bonniers Förlag AB 1962.

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seinen deutschsprachigen Autoren, deren Werke der Verlag in schwedischer Übersetzung herausgab, zählten u. a. Hermann Hesse und Thomas Mann. Bermann Fischer unterbreitete dem schwedischen Verleger Karl Otto Bonnier, der ihm persönlich völlig unbekannt war, den Vorschlag, sich finanziell an seinem Verlag zu beteiligen. Am 6. April 1938 antwortete ihm der schwedische Verleger, machte ihm aber vorerst wenig Hoffnung: »Der Inhalt Ihres Briefes«, schrieb er auf Deutsch, »interessiert mich in hohem Grade, ich sehe aber wenig Möglichkeit Ihnen behilflich zu sein.«27 Allerdings hielt sich Tor Bonnier, Karl Otto Bonniers Sohn, der Anfang 1938 die Verlagsleitung übernommen hatte, gerade in der Schweiz auf und nahm von dort aus mit Gottfried Bermann Fischer brieflich Kontakt auf. Am 10. April schrieb er ihm: Wir haben uns in den letzten Jahren öfters gefragt, wie es mit den alten deutschen Verlagshäusern gehen würde. Es war uns ja auch klar dass Ihre Situation, und die mancher Ihrer Kollegen, nach alledem was Österreich in den letzten Wochen übergangen ist [sic], dort unhaltbar geworden sei. Um so viel mehr freut es uns zu hören, daß Sie beschlossen sind [sic] Ihr Verlagshaus weiter zu führen. Für die bedeutende, aus Deutschland vertriebene Literatur wird es selbstverständlich eine Lebensbedingung sein sich auf einem erstklassigen Verlag stützen zu können.28 Obwohl Tor Bonnier Verständnis für Gottfried Bermann Fischers Lage zeigte, war ihm auch bewusst, wie schwierig sich die Arbeit eines deutschsprachigen Verlages gestalten würde, dem der reichsdeutsche Absatzmarkt verschlossen blieb. Tor Bonnier schrieb: »Das Interesse an eine gute deutsche [sic] Literatur wird man wohl doch nicht auslöschen können. So wird man wohl auch Wege finden diese Literatur zu verbreiten.« Obwohl er nicht wisse, wie er dem exilierten Verleger von Schweden aus behilflich sein könnte, stand er dennoch einem Treffen in Genf nicht ablehnend gegenüber. In seinem Brief drückte Tor Bonnier allerdings auch seine großen Zweifel über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Verlagshäusern aus: »Doch scheint mir, das muß ich Ihnen aufrichtig sagen, die Schwierigkeiten einen Abkommen einer verlegerischen Zusammenarbeit im Stande zu bringen, so groß, daß ich gar nicht weiß ob eine Reise Zürich–Genf für Sie lohnend sein könnte.«29 Dennoch fand das Treffen bereits wenige Tage später – am 15. April 1938 – statt. Gottfried Bermann Fischer war, wie er später in seiner Autobiografie erzählt, »tief beeindruckt von dem Verantwortungsgefühl für eine höhere Sache, die die Erhaltung des vertriebenen Verlages ganz offenbar für sie darstellte«.30 27 Karl Otto Bonnier am 6. April 1938 an Gottfried Bermann Fischer. S. Fischer Verlag Papers, Lilly Library, Bloomington, Indiana, USA. 28 Tor Bonnier am 10. April 1938 an Gottfried Bermann Fischer. S. Fischer Verlag Papers. 29 Ebd. 30 Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt, S. 128.

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Das Gespräch dauerte weniger als eine Stunde. Nach Bermann Fischers Erinnerung kam es bereits bei dieser Gelegenheit zur Absprache der Grundlagen eines Vertrages über eine Zusammenarbeit, zu dem nur mehr die formelle Zustimmung der beiden Brüder Tor Bonniers, Kaj und Åke, fehlte.

Die Zusammenarbeit mit dem schwedischen Verlag Albert Bonnier, Stockholm Bereits am 25. April 1938 traf die Antwort der beiden Brüder in Form eines Briefes aus Stockholm, verfasst in einem etwas holprigen Deutsch, ein: Die Alternative, dass wir als Teilhaber Ihres Schweizer Verlages eintreten, müssen wir abneigen. Wir möchten dagegen daran Interesse haben, mit Ihnen zusammen einen deutschsprachigen Verlag zu gründen, dessen Verlagsstelle – wenigstens vorläufig – nach Schweden verlegt werden sollte. [...] Wir glauben, dass man sehr vorsichtig anfangen sollte, und es wäre uns deshalb lieb, wenn man den Verlagsprogramm des ersten Jahres eben etwas mehr als von Ihnen vorgeschlagen einschränken könnte, und dass die Herausgebung des Jahres nicht mehr als 7 à 8 Volumen umfassen sollte.31 Die Familie Bonnier schlug vor, eine Aktiengesellschaft mit einem geringen Aktienkapital zu begründen, wobei Bermann Fischers Beitrag zum Firmenkapital aus seinen Autorenrechten und den bereits an die Autoren bezahlten Vorschüssen bestehen sollte, während der Beitrag von Seiten Bonniers mit Bargeld geleistet wurde. Die Brüder Bonnier würden aus rechtlichen Gründen 51 % des Aktienkapitals besitzen, da es nach schwedischem Recht Bermann Fischer als ausländischem Staatsbürger nicht möglich war, die Aktienmehrheit am Unternehmen zu halten. Die Verlagsarbeit mit einer deutschsprachigen Produktion in einem anderen sprachlichen Umfeld durchzuführen, würde keine leichte Aufgabe werden, und Tor Bonnier äußerte seine Befürchtung, dass die Sprache der zu verlegenden Bücher ein Problem werden könnte, da die schwedischen Setzer oft der deutschen Sprache nicht mächtig wären.32 Er sollte damit Recht behalten. Die Bücher, die im Stockholmer Bermann-Fischer Verlag in der Folge erschienen, sollten zahlreiche Druckfehler aufweisen. Am 4. Mai 1938 traf Gottfried Bermann Fischer in Stockholm ein, und bereits zwei Tage später unterzeichnete man den Vertrag zwischen dem Bonnier Verlag und der A. G. für Verlagsrechte in Chur als rechtlicher Eigentümerin der Verlagsrechte. Als Voraussetzung für die Gültigkeit dieses Vertrages galt eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung Bermann Fischers durch die schwedischen Behörden, die der Verleger wenig später auch erhielt. Sein

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Brief Tor Bonniers vom 25. April 1938 an Gottfried Bermann Fischer. Bonnier-Verlagsarchiv, Stockholm. Dieser Brief ist vollständig abgedruckt in Gottfried Bermann Fischer, Brigitte Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hg. Reiner Stach. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1990, S. 727. Ebd.

Verlagssitz des Bermann-Fischer Verlages am Stureplan 19 in Stockholm Wiener Buchlager, das Bermann Fischer noch in das Abkommen mit Bonnier einbrachte, bekam er allerdings nicht mehr aus Wien heraus.33 Die Autoren wurden in der Folge davon informiert, dass ihre Verträge auf die Bermann-Fischer Verlag A. B. (Aktiebolag) Stockholm übergegangen waren. Auch Thomas Mann, der im Exil durch die amerikanischen Ausgaben seiner Werke einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Exilautoren war, stimmte schließlich im Juni 1938 einem Verbleib beim Bermann-Fischer Verlag zu34, stellte allerdings eine Bedingung, nämlich eine Zusammenarbeit mit dem in Amsterdam ansässigen Querido Verlag. Der neue Sitz des Bermann-Fischer Verlages lag nur unweit vom Bonnier-Verlagshaus in Stockholm entfernt, nämlich am zentral gelegenen Stureplan 19. Auch die Verlagsmitarbeiter wurden schnell gefunden. Es waren größtenteils Emigranten aus Deutschland und Österreich. Ein wichtiger Angestellter wurde Walter Singer, ein ehemaliger Mitarbeiter des »Berliner Tageblatts«, der bereits 1917 nach Schweden gekommen und inzwischen schwedischer Staatsbürger geworden war. Außerdem sprach er fließend die Landessprache. Gerade diese Sprachkenntnisse waren bedeutsam, denn Bermann Fischer selber sprach kein Schwedisch und sollte es auch nie richtig lernen. Walter Singer übernahm nach der Ausweisung Gottfried Bermann Fischers aus Schweden die Fortführung der Verlagsarbeit in Stockholm. Als Sekretärin wurde Annie Stern aufgenommen, eine Wiener Jüdin, die im März 1938 nach Stockholm geflüchtet war. Sie hatte sich bereits als Kriegskind 1920 mehrere Monate in Schweden aufgehalten. Eine Zeit lang 33 34

Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 71. Vgl. Mann, Briefwechsel mit seinem Verleger Bermann Fischer, S. 159.

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arbeitete auch der Wiener Emigrant Viktor Zuckerkandl als Lektor im Verlag, bevor er 1940 in die USA auswanderte. Auch dem Mitarbeiter des Wiener Bermann-Fischer Verlages Justinian Frisch, dem Vater des Physikers Otto Robert Frisch und Schwager der Atomphysikerin Lise Meitner, gelang schließlich mit Bonniers Hilfe im Februar 1939 die Entlassung aus dem KZ Dachau und die Emigration nach Schweden.

Der Bermann-Fischer Verlag, Stockholm (1938 – 1940) Der neu gegründete Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, nahm die Arbeit sofort auf. Gottfried Bermann Fischer reiste noch im Mai 1938 nach London, um mit Stefan Zweig einen Vertrag auszuverhandeln. Zweig schloss in der Folge einen Gemeinschaftsvertrag mit dem Bermann-Fischer Verlag und dem Allert de Lange Verlag, die die Werke Zweigs bis 1940 in Gemeinschaftsausgaben veröffentlichten.35 Im selben Monat band sich auch Franz Werfel vertraglich an den Bermann-Fischer Verlag.36 Hermann Hesse zögerte allerdings, zu einem auslandsdeutschen Verlag zu wechseln. Seine Werke veröffentlichte während des Krieges Peter Suhrkamp in Berlin. Im Deutschen Reich verfolgte man die Stockholmer Neugründung und war über die Produktion des Verlages genauestens informiert. So wurden die Titel aus dem Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, die ebenso wie die Verlagsproduktion von Querido und Allert de Lange Ende 1938 verboten worden waren, in den Bestand der Deutschen Bücherei aufgenommen, allerdings unter Verschluss gehalten. Ganz unproblematisch gestaltete sich die Verlagsarbeit in Stockholm allerdings nicht. So kam beispielsweise eine Sammlung von Emigrantenbriefen mit dem geplanten Titel »Briefe der deutschen Vertriebenen«, an deren Auswahl Thomas Mann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Alfred Döblin beteiligt sein sollten, nicht zustande, nachdem man in der schwedischen Presse sehr negativ darauf reagiert und die Befürchtung geäußert hatte, die Sammlung könnte Hetzbriefe gegen Deutschland enthalten, was man als Einmischung in die schwedische Politik empfand.37 Und als im Herbst 1938 die Aufsatzsammlung »Achtung, Europa« von Thomas Mann auf Schwedisch bei Bonnier und auf Deutsch im Bermann-Fischer Verlag erschien, fehlte der Essay »Der Bruder«, der eine Anspielung auf Hitler enthielt.38 35 36

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Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 128 f. Franz Werfels Werke, die ab 1926 im Paul Zsolnay Verlag erschienen, wurden 1934 in Deutschland verboten. Nach den politischen Ereignissen in Österreich fühlte sich Werfel nicht mehr an den Wiener Verlag gebunden, da für diesen ein Vertrieb im Deutschen Reich unmöglich geworden war. Zur Loslösung Werfels vom Paul Zsolnay Verlag siehe Murray G. Hall: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 513 ff. Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 104 ff. Der umstrittene Satz lautete: »Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.« Vgl. Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 107 ff.

Aufruf des Bermann-Fischer Verlages, Stockholm Nachdem der Markt für deutschsprachige Bücher außerhalb Deutschlands in Europa sehr klein geworden war, beschlossen die drei Exilverlage Bermann-Fischer, Stockholm, sowie Querido und Allert de Lange in Amsterdam eine Zusammenarbeit.39 Sie gründeten eine gemeinsame Auslieferung in Amsterdam, die Zentralauslieferung, und gaben Gemeinschaftsproduktionen sowie eine Reihe zusammen heraus. In dieser »Forum«-Reihe er39

Zur Zusammenarbeit der drei Verlage siehe auch Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 110 ff.; Irene Nawrocka: Kooperationen im deutschsprachigen Exilverlagswesen. In: Exilforschung Bd. 22. Hg. Claus-Dieter Krohn, Erwin Rothermund, Lutz Winckler. München: Edition Text und Kritik 2004, S. 60 – 83.

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Verlagsprogramm der L. B. Fischer Publishing Corporation, 1946 schienen beispielsweise »Maria Stuart« von Stefan Zweig, »Musa Dagh« von Franz Werfel, ein Band Erzählungen von Arthur Schnitzler und der Roman »Salwàre« von Carl Zuckmayer. Der Versuch, sich auch auf dem amerikanischen Markt zu etablieren, scheiterte jedoch. Diese Zusammenarbeit der drei Exilverlage fand im Mai 1940 durch den Einmarsch deutscher Truppen in den Niederlanden ein abruptes Ende. Allert de Lange und Querido mussten ihre Arbeit einstellen. Emanuel Querido wurde im Juli 1940 gezwungen, als Direktor der Em. Querido Uitgevers Maatschappij aus dem Verlag auszuscheiden. Im August 1942 setzte das Arisierungsreferat der Wirtschaftsprüfstelle in Den Haag einen Verlagstreuhänder ein. Emanuel Querido und seine Frau wurden im Juli 1943 deportiert;

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Querido starb im Konzentrationslager Sobibor.40 Walter Landauer versuchte, sich vor den Deutschen zu verstecken, wurde verraten und verhaftet. Er starb im Dezember 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Fritz H. Landshoff befand sich zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches in den Niederlanden gerade in London. Er konnte in die USA emigrieren, wo er neuerlich mit Bermann Fischer und Bonnier eine Zusammenarbeit einging.

40 Werner Schroeder: »Dienstreise nach Holland 1940.« Beschlagnahme und Verbleib der Verlagsarchive von Allert de Lange und Querido, Amsterdam. In: Buchhandelsgeschichte 1993/4, S. 20.

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Die Ausweisung Gottfried Bermann Fischers aus Schweden Aufgrund der Kriegssituation – am 9. April 1940 besetzten deutsche Truppen Norwegen und Dänemark – beschlossen Gottfried Bermann Fischer und seine Frau Brigitte, mit ihren drei Töchtern nach England zu emigrieren. Die Reise war für den 22. April 1940 angesetzt. Doch bevor sie diese antreten konnten, wurde der Verleger am 19. April 1940 verhaftet. Man warf ihm politische Tätigkeit vor, die ihm als Emigranten in Schweden untersagt war. Bermann Fischer hatte dem britischen Geheimdienst seine rund 20.000 Adressen deutscher Buchkäufer aus seiner Verlagsadressendatei zugänglich gemacht. Vom Stockholmer Verlagsbüro am Stureplan aus waren antinationalsozialistische Broschüren und Flugzettel nach Deutschland versandt worden, u. a. Thomas Manns Brief »An den Dekan der Philosophischen Fakultät zu Bonn«. Laut Polizeiprotokoll hatte der Verleger zwar nicht aktiv beim Versand dieses Aufklärungsmaterials mitgeholfen, jedoch die Flugblätter mindestens zwei Mal auf korrektes Deutsch hin durchgelesen. Außerdem hatte er ein Treffen zweier Agenten in seinem Auto ermöglicht. Während dieses Treffens chauffierte Bermann Fischer die zwei Männer zum königlichen Schloss Drottningholm. Bei seiner Verhaftung konnte der Verleger allerdings glaubhaft machen, dass er während dieser Fahrt aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse dem Gespräch, das die Agenten auf Schwedisch führten, nicht folgen konnte. Bermann Fischer wurde nach zwei Monaten freigelassen.41 In der Folge ließ man die Anklage gegen ihn zwar fallen, er wurde allerdings des Landes verwiesen. Am 24. Juni 1940 wurde die Familie in Begleitung eines Polizeibeamten zum Stockholmer Flughafen Bromma gebracht. Die Ausweisung hatte nach dem Krieg zur Folge, dass Bermann Fischer 1945 nur mit »königlicher Erlaubnis« wieder nach Schweden einreisen durfte.42 Ende Juni 1940 reiste die Familie Bermann Fischer über Wladiwostok in die USA, wo Bermann Fischer einen englischsprachigen Verlag, die L. B. Publishing Corporation, begründete, an der sich auch die Verlegerfamilie Bonnier finanziell beteiligte, um Werke schwedischer Autoren in Übersetzung auf dem amerikanischen Buchmarkt zu veröffentlichen. Der Stockholmer Verlag – nunmehr der einzige, der sich auf die Herausgabe der Werke von deutschsprachigen exilierten und im Dritten Reich verbotenen Autoren spezialisierte – arbeitete zunächst in Abwesenheit des Verlegers weiter. 51 % der Anteile am Verlag befanden sich nach wie vor im Besitz der Familie Bonnier. Zwei Drittel des Aktienkapitals waren inzwischen verloren gegangen, sodass Bonniers eine Liquidierung des Verlages in Erwägung zogen. Bermann Fischer blieb weiterhin Geschäftsführer der Ber41

Statens utlänningskommission, hemliga arkivet, Kontrolldossier zu Gottfried Bermann Fischer, Annie Stern, Alfred Frederick Rickmann.Vgl. weiters Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 133 ff. 42 Im Juni 1947 hob die schwedische Regierung den Ausweisungsbeschluss auf.

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mann-Fischer Aktiebolag, Stockholm, de facto wurde die Verlagsarbeit jedoch von den beiden Mitarbeitern Justinian Frisch und Walter Singer weitergeführt. Bermann Fischer hielt von New York aus Kontakt zu den in den USA lebenden Exilautoren, u. a. Thomas Mann, Carl Zuckmayer und Franz Werfel, verkaufte Autorenrechte an Zeitungen, Film und Radio sowie für Übersetzungen. Und er sandte von New York aus – wenn auch oft mit großen Schwierigkeiten aufgrund der Kriegssituation – die Manuskripte nach Stockholm. So erschienen dort beispielsweise Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern« (1942) und posthum die »Schachnovelle« (1943), die Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann und die »Gesammelten Werke« Hugo von Hofmannsthals. Aber auch schwedische Autoren fanden Eingang in das Verlagsprogramm, zum Beispiel das Politikerehepaar Alva und Gunnar Myrdal mit ihrem Buch »Kontakt mit Amerika« in der Bearbeitung von Walter A. Berendsohn (1944) und der Nobelpreisträger Pär Lagerkvist mit »Der Henker / Der Zwerg« (1946). Bonniers unterstützten die deutschsprachige Verlagstätigkeit finanziell auch in der Abwesenheit des Verlegers. Als Gottfried Bermann Fischer schließlich in New York zusammen mit Fritz H. Landshoff einen englischsprachigen Verlag, die L. B. Fischer Publishing Corporation, gründete, beteiligte sich die Familie Bonnier.43 Gegen Kriegsende wurde die deutschsprachige Verlagstätigkeit in Stockholm sogar erweitert. Gemeinsam mit dem Bonnier Verlag plante man die Herstellung von Schulbüchern. Doch die erwartete Öffnung des deutschen und österreichischen Buchmarktes trat nach Kriegsende nicht ein. Mitte Februar 1946 kam Gottfried Bermann Fischer erstmals wieder nach Stockholm. Eine Rückkehr nach Europa, wie es Bonniers forderten, kam für ihn vorerst allerdings nicht in Frage. Denn die Familie befürchtete aufgrund der zunehmenden politischen Spannungen des Kalten Krieges einen erneuten Kriegsausbruch und durch eine Unterbrechung der Verbindungswege zwischen den USA und Europa getrennt zu werden. Amsterdam erschien geografisch und wirtschaftlich günstiger als Stockholm. Erst im April 1947 trat Bermann Fischer seine zweite Europareise an, während der es auch zu einem ersten Besuch in Deutschland und einem Treffen mit Peter Suhrkamp kam. Im März 1948 schließlich verkauften Bonniers nach Jahren der Investition ihre Anteile am Bermann-Fischer Verlag. Der Sitz des Verlages wurde von Stockholm nach Amsterdam verlegt, und eine zehnjährige deutschsprachige Verlagstätigkeit in Stockholm fand damit ein Ende. 43

Tatsächlich wurde allerdings innerhalb des englischsprachigen Programms der L. B. Fischer Publishing Corporation lediglich ein einziger Titel eines schwedischen Autors veröffentlicht, nämlich 1945 »The Dwarf« von Pär Lagerkvist in der Ausstattung von Brigitte Bermann Fischer. Zur L. B. Fischer Publishing Corporation siehe Nawrocka, Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, S. 152 ff.

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Widerstand – Haft – Exil – Rückkehr

Otto Binder

Was Schweden für mich bedeutet hat und heute noch bedeutet1

Unmittelbar nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland setzten Massenverhaftungen ein, die ihren Höhepunkt nach der so genannten Volksabstimmung am 10. April 1938 erreichten. Ende April wurden an drei Tagen Razzien durchgeführt, die ca. 5.000 Österreicher nach Dachau brachten. Da ich bereits einige Male in Salzburg und in Wien die Gefängnisse Österreichs von innen kennengelernt hatte, daher nicht nur der nazistisch unterwanderten Polizei bekannt war und sie außerdem jedesmal mit einer mehr oder minder großen Anzahl der damals auch politisch illegalen Nazi zu teilen gehabt hatte, war es für mich nicht verwunderlich, daß ich unter denen war, die bereits am ersten Tag dieser Razzien abgeholt wurden. Während der September-Krise 1938 wurden sämtliche jüdischen Häftlinge des Lagers Dachau, darunter auch wir 5.000 Österreicher, nach Buchenwald überstellt. Man hat heute vergessen, wie schwer es damals war zu emigrieren, eine Fluchtmöglichkeit zu ergattern, ein Visum in ein Land zu erhalten, welches bereit war, einen aufzunehmen. Wieviel Zehntausenden wäre damals das Leben gerettet worden, wenn sie eine Auswanderungsmöglichkeit gehabt hätten! Für Leute, denen als Häftlingen jede Bewegungsfreiheit genommen war, ja denen in Dachau sogar bei schwerster Strafe verboten war, ihren Angehörigen darüber zu schreiben, war die Situation besonders trist. Dazu kam noch – zu den täglichen Qualen und Ängsten des Daseins im KZ – die Einsicht, daß der Ausbruch des Krieges sicher und nahe bevorstehend war. Keiner von uns glaubte, daß wir den Ausbruch eines Krieges dort lebend überstehen würden. Die Sozialistische Internationale hatte, um den in Gefängnissen und Konzentrationslagern Festgehaltenen die Entlassungschancen zu erhöhen, in Paris unter dem Namen eines »Matteotti-Komitees« eine Arbeitsgruppe gebildet, welche die Aufgabe hatte, Einreisebewilligungen in alle möglichen Länder aufzutreiben. Damit hatte sie gewisse Erfolge, da dies noch die Zeit vor der Wannsee-Konferenz war. Ich hatte das Glück, auf diese Art ein Visum für Schweden zu bekommen. 1

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Dieser Text von Otto Binder wurde erstmals veröffentlicht in: Erinnerungen an Schweden. Österreicher in Schweden  – Schweden in Österreich in den Jahren 1938 – 1945 (= Schweden Österreich, 11. Jg., H. 2, 1988), S. 18 – 21. Wir danken Margit Fischer und der Österreichisch-Schwedischen Gesellschaft für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Als ich am 6. Mai 1939 aus Buchenwald entlassen wurde, war mir, ebenso wie allen anderen in der gleichen Lage, die Bedingung gestellt worden, »das Dritte Reich innerhalb von drei Wochen zu verlassen, widrigenfalls ...«. Zwei Wochen später, am Stettiner Bahnhof in Berlin, im Zug nach Malmö hörte ich die ersten schwedischen Worte meines Lebens. Wenige Stunden später war ich in Freiheit. Ich war nicht mehr der Paria mit dem geschorenen Kopf und dem zergerbten Gesicht des KZ-Häftlings. In Malmö und in Stockholm erwarteten mich schon die österreichischen Freunde, Sladky, Simon, Pleyl in Malmö, Kreisky in Stockholm. Er hatte mir bei Popelka, einem ehemaligen Kollegen der Wiener Städtischen Versicherung, ein »matvrå« (eine Eßecke) auf Lilla Essingen als Quartier vorbereitet. Nächsten Tag war ich im Flüchtlingskomitee, dessen österreichischer Leiter, Karl Heinz2, ein alter Freund war und dessen schwedischer Leiter ein neuer Freund wurde. Das Flüchtlingskomitee – arbetarrörelsens flyktinghjälp – war eine Organisation der LO, der schwedischen Gewerkschaften, das uns eine Unterstützung in der ungefähren Höhe einer schwedischen Arbeitslosenunterstützung zur Verfügung stellte, für schwedische Verhältnisse bescheiden, kam man aus Österreich aber sehr anständig. Nach der skurrilen Hölle der beiden Konzentrationslager, der ständigen Gefahr der letzten zwei Wochen in Wien, in denen jedes kleinste Vorkommnis zum Rücktransport in Lager geführt hätte, die Angst und Beklommenheit, die über der Stadt lagen, die bei allen Kontakten, bei jüdischen und ebenso bei nichtjüdischen Freunden zum Vorschein kamen, befand ich mich nun in jeder Hinsicht in einer anderen Welt. Noch dazu Stockholm zu »midsommar«. Ein lichtes, sauberes Stockholm, keine Spur von der grauen Trübseligkeit des verarmten Wien, von der beklemmenden Atmosphäre dort, mit großgewachsenen, schwarzgekleideten Polizisten, deren Uniformen zwar eine erschreckende Ähnlichkeit mit jenen der SS hatten, aber um die man doch keinen Bogen machen mußte, die einem, im Gegenteil, im Bedarfsfall Auskunft gaben – als ob man wieder ein Mensch wäre. Stockholm von 1939 – eine Stadt ohne Hast, ohne Not, in der man nicht fallen gelassen wurde – aber auch eine Stadt, in der, außer den politischen Eliten, die Menschen noch lange nicht begriffen, was auf diesem so genannten Kontinent eigentlich los war. Nach Mittsommer begann ein von der Regierung initiierter Umschulungskurs, eine einjährige Metallarbeiterschule für Emigranten. In der Fatbursgatan auf Söder (Stadtteil Stockholms) hatte man früher auf die gleiche Art die Resozialisierung ehemaliger Sträflinge betrieben. Nun waren wir dort – eine sehr bunte und sehr multinationale Gesellschaft. Wenn wir – politisch gesehen – auch alle von links kamen, so waren doch die politischen Schattierungen unter uns sehr markant. Die erschütternden Ereignisse die-

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Siehe auch den Beitrag von Otto Heinz in diesem Band. (Anm. der Hg.)

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ses Jahres, der Ribbentrop-Molotow-Pakt, der Kriegsbeginn, die Besetzung Dänemarks und Norwegens sorgten oft für wilde Diskussionen. Für Intellektuelle und Angestellte gab es in dieser Zeit gewisse Arbeitsplatzprobleme, noch dazu für Leute, denen die Sprache fremd war. Andererseits hatte Schweden seine militärische Ausrüstung weitgehend den Finnen zur Verfügung gestellt. Daher war die Umschulung der Emigranten auf den Beruf des Metallarbeiters sehr sinnvoll. Ob wir dort viel lernten? Eher nein! Aber am Ende des Schuljahrs erhielten wir jedenfalls Zeugnisse, die uns als ausgelernte Metallarbeiter auswiesen und uns die Möglichkeit gaben, wenn auch mit gewissen Schwierigkeiten, uns als solche um Arbeit zu bewerben. Meine Sorgen galten in dieser Zeit aber nicht nur meinen leiblichen Angehörigen. Meine »arische« Braut hatte nach der so genannten »Volksabstimmung« am 10. April 1938 Wien verlassen müssen. Da diese Volksabstimmung die offizielle Einführung der Nürnberger Gesetze brachte, konnte sie sich in Hinkunft weder mit mir noch bei ihren jüdischen Dienstgebern sehen lassen. Obwohl auch sie politisch vorbestraft gewesen war, gelang es ihr, auf bayrischem Gebiet einen fünfjährigen Paß zu bekommen. Mit diesem Papier erhielt sie vom schwedischen Konsulat in Wien ein dreiwöchiges Besuchsvisum. Allerdings mußte sie sich verpflichten, Schweden nach drei Wochen wieder zu verlassen. Heute würde ich eine derartige Verpflichtung weit weniger ernst nehmen. Damals hatte ich Grund, mich vor dem weitverbreiteten Unverständnis in der schwedischen Öffentlichkeit und auch bei den Behörden, was eine solche Rückkehr bedeutet hätte, zu fürchten. Axel Granath fand aber eine Lösung. Er fand einen Arbeitsplatz als »barnsköterska« (Kinderschwester) bei Mädchendrillingen, für den sich kein anderes Mädchen gefunden hatte. Für das damalige Schweden erschien es mir typisch, daß nicht einmal unter diesen Umständen eine einmal gegebene Unterschrift als ungültig angesehen werden sollte. Meine Frau konnte aber nach Kopenhagen fahren, damit ausgereist sein und sich dort ein neues Dauervisum holen. Drei Tage später waren die Grenzen gesperrt. Schweden war sicherlich damals, trotz gewisser oft sehr verständlicher Begrenzungen, ein musterhaftes Asylland. Vor allem mußte ein Immigrant aus Mitteleuropa fast ein völlig neues Vokabular der Menschlichkeit und der sozialen Fürsorge lernen. Es würde zu weit führen, hier alle Phasen unseres persönlichen Schicksals zu schildern. Die weltpolitischen Turbulenzen, der Ausbruch des Krieges, der finnisch-russische Krieg und schließlich der Überfall der Nazi auf Norwegen und Dänemark griffen jedesmal auch in unsere persönliche Situation ein. Im April 1940 wurde meine Frau mit den Kindern, die sie in ihrer Obhut hatte, in einen Ort nahe dem mittelschwedischen Grubengebiet evakuiert. Midsommar 1940, als meine Schule in Stockholm zu Ende war, erhielt ich dort einen Arbeitsplatz als Dreher. 172

Nicht in diesem Ort, sondern im Wald – 17 km von Kopparberg, ca. ebensoweit nach Grängesborg  – war mein neuer Arbeitsplatz. Gewohnt wurde in einer »matservering« (in einem Speisehaus); die Verhältnisse waren sehr, sehr primitiv. Das war nicht das Stockholm, in dem eine menschliche und politische Elite sich mit einer großartigen Herzlichkeit um die Flüchtlinge kümmerte, in dem es sehr bald engste persönliche Freundschaften zwischen Schweden und Emigranten gab, in dem es außer den verschiedensten Zirkeln der Emigranten das Flüchtlingskomitee, Birkagården, die Leute vom schwedischen Jugendverband gab. Dort, an der Grenze von Västmanland und Dalarna lernte ich noch ein anderes Schweden kennen. Jene Arbeiter, mit denen ich in der »matservering« zusammen leben mußte, kamen – wie in Schweden gesagt wird – aus Ystad bis Haparanda. Es waren durchwegs Leute, die sich weder durch fachliches noch durch intellektuelles Niveau auszeichneten. Die anderen Beschäftigten rekrutierten sich aus zwei, für mich auch neuen Menschengruppen: den Freireligiösen und den Syndikalisten. Für mich, als alten »Politischen«, waren vor allem die Syndikalisten ein interessantes Phänomen. Sie waren durchwegs »torpare« (Kleinbauern), die, sogar unter den schlimmen Wetterverhältnissen des Winters 40/41 mit ihren »sparkstötting« (Stoßschlitten) enorme Anmarschwege bewältigten. Sie betrachteten sich als Mitglieder der Ersten Internationale, ihr Lehrer war Bakunin: Marx und Engels waren Abtrünnige gewesen. Was für mich so erstaunlich war – diese Leute waren außerordentlich belesen, glänzende Diskutierer und als Arbeitskameraden hilfreich und solidarisch, wie ich kaum gleiche irgendwo anders gefunden habe. Man mußte allerdings – und wenn es auch nur durch einen Blick war – signalisieren, daß der Kontakt nicht unwillkommen war. Im Sommer 1941 ging ich nach Stockholm zurück. Nun war es auch möglich, dort Arbeit zu finden. Einer unserer österreichischen Freunde aus unserer Metallarbeiterschule hatte in einem Betrieb solche Achtung erworben, daß der Werkmeister ihn fragte, ob er nicht noch solche wisse, wie er – Arbeiter, die nicht trinken, nicht schwänzen und die so fleißig wären. Als der Krieg zu Ende ging, bestand gut ein Drittel der Belegschaft dieses Betriebs aus Emigranten. Soweit das Leben während des Krieges in Stockholm nicht durch die Sorgen und Probleme belastet war, die für jeden einzelnen spezifisch waren: über die schwedische Umgebung durften wir uns wirklich nicht beklagen. Rationierungen und Restriktionen waren bedeutungslos und die Einstellung der Umgebung gegenüber dem Flüchtling eher durch die beiderseitige Sympathie oder Antipathie bestimmt, in manchen Fällen vielleicht durch eine gewisse Distanz zu allem ausländischen, aber kaum durch irgendwelche Feindschaften gegen bestimmte Gruppen von Menschen. Ich werde jetzt manchmal gefragt, ob wir in diesem Land, welches von allen Seiten von kriegführenden Ländern umgeben war, Angst hatten. Abgesehen davon, daß ich nicht glaube, daß man in einer Umgebung, in der doch, trotz allen Turbulenzen rundherum, im Alltag eben das alltägliche Le173

Otto Binders »Ausschließungsschein« aus der Wehrmacht ben vorgeherrscht hat, sechs Jahre lang Angst haben kann. Zu mancherlei Unruhe hatten wir jedoch schon Grund, besonders wenn wir beobachten mußten, wie unsere schwedischen Kollegen mitten am Tag von ihren Arbeitsplätzen weggeholt wurden, weil es wiederum irgendeine militärische Alarmsituation gab. Die jüngeren Emigranten wagten es erst, sich ihre ältesten Kinder anzuschaffen, als der Krieg in Rußland die entscheidende Wendung genommen hatte. 174

Das Kriegsende brachte, so wie für andere so auch für mich, die Notwendigkeit des Berufswechsels. Für mich entstand plötzlich die Möglichkeit, nicht nur in meinen alten Beruf zurückzukehren, sondern auch in eine Umgebung zu gelangen, in der ich eine besonders freundliche Gesinnung fand. Ich kam in die »Folksam«, die Versicherungsgesellschaft der schwedischen Konsumgenossenschaften, konnte mich dort sehr rasch einleben und konnte bald Anerkennung finden. Es war für meine weitere Zukunft entscheidend, daß ich im März 1947 meine erste Reise nach Wien auf Kosten meines Arbeitgebers machen konnte, mit dem angenehmen Nebenzweck, die Verbindungen mit meinem alten Arbeitgeber, der Wiener Städtischen Versicherung, anzubahnen. Meine zweite Reise im Oktober des gleichen Jahres führte mich als Dolmetsch und Verbindungsmann zu den Österreichern – als Mitglied der schwedischen Jugenddelegation – nach Wien. Der Gegenstand waren die Verhandlungen über die Neugründung der Sozialistischen Jugendinternationale. Damit war auch die Vorgeschichte geschaffen für die später erfolgte Aufforderung, als Nachwuchs in der Leitung der »Städtischen« im Jahre 1949 endgültig nach Wien zurückzugehen. Zu dieser Einladung hatte sicher auch der Umstand wesentlich beigetragen, daß ich mir bei »Folksam« vieles an beruflichem Wissen und in der offenen schwedischen Demokratie vieles an Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge erwerben konnte, was hier gefehlt hat. Man spürte, gerade wenn man von Schweden hierher kam, wie fürchterlich eng die Horizonte in diesem verarmten und so lange abgesperrt gewesenen Land geworden waren. Unsere schwedischen Freundschaften hielten; nicht nur die mit den ehemaligen Emigranten, ebenso die meiner Frau und meine, aus der privaten und der beruflichen Umgebung und vor allem auch jene, die sich von beruflichen Freundschaften zu privaten entwickelt hatten. Diese Freundschaften haben sich auch auf die Generation unserer Kinder übertragen. Sehr wichtig und auch immer wieder Anlaß zu besonderer persönlicher Genugtuung war für mich folgendes: Die Entwicklung in Bürotechnik, Organisation und zum Teil auch in fachlichem Wissen war in Österreich Mitte der Dreißiger Jahre stecken geblieben. Die Menschen hier fühlten sich dem »Westen« gegenüber klein und unterlegen. Nicht zu Unrecht hatten sie auch zu befürchten, im Ausland als Feinde von gestern betrachtet zu werden. Der enge Kontakt zur »Folksam« führte sehr bald dazu, daß meine Mitarbeiter aus der Wiener Städtischen Versicherung sich dort zu Hause fühlten. Die offenen Arme, mit denen sie dort aufgenommen wurden, halfen ihnen, das erforderliche Selbstgefühl wieder zu gewinnen. Es war nur eine selbstverständliche Folge, daß diese Kontakte sowohl bilateral als auch im internationalen Bereich zur Zusammenarbeit führten. Ihren Höhepunkt fand diese kameradschaftliche Verbindung, als die Wiener Städtische von »Folksam« eingeladen wurde, sich gemeinsam mit zwei anderen Gesellschaften an der Gründung einer amerikanischen Tochtergesellschaft zu beteili175

Anni, Margit und Otto Binder, 1944

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gen, die nun seit Jahren im gleichen amikalen Geist geführt wird, der diese Beziehungen nun schon 40 Jahre lang auszeichnet. Wenn ich mich nun frage, ob ich mit dem hier Erzählten dem Titel dieses Aufsatzes gerecht geworden bin, muß ich mir selbst ein sehr mäßiges Zeugnis ausstellen. Erzählen lassen sich in einem solchen Aufsatz nur Geschehnisse, und die nur unvollständig. Was uns, meiner Frau und mir und in gewissem Grad auch meinen Kindern, Schweden bedeutet hat, liegt auch noch auf einem anderen Gebiet. Das Land hat uns geformt, umgeformt. Eine zweite Sprache und Kultur so zu erleben, daß man sich in ihr einleben kann, das war eine ungeheure Bereicherung für uns. Eine andere Denkungsweise, rationaler, kühler, aber doch auch wieder in menschlichen Dingen äußerst engagiert, auch das ist heute Schweden für uns – und noch viel mehr.

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Peter Kreisky

Stockholm – Wien: Spuren der Erinnerung1

Meine Kindheit – weder schwedisch noch österreichisch Als Kind eines nach Österreich rückkehrenden Vaters und einer ihr Heimatland Schweden verlassenden Mutter stand ich immer zwischen diesen beiden Erfahrungen. Für mich war es keine Rückkehr aus dem Exil, für mich war es der Wechsel von einer Welt zur anderen. Dieser Zwiespalt der Erfahrungen spiegelt sich auch in meiner Biografie. Stets standen Vergleiche beider Länder in meinem Fokus. Während meiner politischen Aktivitäten und meiner Berufstätigkeit war Schweden stets wichtiger Referenzpunkt, wenn es um Ideen und Praktiken demokratisch-egalitärer Gesellschaftsreformen ging. Ich wurde im Mai 1944 in Stockholm geboren. 1951 konnte ich mir nicht aussuchen, ob ich nach Wien übersiedle oder nicht. Eher bin ich übersiedelt worden. Es war das dritte oder vierte Mal, dass ich im Laufe der ersten Klasse die Schule wechseln musste. Schon in Stockholm ist mir das passiert, weil ich aufgrund einer Erkrankung meiner Mutter einige Monate bei Freunden meiner Eltern, »den Wittgensteins«, lebte. Auch zur Familie Otto Binders gab es freundschaftliche Verbindungen. Margit (Binder/Fischer) und ich spielten miteinander, zumal unsere Mütter, Anni Binder und meine Mutter Vera, befreundet waren und einander auch unterstützend zur Seite standen. Mein Vater pendelte ab 1946 zwischen Stockholm und Wien. Seit 1947 war er im diplomatischen Dienst. Zunächst hatte er die österreichische Gesandtschaft in Stockholm einzurichten. Dann war er mit der schwedischen Hunger- und Wiederaufbauhilfe für Österreich betraut. Die Reise nach Wien erforderte damals 48 Stunden Bahnfahrt, was ihm unmöglich machte, meine Betreuung (und ab 1948, als meine Schwester Suzanne zur Welt kam, die von uns Kindern) zu gewährleisten. Erst viel später hatte ich eine Wahl. Mit 14 oder 16 Jahren konnte ich entscheiden, ob ich österreichischer oder schwedischer Staatsbürger sein 1

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Peter Kreisky hielt diesen Vortrag am 18. Juni 2010 im Rahmen des Symposiums »Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren«. Der Text wurde dankenswerterweise von Eva Kreisky für die Veröffentlichung bearbeitet.

wollte. Damals habe ich mich für Österreich entschieden. Mein Interesse für Schweden sollte sich erst allmählich intensivieren und schließlich auch das Verhältnis zu meinem Geburtsland grundlegend verändern. Als ich mit knapp sieben Jahren nach Wien übersiedelt wurde, konnte ich kaum Deutsch sprechen. In den ersten Jahren erging es mir wie vielen in Österreich neu Ansässigen, ich habe mich überangepasst an die hiesigen Verhältnisse. Ein paar Jahre lang wollte ich mit meinen Eltern nicht mehr Schwedisch sprechen. Sie haben aber keinen Druck ausgeübt, mich nur darauf hingewiesen, ich würde es später vielleicht bereuen, wenn ich meine Muttersprache zur Gänze aufgebe. An Österreich hat mich die Landschaft fasziniert, das Hochgebirge nahe bei Wien und der erste Urlaub mit Freunden meines Vaters aus der sozialdemokratischen Jugendbewegung auf einem Bauernhof am Millstätter See. Die Rückkehr meines Vaters in den Kreis der Zwischenkriegsfreunde hat mir das Hochgebirge nahe gebracht, mit dem ich zuvor in Schweden nie konfrontiert war. Nur einmal war ich mit meinen Eltern in der hügeligen Landschaft Dalarnas (Mittelschweden) auf Weihnachtsurlaub. Diese Gegend ist aber nur mit dem höher gelegenen Wienerwald, bestenfalls mit den Voralpen, zu vergleichen. Ich war begeistert von den Wanderungen rund um den Millstätter See, weniger mit meinen Eltern, aber ganz besonders mit »den Harnischs«. Walter Harnisch war akademischer Maler. Er und seine Frau waren Jugendfreunde meines Vaters aus der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Auch Josef »Beppo« Afritsch und sein Freundeskreis, »die Scheus« und andere mehr, verbrachten ihre Ferien am Millstätter See. Da habe ich die Hohen Tauern kennen und Berge überhaupt lieben gelernt. Meine Entscheidung für Österreich war also keine politische, sie sollte sich vielmehr als eine für die Natur Österreichs erweisen. Das war die eine Seite Österreichs, die ich überaus liebte. Die andere, weniger geliebte, war der aufreibende Anpassungsdruck, der vor allem in der Schulzeit zu wirken begann, war ich doch stets »anders« als meine Schulkollegen. Meine ersten Lebensjahre in Schweden hatten mich angesichts größerer Liberalität und Egalität der schwedischen Gesellschaft in spezifischer Weise geprägt. Ich war höchst neugierig und stellte meine Fragen für österreichische Gewohnheiten zu direkt und zu offen. So galt ich meiner Wiener Volksschullehrerin sogleich als »Fragekasten«. Ständiges Fragen war in der Nachkriegsära in Österreich eher verpönt. Aufregung von Eltern meiner Schulkollegen stellte sich ein, als ich mich in meinem kindlichen Übereifer verpflichtet fühlte, die Kinder meiner Klasse »aufzuklären« und ihnen Geheimnisse und Tabus der Erwachsenen, vom Weihnachtsmann bis zum Storch, zu enträtseln.

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Nicht allseits erwünschte RückkehrerInnen Im Frühjahr 1951 hatte mein Vater seine seit 1947 fortdauernde Pendlerexistenz beendet und unsere Familie endgültig nach Österreich gebracht. Otto Binder (1949) und mein Vater (1947/1951) sind etwa zur selben Zeit nach Österreich zurückgekehrt und haben wohl ähnlich schwierige Erfahrungen mit ihrer Rückkehr in die Politik und dem Wiederengagement in der Sozialistischen Partei gemacht. Welch verwirrende und auch unerfreuliche Zeit war aber dieses Nachkriegsösterreich zwischen politischer Aufbau-Euphorie und den langen Schatten des Faschismus. Aus den Reihen der ÖVP wurden die RückkehrerInnen recht zynisch begrüßt: Den »Herren Emigranten«, die sich »beim ersten Kräuseln des Ozeans in Übersee in Sicherheit gebracht haben«, wurde anlässlich des Buhlens um »Frontkämpfer« und »ehemalige« Nationalsozialisten 1949 von Alfons Gorbach das Recht abgesprochen, »in der NS-Frage mitzureden«. Auch aus der SPÖ gab es keineswegs nur einladende Worte zu hören: »Ich wäre dafür, dass man die Sache in die Länge zieht«, äußerte sich Oskar Helmer 1948 anlässlich der Debatte um Restitution jüdischen Eigentums. Helmer verkörperte jene Haltung, die viele auch in der SPÖ für die RückkehrerInnen übrig hatten: Wenn ihr zurückkommen wollt, haltet euch an die Regel, dass wir hier in Wien keine Wickel haben wollen. Ein nahtloses Anknüpfen an die Zwischenkriegszeit schien unterbrochen. Orientierung und Positionierung fielen Rückwanderern unter diesen Nachkriegsverhältnissen nicht gerade leicht. Dies wurde mir aber erst später in seiner politischen Tragweite bewusst. Zur Zeit unserer Übersiedelung betrachtete ich die Welt vornehmlich nach unserem wieder gewonnenen stabilen familiären Lebenszusammenhang und den Freizeitmöglichkeiten auf den durch den Krieg gerissenen Baulücken, den »Gstätten«, die für uns Kinder den zeitgemäßen Abenteuerspielplatz abgaben. Die vor sich gehenden politischen Veränderungen/Behinderungen tangierten uns Kinder noch nicht. Otto Binder und Bruno Kreisky hatten sich (wie andere ExilantInnen auch) in die Welten von Politik und Wirtschaft neu einzufinden. Sie konnten nicht unbedingt mit wohlwollenden Freunden rechnen, die sich über ihre Rückkehr und ihr Engagement erfreut zeigten. Sie wurden als KonkurrentInnen empfunden und als den vermeintlichen politischen Frieden störend abgelehnt. Der Zugang zu politischen Positionen wurde insbesondere (linkssozialistischen) RemigrantInnen und jüdischen Intellektuellen der Sozialdemokratie erschwert. Dabei hat auch Antisemitismus eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Bruno Kreisky, Otto Binder und andere Rückkehrer verschonten die Nachkriegspartei aus Loyalität zur sozialdemokratischen Gemeinschaftsidee vor allzu strenger öffentlicher Kritik. In einem Brief an eine Genossin aus dem Kreis der ehemaligen Revolutionären Sozialisten (RS), Frieda Nödl, in der Illegalität Kontaktfrau zu Otto Bauer und nach 1945 Wiener Landtags180

abgeordnete, bedauerte mein Vater allerdings, in den Jahren nach 1945 das zweite Mal seine Heimat verloren zu haben. Mit Unterstützung Karl Renners, Adolf Schärfs und Theodor Körners, unter dem mein Vater in der Präsidentschaftskanzlei die Berufstätigkeit in Wien aufgenommen hatte, hat seine Karriere in der österreichischen Politik begonnen. Widerstände gab es 1953 um seine Nominierung als Staatssekretär im Außenamt, nicht nur seitens der ÖVP, sondern auch im Leitungsbereich der SPÖ. Die Gewerkschaft, insbesondere Franz Olah, mit dem mein Vater noch aus der Zwischenkriegszeit befreundet war, hatte ihn für die Regierungsfunktion vorgeschlagen. Mein Vater wurde, wie er es selbst darstellte, in dieser Position anfangs »feindselig und übel« behandelt. Erst allmählich hatte man sich an ihn, wie er meinte, »gewöhnt«. Bis 1958 war er als Staatssekretär tätig und zwischen 1959 und 1966 als Außenminister. Otto Binder, das ist bei der Tagung 2010 angesprochen worden, war politisch-öffentlich eher abstinent, zumal er nach seiner Rückkehr wieder in einer Wirtschaftsposition tätig wurde. Er engagierte sich in der Gemeinwirtschaft im Sinn gemeinnützigen Wirtschaftens und keineswegs im Sinne des Tolerierens all der ruinösen Skandale, die es später in diesem Bereich auch gegeben hat und die zur Schwächung des öffentlichen Sektors beigetragen haben (zur Erinnerung seien erwähnt: Verstaatlichte Industrie, Konsum, BAWAG usw.). Äußerungen zur Politik bildeten damals bei führenden Managern eher noch die Ausnahme. Korrumpierung in diesem Feld der Wirtschaft eröffnete ab den 1980er Jahren Möglichkeiten zur Aushöhlung gemeinnütziger Ideen und somit wurde eine allmähliche (Teil-)Privatisierung staatlicher Sektoren der Wirtschaft realisiert.

Heranwachsen im postfaschistischen Österreich Die Schulzeit hatte endgültig zur Desillusionierung meines bis dahin eher verklärenden Österreich-Bildes beigetragen. Hier ist mir ungeschminkt die österreichische Wirklichkeit der 1950er und beginnenden 1960er Jahre begegnet: erzreaktionärer Konservativismus, Leugnung oder Verdrängung faschistischer (Mit-)Täterschaft, selbst in der Generation der Kinder, bis hin zu verstecktem und offenem Antisemitismus. Nur selten traf ich damals unter Lehrern und Klassenkollegen auf gesellschaftskritische und demokratisch-couragierte Menschen. Ab Ende der 1950er Jahre schärfte sich mein politisches Interesse. Hierzu trug auch mein Engagement im VSM (Verband sozialistischer Mittelschüler) und VSStÖ (Verband Sozialistischer Studenten Österreichs) bei. Was mir zunächst emotional spürbar wurde und langsam zu einer Identität des Nichtdazugehören(wollen)s anwuchs, hat im VSM und VSStÖ seine mehr oder weniger politisch-rationale Fundierung erfahren. Hier habe ich meine politische Sozialisation erfahren und bin auf andere Kinder von RückkehrerInnen getroffen. Hier ließ sich auch an sozialdemokratische Ideen und Praktiken der Zwischenkriegszeit anknüpfen, die mir durch Erzählungen meines Vaters nahegebracht worden waren. 181

Peter Kreisky in Schweden, ca. 1949 In meiner Schulzeit erlebte auch ich eine – vergleichsweise freilich milde – Form konfessioneller Ausgrenzung, wie sie Ari Rath schildert, als in seiner Schule schon vor dem Nationalsozialismus eigene »Judenklassen« eingerichtet wurden. Die Gegenreformation in Österreich wirkte bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein. In meiner Schule wurden jene Schüler in einer »C-Klasse« zusammengewürfelt, die die reine Lehre des Katholizismus stören hätten können: Andere Konfessionen oder Konfessionslose wurden ebenso wie disziplinär auffällig gewordene Schüler in eine eigene Klasse abgeschoben. Als Protestant landete ich in dieser C-Klasse meiner Schule. Mein Verhältnis zur Religion war eher von oberflächlicher Natur. Erst 1975 bin ich aus der protestantischen Kirche ausgetreten. Damals war ich 31 Jahre alt und bereits verheiratet. Mein Vater fragte mich aber, ob ich mir diesen Schritt auch gut überlegt hätte. Ich entgegnete ihm: »Gerade du 182

fragst mich das, du bist doch selbst in deiner Jugend aus der israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten. Hat deine Sorge vielleicht damit zu tun, dass du dir nicht öffentlich vorwerfen lassen möchtest, du würdest mein Ausscheiden aus einer christlichen Kirche dulden?« Er aber hatte nur geschmunzelt, was mich erstaunte. Nach meinem Austritt erzählte er mir dann, dass der damalige Landesbischof, Oskar Sakrausky, weit rechts stand. Immer wieder bekundete Sakrausky seine Furcht vor »Linkstendenzen«. In allen damals strittigen Fragen (Fristenlösung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Ordination von Frauen in der evangelischen Kirche usw.) nahm er erzkonservative Positionen ein. Ich bin aus der evangelischen Kirche also nicht nur deshalb ausgetreten, weil ich nicht gottgläubig war, sondern vor allem deshalb, weil Sakrausky sich immer wieder diffamierend über das »Wesen« von Frauen ausließ und die Fristenlösung mit Auschwitz gleichsetzte. Ein weiterer für mich wichtiger Grund für den Kirchenaustritt lag darin, dass Sakrausky einer der wenigen Kirchenführer im protestantischen und im orthodoxen Bereich im Rahmen des Weltkirchenrats war, der die AntiApartheid-Solidaritätsaktivitäten des Weltkirchenrats nicht unterstützte. Pro-Apartheid-Sympathie in Österreich bestand bis in die 1970er Jahre aus historisch nachvollziehbaren Gründen fort. In Schweden hingegen ging man damit ganz anders um. Antirassismus und Protest gegen das ApartheidSystem reichten bis tief in bürgerliche Milieus hinein. Das beeindruckte mich damals. Rassismus, heute noch erkennbar im Umgang mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen und Zuwanderern, weist in Österreich hartnäckige Kontinuität bis in die Gegenwart auf. Die studentische Politik, in der ich mich ab Beginn der 1960er Jahre engagierte, war nicht allein auf universitäre Reformen im engeren Sinne ausgerichtet. Sie hatte stets auch gesellschaftspolitische und kulturelle Interventionen sowie internationale Solidarisierungen im Sinne. Das weltweite Vorantreiben sozialer Demokratie war uns damals ein wichtiges Anliegen. Dazu galt es zunächst aber, un- und anti-demokratische Verhältnisse zu überwinden. Diese Debatten schienen mir in Schweden weit fortgeschrittener als in Österreich. Der Kampf in meiner Familie um die tägliche (Erst-)Lektüre der schwedischen Tageszeitung »Dagens Nyheter« war legendär. Immer wieder trieben mich reformerische Motive auf Suche nach Reformideen nach Schweden und jedes Mal schleppte ich Unmengen inspirierenden Materials, offizielle Dokumente und wissenschaftliche Untersuchungen nach Wien. An den österreichischen Universitäten war noch in den 1960er Jahren der rechte Ungeist der Zwischenkriegszeit zu spüren, der austrofaschistische Rest-Ungeist oder der abgeschwächte Altnazi- oder Neonazi-Ungeist. Unter uns sozialistischen Studenten bestanden jedoch erhebliche politische Differenzen darüber, ob wir uns als minoritäre Studentenbewegung, mit ohnehin nur schwachen Kräften, für einen liberalen bis sozialdemokratisch-linken Pluralismus einsetzen sollten oder ob man besser schweigt, mehr oder weniger sich verschweigt. Das war eine der Trennlinien zwischen »Linken« und 183

Peter Kreisky beim Symposium »Exil in Schweden«, Juni 2010 »Rechten« im VSStÖ. 1966 konnten wir diese Auseinandersetzung für unsere sich links verstehende Gruppe entscheiden. Damit war der Weg frei für offene kritische Debatten auch an österreichischen Universitäten. Durch jahrelange intensive Aktivitäten und mit Rückenwind der internationalen Studenten- und Jugendbewegung und sozialer Bewegungen gewerkschaftlicher Art haben wir mit dazu beigetragen, dass sich in Österreich einiges verändert hat. Mein Vater war lange davon überzeugt gewesen und hat dies erst in seinen letzten Lebensjahren enttäuscht revidiert, dass biologische Erneuerung, das Wegsterben belasteter Uneinsichtiger, das politische Klima auch in Österreich grundlegend ändern würde. Das ist freilich bis heute nicht passiert. Der Generation meines Vaters scheint eine übermäßige Versöhnungstendenz eigen, vermutlich auch weil sie froh darüber war, dass die Gegenwart unvergleichbar war zur sozial und politisch zugespitzten Situation der Zwischenkriegszeit. Antidemokratische und antisemitische Tendenzen waren zwar immer wieder merkbar, hatten aber nicht in selbem Maße die gesellschaftliche Situation durchdrungen. Die Abwägung politischer Kontinuitäten, die immer wieder in erschreckender Weise fühlbar wurden, hat uns immer wieder beschäftigt und zu erheblichen Kontroversen Anlass geboten. Ich erinnere mich an einen Disput mit meinem Vater in den frühen 1960er Jahren, als wir eine Fahrt in die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Mauthausen organisiert und diese auch über den VSM hinaus breitflächig beworben haben. Sein Kommentar zu unserer ihm abwegig scheinen184

den Aktivität: »Ja, glaubt ihr, dass ihr damit Mitglieder werben könnt?« Darauf habe ich ihm geantwortet: »Das glaube ich nicht unbedingt. Aber nach wie vor hat der Satz Gültigkeit, ›Wahlen gewinnen ist wichtig, Sozialisten, Antinazis gewinnen ist wichtiger‹«. Da hat er betroffen geschwiegen. Später, wahrscheinlich verspätet, hat er dann unsere Bemühungen durchaus anerkannt. Man tut aber der Generation von Otto Binder und Bruno Kreisky Unrecht – bei meinem Vater passiert es häufiger, weil er als öffentliche Person geläufiger ist –, nur ihre Neigung zu Versöhnlichkeit und ihre Sehnsucht nach Befriedung anzusprechen. Wir haben uns daran zu erinnern, dass erst seit den 1970er Jahren Zeitgeschichte im universitären Bereich und an den Schulen verankert wurde. Zuvor war daran gar nicht zu denken. Ich erinnere mich selbst, dass Schulkollegen, Kinder von alten Nazis oder politisch Belasteten, einfach nachplapperten, was sie zu Hause zu hören bekamen. Die Kinder konnten nichts dafür, sie haben einer Art politischer Hegemonie im Lande entsprochen. Einige Äußerungen in Otto Binders Erinnerungen erschienen mir bei erster Lektüre nicht genug ausgewogen. Beim zweiten oder dritten Lesen wurden mir unsere Differenzen verständlicher. Selbst wenn Otto Binder uns als Nachgeborenen Ungerechtigkeit und Ungenauigkeit zum Vorwurf machte – ich habe mit ihm auf seine Anregung hin solche Diskussionen geführt –, klingt auch bei ihm große Enttäuschung durch. Inzwischen haben Zeithistoriker ausführlich dokumentiert, dass ab 1947/48 in der österreichischen Politik ein Konsens bestanden hat, dass an den Grundfesten des Zudeckens, des Zuschüttens der Gräben, nicht gerührt werden dürfe, noch dazu als ab 1949 etwa 500.000 Wähler, die so genannten Minderbelasteten, erstmals wählen durften. Immerhin ging es um 15 bis 20 Prozent des Wählerpotenzials, eigentlich ging es um noch mehr, um das ungerechte Wahlrechtssystem, um die entscheidenden Wählerstimmen bei knappen relativen Mehrheiten – die SPÖ hatte immerhin zweimal eine relative Mehrheit an Stimmen, aber nicht an Mandaten im Parlament. Nun aber, da Enttäuschung in den Erinnerungen Otto Binders durchschimmert, ist seiner Kritik an den bürokratischen, überpragmatischen Tendenzen der Nachkriegssozialdemokratie nichts hinzuzufügen. Dadurch ist freilich die kulturelle und intellektuelle Qualität der Sozialdemokratie verloren gegangen. Nicht zuletzt auch infolge von Not und unmittelbarer Wiederaufbaunotwendigkeiten. Otto Binder deutet dafür auch noch andere Gründe an: die Vertreibung und Liquidierung, nicht nur von Menschen jüdischer Herkunft. So erwähnt er das erschütternde Beispiel eines burgenländischen Mithäftlings in Buchenwald, der sich als Kapo einer Roma-SintiGruppe im Konzentrationslager für die anderen Häftlinge aufgeopfert oder sie zumindest geschützt hatte vor den ärgsten Peinigungen. Otto Binder hat den burgenländischen Landeshauptmann Theodor Kery und den Vorsitzenden der burgenländischen Kroaten Friedrich Robak mehrmals ersucht, Soldatics zu gedenken. Es hat keine Reaktion gegeben. 185

Peter Kreisky und Botschafter Hans Lundborg, Juni 2010 Das ist eines der vielen Beispiele dafür, wie unsensibel auch von maßgeblichen Politikern meiner eigenen Partei mit Erinnerungspolitik und Gedächtniskultur in Österreich umgegangen worden ist. Wir können gewisse Fortschritte konstatieren. Diese wurden auch nicht erst in den letzten Jahren sichtbar. Eigentlich waren es die Auseinandersetzungen um Kurt Waldheim und seine Mitläufer-Person, die zu neuen Chancen vertiefender und breiter Auseinandersetzung geführt haben – nicht im Sinn von Moralisieren, sondern im Sinn verstehenden Aufarbeitens. Nach wie vor aber wird Widerstandskämpfern und Deserteuren in Österreich ungenügend gedacht.

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Otto Heinz

Ein kurzer Bericht über eine lange Reise

Exil Den Beginn meines Exils aus Österreich habe ich buchstäblich verschlafen. Als die Kämpfe im Februar 1934 ausbrachen, war mein Vater Karl Heinz als damaliger Sekretär des Schutzbundes zufällig im Auftrag der Partei im Ausland und konnte nicht mehr nach Österreich zurückkehren, da die Polizei schon am ersten Morgen in unserer Wohnung erschienen war, um ihn zu verhaften. Ich war damals neun Jahre alt und irgendwie fand sich ein Mann, der tschechoslowakischer Staatsbürger war und in dessen Pass ein männliches Kind in ungefähr meinem Alter vermerkt war. Ich erinnere mich, wie man mir einen ganzen Nachmittag lang meinen neuen Namen einpaukte, falls man mich an der Grenze verhören sollte. Da die Zugverbindung mit der Tschechoslowakei noch funktionierte, bestiegen mein so genannter »Vater« und ich den Nachtzug nach Brünn, in dem ich sofort einschlief und erst zwei Stunden später in Brünn, sozusagen im Exil, aufgeweckt wurde. Das war der Anfang einer langen Reise. Brünn Da die Sozialdemokratische Partei und alle dazu gehörigen Organisationen im Februar 1934 verboten wurden, konstituierte sich in Brünn ein Büro namens ALÖS (Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten), in dem mein Vater tätig war. Die Hauptaufgabe des Büros war die Unterstützung der verschiedenen weiter bestehenden »illegalen« Gruppen in Österreich durch die Herstellung von Drucksachen und Flugblättern und die Herstellung von Kontakten im Ausland. Was mich betraf, so besuchte ich zuerst die letzte Klasse der deutschsprachigen Volksschule und später die ersten drei Jahre des Gymnasiums. Vom obligatorischen Unterricht in der tschechischen Sprache ist wenig hängen geblieben. Meine Mutter, Ella Heinz, führte während dieser Jahre eine Art Pension für »Illegale«, die vorübergehend für ein paar Tage nach Brünn kamen und sich selbstverständlich nicht polizeilich melden wollten. Da meine Mutter ausgezeichnet kochte, war die Pension Heinz immer gut besucht. Noch viele Jahre später in Amerika war alten Freunden diese Unterkunft in angenehmer Erinnerung geblieben. Trotz der zunehmend düsteren politischen Lage in Europa muss ich gestehen, dass mir vor allem arktische Expeditionsbücher und die Erfolge der Brünner Fußballmannschaften im Gedächtnis geblieben sind. Für mich 187

persönlich bedeuteten diese Jahre, verglichen mit Wien, eine eher ruhige Zeit.

Kriegsausbruch Nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 und wegen des rasch zunehmenden Drucks auf die Tschechoslowakei wurde das ALÖS-Büro in Brünn kurz danach nach Paris übersiedelt und bald aufgelöst, da politische Verbindungen mit Österreich kaum mehr möglich waren. Während der 1920er Jahre hatte mein Vater verschiedene Funktionen in der Sozialistischen Jugendinternationalen ausgeübt, durch die er mit Kollegen aus anderen europäischen Ländern in enger Zusammenarbeit stand. Diese Verbindungen ermöglichten es unserer Familie, ein Einreisevisum nach Schweden zu erhalten, und so fuhren wir im Mai 1938 auf getrennten Reisewegen nach Stockholm, wo die Familie alsbald wieder vereint war. Durch die schwedische Hilfsbereitschaft stieg die Zahl mitteleuropäischer Flüchtlinge rasch an. Infolgedessen gründeten die schwedischen Gewerkschaften und die schwedische sozialdemokratische Partei ein kleines Büro, um den Flüchtlingen die Niederlassung in ihrem Asyl-Land zu erleichtern. Ein Schwede namens Axel Granath und mein Vater führten gemeinsam dieses Hilfsbüro, die Arbetarrörelsens flyktinghjälp (Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung). Soweit mir bekannt ist, betreute das Hilfsbüro bald ungefähr hundert politische Flüchtlingsfamilien aus Österreich und den deutschsprachigen Gebieten in der Tschechoslowakei. Gleichzeitig gingen natürlich allerseits die Bemühungen weiter, Insassen von deutschen und österreichischen Konzentrationslagern zu retten und nach Schweden zu bringen. Während dieser Vorkriegsperiode gelang es durch die Zusammenarbeit mehrerer Organisationen in Schweden und anderen westlichen Ländern, die Entlassung einer Reihe politischer Häftlinge, wie zum Beispiel Otto Binder, zu erreichen. Zu dieser Zeit kamen auch die drei Geschwister meiner Mutter – ihre zwei Brüder Eduard und Alfred Stern samt ihren Familien sowie ihre Schwester Lina Fahnler – nach Schweden, um der rassistischen Verfolgung in Wien zu entgehen. Meine Eltern und ich wohnten in Stockholm auf Lilla Essingen und ich besuchte 1938/39 das letzte Jahr der schwedischen Pflichtschule. Nach wenigen Monaten schon beherrschte ich die schwedische Sprache. Am 1. September 1939, dem Tag des Einmarsches der deutschen Wehrmacht in Polen – und etwa drei Wochen vor meinem 15. Geburtstag –, begann ich als Lehrling bei der Telefongesellschaft L. M. Ericsson zu arbeiten. Obwohl die Arbeit anfangs sehr eintönig war, lernte ich mit der Zeit, eine Reihe von Metall verarbeitenden Maschinen zu bedienen. Sie gab mir auch die Gelegenheit, mit schwedischen Arbeitern zu verkehren und dadurch einen Einblick in diese Gesellschaftsschicht zu gewinnen. Ich war nicht der Einzige, dessen berufliche Fortbildung in Schweden gefördert wurde. Eine etwa ein Jahr dauernde Umschulung von Flüchtlingen, die früher u. a. als Bankbeamte und Versicherungsagenten (so z. B. mein Onkel Alfred 188

Vorne (v. l. n. r.): Mina Lackenbacher, Alfred Stern, Sophie Stern, Klara Böhm, (?), Vera Kreisky; hinten: Paul Böhm, Bruno Kreisky, Alois Reitbauer, Folke Christensen (?), Marianne Reitbauer, Egon Breiner, Willy Ernst, Erwin Lackenbacher, 1940

Stern) gearbeitet hatten, machte aus ihnen qualifizierte Metallarbeiter. Dadurch, dass ich nicht nur bei Tag eine anstrengende Arbeit ausübte, sondern auch zugleich Abendkurse in technischen Fächern an einer technischen Schule besuchte, blieb mir recht wenig Zeit für geselligen Verkehr mit gleichaltrigen Schweden oder österreichischen Flüchtlingen. Die ersten Monate nach Kriegsausbruch waren hauptsächlich eine Wartezeit, die sich im Frühjahr 1940 durch die französische Niederlage zu einer Krisensituation verschlimmerte. Als dann auch Norwegen und Dänemark von Deutschland besetzt wurden, wurde die Lage Schwedens als neutrales Land äußerst prekär und das Schicksal der dortigen Flüchtlinge entsprechend ungewiss. Frankreich besiegt, Holland, Belgien, Dänemark und Norwegen von der Wehrmacht besetzt, England, die letzte Hoffnung Westeuropas unter intensiver Belagerung! Unsere kleine Gruppe auf Lilla Essingen sammelte sich oft abends in unserer Wohnung, wo ich eine kleine Kurzwellenantenne angebracht hatte, um die Nachrichten aus London zu hören. Man wusste von Tag zu Tag nicht, ob London noch sendefähig sein würde. Um 7 Uhr abends erklang die Glocke des Big Ben und die erstaunlich ruhige Stimme mit »This is London calling«. Dann wussten wir alle, dass England noch unbesiegt war, und unsere Stimmung war ein bisschen weniger bedrückt … Diese Stimme klingt mir noch heute – 70 Jahre später – klar im Ohr. 189

Die schwedischen Behörden blieben weiterhin höchst hilfsbereit, doch herrschte große Ungewissheit, da niemand voraussagen konnte, wo und wann der nächste deutsche Angriff zu erwarten sei. Nichts schien der siegreichen deutschen Wehrmacht im Wege zu stehen, wodurch sich die Stimmung unter den Flüchtlingen zunehmend verdüsterte.

Reise in die USA Im Frühjahr 1941 hatte sich die Kriegslage weiter verschlechtert und unsere schwedischen Freunde rieten den am meisten gefährdeten Emigranten zur Weiterreise nach England oder nach Amerika. Die Reisemöglichkeiten waren damals ziemlich beschränkt. Als neutrales Land stellte Schweden so genannte »safe conduct«-Schiffe zur Verfügung, die Fahrten von und zu neutralen Häfen noch ermöglichten. (Zu diesem Zeitpunkt waren weder die USA, Japan noch die Sowjetunion Kriegsteilnehmer.) Das Personal mehrerer westlicher Regierungen musste zu dieser Zeit die Sowjetunion verlassen und über die USA zu ihren Exilregierungen nach England reisen, und zwar auf so einem schwedischen »safe conduct«-Schiff von Wladiwostok (UdSSR) nach Los Angeles (USA). Da der kleine, zu diesem Zweck herangezogene Fracht- und Passagierdampfer noch nicht voll belegt war, konnte eine Gruppe von etwa 15 österreichischen und sudetendeutschen Flüchtlingen, darunter Helene Bauer und mein Vater, mitgenommen werden. Meine Mutter und ich sollten vorläufig in Schweden zurückbleiben. Am Tag nach der Abreise meines Vaters kam aber ein Telefonanruf vom Außenministerium: »Wenn Sie morgen früh um 8 Uhr reisefertig sind, können auch Sie mitfahren.« Dazu habe ich mich bereit erklärt und trat die Reise an, ohne meinen Vater davon verständigen zu können. Tags darauf erhielt auch meine Mutter einen ähnlichen Anruf und trat ihre Reise sofort an, auch ohne Benachrichtigung an meinen Vater oder mich. Da die transsibirische Eisenbahn nur jeden zweiten Tag zwischen Moskau und Wladiwostok verkehrte, mussten wir getrennt, mit drei verschiedenen Zügen, fahren und trafen uns schließlich an Bord der »Annie Johnson« im Hafen von Wladiwostok. Bei einer Zwischenlandung des Schiffes in Manila erreichte uns die Nachricht vom deutschen Angriff auf Russland und vom Kriegsausbruch. Alfred Stern, der jüngere Bruder meiner Mutter, war schon Anfang 1941 mit Frau und Sohn nach Berkeley, Kalifornien, übersiedelt. Durch die schwedische Umschulung zum Metallarbeiter fand er dort sofort eine entsprechende Stelle und wohnte bis zu seinem Lebensende in Berkeley, wo auch sein Sohn Fritz, der eine amerikanische Frau geheiratet hatte, mit seinen drei Kindern und sieben Enkeln noch heute lebt. Die Schwester meiner Mutter sowie ihr älterer Bruder Eduard Stern und seine Familie blieben allerdings ihr Leben lang in Stockholm und wurden schwedische Staatsbürger. Mein Cousin Kurt heiratete eine schwedische Frau; durch seine drei Kinder und sechs Enkel pflanzte sich die Familie Stern in Stockholm fort. So war es ein Zufall der Weltgeschichte, dass eine 190

Otto Heinz mit 15 Jahren in Schweden, 1941 Hälfte meiner Familie in Schweden verblieb, während die andere sich in Kalifornien ansiedelte. Glücklicherweise hat so die ganze Familie den Krieg heil überstanden.

Ankunft in Amerika Die Fahrt über den Pazifischen Ozean verlief, mit Ausnahme eines Taifuns nördlich der Philippinen, ziemlich ereignislos, und wir landeten am 21. Juli 1941 in Los Angeles, von wo aus wir die Reise zu unserem endgültigen Ziel in Berkeley antraten. Abschließend möchte ich noch eine kurze Geschichte von der Reise erzählen: Bertolt Brecht, seine Frau Helene Weigel und seine zwei Kinder trafen in Moskau aus Finnland kommend ein und gesellten sich dann zu unserer Gruppe auf der Fahrt bis nach Amerika. Am Abend vor ihrer Abreise von Moskau nach Wladiwostok meldete sich ein Mann mit einem Koffer in ihrem Hotelzimmer. Er sei als Vertreter der staatlichen Bühnen der Sowjetunion gekommen, um Brecht die ihm zustehenden Tantiemen für die Aufführungen seiner Theaterstücke zu übergeben. Der Koffer war vollgestopft mit Rubelbanknoten, die aber im Ausland fast wertlos waren. Am nächsten Morgen gingen die Brechts auf die Suche nach einem leicht transportierbaren Wertgegenstand. Sie erstanden schließlich die einzige Ware, die diesen 191

Otto Heinz heute Wünschen scheinbar entsprach: eine elegante, lederne Prunkausgabe der gesammelten Werke von Marx und Engels, die mit den Brechts durch Sibirien und über den Pazifischen Ozean mitreiste. Am letzten Abend vor unserer Landung war unsere kleine Gruppe im Gesellschaftsraum versammelt, und man sprach darüber, was wohl in diesem neuen Land zu erwarten sei. Einer der Anwesenden legte es Brecht nahe, nicht mit den gesammelten Werken von Marx und Engels nach Amerika einzureisen: »Du könntest damit bei der Einreise Schwierigkeiten haben«, mahnte er Brecht. Worauf Brecht entrüstet entgegnete, dass er mit solch rein literarischen Werken nicht in Schwierigkeiten geraten würde. Der andere riet ihm trotzdem zur Vorsicht. Irgendwann nach diesem Gespräch und vor unserer Landung hat Brecht mitten in der Nacht die ganze Herrlichkeit ins Meer geworfen, wo sie noch heute liegt, wenn die Haifische sie nicht gefressen haben.

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Rückkehr Zum Abschluss noch eine kurze Bemerkung zu der schwierigen Frage der Rückkehr nach Österreich, welche sich auch für unsere Familie stellte. Ich begann mein Universitätsstudium 1945, heiratete 1948 – eine gebürtige Wienerin, die auch an der University of California in Berkeley studierte; der erste unserer drei Söhne kam 1954 auf die Welt, kurz nach Abschluss unseres Studiums und nach meinem Eintritt ins Berufsleben als Physiker. Eine Rückkehr nach Österreich haben wir niemals ernsthaft erwogen. Für meine Eltern lag die Sache ganz anders: Mein Vater dachte sehr ernstlich daran, nach Österreich zurückzukehren, war aber unsicher, welcher Empfang ihn dort erwartete. Ich glaube, dass er auf eine Einladung hoffte, die aber ausblieb. So verbrachten er und meine Mutter die Jahre bis zu seinem Lebensende, 1965, in Berkeley. Einige der Altersgenossen meines Vaters sind von Kalifornien zurückgekehrt, andere wieder nicht. Ich glaube, dass meine Generation, die in Amerika studiert hat, fast ausschließlich in Amerika geblieben ist, während die Generation meiner Eltern sich nicht so einheitlich verhalten hat und je nach den individuellen Umständen nach Österreich zurückgekehrt ist oder sich in Amerika dauerhaft angesiedelt hat.

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Tomas Böhm 1

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters Paul Böhm2

Ich bin aus Stockholm, wo ich 1945 geboren wurde. Mein älterer Bruder wurde 1942 ebenfalls dort geboren. Unsere Eltern, Paul und Klara Böhm, waren Flüchtlinge aus Österreich, sie waren Juden und Sozialdemokraten, die 1938 beziehungsweise 1939 nach Schweden kamen. Die ungarische Familie von Paul Böhm blieb während des Krieges großteils noch in Ungarn und viele sind von den Nazis ermordert worden. Pauls Vater, unser Großvater Vilmos Böhm, war ungarischer Arbeiterführer und Sozialdemokrat und floh bereits 1919 von Ungarn nach Wien, als mein Vater Paul 6 Jahre alt war. In Wien war Vilmos Abgeordneter der Sozialistischen Arbeiterinternationale und konnte dadurch Kontakte auch zu schwedischen Sozialdemokraten knüpfen. Somit war es Vilmos und seiner Familie möglich, 1938 nach Schweden zu kommen, nachdem er, seine Frau und Paul aus Bratislava geflohen waren. Paul und seine Eltern sahen sich gezwungen, bereits 1934 nach dem Mord an Dollfuß aus Wien zu fliehen, und lebten seitdem in Bratislava. Pauls Bruder überlebte während des Krieges in einem ungarischen Arbeitslager und kam später ebenfalls nach Schweden. Unsere Mutter Klara hatte eine große Familie in Wien. Fast alle flohen vor dem Krieg, nach England, Frankreich, Australien, in die USA, nach Venezuela, Shanghai und Schweden. Nur wenige von ihnen kehrten nach dem Krieg nach Wien zurück. 1979, vier Jahre vor seinem Tod, zeichnete mein Vater Paul Böhm seinen Lebensbericht auf, um die nachkommende Familie seine Geschichte wissen zu lassen. Ich selbst bin Arzt, Psychoanalytiker und Autor, begann mein Leben mit Deutsch als Muttersprache, spreche es aber heute selten. In einem meiner Bücher, »The Wiener Jazz Trio. Roman«3 habe ich Pauls Aufzeichnungen oft verwendet, um den politischen Kampf in Wien vor dem Krieg schildern zu können. Ich bin ein typischer Vertreter der zweiten Generation von Flüchtlingen. Wenn ich früher ein Fussballmatch zwischen Schweden und Österreich sah, wusste ich nicht, welche »meine« Mannschaft war. Waren es die Schweden, in deren Land ich wohnte und deren Sprache ich fließend sprach, oder 1 2

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Tomas Böhm starb am 30. Mai 2013. Das Manuskript von Paul Böhm ist bislang unveröffentlicht. Tomas Böhm hat diesen Beitrag auf Deutsch und Schwedisch verfasst. Die schwedischen Textpassagen wurden von Irene Nawrocka übersetzt. Die Fußnoten stammen von der Herausgeberin. Das Buch erschien 2000 im Czernin Verlag in Wien.

war es Österreich, wo die Wurzeln meiner Muttersprache, die Musik und Kultur meiner Eltern beheimatet waren? Paul und Klara waren 27 beziehungsweise 22 Jahre alt, als sie nach Schweden kamen. Sie waren Wiener durch und durch. Politisch sehr aktiv, gegen die Nazis eingestellt und jüdisch völlig assimiliert, fühlten sie sich als Österreicher sehr wohl. Dennoch war etwas Trennendes vorhanden. Beide wollten umittelbar nach dem Krieg zurück nach Wien, aber sie änderten ihre Pläne, weil in Österreich große Armut herrschte. Es war schwierig, Arbeit zu bekommen, und für Paul im Besonderen war es undenkbar, in einem Land zu wohnen, in dem er nicht wusste, ob jemand während des Krieges Nazi gewesen und es möglicherweise noch immer war. Er hatte seine Ausbildung an der Technischen Hochschule in Wien abbrechen müssen, um zu fliehen. Danach war er in Schweden einige Jahre in einer Fabrik tätig und fand schließlich eine Anstellung als Vertreter verschiedener österreichischer Industrieunternehmen in Schweden. Nach einer zeitlichen Distanz und auch im Zuge seiner Arbeit besuchte er Österreich später häufig. Einige Jahre vor seinem Tod bekam er einen Brief mit einer Einladung zu einem Maturatreffen in Wien. Er war wütend, weil ein ehemaliger Nazi, Herr G., die Einladung geschrieben hatte. Paul schrieb an die ganze Klasse, was während des Krieges geschehen war, was Herr G. als Nazi-Spion getan hatte, welche Klassenkameraden ermordet worden waren, darunter Sozialisten und Juden, und welche Schul- und Klassenkameraden daran Schuld trugen. Herr G. antwortete persönlich: »Wir waren alle ja jung und müssen diese Jugendsünde hinter uns lassen können.« Die Maturafeier fand tatsächlich statt, aber Pauls Brief hat die Zahl der Teilnehmer doch ein wenig reduziert. Klara hat zeit ihres Lebens Österreich mehr vermisst als Paul. Sie richtete ihr gemeinsames Haus auf dem Land in Schweden mit österreichischen Bildern an der Wand ein, mit Motiven wie dem Großglockner oder dem Stephansdom. Sie kleidete sich ab und zu in einem Dirndl und sie kaufte sogar Lederhosen für ihre Söhne, als wir klein waren. Ich glaube, sie hat großteils verdrängt, was ihr geschehen war. Sie hatte auch noch Freundinnen in Wien gehabt, die während des Krieges in Österreich geblieben waren. Im Stockholmer Vorort, in dem wir wohnten, Solna, gab es eine kleine österreichische Flüchtlingsgemeinde. Wir wussten immer, wer aus Österreich kam und wer die deutschen Flüchtlinge waren, die »Pifkes«, die in einem anderen Ortsteil von Solna wohnten. So stark und auch merkwürdig war das Gruppenzuhörigkeitsgefühl unter den Flüchtlingen, dass alle ihren eigenen Kreis hatten. Mein Vater Paul schrieb in seinem Bericht: Wie immer und überall bildete sich um Vater Böhm bald ein Kreis, der sich regelmässig jeden Nachmittag bei uns in der Wohnung traf. Dieser engste Kreis bestand aus unserem Freund Hans Menzl, der schon in Prag mit uns war, sowie auch Franz Novy und Dr. Richard Fuchs. Franz Novy war in 195

Wien vor dem Februaraufstand 1934 Obmann der Bauarbeitergewerkschaft. Richard Fuchs war Jurist der österreichischen Gewerkschaften. [...] Auch ein jüngerer Freundenkreis [...] wie Ludwig und Malvine Schnabl, Ernst und Otto Kronfeld, Gretl Marosi und Heini und Hilde Bauer. Dazu kamen auch Alois und Marianne Reitbauer. (Alois wurde später ein hoher Beamter im österreichischen Außenministerium). Ferner gehörte auch Bruno Kreisky zur Gruppe, wie auch Fredl und Sopherl Stern. Auch Egon Breiner gehörte zu uns, leitender Funktionär der illegalen Partei, der einzige jüdische Schmied, den ich jemals gekannt habe. Er ist auch in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Er erzählte uns später, dass die Partei ursprünglich Bruno Kreisky ein Affidavit für die USA verschafft hatte. Bruno Kreisky hat aber nach eingehenden Beratungen mit seinen Genossen und seiner späteren Frau Vera auf dieses Affidavit verzichtet und an Egon Breiner abgetreten.4 So kam dieser nach Los Angeles, mit demselben Transport, mit dem auch Bert Brecht fuhr. Beide blieben in Los Angeles und wurden innige Freunde. In der »Kleinen Internationalen« in Stockholm trafen schwedische Sozialdemokraten mit sozialistischen Flüchtlingen aus Europa zusammen. Von der internationalen Seite waren die führenden Mitglieder Willy Brandt, Bruno Kreisky, Vilmos Böhm, der Sudetendeutsche Ernst Paul, Martin Tranmæl aus Norwegen und Stefan Szende aus Ungarn. Diese Gruppe hat Klaus Misgeld in seinem Buch »Die ›Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten‹ in Stockholm 1942 – 1945« beschrieben.5 In seinem Bericht erzählt mein Vater Paul von Otto Binder: Unser Freund Otto Binder kehrte erst zwei Jahre nach Kriegsende nach Österreich zurück, wobei er einstweilen seine Familie in Schweden zurückließ. Sein Schicksal ist wert, ausführlich geschildert zu werden. Er war vor dem Krieg Beamter der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt, gleichzeitig führender Funktionär der illegalen Revolutionären Sozialisten. Während des Krieges ließ er sich in Schweden zum Metallarbeiter umschulen und arbeitete dann als Dreher. Er war in brieflichem Kontakt mit dem früheren Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung, der sich auch in der Emigration6 befand. Bei einem unserer gemeinsamen Radausflüge mitten im Krieg nach Solsidan bei Saltsjöbaden (es war zu dem Zeitpunkt, als er als Dreher arbeitete) erzählte mir Binder, dass er beabsichtige, bald nach dem Kriegsende nach Österreich zurückzukehren, um als rechte Hand des alternden Liebermann bei der Versicherungsanstalt zu arbeiten. Nach Liebermanns Pensionierung würde er sein Nachfolger als Generaldirektor werden. 4 5 6

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Es gibt unterschiedliche Erinnerungen, an wen Bruno Kreisky sein Affidavit weitergab. Vgl. auch den Beitrag von Helena Lanzer-Sillén in diesem Band. Das Buch erschien 1976 bei Almqvist & Wiksell in Uppsala. Norbert Liebermann (1881 – 1959) war in die USA emigriert und übernahm 1947 die Leitung der Wiener Städtischen Versicherung.

Paul Böhm im Alter von ca. 65 Jahren Da dieses Gespräch mitten im Krieg stattfand, als für uns die Frage des Überlebens wichtiger war als Zukunftsprobleme, hielt ich seine Pläne für fast krankhafte Phantasien und wunderte mich, dass dieser kluge und klar denkende Mann sich solchen Träumen hingab. Nach dem Krieg arbeitete er zwei Jahre bei dem Versicherungsunternehmen Folksam in Stockholm, dann kehrte er nach Wien zurück, wo er Generalsekretär der Wiener Städtischen Versicherung, also die rechte Hand des Generaldirektors, wurde. Generaldirektor Liebermann starb nach einigen Jahren und Otto Binder wurde zum Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung ernannt. Es kam also genau so, wie er es mir als Metallarbeiter mitten im Krieg auf Solsidan geschildert hatte. Er ist ein guter persönlicher Freund von uns geblieben, auf den wir uns in jeder Situation verlassen können. 197

Klara und Paul Böhm zum Zeitpunkt ihrer Flucht nach Schweden Im Herbst 1946 fuhr Paul Böhm nach Prag, Budapest und Wien, um die Möglichkeiten einer Rückkehr zu eruieren. In seinen Erinnerungen schreibt er: In Wien hungerte man noch zu diesem Zeitpunkt [...], im Café Demel am Kohlmarkt konnte man uns nur Bohnensuppe und Bohnenmarmelade anbieten. [...] Eine Anzahl unserer Freunde hatte leitende Positionen beim Staat, in der Administration und in der Wirtschaft. Karl Waldbrunner war österreichischer Botschafter in Moskau, wurde später Verkehrsminister, Bruno Pittermann, Franz Hintermayer, Paul Schärf, Franz Novy, Hans Menzl hatten hohe Posten [...]. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich wahrscheinlich noch die Möglichkeit gehabt, in Österreich eine gute Position zu erhalten. Dazu hätte ich jedoch sofort 198

zurückkehren müssen. Die Verantwortung, Kinder in das hungernde Wien zu bringen, wollte ich jedoch nicht auf mich nehmen. Ich wollte mich auch unter keinen Umständen von der Familie auch nur für kurze Zeit trennen. Es blieb uns also keine andere Wahl, als uns damit abzufinden, in Schweden zu bleiben. [...] Wir haben untereinander viel diskutiert, ob wir damals richtig gehandelt haben. Wir wissen heute, dass wir in Schweden niemals richtig Wurzeln schlagen können. Je mehr die Jahre vergingen, desto mehr entwurzelt fühlten wir uns. [...] Es ist aber ebenso fraglich, ob wir in Wien unsere Wurzeln, die wir in Schweden nicht haben, wiedergefunden und uns eingelebt hätten. Ein Teil unserer Freunde, die nach Kriegsende zurückgekehrt sind, haben bis heute ihren persönlichen Umgang fast ausschliesslich mit früheren Emigranten. Es scheint das Schicksal jenes Teiles unserer Generation zu sein, der in der Jugend aus der Heimat vertrieben worden ist, für alle Zukunft wurzellos zu sein und zu bleiben. Ich persönlich glaube, dass mein Vater Paul die Traumatisierung durch die Vertreibung – eine Periode von mehreren Jahren – unterschätzt hat, als sich die Heimatstadt für ihn, Klara, ihre Familien und Freunde in einen Ort tödlicher politischer und antisemitischer Verfolgung verwandelte. Er konnte auch aus diesem Grund nicht zurückkehren. Seine Familie war schon früher, als er ein Kind war, aus politischen Gründen zur Flucht aus Ungarn gezwungen worden, und noch einmal zwanzig Jahre später aus Österreich – das war einmal zu viel. Seine Gedanken nach seinen Besuchen in Österreich waren immer voll von Misstrauen gegenüber Menschen seiner eigenen Generation. Was haben sie im Krieg gemacht? Wahrscheinlich ziehen alle Flüchtlinge aus diesem Erlebnis ihre eigenen Schlussfolgerungen. Meine persönlichen Erfahrungen mit Flüchtlingen als Patienten haben mich auch überzeugt, dass man nicht länger als fünf Jahre Emigrant sein darf, um wieder in seine Heimat zurückzukehren. Bleibt man länger, wird man in beiden Ländern wurzellos, wie Paul es beschreibt. Die Shoah und ihre Folgen beeinflussen somit alle, die sich – bewusst oder auch unbewusst – als jüdisch empfinden. Es gibt eine Vielzahl jüdischer Identitäten in Europa, sowohl bei den Juden Israels als auch in anderen Teilen der Welt. Doch die Shoah existiert immer als latenter Teil ihrer Identität, wie eine vertikale Kluft innerhalb einer Persönlichkeit, die oftmals im Zuge eines extremen Traumas zutage tritt. Das Trauma ist wie ein schlafender, unterschwelliger Teil der Persönlichkeit, der durch Trigger und gewisse Zündsignale, wie einen brüsken Tonfall oder auch das Kläffen eines Schäferhundes, hervorgerufen werden kann. Meine Ehefrau und Fachkollegin Suzanne Kaplan hat diese Verhaltensmuster bei Überlebenden der Sho-

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Paul Böhm an seinem Arbeitsplatz in einer Radiofabrik, ca. 1939 ah in ihrem Buch »Wenn Kinder Völkermord überleben«7 als »Affektpropeller« beschrieben. Manche Menschen werden von starken Gefühlen überrollt. Anderen gelingt es, diese erfolgreich zu verdrängen oder zu kontrollieren. Manche erleben sie als psychische Schmerzen – sogar noch in der zweiten Generation. Gleichzeitig sind sie nicht in der Lage, ihren Gefühlen und Schmerzen Ausdruck zu verleihen oder ihren Ursprung zu erfassen. Häufig tauchen in der zweiten Generation Gefühle auf, die diese negiert oder mit denen sie die Auseinandersetzung scheut. Die traumatisierten Eltern sind oft derart mit ihrem eigenen Trauma beschäftigt, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Kindern beim Erkennen und Aufarbeiten ihrer traumatischen Erlebnisse im Alltag beizustehen. Wir alle, die wir uns als Juden fühlen, haben im Bezug auf unsere verletzbare jüdische Identität diese sensible Affektregulierung – wie alle Menschen nach traumatischen Erlebnissen. Diese Affekte oder Gefühle können auch, um sie zu kontrollieren und auszulöschen, in einer Rachespirale münden, als ein Bestandteil jener Mechanismen, die hinter Rachegefühlen ste-

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Suzanne Kaplan: Wenn Kinder Völkermord überleben: über extreme Traumatisierung und Affektregulierung. Gießen: Psychosozial-Verlag 2010.

hen und nach extremen Traumata ablaufen. Das haben wir – Suzanne Kaplan und ich – im Buch »Rache«8 beschrieben. Man kann sagen, dass alle, die sich als Juden fühlen, sensibel für alles sind, das man als antisemitischen Angriff verstehen könnte. Die Empfindungen eines Menschen schwanken je nach persönlicher Entwicklung und den äußeren Umständen. Wir können zum Beispiel feststellen, wie ehemalige Jungkommunisten aus Polen, die nach Schweden geflohen sind, wieder »zu Juden werden«. Als Kind von Flüchtlingen identifiziert man sich mit jedem einzelnen Detail aus dem Familienleben. Wie ernst der Papa aussieht, wenn er sich rasiert, wie oft die Mama Kopfschmerzen hat, welche Bilder an der Wand hängen, welche Freunde die Eltern haben, welche Gerichte man isst, welche Bemerkungen dazu fallen, wohin man reist, was man vermeidet – wie Menschenansammlungen oder allzu viele Betrunkene. Wir identifizieren uns ganz besonders mit den Empfindungen und Emotionen der Eltern. Das Jüdische wurde in meiner Familie als gefährlich, traumatisch empfunden, wie die Bereitschaft zur Flucht und Sorge. Erst als junger Erwachsener entdeckte ich meine jüdische Identität als einen potenziell positiven Teil von mir, obwohl mir das Wissen darüber fehlte und ich es nachholen musste. Der Nationalsozialismus erinnerte meine Eltern an ihr Judentum, obwohl sie sich als Jugendliche in einer Phase ausklingender Assimilierung befunden hatten, in der vor allem ihre politische Identität zählte. Im Alter in Schweden kam ihre jüdische Identität zurück und meine Mutter sang wenige Wochen vor ihrem Tod in einem schwedischen Krankenhaus jiddische Lieder aus ihrer Kindheit. Aber die Sensibilität war auch davor spürbar vorhanden, sobald die Sprache auf etwas Jüdisches kam: Israel, bekannte Juden in einem positiven oder negativen Zusammenhang und besonders antisemitische Bemerkungen. Ich habe eine ähnliche Sensibilität übernommen, die ich auch bei Freunden wahrnehme, die sich gleichfalls als Juden sehen. Dieses Übergreifende, die Übertragung von einer Generation auf die nächste, verstehe ich zunehmend als einen Prozess der Identitätsfindung. Ich denke, wir unterschätzen die Kraft der kindlichen Identifikation mit den Eltern, besonders in solchen zentralen Punkten wie ihrem Selbstverständnis. Meine Eltern kamen also 1938 beziehungsweise 1939 nach Schweden und lebten hier bis zu ihrem Tod im Jahr 1983 beziehungsweise 2004. Schweden war in vielerlei Hinsicht ein fremdes Land für sie, doch ihre sozialdemokratischen Freunde glichen diese Unterschiede etwas aus. Ein Großteil ihres Freundeskreises waren allerdings österreichische oder deutschsprachige, häufig jüdische Flüchtlinge. Sie lernten schnell Schwedisch, fanden eine Wohnung und Arbeit, Paul in einer Radiofabrik, Klara als Kindermädchen 8

Tomas Böhm, Suzanne Kaplan: Rache. Zur Psychodynamik einer heimlichen Lust und ihrer Zähmung. Gießen: Psychosozial-Verlag 2012.

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und später als Vorschullehrerin. Das alles machten Flüchtlinge zu dieser Zeit eigenständig, ohne besondere Hilfe seitens der schwedischen Behörden. Pauls politische Kontakte verhalfen ihm auch zu einer Arbeit bei der britischen Botschaft, bei der er deutsche Radiosender hörte. Auf diese Weise verfolgte er täglich den Kriegsverlauf. In Schweden begegnete ihnen kein offener Antisemitismus oder Ausländerfeindlichkeit. Die Bevölkerung war höflich und freundlich zu den Flüchtlingen. Man wusste, dass viele vor dem Nationalsozialismus geflohen waren. Vor allem in den sozialdemokratischen Kreisen, in denen meine Eltern verkehrten, zeigte man besonderes Verständnis. Sie hatten kaum noch jemanden in Österreich außer ein paar nicht-jüdischen Freunden, die geblieben waren. Klaras Mutter hatte sich ursprünglich auch entschlossen zu bleiben und kam erst 1942 wie durch ein Wunder lebend mit einem Zug, der quer durch Deutschland fuhr. Sie wurden schwedische Staatsbürger, was sie nochmals in ihrem Entschluss zu bleiben bestärkte. Als Zeichen dafür, dass sich von nun an ihre Wurzeln in Schweden befanden, kauften sie sich 1951 ein Anwesen außerhalb von Stockholm. Heute habe ich nur wenig Beziehung zu Österreich. Ich reise gelegentlich aus beruflichen Gründen nach Wien, zu einem Kongress oder einer Tagung. Ich bin jedesmal verblüfft, wie schnell dann mein Deutsch zurückkommt. Ich suche Plätze auf, von denen meine Eltern öfters gesprochen hatten, und versuche nachzuempfinden, wie sie diesen Ort in den wenigen Jahrzehnten, in denen sie hier lebten, als »Zuhause« empfunden hatten. Ich habe auch einige gute Freunde, die in Wien leben, doch meine Beziehung zu ihnen ist stärker durch unsere Freundschaft geprägt als durch die Tatsache, dass sie Österreicher sind. Ich selbst empfinde mich mehr als schwedischen Juden als in irgendeiner Weise als Österreicher. Vor vielen Jahren, als Jörg Haiders Partei erstmals mit in der österreichischen Regierung vertreten war, lud das schwedische Fernsehen mich als Kind von Exilösterreichern und Psychoanalytiker in eine Nachrichtensendung ein, um dieses Wahlergebnis zu kommentieren. Ich war sehr empört, wie die Österreicher wieder einen fremdenfeindlichen Politiker wählen konnten, und hatte dabei die Gelegenheit, dies den anderen etwas neutraler eingestellten österreichischen Gästen im Studio zu sagen. Ich empfand es als befremdlich und etwas komisch, als sich der Moderator für unser Kommen bedankte und dabei von »unserem Land und unserer Gesellschaft« sprach; es fühlte sich nicht nach »meinem« an! Vermutlich hat diese komplizierte Identifikation auch meine Berufswahl mitbestimmt. Ich wollte ursprünglich Lehrer werden, ein sehr internationaler Beruf. Man kann seinen Beruf mitnehmen, falls man in ein anderes Land flüchten muss. Meine Wahl, Psychoanalytiker zu werden, hat teilweise mit Freud und Wien zu tun, aber teilweise auch damit, dass ich verstehen wollte, welche Folgen all diese Schwierigkeiten in der Kindheit hatten. 202

Als Fachbuchautor habe ich über Liebesbeziehungen geschrieben, aber auch mehrere Bücher über Vorurteile, Rassismus und Fundamentalismus – Themen, die offensichtlich auf das Schicksal meiner Familie zurückzuführen sind. Meine ganz persönliche jüdische Identität ist nicht religiös, es ist mehr die Zugehörigkeit zu anderen Juden in der Diaspora, wobei die Tradition das Bindeglied darstellt. Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Patienten in der Psychotherapie, Psychoanalyse und Paartherapie, für die eine solche Behandlung zielführend erscheint. Tomas Böhm, 2012 Im Laufe der Zeit nahm allerdings die Zahl an Personen mit Fluchtund Migrationserfahrung und so genannten »Doppelidentitäten« immer mehr zu. Vielleicht liegt die Erklärung auch darin, dass ich mit solchen Themen arbeite, bei denen ich mich besonders kompetent fühle. Zum Schluss noch ein Ausdruck der Zufriedenheit, dass wir heute, gerade hier9, vier Personen sind, die alle zur zweiten Generation österreichischer und jüdischer Flüchtlinge aus Schweden zählen und sich seit der Kindheit kennen: Mein Bruder Stefan, unsere Freunde Kurt Stern aus Stockholm und Karl Marosi aus Kopenhagen. Und gestern waren wir sogar zu fünft, als wir uns mit Margit Fischer getroffen haben. Zum ersten Mal waren wir alle fünf Freunde aus der Kindheit in Schweden gleichzeitig in Wien und am selben Platz. Das ist ein kleiner Sieg über die destruktive europäische Geschichte der letzten 70, 80 Jahre!

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Gemeint ist der Tagungsort in der schwedischen Residenz in Wien am 18. Juni 2010.

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Lutz Popper

(Vertreibung – Exil –) Rückkehr

Zur Remigration. Ein persönlicher Bericht Otto Binders Rückkehr aus dem schwedischen Exil, im Herbst 1949, hat ganz eigene Facetten zum grundsätzlichen Problem der Remigration beizutragen. Die Rückkehr nach Österreich, in jenes Land also, das einen vertrieben, ja verjagt hatte, geschah aus unterschiedlichen Ursachen und vor ganz komplexen, oft nicht vergleichbaren Hintergründen. Je nach persönlicher Situation am Ende dieser für Juden mörderischen Phase, jener des Dritten Reiches bis 1945, interpretiert sie daher bis heute jeder Betroffene anders. Warum man das Land 1938/39 überhaupt verlassen hatte, darüber musste man niemals lange nachdenken. Warum man wieder nach Österreich zurückgekommen war, ist aber schon weniger durchsichtig, manchmal auch für die Rückgekehrten selbst schwer erklärbar. Binders Geschichte ist dafür ein gutes Beispiel. Parallelen und Gegensätze Vor 60 Jahren habe ich Otto Binder kennen gelernt, primär als Freund meiner Eltern. Unsere Familien hatte damals das Schicksal der Vertreibung aus Österreich und der Rückkehr in dieses Land zusammengeführt, nachdem beide in der Per-Albin-Hansson-Siedlung1, im 10. Wiener Gemeindebezirk, von der Gemeinde Wien Wohnungen zugeteilt bekommen hatten. Der Gleichklang unserer Familiengeschichten war auch insofern groß, als hier zwei jüdische, mit jeweils christlichen Frauen verheiratete Männer zusammentrafen, deren Kinder teils im Exil geboren waren. Beide hatten vor dem Krieg keine engere Beziehung zu einer jüdischen Gemeinde gehabt, beide stammten aus liberalen, säkularen Familien. Was aber unsere Familien schon einmal ganz wesentlich unterschied, waren die unvergleichbaren Asyldestinationen, aus denen wir kamen: hier das kultivierte Schweden in Europa, da die Dritte Welt Boliviens im Herzen Südamerikas. Das bedeutete natürlich, bei aller strukturellen Vergleichbarkeit unserer Schicksale, insbesondere für die Erwachsenen doch auch ganz beträchtliche und vielfältige Unterschiede im Bezug auf die Berufe, Erlebnisse und Erfahrungen.

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Diese Wohnhausanlage am Stadtrand in Wien-Favoriten wurde 1951 in Erinnerung an den schwedischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson und die Hilfe Schwedens nach dem Zweiten Weltkrieg benannt. (Anm. der Hg.)

Jene etwa 6.0002 Juden, die in den Jahren nach der Hitlerdiktatur nach Österreich zurückgekehrt sind, kamen in ein Land, das ihnen auch nach Ende des Krieges nicht unbedingt freundlich begegnete, das sie vor allem gar nicht dazu eingeladen hatte, wieder hierher zu kommen. Ganz im Gegenteil, war es in den ersten zwei bis drei Jahren nach Kriegsende – zum Teil wohl auch aus wirtschaftlichen Gründen – nur schwer möglich, ein Visum zu bekommen und die Rückkehr zu organisieren (die für Bolivien zuständige Behörde etwa befand sich in Washington). Und warum sind von 130.0003 Vertriebenen nur 6.000 zurückgekommen? Ja, warum sind überhaupt Menschen, die man gedemütigt und beraubt hatte, deren Verwandte man teilweise ermordet hatte, jemals wieder in die Heimat der Täter zurückgekommen? Genügte es, dass es die eigene Heimat gewesen ist, nach der man sich sehnte? Wieso haben immerhin einige Tausend die bürokratischen Hürden überwunden, die Österreich in den ersten Nachkriegsjahren der Rückwanderung in den Weg gestellt hatte? Es gibt viele Fragen und unterschiedliche Antworten.

Der Wiedereinstieg Otto Binder beschreibt in seiner Autobiografie »Wien – retour«4 seine Auseinandersetzung mit dem Thema »Rückkehr«. Er legt dabei Wert darauf, seine Interpretation nicht immer wörtlich, sondern als Mittel zum Verständnis der europäischen Katastrophe zu sehen, die auch sein Leben entscheidend geprägt hatte. Fakt ist, dass sein ehemaliger Chef bei der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt, Dr. Norbert Liebermann, nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ab 1947 wieder in der Versicherung tätig war und Binder 1949 in diese zurückholte. Letzterer hatte übrigens, wie auch mein Vater, zu jenen Emigranten gehört, die in ihrem Exilland eine Chance im eigenen Beruf bekommen hatten, wenn auch Otto in den ersten Jahren in Schweden in der ihm fremden Metallbranche tätig war. Im März 1947 kam Binder erstmals nach dem Krieg zu Besuch nach Wien. Was ihm damals am meisten auffiel, schreibt er in seinem Buch und erzählte er, waren der »Braindrain« und der Verlust an kultureller Identität. Er sprach von einer »schrecklichen Kleinkariertheit«, von »Niveaulosigkeit« und schließlich gar von »geistigen Ruinen«, die auf ihn mehr Eindruck gemacht hätten als die baulichen. Irreparabler schienen ihm jedenfalls die ideellen Schäden. Und er apostrophierte sie zugleich als eines der wichtigen

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Vgl. Helga Embacher: Jüdisches Leben nach der Schoah. In: Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Gerhard Botz u. a., 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Wien: Czernin Verlag 2002, S. 358. Vgl. Probleme, Perspektiven, Ergebnisse. Einleitung der Herausgeber. In: Ebd., S. 326 und 336. Otto Binder: Wien  – retour. Bericht an die Nachkommen, 3., ergänzte Auflage, Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2010.

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Lutz Popper an Bord der Orbita, 1939 Motive für seine Rückkehr. Das Gefühl habe ihn geleitet, etwas wiederaufbauen zu können, es gar zu müssen. Österreich war seine Heimat geblieben. Gerade als die Familie Binder zum zweiten Mal Nachwuchs erwartete, 1948, wurde die Rückkehr nach Österreich durch die unsichere politische Lage wieder in Frage gestellt. Doch Mitte 1949, nach einem Wien-Aufenthalt mit einem Besuch bei der Wiener Städtischen, bekam Otto Binder vom damaligen Generaldirektor Dr. Liebermann das konkrete Angebot, sich zu dessen Nachfolger aufbauen zu lassen. Er entschied sich, gemeinsam mit seiner Frau Anni, für die Rückkehr. Als wohlbestallter leitender Mitarbeiter der schwedischen Versicherungsgesellschaft Folksam hat er zwar weiterhin das Risiko gesehen, aber als eines eingeschätzt, das einzugehen er bereit war. Diese Entscheidung hätte er, wie er später schreibt, schon damals als die große Chance seines Lebens gesehen; und das Risiko schien ihm, mit einer Rückkehrmöglichkeit zu Folksam abgesichert, jedenfalls akzeptabel. Es gab nicht viele Rückkehrer, denen sich eine vergleichbar günstige Wiedereinstiegschance in ihren alten Beruf aufgetan hätte. Denn die Rückkehr aus der Rückkehr, wieder hin in den sicheren Job im Ausland, war nur in Ausnahmefällen eine Option.

Aufarbeitung der Vergangenheit In den ersten ein, zwei Jahren nach Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes hatten die Vertriebenen vielfach noch gar nicht wirklich begriffen, was da Schreckliches in der Heimat Europa mit den Juden, mit den nächsten Verwandten geschehen war. So sickerte auch in Österreich erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte das ganze Ausmaß der Verbrechen durch und ist selbst bis heute nicht aufgearbeitet. Auch mein Vater hat erst nach dem Jahr 1970, am Ende seines Berufslebens, damit begonnen, seine Erin206

nerungen aus der Zeit vor dem Krieg, die er verdrängt und vergraben hatte, wieder ins Bewusstsein zu entlassen. Er begann zu recherchieren, was denn mit seinen Verwandten geschehen wäre, wo sie sich, so sie am Leben waren, aufhielten. In dieser Phase der Rückkehr und der Versuche einer Reintegration in die österreichische Gesellschaft haben noch nicht viele darüber reflektiert, welche Konsequenzen Vertreibung und Beraubung für das weitere Leben haben könnten; schon gar nicht, welche Auswirkungen sie auf die nächsten Generationen haben sollten. Das Anknüpfen an die Jahre vor 1938, im Beruflichen wie im Privaten, war durch die vorangegangene Traumatisierung jedenfalls wesentlich erschwert. Meinen Vater belastete der Gedanke, was denn der eine oder andere seiner ehemaligen Kollegen in der Nazizeit getan, welche Funktion er in diesem Verbrecherregime gehabt hätte. Einige dieser Unergründlichen hatten ihn nämlich 1948 in Österreich plötzlich ebenso herzlich willkommen geheißen, wie ihn das Naziregime zehn Jahre davor rücksichtslos verstoßen hatte. Ganz abgesehen davon, dass auf diese Art verlorene Jahre ja durch nichts aufgewogen werden können, war die Wiederherstellung der eigenen, insbesondere der jüdischen Identität, durch das Verhalten des Umfeldes, in das man nun geraten war, auch nicht leichter geworden. Für Kinder, welche im Gegensatz zu ihren Eltern die Vertreibung nicht in vollem Bewusstsein aller Konsequenzen erlebt hatten, war es sicher leichter, in der neuen Heimat Boden unter die Füße zu bekommen – in der Regel umso eher, je später sie nach dieser Zeit des Exils geboren worden waren. Mein Bruder, bei unserer Rückkehr 12 Jahre alt, und ich fast 10, hatten in Bolivien unter der nicht zu verbergenden dauernden Sorge unserer Eltern um Österreich gelitten, das Verlassen dieser unserer Heimat aber als Verlust erlebt. Unsere Integration in Österreich dauerte Jahrzehnte, und bis heute verbinden uns mit Bolivien heimatliche Gefühle. Meine beiden in Bolivien geborenen Schwestern haben keinen Bezug zu diesem Land. Jobs gab es in den Jahren nach dem Krieg reichlich, wenn auch nicht für alle so gute und zukunftsträchtige wie für Otto oder meinen Vater, der ja auch gleich als Arzt wieder Arbeit gefunden hatte. Natürlich konnte nicht jeder wieder im angestammten Beruf reüssieren. Wer aber gesund und flexibel genug war, alles zu nehmen, was angeboten wurde, hatte doch eine größere Auswahl, als es sie heute gibt. Für meinen eineinhalb Jahre älteren Bruder und für mich kann ich sagen, dass uns die Rückkehr nach Österreich, das Verlassen Boliviens also, welches de facto unsere gefühlte Heimat gewesen war, vor nicht unbeträchtliche emotionale Probleme stellte. Wir haben in den ersten Jahren in Wien eigentlich nur davon geträumt und geredet, wann und unter welchen Bedingungen wir endlich wieder nach Hause – das heißt: zurück nach Bolivien – könnten. Wir erlebten das Trauma vom Verlust der Heimat in der Tat erst in dem Augenblick, als wir Bolivien verließen, als wir das Land hinter uns lassen mussten, in dem sich unser Bewusstsein einer bolivianischen 207

Familie Popper in Bolivien, 1946 Identität entwickelt hatte. Das gilt naturgemäß für Otto Binders Kinder, die ja doch jünger waren als wir, nicht in so hohem Maß.

Heimat – Verlust Wir waren – im Gegensatz zu unseren Eltern – nicht Jahre vor unserer Einreise in Österreich einer lebensbedrohlichen politischen Entwicklung entkommen, sondern wir sind einfach nur in ein uns fremdes, durch Zerstörung und von Ruinen gezeichnetes Land verpflanzt worden, mit rauem Klima und einer uns nicht wirklich geläufigen Sprache, in ein Land, das uns mehr als fremd, in manchen seiner soziokulturellen Facetten unheimlich war, ein Land, das wir damals insgesamt als ungemütlich, lebensfeindlich, ernst und unfreundlich erlebten. Und wir konnten schon gar nicht nachvollziehen, was das Motiv unserer Eltern gewesen war, ausgerechnet hierher zurückzukehren. Sie hatten ihre durch den Nationalsozialismus gebrochene Biografie hier von Neuem angefangen beziehungsweise fortgesetzt, offenbar ohne zu ahnen, dass es auch für sie keine hürdenfreie Kontinuität geben konnte. Wir Kinder waren jedenfalls nicht – wie die Familie Binder – aus einem Land hierher gewechselt, das Österreich gesellschaftlich, kulturell und klimatisch doch recht ähnlich war. Nein, wir waren nach einer Kindheit in einer ganz anderen, der Dritten Welt, hierher verpflanzt worden. Unsere Eltern waren aber ebenfalls – was sie bis zu ihrem Lebensende verdrängten oder zumindest vor uns Kindern verbargen – nie wieder vollkommen frei gewesen. Meine Mutter sagte an ihrem Totenbett, sie hätte ein glückliches, ein erfülltes Leben gehabt, was sie aber gleich mit dem Zusatz relativierte, dass sie Gott dafür dankbar wäre, dass er alle ihre Lieben am Leben erhalten habe. Das war, wie wir rückblickend aus ihren Reflexionen zur 208

Welt von heute zu verstehen glauben, das große Plus in ihrem Leben: Ihre Familie war nicht ermordet worden. Heute wissen wir um die Gründe, die unsere Eltern bewogen hatten, wieder nach Österreich zurückzukommen. Einer der entscheidendsten war wohl, dass unsere mütterliche Großmutter und die Schwester unserer Mutter den Krieg in Wien überlebt hatten. Aber natürlich auch der Umstand, dass eine weitere soziale, schulische oder gar universitäre Entwicklung und Ausbildung für uns vier Kinder in Bolivien kaum vor Ort möglich gewesen wäre. In dem Dritte-Welt-Land Bolivien standen unsere Eltern also de facto vor der Alternative, zurück in die Heimat zu gehen oder noch einmal den Versuch zu machen, in die USA zu übersiedeln. Letzteres aber war, nach Vaters Erlebnissen in den Jahren 1938/39 mit dem amerikanischen Konsulat in Zürich, namentlich dessen inhumaner, gezielter Hintertreibung unserer Einreise in die Vereinigten Staaten, für unsere Eltern letztlich nur mehr zweite Wahl. Der Versuch meines Vaters, ein Visum für die USA zu ergattern, hatte im Frühjahr 1938 in Wien begonnen und war während seines Aufenthaltes in der Schweiz fortgesetzt worden. Dort wurde unserer Familie trotz eines Affidavits, der Bürgschaft eines New Yorker Bankiers, vom amerikanischen Konsul Maurice Altaffer das Visum verweigert. Nach dem Krieg, schon in Österreich, erfuhren wir, dass das State Department, aufgrund von Protesten der amerikanischen Standesvertretungen, den Zuzug zu vieler jüdischer Ärzte verhindert hatte.

Fremde Heimat Zurück in Österreich, in Wien, war aber von dem nicht mehr viel übrig, das einmal die weit verzweigte väterliche jüdische Familie gewesen war. Unser Großvater väterlicherseits, der wegen seines Alters in Wien zurückgeblieben war, verstarb hier 1940, während seine beiden Söhne in Bolivien beziehungsweise Brasilien eine Existenz zu gründen suchten. Für nicht mehr arbeitsfähige Juden gab es seit dem »Anschluss« keine Möglichkeit, vor Kriegsausbruch noch aus Österreich hinauszukommen. Und nach Kriegsausbruch gab es von Monat zu Monat für immer weniger der etwa 105.0005 jüdischen Bürger die Chance auszureisen; ab 1941 schließlich für keinen mehr von ihnen. Die Freunde unserer Eltern waren bei unserer Rückkehr nach Wien genauso von der Bildfläche verschwunden wie die einstmalige Verwandtschaft. Somit waren meine Eltern in ein Land zurückgekehrt, das auch ihnen fremder geworden war, als sie sich das vor ihrer Remigration hatten vorstellen können. Zurückgekehrte Juden saßen plötzlich inmitten einer Nachkriegsgesellschaft, die sie wieder zuerst einmal als Juden sah, als Privilegierte gar, die den Schrecken des Krieges entkommen waren. Und die einst vertraute Umgebung, der Verwandten- und Freundeskreis, damit auch die existenziel-

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Vgl. Gerhard Botz: Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung. In: Eine zerstörte Kultur, S. 332.

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Familie Popper im Lainzer Tiergarten in Wien, 1948 len Voraussetzungen, waren eben nicht mehr dieselben wie vor der Vertreibung aus der geliebten Heimat. Das, was einmal meines Vaters jüdische Identität gewesen war, seine soziale Kompetenz, seine Intellektualität und sein Weltbürgertum, gab es in dem Maße nicht mehr. Das war es wohl auch, was Otto Binder gespürt und in seiner Biografie dargestellt hat. Die liberale jüdische Gemeinschaft Wiens hatte vor der Nazizeit noch ausreichend Distanz zu den tief sitzenden christlichen Vorurteilen schaffen können, hatte dazu noch den notwendigen gesellschaftlichen Hintergrund vorgefunden. Nun aber konnte sich diese RestGesellschaft nicht mehr auf eine ausreichend breite Basis stützen, denn diejenigen waren vertrieben oder ermordet worden. Später erst  – und ganz langsam  – erkannten die meisten jüdischen Rückkehrer, welchen Bruch in ihrer Biografie diese Jahre von 1933 bis 1945 bedeutet hatten. Was die Ausgrenzung und anschließende Vertreibung, der jahrelange, aufgezwungene Aufenthalt in der Fremde, und was die Rückkehr in eine veränderte Heimat für Folgen hatten, wird heute wissenschaftlich hinterfragt und aufgearbeitet. Als die Juden aus der Emigration nach Österreich zurückkehrten, wurde ihnen vermittelt, sie hätten das Land in Zeiten der Not verlassen, um es sich andernorts wohl ergehen zu lassen, um in Saus und Braus das Leben zu genießen. Und nun seien sie – so wurde ihnen unterstellt – wieder zurückgekommen und wollten an den Früchten der heroischen Leistungen der österreichischen Patrioten, die für dieses Land ihr Leben eingesetzt hätten, unverdientermaßen teilhaben. Selbst wir Kinder wurden in den Schulen sehr subtil und manchmal auch ganz offen im Diskurs mit unseren Mitschülern als »zugereiste« Schmarotzer und Nutznießer der Wiederaufbauleistung des Landes denunziert; und auch von manchen Lehrern. 210

Ursache und Wirkung Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie mein Bruder und ich uns manchmal deswegen schämten, weil wir nach zahllosen Vorwürfen auf dieser Argumentationslinie schön langsam ein schlechtes Gewissen bekommen hatten. Das Gefühl, wir wären wirklich vor den Unbilden des Krieges in ein gelobtes Land geflohen, in dem Milch und Honig flossen, und hätten die in der Heimat zurückgebliebenen Österreicher in ihren schwersten Stunden allein gelassen, hat mich lange belastet. Die heute noch im politischen Diskurs übliche Verdrehung von Ursache und Wirkung – man denke nur an die Restitutionsdebatte – hinterließ auch bei uns Spuren. Dass wir unter Gewaltandrohung und großteils sogar unter expliziter Anwendung von Gewalt aus diesem Land, aus unserer Heimat hinausgetrieben worden waren, dass man unser Hab und Gut gestohlen, unsere Verwandten verhaftet, verschleppt und ermordet hatte, das war und ist für die »echten« Österreicher bis heute kein Thema. Ganz im Gegenteil, gilt unverständlicherweise hierzulande eine schmuddelige, revisionistische Partei, die seit Jahren mit dieser Lügenstrategie Wahlerfolge einfährt, als demokratisch und regierungsfähig. Noch heute kann man hören, die Juden hätten sich in der Nazizeit aus dem Land verdrückt, sich außerhalb Österreichs satt gegessen und natürlich auch wirtschaftlich gemästet, an krummen »Ostküsten-Geschäften« verdient. Nun wären sie, diese Geldsäcke, zum Schaden der hiesigen Bevölkerung wieder zurückgekommen und würden wie eh und je die Finanzwelt beherrschen. Geschichtsklitterung ist immer und überall, namentlich in der im europäischen Vergleich unverhältnismäßig starken rechtsextremen Szene Österreichs. Von den mörderischen Raubzügen des goldenen Wiener Herzens will selbstverständlich keiner mehr etwas wissen. So wie die Geschichte von Politik, Justiz und Medizin im Nationalsozialismus eine Geschichte des Verbrechens ist, ist die Geschichte der Juden bis heute unverändert eine des Antisemitismus. Sie ist eine Chronik der Vernichtung von Menschen und der Auslöschung einer gerade in Österreich und besonders in Wien identitätsstiftenden Kultur. Doch als unsere Väter – und wir mit ihnen – in dieses Land zurückkamen, hatte sich im Nachkriegswind auf einmal die Täter-/Opferrolle um 180 Grad gedreht. Die Juden waren, sind noch immer oder schon wieder schuld und werden es ewig bleiben. Es hat vierzig Jahre gedauert, bis die Waldheim-Auseinandersetzung den Aufbruch in eine langsame Wende einleiten konnte, in der sich die Österreicher einzugestehen begannen, was ihre Väter nicht um die Burg wahrhaben wollten: Mitschuld an der Katastrophe der Shoah. Warum die Rückkehr? Als die Entscheidung gefallen war, dass wir wieder nach Österreich zurückkehren würden, hat Vater im Februar 1947 aus La Paz einen Brief an seinen Schweizer Freund und Kollegen Dr. Ernst Meiner geschrieben. Mei211

ner war jener seiner Freunde gewesen, die uns auf dem Weg aus Europa am meisten unterstützt hatten: Seinerzeit war ich froh, diesem ganzen Unheil in der Heimat zu entkommen, habe hier eine Existenz gesucht und getrachtet, mich in diese neuen Verhältnisse hineinzufinden. Eine Rückkehr nach Europa war mir zunächst ganz unmöglich erschienen und ich war aufrichtig gewillt, mich hier einzuleben. Ich habe aber nach diesen acht Jahren die Überzeugung gewonnen, dass es fast nicht möglich ist, wenn man nicht für immer auf Dinge verzichten will, die man aus seiner Erziehung, Veranlagung und Weltsicht als wertLutz Popper heute voll empfindet. Wie etwa den Beruf nach ethisch-moralischen Grundsätzen auszuüben, seine Kinder qualitativ adäquat und humanitär zu erziehen, menschlichen Kontakt zu ähnlich denkenden Freunden, zu verlässlichen Menschen zu finden, zu Leuten also, deren Reaktionen man verstehen und folgen kann. Wenn ich zurück will, so ist es, weil ich einiges von dem in der alten Heimat zu finden hoffe. Antisemitismus gibt es überall; da bin ich nun einmal in der Wahl meiner Eltern zu unvorsichtig gewesen und muss mich nun damit abfinden. Meine Kinder werden schon weniger darunter zu leiden haben. Und zu Hause bin ich höchstens der »Jud«, und nicht noch obendrein der »Ausländer«. Denn an meiner Bodenständigkeit werden auch die wüstesten Antisemiten nichts aussetzen können.6 Für mich ist es ein Glück, dass mein Vater nicht miterleben muss, wie seine Träume von einer besseren Welt im Nebel des immer noch durch alle Ritzen ziehenden Antisemitismus unterzugehen drohen. Denn wie sehr die Nachkriegspolitik seiner geliebten Heimat alles verrät, was die Werte in seinem Leben ausmachte, hätte er nur schwer verkraftet. Ob jemand überhaupt an das Zurückkehren in die einstmalige Heimat dachte, war schon grundsätzlich davon abhängig, ob er die Vertreibung als persönliche Kränkung oder primär als Folge politischer Feindseligkeit verstand. Und in letzterem Fall neigte man – wie Otto Binder – naturgemäß eher dazu, zurück nach Österreich zu kommen und den politischen Neuan6

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Der vollständige Text des hier gekürzt wiedergegebenen Briefes ist abgedruckt in: Ludwig Popper: Bolivien für Gringos. Exil-Tagebuch eines Wiener Arztes, hg. von Lutz Elija Popper. Oberwart: edition lex liszt 12 2005, S. 252 – 254.

fang zu unterstützen. Was aber heute viele Hinausgeekelte, Verjagte, welche die damalige existentielle Bedrohung und Schande bei vollem Bewusstsein erlebt hatten, dazu veranlasst, im Alter immer näher an die einstige Heimat heranzurücken, kann ich mir nur ganz vage mit der Prägung durch das Leben erklären. Es ist bekannt, dass sich immer mehr im Exil erfolgreiche Österreicher entschieden haben, der ehemaligen Heimat wieder näher zu rücken, zum Teil sogar Zweitwohnsitze in ihr einzurichten. Auch ein Cousin meines Vaters, Hans Popper, Ordinarius für Pathologie am Mount Sinai-Hospital in New York, eine Zeit lang Dekan an der Columbia University, hatte sich die ersten Jahre nach Kriegsende strikt geweigert, auch nur einen Fuß auf österreichischen Boden zu setzen. Später war er immer häufiger Gast auf europäischen Fachkongressen und ist uns wieder näher gerückt. Zum einen mag es das Bewusstsein sein, dass diese besondere europäische Kultur ein Kind auch der eigenen Vorfahren, der vertriebenen Eltern ist. Daher das Gefühl, ihr nahe zu stehen. Tiefe, mehr oder weniger unbewusste Gefühle müssen es wohl auch sein, die jemanden, der erniedrigt wurde, dazu befähigen, zu vergessen und zu verdrängen, was er dereinst als unverzeihliche Kränkung empfunden hatte. Vielfach ist jedoch das Urvertrauen in die einstige Heimat bis zum Tode erschüttert geblieben. Jean Améry schreibt im Zusammenhang mit diesem endgültigen Verlust der Geborgenheit: »Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener. [...] Für uns war, was mit diesem Land und mit seinen Menschen zusammenhing, ein Lebensmissverständnis.«7 Für den vertrieben Gewesenen, der dieses Trauma nicht ganz leugnen kann und will, klingen die unsäglichen rechtsradikalen Töne der Ewiggestrigen, die das politische Klima in Österreich wieder zu vergiften beginnen, von Neuem Existenz bedrohend.

Aus dem Nachkriegs-Wien Aus Vaters erstem Brief an seinen Freund Dr. Meiner aus Wien, das er nach fast 10 Jahren wieder betreten hat dürfen: Wien, 15. November 1947 Mein lieber Agfa,8 Nun sind wir schon über 14 Tage wieder in Wien und fangen nun langsam an, uns hier einzuleben. Wien bietet ein eigenartiges Bild, mit diesen ungepflegten Häusern, der spärlichen Beleuchtung und den vielen ganz oder zeitweise geschlossenen Geschäften, die wegen Strom- beziehungsweise Warenmangels nicht florieren. Es herrscht noch große Knappheit an allem, doch haben die nicht allzu 7 8

Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett Cotta 42000, S. 84 und 86. Dr. Ernst Meiner, Chefarzt in Wald bei Zürich und Sohn einer alteingesessenen Züricher Fotografen-Dynastie, hieß aufgrund dieser Herkunft im Freundeskreis »Agfa».

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pessimistisch Denkenden den Eindruck, dass es – wenn auch sehr langsam – doch vorwärts geht. Mit den Lebensmitteln sind wir auf 1.600 Kalorien gesetzt, doch wird die Zuteilung in den nächsten Tagen auf 1.700 und dann vielleicht auf 1.800 erhöht werden. Als Arzt bin ich stolzer Besitzer der Arbeiterzusatzkarte, mit der ich auf 2.200 Kalorien komme. Doch ist die Ration in der Hauptsache auf Kohlehydrate aufgebaut; Fleisch bekommen wir 200 g und Fett 130 g (seit heute 200 g!) pro Woche. Wir wohnen bei meiner Schwiegermutter und das ist denn doch etwas knapp. Von Platz für eine Ordination gar nicht zu reden. Es ist deshalb für mich dringend, ein entsprechendes Quartier zu finden. Und dann wird es natürlich auch Schwierigkeiten mit deren Einrichtung geben, denn Möbel und andere Einrichtungsgegenstände sind kaum zu bekommen beziehungsweise nur zu unerschwinglichen Konditionen. Wir rechnen damit, dass wir uns aus unseren Koffern und Kisten ein Notmobiliar werden improvisieren müssen, worin wir ja jetzt einige Übung haben. Nach den ersten Laufereien – und um die Zeit bis zur Schaffung einer Praxismöglichkeit vernünftig auszufüllen – bin ich als Gastarzt an die erste Medizinische Klinik gegangen, die von Professor Lauda9 geführt wird. Dort habe ich natürlich weder Dienstverpflichtung noch Gehalt und ich betrachte es demnach vorwiegend als eine Erholung, endlich wieder einmal einen einigermaßen geordneten klinischen Betrieb zu erleben. Ich habe keine Ambitionen, dort irgendetwas zu werden, sondern möchte mir einmal eine sichere Existenzbasis schaffen, die uns, mit unseren vier Kindern, eine solche Stelle ja gar nicht bieten könnte. Die Aussichten auf eine Wiederaufnahme meines Habilitationsverfahrens stehen nicht ungünstig. Die Verhältnisse sind also ganz anders als vor 1938, wo ein starker Überschuss an (jüdischen) Dozenten bestand. Wenn also nicht von anderer Seite Schwierigkeiten auftauchen, was ich, nach der freundlichen Begrüßung, die mir einige alte Fakultätsmitglieder haben angedeihen lassen, nicht glaube, so könnte die Sache im Laufe der nächsten Monate wirklich aktuell werden. Meine Anstellungsgesuche liegen noch im Rathaus und werden offenbar mehr Zeit brauchen, als ich ursprünglich annahm, sich durch alle Instanzen hindurch zu winden. Es scheint halt, dass es in amtlichen Sachen hier auch nicht viel geschwinder geht als in Bolivien, dem Land, wo alle unbegrenzt Zeit haben. Die Pension meiner Frau wird auch nicht so bald zur Auszahlung gelangen, was allerdings dann den Vorteil haben wird, dass sie schon in der neuen Währung10 liquidiert wird. Die Beträge, die zwischen 1939 und 1945 nicht 9 10

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Ernst Lauda (1892 – 1963) war ab 1943 Universitätsprofessor in Wien und ab 1946 Vorstand der I. Medizinischen Universitätsklinik. (Anm. der Hg.) Aufgrund des Schillinggesetzes vom 30. November 1945 wurde der Schilling wieder zum gesetzlichen Zahlungsmittel in Österreich; Reichsmarknoten und alliiertes Militärgeld wurden im Verhältnis 1:1 umgetauscht. (Anm. der Hg.)

zur Auszahlung gelangten, sind allerdings verloren, da diesbezügliche Ansprüche an die Konkursmasse des Dritten Reiches zu stellen sind, was schwerlich jemals zu konkreten Ergebnissen führen dürfte. Im Übrigen – für das Essen geben die Leute sowieso ihr Letztes, und so sind natürlich die Bauern die großen Herrn. Ein schwarz geschlachtetes Schwein scheint kaum weniger einzubringen, als dem Jahresgehalt eines Universitätsprofessors entspricht, woran wieder einmal deutlich die Relativität aller Werte zu erkennen ist. Da habe auch ich neulich den Festvortrag des Nobelpreisträgers Cori11 zu Gunsten einer Weihnachtsfeier geschwänzt, bei der markenfreies Gulasch und ein ausgezeichneter Heuriger die Hauptattraktion waren, nebst der ebenfalls lang entbehrten Wiener Musik. Ich weiß nicht, ob mir da noch meine bolivianische Vergangenheit nachhängt, oder ob die hier jetzt übliche Zentrierung aller Interessen auf den Magen ausschlaggebend war. Wobei ganz allgemein die praktische Zufuhr von Kohlehydraten wichtiger erscheint als die interessantesten Ausführungen über deren intermediären Stoffwechsel. So haben wir uns, wie du siehst, schon ganz schön hier eingelebt und wir freuen uns sehr darauf, den Kindern nach so vielen Jahren ein richtiges Weihnachtsfest bereiten zu können, das zwar noch nicht ganz friedensmäßig ausfallen wird können, aber doch stilechter als im Chaco. Euch wünschen wir frohe Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr. Euer Lutz12

Otto Binder, die Ausnahme Mit Otto Binder habe ich das Thema der Rückkehr oftmals und bis zuletzt kontrovers diskutiert, denn er war ja die seltene Ausnahme eines Juden, der von seinem ehemaligen Dienstgeber, aber eben auch einem Juden, in den Jahren nach dem Krieg eingeladen worden war, seine Arbeit in Österreich wieder aufzunehmen. Für ihn war der Traum, man würde ihn in der Heimat mit offenen Armen empfangen, noch am ehesten Realität geworden. Für die meisten, die im guten Glauben in das Land zurückgekommen waren, man würde sie freudig empfangen, war die Realität hingegen eine andere. Mein Vater hat Binder in den Jahren 1950/51 kennen gelernt, als sie beide mit der Straßenbahnlinie 167 vom Stadtrand Wiens zur Arbeit fuhren, Binder in die Wiener Städtische Versicherung, mein Vater quasi um die Ecke, in das Gesundheitsamt der Stadt Wien in der Gonzagagasse. Daraus entstand eine Familienfreundschaft, die erst 1984 mit dem Tod meines Va11

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Das amerikanische Ehepaar Carl und Gerty Cori erhielt 1947 gemeinsam mit Bernardo Alberto Houssay den Medizinnobelpreis für die Entdeckung des Ablaufs der katalytischen Umwandlung von Glycogen. (Anm. der Hg.) Die beiden hier zusammengefassten Briefe von November und Dezember 1947 sind auch abgedruckt in: Popper, Bolivien für Gringos, S. 278 – 281.

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ters endete. Anni Binder, bei den Kinderfreunden aktiv, und meine Mutter, schon 1966 verstorben, waren durch ihre parallelen Biografien einander sehr eng verbunden und kamen während unserer Zeit in der Per-Albin-HanssonSiedlung regelmäßig bei einem Kaffee zusammen. Bis zum Tod meines Vaters trafen sich die Familien regelmäßig, und manch ein Gespräch über das Thema Emigration ist mir noch in Erinnerung – so etwa Ottos Erzählungen über die Mühen der Integrierung in eine fremde Gesellschaft und seine Treffen mit anderen Sozis, etwa mit Bruno Kreisky. Meine Eltern haben ihre Erfahrungen aus der Dritten Welt zum Besten gegeben und von manch exotischem Abenteuer berichtet. Im Rahmen der Arbeit an seiner Biografie hat mich Otto Mitte der 1990er Jahre angeschrieben, ob es Unterlagen meines Vaters zum Thema Emigration gäbe. Seitdem haben wir uns regelmäßig – zu Annis Lebzeiten in der Pokornygasse, nach ihrem Tod im Café Landtmann – getroffen. Wir haben über unsere eigene Geschichte geredet, Otto hat über die Geschichte der Sozialdemokratie, des Nationalsozialismus und deren Kontext erzählt. Und er hat mir bei der Herausgabe meines ersten Buches13 brauchbare Ezzes gegeben. Auch Otto Binder hat manchmal die Fragestellung bewegt, was denn seine in Österreich zurückgebliebenen »arischen« Freunde, Bekannten und Parteigenossen in der Zeit des Nationalsozialismus getan hätten, welche Funktionen sie innegehabt und möglicherweise ausgelebt hätten. Seine spätere Nähe zur Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung und seine uneingeschränkte Bereitschaft, über seine Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu berichten14, berechtigen zu der Annahme, dass schlussendlich auch ihm der Bruch in seinem Leben ein existentielles Thema war. Und auch, dass jahrzehntelange gesellschaftliche Akzeptanz nicht vergessen machen kann, welches Unrecht einem dereinst widerfahren ist.

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Ebd. Siehe auch Otto Binder: Rückkehr – wer musste, wer wollte, wer konnte? Beispiele aus dem Leben. In: Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft, hg. von Sandra Wiesinger-Stock, Erika Weinzierl und Konstantin Kaiser. Wien: Mandelbaum Verlag 2006, S. 168 – 175; Otto Binder: Die Remigration bei Banken und Versicherungen. In: Ein neuer Frühling wird in der Heimat blühen. Erinnerungen und Spurensuche, hg. von Heinz Kienzl und Susanne Kirchner. Wien: Franz Deuticke 2002, S. 33 – 37. (Anm. der Hg.)

Tanja Schult

Leben und Nachwirken Raoul Wallenbergs1

Raoul Gustaf Wallenberg wurde am 4. August 1912 in Stockholm geboren. Er war ein Spross der prominenten Wallenbergfamilie, die seit Generationen eine bedeutende Rolle in Wirtschaft, Politik und dem gesellschaftlichen Leben Schwedens einnimmt. Sein Vater Raoul Oscar (1888 – 1912), ein Marineoffizier, starb drei Monate vor der Geburt seines Sohnes an Krebs. Raoul Wallenberg wurde von seiner jungen Mutter Maj Wising Wallenberg (1891 – 1979) aufgezogen, die 1918 erneut heiratete. Dieser Ehe mit Fredrik von Dardel (1885 – 1979) entstammten zwei Kinder, Guy (1919 – 2009) und Nina (geb. 1921). Wallenbergs Großvater väterlicherseits war Gustaf Wallenberg (1863 – 1937), ein Berufsdiplomat, der als schwedischer Gesandter in Japan, China und in der Türkei diente. Nach seiner Pensionierung lebte er in Istanbul. Trotz der räumlichen Entfernung spielte er eine wichtige Rolle im Leben seines Enkelsohns und fungierte als dessen Ersatzvater. Durch seinen Großvater und den Einfluss seiner Mutter entwickelte Raoul Wallenberg bereits früh eine weltoffene Haltung, die er durch seine ausgedehnten Reisen und sein Sprachtalent vertiefen konnte. Bereits während seiner Schulzeit lernte Wallenberg bei Auslandsaufenthalten Französisch, Deutsch und Englisch. Außerdem hatte er in der Schule Russischunterricht und begann während seiner Studienzeit in den USA Spanisch zu lernen. Auf Wunsch seines Großvaters, der seinen Enkel mit der amerikanischen Kultur und Mentalität vertraut machen wollte, studierte er ab 1931 Architektur in den USA. An der Universität von Michigan in Ann Arbor war Wallenberg Mitschüler von Gerald Ford, dem späteren 38. Präsident der USA (1974 – 1977), und dem bekannten Architekten Sol King, Präsident von Albert Kahn Associates Inc. (1958 – 1975). 1935 schloss er sein Studium als Klassenbester mit Auszeichnung ab. Auch wenn Wallenberg das Studienfach frei wählen konnte, stand fest, dass sein Großvater für ihn eine Karriere im Bankwesen vorsah. Auf dessen Wunsch arbeitete Raoul Wallenberg nach seinem Studienabschluss in Süd1

Dieser Artikel basiert auf meinem Buch: A Hero’s Many Faces. Raoul Wallenberg in Contemporary Monuments. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, 2. Auflage 2012. Siehe vor allem das Kapitel: Raoul Wallenberg’s Life, Mission, and Fate. Im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag Wallenbergs 2012 erschienen eine Reihe von Biographien und neuen Wallenberg-Büchern, doch behält diese kurze Zusammenfassung weiterhin ihre Gültigkeit.

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afrika bei einem schwedischen Bauunternehmen und danach in Palästina, wo er ein Praktikum in einer dänischen Bank in Haifa absolvierte. 1936 lernte er dort Immigranten aus Deutschland kennen, die ihm von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik berichteten. Trotz Wallenbergs privilegierter Herkunft war ihm eine Karriere im Familienunternehmen nicht sicher. Sein Großvater Gustaf Wallenberg hatte nach einem Zerwürfnis das Familienimperium seinen Brüdern überlassen und die Diplomatenlaufbahn eingeschlagen. Er starb allerdings 1937, noch bevor die Internationale Bank, die er für seinen Enkel geplant hatte, Wirklichkeit werden konnte. Wallenbergs amerikanisches Architektendiplom wurde in Schweden nicht anerkannt. Da er jedoch nicht neuerlich studieren wollte und ein Arbeitsplatz in den Wallenbergischen Unternehmen oder in der Enskilda Banken, die ebenfalls zum Familienkonzern gehörte, für ihn zunächst nicht in Aussicht stand, nahm Raoul Wallenberg auf Vermittlung seines Onkels und Patenonkels Jacob Wallenberg eine Stelle in dem Lebensmittelgroßhandel MEROPA an. Dieses Unternehmen leitete der aus Ungarn stammende Kálmán Lauer, der vor Kriegsausbruch nach Schweden emigriert war. Wallenberg begann als sein Angestellter und wurde später sein Partner. Während des Zweiten Weltkriegs unternahm Wallenberg Dienstreisen unter anderem nach Deutschland und Ungarn, was für Lauer als Juden lebensgefährlich gewesen wäre. Im Juni 1944 trat Marcus Ehrenpreis, Rabbiner der Großen Synagoge in Stockholm, an Wallenbergs Vorgesetzten heran mit der Bitte, ihm jemanden zu empfehlen, der gewillt sei nach Ungarn zu reisen, um sich von der Situation der Juden in Budapest ein Bild zu machen. Lauer empfahl seinen Mitarbeiter Raoul Wallenberg.2 Lauer hatte Familie in Budapest, und schon einige Jahre zuvor hatte sich Wallenberg um ein Visum bemüht, um Lauers Familie zu helfen; sein Ansuchen wurde vom schwedischen Außenministerium allerdings abgelehnt.3 Nach seiner Ankunft in Budapest sollte Wallenberg erfahren, dass Lauers Verwandte bereits deportiert worden waren. Zeitgleich gab es in den USA Pläne, einen Schweden nach Ungarn zur Unterstützung der dortigen Juden zu schicken. Im selben Gebäude, in dem sich Wallenbergs und Lauers Büro befand, war auch eine Abteilung der amerikanischen Gesandtschaft, sodass es Lauer leicht möglich war, Herschel V. Johnson, den Minister der amerikanischen Gesandtschaft in Stockholm, und Iver C. Olsen, den Sondergesandten des American War Refugee Board, zu treffen. Stockholm war während des Zweiten Weltkriegs ein internationales Zentrum für Informationsaustausch zwischen Diplomaten und Spio2

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Siehe Lauers Briefe an Marcus Wallenberg vom 20. April 1945 und an Jacob Wallenberg vom 29. September 1944, in Gert Nylander, Anders Perlinge: Raoul Wallenberg in Documents, 1927 – 1947. Stockholm: The Foundation For Economic History Research within Banking and Enterprise 2000, S. 100 f., 106 f. Elenore Lester: Wallenberg. The Man in the Iron Web. New Jersey: Englewood Cliffs 1982, S. 62, sowie Lena Einhorn: Handelsresande i liv. Om vilja och vankelmod i krigets skugga. Stockholm: Prisma 1999, S. 173.

Raoul Wallenberg, 1936 nen, allerdings war damals nicht bekannt, dass Olsen gleichzeitig für das US-Finanzministerium und für das Office of Strategic Services, den Vorläufer der CIA, arbeitete. Johnson und Olsen vergewisserten sich Wallenbergs Eignung und erhielten die Zustimmung des schwedischen Außenministeriums für Wallenbergs Entsendung nach Budapest. Das American War Refugee Board (WRB) und der Jüdische Weltkongress (World Jewish Congress, WJC) unterstützten Wallenbergs Mission. Der WJC war 1936 zum Schutz der Juden vor dem Nationalsozialismus gegründet worden und das WRB wurde am 22. Januar 1944 vom amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt ins Leben gerufen. Wallenberg erhielt den Rang eines Sekretärs mit diplomatischer Immunität und genoss außerordentliche Handlungsfreiheit.4 Das WRB und das Jewish Joint Distribution Committee (JOINT), eine Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden, stellten Wallenberg die nötigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung. 4

Siehe Christoph Gann: Raoul Wallenberg. So viele Menschen retten wie möglich. München: C. H. Beck 1999, S. 19.

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Schwedischer Schutzbrief für Räumlichkeiten, 1944

Die Entwicklung in Ungarn, der allgemeine Kriegsverlauf und die zunehmende Kenntnis über den Völkermord an den europäischen Juden waren der Anlass für Wallenbergs Mission. Am 19. März 1944 hatten die Deutschen Ungarn besetzt: Man befürchtete einen separaten Friedensschluss des früheren Verbündeten mit den Alliierten. Die Erfolge der Alliierten im Westen und das Vordringen der sowjetischen Truppen im Osten ließen die Deutschen fürchten, bald von ihrer Hauptenergiequelle, den rumänischen 220

Ölfeldern, abgeschnitten zu werden. Diese Tatsache und das Vorhaben, die »Endlösung« auch in Ungarn durchzusetzen, waren die Gründe für die deutsche Besetzung Ungarns. Die ungarischen Juden waren bis dato die größte jüdische Gemeinde in Europa, die noch nicht von den Nationalsozialisten ausgelöscht worden war. Obwohl Antisemitismus auch in Ungarn weit verbreitet war und es als erstes Land in Europa eine antisemitische Gesetzgebung eingeführt hatte, die u. a. den Zugang zu Universitäten für Juden stark einschränkte, genossen Juden während der Regierungszeit Miklós Kállays (9. März 1942 bis 19. März 1944) einen relativ hohen Schutz, verglichen mit dem übrigen besetzten Europa. Kállay weigerte sich standhaft, den Forderungen des Verbündeten zu folgen. Die meisten der ungarischen Juden lebten daher in relativer Sicherheit und jüdische Flüchtlinge aus Europa suchten Schutz in Ungarn. Mit der deutschen Besatzung kam jedoch eine neue Regierung an die Macht und eine judenfeindliche Politik etablierte sich innerhalb weniger Wochen. Am 15. Mai 1944 begannen die Massendeportationen der ungarischen Juden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Alliierten von der Vernichtung der europäischen Juden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau bereits Kenntnis. Nachrichten von Gräueltaten an ungarischen Juden sickerten an die Presse, vor allem Schweizer Zeitungen berichteten darüber ausführlich. Die Reaktion auf die Ermordung ungarischer Juden fand in der gesamten westlichen Welt Widerhall. Das Schicksal der in Budapest verbliebenen Juden wurde nun Anliegen für die westlichen Alliierten, den Vatikan, die neutralen Staaten und das Internationale Rote Kreuz. Es war diese veränderte Einstellung, die zu Wallenbergs Entsendung nach Ungarn geführt hatte. Er sollte als Gesandter des schwedischen Außenministeriums das überforderte Personal der schwedischen Legation in Ungarn unterstützen; seine Mission: so viele Juden wie nur möglich zu retten. Zu dieser Zeit näherte sich die Rote Armee vom Osten und die westlichen Alliierten landeten in der Normandie. Aufgrund dieser Situation und des großen internationalen Drucks als Reaktion auf die Deportationen ungarischer Juden stoppte Miklós Horthy (ungarischer Reichsverweser von 1920 bis Oktober 1944) diese am 7. Juli 1944. Doch für die Mehrheit der ungarischen Juden kam dieser Erlass zu spät. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Deutschen mit Hilfe der ungarischen Militärpolizei bereits den Großteil der jüdischen Landbevölkerung deportiert, vorrangig nach Auschwitz-Birkenau. Nur Juden im Reichsarbeitsdienst und in der Hauptstadt waren noch am Leben. Horthys Beschluss verhinderte lediglich eine geplante Deportation der Juden Budapests, die für nur wenige Tage nach diesem Befehl und kurz vor Wallenbergs Ankunft in Budapest am 9. Juli 1944 vorgesehen gewesen war. Nach Horthys Anweisung wurden die Deportationen von Juden nahezu gänzlich eingestellt, doch ließ die Furcht vor weiteren Deportationen

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Raoul Wallenberg, 1944 nicht nach.5 Schon vor Wallenbergs Ankunft in Budapest hatte die Königliche Schwedische Gesandtschaft versucht, den Juden zu helfen.6 Doch erst nach dem 30. Juni wurde die Gesandtschaft »verstärkt in die Hilfs- und Rettungsarbeiten« und »humanitären Handlungen Schwedens einbezogen und diese nach Wallenbergs Ankunft in Budapest massiv erweitert«.7 Ende August verbesserte sich die Situation der Budapester Juden erheblich; die ungarische Regierung akzeptierte die Bemühungen neutraler Konsulate sowie des Roten Kreuzes, die Juden zu versorgen und zu schützen. Horthy hatte eine neue Regierung einberufen und Döme Sztójay (im März 1944 nach der deutschen Besetzung als Marionetten-Premierminister einge5

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Die »Endlösung« in der »Judenfrage« war nicht – wie bei Jenö Lévai, The Hungarian Deportations in the Light of the Eichmann Trial (in: Nathan Eck, Arieh Leon Kubovy: Yad Vashem Studies of the European Catastrophe and Resistance, Band V. Jerusalem: Publishing Department of the Jewish Agency 1963, S. 69–103, hier S. 72 ff. und S. 88), öfter angegeben – der einzige Grund für die Besetzung Ungarns. Nach Per Anger: Med Raoul Wallenberg i Budapest. Minnen från krigsåren i Ungern. Stockholm: Norstedts faktapocket 1985, S. 84. Deportationen in kleinerem Umfang wurden tatsächlich auch noch fortgeführt. Siehe Jenő Lévai: The Black Book on the Martyrdom of Hungarian Jewry. Herausgegeben von Lawrence P. Davis. Zürich: The Central European Times Publishing Co. Ltd. 1948, S. 249, 254ff., 302, und auch Gann, Wallenberg, S. 37, 43, 48. Für die frühe Phase der Rettungsaktion siehe Paul A. Levine: From Indifference to Activism. Swedish Diplomacy and the Holocaust 1938 – 1944. 2. überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Uppsala: Studia Historica Upsaliensia 1998, Kapitel 12, S. 246 ff., 258, 264; siehe auch Jenő Lévai: Raoul Wallenberg. His Remarkable Life, Heroic Battles and the Secret of his Mysterious Disappearance. Übersetzt von Frank Vajda. Melbourne: White Ant Occasional Publications 1989, S. 46 ff. (die ungarische Originalfassung erschien 1948), oder ders., Black Book, S. 227 ff., 274 ff.

setzt) wurde von General Géza Lakatos abgelöst. Diese positiven Entwicklungen schienen eine baldige Heimreise Wallenbergs zu erlauben, wie es eigentlich auch von Anfang an vorgesehen war.8 Seine Aufgabe schien erfüllt zu sein. Der Putsch der Pfeilkreuzler (oder Nyilas Partei, der ungarischen Nazis) am 15. Oktober änderte jedoch die Situation vollständig. Nachdem Horthy im Radio eine vorläufige Waffenruhe verkündet hatte – als Versuch, Ungarn aus dem Krieg heraus zu manövrieren – wurde er von den Deutschen gezwungen, diese zu widerrufen und zurückzutreten. Die Nationalsozialisten setzten eine deutschfreundliche Regierung unter der Leitung Ferenc Szálasis, des Führers der rechtsextremen Pfeilkreuzler-Bewegung, ein. Wallenberg beschloss, in Ungarn zu bleiben, um den Verfolgten weiter beizustehen. Den Juden Budapests stand die gefährlichste Zeit bevor. Anfangs schienen die Pfeilkreuzler die Aktivitäten der neutralen Mächte zu dulden, da sie hofften, diplomatisch anerkannt zu werden. Eine Anerkennung der neuen Regierung durch Schweden fand jedoch nicht statt. Obwohl Schweden nicht das einzige Land war, das der neuen Regierung die Anerkennung verweigerte, litten die Angehörigen der schwedischen Gesandtschaft unter der schlechten Behandlung mehr als andere Legationen, weil der stellvertretende ungarische Außenminister László Vöczköndy persönlich Rache an den Mitgliedern der schwedischen Gesandtschaft nehmen wollte. Vöczköndy war stellvertretender Militärattaché der ungarischen Gesandtschaft in Stockholm gewesen, hatte sich aber nach Szálasis Machtübernahme selbst zum ungarischen »Chargé d’Affaires« in Schweden ernannt und war dafür des Landes verwiesen worden. In seiner neuen Position als Leiter des ungarischen Außenministeriums konnte er sich nun rächen, indem er die schwedische Rettungsmission erschwerte.9 Die Grausamkeit der Pfeilkreuzler gegenüber den Juden nahm im Laufe dieser Zeit immer mehr zu und die Hilfstätigkeit der schwedischen Gesandtschaft wurde immer mehr erschwert. Je näher die Rote Armee kam, umso anarchischer wurde die Situation in Budapest. Um die Juden besser schützen zu können, verlegte Wallenberg sein Büro von Buda, wo die meisten ausländischen Gesandtschaften, inklusive der schwedischen, ihren Sitz hatten, nach Pest. Auf der Pest-Seite lebten die meisten von Wallenbergs Schützlingen, im so genannten internationalen Ghetto. Die Pfeilkreuzler akzeptierten die Rettungsversuche nicht mehr und begannen, die schwedischen Schutzhäuser und im Dezember 1944 sogar die schwedische Gesandtschaft zu attackieren. Die damalige politische Instabilität, besonders nach dem Putsch der Pfeilkreuzler, stellte die Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft vor extreme Herausforderungen.10 8 9 10

Randolph L. Braham: The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary. 2 Bände. New York: Columbia University Press 1981, hier Band 2, S. 1085. Siehe Gann, Wallenberg, S. 19. Harvey Rosenfeld: Raoul Wallenberg. Überarbeitete Ausgabe. New York: Holmes and Meier 1995, S. 66.

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Das Raoul Wallenberg-Denkmal von Charlotte Gyllenhammar in Göteborg wurde 2007 eingeweiht Wallenberg war Leiter des humanitären Bereichs und seine Mitarbeiter versuchten, in engem Kontakt mit anderen neutralen Gesandtschaften, Organisationen wie dem Roten Kreuz sowie jüdischen Widerstandsgruppen, Juden durch Verhandlungen mit den politisch Verantwortlichen, der Ausgabe von Schutzdokumenten, dem Einrichten von Schutzhäusern und dem Verteilen von Nahrung und Medikamenten zu helfen. Unter Wallenbergs Führung gab es auch Versuche, Juden von den Todesmärschen nach Hegyeshálom an der österreichischen Grenze mit Hilfe von Schutzpässen zu retten. Wenn Rettung nicht möglich war, bemühte man sich, ihre Situation zumindest zu mildern, indem Essen und Medizin verteilt wurden. Die Befreiung Budapests durch die Sowjetunion beendete schließlich den Machtkampf um die Stadt, aber Folgewirkungen wie Massenvergewal224

tigungen, Plünderungen, Verwüstung, Hunger und Rekrutierung von Zwangsarbeitern setzten das Leid der ungarischen Bevölkerung – einschließlich dem der Juden – fort. Am Tag der Befreiung der Pest-Seite, am 17. Januar 1945, reiste Wallenberg nach Debrecen, der drittgrößten Stadt im Nordosten des Landes und Sitz der neu errichteten pro-Alliierten provisorischen Regierung sowie der temporären Nationalversammlung Ungarns. Wallenberg erhoffte sich, sowjetische Funktionäre wie Marshall Malinowsky zu treffen und Kontakte zu etablieren, um den Budapester Juden auch nach Kriegsende zu helfen. Doch Wallenberg kam nie in Debrecen an. Stattdessen wurde er nach Moskau gebracht und Anfang Februar 1945 ins Lubianka-Gefängnis überstellt. In der ersten offiziellen Mitteilung der Sowjets vom August 1946 hieß es, dass Wallenberg in der UdSSR nicht bekannt und wahrscheinlich in Budapest gestorben sei. Die Sowjetunion hielt bis 1957 an dieser Aussage fest. In der Zwischenzeit kehrten ehemalige deutsche Kriegsgefangene aus der UdSSR zurück; ihre Aussagen deuteten darauf hin, dass Wallenberg zumindest bis 1947 noch am Leben war. Laut einem Dokument aus dem Jahr 1957, also nicht lange nach dem Ende des ungarischen Aufstandes verfasst, mit dem Namen »Gromyko Memorandum« (ohne jedoch Gromykos Unterschrift zu enthalten), ist der 35-jährige (und bis dahin kerngesunde) Wallenberg im Lubianka-Gefängnis in Moskau im Juli 1947 gestorben – in Folge eines Herzinfarktes. Bei dieser Aussage blieb es jahrzehntelang. 1991 untersuchte eine schwedisch-russische Arbeitsgruppe erneut Wallenbergs Schicksal. Das Ergebnis der Untersuchung wurde nach neun Jahren intensiver Recherche publiziert. Der Grund für Wallenbergs Gefangennahme und Inhaftierung ebenso wie sein Verbleib konnten dennoch nicht aufgeklärt werden.11 Offensichtlich war man zumindest in den Nachkriegsjahren von sowjetischer Seite an einem Austausch Wallenbergs gegen in Schweden gefangen gehaltene sowjetische Staatsbürger interessiert gewesen. Die sowjetischen Pläne scheiterten jedoch am schwedischen Desinteresse, was Wallenbergs endgültiges Schicksal besiegelt haben dürfte. Wenn auch die Hauptverantwortung für Wallenberg bei den Sowjets liegt, steht es ohne Zweifel fest, dass auch einige Vertreter des schwedischen Außenministeriums und Beamte der schwedischen Regierung viel zu passiv verblieben, vor allem in den Jahren zwischen 1945 und 1947, aber auch in den Folgejahren. Von offizieller schwedischer Seite war man kaum gewillt, Wallenbergs Freilassung voranzutreiben.12 Bis zum heutigen Tag wurde von sowjetischer, beziehungsweise russischer, Seite kein Dokument vorgelegt, das die Gründe für Wallenbergs Inhaftierung, seinen Verbleib oder seinen Tod überzeugend belegt. Die offizielle Haltung Russlands ist auch heute noch, dass Wallen11 12

Siehe Anger, Med Wallenberg i Budapest, S. 62. Für die Ergebnisse des schwedischen Teils siehe Ingrid Palmklint, Daniel Larsson (Hg.): Raoul Wallenberg. Report of the Swedish-Russian Working Group. Stockholm: Ministry of Foreign Affairs of Sweden 2000.

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berg im Juli 1947 starb, aber man beharrt nicht länger darauf, dass Wallenberg an einem Herzinfarkt gestorben ist. Die offizielle Einstellung Schwedens zu Wallenberg änderte sich vor allem in den späten 1990er Jahren, hauptsächlich durch das Engagement von Premierminister Göran Persson (1996 – 2006). Wie in vielen westlichen Ländern war auch in Schweden der Holocaust auf die politische Tagesordnung gerückt; durch Perssons Engagement kam es nun unter anderem zur Tagung »The Stockholm International Forum on the Holocaust« (2000) sowie zur Gründung des Forum för levande historia (Forum für lebendige Geschichte), das bereits 1997 initiiert wurde, 2003 den Status einer staatlichen Behörde erhielt und damit dauerhaft den Holocaust im schwedischen kollektiven Gedächtnis verankern soll. 2001 bekannte Göran Persson, dass frühere schwedische Regierungen Fehler in der Handhabung des Falles gemacht hatten und entschuldigte sich bei Wallenbergs Angehörigen. Langsam erhielt Wallenberg auch in seinem Heimatland die Anerkennung, die ihm bereits weltweit entgegen gebracht worden war. Seit den 1980er Jahren wird der humanitäre Einsatz Raoul Wallenbergs für die Rettung der ungarischen Juden während des Zweiten Weltkriegs von einer breiten Öffentlichkeit in vielen westlichen Ländern gewürdigt. Wenn seine Rettungsmission für die letzte jüdische Gemeinde in Europa als Ganzes auch zu spät kam, trug seine Mission dennoch dazu bei, zumindest einen Teil von ihr zu retten. Mit der zunehmenden Bedeutung der Holocausterinnerung wurde Raoul Wallenberg über nationale Grenzen hinweg zu einer Symbolgestalt: Er verkörpert persönlichen Mut und selbstlosen Einsatz und seine Entsendung und Mission sind eine Mahnung, drohenden Völkermorden nicht gleichgültig gegenüber zu stehen.13 (Übersetzung: Ulrike Rack)

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Dieser Abschnitt basiert auf: Ett diplomatiskt misslyckande. Fallet Raoul Wallenberg och den svenska utrikesledningen. Kommissionen om den svenska utrikesledningens agerande i fallet Raoul Wallenberg. Statens offentliga Utredningar SOU 2003:18. Stockholm 2003 (online: http://www.regeringen.se/content/1/c4/14/55/eea4918e.pdf ). Jan Lundvik, von 1994 bis 1998 schwedischer Botschafter in Ungarn, half mir, diese komplizierte Angelegenheit klarer zu sehen. Der österreichisch-jüdische Journalist Rudolph Philipp, der nach Schweden emigrierte, kritisierte Schwedens Regierung für deren Fahrlässigkeit bereits 1946 in seinem Buch: Raoul Wallenberg. Diplomat, kämpe, samarit. Stockholm: Fredborgs Förlag 1946.

Walter Heller

Von Raoul Wallenberg gerettet

Ich wurde am 22. November 1923 in Wien geboren und wohnte mit meiner Familie, zwei Brüdern, geb. 1921 und 1922, und Vater, geb. 1888, bis zur Emigration in Wien. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 und dem eingetretenen Regierungswechsel für Österreich war die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis bestimmt. Auf der Straße sah ich alte jüdische Frauen, die knieend das Kruckenkreuz in »Reibpartien« von den Gehsteigen abreiben mussten. Schon vor der »Kristallnacht« im November 1938 waren die guten Wiener Nachbarn sehr »hilfsbereit« und räumten die Dreizimmerwohnung »kostenlos« total aus, um uns die Flucht zu »erleichtern«. Den Wohnungsinhalt haben wir nie mehr wieder gesehen. Ich habe später einmal den Namen eines Schulkollegen im Computer eingegeben: Er hieß Kurt Feuerzeug. Ich wollte wissen, was mit ihm passierte. Gewohnt hat er im 9. Bezirk, musste dann aber in ein Haus im 2. Bezirk ziehen. Von dort wurde er nach Polen deportiert. Kurt Feuerzeug war wie ich 1923 geboren. Alles wurde von den Deutschen genau festgehalten und dokumentiert, zum Beispiel auch, was er bei sich hatte, wie eine Armbanduhr, diese wurde ihm abgenommen. Das taten sie auch bei den Anderen. Einige Tage später lebte er dann schon nicht mehr.1 Mein ältester Bruder Ernst war bereits nach den USA ausgewandert. Wir bekamen kein Affidavit für ein anderes Land, deshalb konnten wir nur nach Ungarn fliehen, wo mein Vater Verwandte hatte; sie alle wurden später im Holocaust ermordet. Einige Tage nach der »Reichskristallnacht«, am 28. November 1938, flüchteten mein Bruder Georg und ich ohne ungarische Sprachkenntnisse nach Ungarn. Im Jänner 1939 kam mein Vater Andreas Heller nach Budapest, ohne Geld und ohne Möbel. Mein Bruder und ich gingen bereits in eine Metallwarenfabrik arbeiten, wo wir sehr schlecht bezahlt wurden. Meine Mutter war »arisch« und vom Vater geschieden, sie blieb in Wien. Drei Monate nach unserer Ankunft in Budapest erhielt mein Vater die Einberufung ins Arbeitslager, wo er etwa sechs Monate festgehalten wurde, da Ungarn die deutschen Judengesetze einhalten musste: Juden waren aus dem wirtschaftlichen Leben zu entfernen. 1

Kurt Feuerzeug, am 27. Dezember 1923 in Wien geboren, lebte zuletzt an der Adresse Große Sperlgasse 6 im 2. Wiener Gemeindebezirk und wurde im Mai 1942 nach Izbica (Polen) deportiert. Er starb am 12. Mai 1942 in Majdanek. Siehe Datenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (online). Die Anmerkungen stammen von der Herausgeberin.

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Walter Heller, ca. 1944 Zuerst mussten wir eine Wohnung finden – Wohnungen waren nicht so billig wie in Österreich –, dann Wohn- und Küchenmöbel etc. kaufen. Mein Vater war gelernter Kaufmann, ich habe Kurzschrift und Maschinschreiben noch in Wien gelernt. Eine Schreibmaschine war natürlich auch unbedingt notwendig, um mit ausländischen Firmen korrespondieren zu können. Tagsüber gingen mein Bruder und ich arbeiten, am Abend schrieb ich Bewerbungen betreff Übernahme der Interessensvertretung der in Frage kommenden ausländischen Fabriken oder Handelsunternehmungen. Briefe ins Ausland konnten nur auf der Post mit einem speziellen Ausweis aufgegeben werden; alle Briefe wurden zensiert. Auf Grund der guten Referenzen meldeten sich mehrere Firmen aus Schweden, der Tschechoslowakei, Dänemark und Deutschland, und dies war der Beginn der Erwerbstätigkeit meines Vaters. Bei zunehmender Tätigkeit bis etwa 1942 verbot man den deutschen Firmen den Kontakt mit jüdischen Vertretern und so mussten wir einen »arischen« Strohmann gegen Beteiligung einschalten. Der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg lief weiter und die Arbeit war für Juden schwieriger geworden. Mein Bruder wurde 1943 zum Arbeitsdienst nach Szászrégen in Rumänien einberufen, der auch zum Fronteinsatz verwendet werden konnte. Bei Kriegsende war der Einsatzort in den westlichen Teil Ungarns in die Nähe der österreichischen beziehungsweise reichsdeutschen Grenze verlegt worden, wo er dann als Jude am Tag der Befreiung durch die Rote Armee, am 23. März 1945, von der sich zurückziehenden deutschen Wehrmacht erschossen wurde. Ich bin nach der deutschen Besetzung Ungarns durch die SS am 19. März 1944 schon im April, so wie die gesamte jüdische Bevölkerung des Jahrgangs 1923, ins Arbeitslager in einer Militärkaserne in Jolsva (Jelšava) 228

Raoul Wallenberg am Józsefvárosi-Bahnhof in Budapest, 1944 einberufen worden. Ende Mai wurden wir in einer zweitägigen Eisenbahnfahrt im Viehwaggon nach Miskolc verlegt, wo die ungarischen Pioniere ihr Lager hatten. Dies hat natürlich dem Kontakt mit unseren ausländischen Auftraggebern eine Störung verursacht. Am 2. Juni wurde Miskolc erstmals mit Bomben beschossen, woraufhin wir die Hausziegeltrümmer aufräumen und danach für die 200 Todesopfer Massengräber ausheben mussten. Mitte Juni wurde das Miskolcer Ghetto aufgelöst und die Bewohner in Konzentrationslager verschickt. Über ein Dutzend Kameraden aus unserer Gruppe hatten Familie in Miskolc. Sie schafften es noch, ein letztes Mal ihre Eltern zu sehen, um sich zu verabschieden; das war für uns alle ein furchtbarer Moment. Im Juni kam unsere Abteilung nach Budapest und musste in einer Kriegsmaterialfabrik arbeiten. Später brachte man mich, ebenfalls in Budapest, in ein Arbeitslager für ausländische Staatsbürger. Das damalige Ungarn hatte eine jüdische Bevölkerung von ca. 710.000 Menschen, wovon auf Betreiben von SS-Obersturmbannführer Eichmann, SS-Brigadeführer Veesenmayer2 und SS-Obergruppenführer Winkelmann3 von Mai bis Juli 1944 bereits über 440.000 Juden von Ungarn in deutsche

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Edmund Veesenmayer (1904 – 1977) war als Reichsbevollmächtigter für Ungarn für die Deportation der dortigen Juden verantwortlich. Er wurde 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt und 1951 begnadigt. Otto Winkelmann (1894 – 1977) war Höherer SS- und Polizeiführer von Ungarn und kurze Zeit Stadtkommandant von Budapest. Bei Kriegsende geriet er in amerikanische Gefangenschaft und wurde 1948 nach Deutschland überstellt, wo kein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde.

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Walter Hellers Schutzpass Vernichtungslager deportiert4, d. h. nach Ankunft in einem solchen sofort ermordet wurden. Wegen Mangel an Eisenbahnzügen wurden Juden Richtung Westen auch zu Fuß auf der Bundesstraße in Marsch gesetzt, und sehr 4

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Brigitte Mihok: Ungarn. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. Wolfgang Benz u. a. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, 2. Aufl., S. 771 ff.

oft Ermüdete, die nicht mehr weiter konnten, auf der Straße erschossen. Damals war ja das Ermorden von Zivilpersonen auf der Straße an der Tagesordnung. Zu dieser Zeit, Anfang Juli 1944, kam Raoul Wallenberg, ein schwedischer Diplomat, nach Ungarn, mit einer Namensliste von Personen, die auf Grund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung (Schweden  – Deutsches Reich) mit einem schwedischen Schutzpass ausgestattet wurden und bis zur Ausreise nach Schweden unter dem Schutz der schwedischen Gesandtschaft standen. Auf dieser Liste befand sich die Familie Heller, drei Personen. Mein Vater und ich hatten die Interessensvertretung schwedischer Firmen in Ungarn wahrgenommen. Die Schwedische Gesandtschaft stellte uns drei Schutzpässe auf die Namen Andreas, Georg und Walter Heller aus.5 Bevor Wallenberg kam und unterschrieb, unterzeichnete der schwedische Gesandte6 die Schutzpässe. Mein Foto dafür machte mein Freund Tom Veres7. Thomas Veres, der Fotograf von Wallenberg, war auch mit mir im Lager gewesen. Durch den Schutzpass konnte ich mich etwas freier in der Stadt bewegen. Da es damals vorkam, dass prüfende Polizei oder Wehrmacht den vorgezeigten Ausweis zerrissen und nochmals verlangten, hatte man zur Vorsicht beglaubigte Kopien. Nachdem Wallenberg mit der Ausgabe von Schutzpässen begonnen hatte, retteten auch andere neutrale Länder wie die Schweiz, Spanien und der Vatikan durch ähnliche Aktionen Juden vor der Deportation und Ermordung. Am 15. Oktober 1944 wurde der ungarische Reichsverweser Admiral Horthy nach seiner Proklamation über den verlorenen Krieg unter Hausarrest gestellt und später im Deutschen Reich in »Schutzhaft« genommen. Die Pfeilkreuzler, die ungarischen Faschisten, übernahmen die Macht. In der Folge kam es zu Hausdurchsuchungen und Plünderung in Häusern, die nur von Juden bewohnt waren. Anfang November wurde ich auf der Straße aufgegriffen und im Dohány-Tempel (Große Synagoge), dem größten Ungarns, zwei Tage lang festgehalten. Geld, Uhr, Füllfeder und Taschenmesser wurden mir weggenommen. 5

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Auch die Familie Moser aus Parndorf zählte zu den Österreichern, die von Raoul Wallenberg durch einen schwedischen Schutzpass gerettet werden konnten. Siehe dazu auch Jonny Moser: Wallenbergs Laufbursche: Jugenderinnerungen 1938 – 1945. Wien: Picus Verlag 2006. Gemeint ist der schwedische Gesandte Carl Ivar Danielsson. Thomas Veres’ (1923 – 2002) Vater arbeitete als Fotograf für Miklós Horthy, der sie persönlich nach Einführung der Gesetze gegen Juden davon ausnahm. Mit der Machtübernahme durch die Pfeilkreuzler im Oktober 1944 wurden sämtliche Ausnahmen aufgehoben. Durch seinen Vater kannte Veres einen schwedischen Diplomaten, der ihn mit Raoul Wallenberg bekannt machte. Er stellte in der Folge vor allem Passfotos für die schwedischen Schutzpässe her, u. a. das von Walter Heller. Am 28. November 1944 fotografierte Veres unter persönlicher Lebensgefahr am JózsefvárosiBahnhof die Deportation ungarischer Juden. Er lebte später in New York. Siehe auch http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-27113198.html (Abruf 2. September 2013).

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Mich hat man dann nochmals aufgegriffen und am 28. November 1944 zum Józsefvárosi-Frachtenbahnhof in Budapest eskortiert, wo der nach Deutschland gehende Frachtenzug bereitstand. Nach amtlicher Feststellung wurde an diesem Tag der letzte Transport aus Ungarn mit 14.000 Juden durchgeführt. Uns war bereits bekannt, dass Deportierte bei der Ankunft am Zielbahnhof oft direkt erschossen wurden, wie z. B. in Maly Trostinec, wo über 13.500 österreichische Juden ermordet wurden.8 Heute können sich in Wien selbst 100-jährige SS-Angehörige noch an diese Ermordung erinnern. Ich war schon früh morgens in der Warteschlange zum Abtransport, als Raoul Wallenberg mit dem Auto, mit Kraftfahrer und Fotograf Thomas Veres eintraf und alle mit einem Original-Schutzpass ausgestatteten Personen vom Abtransport befreite. Unter Eskorte wurde ich in ein von der schwedischen Botschaft zur Verfügung gestelltes Haus gebracht, wo ich bis zur Befreiung Budapests durch die Rote Armee wohnte. Manchmal hat die Wehrmacht um hilfreiche Hände zur Beladung von Lastwagen gebeten, wozu Wallenberg die Zustimmung gab. Ein paar Mal war auch ich dabei. Die Botschaft bemühte sich sehr, die Schützlinge in der Unterkunft mit Lebensmitteln zu versorgen und ärztliche und medizinische Hilfe zu sichern. Nach der Befreiung Budapests im Februar 1945 kehrten mein Vater und ich in unsere Mietwohnung zurück. Damals war uns das Schicksal meines Bruders noch unbekannt. Von seiner Ermordung erfuhren wir erst einige Jahre später. Unsere bisherige Wohnung war während unserer Abwesenheit im schwedischen Schutzhaus von den ungarischen Nachbarn nicht verschont geblieben. Nach einer Beruhigung in der befreiten Stadt mieteten wir eine größere Wohnung, Büro und Lagerflächen an, gründeten die protokollierte Firma A. Heller & Sohn und setzten uns sehr für die Fortsetzung unserer Tätigkeit als Interessensvertretung unserer ausländischen Partner ein. Die politischen Verhältnisse haben diese Tätigkeit aber nur bis 1951 zugelassen, denn die kommunistische Regierung hat den Außenhandel nur neu gegründeten staatlichen Unternehmungen gestattet. Die neuen Machthaber haben die Privatfirmen in staatlichen Besitz und die Warenlager entschädigungslos genommen. Der Entschluss, Ungarn zu verlassen, wurde gefasst, aber die Ausreisebewilligung der ungarischen Staatspolizei und die Ausstellung eines österreichischen Reisepasses brauchten nahezu zwei Jahre, bis wir am 13. März 1954 in Wien ankamen und eine entsprechende Wohnung mit Büro fanden. Die Wohnung, in der ich aufwuchs, war 1938 ohne Entschädigung enteignet worden. Leider ist mein Vater infolge der vielen Aufregungen, der Ermordung von 20 Verwandten und meines Bruders am 27. April 1955 an Herzversagen gestorben. Die deutschen Firmen haben die geschuldeten Provisionen von mehr als 100.000 RM nicht bezahlt, ein österreichisches Stahlwerk nur 50 % der uns zustehenden vereinbarten Forderung. 8

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Waltraud Barton, IM-MER (Hg.): Ermordet in Maly Trostinec. Die österreichischen Opfer der Shoa in Weißrussland. Wien: New academic press 2012.

Walter Heller (links mit Koffer) auf dem Weg in ein schwedisches Schutzhaus, fotografiert von Thomas Veres Ich besaß bis zur Wende im Jahr 1989 in Budapest eine Villa mit sieben Mietwohnungen sowie ein kleines neu gebautes Wohnhaus mit einem Geschäftslokal und vier Wohnungen, das ich von meinem Onkel Nandor Heller, der mit seiner Frau aus Budapest im Juli 1944 deportiert und ermordet wurde, beziehungsweise von meinem Vater geerbt hatte. Beides war im Grundbuch als lastenfreies Eigentum auf meinen Namen eingetragen. Diese Liegenschaften wurden vom ungarischen Staat enteignet und die Wohnungen sind den damaligen Mietern als Wohnungseigentum vom Staat billig verkauft worden. Den Erlös erhielt der ungarische Staat. Ich habe als Österreicher bis heute keine Entschädigung dafür erhalten. Die Wiener Wohnung, in der ich sechzig Jahre lang wohnte, habe ich meinem seit drei Jahren bei mir lebenden Enkel als Eintrittsberechtigten überlassen, bin ausgezogen und in eine kleinere Wohnung übersiedelt. Heute beschäftige ich mich viel mit der Geschichte des Holocaust. Wie viele Menschen wussten von den Massenerschießungen? Wie viele waren Antisemiten? Es gibt Statistiken, für die Historiker mehrere 10.000 Personen befragt haben. Jeder sagte: »Wir haben nichts gewusst!« Es ist für die Kinder heute wichtig zu erfahren, was in Österreich unter der nationalsozialistischen Herrschaft passierte. Darüber zu erzählen ist vergleichsweise leicht. Aber in der Tat jeden Tag zu zittern, dass man vielleicht umgebracht wird – das ist etwas anderes. Jeden Tag waren wir in Gefahr. Jetzt bin ich 90 Jahre alt und bewundere die großen Veränderungen, auch politische und wirtschaftliche. 233

Generationen des Exils

Helena Lanzer-Sillén

Aus meinem Leben

Ich bin 1931 in Wien geboren. Sowohl ich als auch meine zwei Jahre jüngere Schwester Gertrude1 waren sehr ersehnte, ja wirklich sehr gewünschte Kinder. Mein Vater, Felix Lanzer, arbeitete als Anwalt bei der Stadt Wien und meine Mutter, Wanda Lanzer, geborene Landau, war als Bibliothekarin bei der Arbeiterkammer Wien angestellt. Zu jener Zeit war es recht ungewöhnlich, dass verheiratete Frauen überhaupt berufstätig waren. Meine Mutter jedoch kam von der Arbeit nach Hause, um ein paar Stunden später zu ihrer zweiten – ehrenamtlichen – Arbeit zu gehen. Sie war Direktorin der Arbeitermittelschule, was ja sehr viel Arbeit bedeutete. Sie verbrachte dort meistens fünf von sieben Abenden in der Woche. Sie hatte die Schule 1923 gegründet, die jedoch erst 1925 das Recht erhielt, Maturaprüfungen abzuhalten. Sie war bis 1934 Direktorin, bis sie die Schule nicht mehr weiterführen durfte. Nach den Februarkämpfen leitete einer der engsten Mitarbeiter meiner Mutter, Dr. Ernst Schwab, der schon von Anfang an mit dabei war, die Schule und erhielt die Erlaubnis, sie noch ein paar Jahre weiterzuführen, damit die Schüler dort noch maturieren konnten. Nach dem Krieg wurde diese Schule als Abendgymnasium  – »Bundesgymnasium für Berufstätige« – am Henriettenplatz im 15. Wiener Gemeindebezirk weitergeführt. Es waren keine guten Zeiten, in die wir hineingeboren wurden. Die Februarkämpfe 1934 veränderten vieles. Aber wir Kinder waren zu klein, um das wirklich zu merken. Jeden Sommer fuhren wir in die Tschechoslowakei in einen kleinen Ort namens Bílovice in der Nähe von Brünn, um meine Großmutter Helene und ihren zweiten Mann Otto Bauer zu besuchen. Sie konnten im Februar 1934 in die Tschechoslowakei flüchten, wo sie sich in Brünn niederließen. Auch meine Tante Irene Landau, die Witwe des Bruders meiner Mutter, kam im Sommer mit ihrem Sohn Zbigniew aus Polen dorthin. In Bílovice lernte ich auch die Familie Robinson kennen, die später viel für mich bedeuten sollte. Ihre Tochter war ein paar Jahre älter als ich. Der Vater, Moritz Robinson, war Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung »Arbeiterwille« in Graz gewesen und floh mit seiner Familie im Februar 1934 ebenfalls nach Brünn. 1

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Gertrude hat – genau wie ich – nach der Volksschule das Mädchenlyzeum besucht. Danach ging sie in ein Gymnasium und schloss die Schule mit der Matura ab. Sie studierte danach ein paar Jahre an der Universität in Stockholm und machte anschließend eine Ausbildung zur Arztassistentin und -sekretärin. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in diesem Beruf in Stockholm und Uppsala gearbeitet. Sie blieb unverheiratet und ist 2004 in Uppsala gestorben.

Ich ging in die Schule in der Stiftgasse im 7. Wiener Gemeindebezirk. Als die Nazis Wien einnahmen, musste ich bald die Schule wechseln. Zum Glück gab es noch ein Mädchen in unserer Straße, das zur gleichen Schule sollte. Konnte mein Vater mich nicht dorthin begleiten, so waren wir doch zu zweit. Ich kann mich besonders an eine Episode aus dieser Zeit erinnern. Eines Tages wartete die Hausbesorgerin auf mich, als ich von der Schule nach Hause kam, und sagte leise: »Komm herein zu mir.« Dort erklärte sie mir, dass vor unserer Wohnung einige Männer standen, die meinen Vater holen sollten, und deshalb durfte ich nicht sagen, wo er sei. Sie fragte, ob ich wüsste, wo er hingegangen sei, und sagte mir dann genau, was ich ihnen antworten sollte. Ich lief die Treppen hinauf, und ein paar sehr freundliche Männer vor unserer Wohnungstür fragten mich, ob ich mit meinem Vater nach Hause gekommen sei, und ich, die zwar erzogen war, nicht zu lügen, antwortete genau so, wie die Hausbesorgerin es mir gesagt hatte. Ich gab ihnen eine falsche Richtung an und sagte, dass er erst spät abends kommen werde. Einer der Männer lief sofort die Treppen hinunter. Er fand meinen Vater nicht. Als ich in unsere Wohnung kam, sagte meine Mutter ganz ruhig: »Such deine Schulsachen zusammen. Wir müssen die Wohnung verlassen und ziehen zu der Tante Katharina« – einer Tante meines Vaters. Da meine Mutter sich gut unter Kontrolle hatte, bekam ich keine Angst und verhielt mich so, wie sie es mir gesagt hatte. Als mein Vater nach Hause kam, erzählte ihm die Hausbesorgerin, was passiert war, und er kam auch zur Tante. Dort wohnten wir ein paar Wochen, dann durften wir zurück in die Wohnung. Hätten die Männer meinen Vater erwischt, wäre er nach Theresienstadt gebracht worden. Leider half dies meinem Vater nicht viel: Einige Monate später verschwand er und wurde viele Jahre später für tot erklärt. Ich kann mich noch an eine andere Episode erinnern: Es kamen einige Männer zu unserer Wohnung herauf und schrien «Heil Hitler!». Aber als sie in der Wohnung waren, zeigte es sich, dass es Genossen waren, die verschiedene Bücher und noch einige andere Sachen holten, die bei meiner lieben Kindergärtnerin untergebracht werden sollten. Die Kindergärtnerin war eine Anthroposophin. Als meine Mutter, bevor ich zu ihr in den Kindergarten in der Siebensterngasse kam, fragte, nach welcher Methode sie die Kinder erzog, erwartete sie eine Antwort wie »nach der Philosophie Rudolf Steiners« oder »nach der Montessori-Pädagogik«. Sie sagte jedoch: »Die Kinder hier werden im Sinne von Toleranz und Weltfrieden erzogen.« Das gefiel meiner Mutter gut, und so besuchte ich ebenso wie meine Schwester diesen Kindergarten. Die Tante Lilly Soldan war eine liebe Frau, die ich nach dem Krieg wiedergesehen habe.

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Mit dem Kindertransport nach Schweden Kurz nachdem mein Vater verschwunden war, sagte meine Mutter, als ich eines Tages von der Schule zurückkam: »Morgen wirst du mit ein paar anderen Kindern nach Schweden fahren.« Es wunderte mich inzwischen schon gar nichts mehr. Es war in letzter Zeit so vieles Verschiedenes passiert. Ich hatte nicht einmal Angst. Ich sollte ja bei der Familie Robinson2 wohnen, die ich bereits aus Bílovice kannte, und dann sollten meine Mutter und meine kleine Schwester bald nachkommen, hatte man mir gesagt. Meine Mutter erhielt im Februar 1939 die Möglichkeit, mich mit anderen Kindern nach Schweden zu schicken. Wir waren vielleicht acht Kinder und zwei oder drei schwedische Erwachsene. Ich glaube, dass dieser Kindertransport mehr oder weniger eine private Initiative war und nur einer von zwei oder drei solcher Transporte gewesen ist. Ich habe später von anderen Kindertransporten nach Schweden erfahren, aber es war nicht wie in England, wo man mehrere tausend jüdische Kinder und Kinder von politisch Verfolgten aufnahm. Leider sind auch heute die Zeiten in vielen Ländern so schlecht, dass viele Menschen ihr Land verlassen und woanders als Flüchtlinge auftauchen. Darunter sind auch viele Kinder ohne Begleitung. Ich muss sagen, dass ich mich immer sehr aufrege, wenn man sich heute in Schweden wundert und es auch oft verurteilt, wenn Eltern ihre Kinder allein in die Ferne schicken, ohne sicher zu sein, ob sie sie je wieder sehen werden. Ich verstehe es aber wirklich, ja aus eigener Erfahrung, dass Eltern ihre Kinder um jeden Preis retten wollen, auch wenn sie selbst umgebracht werden sollten. Meine Mutter hatte jedoch nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Möglichkeit, mich bald wiederzusehen. Sie hatte das Glück, wenige Monate später nach Schweden auswandern zu können dank des schwedischen Ministers Rickard Sandler, der für vierzig sozialdemokratische Flüchtlinge die Einreise nach Schweden erwirkte.3 Meine Ankunft in Schweden Ich kam am 13. Februar 1939 in der Früh in Stockholm an und wurde vom Onkel Ro, wie ich Moritz Robinson nannte, abgeholt. Ich fuhr zum ersten Mal in meinem Leben Taxi und wurde gut bei der Familie Robinson untergebracht. Ihre Tochter Maridl (eigentlich Maria, später Mary) konnte schon recht gut Schwedisch und sie brachte auch mir ein klein wenig bei. 2

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Die Familie Robinson kam mit Hilfe der schwedischen Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung nach Schweden. Moritz Robinson emigrierte 1941 gemeinsam u. a. mit der Familie Heinz, Helene Bauer und Egon Breiner auf der »Annie Johnson« von Wladiwostok nach Los Angeles, von wo aus er nach New York weiterreiste. Regina Robinson und ihre Tochter Maridl kamen erst einige Monate später nach (Schriftliche Auskunft von Otto Heinz vom 25. Juni 2013 an die Herausgeberin; siehe dazu auch den Beitrag von Otto Heinz in diesem Band). Die weiteren Anmerkungen stammen von der Herausgeberin. Rickard Sandler (1884 – 1964) war von 1932 bis 1939 schwedischer Außenminister.

Helena Lanzer-Sillén im Alter von ca. 10 Jahren Ich wollte in die Schule, aber dort war gerade eine Kinderkrankheit ausgebrochen, weshalb die Frau Regina sich weigerte, mich in die Schule zu schicken. Sie sagte: »Warte, bis deine Mama kommt.« Endlich kamen meine Mama und meine Schwester nach Stockholm. Dort, wo die Robinsons wohnten, auf der kleinen Stockholmer Insel Lilla Essingen mit nur fünf oder sechs Gassen, gab es noch mehrere unvermietete neue Wohnungen. Wir fanden dort eine, die meiner Mutter gut gefiel und die groß genug war, dass auch meine Großmutter dort wohnen konnte. Sie war mit Otto Bauer von Brünn nach Paris geflohen, wo er leider im Juli 1938 starb, und da wollte sie zu uns. Zum Glück erhielt auch sie eine Einreisegenehmigung nach Schweden. Ich weiß nicht, wer ihr dabei behilflich war. Meine Mutter schickte mich sofort in die Schule, und als das Schuljahr bald darauf zu Ende war, bot man ihr an, mich kostenlos in ein Ferienlager für Schulkinder armer Familien zu schicken. Dankend nahm meine Mutter das Angebot an. Das bedeutete sowohl, dass ich auf das Land kam, als auch, dass sie ein Kind weniger zu ernähren brauchte. Sie hatte ja äußerst wenig Geld, da man nur eine sehr kleine Summe hatte ausführen dürfen und sie 239

Helena Lanzer-Sillén und ihre Schwester Gertrude, 1945 außerdem noch keine Arbeit in Stockholm gefunden hatte. Als meine Großmutter wenig später zu uns zog, verbesserte sich die finanzielle Lage etwas, da die Sozialistische Internationale meiner Großmutter eine kleine Rente zukommen ließ, die für eine Person gedacht war, aber für uns vier ausreichen musste. Als ich vom Ferienlager zurückkam, konnte ich fließend Schwedisch sprechen und nicht nur das. Ich hatte mich dort auch an das schwedische Essen gewöhnt und verschiedene Bräuche wie zum Beispiel die Mittsommerfeier4 mit ihren vielen schwedischen Ringtänzen miterlebt und ebenso viele schwedische Lieder gelernt – das alles ist in einem Integrationsprozess sehr wichtig. Ich kam in die zweite Volksschulklasse und konnte nach der vierten Klasse in ein siebenjähriges Mädchenlyzeum wechseln und später mit der Matura abschließen.

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Midsommar feierte man in Schweden früher am 24. Juni und heute an jenem Samstag im Juni, der zwischen den 20. und 26. Juni fällt. Üblicherweise wird um eine mit Blumen und Kränzen geschmückte Mittsommerstange (midsommarstång oder majstång) getanzt und dabei werden Volkslieder gesungen. In traditionellen Gebieten tragen Kinder und Frauen oft Trachten und Kränze aus Blumen im Haar.

Unsere Kontakte zu österreichischen Emigrantenkreisen So lange meine Großmutter bei uns wohnte, gab es laufend Besuch von verschiedenen Leuten, sowohl Genossen, die sie schon lange kannte, als auch von sehr vielen prominenten schwedischen Sozialdemokraten. Nach der Okkupation Dänemarks und Norwegens im April 1940 hatten viele Emigranten Angst, dass Schweden als nächstes an die Reihe kam. Viele wollten weg. Auch wir wollten aufbrechen. Wir sollten nach Amerika fahren. Wir Kinder fühlten uns durch die vielen Impfungen, die die Amerikaner verlangten, sehr gepeinigt. Es gab zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur eine Möglichkeit, nach Amerika zu kommen – die mit der Transsibirischen Eisenbahn. Bruno Kreisky hatte schon eine Fahrkarte, und wir waren auch bald an der Reihe und sollten eine für einen etwas späteren Termin bekommen. Da Bruno Kreisky noch etwas Dringendes ausrichten wollte, bot er meiner Großmutter an, an seiner Stelle zusammen mit u. a. den Familien Heinz und Robinson zu fahren. Bruno Kreisky sollte dann gemeinsam mit meiner Mutter, uns Kindern und noch einigen anderen Leuten den nächsten Zug der Transsibirischen nehmen, erzählte mir meine Mutter. Was wir aber alle nicht wussten: Der Zug, in dem meine Großmutter weg fuhr, war für lange Zeit der Letzte, der noch Flüchtlinge mitnehmen konnte. Da geschah das jedenfalls für uns Unerwartete, nämlich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, und dadurch war es mit diesem Fluchtweg nach Amerika vorbei. Sowohl Bruno Kreisky als auch wir sind in Schweden geblieben. Ob Österreichs Geschichte anders verlaufen wäre, wäre Bruno Kreisky nach Amerika gekommen, kann man nicht wissen. Ich weiß nicht, ob Kreisky es bereut hat, dass er damals nicht nach Amerika fuhr. Ich weiß jedoch, dass meine Mutter sehr froh war, in Schweden zu bleiben. Sie wollte eigentlich nicht nach Amerika. Sie hatte gut Schwedisch erlernt. Sie hatte zwar einen Akzent, aber sie sprach und schrieb ein äußerst gutes und korrektes Schwedisch. Kurz vor Kriegsende kamen die so genannten »Weißen Autobusse« mit KZ-Häftlingen nach Schweden, die es Graf Folke Bernadotte aus einigen Konzentrationslagern herauszuholen gelang. Einer der Orte, wo die sehr schwer kranken Leute untergebracht wurden, war die kleine Stadt Sigtuna. Man hatte rasch einige Internatsschulen in provisorische Spitäler umgestaltet. Da meine Mutter außer Deutsch und Schwedisch auch Polnisch und Französisch sprach, wurde sie als Fürsorgerin für ungefähr ein Jahr dort angestellt. Zum Glück hatten wir in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung auch eine junge Untermieterin, die es übernahm, für uns abends Essen zu kochen. Die Hauptmahlzeit bekamen wir in der Schule, denn in den Stockholmer Schulen wurde schon damals allen Kindern ein warmes Mittagessen serviert. Einige dieser jungen Mädchen, die das KZ überlebt hatten, wurden mit schwerer Knochentuberkulose nach Stockholm in ein Spital gebracht. Sie 241

waren nicht viel älter als ich – ungefähr 16 bis 18 Jahre – und da dieses Spital in der Nähe meiner Schule lag, habe ich sie oft besucht. Alle sind glücklicherweise ganz gesund geworden und führten später ein gutes Leben in Schweden. Meine Mutter wollte gern nach Kriegsende sobald als möglich nach Wien zurückkehren, aber man bot ihr dort keine passende Arbeit an und sie brauchte außerdem eine Wohnung. Wir zwei Töchter waren von dem Gedanken, Schweden und alle unsere Freundinnen zu verlassen, nicht so begeistert. Wir waren auch beunruhigt, dass wir in der österreichischen Schule nicht so gut bestehen würden. Erst viel später, als meine Mutter in Schweden in den Ruhestand ging, hat man sie gebeten, den Nachlass von Victor und Fritz Adler5 zu ordnen und zu inventarisieren, eine Arbeit, die mehrere Jahre dauerte, aber auch bedeutete, dass meine Mutter wieder in ihr liebes Wien zurückkehrte. Sie hatte viel Erfahrung mit einer solchen Tätigkeit, da sie viele Jahre im Archiv der schwedischen Arbeiterbewegung angestellt war und dort mit der Bearbeitung des Nachlasses von Hjalmar Branting6, Schwedens erstem sozialdemokratischen Staatsminister, betraut worden war. Das erste Mal, als ich wieder nach Österreich kam, war im Jahre 1948, als die Sozialistische Jugendinternationale (IUSY)7 ihr erstes Sommerlager nach dem Krieg in einem Teil des ausgeräumten ehemaligen KZ Ebensee veranstaltete. Dort richteten wir uns für zwei Wochen einen eigenen utopischen Staat mit Peter Strasser8 als Präsidenten und jungen Vertretern aus verschiedenen Ländern in unserer Lagerregierung ein. Um mit der schwedischen Delegation mitfahren zu können, musste man der schwedischen Sozialdemokratischen Jugendorganisation (SSU9) angehören. Ich bin also auf diese Art so zu sagen in die Partei »hineingerutscht« und habe in den folgenden Jahren verschiedene Funktionen übernommen. Ich war einige Jahre im Vorstand der Stockholmer Sozialdemokratischen Jugendorganisation (Stockholms Socialdemokratiska Ungdomsdistrikt) und 5

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Der Nachlass des sozialdemokratischen Politikers Victor Adler (1852 – 1918) und seines Sohnes Friedrich (1879 –1960), des Sekretärs der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, befindet sich heute im Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien. Er enthält u. a. den Briefwechsel Victor Adlers mit Friedrich Engels und Friedrich Adlers mit Albert Einstein, weiters Korrespondenzen von Emma Adler. Hjalmar Branting (1860 – 1925), Gründungsmitglied der schwedischen Sozialdemokratischen Partei und ab 1908 Parteivorsitzender, wurde 1897 als erster Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt. Von 1920 bis 1925 war er mehrmals Staatsminister. 1921 erhielt er den Friedensnobelpreis. 1946 war die Sozialistische Jugendinternationale unter dem Namen International Union of Socialist Youth in Paris neuerlich begründet worden. Peter Strasser (1917 – 1962) war ab 1937 letzter Vorsitzender der Revolutionären Sozialistischen Jugend, nach dem Zweiten Weltkrieg Obmann der Sozialistischen Jugend, von 1948 bis 1954 auch Vorsitzender der Sozialistischen Jugendinternationalen (IUSY) und von 1949 bis 1962 Abgeordneter des Nationalrates für die SPÖ. Sveriges Socialdemokratiska Ungdomsförbund

Helena Lanzer-Sillén mit ihrer Großmutter Helene Bauer, um 1940 etwas später gehörte ich dem Vorstand der Sozialdemokratischen Frauen Stockholms (Stockholms Socialdemokratiska Kvinnodistrikt) über mehrere Jahre an. Ich bin heute nach wie vor sowohl in unserer sozialdemokratischen Bezirksorganisation als auch bei den Sozialdemokratischen Frauen Stockholms aktiv. Im Sommer 1949 veranlasste meine Mutter, dass ich als »Erzieherin« im Ferienlager der Kinderfreunde im Herrenhaus an der Aue in der Nähe von Gloggnitz arbeiten konnte. Dort habe ich viele sehr arme Kinder mit unterschiedlichen schweren Lebensgeschichten kennen gelernt und sammelte dabei viele neue Erfahrungen. Als ich zurückfahren sollte, wurde ich gefragt, ob ich zusammen mit der Anni Binder und ihren zwei kleinen Kindern fahren könnte, um ihr ein bisserl zu helfen. Sie wollte noch mal vor ihrer Übersiedlung in die Per-Albin-Hansson-Siedlung in Wien nach Schweden zurück. Der Weg von Wien nach Stockholm mit dem Zug dauerte damals zwei Tage und Nächte, und der Komfort war sehr gering. Meine Mutter verkehrte mit der Familie Binder sowohl in Schweden als auch später in Wien. Ich habe Otto Binder vor allem während seiner letzten Jahre öfters in Wien besucht und ich stehe auch weiterhin mit seiner Tochter Margit in Kontakt. 1952 arbeitete ich länger als ein halbes Jahr in Wien: Zuerst war ich ehrenamtliche Dolmetscherin im Hörndlwaldlager, auch einem IUSY-Lager, und danach bei einer Firma, die schwedische Maschinen in Österreich vertrieb. Meine Mutter meinte, dass ich auf diese Weise mein Deutsch verbessern würde, was ja gestimmt hat. Ich bin wirklich gerne in Wien und Österreich. Aber vor allem in meiner Jugend war das Leben in Wien viel, viel härter als in Schweden. Ich kann mich gut erinnern, dass der Firmenchef vom 243

Lehrmädchen dieselbe Leistung wie von den anderen verlangte. Auch der Umgangston mit Mitarbeitern war und ist in Schweden kollegialer. Beruflich habe ich während mehrerer Jahre beim schwedischen Gewerkschaftsbund gearbeitet, erst in der Frauenabteilung als Sekretärin der von mir sehr geliebten Sigrid Ekendahl10, die später auch meine Trauzeugin wurde, und dann in der wirtschaftswissenschaftlichen und internationalen Abteilung, wo Rudolf Meidner11, ein hervorragender Ökonom, der große Bedeutung für die Nachkriegsentwicklung in Schweden hatte, mein Chef war. Er kam als Flüchtling aus Breslau, das damals zu Deutschland gehörte. Später arbeitete ich mehrere Jahre als Chefsekretärin bei der Stockholmer Partei. 1970 begann ich als Direktorin beim Schwerhörigenverein Stockholm Stadt und Land mit seinen ungefähr 6.000 Mitgliedern, wo ich bis zu meiner Pensionierung 1996 blieb. Schweden ist ein Land, in dem die allermeisten Menschen Mitglieder nicht nur von einem, sondern von mehreren Vereinen sind. Jedoch ist heute das Interesse daran, Mitglied in einem Verein zu sein, leider gesunken. Während ich beim Gewerkschaftsbund angestellt war, begann ich abends an der Sozialakademie (Socialinstitut, heute Socialhögskola) zu studieren. Dort lernte ich Gunnar Sillén kennen. Ich sollte für die sozialdemokratische Zeitung »Dala-Demokraten« einen Artikel über die Studenten, die aus Dalarna, einer schwedischen Provinz, kamen, schreiben und Interviews mit allen machen. Es stellte sich heraus, dass nur neun der Studenten aus Dalarna kamen, u. a. eine Parlamentarierin namens Elsa Lindskog12, die mir erklärte, dass sie mehr lernen wollte, um gute Arbeit im schwedischen Reichstag zu leisten. Der Vorsitzende der Studentenvertretung des Socialinstitutet – in Schweden war es damals Pflicht, der Studentenvertretung anzugehören – war Gunnar Sillén, der auch aus Dalarna kam. Es zeigte sich, dass wir beide dem sozialdemokratischen Studentenverein angehörten und auch sonst viele gemeinsame Interessen hatten. 1957 heirateten wir. Da Gunnar zwei Jahre vor mir zu studieren begonnen hatte – und außerdem ganztägig –, war er bereits in der kleinen Gemeinde Järna, 50 km von Stockholm entfernt, als Beamter angestellt. Ich arbeitete weiterhin beim Gewerkschaftsbund. Damals wie auch heute war es sehr schwer, eine Wohnung in Stockholm zu bekommen. Aber als wir nach ein paar Jahren unser erstes Kind erwarteten, gelang es uns, auch eine Wohnung in dem Stockholmer Vorort Hagsätra zu bekommen. Mein Mann war inzwischen Direktor des Folkets Hus 10

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Sigrid Ekendahl (1904 – 1996) war als erste Frau in Schweden innerhalb des Gewerkschaftsbundes LO (Landsorganisationen i Sverige) in leitender Funktion tätig und gründete einen Rat für Frauen-Angelegenheiten. Rudolf Meidner (1914 – 2005) war Chefökonom des schwedischen Gewerkschaftsbundes LO und entwickelte gemeinsam mit Gösta Rehn das »Rehn-Meidner-Modell« als Grundlage für die sozialdemokratische Arbeitsmarktpolitik in Schweden. Elsa Lindskog (1904 – 1991) war seit 1949 Mitglied der Zweiten Kammer im Reichstag.

Helena Lanzer-Sillén mit Schwester Gertrude und Mutter Wanda Lanzer, 1946 (Haus der Begegnung) in Stockholm und wir beide hatten dadurch näher zu unserem Arbeitsplatz. Ein paar Jahre später bekamen wir ein Zwillingspärchen. Da arbeitete ich bereits bei der Stockholmer Partei als Chefsekretärin. Mein Mann wechselte seine Arbeit und wurde Beamter in unserer Nachbargegend Huddinge. Leider ist mein Mann einige Jahre später an Krebs gestorben. Er war ein guter Mann und Vater. Es war ein schwerer Schlag für mich. Da ich doch selbst zum größten Teil ohne Vater aufgewachsen bin, wollte ich so sehr, dass meine Kinder sowohl Vater wie Mutter haben sollten. Meine Kinder waren bereits 14 und 19 Jahre, als sie ihren geliebten Vater verloren. Ich dachte jedoch in meiner Trauer immer daran, wie viel leichter es für mich gewesen war als für meine arme Mutter, die ein neues Leben in einem fremden Land ohne Geld aufbauen musste.

Meine Integration in Schweden Ich habe mir jetzt – da die Frage heutzutage aufgrund der vielen Zuwanderer auch in Schweden wieder sehr aktuell ist – schon verschiedene Gedanken gemacht, wieso ich so gut in der schwedischen Gesellschaft integ245

riert bin und wie es gewesen wäre, wären wir nach Amerika ausgewandert, oder wie es wäre, wäre es meiner Mutter geglückt, mit uns nach Wien zurückzukehren. Es gibt natürlich viele verschiedene Gründe, wieso wir zwei Kinder so gut in der schwedischen Gesellschaft aufgenommen wurden. Meine Mutter war zwar mit ihrer Arbeit im Archiv der Sozialdemokratischen Partei Schwedens sehr zufrieden, aber sie verkehrte meist mit anderen Emigranten und fühlte sich in Schweden nicht so ganz zu Hause. Für uns war es anders. Wir kannten kaum etwas Anderes. Ich meine auch, dass in Familien mit sowohl Mutter als auch Vater alte Traditionen leichter aufrechterhalten werden können als in unserem Fall mit einer alleinstehenden Mutter. Meine Schwester und ich gingen nach der Schule in einen Hort und waren jeden Sommer in verschiedenen Ferienlagern mit Ausnahme eines einzigen Sommers, in dem wir zusammen mit meiner Mutter bei einer Familie auf dem Land wohnten, deren Kinder täglich Deutschunterricht von meiner Mutter erhielten, um nicht die Klasse wiederholen zu müssen. Wir waren also sehr oft nur mit schwedischen Kindern zusammen und wurden auch oft zu ihnen nach Hause eingeladen oder sie kamen zu uns. Sonntags trafen wir uns jedoch oft mit anderen österreichischen Familien. Ich kann mich besonders an die Familie Novy erinnern, mit deren gleichaltrigen Tochter Erna ich befreundet war. Der Vater, Franz Novy13, gelangte während des Krieges unter sehr schwierigen Umständen nach London. Er durfte mitsamt seinem eigenen Gewicht nur 100 kg mitnehmen. Da er aber selber über 100 kg wog, musste er erst abnehmen. Als sich das Flugzeug, das nicht für Passagierverkehr vorgesehen war, London näherte, zeigte es sich, dass es nicht möglich war zu landen, und so flog es nach Stockholm zurück. Erst das zweite Mal ist er nach einem riskanten Flug in England gelandet. Seine Familie vereinte sich bald nach dem Krieg in Wien, wo er Baustadtrat wurde. Auch die Familie Josef Pleyls14, die einen ungefähr gleichaltrigen Sohn hatte, besuchten wir öfters. Sie wohnten alle in dem Vorort Råsunda, dem zweiten Ort, in dem viele österreichische Emigranten eine Wohnung gefunden hatten. Ich kann mich an die Mutter Bruno Kreiskys15 erinnern, weiter an Karen und Ernst Winkler16, um nur einige von den Råsunda-Leuten zu 13

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Franz Novy (1900 – 1949) emigrierte als Vorsitzender der Auslandsvertretung der österreichischen Gewerkschaften 1938 nach Stockholm und 1942 nach London, wo er zum Obmann des sozialdemokratischen Austrian Labour Club gewählt wurde. 1946 wurde er Stadtrat für das Bauwesen in Wien. Josef Pleyl (1902 – 1989), Sekretär der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, floh im Februar 1934 in die Tschechoslowakei und danach nach Schweden. 1945 bis 1961 war er Mitglied des Wiener Gemeinderats und Abgeordneter zum Wiener Landtag. Irene Kreisky, geborene Felix (1884 – 1969) Der Parteifunktionär und Journalist Ernst Winkler (1899 – 1976) und seine spätere norwegische Ehefrau Karen, geb. Johanessen. Ernst Winkler war von 1956 bis 1966

Helena Lanzer-Sillén, 2009 nennen. Ich könnte auch Curt Hildebrand17, seine Frau Marta und deren Sohn erwähnen, die allerdings woanders wohnten. Er stellte für schwedische Zeitungen Karten her, die die Stellungen der verschiedenen Armeen zeigten. Aus dem Bekanntenkreis auf Lilla Essingen, wo wir wohnten, sind mehrere Familien nach Amerika gegangen, so die bereits erwähnte Familie Heinz18 oder die Rothers19, und es waren sicher noch weitere.

Wo ist meine Heimat? Ich bin in Schweden aufgewachsen, Schwedisch ist die Sprache, die ich am besten beherrsche, ich denke auf Schwedisch und ich schreibe Schwedisch, habe einen Schweden geheiratet, habe schwedische Kinder und noch mehr schwedische Enkelkinder – also ist Schweden das Land, wo ich zu Hause bin. Im Schwedischen gibt es eigentlich kein Wort für »Heimat«, und statt des Wortes »Vaterland« benützt man meistens das Wort »fosterland«, das eigentlich das Land meint, in dem man erzogen worden ist. Also, ich bin in Schweden zu Hause, komme aber sehr, sehr gern nach Österreich, wo ich mir durch meine vielen Besuche beinahe mehr Freunde als in Schweden geschaffen habe.

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Nationalratsabgeordneter und als Landesparteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei in Niederösterreich Vorgänger von Bruno Kreisky. Curt Hildebrand (geb. 1910) arbeitete als Journalist für die sozialdemokratische Parteipresse und als Redakteur der »Österreichischen Information«. Siehe auch den Beitrag von Otto Heinz in diesem Band. Bruno Rother war Funktionär des Parteivorstandes der sudentendeutschen Sozialdemokratie.

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Ich bin sehr, sehr dankbar, dass man mich und meine Familie in Schweden, diesem Land, das seit über 200 Jahren keinen Krieg geführt hat, aufgenommen hat, und dass ich dort aufwachsen konnte. Dadurch wurden unsere Leben gerettet. Auch wenn meine Identität sehr stark schwedisch ist, so gibt es jedoch in mir noch eine weitere Identität, von der ich mich nicht trennen will und kann, nämlich die eines Flüchtlingskindes. Nach meiner Pensionierung bekam ich die Möglichkeit, mich bei verschiedenen Hilfsprojekten zu engagieren. Die Sozialdemokratischen Frauen Stockholms betreuen in einem Lager für Flüchtlinge aus der Westsahara in der Nähe der algerischen Stadt Tindouf eine Schule – die Olof-Palme-Berufschule für junge Frauen. Dieses Lager, das mittlerweile leider schon seit über 35 Jahren besteht, habe ich mehrere Male kurz besucht. Wir konnten auch der Direktorin sowie einigen Lehrern eine kurze Ausbildung in Schweden ermöglichen. Dank meiner früheren Arbeit im Schwerhörigenverein konnte ich außerdem verschiedene Hilfsprogramme initiieren: zuerst in Odessa in der Ukraine, dann in Tiraspol in Transnistrien, einem autonomen Gebiet innerhalb Moldawiens, und momentan in Georgien, damit vor allem schwerhörige Kinder ein Hörgerät erhalten und angepasst bekommen. Unser jetziges Programm in Georgien widmet sich jedoch nicht nur Kindern, sondern auch Flüchtlingen. Dort gibt es leider sehr viele Binnenflüchtlinge aus Abchasien und Südossetien, die vor allem durch den kurzen Krieg im Herbst 2008 hörgeschädigt wurden. Da alle unsere Entwicklungsprogramme Hilfe zur Selbsthilfe sein sollen, haben wir in allerletzter Zeit dort auch Kurse für Ärzte und anderes erforderliche Personal abgehalten. In der kleinen Stadt Gori, Stalins Geburtsort, gründeten wir ein Gehörzentrum mit von uns ausgebildetem Personal, das bei der Stadt angestellt ist und unsere Arbeit fortführen soll. Vorläufig werden noch unsere mitgebrachten Geräte im Gehörzentrum kostenlos angepasst. Wir hoffen, dass der georgische Staat in Zukunft verstärkt Hörgeräte finanzieren wird, da sich die meisten betroffenen Georgier derzeit keines leisten können. Wir führten auch Gespräche mit den verantwortlichen Politikern in Gori, um den schwerhörigen Schulkindern zu helfen, die bisher überhaupt keine Hilfe angeboten bekommen haben. Wir erhielten eine Einladung vom Ministerium für Kranken- und Gesundheitspflege in Tiblis und haben uns für Ausbildungsmöglichkeiten eingesetzt. Früher gab es eine solche Spezialausbildung nur in Moskau oder dem damaligen Leningrad (St. Petersburg). Diese qualifizierten Leute sind heute allerdings schon bald im Pensionsalter und es wird schwierig werden, sie als Fachkräfte nachzubesetzen. Außerdem haben wir zusammen mit einigen Eltern hörgeschädigter Kinder einen Elternverein gegründet, der sich ganz besonders für eine Verbesserung der Schulsituation einsetzt. Um nochmals auf das Thema »Integration« zurückzukommen: Das Problem der Integration ist heute sicher viel schwerer zu lösen als zu der 248

Zeit, als ich ein Kind war. Der Kulturunterschied zwischen Österreich und Schweden war und ist nicht so groß. Hingegen sind heute die Schwierigkeiten für Leute aus ganz anderen Kulturkreisen umfassender. Es ist ein Problem für ganz Europa, das gelöst werden muss, sonst könnten in der Zukunft wieder solche schrecklichen intoleranten Zeiten kommen wie in meiner Kindheit, aber auch später, wie wir an Beispielen aus verschiedenen Ländern erlebt haben. Ich hoffe und wünsche, dass alle zugewanderten Kinder, auch die Kinder der zweiten Generation, sich dort gut zurecht finden, wo sie gelandet sind, und ohne Diskriminierung aufwachsen können, aber auch, dass sie ihr neues Land lieben und als Dank ihr Bestes tun, um zu einer guten Entwicklung ihrer neuen Heimat beizutragen.

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Miguel Friedmann

(M)Eine Kindheit in Schweden. Ein Exil-Zeugnis

Meine Eltern, Hans Friedmann und Christina, geb. Popper1, waren im März 1938 Studenten der Chemie an der Universität Wien. Sie hatten einander während des Studiums kennen gelernt. Mein Vater stammte aus einem gutbürgerlichen jüdischen konservativen Elternhaus in Wien. Meine Mutter war die einzige Tochter eines Wiener jüdischen Arztes und einer nichtjüdischen Ärztin. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich war meinen Eltern klar, dass sie nicht nur die Universität zu verlassen und ihre Studien abzubrechen hatten, sondern dass sie überhaupt aus Österreich flüchten mussten. In den schriftlich festgehaltenen, nicht publizierten Lebenserinnerungen meines Vaters (1995) schreibt er: Es war klar, dass man als Jude und Kommunist nicht im Lande bleiben konnte. Dank dem fiktiven Arbeitsvertrag, den mir mein bereits nach Kolumbien emigrierter Bruder prompt aus Bogotá geschickt hatte, bekam ich ein kolumbianisches Einreisevisum. Ich wollte zwar nicht dorthin, aber es war unmöglich, ein Visum für ein anderes Land zu bekommen. Dann vergingen noch einige Wochen in Wien mit Laufereien und Anstellen bei diversen Ämtern, z. B. musste ich nachweisen, dass ich keine Hundesteuer schuldig war und musste mich vom Militär für »wehrunwürdig« erklären lassen. Schließlich hatte ich alle Papiere beisammen, ebenso hatten mir meine Eltern eine Schiffskarte von Amsterdam nach Puerto Colombia gekauft, und am 21. April 1938 reiste ich mit den bekannten 10 Reichsmark aus Wien ab. […] Meine damalige Wiener Freundin Christl war mit einem Visum für Schweden nach Amsterdam gekommen, welches ihr die Frau Greta Lamm, eine Schwedin, verschafft hatte. Greta Lamm2 war die Frau des schwedi1 2

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Zwischen Christina Popper und Lutz Popper besteht keine Verwandtschaft. (Die Anmerkungen stammen von der Herausgeberin.) Greta Lamm (1888 – 1968) war Sekretärin des Internationalen Foyers, einer privaten Hilfsorganisation, die viele ExilantInnen – unabhängig von ihrer politischen Einstellung – unterstützte. 1945 und 1946 gehörte sie dem Vorstand des Hjälpkommittén för tyska och statslösa offer för koncentrationslägren (Hilfskomitee für deutsche und staatenlose Opfer der Konzentrationslager, ab 1946 Demokratiska hjälpkommittén för Tyskland – Demokratisches Hilfskomitee für Deutschland) an, das ehemalige KZHäftlinge in Schweden unterstützte und Hilfslieferungen nach Deutschland, vor allem für Kinderheime und Flüchtlingslager, organisierte. Vgl. Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München: Carl Hanser Verlag 1974, S. 87, 219, 453.

schen Professors Martin Lamm3, der aus einer sozialdemokratischen Familie stammte. Er war damals als Professor für Literaturgeschichte sehr bekannt und ein Mitglied, eines von achtzehn, der Schwedischen Akademie. Greta Lamm war nach Wien gekommen, um Juden mit Hilfe von Einreiseerlaubnissen nach Schweden zu retten. […] Sie hat dann auch Christls Vater, Dr. Hans Popper, und später ihrer Stiefmutter Elsa Popper die Emigration nach Schweden ermöglicht. Die erste Station des Exils meiner Eltern war also Amsterdam. Sie beschlossen aber dort, gemeinsam nach Kolumbien weiterzufahren. Mein Vater reiste nach zwei Wochen per Schiff aus Amsterdam ab, wodurch er während der Überfahrt zwei Wochen lang Zeit hatte, anhand eines kleinen Wörterbuchs Spanisch zu lernen. Meine Mutter musste noch einige Zeit in Amsterdam auf die zu beschaffenden Einreisepapiere für Kolumbien warten. Sie hatte beschlossen, statt mit ihren Eltern nach Schweden zu emigrieren, lieber meinem Vater nach Kolumbien zu folgen. Es sollte daraus ein Exil in Kolumbien bis zum Herbst 1947 werden. Ich wurde im Jahr 1942 in Bogotá als das mittlere von drei Kindern geboren. Meine Schwester Ilse war zwei Jahre älter als ich, mein Bruder Martin ungefähr drei Jahre jünger. In Kolumbien befanden sich mittlerweile auch die Eltern meines Vaters, Ida und Otto Friedmann, und seine drei Geschwister. Der ältere Bruder war bereits seit etwa zwei Jahren in Bogotá und hatte dort ein Import-ExportBüro gegründet. Außerdem lebten noch einige weitere Verwandte aus Wien in Bogotá. Den meisten von ihnen, wenn nicht allen, hatte der ältere Bruder meines Vaters mit Hilfe von mehr oder weniger fingierten Arbeitsverträgen die Einreise nach Kolumbien ermöglicht. Innerhalb der Familie sprachen wir in Kolumbien sowohl Deutsch als auch Spanisch. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sahen meine Eltern die Möglichkeit, nach Europa zurückzukehren. Aber wohin in Europa? Nach Wien? Freunde und Verwandte rieten vehement davon ab, weil – wir von dort ja vertrieben worden seien – man mit drei kleinen Kindern nicht in ein vom Krieg zerstörtes Land übersiedeln solle – Wien von den Russen besetzt sei und wer weiß, was einem da bevorstehe. Meine Eltern planten dennoch, von Kolumbien nach Europa zu übersiedeln. Schließlich war es ja nicht ihr eigener Wunsch gewesen, ihr Leben in Südamerika, in Kolumbien, in einem Land der Dritten Welt, zu verbringen – obwohl es ihnen dort vermutlich gelungen wäre, zu Wohlstand und Reichtum zu gelangen, wie es die beiden Brüder meines Vaters vorgezeigt hatten. Als vielleicht vorläufiges Zwischen-Exilland fassten meine Eltern 3

Der Literaturwissenschaftler Martin Lamm (1880 – 1950) war u. a. Mitglied des Freundeskreises der Freien Bühne, eines Exiltheaters mit Mitwirkenden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 212 und 449.

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schließlich Schweden ins Auge, da dort die Eltern meiner Mutter nach wie vor lebten. Ihr Ziel war jedoch, nach Österreich zurückzukehren, um dort am Wiederaufbau eines freien und fortschrittlichen Landes gemeinsam mit ihren früheren Freunden mitzuwirken. Darüber hinaus vermute ich, dass ein Zerwürfnis zwischen meinem Vater und einigen Verwandten – welches darin bestand, dass sie meinem Vater vorhielten, er sei erstens Kommunist und zweitens habe er als Jude eine Nichtjüdin geheiratet – den Rückkehrentschluss bestärkt hat. Von allen Verwandten haben sich schließlich nur meine Eltern und ein weiteres Ehepaar dazu entschlossen, aus Kolumbien nach Europa zurückzukehren. Sie waren die Einzigen, die sich schon vor ihrer Flucht aus Wien politisch betätigt hatten. Ich traf als fünfjähriger mit meiner Familie im Herbst 1947 in Schweden ein. Es war eine Reise vom Land der Orchideen ins Land der langen grauen Winter oder – wie mein Vater geschrieben hat – »vom Land des ewigen Frühlings ins Land der langen Winter«. Meinen ersten Eindruck von Schweden bekam ich beim Blick durch ein Bullaugenfenster unseres Schiffes auf den kalten, grauen Hafen von Göteborg bei Schneefall. Die Freude meiner Eltern war jedoch groß, als sie in Stockholm die Eltern meiner Mutter, meinen Großvater Hans Popper und meine (Stief-) Großmutter Elsa, wiedersahen. Hans Popper hatte zu dieser Zeit in Stockholm eine gut gehende Arztpraxis als Dermatologe. Er war in Wien Arzt gewesen und hatte bis zu seiner Vertreibung aus Österreich in der Skodagasse im achten Bezirk seine Praxis. Im Ersten Weltkrieg war er als Soldat an der österreichisch-italienischen Isonzo-Front als Röntgenologe eingesetzt gewesen. Er hatte eine Tochter, meine Mutter Christina. Meine Großmutter war im Jahr 1920 an der Spanischen Grippe gestorben, und er hat danach wieder geheiratet. Meine (Stief-)Großmutter Elsa war Hausfrau. Um uns Kinder in der neuen Umgebung fürs Erste aufzuheitern, hatten die Großeltern einen Schulfreund meines Vaters eingeladen, der uns mit allerlei Zauberkunststücken verblüffte. In Sundbyberg, damals ein Vorort von Stockholm, fanden wir eine vorläufige Unterkunft in einem zum Abbruch vorgesehenen Haus, das allerdings noch bewohnt war. Es war winterlich kalt, und wir drei Kleinkinder konnten uns zum ersten Mal in unserem Leben mit Schnee, Eis und Kälte anfreunden. Die anderen Bewohner des Hauses waren sehr freundlich zu uns und feierten sogar mit uns Weihnachten, mit Nadelbaum, Kerzen, Engerln, Naschereien und Lametta am Baum, was wir Kinder von Kolumbien her so nicht gekannt hatten. Einige Wochen nach unserer Ankunft in Schweden gelang es meinem Vater, in der Kleinstadt Köping, ca. 300 km von Stockholm entfernt, als Chemiker Arbeit zu finden. Köping liegt westlich des riesigen Mälarsees. Östlich davon befindet sich Stockholm, wo der Mälarsee in die Ostsee abfließt. Köping war damals ein Industrieort, es gab dort die Unternehmen Svenska Salpeterverken und Skånska Cement und noch ein kleineres Werk von Volvo, außerdem den Hafen am Mälarsee, in dem auch kleinere Hochseeschiffe anlegen und bei Stockholm in den See einfahren konnten. Ich er252

Passfoto von Miguel, Martin und Ilse Friedmann für die Überfahrt von Kolumbien nach Schweden, 1947 innere mich an eine besondere Attraktion für uns Kinder, als wir eines Tages sogar ein U-Boot der schwedischen Marine im Hafen von Köping liegen sahen. In Köping kam ich nach einem Jahr im Kindergarten im Alter von sieben in die Volksschule. Mein Bruder war damals vier Jahre alt, meine Schwester neun. Das Erlernen der schwedischen Sprache stellte für uns Kinder kein Problem dar. Ich kann mich eigentlich gar nicht daran erinnern, Schwedisch jemals nicht gekonnt zu haben. Im Elternhaus wurde nunmehr 253

Schwedisch und Deutsch gesprochen. Dabei habe ich allerdings meine Spanischkenntnisse verlernt, so wie ich sagen muss, dass ich auch sonst keine Erinnerungen an Kolumbien behalten habe. Meinem Vater fiel es ebenfalls nicht schwer, die neue schwedische Sprache zu erlernen. Er war ziemlich sprachbegabt und leitete auch bald in einem Angestelltenbildungsverein Kurse zu Kulturthemen. Meine Mutter tat sich etwas schwerer, sie hatte den für Deutsch sprechende Einwanderer typischen Akzent, worüber wir Kinder uns auch manchmal lustig machten. Meine Mutter war in Schweden nicht berufstätig, sondern Hausfrau mit drei kleinen Kindern. Wir hatten damals alle die österreichische Staatsbürgerschaft und mir ist nicht erinnerlich, dass sich daraus irgendwelche Probleme ergeben hätten. Mein Vater erwähnte allerdings, dass er sich als Ausländer nicht politisch betätigen durfte, was ihn aber wahrscheinlich auch nicht sehr gestört haben dürfte. Schließlich wollte er nicht auf Dauer in Schweden bleiben. Ich glaube auch, dass ihn die himmelweiten zivilisatorischen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede zu seinem vorhergegangenen Exilland Kolumbien zu der Erkenntnis gebracht haben, dass Schweden seine eventuelle politische Tätigkeit nicht notwendig hatte. Mein Vater hatte in Kolumbien als »jefe de producción« in einer Chemiefabrik in der Nähe von Bogotá gearbeitet, und in seinem neuen Exilland Schweden arbeitete er als Ingenieur in der Zementfabrik Skånska Cement. Er konnte daher leicht vergleichen: Wie er in seinen Erinnerungen schreibt, wurden in der kolumbianischen Fabrik täglich bis zu 250 Tonnen Zement erzeugt, in Köping mit ungefähr gleich viel Personal 1.000 – 1.400 Tonnen. Ein Stundenlohn in Köping war ca. gleich viel wie ein Achtstundentageslohn in Kolumbien. Die Atmosphäre unter den Arbeitskollegen – Arbeitern und Angestellten – in Köping war ganz anders. Besonders fiel mir auf, dass man ganz offen über die Bezahlung sprach – mit sämtlichen Kollegen; Geldprobleme zu besprechen, war überhaupt kein Problem. Die schwedische Offenheit hatte viel für sich. Sehr schnell hatte ich in Schweden auch gute Freunde gefunden. Soweit ich mich erinnern kann, gab es in meiner Klasse keine anderen Kinder, die nicht Schwedisch konnten. Es gab allerdings Kinder, deren Eltern aus baltischen Ländern gekommen waren. Auch zählten zu meinem Freundeskreis solche, die mir durch die für Einwanderer aus Finnland typische harte Aussprache des Schwedischen auffielen. Aber die Herkunft spielte unter uns Kindern keine wesentliche Rolle. Ich fühlte mich als ein ganz normaler schwedischer Bub, allenfalls mit einer für die anderen Kinder interessanten Note als Ausländerkind. Ich selbst hatte die Vorstellung, dass meine Familie aus einem südlich gelegenen Land gekommen war, wo es jedoch Krieg gegeben hatte und die Menschen nun in Armut und Not lebten. Wir lernten in der Schule, dass dort die Menschen jetzt so arm seien, dass sie sich nicht einmal Zucker für den Kakao leisten könnten, und »wir« Schwedenkinder sollten da254

Hans Popper, 1938 her mithelfen und Geld für die Hilfslieferungen nach Deutschland und Österreich sammeln. Einmal pro Schuljahr wurden wir auch aufgefordert, kleine Papierblumen um zehn Öre pro Stück an Freunde und Verwandte zu verkaufen. Der Erlös sollte, soweit ich mich erinnere, zur Unterstützung des Königshauses verwendet werden. Der damalige König war wohl nicht so, wie ich mir einen Märchenkönig vorstellte. Dazu passend hat mein Vater erzählt, er hätte einmal in Stockholm den schwedischen König in einem Kleinwagen, das Auto selbst lenkend, vorbeifahren gesehen. 255

Miguel, Ilse und Martin Friedmann, Schweden 1951 In der schwedischen Volksschule lernten wir auch schwedische Geschichte, und ich identifizierte mich gerne mit den Wikingern oder mit den Heldengeschichten aus der schwedischen Steinzeit, über die es damals eine beliebte Kinderbuchserie gab. Mit Freunden habe ich einen Sommer lang in einem nahe gelegenen Waldstück versucht, in einigen aufgehäuften Granitsteinen Reste von Steinzeitgräbern zu entdecken. Und ebenso haben wir uns mit selbst angefertigten Steinäxten bewaffnet, die wir nach Bildern aus dem Geschichtsbuch hergestellt hatten. Wir haben viele Ausflüge in die wunderschönen schwedischen Wälder gemacht, viele Beeren und Pilze gesammelt, und ich war mir sicher, dabei auch den einen oder anderen Troll gesehen zu haben. Besonders interessant war für uns Kinder ein Hügel am Stadtrand, der auf Schwedisch »Ströbo hög« heißt und vermutlich ein altes Wikingergrab ist. Das war der höchste Berg für uns, er war ungefähr 10 Meter hoch, regte die Fantasie an und konnte im Winter zum Rodeln verwendet werden. Im Winter waren wir des Öfteren in der Umgebung Langlaufen, zumeist in größeren Gruppen. Die einfachen Holz-Ski wurden mit Teer gewachst, das über einem Lagerfeuer erwärmt worden war und abschließend mit einem breiten Korkstück geglättet wurde. Manchmal wurde dann an ein Lastauto der Fabrik ein langes Seil befestigt, an dem sich die Gruppe festhalten und vom Lastauto über die verschneiten Straßen ziehen lassen konnte. Natürlich war auch Eislaufen interessant. Zumeist haben wir unsere Eislaufschuhe bereits zuhause angezogen und sind dann über die damals nicht gestreuten, vereisten oder schneeglatten Straßen zum Eislaufplatz gefahren, haben dort Eishockey gespielt und sind wieder auf den Straßen nachhause gefahren. 256

Im Sommer lernte ich Rad fahren. Das war sehr aufregend und erweiterte beträchtlich die Möglichkeiten, in der Umgebung umherzustreunen, die Wälder und den Badestrand zu erreichen. Der Badestrand am Mälarsee war wunderschön, mit Sandstrand und ziemlich kaltem Wasser. Es erinnerte mich an das kalte Wasser im Becken bei der Sauna, in die wir von der Schule aus manchmal gehen mussten. Schwimmen war für mich gleichbedeutend mit Aufenthalt in kaltem Wasser, sodass ich wie die meisten meiner Freunde gar keine Notwendigkeit sah, schwimmen zu lernen. Erst später habe ich in Wien schwimmen gelernt. Die Volksschule war damals eine Ganztagsschule, d. h. zumeist legte ich den Schulweg zu Fuß sowohl in der Früh als auch nach Schulschluss in der Dämmerung zurück. In jeder Schulklasse gab es eine kleine Orgel, auf der die Lehrerin täglich zu Schulbeginn Psalme von J. S. Bach spielte, und wir Kinder haben dazu gesungen. Dieses Singen hat mir immer sehr gut gefallen. Am evangelischen Religionsunterricht musste damals ohnehin jedes Kind teilnehmen und es tauchte erst gar nicht die Frage auf, zu welcher Religion die einzelnen Schüler gehörten. Mir ist in Erinnerung, dass der Religionsunterricht für mich eine eher Angst machende Ansammlung von Geschichten war, die für mich keinen Sinn ergaben, und dass mich längere Zeit die Frage quälte, wieso denn die heilige Familie kein Zuhause habe und was denn eigentlich eine Herberge sei. In Köping war mir so etwas unbekannt. Ebenso unklar war mir, wer die Römer und wer die Juden waren, ich konnte nicht viele Unterschiede zwischen diesen Völkern sehen. Eines Tages stellte meine Mutter fest, dass ich noch nicht von der Schule nachhause gekommen war; sie wurde etwas unruhig und ging mich auf dem Schulweg suchen. Sie fand mich am Straßenrand, wo ich versuchte, in den vereisten Boden ein Loch zu graben, um, wie ich ihr erklärte, »hinunterzugraben bis zum Teufel in der Hölle, wo es doch warm ist«. Schon damals hatte ich ein großes Interesse an Geografie und Geschichte. Kaum hatte ich einen Atlas bekommen, schon suchte ich auf den Karten Kolumbien und Österreich. Das schwedische Schulbuch zur Geschichte habe ich mir bis heute aufbewahrt. Zu Mittag gab es eine Schulausspeisung mit für mich zunächst unbekannten Speisen, z. B. Blutwurst mit Preiselbeerkompott. Ich war aber recht zufrieden mit dem Essen. Die Sommerferien verbrachten mein jüngerer Bruder und ich zweimal auf einem großen Bauernhof in der Nähe von Köping, wo wir das Treiben auf einem solchen Hof kennen lernten und viel Zeit in der freien Natur verbrachten, Vogelnester studierten und auch ein bisschen Indianer spielen konnten. Einmal waren wir mit der sozialdemokratischen Kinderorganisation Unga Örnar (Junge Adler) auf einem Sommerlager an einem See unter der Leitung eines Freundes meiner Eltern, Walter Siering4, der als Sozialdemokrat vor den Nazis aus Hamburg geflüchtet war. Mit Politik haben wir 4

Walter Siering war SPD-Mitglied und kam 1940 aus Dänemark nach Schweden. Vgl. Müssener, Exil in Schweden, S. 432.

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Kinder uns aber gar nicht beschäftigt. Das Einzige, das wir wussten, war, dass böse Menschen Krieg führten und dass der bevorstehende Tod des erkrankten Stalin gut für den Weltfrieden sein würde, wie mir einige Mitschüler erklärten. Bald hatten meine Eltern Freunde und Bekannte in Schweden gefunden, die ebenfalls aus dem deutschsprachigen Ausland stammten, zumeist welche, die nicht aus Österreich gekommen waren. Des Öfteren kamen diese zu uns auf Besuch oder wir waren bei ihnen eingeladen, wobei viele Erzählungen der Erwachsenen unser kindliches Weltbild erweiterten. Zunächst sei hier der jüdische Jugendfreund meines Vaters, Nachbar aus Wien und Schulkollege Georg Horowitz erwähnt, der schon als Kind in den frühen Zwanziger Jahren mit seinen Eltern aus Ungarn nach Wien auswandern musste. Sein Vater hatte in der kurzfristigen ungarischen Regierung des Kommunisten Béla Kun im Jahr 1919 eine höhere Funktion als Gewerkschafter innegehabt. Nach seiner Flucht aus Österreich im Jahr 1938 war Georg Horowitz über Prag und Norwegen nach Stockholm gekommen, wo er zur Zeit unserer Ankunft in Schweden mit Frau und Kindern wohnte. Meine Eltern und die Familie Horowitz freuten sich sehr über das Wiedersehen nach zehnjähriger Trennung und viel Ungewissheit über die Schicksalswege der Freunde. Trotz – oder vielmehr wegen – ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten sprachen sie viel darüber, welche zukünftigen politischen Entwicklungen sie sich wünschten. Georg Horowitz hat uns Kinder immer wieder mit seinen Zauberkunststücken begeistert und verblüfft. Mit seinem Sohn Roland habe ich auch heute noch des Öfteren Kontakt, wir besuchen einander entweder in Stockholm oder in Wien. Mein Vater schreibt in seinen »Erinnerungen«: Neben der Chemikerarbeit war ich aktiv als »Kursleiter« im AngestelltenBildungsverein (TBV, Tjänstemännens Bildningsverksamhet) tätig, außerdem als Sprachlehrer im Bildungsverein (TBV) und in der technischen Mittelschule von Köping. Es entstand eine gute Freundschaft mit der dortigen Familie Siering, die aus Hamburg stammte, und dem tschechischen Ehepaar Barton. Mit vielen Schweden gab es auch sehr gute Beziehungen. Das waren Kollegen aus der Fabrik und vom Bildungsverein, auch von ABF (Arbetarnas Bildningsförbund, die entsprechende Organisation der Arbeitergewerkschaften). So auch die Familie Lundqvist. Åke Lundqvist, er stammte aus Nordschweden und war in seiner Jugend Boxer gewesen, war Metallarbeiter, arbeitete daneben auch im Kino und spielte Cello. Er war in unserem »Musikcirkel«, in dem außerdem noch ein Bankprokurist, ein Zementarbeiter und manchmal der Sohn des Bankbeamten spielten. Ich konnte ein s. g. Taferlklavier für wenig Geld anschaffen. Wir spielten etwas Kammermusik und »Salonmusik«. Mein Vater konnte ganz gut Klavier spielen, er hatte es bereits als Mittelschüler gelernt. Meine Schwester und ich kamen deshalb schon in Schweden mit ersten Musikinstrumenten in Berührung, wir lernten Blockflöte spielen, Mandoline und Violine. Ich liebe seit damals die schönen schwedi258

Elsa Popper, ca. 1950 schen Volkslieder. Mit der Familie Lundqvist haben wir seit damals durchgehend viel Kontakt gehabt, und so ist die älteste Tochter, eine gute Klavierspielerin und Musiklehrerin, einige Jahrzehnte später meine Stiefmutter geworden. Mein Vater hat sie nach dem Tod meiner Mutter in seinem 80. Lebensjahr geheiratet und ist dann von Wien zu ihr nach Schweden, nach Västerås, übersiedelt. Über die Familie Barton schreibt mein Vater: Ing. Barton war, wie er selber sagte, ein »Wiener Bem« (= Böhme) und war während des Zweiten Weltkriegs von den Škodawerken (damals Teil der Hermann-Göring-Werke, heutiges Tschechien) nach Köping zum Aufbau 259

der dortigen Salpeterwerke geschickt worden. Er ist dann »abgesprungen« und ist in Schweden geblieben. Er war für uns ein wirklich guter Freund. Es war ca. 1952 und aufgrund des damals herrschenden »Kalten Kriegs« waren die Schweden sehr nervös – alle Angestellten von Svenska Salpeterverken und von Skånska Cement mussten an Zivilschutzübungen teilnehmen. Bei den Salpeterverken, wo Barton Oberingenieur war, gab es reichlich Giftgase, und er war dafür ein Fachmann. Er erzählte den versammelten Teilnehmern aus seiner persönlichen Kriegserfahrung mit Giftgas im Ersten Weltkrieg. Meine Erinnerung ist natürlich schon verblasst, aber ich weiß, dass mich seine erschütternden Worte über seine Anwesenheit bei jener Isonzoschlacht, wo die Österreicher zum ersten Mal Giftgas angewendet hatten – es war Phosgen –, tief beeindruckt haben. Das war ein Verbrechen gegen die Haager Konvention, angeordnet von dem edlen österreichischen Kaiser Karl. [...] Lustig war sein (Bartons) Protestbrief Anfang der 50er Jahre an die Konservative Zeitung »Köpingsposten«, als ihn diese in einem Bericht ohne zu fragen den Konservativen zurechnete. Damals war es fast undenkbar, dass ein leitender Ingenieur nicht konservativ sein konnte. Er schrieb in seinem Protestschreiben, dass er sein ganzes Leben lang Sozialdemokrat gewesen war und nicht daran denke, seine Gesinnung zu ändern. Ich selbst war ja auch in Köping aufgefallen, weil ich als Ingenieur nach der Arbeit immer mit den Arbeitern in die Stadt fuhr, um die Baracke für den ABF (Arbeiterbildungsverein) aufstellen zu helfen. Damals hatte ich öfter den Eindruck, dass sich der Klassenkampf in Schweden hauptsächlich zwischen Arbeitern und Angestellten abspielte. Noch heute haben die Arbeiter LO [Landsorganisationen] als Gewerkschaftszentrale und die Angestellten mindestens zwei eigene Zentralen. Ich möchte auch noch das Ehepaar Deubler erwähnen, die meiner Erinnerung nach die einzigen kommunistischen Emigranten aus Wien waren, mit denen meine Eltern in Köping befreundet waren. Sie waren kinderlos und sprachen Wiener Dialekt, wir Kinder haben sie als sehr freundliche Wiener in Erinnerung. Über ein zufälliges Zusammentreffen mit österreichischen Emigranten in Schweden schreibt mein Vater: Zu den Erinnerungen aus Sundbyberg [Anm: Vorort von Stockholm] gehört die Begegnung mit einem österreichischen Paar. Wir fünf gingen auf der Hauptstraße, und wie gewöhnlich musste man die Kinder, die zurückgeblieben waren, rufen, und das taten wir auf deutsch mit unserem Wiener Tonfall. Da sprach uns ein Paar an, weil wir ihnen auffielen. Es stellte sich heraus, dass sie auch vor Kurzem aus ihrem Emigrationsland zurückgekommen waren, d. h. aus Shanghai, und Kreisky5 hießen. Er war ein Cousin 5

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Vermutlich handelt es sich um Fritz Kreisky und Selma Kreisky-Münz (vgl. Einträge im Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938 zu Fritz Kreisky und Selma Münz, http://gedenkbuch.univie.ac.at, sowie Stiftung

Miguel Friedmann heute von Bruno Kreisky, der, so glaube ich, damals noch in Schweden war. Sie seien aber mit Bruno verfeindet, hauptsächlich aus politischen Gründen. Das wurde Christl und mir klar, denn wir erinnerten uns an die beiden, die vor 1938 auch Chemie studiert hatten. Christl erkannte in ihr eine Studienkollegin und ich wusste noch, dass er ein jüdischer Heimwehrler gewesen war. Wir tauschten Erinnerungen und Erfahrungen aus, die sich aus unserer ähnlichen Situation ergaben, trafen sie vielleicht auch noch später und haben sie dann ganz aus den Augen verloren. In Schweden fühlte ich mich als Kind tief verwurzelt, und als schließlich die Eltern für das Jahr 1953 ihre Rückkehr nach Österreich planten, begann ich schon, um meine Freunde und das Land Schweden zu trauern. An meinem letzten Schultag in der Volksschule – es war im März 1953 – veranstaltete die Bruno Kreisky Archiv, Bestandsliste I.1.-I.2. Familie, Kindheit, Jugend, Exil, http:// www.kreisky.org/index_geschichte.htm).

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Lehrerin eine kleine Abschiedsfeier für mich, und ich erhielt von ihr und den Kindern kleine Erinnerungsgeschenke. Im Freiluftkino in Köping hatte ich einen Film gesehen, in dem Aufnahmen aus dem kriegszerstörten Europa gezeigt wurden. Der Film war in Schwarz-Weiß, daher waren in meiner Vorstellung die Wiener GroßstadtStraßen unendlich lang und grau und von grauen Ruinen begrenzt. Mein Bild von Wien war also in meiner Vorstellung das Bild einer grauen Stadt mit zerstörten Häusern, breiten Straßen und viel Armut. Ich wollte eigentlich nicht dorthin übersiedeln. Meine Geschwister wollten auch nicht. Ich war also mit fünf Jahren nach Schweden gekommen und bin mit zehn Jahren nach Wien übersiedelt. In Wien fielen mir damals die zahlreichen beschädigten Häuser mit vielen Einschusslöchern an den Fassaden auf, wenn sie nicht überhaupt nach Bombentreffern als Ruinen mit viel Schutt dalagen, die wir Kinder aber als willkommene Spielplätze nutzen konnten. Reste von Stiegenhäusern und Abgängen in tiefe, dunkle und halb verschüttete Keller riefen einen wohligen Schauer hervor, wie ich ihn in Schweden nicht erlebt habe. Auch die vielen Kriegsinvaliden, immer Männer, mit nur einem Bein, mit Krücken, nur einem Arm, oder Blinde, auf den Straßen, in den Straßenbahnen und sonst überall riefen Fantasien über den damals noch nicht so lang vergangenen Krieg hervor. Auch dies war mir aus Schweden nicht bekannt. Interessant waren für mich die zum Teil recht altertümlichen Straßenbahnen in Wien, mit denen ich täglich in die Volksschule vom zweiten Bezirk in den neunzehnten Bezirk gefahren bin, manche hatten offene Einstiegs- und Ausstiegsplattformen, auf denen man bei schönem Wetter im Freien mitfahren konnte, was ich sehr genossen habe. Ebenso gefielen mir die vielen Kirchen in Wien, in die ich, wann immer möglich, hineingegangen bin und mir die bunten schönen Verzierungen und Gemälde angesehen habe. Die evangelische Kirche in Köping war zumeist versperrt und innen auch nicht interessant. In Wien habe ich die Volksschule abgeschlossen, und es gefiel mir hier ganz gut. Insbesondere der Mathematikunterricht war weniger weit fortgeschritten als in Schweden. Im Gegensatz zur Volksschule dort gab es hier auch keine Prügelstrafen, die allerdings in meiner Volksschule in Köping nur sehr selten praktiziert wurden. Wie schon in Schweden habe ich mich auch in Wien mit denjenigen Kindern besonders gut angefreundet, die meine Eltern gar nicht schätzten, da sie befürchteten, dass gerade diese Freunde auf mich einen schlechten Einfluss hätten. Österreich erwies sich also für mich zwar als ein im Vergleich zu Schweden armes Land, jedoch war es nicht (nur) grau, es gab hier auch atemberaubend hohe Berge und liebe neue Freunde für mich. Seit meiner Kindheit in Schweden habe ich in Österreich immer wieder schwedische Literatur, Krimis und Zeitschriften gelesen, sodass ich die Sprache noch immer beherrsche, allerdings ohne besondere Kenntnisse der schwedischen Grammatik. Ich bin im Lauf der Jahre auch immer wieder 262

nach Schweden gereist und habe die Orte meiner Kindheit aufgesucht. Viele sind noch so wie damals, sie sind allerdings in der Realität kleiner als sie es in meiner Erinnerung sind. Und wenn im Fußball oder im Eishockey irgendwo eine schwedische Mannschaft spielt, schlägt mein Herz immer für einen Sieg der Schweden. Noch viele Jahre nach meiner Ankunft in Österreich habe ich gezögert, bei der Frage nach meiner Muttersprache Deutsch anstatt Schwedisch anzugeben. Ebenso lange hatte ich kein besonderes Bedürfnis auf Reisen zu gehen, denn es schien mir, ich hätte diese schon erledigt.

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Hellmut Weiss

Ein »Mischling« im Exil und Leben

»Mischling« gemäß Nürnberger Gesetzen Als Scheidungskind erlebte ich die gutbürgerliche Welt meines Vaters in Wien-Döbling und das Zuhause bei meiner Mutter im Arbeiterbezirk Favoriten. Mein Großvater väterlicherseits war Jude und lebte sein Leben zusammen mit meiner katholisch-frommen Großmutter. Meine Großeltern mütterlicherseits waren auch jüdischer Herkunft. Es gelang ihnen jedoch, Taufscheine zu bekommen. Nachdem meine Mutter von jemandem angezeigt worden war, verhaftete sie die Gestapo und sie musste mit meinem kleinsten Bruder, der damals zehn Jahre alt war, 1943 in den Vernichtungszug nach Auschwitz steigen. Ich war konfessionslos erzogen worden und lebte in einem privaten Internat in Mödling, wo ich in öffentliche Schulen ging. Ich war vom Religionsunterricht befreit und meine Mitschüler waren überzeugt, dass ich Jude sei. Mein Banknachbar, der gerne von mir abschrieb, nahm bereits 1937 illegal an einer SS-Ausbildung teil und nahm mich vor judenfeindlichen Kameraden in Schutz. Bei einer illegalen Abstimmung von Lehrern und Schülern, organisiert von der Schulleitung der HTL, stimmten über 85 % für Hitler. 1938 absolvierte ich die 3. Klasse der vierjährigen Maschinenbau-Ausbildung in der Bundeslehranstalt in Mödling (HTL) und musste die Schule aufgeben, da die Stimmung gegen »Juden« zunahm und unser Einkommen zu gering war. Flucht Das Geschäft meines Vaters, ein Dental-Depot, wurde nach dem »Anschluss« arisiert und er emigrierte mit seiner zweiten Frau und ihrem Kind nach Südamerika. Eine Freundin meiner Mutter arbeitete für die Quäker und es gelang ihr, meinen vier Jahre jüngeren Bruder mit einem Kindertransport der Schwedischen Israelmission nach Schweden zu bringen. Da ich zu alt für einen solchen war – ich war 17 –, bemühte sie sich um ein Affidavit für mich. Es war aber unsicher, ob man dieses rechtzeitig bekommen würde, weshalb ich mich für die Bibelstunden der Schwedischen Israelmission interessieren und bitten sollte, nach Schweden kommen zu dürfen. Ich befolgte diesen Rat, bewegte mich ja schnell und leicht mit meinem Fahrrad durch das Wien dieser Zeit und war auch interessiert daran, was dort geschah. Wir Teenager diskutierten viel und wollten die Welt verbessern. Manchmal holte ich zuerst meine 17-jährige Freundin von der Schule ab und wir gingen durch die Stadt, das Mädchen im Dirndl links bei mir 264

Hellmut Weiss, 1940 eingehängt und ich in weißen Stutzen, weißer Strickjacke und Fahrrad mit Hakenkreuzfahne – ohne diese Fahne überlebte kein Fahrrad – in der rechten Hand. Plötzlich stand ein riesiger junger SA-Mann in funkelnagelneuer Uniform vor uns. Er brüllte das Mädchen an: »Das ist Rassenschande, was Sie da tun!« Sie war als Kleinkind gefallen und deshalb war ihre Nase schief – jüdisch für den SA-Mann! Sie war das gewohnt und holte einen Ausweis aus ihrer Tasche, der bestätigte, dass sie eine ganz reine »Arierin« war. Der Nazi 265

war sehr überrascht, schaute mich und die Fahne schnell an, brüllte »Heil Hitler!« und ging. Hätte er mich nach einem Ausweis gefragt, hätte ich keinen herzeigen können. Wir lächelten über unseren Sieg, gingen verliebt weiter und fühlten die Existenzangst der Verfolgten und den Hunger der Mittellosen. Mein Affidavit erhielt ich, aber mein Pass wurde von der britischen Botschaft ohne Einreisebewilligung zurückgeschickt, da man auf Grund der angespannten politischen Lage geschlossen hatte. Mit der gleichen Post erhielt ich meine schwedische Arbeitsbewilligung als »lantbrukselev« (Landwirtschaftsschüler). Wir hatten ja kein Geld für eine Fahrkarte, aber konnten es uns ausborgen. Ich fuhr noch schnell zur schwedischen Botschaft. An Samstagen war diese geschlossen, aber ich gab keine Ruhe, bis der Herr Botschafter selbst die Türe öffnete. Nach kurzer Überredung ging er und stempelte selbst das Visum für Schweden in meinen Pass ein. Nach Rücksprache mit dem Pastor in der Israelmission kaufte ich eine Fahrkarte Wien–Sassnitz–Trelleborg– Vinslöv. Zwei Tage später konnte ich in einen Zug nach Schweden einsteigen. Meine Mutter, meine Freundin und ein Pastor von der Mission winkten mir zum Abschied zu. Der Pastor gab mir noch 10 schwedische Kronen. Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich in vielen Situationen in meinem Leben fühlte und welche Gedanken meine Entschlüsse beeinflussten. In diesem Falle ging mir durch den Kopf: In den Zug einsteigen, obwohl ich meine Mutter und meine Freundin vielleicht nie mehr sehen werde? Einsteigen, damit ich sie wiedersehen kann? – Meine Mutter sah ich nicht mehr; meine Freundin erst, als wir beide über 70 Jahre alt waren. Wie so oft im Leben war ich im Moment der Abreise wahrscheinlich darauf konzentriert, was zunächst von mir verlangt werden würde, z. B. beim Grenzübergang. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Angst gehabt hätte. Es war wohl eher eine Spannung, was dann weiter geschehen würde. Nach einiger Zeit kam ein älterer Herr mit Vollbart am Zugabteil vorbei und fragte mich, ob ich nicht zu ihm in sein Abteil 1. Klasse kommen möchte. Sicher war es leicht zu erraten, dass auch ich auf der Flucht war. Er erzählte mir, dass er als Jude alles verloren hatte, aber dass ihm das gar nicht Leid tat. Er hatte Angst, er war sehr ernst, aber es war ihm Leid um jedes Mädchen, das er in seinem Leben nicht geküsst hatte. Schließlich kamen wir nach Sassnitz. Man stieg aus dem Zug aus, und vor dem Übergang zur Fähre nach Trelleborg erfolgte die deutsche Passkontrolle. Ein SS-Mann nahm meinen Pass. Ich stand dort mit meiner kleinen Ziehharmonika in einem Rucksack über meiner Schulter und einem kleinen Koffer; sein Inhalt: Wäsche, Hose, Jacke, ein paar Bücher und Erinnerungsstücke. Der SS-Mann blätterte den Pass mehrere Male durch, schüttelte den Kopf und sagte auf SS-Art: »Da stimmt etwas nicht, da muss ich in Berlin nachfragen.« Er zeigte mit dem Finger auf eine Bank hinter mir, brüllte, »Setzen Sie sich und warten Sie!«, und gab mir den Pass. 266

Das ehemalige Flüchtlingslager in Tostarp Der Zug war verspätet. Ich wusste ja, wann die Fähre gehen sollte, und es war ein Gedränge bei der nächsten Sperre. Nach einer Weile wurde ich unruhig, dass ich zu spät zur Fähre kommen könnte, denn der SS-Mann war noch nicht in Sicht. Also drängte ich mich zur Sperre und gab dem Kontrolleur meinen Pass. Er schaute ihn an und fragte: »Haben Sie Geld?« Ich wusste nicht, dass man, wenn man mehr als 10 Kronen ausführen wollte, dies im Pass anzugeben hatte, und glaubte, der Pastor hätte mir 20 Kronen gegeben, weil eine Krone ja so groß war wie eine 2-Reichsmark-Münze. Also sagte ich: »20 Kronen.» Ich hatte den Pass schon in der Hand, und es war ein großes Gedränge. Also lief ich so schnell, wie ich konnte, zur Fähre und blieb nicht stehen, obwohl er »Halt!« brüllte. Auf der Fähre sah ich meinen Freund aus dem Zug durchs Fenster im Speisesaal herrlich schmausen. Wahrscheinlich sah er mich nicht, sonst hätte er mich wahrscheinlich eingeladen, dachte ich, denn ich war hungrig. Ich kam am letzten Augusttag 1939 im Flüchtlingslager des Schwedischen Missionsverbundes (Svenska Missionsförbundet) in Tostarp an. Ich wurde vom Leiter des Lagers, einem Pastor, vom Zug abgeholt. Im Lager waren ca. 20 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Es gab täglich ein Morgengebet sowie eine Stunde Schwedischunterricht und Arbeit bei Bauern in der Umgebung. Nach ungefähr einem Monat kam ein Bauer, Mitglied des Verbundes, und wählte einen Flüchtling als Aushilfe auf seinem Hof aus, wahrscheinlich auch, um einem armen jüdischen Flüchtling zu helfen. Die Wahl fiel auf mich. Die schwedische Arbeitsbewilligung galt nur für Landarbeit. Die Mission hatte zu garantieren, dass kein Flüchtling dem Staat zur Last fallen würde und dass Kinder von Familien aufgenommen würden, bis sie von ihren Eltern zurückgeholt wurden. 267

Hellmut Weiss heute

Landarbeiter Ich arbeitete mit den Menschen am Hof und lernte die Landarbeit kennen, so wie sie zu dieser Zeit noch üblich war. Es gab damals kaum Maschinen, Pferde und Menschen waren die Arbeitskraft. Ich lernte die Sprache ziemlich schnell, denn nur der Bauer selbst, der eine leitende Funktion in der Kommune hatte, konnte einige Worte deutsch, und ich hatte mich zu verständigen. Die Leute waren alle lieb und rücksichtsvoll. Niemand brüllte mich an oder schrie »Heil Hitler!«. Wenn ich Briefe verschicken wollte, bekam ich Marken, und auch einen Hermodskurs1 bezahlte man gerne für mich. Und samstags konnte ich mit den Burschen der Familie sogar mit ins Kino gehen. Man war sehr fromm, besonders die Mutter. Es war eine Sünde für sie, ins Kino zu gehen. Aber man ließ die Jugend. Die Söhne wollten jedoch nicht mit ihrer Mutter in 1

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Das schwedische Unternehmen Hermods bot Sprachkurse und berufsspezifische Kurse wie Buchhaltung oder Wirtschaftskunde an. (Anm. der Hg.)

die Bibelstunden gehen. Als sie mich dazu aufforderte, war ich dazu bereit. Ich war ja an die Bibelstunden und Gebete der Israelmission gewöhnt und außerdem neugierig, was hier in meinem neuen Umfeld geschah. Sonntags ging ich mit in die Kirche und nachher zum üblichen Kirchenkaffee mit einigen älteren Leuten aus der Umgebung. Ich lernte die Sitten und Gebräuche kennen. Es war ja bald Weihnachten und eine der Frauen hatte ein Futteral für Taschentücher für mich genäht. Ich war gerührt über dieses Geschenk, obwohl ich gar keine Taschentücher besaß. Aber das wusste sie ja nicht. Es war trotzdem eine Liebesgabe. Einmal betete die Kirchengemeinde in dem kleinen Gebetshaus für mich auf den Knien. Da ich nicht stören wollte, ging ich auch auf die Knie. Ich nahm es ernst und dachte dabei an das Zitat »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube«. Nach dem Gebet mit der Gemeinde saß ich immer noch auf den Knien, als der Priester hinter mich trat, mir seine Hand auf meinen Kopf legte und mit sehr ernster, gefühlvoller Stimme fragte: »Bist du nun errettet?« Er sagte es auf Schwedisch, und ich verstand sehr wohl. Ich wollte weder lügen noch unhöflich sein und die Bemühungen der Kirchengemeinde missachten. Also antwortete ich in meiner neu erlernten Sprache: »Ja, Herr Pastor, aber vielleicht nicht so, wie Sie es meinen.« Diese Geschichte ist deshalb wichtig, weil wir in Wien »böse« (verzweifelte) Leute sagen hörten: »Welcher Jud würde sich nicht taufen lassen, um nach Schweden kommen zu können?« – ein etwas geschmackloser, aber mit Rücksicht auf die Umstände naheliegender Gedanke. Denn das Ziel der Israelmission war es, Juden zum Christentum, d. h. zum evangelischen Glauben, zu bekehren, damit sie nicht in Ewigkeit verloren sind. Nun ging es den Nazis aber nicht mehr um Religion, sondern um den Glauben, dass Juden Juden sind und auch getauft Juden bleiben, weil sie jüdisches Blut ihrer Vorfahren in sich haben. Und diese Juden in Wien waren damals für die unmittelbare Vernichtung auserlesen. So konnte die Israelmission durch ihre Grundeinstellung einigen Menschen, besonders Kindern und Jugendlichen, das Leben retten, weil man sie taufen wollte und u. a. dadurch nach Schweden bringen konnte. Ich gehöre zu denen, bin noch immer konfessionslos, obwohl ich oft in die Kirche gegangen bin. Und ich denke immer wieder an die Stimmung in dem Gebetshaus im kleinen Dorf Vanneberga bei Vinslöv in Skåne. Die Kirchengemeinde hatte damals keine Ahnung davon, aber sie meinten es herzlich und ehrlich mit ihrer Überzeugung. Für sie war ich ein Jude, dem man helfen sollte, ein Christ zu werden.

Weiterbildung und Familiengründung Mit Hilfe der schwedischen Arbeitsvermittlung konnte ich als Stallknecht zu einem Bauern in der Nähe einer größeren Stadt, Norrköping, kommen und suchte mir dort einen Job als Hilfsmechaniker in einer Autowerkstatt. Ich fand bald gute schwedische Freunde und lernte mehr über schwedische Geschichte, Kultur und Sprache. Wenig später kam ich nach 269

Stockholm, wo man im Stockholms Tekniska Institut (STI) meine HTLZeugnisse anerkannte. Diese Schule dauerte wie die HTL vier Jahre, konnte aber auch als Abendschule besucht werden, was dann acht Jahre dauerte. Ich wurde in die 7. Klasse aufgenommen und arbeitete in verschiedenen Werkstätten. 1943 hatten wir unsere Abschlussprüfung, ich bekam Arbeit als Ingenieur in der schwedischen Industrie und heiratete eine Schwedin.

Schwede und Österreicher zugleich Da mein deutscher Reisepass von den Nazis nicht verlängert wurde, weil ich erklärte, nicht in die Ostmark zurückkehren zu wollen, aber gerne nach Österreich – der junge Deutsche in der deutschen Botschaft in Stiefeln und mit Revolver brüllte! –, lebte ich mit einem Fremdenpass, bis ich schwedischer Staatsbürger wurde. Das war dann eigentlich nur mehr eine Formalität, da ich die Grundbestimmungen der damaligen Gesetzgebung erfüllte. Bis meine Staatsbürgerschaft geregelt war, verlängerte man die schwedische Arbeitsbewilligung, da ich mich laut meinem Affidavit offiziell auf der Durchreise nach England befand. Ich hatte mich – liebevoll aufgenommen – in schwedische Verhältnisse eingelebt, hatte meine neue Familie und ein Einkommen in Schweden und sah keinen Grund, nach Österreich auszuwandern, wo ich ja außerdem gar nicht willkommen war. Jedoch bekam ich liebe Verbindungen mit Österreichern und Österreich, obwohl meine Verwandtschaft dort nicht mehr existierte. Da ich mich oftmals auch in Österreich aufhielt, mich mit meinen Vorfahren identifizierte und auch aus anderen Gründen, bekam ich ein Dokument, in dem amtlich bestätigt ist, dass ich seit dem 25. April 1945 österreichischer Staatsbürger bin und diese Staatsbürgerschaft auch durch den Erwerb der schwedischen Staatsangehörigkeit nicht verloren habe. Nun lebe ich mit gesunden Kindern, Enkeln und acht Urenkeln, die sich ihrer schwedischen und österreichischen Wurzeln bewusst sind, und freue mich täglich darüber, dass es der Schwedischen Israelmission in Wien – aus welchen Gründen auch immer – gelang, mich nach Schweden zu bringen, und es den Nazis dadurch nicht geglückt ist, auch mich auszurotten und das Leben dieser wunderbaren Menschen zu verhindern.

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Lennart Weiss

Ein Schwede mit österreichischen Wurzeln

Bin ich nun Schwede oder Österreicher? Zuerst lässt sich diese Frage leicht beantworten: Natürlich bin ich Schwede, bin in Schweden geboren, habe immer meinen Wohnsitz dort gehabt, meine Muttersprache ist Schwedisch. Aber so einfach ist es nun wieder nicht, denn auf dem Papier war ich länger Österreicher als Schwede. Ich bin als Österreicher geboren. Schwede wurde ich mit sechs Jahren automatisch, als mein Vater die schwedische Staatsbürgerschaft annahm, denn damals hatten Kinder in Schweden dieselbe Staatsbürgerschaft wie der Vater. Die doppelte Staatsbürgerschaft war damals nicht erlaubt, und so habe ich lange Zeit nicht gewusst, dass ich Österreicher war und bin. Lange Zeit habe ich mir auch keine Gedanken darüber gemacht. Mehr dazu später. Erste Erinnerungen Bevor ich zehn Jahre alt war, hatte ich eine sehr vage Auffassung von der deutschen Sprache und von Österreich. Zu Hause wurde diese Sprache nicht gesprochen. Meine älteren Geschwister können sich noch an deutschsprachige Kindermädchen erinnern, ich aber nicht, denn ich war damals erst ein Baby. Mein Kontakt mit der Sprache bestand darin, dass mein Vater Lieder sang, von denen ich zwar nichts verstand, aber ich hatte lange Textpassagen im Kopf und versah sie mit meiner eigenen Deutung. Ich mochte den Klang der Sprache. Noch heute, wenn ich diese Lieder höre, schwingt diese Erinnerung daran mit. Außerdem spielte meine Mutter, die Schwedin war, diese Lieder auf dem Klavier und meine Schwester sang dazu. Es waren Wiener Lieder, und ich begriff, dass sie eine große Bedeutung für meine Eltern hatten. Musik Musik wurde auch sonst wichtig für mich. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal ins Wohnzimmer kam, als mein Vater eine Schallplatte abspielte. Er kam sehr selten dazu und es war eine mächtige Musik, die neu für mich war und einen großen Eindruck auf mich machte. Es war eine Symphonie von Gustav Mahler. Ich glaube, mein Vater freute sich, dass ich diese Musik mochte. Er erzählte mir ein wenig über Mahler und – was hier wichtig ist – über Österreich. Später, als ich Klavier spielen lernte, wollte ich alles über Mozart wissen, und da hat er auch über Salzburg und Wien erzählt. Klas271

sische Musik war dann ein gemeinsames Interesse, das sonst keiner in der Familie mit uns teilte. Mein Vater vermittelte mir, dass diese Musik mit einem anderen Land und einer anderen Kultur verbunden war, die er gut kannte. Sonst hörte ich als Kind selten etwas über Österreich oder über die Kindheit meines Vaters. Bei meinem ersten Besuch in diesem Land war ich acht Jahre alt. Es war spannend, vieles war mir fremd, aber trotzdem nicht völlig fremd. Das kann ich nur so erklären, dass mir vielleicht mehr vermittelt wurde, als ich heute in Erinnerung habe.

Entscheidende Erlebnisse mit elf Jahren Mit ungefähr elf Jahren hatte ich zwei einschneidende Erlebnisse. Ich beneidete immer Freunde, die Großeltern hatten, und glaubte wohl, ich hatte keine. Die Eltern meiner Mutter waren gestorben, als sie ein kleines Kind war, und von den anderen Großeltern wurde – so wie ich es in Erinnerung habe – nicht gesprochen. Ich wusste eigentlich nur, dass mein Vater seine Mutter, die nicht mehr lebte, sehr geliebt hatte. Aber im Sommer 1965 war Alexander Weiss, mein Großvater, der in Paraguay wohnte, bei uns in Stockholm zu Besuch. Da sprachen alle mit ihm, sogar mein älterer Bruder konnte ein paar Worte mit ihm sprechen. Nur ich konnte nichts sagen und sehr wenig verstehen. Da treffe ich einmal im Leben diesen Großvater und kann nicht mit ihm sprechen! Es hat mich dermaßen geärgert, dass ich dachte: »Diese Sprache werde ich lernen, koste es was es wolle!« Mit 13 Jahren habe ich dann, wie so viele andere Schweden, mit Deutsch als zweiter Fremdsprache in der Schule angefangen. Gelegentlich kamen uns auch Freunde aus Österreich besuchen, und so konnte ich allmählich etwas und dann später immer mehr verstehen. Das zweite Erlebnis ist ganz anderer Natur. In einer Schublade in der alten Kommode im Wohnzimmer, wo Fotos aufbewahrt wurden, fand ich ein Foto von einem Buben, ungefähr in meinem Alter. Ich wollte von meiner Mutter wissen, wer auf dem Foto zu sehen war. Sie sagte: »Das ist doch der Hannes, weißt du das nicht?« Nein, ich kannte nicht einmal den Namen. Sie erklärte es mir dann; es war der jüngste Bruder meines Vaters, der nicht mehr lebte. Ich weiß nicht mehr, ob sie auch gleich erzählte, dass er – wie auch meine Großmutter Margit – in Auschwitz–Birkenau starb. Wenn nicht, erfuhr ich es jedenfalls wenig später. Es war ein Schock für mich, vielleicht verstärkt dadurch, dass Hannes auf dem Foto ungefähr so alt war wie ich damals. Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, die Erklärung dafür, wieso ich mich als Erwachsener beruflich mit der deutschen Sprache beschäftigt und mich so für Österreich interessiert habe, ist teilweise in diesem Erlebnis zu finden.

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Zwiespältig Obwohl er selbst nicht derselben Meinung ist wie ich, denke ich, dass Verdrängungsmechanismen bei meinem Vater lange Zeit eine große Rolle spielten, und bei seinem Bruder Herbert sicherlich noch mehr. So finde ich es sehr schön, dass mein Vater seit seiner Pensionierung oft in Wien und im Salzkammergut war und so in gewisser Hinsicht in seine Heimat zurückgefunden hat. Es bedeutet Lennart Weiss im Alter von vier Jahren viel für mich, da ich auch den Kontakt mit Österreich vertieft habe. Wie wir wissen, vermitteln Eltern aber nicht immer nur das, was sie vermitteln möchten. In meiner Jugend bekam ich zu verstehen, dass die Sprache in Österreich schön sei, im Gegensatz zu Hochdeutsch, einer harten, fast unangenehmen Sprache. Noch heute, nach 33 Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrer, muss ich mit meinen eigenen, als Kind erworbenen Vorurteilen gegenüber Deutsch und den Deutschen kämpfen. Da hilft es nur zum Teil, dass ich über die Jahre sehr viele nette Deutsche kennengelernt und unter ihnen auch persönliche Freunde gefunden habe. Aber das Verhältnis zu Österreich und den Österreichern war in unserer Familie immer ein zwiespältiges. Auf der einen Seite waren da die Freunde der Familie, die schöne Sprache, die Musik, die Kultur. Auf der anderen Seite war man immer vorsichtig mit Österreichern, die man nicht kannte, denn man konnte ja nicht wissen, was die alle im Krieg gemacht hatten. Es könnte sich ja um alte Nazis handeln. Das behauptete mein Vater früher besonders dann, wenn Menschen unfreundlich waren oder sich schlecht benahmen, auch wenn sie ganz offensichtlich zu jung dafür waren. Das hat mich natürlich beeinflusst. Inzwischen habe ich aber – genau wie er – ein differenzierteres Bild von den Österreichern und Österreich. Ich reagiere aber immer noch besonders stark auf Fremdenfeindlichkeit und populistische Äußerungen in der Politik in Österreich, obwohl sie ja überall gefährlich sind. Studien und Reisen Als ich 17 Jahre war, hat eine österreichische Freundin meiner Mutter, die bei uns in Stockholm zu Besuch war, mich in ihrem Porsche nach Ebensee im Salzkammergut mitgenommen. Sie war immer wichtig für unsere Familie gewesen und eine fantastische Frau. Ich verbrachte zwei Wochen bei ihr und habe damals meine ersten eigenen Kontakte mit Österreich geknüpft. Ich konnte aber nicht besonders gut Deutsch sprechen. Ein Jahr später, als ich mein Studium an der Universität Stockholm begann, wusste 273

Kinder im Heim Tollarp, 1939. Mittlere Reihe v. l: Herbert Weiss, Otto Ullmann ich daher nicht richtig, ob meine Deutschkenntnisse für ein Germanistikstudium ausreichen würden, und so habe ich als Erstes Skandinavistik und Literaturwissenschaft studiert. Später habe ich auch noch ein Grundstudium in Germanistik und Anglistik gemacht, bevor ich die Lehrerhochschule besuchte. Ich unternahm Reisen nach Deutschland und Österreich und erhielt allmählich ein größeres Selbstvertrauen, was die deutsche Sprache betraf. 1978 bekam ich dann meine erste Stelle als Gymnasiallehrer und seitdem unterrichte ich Deutsch als Fremdsprache. Seit Anfang der 1980er Jahre machen mein Vater und ich regelmäßig gemeinsame Reisen nach Österreich, meistens zweimal im Jahr.

Interesse an Österreich vermitteln Es verwundert wohl nicht, dass es mir als Lehrer wichtig wurde, meine Schüler für Österreich zu interessieren. Nach einigen Jahren konnte ich auch einen Schüleraustausch anbieten. Unter anderem habe ich das mit einem Gymnasium in Grinzing, der Vienna Business School in Mödling und mit dem Theresianum in Wien durchgeführt. Es freut mich immer besonders, wenn schwedische und österreichische Schüler einander kennenlernen und so vielleicht Freunde fürs Leben gewinnen. Weitere Studien Ein verstärktes Interesse Anfang der 1980er Jahre hat dazu geführt, dass ich mein Germanistikstudium neben meiner Arbeit fortsetzte. Für meinen Abschluss in Germanistik schrieb ich eine Arbeit über den österreichischen Journalisten und Schriftsteller Raoul Auernheimer. Zu diesem Thema bin ich gekommen, weil mein Vater ein paar Bücher von ihm besaß, ihn einmal 274

als 16-Jähriger getroffen hatte, aber ansonsten keine Auskunft über ihn geben konnte, abgesehen davon, dass er sein Großonkel war. Schnell habe ich eingesehen, dass es nicht leicht sein würde, über Auernheimer zu schreiben, da es wenig Sekundärliteratur zu ihm gab. Während meiner Arbeit verstand ich allmählich, dass Auernheimer bis zu seiner Deportation nach Dachau im März 1938 eine Kulturpersönlichkeit in Wien gewesen war, viele Werke schrieb, als Bühnenautor und Journalist erfolgreich war und außerdem der erste Präsident des 1923 gegründeten österreichischen PEN-Klubs. Das machte mich neugierig!

Auf Spurensuche Aufgrund dieser Neugierde und vor allem durch den Kontakt mit Professor Helmut Müssener von der Stockholmer Universität entschloss ich mich, eine Dissertation über Raoul Auernheimer zu schreiben. Acht Jahre habe ich also neben meiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer ein Doktoratsstudium an der Universität Uppsala absolviert und verteidigte meine Arbeit, wie es in Schweden üblich ist, bei einer öffentlichen Veranstaltung im Januar 2010. Ich möchte diese Zeit als eine spannende Reise bezeichnen. Ich habe mich dabei nicht nur in Raoul Auernheimers Werk und Leben vertiefen können, sondern auch viel über den Zeitabschnitt von 1880 bis 1948 gelernt. Erst nach und nach ist mir klar geworden, wieso ich eigentlich diese Arbeit geschrieben habe. Es ging mir nicht so sehr darum, den Doktortitel zu erlangen; ich bin zwar stolz darauf, dass ich es geschafft hatte, aber ich bin zu alt für eine akademische Karriere. Nein, es war eine Spurensuche, eine Reise in eine vergangene Welt, die meinen Verwandten, die nicht weiterleben durften oder Österreich verlassen mussten, gehörte. So sehe ich auch mein Buch über Auernheimer1 als einen Beweis dafür, dass sie einmal gelebt haben. Mein Zugang als Lehrer zum Thema »Exil und Holocaust« Raoul Auernheimer musste ins Exil, aber auch mein Vater, mein Onkel Herbert und mein Großvater Alexander. Auernheimer gelangte in die USA, mein Vater und sein Bruder mit der Schwedischen Israelmission nach Schweden und mein Großvater nach Paraguay. Ich war immer stark berührt von ihrem Schicksal und lese alles zum Thema »Exil in Schweden«, neulich zum Beispiel das in Schweden viel diskutierte Buch von Elisabeth Åsbrink, »Och i Wienerwald står träden kvar«. Es beschreibt die Situation eines von hundert Kindern und Jugendlichen, die 1939 durch die Schwedische Israelmission in Wien nach Schweden gerettet wurden. Beim Lesen hatte ich na1

Lennart Weiss: In Wien kann man zwar nicht leben, aber anders wo kann man nicht l e b e n. Kontinuität und Veränderung bei Raoul Auernheimer (Acta Universitatis Upsaliensis Studia Germanistica Upsaliensia 54). Uppsala Univ. 2010.

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Lennart Weiss am Symposium »Exil in Schweden«, Juni 2010 türlich meinen Vater und Onkel vor Augen und dachte daran, was sie wohl damals erlebt und welchen Einfluss es auf ihr Leben gehabt hatte. Immer wenn ich mich mit dem Thema »Exil« befasse, bin ich bedrückt, oft Stunden lang, aber ich tue es trotzdem, denn ich möchte verstehen. Mit dem Thema »Holocaust« umzugehen ist noch schwieriger, aber ich versuche die schlimmsten Gefühle zu verdrängen, wenn es um mich als Lehrer geht. Jedes Jahr am 27. Januar ist es mir wichtig, die Schüler auf den internationalen Holocaust-Gedenktag aufmerksam zu machen, und wenn ich im Unterricht über Fremdenfeindlichkeit spreche, erwähne ich das Schicksal meiner Großmutter Margit und ihres jüngsten Sohnes Hannes als extremste Folge der Ausgrenzung von Menschen. Bei meinen Besuchen mit Schülern in Wien berichte ich ausführlich über die Geschichte Österreichs, u. a. vor dem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka am Helmut-Zilk-Platz vor der Albertina. Ich erzähle dann von den Ereignissen im März 1938 und was meinem Vater und seiner Familie damals widerfahren ist.

Schwede oder Österreicher? Abschließend möchte ich an meine Einleitung anknüpfen, nämlich die Frage der Nationalität. Vor ungefähr vier Jahren erfuhr ich, dass ich meine österreichische Staatsbürgerschaft zurückbekommen könnte, nachdem in Schweden die doppelte Staatsbürgerschaft wieder möglich war. Es hatte keine praktische Bedeutung für mich, aber ich sah darin eine gewisse Symbolik. Die österreichische Staatsbürgerschaft sollte die Verbundenheit mit meinen Verwandten und mit der österreichischen Kultur unterstreichen. Zuerst 276

aber musste mein Vater die österreichische Staatsbürgerschaft zurückbekommen, das war die Voraussetzung dafür. Früher war ihm das nicht wichtig, und so habe ich ihm vorsichtig meine Auffassung erklärt und war auch darauf eingestellt, dass er »nein« sagen würde. Er hat aber nicht »nein« gesagt, sondern fand den Zeitpunkt richtig, jedoch nur unter der Bedingung, keine Formulare ausfüllen zu müssen. Ich möchte jetzt nicht auf die umfassende Bürokratie eingehen, die danach folgte, obwohl sie an und für sich auch interessant ist. Jedenfalls war das Ergebnis ein Feststellungsverfahren – ein schönes deutsches Wort. Es musste und konnte festgestellt werden, dass mein Vater seit 1945 österreichischer Staatsbürger ist. Also war er immer noch Österreicher und folglich auch ich. Laut Ergebnis dieses Feststellungsverfahrens sind wir beide nicht nur als Österreicher geboren, sondern haben unsere österreichische Staatsbürgerschaft nie verloren. So ist unsere Verbindung zu Österreich auch auf dem Papier wieder hergestellt.

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Anhang

Zeittafel 30. Januar 1933 Der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler wird deutscher Reichskanzler. 26. Mai 1933 Verbot der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) 19. Juni 1933 Verbot der NSDAP in Österreich 12. Februar 1934 Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in Österreich 15. September 1935 Die Nürnberger Gesetze werden erlassen, darunter das Gesetz »zum Schutze deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. 12. März 1938 »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich 22. April 1938 Schweden führt für Inhaber österreichischer Pässe die Visumspflicht ein. 27. Mai 1938 Schweden, Dänemark, Finnland, Island und Norwegen unterzeichnen ein Abkommen über gemeinsame Regeln zur Wahrung ihrer Neutralität. 8. Juli 1938 Der unter dem Vorsitz von Bruno Kreisky gegründete Klub österreichischer Sozialisten (KöS) veranstaltet in Stockholm eine Trauerfeier für den in Paris verstorbenen Parteitheoretiker Otto Bauer. 15. August 1938 Österreichische Reisepässe sind gegen deutsche auszutauschen. 20. August 1938 Errichtung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien unter der Leitung von Adolf Eichmann 9. September 1938 Jüdische Reisende aus Deutschland und Österreich müssen bei der Einreise nach Schweden eine »Grenzempfehlung« (»gränsrekommendation«), de facto ein Einreisevisum, vorweisen, ausgefertigt durch eine schwedische diplomatische Vertretung. 5. Oktober 1938 Deutsche Verordnung über Reisepässe von Juden. Sie werden für ungültig erklärt und eingezogen. Sie erhalten ihre Gültigkeit zurück, nachdem sie mit einem roten »J« gekennzeichnet worden sind.

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15. Oktober 1938 Abkommen zur Visumspflicht zwischen Schweden und Deutschland für Personen mit J-Pässen 27. Oktober 1938 Personen, die mit einem »J«-Pass nach Schweden einreisen wollen, dürfen trotz »Grenzempfehlung« nur dann einreisen, wenn sie glaubhaft versichern können, wieder nach Deutschland zurückreisen zu wollen. 9./10. November 1938 Novemberpogrom. Allein in Wien werden insgesamt 6.547 Personen verhaftet und 3.700 von ihnen ins KZ Dachau, andere wieder ins KZ Buchenwald deportiert. Die jüdische Bevölkerung wird zur Auswanderung genötigt. 15. November 1938 Juden wird der Besuch »deutscher Schulen« untersagt. 24. November 1938 Juden werden verpflichtet, den zusätzlichen Vornamen »Sara« oder »Israel« zu führen. 2. Februar 1939 Der erste Kindertransport aus Wien trifft in Schweden ein. 15. März 1939 Die »ungesetzliche Auswanderung« von Juden wird mit Konzentrationslager bestraft. 4. April 1939 Bei der Beantragung einer Einreisegenehmigung nach Schweden ist die »Rassenzugehörigkeit« anzugeben. 31. Mai 1939 Dänemark nimmt als einziges der nordischen Länder Hitlers Angebot eines Nichtangriffspaktes an. 1. September 1939 Schweden erklärt sich für neutral. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wird ExilantInnen in Schweden die politische Betätigung untersagt. 5. September 1939 Schweden führt die Visumspflicht für sämtliche nichtnordische Staatsbürger ein. Oktober 1939 Erste Deportationen von rund 1.500 meist staatenlosen Juden aus Wien nach Nisko im Generalgouvernement 30. November 1939 Angriff der Sowjetunion auf Finnland ohne vorherige Kriegserklärung. Schweden erklärt sich in der Folge als »nichtkriegsführend«, was Waffen- und Materiallieferungen an Finnland zulässt. An die 7.000 freiwillige schwedische Soldaten nehmen auf finnischer Seite am so genannten »Winterkrieg« von November 1939 bis März 1940 teil. 281

Ende 1939 Etwa 320.000 schwedische Soldaten stehen unter Waffen. 11. März 1940 Schweden errichtet Internierungslager für deutsche und österreichische Kommunisten und Linkssozialisten. 9. April 1940 Deutscher Überfall auf Dänemark und Norwegen (»Unternehmen Weserübung«) 10. Juni 1940 Kapitulation der norwegischen Armee 8. Juli 1940 Schweden schließt mit Deutschland ein Abkommen über den Transit deutscher Soldaten durch Schweden von und nach Norwegen. 23. Juli 1940 Jüdische Betriebe im Deutschen Reich müssen bis Jahresende arisiert werden. 22. Juni 1941 Beginn des »Unternehmens Barbarossa«, Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Deutschland verlangt von Schweden den Transfer einer ganzen Division (Division Engelbrecht) von Oslo via Haparanda nach Finnland. Die Transportzüge werden von schwedischen Soldaten begleitet. Die Besatzung notgelandeter deutscher Flugzeuge soll nicht mehr wie bislang interniert, sondern nach Deutschland zurückgeschickt werden. Schweden entspricht diesen Forderungen. 25. Juni – 12. Juli 1941 Über hundert Züge mit deutschen Truppen fahren durch Schweden. Den Transit einer weiteren Division lehnt Schweden ab. 1. September 1941 Deutsche Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden mit einem gelben sechszackigen Stern Oktober 1941 König Gustav V. bedankt sich persönlich in einem Brief an Hitler für den Kampf gegen den Bolschewismus. 23. Oktober 1941 Verbot für Juden, aus dem Deutschen Reich auszuwandern 20. Januar 1942 Auf der Wannsee-Konferenz unter dem Vorsitz des Chefs des Reichsicherheits-Hauptamts Reinhard Heydrich werden Fragen besprochen, die mit dem unter der Bezeichnung »Endlösung» bereits eingeleiteten Massenmord von europäischen Juden entstanden waren. Februar 1942 In einer deutschen Pressekampagne wird Schwedens Haltung kritisiert (»Februarkrise«). Sowohl in Stockholm als auch in Berlin fürchtet man einen Kriegseintritt beziehungsweise einen Angriff der jeweiligen Gegenseite. 282

19. Februar 1942 Gustav V. gibt eine Stellungnahme ab, in der er die Notwendigkeit der schwedischen Neutralität betont und die Anfrage Finnlands auf militärische Unterstützung ablehnt. 16. März 1942 Hitler versichert in seiner Antwort auf die Botschaft des schwedischen Königs, Deutschland werde keine Maßnahmen ergreifen, die Schwedens Neutralität verletzen. März 1942 Beschlagnahme von siebzehn schwedischen Zeitungen, die Augenzeugenberichte über die Behandlung norwegischer Widerstandskämpfer in deutschen Gefängnissen veröffentlichten. Zeitungen ist untersagt worden, durch ihre Berichterstattung über das NS-Regime die Beziehungen zu Deutschland zu erschweren. Juni – November 1942 Unerklärter schwedisch-sowjetischer U-Boot-Krieg August 1942 Gründung der Landesgruppe österreichischer Gewerkschaften in Schweden unter der Leitung von Josef Pleyl im Einvernehmen mit dem schwedischen Gewerkschaftsbund (Landsorganisationen i Sverige, LO) Herbst 1942 Schweden nimmt die Freigabe des schwedischen Luftraums für deutsche Flugzeuge zurück. Auf Drängen der Alliierten wird am 17. September 1942 der seit 15. Juli 1942 laufende Truppentransport per Schiff von und nach Finnland eingestellt. September 1942 Gründung der »Internationalen Gruppe demokratischer Sozialisten« (so genannte »Kleine Internationale«) in Stockholm 13. Februar 1943 Gedenkfeier im Klub österreichischer Sozialisten (KöS) anlässlich der neunjährigen Wiederkehr der Februarkämpfe in Österreich. Festredner sind die schwedischen Sozialdemokraten Carl Albert Anderson und Sozialminister Gustav Möller sowie Bruno Kreisky. 1. Mai 1943 Auf einer sozialdemokratischen Kundgebung in Stockholm trägt Willy Brandt die Friedensziele der »Kleinen Internationalen« vor. 29. Juli 1943 Schweden kündigt das deutsch-schwedische Transitabkommen und stellt den Transitverkehr ein. 29. August 1943 Nach Zunahme von Widerstandsaktionen gegen die deutsche Besatzung besetzt die deutsche Wehrmacht erneut strategische Punkte in Dänemark und hebt die beschränkte dänische Eigenständigkeit auf. Teile der dänischen Marine fliehen nach Schweden.

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September 1943 Die erste Nummer der Zeitschrift »Österrikiska Informationer« (ab der dritten Nummer »Österreichische Information«), das Publikationsorgan der österreichischen Sozialisten in Schweden, erscheint. Redakteure sind Bruno Kreisky und Rudolf Holowatyj. Oktober 1943 Mit Hilfe der dänischen Bevölkerung fliehen rund 7.000 dänische Juden nach Einführung des Ausnahmezustandes durch die Deutschen nach Schweden. 1. November 1943 In der Moskauer Deklaration legen die Alliierten Großbritannien, USA und UdSSR fest, dass Österreich der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war und nach dem Zweiten Weltkrieg als souveräner Staat wieder hergestellt werden soll. 12. November 1943 »Österreichischer Abend« in Stockholm aus Anlass des 25. Jahrestages der Gründung der Republik Österreich. Festredner ist Bruno Kreisky. März 1944 Gründung des Free Austrian World Movement (Freie Österreichische Weltbewegung) als Weltverband der österreichischen Exilorganisationen mit Sitz in London 17. April 1944 Der deutsche katholische Priester Max Josef Metzger wird hingerichtet, nachdem er der Gestapoagentin Dagmar Imgart, einer schwedischen Staatsbürgerin, ein an den Erzbischof von Uppsala Erling Eidem gerichtetes Memorandum zur staatlichen Neuordnung Deutschlands und dessen Einbindung in eine zukünftige Weltfriedensordnung übergeben hatte und von ihr denunziert worden war. Juni 1944 Im Zuge der sowjetischen Besetzung der baltischen Staaten fliehen ca. 30.000 Menschen nach Schweden, davon 25.000 Esten. 11. Juni 1944 Gründung der Österreichischen Vereinigung in Schweden (ÖVS) mit Bruno Kreisky als Obmann 9. Juli 1944 Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg kommt nach Budapest, um die jüdische Bevölkerung vor der Deportation zu retten. 1. August 1944 Die erste Nummer der »Österreichischen Zeitung« erscheint als Organ des Free Austrian World Movement (Freie Österreichische Weltbewegung) in Schweden. Redakteur ist Karl Pontesegger. 19. September 1944 Finnland schließt einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion. Schweden nimmt 48.000 finnische Flüchtlinge auf. 284

27. Januar 1945 Sowjetische Truppen befreien das Konzentrationslager Auschwitz. Februar 1945 Spaltung der ÖVS; alle Ortsgruppen bis auf die Stockholmer schließen sich dem Free Austrian World Movement an. Februar – April 1945 Heinrich Himmler gestattet Graf Folke Bernadotte eine schwedische Hilfsexpedition zur Rettung dänischer und norwegischer KZ-Gefangener aus Deutschland. Mehr als 20.000 Personen aus 20 Ländern, darunter auch Österreicher, kommen mit den »Weißen Bussen« des schwedischen Roten Kreuzes nach Schweden. 8. April 1945 Gründung der Freien Österreichischen Bewegung in Schweden (FÖB), die dem internationalen Free Austrian World Movement angehört, und der Schwedisch-Österreichischen Vereinigung 27. April 1945 Unabhängigkeitserklärung der Republik Österreich 8. Mai 1945 Kapitulation Deutschlands und Ende des Zweiten Weltkrieges Juni 1945 Gründung des Hjälpkommittén för tyska och statslösa offer för koncentrationslägren (Hilfskomitee für deutsche und staatenlose Opfer der Konzentrationslager, ab 1946 Demokratisches Hilfskomitee für Deutschland) November 1945 Gründung des Österreichischen Repräsentationsausschusses in Schweden, bestehend aus Mitgliedern der ÖVS und der FÖB, um Hilfsaktionen für die österreichische Bevölkerung zu koordinieren 21. – 26. November 1945 Der Österreichische Repräsentationsausschuss in Schweden veranstaltet zusammen mit der schwedischen Organisation »Rädda Barnen« (»Rettet die Kinder«) in Stockholm eine »Österreichische Woche« zugunsten von Hilfsmaßnahmen für die österreichische Bevölkerung. 23./24. März 1946 Wiedervereinigung von FÖB und ÖVS in der Österrikiska Föreningen i Sverige (Österreichische Vereinigung in Schweden) November 1945 – Januar 1946 Schweden liefert an die 3.000 internierte Wehrmachtsangehörige aus, davon an die 2.500 an die Sowjetunion. Dank der Bemühungen Bruno Kreiskys waren österreichische Militärflüchtlinge bereits seit 1943 nicht mehr interniert. 30. August 1946 Der erste von der ÖVS organisierte Rückkehrertransport mit ca. 160 ÖsterreicherInnen, darunter auch Wehrmachtsdeserteure, geht von Stockholm ab. 285

Reportage zum Rückkehrertransport in der Zeitschrift »Österreich – Monatsblätter«, September/Oktober 1946 286

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Österreichische Exilantinnen und Exilanten in Schweden1 Adel Viktor (geb. 1923) Adler Alfred (geb. 1929) Adler Jonas (geb. 24. 7. 1888?) Adler Valerie Alfons Anton (geb. 17. 1. 1898) Alker Ernst (22. 12. 1895 – 5. 8. 1972) Anzböck Rudolf (geb. 15. 3. 1913) Auer Gottfried (29. 10. 1920 – 1. 6. 2004) Auferbauer Mathilde (geb. 15. 2. 1908) Aufwerber Konrad (geb. 27. 2. 1915) Bal(l)int Lilly (4. 12. 1897 – 1952) Baranjai-Sarkössi Theresia (geb. 16. 11. 1894) Barany Otto (25. 5. 1878 – 19. 2. 1967) Baudisch Paul (19. 6. 1899 – 11. 6. 1977) Bauer Helene (13. 3. 1871 – 20. 11. 1942) Benedikt Ernst Martin (20. 5. 1882 – 28. 12. 1973) Benedikt Irma (15. 11. 1879 – 1969) Benesi Julius (geb. 1904) Benies Marie (1891 – 6. 10. 1969) Benkovic Stefan (geb. 1903) Berg Ludwig (17. 4. 1910 – 7. 2. 1990) Berger Herman (geb. 1924) Berger Lilly (geb. 3. 8. 1928) Berger Lucie (geb. 1. 11. 1928) Berger Maria Berger Marie Margarete (geb. 31. 5. 1907) Berger Renée (geb. 9. 6. 1927) Bergmann Hilda (9. 11. 1878 – 22.? 11.? 1947) Beyer Marianne (geb. 14. 5. 1894) Bibring Edwin (23. 7. 1893 – 7. 8. 1991) Bibring Johanna (geb. Windt) (16. 7. 1908 – 27. 5. 1972) Billmaier Adele Johanna (geb. 20. 8. 1912) Billmaier Erwin (7. 7. 1903 – 1973) Binder (geb. Pusterer) Anni (18. 12. 1913 – 22. 1. 2000) Binder Otto (2. 1. 1910 – 15. 2. 2005) Bittner Karl (29. 2. 1896 – 15. 12. 1963) Blau Berthold (geb. 3. 6. 1885) Blau Ernst Martin Hans (geb. 1911) Blühdorn Edgar (geb. 1924) Böhm Klara (9. 9. 1917 – 1. 1. 2004) 1

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Böhm Maria (24. 3. 1885 – 23. 8. 1978) Böhm Martha (11. 3. 1913 – 11. 7. 1996) Böhm Paul (27. 6. 1913 – 19. 4. 1983) Böhm Stefan (9. 9. 1908 – 11. 9. 1998) Böhm Vilmos (6. 1. 1880 – 28. 10. 1949) Bogner Desiderius (geb. vor 1889) Bortstieber Fritz (geb. 19. 4. 1906) Brandeker Wilhelm (Willy) (11. 5. 1912 – 20. 12. 1996) Bratmann Erwin (geb. 10. 2. 1901) Bratmann Jenny (geb. 22. 10. 1908) Braun Josef (geb. 1919) Braun (verh. Björnsen) Hildegard (geb. 1929) Braun Ottilie (geb. 1900) Braun Robert (2. 3. 1896 – 16. 3. 1972) Brauner (geb. Bergman) Fanny (Fani) (geb. 20. 6. 1910) Brauner Georg (geb. 25. 3. 1909) Breiner Egon (1. 5. 1910 – 10. 10. 2000) Breiteneder Hans Bresslauer Heinz (geb. 1930) Bresslauer Helga (geb. 1927) Bretter Gusti (1896 – 2. 7. 1946) Brixel Harald Bruckmann Leopold (30. 9. 1894 – 7. 10. 1964) Brück Ella (geb. 1930) Brück Erika (geb. 1933) Brück Gerhard (gest. 1969) Brück Gertraute Josefa (geb. 1926) Brukner Edith (31. 1. 1908 – 27. 3. 1980) Buchberger Carl (Karl) (14. 8. 1887 – 6. 5. 1974) Calabi Ilse (geb. 1922) Cerny Herbert (geb. 14. 9. 1910) Cerny Karola (geb. 28. 1. 1912) Cherry Hilde (31. 10. 1920 – 7. 8. 1999) Cinadler Otto (geb. 1920) Coudek Gertrude (3. 3. 1911 – 2. 11. 1992) Coudek Hans (4. 10. 1907 – 21. 6. 1993) Cserer Alois (geb. 19. 12. 1920) Czecher Friedrich (geb. 30. 8. 1908)

Die Namensliste umfasst jene 614 Personen, die im Rahmen des Projekts »Namentliche Erfassung der nach Schweden emigrierten Österreicher und Österreicherinnen (1933/34 – 1938 – 1945)« ermittelt wurden. Siehe dazu den Beitrag von Simon Usaty in diesem Band.

Deubler Maria (8. 9. 1892 – 1947) Deubler Oskar (24. 8. 1893 – 1. 1. 1970) Deubler Oskar (geb. 5. 12. 1921) Deutsch Emma Wilhelmine (12. 1. 1884 – 1957) Deutsch Gustav (geb. 19. 5. 1899) Deutsch Kurt Egon (geb. 27. 8. 1915) Deutsch Ladislaus (geb. 26. 8. 1907) Deutsch Leo (1. 7. 1881 – 1962) Deutsch Rafael (geb. 1889) Deutsch Viktor (23. 4. 1887 – 9. 1. 1956) Dillenz Wilhelm (geb. 1917) Donath Maria (geb. 18. 2. 1899) Dückler Max (geb. 1906) Eberhardt Engelbert (30. 7. 1907 – 19. 6. 1982) Eckstein Anna (18. 6. 1884 – 1958) Eckstein Josef (23. 8. 1884 – 1957) Edel Herbert (geb. 1932) Edel Karl (geb. 1929) Edel Sonja (geb. 1934) Edlauer Kurt (geb. 1924) Egressy Ladislaus (2. 5. 1914 – 23. 8. 1990) Eidlitz Walter (28. 8. 1892 – 28. 8. 1976) Eisner Irma (geb. 1887) Eisner Josef (geb. 25. 2. 1914) Englander Alois Gottfried (geb. 13. 5. 1907) Ernst Mela (4. 4. 1893 – 8. 3. 1949) Ernst Wilhelm (geb. 2. 10. 1909) Fahnler (geb. Stern, in 2. Ehe Janus) Lina (11. 11. 1907 – 18. 12. 1992) Feder Viktor Federn Walther (6. 8. 1869 – 1. 2. 1949) Federn-Lipschütz Blanka (geb. 1879) Fein Egon (geb. 7. 10. 1905) Feldmann Maurice (24. 7. 1909 – 6. 5. 1976) Fiala Camillo (geb. 24. 7. 1918) Figdor Walter Otto (25. 6. 1914 – 4. 3. 1992) Filz von Reiterdank (Wirth) Erich (11. 9. 1902 – 9. 1. 1973) Fink Ernst (geb. 13. 8. 1918) Fink Johann (geb. 1882) Fink Justina (geb. 29. 7. 1884) Fischer Arthur (geb. 4. 4. 1897) Fischer Charlotte (geb. 5. 9. 1905) Fischer Edith (geb. 22. 4. 1899) Fischer Erna (1896 – 22. 8. 1896) Fischer Herta (Hertha) (geb. 5. 5. 1920) Fischer Lilly (geb. 27. 2. 1894) Fischer Raphael (geb. 12. 10. 1900) Fischer-Köstler Liselotte (9. 5. 1910 – 2001)

Fletzberger (geb. Propper) Gertraud (geb. 10. 1. 1932) Foster Edith (15. 9. 1914 – 2002) Frank Josef (15. 7. 1885 – 8. 1. 1967) Frankfurt Anneliese (geb. 1927) Frankfurt Heinz (geb. 1920) Frankl Leopold (30. 7. 1912 – 26. 6. 2005) Frankl Malina (23. 10. 1912 – 1950?) Freil Rudolf (geb. 1906) Freud Helene (geb. 24. 7. 1901) Freund Edith (geb. 1. 9. 1922) Freund Josefine (geb. 12. 2. 1901) Freund Martha (geb. 1900) Freund Rudolf (geb. 1894) Freytag Johann (10. 6. 1891 – 1944) Frick Lisel (geb. 1908) Friedmann Anneliese (geb. 1924) Friedmann Christina (23. 2. 1917 – 4. 2. 1994) Friedmann Hans (2. 5. 1914 – 29. 6. 2006) Frisch Auguste (1877 – 1951) Frisch Justinian (19. 7. 1879 – 2. 7. 1949) Fritz Max (14. 4. 1893 – 20. 11. 1974) Fritz Theodor (geb. 1927) Fritz-Reif Else (1887 – 1974) Fuchs Elsa (geb. 6. 4. 1893) Fuchs Max Fuchs Otto Erich (geb. 14. 4. 1908) Fuchs Richard (5. 1. 1884 – 3. 9. 1972) Fürst Richard Karl (geb. 5. 5. 1918) Gans Edith (geb. 1923) Gavrič Elisabeth (Lisa) (31. 7. 1907 – 22. 6. 1974) Gelbart Erna Gelles Herbert Otto (geb. 1921) Gerber Otto Paul (geb. 25. 3. 1875) Gerhard (Gerhardt) Anna (geb. 1923) Geyduschek Maria (geb. 1921) Gil (Engel) David George (geb. 16. 3. 1924) Götzlinger Frederick (geb. 1895) Götzlinger Henriette (geb. 1906) Gogg (Weber) Ilse (25. 7. 1911 – 20. 1. 1995) Gogg (Weber) Peter (geb. 30. 8. 1936) Goldberg Gustav (geb. 1915) Goldschmidt Waldemar (1. 12. 1886 – 15. 5. 1947) Goldstaub Walter (geb. 12. 7. 1919) Gosch Franz (geb. 30. 8. 1915) Gotzlinger (Götzlinger) Leopold (geb. 8. 7. 1928) Graf Johann (geb. 27. 8. 1922) Graupner Louise (geb. 28. 10. 1910) Greid Herman(n) (24. 11. 1892 – 7. 1. 1975)

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Gross Artur (geb. 17. 1. 1900) Grosser Ernst (5. 5. 1908 – 1948) Gruber Hedi Gruber Leo (geb. 27. 4. 1907) Grünberg Erwin (geb. 3. 4. 1922) Grünfeld Ida (geb. 12. 1. 1891) Grünfeld Leopold (geb. 30. 5. 1871) Grünhaut Moritz (geb. 1. 11. 1882) Grünhut Curt (Kurt) (Hans) (geb. 11. 10. 1919) Grünhut Erik (Erich) (geb. 1923) Grünhut Erika (geb. 1930) Gstettenhofer Walter (geb. 1. 2. 1924) Haas Dorit (geb. 1927) Haas Wilhelmine (1. 10. 1895 – 6. 12. 1980) Haberschreck Johan (Hans) (geb. 11. 11. 1906) Hacker Leopold (31. 8. 1909 – 12. 5. 1991) Haenflein Edmond (geb. 1886) Haenflein Olga (geb. 1896) Haenflein Robert (2. 5. 1924 – 14. 5. 1979) Hahn (evtl. geb. Keller) Dora (geb. 27. 3. 1922) Hahn Kurt (14. 10. 1915 – 29. 7. 2005) Hainisch-Marchet Ludovica (29. 6. 1901 – 22. 8. 1993) Hakala Else (geb. 1930) Halfen Anni (Anny) (27. 5. 1898 – 1988) Halfen Ernst (geb. 1926) Halfen Ingegerd Halfen Johanna (geb. 1927) Halfen Josef (geb. 1922) Hebein Hans (Johann) (geb. 5. 2. 1902) Heinz Ella (31. 10. 1900 – 24. 7. 1987) Heinz Karl (16. 9. 1895 – 7. 11. 1965) Heinz Otto (geb. 18. 9. 1924) Helder Ilse Helleday Selma (geb. 1915) Hernried Karl Heinz (7. 7. 1912 – 23. 6. 1988) Herzog Fred F. (Friedrich) (21. 9. 1907 – 21. 3. 2008) Hess Olga (10. 12. 1891 – 18. 3. 1943) Heydenau Friedrich (4. 7. 1886 – 10. 8. 1960) Hildebrand Hermann (geb. 31. 8. 1882) Hildebrand Marta (geb. 31. 10. 1907) Hildebrand Neche (geb. 4. 9. 1883) Hildebrand(t) Kurt (Curt) (Carl) (geb. 13. 5. 1910) Himmelreich Richard (geb. 1928) Hindels Josef (10. 1. 1916 – 10. 2. 1990) Hohenberg Ilse (geb. 1920) Holewa (geb. Kapellner) Alice (14. 12. 1907 – 23. 9. 2003)

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Holewa Hans (26. 5. 1905 – 26. 4. 1991) Holowatyj Marianne (Marie) (geb. 4. 5. 1906) Holowatyj Rudolf (10. 8. 1904 – 8. 4. 1951) Holzmüller Friedrich (Fredrik) (18. 7. 1908 – 1984) Holzmüller Marie (17. 4. 1911 – 1995) Horowitz Elsa (geb. 24. 10. 1886) Horowitz Eugen (31. 10. 1877 – 19. 7. 1949) Horowitz Georg (geb. 23. 3. 1912) Horwáth Stephania (geb. 20. 1. 1922) Horwáth Walpurga (geb. 15. 11. 1923) Hrdina Josef (geb. 12. 3. 1922) Hrdlicka Leopold (geb. 27. 6. 1918) Huber Josef (Sepp) (geb. 15. 2. 1915) Huber Michael Franz (9. 12. 1901 – 7. 12. 1969) Huber Raimund (13. 6. 1905 – 1977) Hupka Edith (geb. 1931) Hupka Peter (geb. 1926) Ilg Johannes Isserlohn Hanny (geb. 10. 5. 1865) Jagitsch Anny Jagitsch Robert Jellinek Johannes (4. 2. 1899 – 1965) Jellinek Peter Kadmon Egon (geb. 17. 6. 1913) Kalmar Samuel (geb. 6. 10. 1910) Kamil Felix Kastner Josef Wilhelm (geb. 9. 7. 1920) Katz Melitta (geb. 1925) Kautsky Karl (13. 1. 1892 – 1978) Kautsky-Kobelt Charlotte (geb. 1892) Kedar (Kammermann) Nachum (Norbert) (geb. 28. 7. 1920) Keller Maximilian (geb. 1919) Kerl Peter (geb. 1. 8. 1923) Kerpner Alfred (15. 2. 1932 – 1. 3. 1981) Kiesling (geb. Norden) Erika (geb. 5. 9. 1907) Kindl-Just Gerhard (9. 1. 1924 – 13. 8. 1971) Klappholz Robert (geb. 10. 2. 1896) Klein Alfred (9. 3. 1896 – 8. 3. 1983) Klein Berta (6. 1. 1894 – 21. 2. 1992) Klein Fritz (geb. 1923) Klein Karl (geb. 21. 10. 1901) Klein Karl Erich (geb. 23. 10. 1904) Klüger Leo (5. 8. 1921 – 2000) Koczy Friedrich (Fritz) Franz (16. 6. 1914 – 18. 4. 1967) Köhler-Broman Mela (Melanie Leopoldina) (18. 11. 1885 – 15. 12. 1960)

König Anna (geb. 9. 7. 1867) König Berthold (21. 6. 1875 – 25. 11. 1954) König Otto (geb. 18. 1. 1904) König Paul (geb. 17. 8. 1889) König Stefanie (geb. 16. 8. 1892) Koessler Roland (geb. 23. 1. 1923?) Kolb Anna (geb. 16. 7. 1872) Kolb Karl (24. 11. 1873 – 24. 3. 1954) Kollmann Paul (26. 2. 1923 – 9. 6. 2004) Kornfeld Hans (geb. 10. 11. 1920) Kornfeld Paul (geb. 1922) Kornfeld Walter (geb. 20. 8. 1932) Kraus Eugén (Eugen) Georg (geb. 26. 3. 1902) Kraus Ilse (geb. 1924) Kreilisheim Fritz (13. 10. 1911 – 19. 11. 1985) Kreiner Josef (geb. 14. 3. 1911) Kreisky Bruno (22. 1. 1911 – 29. 7. 1990) Kreisky Fritz (geb. 20. 5. 1911) Kreisky Irene (9. 9. 1884 – 21. 2. 1969) Kreisky Max (26. 2. 1876 – 8. 6. 1944) Kreisky (geb. Münz) Selma (geb. 18. 5. 1915) Kremayer Franz (gest. 1950) Kremayer Paula Kristiansson (geb. Deubler) Angela-Maria (geb. 19. 1. 1920) Kron Käthe (geb. 31. 5. 1897) Kron Manfred (geb. 9. 2. 1894) Kron Otto (geb. 12. 12. 1921) Kronfeld Ernst Ludwig (geb. 20. 2. 1916) Kronfeld Otto Erich (21. 9. 1914 – 17. 11. 2000) Kuba Josef (26. 11. 1913 – 9. 12. 1983) Kudelka Richard (geb. 1909) Kunz Grete Laab Johann (22. 12. 1900 – 1972) Lackenbacher Erwin (geb. 23. 3. 1909) Lackenbacher Mina (geb. 10. 6. 1912) Lamberg Susi Elisabet (geb. 3. 11. 1927) Lampel Otto (13. 11. 1898 – 1965) Landes Robert (geb. 20. 1. 1910) Langer Edith (22. 8. 1897 – 19. 3. 1989) Langer Peter (2. 10. 1923 – 11. 4. 1995) Lanzer Gertrude Angela (2. 1. 1933 – 11. 11. 2004) Lanzer (geb. Landau) Wanda (25. 5. 1896 – 17. 11. 1980) Lanzer-Sillén Helena (geb. 1. 1. 1931) Lazar Otto (22. 6. 1891 – 1983) Lazar (Strindberg) Maria (22. 11. 1895 – 30. 3. 1948) Lechner Johann (Hans) (geb. 6. 11. 1910)

Lehr Antonie (Toni) (30. 11. 1907 – 1. 3. 1997) Lehr David (22. 3. 1910 – nach 1950) Lehsmann Elvira (geb. 1928) Lehsmann Kurt (geb. 1920) Lerch Eleonore (geb. 1934) Licht Andreas Lindner Hildegard (7. 9. 1914 – 22. 9. 1982) Lindner Paul (30. 9. 1900 – 17. 5. 1976) Lintner Julius (geb. 27. 3. 1920) Lissy (geb. Propper) Gerda (geb. 15. 7. 1933) Liwerant Johanna (geb. 6. 7. 1906) Liwerant Rebekka (geb. 17. 12. 1923) Löwy Herbert (23. 11. 1910 – 4. 11. 1980) Löwy Otto (geb. 12. 6. 1911) Loistl Franz (14. 6. 1900 –1956?) Loistl Irma (geb. 22. 2. 1905) Loistl Luise (geb. 18. 1. 1928) Lubinger Friederike (20. 4. 1870 – 14. 11. 1954) Mändl Alice (geb. 1873) Mändl Hans (10. 10. 1898 – 2. 4. 1972) Malles Clara Malles Paul (9. 4. 1906 – 1970?) Mandl Bernhard (Benno) (geb. 20. 9. 1922) Mandl Erwin Hermann (27 . 11. 1915 – 7. 5. 2004) Mandl Theresia (geb. 24. 2. 1910) Marosi Hans (13. 3. 1903 – 24. 2. 1963) Marosi Margarethe Anna (2. 12. 1909 – 16. 3. 1998) Marx Violetta (geb. 1920) Mathis Robert (geb. 10. 12. 1912) Mayer Hans (geb. 1928) Mayrhauser Oscar (geb. 22. 6. 1895) Meitner Lise (Elise) (7. 11. 1878 – 27. 10. 1968) Menzl Hans (30. 5. 1894 – 31. 12. 1952) Meth Elise (9. 9. 1880 – 1960) Meth (Fracht) Jakob (geb. 7. 6. 1885) Millhofer Vera (geb. 1921) Mörth Gertrude (geb. 1929) Mörth Rosa (geb. 1928) Moser August (Gustl) (22. 4. 1896 – 7. 10. 1986) Müllauer Karl (geb. 12. 9. 1921) Müller August (geb. 26. 3. 1922) Müller Friedrich (geb. 1913) Müller Hofmann Rudolf Samuel (geb. 12. 2. 1926) Müller Hofmann Viktor (geb. 1923) Müntz Hermann (geb. 1. 6. 1892)

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Nagler-Wittgenstein Monica (geb. 27. 5. 1935) Neuer Robert d. J. (geb. 4. 8. 1933) Neugebauer Susanne (geb. 1926) Neuhaus Elfriede (geb. 24. 3. 1915) Neuhaus Hermine (Minna) (19. 9. 1891 – 1982) Neuhaus Rudolf (6. 6. 1881 – 20. 7. 1969) Neuhaus Walter (9. 4. 1919 – 1990) Neuman Edith (geb. 1919) Neumann Adolf (13. 8. 1878 – ?. 1. 1953) Neumann Margarethe (geb. 14. 12. 1888 [1898]) Neumann Richard (geb. 2. 2. 1894) Neurath Kurt (geb. 25. 4. 1918) Neurath Paul (12. 9. 1911 – 3. 9. 2001) Nissels Johann (17. 8. 1902 – 1981) Novacek (Nowacek) Ester Magdalena (geb. 18. 10. 1923) Novy Ernestine (18. 3. 1900 - 1986) Novy Ernestine (geb. 2. 1. 1931) Novy Franz (28. 9. 1900 – 14. 11. 1949) Novy Walter (geb. 11. 4. 1926) Öhlinger Alois (geb. 19. 9. 1922) Oliva Maria Magdalena (1. 9. 1916 – 1966) Ovadia-Benedikt Susanne (Susanna) (geb. 13. 9. 1923) Pabst Karl Friedrich (geb. 14. 10. 1899) Panzenböck Ferdinand (19. 5. 1904 – 15. 12. 1995) Papigay Hedwig Patera Paul (geb. 11. 6. 1917) Peiper Else (21. 9. 1902 – 6. 2. 1988) Peiper Robert (25. 3. 1902 – 3. 3. 1966) Peter Hans Adolf (geb. als Fleischner Adolf ) (10. 11. 1904 – 13. 4. 1977 Peutl-Pleyl Rudolfine (27. 3. 1903 – 1982) Philipp Rudolph (geb. 15. 9. 1895) Pichler Charlotte (geb. 1925) Pietsch Charlotte (geb. 1926) Pilewski (-Karlsson) Leonie (28. 2. 1897 – 1. 12. 1992) Pleyl Hannes Alfred (geb. 19. 4. 1930) Pleyl Josef (15. 9. 1900 – 1989) Pluschkowitz Paula (geb. 25. 4. 1911) Pogner Eva (geb. 15. 12. 1922) Pokorny C. G. Pollak Franz (geb. 6. 1. 1902) Pontesegger Karl (2. 4. 1915 – 8. 6. 1954) Popelka Alfred (10. 2. 1900 – 21. 12. 1960)

292

Popelka Hedwig (Hedi) (8. 4. 1906 – 20. 1. 1980) Popper Elsa (geb. 29. 3. 1888) Popper Fritz (geb. 5. 8. 1907) Popper Helene (25. 9. 1885 – 13. 5. 1963) Popper Hans (geb. 2. 3. 1887) Postl Karl (geb. 13. 4. 1903) Pressburger Gertrude (geb. 11. 7. 1927) Probst Ine (Irene Maria) (1901 – 1978) Propper Felix (1. 3. 1894 – 24. 11. 1962) Propper Gerold (geb. 13. 3. 1928) Propper Leopoldine (10. 4. 1905 – 3. 1. 2009) Propst Artur (geb. 1918) Propst Art(h)ur (17. 12. 1882 – 26. 1. 1954) Propst Elsa (Else) (26. 1. 1891 – 17. 1. 1976) Propst Ernst (geb. 17. 10. 1918) Raab Alfred (Friedl) (16. 5. 1914 – 27. 4. 1943) Raab Gretel Radoh Lilian (geb. 10. 2. 1930) Rado(h)-Hofmann Helene (1900 – 1974) Regner Arnold (geb. 3. 8. 1895) Regner Johanna (geb. 26. 10. 1901) Reich Siegmund (geb. 14. 4. 1887) Reich Wilhelm (24. 3. 1897 – 3. 11. 1957) Reich Viktor (14. 7. 1909 – 1967) Reichard Anna Reichard Hans (1939 – 1998) Reichard Peter (geb. 1925) Reichard Siegmund (geb. 18. 1. 1891) Reichsfeld Alfred (geb. 1877) Reif Paul (23. 3. 1910 – 7. 7. 1978) Reiss Hildegard (geb. 1. 5. 1933) Reitbauer Alois (12. 2. 1915 – 16. 7. 1997) Reitbauer (geb. Blum) Marianne (27. 8. 1918 – 22. 5. 2002) Ribbing (geb. Edenhofer) Maria (5. 4. 1911 – 9. 9. 2008) Rich (geb. Fritz) Maria F. (geb. 17. 6. 1922) Richter Theodor (geb. 16. 8. 1914) Robinson Moritz (1. 8. 1884 – ?. 10. 1983 ) Robinson Regina Rodosi-Muchuw Dagny Rössler Susanne Rogawski Alexander Simon (11. 5. 1913 – 1991) Rona Georg (geb. 14. 11. 1909) Rosner Jakob (25. 3. 1890 – 18. 6. 1970) Roth Eva (geb. 1925) Roth Ilse (geb. 1927) Rücker Fritz (geb. 5. 8. 1906) Rücker Nelly Salzer Egon Michael (geb. 8. 7. 1917)

Salzmann Johann (geb. 21. 5. 1903) Samuely Walter (1. 5. 1906 – 23. 11. 1988) Satzinger Kurt Schächter Friedrich (27. 4. 1924 – 23. 5. 2002) Schechter Margarethe (7. 10. 1905 [1907] – 11. 3. 2002) Schechter Richard (3. 7. 1926 – 2. 1. 2011) Schechter Walter (21. 4. 1904 – 15. 7. 1976) Scheibal Friedrich (Fritz) Schein Harry (13. 10. 1924 – 11. 2. 2006) Schey Amalie (geb. 11. 11. 1900) Schiff Alice (geb. 1926) Schiller Ernst (geb. 1929) Schiller Eva (geb. 1929) Schimmerl Martha (16. 2. 1896 – 1981) Schleifer Friedrich (5. 2. 1880 – 1. 5. 1958) Schleifer Karoline (Caroline) (21. 7. 1880 – 20. 8. 1962) Schmid Richard Schmidek Ernst Georg (18. 1. 1915 – 11. 8. 2003) Schmitz Josef (geb. 22. 4. 1921) Schnabel Sybille (geb. 1926) Schnabl Ludwig (geb. 28. 7. 1909) Schnabl (geb. Mandl) Malwine (geb. 1. 2. 1912) Schober Karl Franz (geb. 17. 11. 1909) Schönfelder Gustav (Gustel) (geb. 17. 7. 1896) Schönfelder Josefine (geb. 20. 9. 1896) Schramm Grete (geb. 1920/1) Schütz Gertrud (Traude) (geb. 1920) Schütz Adolf (22. 9. 1895 – 11. 11. 1974) Schütz Perel (geb. 25. 11. 1897) Schulhof Bondesson Erika Grete (21. 9. 1921 – 7. 6. 2008) Schur Franz (geb. 1921) Schurian Johann (geb. 20. 4. 1916) Schwarcz Ernst (15. 7. 1923 – 9. 10. 2008) Schwartz (Schwarz) Helene (geb. 10. 3. 1886) Schwar(t)z Richard (16. 9. 1877 – 22. 10. 1948) Schwarz Ernst (geb. 1904) Schwarz Johanna (geb. 1931) Schwarz Maria (geb. 5. 7. 1889) Schwarz Maria (Marie) (geb. 1908) Schwarz Otto Schwarz Stefan (geb. 1932) Schwarzer Otto (geb. 1. 8. 1912) Schwarzkopf Herta (geb. 1930) Schweighofer Ernst (geb. 9. 1. 1906) Schwitzer Berthold (geb. 1905)

Segal Lizzi (geb. 5. 9. 1913) Selinko (verh. Kristiansen) Annemarie (1. 9. 1914 – 28. 7. 1986) Siegmann Erwin (6. 1. 1914 – 1990) Simon Anna (28. 8. 1885 – 15. 3. 1965) Simon Otto (7. 1. 1876 – 1941) Simon Richard (geb. 28. 3. 1923) Singer Kurt (10. 8. 1911 – 9. 12. 2005) Sive (geb. Robinson) Mary (Maria) (Marie) Skozdopole (Skoczdopole) Sulamith (geb. 1927) Sladky Emil Wilhelm (11. 1. 1905 – 13. 3. 2005) Sladky (geb. Mattersdorfer) Steffi (Stefanie) (31. 1. 1905 – 6. 12. 1987) Smretschnig(g) Viktor (geb. 7. 6. 1910) Söderberg (geb. Weixlgärtner) Elisabeth (21. 1. 1912 – 1993?) Sommer Auguste (Gusti) (28. 7. 1900 – 4. 3. 1997) Somogyi Alexander (geb. 15. 10. 1885) Somogyi Karl (geb. 2. 4. 1925) Somogyi Margarete (Margit) (geb. 8. 4. 1898) Sorge Ernst Sorge Eva Spaniermann Grete (geb. 26. 11. 1913) Spielman (Spielmann) Olga (geb. 1898) Spielmann Alexander (geb. 6. 10. 1907) Spielmann Rudolf (5. 5. 1883 – 20. 8. 1942) Spira Else (12. 3. 1884 – 1956) Spira Gertrud (geb. 9. 5. 1915) Spira Hugo (25. 3. 1890 – 1964) Spitz (Head) Hermann (Harry) (7. 3. 1899 – 10. 6. 1961) Stachelschnek Fanny (geb. 18. 4. 1925) Stahl Felix (9. 12. 1912 – 1. 12. 1974) Stein Rosa (geb. 11. 4. 1877) Stein Walter (geb. 10. 8. 1903) Steiner Steffan (Stefan) (geb. 23. 12. 1918) Steininger Ludwig (geb. 1907) Stempel (geb. Csepreg) Maria (9. 4. 1913 – 19. 5. 1990) Stempel Maxim (21. 8. 1898 – 13. 11. 1972) Stern Alfred (11. 9. 1909 – 4. 1. 1994) Stern Annie (26. 9. 1909 – 16. 11. 1983) Stern Eduard (23. 4. 1904 – 25. 9. 1996) Stern Fritz (geb. 27. 8. 1937) Stern (geb. Pick) Hedwig (Hedy) (19. 9. 1908 – 27. 2. 1995) Stern Kurt (geb. 30. 6. 1937) Stern Ladislaus Stern Sophie (geb. 18. 4. 1906)

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Stiasny Edmund (30. 9. 1871/2 – 17. 10. 1965) Stieglitz Gisela (4. 2. 1884 – 3. 9. 1959) Stiller Arthur (3. 1. 1912 – 15. 3. 1983) Strassl (geb. Deubler) Ingeborg (geb. 19. 11. 1915) Strauhs Fritz (geb. 1923) Strausser Leopold (Poldi) Streiner Rudolf (geb. 16. 4. 1922) Streller Franz Josef (17. 6. 1923 – 18. 4. 1967) Stridsberg (geb. Mayer) Gusti (22. 8. 1892 – 13. 3. 1978) Strindberg Judith (geb. 7. 9. 1924) Strohmaier Adolf (geb. 30. 10. 1916) Tank (Zelmanowitsch) Otto (geb. 1929) Täubl Hans (Johann) (21. 9. 1906 – 25. 5. 1976) Taurer Bernhard (geb. 21. 7. 1905) Taurer (geb. Hartmann) Berta (geb. 1. 2. 1910) Taussig Traude (geb. 1922) Telfner Ludwig (25. 4. 1902 – 20. 12. 1976) Tencer Ester (1. 4. 1909 – 27. 7. 1990) Teworawski (Teworawsky) Felix (geb. 23. 4. 1929) Török Anton (geb. 25. 10. 1915) Tomicich Andreas (geb. 31. 1. 1915) Trost Alfred (geb. 25. 5. 1922) Überreich Adele (geb. 1880) Überreich Christ(ian) (geb. 1876) Ullmann Carl (geb. 24. 8. 1860) Ullmann Otto (25. 7. 1925 – 2005) Urban Gustav Wilhelm Karl (geb. 6. 11. 1903)

Weiner Anton (geb. 18. 1. 1901) Weiner Eugenie (geb. 25. 12. 1904) Weiner Herbert (geb. 19. 8. 1922) Weingarten Walter (geb. 11. 7. 1903) Weingeist Sally (17. 2. 1884 – 31. 12. 1972) Weiss Anna (geb. 1887) Weiss Anny Elisabeth (geb. 1923) Weiss Hellmut (geb. 1. 12. 1921) Weiss Herbert (geb. 10. 6. 1925) Weiss Mary (geb. 19. 5. 1914) Weiss Moritz (geb. 1877) Weiss Robert (geb. 1916) Weissenstein Otto (19. 8. 1896 – 1978) Weisz Ernst Weixlgärtner Arpad (6. 4. 1872 – 2. 2. 1961) Weixlgärtner (geb. Neutra) Pepi (Josephine Theresia) (19. 1. 1886 – 30. 6. 1981) Wengraf Friedrich (Fritz) Arthur (21. 9. 1921 – 10. 4. 2008) Werber Willy (geb. 23. 6. 1911) Werner Sophie (geb. 1. 11. 1909) Wieselberg Gertrud (Trude) Wieselberg Heinrich Wieser Franz (geb. 30. 6. 1915) Wilhelm Paul (geb. 25. 8. 1915) Willheim Otto (geb. 6. 9. 1907) Windholz Alfred (geb. 1932) Windholz Margarethe (geb. 1897) Winkler Ernst (23. 4. 1899 – 27. 12. 1976) Winner Peter (23. 2. 1910 – 27. 11. 1991) Wisinger Franz (geb. 6. 9. 1918) Wittgenstein (geb. Strömberg-Grossmann) Birgit (3. 1. 1911 – 6. 1. 1980) Wittgenstein Heinz (1910 – 1990) Wohlmuth Franz (geb. 29. 11. 1901) Wolfgang Hugo (18. 2. 1923 – 24. 9. 2012)

Vaupotic Wilhelm (Willy) (6. 2. 1909 – 1986) Wagner Hans Richard (28. 11. 1919 – 24. 6. 2000) Waik (geb. Meth) Gabriele (14. 6. 1913 – 12. 10. 2009) Waldmann Eva (geb. 1924) Walther Otto Helmuth (2. 3. 1921 – 1991?) Wasservogel Ernst (2. 1. 1892 – 19. 6. 1977) Wasservogel Margarete (geb. 21. 9. 1898) Weigel (verheiratete Brecht) Helene (12. 5. 1900 – 6. 5. 1971) Weigl Karl (15. 10. 1879 – 27. 3. 1982) Weigl (geb. Kurz) Viktoria Weinand Richard (geb. 22. 2. 1910)

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Zach Lilly (Lili) (10. 11. 1922 – 1979) Zagler Johann (geb. 3. 3. 1905) Zeichner Elfriede (geb. 8. 3. 1929) Zekeli (Zekely) Wilhelm Edmund (geb. 12. 5. 1896) Zellermayer Ella (geb. 1906) Zilzer Ernst (geb. 1929) Zilzer Otto (geb. 1927) Zuckerkandl Victor (Vicki) (2. 7. 1896 – 5. [24.] 4. 1965) Zuckerkandl (geb. Bachrach) Mimi (Giustiniani Maria) (6. 8. 1882 – 1964) Zwillinger Kurt (11. 4. 1922 – 14. 3. 1997)

AutorInnen Otto Binder (1910 – 2005) wuchs in Wien auf und engagierte sich bereits früh in der Sozialistischen Jugendbewegung, seit 1928 Obmann in Salzburg. Nach einer kaufmännischen Lehre wurde er 1931 Mitarbeiter der Wiener Städtischen Versicherung in der Salzburger Landesdirektion. 1934 wegen versuchter Wiedererrichtung der Sozialistischen Arbeiterjugend verhaftet, wurde er als Angestellter der »Gemeinde Wien – Städtische Versicherungsanstalt« fristlos entlassen und war danach vier Jahre arbeitslos. 1937 wurde er stellvertretender Kreisleiter der Revolutionären Sozialisten und im September 1938 ins KZ Dachau und später ins KZ Buchenwald verbracht. 1939 emigrierte er nach Schweden, wo er eine Ausbildung zum Metallarbeiter machte. Ein Teil seiner Familie wurde deportiert. Auf Bruno Kreiskys Vermittlung hin erhielt er eine Anstellung bei der schwedischen Versicherung Folksam. 1949 bekam er die schwedische Staatsbürgerschaft und kehrte im selben Jahr nach Wien zurück, wo er neuerlich für die Wiener Städtische Versicherung arbeitete, 1959 bis 1981 als Generaldirektor. Tomas Böhm (1945 – 2013) wurde in Stockholm geboren. Seine Eltern, Paul und Klara Böhm aus Wien, mussten 1938 beziehungsweise 1939 als Juden und Sozialisten vor der Verfolgung aus Österreich fliehen. Tomas Böhm wuchs in Stockholm auf und war als Arzt, Psychiater und Psychoanalytiker (IPA) in seiner Privatpraxis tätig. Er verfasste Fachbücher zum Thema Liebesbeziehungen, Fremdenfeindlichkeit sowie Rache und schrieb auch Belletristik. Auf Deutsch publizierte Bücher: »Rache – zur Psychodynamik einer unheimlichen Lust und ihrer Zähmung« (mit Suzanne Kaplan, 2009); »Nicht wie wir – über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus« (2005); »Wiener Jazz Trio« (2001). Siglinde Bolbecher (1952 – 2012), Mag. phil., war Historikerin, Exilforscherin, Lyrikerin. Langjährige Lehrtätigkeit an der Bundesakademie für Sozialarbeit in Wien. Mitbegründerin und stellvertretende Vorsitzende der Theodor Kramer Gesellschaft sowie Mitherausgeberin der »Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands«, der Buchreihe »Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte« und der gesammelten Werke von Stella Rotenberg. Gründerin und langjährige Leiterin der FrauenAG der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge). Zahlreiche Studien und Beiträge zur österreichischen Exilliteratur und Zeitgeschichte. Gemeinsam mit Konstantin Kaiser Verfasserin des »Lexikons der österreichischen Exilliteratur« (2000). Publikationen (Auswahl): Gedichte in der Anthologie »Widerstand und Freiheitskampf« (2009); »Frauen im Exil« (Hg., 2007); »Traum von der Realität – Berthold Viertel« (hg. mit Konstantin Kaiser und Peter Roessler, 1998), »Nadelstich. Gedichte« (2013).

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Miguel Friedmann, Dr. rer. nat., Physiker, Mathematiker, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge). Im Exil seiner Eltern in Kolumbien geboren, 1947 mit seiner Familie nach Schweden, 1953 nach Österreich gezogen. Studium der Physik und Mathematik, Tätigkeit im Forschungszentrum Arsenal (Elektronik, elektromagnetische Umweltparameter, z. B. Auswirkungen von Handymasten) und Prüfung von sicherheitsrelevanten technischen Einrichtungen, insbesondere im Verkehrsbereich. Tagungssekretär der Informationstagung Mikroelektronik in Wien. Zahlreiche Vorträge und Publikationen. Otto Heinz, Dr. rer. nat., im September 1924 in Wien geboren. Emigrierte im Februar 1934 mit seinen Eltern Karl und Ella Heinz nach Brünn (Tschechoslowakei) und im Mai 1938 nach Stockholm. Weitere Emigration in die USA im Mai 1941, Niederlassung der Familie in Berkeley, Kalifornien. Fabriksarbeit in der Flugzeugindustrie und zwischen 1941 und 1946 zeitweise Studium. 1946 – 1954 Physikstudium an der University of California, Berkeley mit Erlangen des Doktortitels im Januar 1954. Forschungsstellen bei Bell Telephone Laboratories in Holmdel, New Jersey (Februar 1954 bis Juni 1955) und am Stanford Research Institute, Menlo Park, California (Juli 1955 bis März 1962). 1962 – 2004 Professor der Physik an einer bundesstaatlichen Universität in Monterey, California. Gegenwärtig Privatunterricht in Physik und Mathematik. Seit 1948 mit einer gebürtigen Wienerin verheiratet, zwei Söhne: Tony F. Heinz, Professor of Physics and Electrical Engineering, Columbia University, New York, und Steven A. Heinz, derzeit in Wien lebend. Walter Heller, geb. 1923 in Wien, flüchtete 1938 nach Budapest, wo er in einer Stahlwarenfabrik arbeitete. 1944 wurde er als Zwangsarbeiter in Miskolc zum Schuttbeseitigen nach einem Bombenangriff eingesetzt. Durch einen schwedischen Schutzpass konnte er im November 1944 gerettet werden. 1954 erhielt er die Ausreisegenehmigung aus Ungarn und kehrte im März 1954 nach Wien zurück. Er hat eine Tochter und einen Enkel. Seit 1994 ist er in Pension. Konstantin Kaiser, Dr. phil., 1947 in Innsbruck geboren. Studium der Philosophie in Wien. Seit 1983 freier Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Exilforscher. Mitbegründer der Theodor Kramer Gesellschaft und der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge), deren erster Präsident und Ehrenpräsident. Seit 1984 Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift »Zwischenwelt« (bis 2000 unter dem Namen »Mit der Ziehharmonika«). Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Essays, Gedichte und Prosa, u. a. gemeinsam mit Siglinde Bolbecher Verfasser des »Lexikons der österreichischen Exilliteratur« (2000). »In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Exillyrik« (hg. gemeinsam mit Miguel Herz-Kestranek und Daniela Strigl, 2007); »Ausgewählte Gedichte« (2007), »Ohnmacht und Empörung« (2008). 296

Eva Kreisky, emer. o. Univ.-Prof. Dr., studierte Rechtswissenschaft an der Universität Wien, absolvierte ein Postgraduierten-Studium der Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien Wien (IHS). 1972 – 1979 Assistentin am IHS, 1986/87 Habilitation zum Thema »Bürokratie und Politik. Beiträge zur Verwaltungskultur in Österreich«. 1979 – 1989 Abteilungsleiterin Politikwissenschaft am IHS, 1989 – 1993 Professorin für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Frauenforschung an der Freien Universität Berlin, 1993 – 1995 Stiftungsprofessur für Frauenforschung an der Universität Wien. 1995 – 2012 Ordinariat am Institut für Politikwissenschaft in Wien, 1995 – 2004 Vorständin. 2004 – 2012 Vizedekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften. Aktuelle Publikationen: »Antifeministische und antidemokratische Tendenzen im Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. Männerbundphantasien bei Stefan George, Thomas Mann und Max Weber« (in: »Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen«, hg. Stefan Krammer u. a., 2012); »Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit« (hg. mit Marion Löffler und Sabine Zelger, 2011). Peter Kreisky (1944 – 2010), Dr., Sozialwissenschaftler. Geboren in Stockholm als Sohn von Vera und Bruno Kreisky. Promotion als Jurist, langjähriger Mitarbeiter in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer Wien. Beiratsmitglied des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog und Jurymitglied des Bruno Kreisky Preises für Verdienste um die Menschenrechte. Publikationen (Auswahl): »Linksozialismus und ›Neue Linke‹. Zwischen Scylla und Charybdis im ›Kalten Krieg‹« (in: »Die Fantasie und die Macht«, hg. Raimund Löw, 2006); »Kreisky & Kreisky« (in: »Wer war Bruno Kreisky?«, hg. Franz Richard Reiter, 2000). Helena Lanzer-Sillén, 1931 in Wien geboren, Tochter von Wanda Lanzer, der Gründerin der Arbeitermittelschule, und Enkelin von Helene Bauer, der Ehefrau und Mitarbeiterin Otto Bauers. Sie kam 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden; ihre Mutter und Schwester folgten ein paar Monate später. Mitarbeiterin beim Gewerkschaftsverband, danach langjährige Chefsekretärin der Sozialdemokratischen Partei Stockholms, seit 1970 Direktorin des Schwerhörigenvereins von Stockholm Stadt und Land. Langjähriges Vorstandsmitglied des Stockholmer Sozialdemokratischen Jugendvereins (SSU), 1968 – 1979 Vorstandsmitglied der Stockholmer sozialdemokratischen Frauenorganisation; 1998 Organisatorin einer nordischen Konferenz in Stockholm zur Westsahara; 1996 – 2009 Leitung des Cochlea-Implantat-Vereines; Engagement für Flüchtlinge aus der Westsahara und schwerhörige Kinder in den Ländern der früheren Sowjetunion. Helmut Müssener, emer. Univ.-Prof. Dr. phil. Geboren 1936 in Mülheim/Ruhr. 1956 – 1964 Studium der Germanistik, Geschichte, Geographie, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Bonn, Mainz und Uppsa297

la. Dr. phil. (Mainz 1964), Fil. dr. und Dozent (Habilitation Stockholm 1974). 1964 – 1974 Universitätslektor, 1974 – 1993 Dozent, 1993 – 2001 Professor und Inhaber des Lehrstuhls an der Universität Stockholm. Seit der Emeritierung 2002 Senior Researcher am Hugo Valentin-Centrum der Universität Uppsala. 1969 – 1974 Leiter der Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur. Zahlreiche Veröffentlichungen zur neueren deutschsprachigen Literatur, zur Exilliteratur, zu deutsch-schwedischen Kulturbeziehungen und zu einzelnen Autoren, u. a. zu Nelly Sachs, B. Traven, Peter Weiss, August Strindberg. Irene Nawrocka, Dr. phil., Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Skandinavistik und Germanistik in Wien, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (Österreichisches Biographisches Lexikon), Exilforscherin und Verlagshistorikerin, Gründungsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge), Mitglied im wissenschaftlichen Beirat  und der FrauenAG der öge, Vorstandsmitglied der Theodor Kramer Gesellschaft. Publikationen zu Exilliteratur und Exilverlagen, u. a. über den Bermann-Fischer Verlag im Exil (»Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam«, in: AGB 53, 2000); »Carl Zuckmayer – Gottfried Bermann Fischer: Briefwechsel« (2004). Thomas Pammer, MMag. phil, Studium der Geschichte und der Skandinavistik in Wien, Studienaufenthalte in Umeå und Stockholm. Forschungs- und Interessensgebiete: Geschichte der Jugend, Emigrationsgeschichte. Publikationen: »Austrofaschismus und Jugend: gescheiterte Beziehung und lohnendes Forschungsfeld?« (in: »Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933 – 1938. Vermessung eines Forschungsfeldes«, hg. Florian Wenninger, Lucile Dreimedy, 2013); »›Barnen som var räddning värda‹? Die Schwedische Israelmission in Wien 1938 – 1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs« (Dipl.-Arb. Wien 2012); »V.F.Werk ›Österreichisches Jungvolk‹. Geschichte und Aspekte der staatlichen Organisierung der Jugend im Dollfuß-Schuschnigg-Regime 1933 – 1938« (Dipl.-Arb. Wien 2011). Mitarbeit an einem Projekt der Evangelischen Akademie Wien zur Tätigkeit der Israelmission. Lutz Popper, Dr., Mediziner, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge). Als Sohn von Ludwig und Friedl Popper in Wien geboren, aufgewachsen in Bolivien. Mit 10 Jahren nach Wien zurückgekehrt, Studium der Medizin. Er leitete als Facharzt für Urologie bis 1998 die Abteilung für Urologie in Oberwart im Burgenland. Seit der Pensionierung gilt sein besonderes Interesse der Aufarbeitung und der Herausgabe von Ludwig Poppers umfangreichen biografischen Aufzeichnungen: »Briefe aus einer versinkenden Welt« (Hg., 2008); Ludwig Popper: »Bolivien für Gringos« (Hg., 2005). 298

Oliver Rathkolb, Univ.-Prof. MMag. DDr. Geboren 1955 in Wien. Zeithistoriker, 2008 – 2012 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift »zeitgeschichte« und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte. 2005 – 2008 wirkte er als Gründer und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für europäische Geschichte und Öffentlichkeitsarbeit. Autor zahlreicher wissenschaftlicher Bücher und Aufsätze, u. a.: »Reichsbankanstalten 1938 – 1945 am Beispiel der Reichsbankhauptstelle Wien. Studie im Auftrag der Österreichischen Nationalbank« (mit Theodor Venus, 2012); »Die paradoxe Republik. Österreich 1945 – 2005« (2005); »Führertreu und Gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich« (1991). Henrik Rosengren, Dr. phil., ist Historiker und Universitätsdozent an der Universität Lund, Schweden. 2007 Promotion über den schwedisch-jüdischen Komponisten Moses Pergament (»›Judarnas Wagner‹. Moses Pergament och den kulturella identifikationens dilemma omkring 1920 – 1950«). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Nationalismus, Musikgeschichte, Exilforschung, Antisemitismus und Biographieforschung. Zahlreiche Aufsätze und Bücher über Moses Pergament, zur Musikrezeption und Biographieforschung. Leiter des Forschungprojektes «I skuggan av Förintelsen. Judars integration och kulturskapande i Sverige före, under och efter andra världskriget« (»Im Schatten des Holocaust. Jüdische Integration und kulturelle Errungenschaften in Schweden vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg«). Tanja Schult, Dr. phil., arbeitet seit September 2012 als Lehrbeauftragte am Hugo Valentin Centrum an der Uppsala Universität. Sie studierte Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Erlangen, Lund und Berlin. Ihre Doktorarbeit verteidigte sie 2007 an der Humboldt Universität. Die Arbeit wurde von Palgrave Macmillan unter dem Titel »A Hero’s Many Faces. Raoul Wallenberg in Contemporary Monuments« veröffentlicht und erschien 2012 als Paperback. 2008 kuratierte sie die multimediale Ausstellung »RaoulWallenbergBilder« in Stockholm und publizierte eine Anzahl Artikel zu den Nachbildern Wallenbergs in Kunst und Alltagskultur. Von 2009 bis 2012 arbeitete Tanja Schult an der Stockholmer Universität; ihr Forschungsprojekt »Der Holocaust in der schwedischen Kunst« wurde vom Riksbankens Jubileumsfond finanziert. Simon Usaty, Mag. phil., studierte Geschichte in Wien, Schwerpunkt auf Zeit- und (österreichisch-jüdische) Kulturgeschichte; Musiker. Mitarbeiter der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge); 2011 – 2012 Forschungsprojekt am Institut Österreichisches Biographisches Lexikon der ÖAW zur namentlichen Erfassung des österreichischen Exils in Schweden (1933/34 – 1945). Publikationen: »›Ein Cabaret is das, was die Christen nix 299

verstehn und die Juden gern besuchen.‹ Das Theater der Komiker« (in: »Jüdisches Kabarett in Wien 1889 – 2009«, hg. Marie-Theres Arnbom, Georg Wacks, 2009); »›Ich glaub’ ich bin nicht ganz normal‹. Das Leben von Armin Berg« (2009). Hellmut Weiss, geboren 1921 in Wien-Währing. Besuchte in Wien die Waldorfschule, danach die Hauptschule und die Höhere Technische Lehranstalt in Mödling. Er kam am 28. August 1939 in Schweden an, 1959 erhielt er die schwedische Staatsbürgerschaft. In Schweden absolvierte er das STI (Stockholms tekniska institut) in Stockholm und arbeitete als Ingenieur in der schwedischen Industrie. Er ist verwitwet und hat sieben Urenkel. Lennart Weiss, Dr. phil., geboren 1953. Studium der Germanistik, Anglistik, Skandinavistik und Literaturwissenschaft in Stockholm und Uppsala. Seit 1978 als Gymnasiallehrer in Stockholm tätig. 2010 Dissertation über Raoul Auernheimer, »In Wien kann man zwar nicht leben, aber anders wo kann man nicht l e b e n« (Acta universitatis Upsaliensis, Studia Germanistica Upsaliensia 54). Klas Åmark, emer. Univ.-Prof. Dr. phil., 1944 in Stockholm geboren. Studium der Geschichte, Religionsgeschichte und Ethnologie an der Universität Stockholm, Dr. phil. in Geschichte. 1974 – 1991 Universitätsassistent, Dozent und Universitätslektor am Institut für Geschichte, 1992 – 2011 Professor. Zahlreiche Publikationen und Beiträge zur historischen Erforschung des Arbeitslebens und zur Geschichte der nordischen Wohlfahrtstaaten. 1995 – 2003 einer der beiden Leiter des Projekts »Der Wohlfahrtsstaat im Umbruch« (»Välfärdsstat i brytningstid«). 2001 – 2011 Koordinator des Projekts des Wissenschaftsrats »Schwedens Verhältnis zum Nationalsozialismus, dem Dritten Reich und dem Holocaust«, Verfasser des Abschlussberichts »Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, nazityskland och Förintelsen« (2011).

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Abbildungsnachweis Archiv der jüdischen, vormals mosaischen Gemeinde im Riksarkivet, Stockholm: 48 f. Göran Bergendahl: 33 svenska komponister. Falun: J. A. Lindblads Bokförlag AB. 1972, S. 105: 99 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Nr. 188, 17. Juni 1938, S. 3293: 156 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Wien: 56, 58, 65, 85, 123 © Pawel Flato: 11 Hopi-Media, Wien: 12 Eugene Levai: Black Book on the Martyrdom of Hungarian Jewry. Zürich: The Central European Times Publishing Co. Ltd. 1948, S. 49: 220 MCCS Archives (The Mission Covenant Church of Sweden’s Archives, Svenska Missionskyrkans arkiv), Stockholm: Umschlagbild, 147, 267 Missionstidning för Israel, 66. Jg., H. 2, 1939, S. 45: 141 © Johan Oedmann: 10 © Ingo Pertramer: 8 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin: 163 Privatbesitz: 17 Privatbesitz Tomas Böhm, Lidingö: 197, 198 Privatbesitz Eva Douglas, Stockholm: 133, 135 Privatbesitz Margit Fischer, Wien: 87, 174, 176 Privatbesitz Miguel Friedmann, Wien: 253, 255, 256, 259, 261 Privatbesitz Otto Heinz, Berkeley (Kalifornien): 191, 192 Privatbesitz Walter Heller, Wien: 228, 230 Privatbesitz Mikael Holewa, Tungelsta: 96 Privatbesitz Eva Kreisky, Wien: 182 Privatbesitz Helena Lanzer-Sillén, Stockholm: 239, 240, 243, 245, 247 Privatbesitz Irene Nawrocka, Wien: 155, 161, 164 f. Privatbesitz Lutz Popper, Oberwart: 206, 208, 210, 212 Privatbesitz Tanja Schult, Årsta: 224 Privatbesitz Paul Stempel, Stockholm: 105, 107 Privatbesitz Familie Ullmann, Stockholm: 274 Privatbesitz Hellmut Weiss, Stockholm: 265, 268 Privatbesitz Lennart Weiss, Stockholm: 273 The Raoul Wallenberg Committee of the United States, New York: 219, 222 Riksarkivet, Stockholm: 31, 38, 43 © Carl Johan Rönn: 202 Sächsisches Staatsarchiv, Leipzig: 152 Schwedisches Kirchenarchiv (Svenska kyrkans arkiv), Uppsala: 144 Stiftung Bruno Kreisky Archiv, Wien: 74, 76, 125, 127, 130, 189, 200, 286 f. timeline, Wien: 72, 82, 184, 186, 276 © Thomas Veres, zur Verfügung gestellt von den United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives, Washington, D. C.: 229, 233

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Namensregister1

Ackermann Manfred 79 Adler Emma 242 Adler Friedrich 56, 242 Adler Victor 242 Afritsch Josef 179 Altaffer Maurice 209 Altenberg Peter 154 Améry Jean 213 Anderson Carl Albert 283 Andrén Greta 141, 145 Apelquist Seved 9 Asch Schalom 151 Asklund Seth 140 f. Auer Gottfried 44, 129 Auernheimer Raoul 274 f., 300 Bach Johann Sebastian 257 Bäckelin Gösta 95 Baiculescu Michael 23 Bakunin Michail Alexandrowitsch 173 Bang Hermann 150 Barton (Ehepaar) 258 – 260 Baudisch Paul 63 Bauer Freddy (Friedrich) 126 Bauer Heini 196 Bauer Helene 190, 236, 238 – 241, 243, 297 Bauer Hilde 196 Bauer Otto 79, 180, 236, 239, 280, 297 Beethoven Ludwig van 61 Benatzky Ralph 63 Benedikt Ernst Martin 62, 136 Berendsohn Walter A. 167 Bermann Fischer Annette 166 Bermann Fischer Brigitte 149 f., 166 f. Bermann Fischer Gabriele 166 Bermann Fischer Gisela 166 Bermann Fischer Gottfried 149 f., 153 f., 156 – 162, 165 – 167 Berg Ludwig 64 Berger-Strasser Jenny 79 Bernadotte Folke 15, 121, 241, 285 Beurling Arne 17 1

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Bibring Edwin 133 – 135 Bibring Johanna 133 f. Binder Anni 8 f., 22, 71, 73, 79 – 81, 83f., 176, 178, 206, 216, 243 Binder Frieda 87 Binder Heddy 68, 72, 87 Binder Hermine 72, 87 f. Binder Julius 68 Binder Lennart 22 Binder Margit siehe Fischer Margit Binder Otto 8, 11 f., 21 f., 46 f., 50, 52f., 59, 64, 67 – 84, 86 – 88, 132, 134, 174, 176, 178, 180 f., 185, 188, 196f., 204 – 206, 208, 210, 212, 215f., 243 Bing Siegmund 154, Bjørnson Bjørnstjerne 150 Blomberg Nils 9 Blomdahl Karl-Birger 96 Blum Léon 82 Bock Hans 79 Böhm Klara 73 f., 189, 194 f., 198 f., 201f., 295 Böhm Eva 111 Böhm Maria 194 Böhm Paul 73, 189, 194 – 202, 295 Böhm Stefan 203 Böhm Tomas 11, 111, 202 Böhm Vilmos 194, 196 Bolbecher Siglinde 11, 22 f., 82, 296 Bonnier Adolf 158 Bonnier Albert 158 Bonnier Gerard 158 Bonnier Kaj 160 Bonnier Karl Otto 158 f. Bonnier Tor 159 f. Bonnier Åke 160 Boye Karin 92 Brandes Edvard 150 Brandt Willy 196, 283 Branting Hjalmar 242 Braun Felix 62 Braun Robert 62, 114 Braun-Prager Käthe 62

Die Namen aus dem Verzeichnis der österreichischen Exilanten und Exilantinnen werden hier nicht eigens angeführt.

Brecht Bertolt 52, 152, 191 f., 196 Breiner Egon 79, 189, 196, 238 Breitner Hugo 75 Bruner Ingela 23 Buchberger Carl 54, 74 Buths Julius 101 Buttinger Joseph 79, 83 Carmesund Ulf 140 Christensen Folke 189 Cori Carl 215 Cori Gerty 215 Daag Nils 23 Danielsson Carl Ivar 231 Dardel Fredrik von 217 Dardel Guy von 217 Dardel Nina von 217 Dehmel Richard 150 Denk Ulrike 23 Deubler Maria 260 Deubler Oskar 64, 260 Döblin Alfred 150 – 152, 154, 162 Dollfuß Engelbert 71, 194 Douglas Eva 23, 111, 133 f. Driessen Gruber Primavera 23, 111 Ehrenpreis Marcus 218 Eichmann Adolf 142, 229, 280 Eidem Erling 143, 284 Einstein Albert 242 Ekendahl Sigrid 244 Engels Friedrich 173, 192, 242 Engzell Gösta 42, 44 Erlander Tage 42 Ernst Mela 124 Ernst Wilhelm 189 Etzersdorfer Irene 67 Fahnler Lina 188 Felleis Roman 79 Fellinger Hans 79 Feuermann Anny 79 Feuerzeug Kurt 227 Figdor Walter 119 f., 132 Filz (von Reiterdank) Erich 122 Fischer Hedwig 153 Fischer Margit 11, 22 f., 80, 87, 170, 176, 178, 203, 243 Fischer Samuel 150, 153, 158 Fletzberger Gertraud 111, 119 Ford Gerald 217 Forell Friedrich 141

Frank Josef 12 Frankl Viktor 73 Freud Helene 124 Freud Sigmund 203 Friedmann Christina 250 – 252, 254, 257, 259 Friedmann Hans 77, 250 – 252, 254 f., 258 – 260 Friedmann Hermi 77 Friedmann Ida 251 Friedmann Ilse 251, 253, 256, 258 Friedmann Martin 251, 253, 256 f. Friedmann Miguel 11, 22, 77, 111, 253, 256, 261 Friedmann Otto 251 Frisch Justinian 162, 167 Frisch Otto Robert 162 Fröding Gustaf 158 Fuchs Albert 68 Fuchs Richard 195 f. Furugård Birger 16 Garborg Arne 150 Gardiner Muriel 83 Gavrič Lisa 124 f. Geijerstam Gustaf af 150 Gerl Josef 71 Giraudoux Jean 157 Glöckel Otto 69 Goebbels Joseph 57, 152 Gorbach Alfons 180 Granath Axel 9, 84, 172, 188 Gromyko Andrei Andrejewitsch 225 Gruber Karl 128 Grüber Heinrich 143 f. Günther Christian 15, 19 f., 44 Gustav V. 15, 282 f. Gustavsson Gerda 9 Gyllenhammar Charlotte 224 Habsburg Otto 84 Hahn Otto 61 Haider Jörg 202 Hammerstein Hans von 157 Handl Rudolf 23 Hansson Per Albin 15, 18, 204 Harnisch (Familie) 179 Harnisch Walter 179 Hauptmann Gerhart 150 Hausjell Fritz 11, 22 f. Hebein Hans 130 Hedenquist Göte 118, 138 – 142, 146 Heidenreich Maria 111

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Heidenstam Verner von 158 Heinz (Familie) 238, 241, 247 Heinz Ella 187 f., 190, 193, 296 Heinz Karl 116, 171, 187 f., 190, 193, 296 Heinz Otto 111, 171, 191 f., 238, 247 Heinz Steven A. 296 Heinz Tony F. 296 Heller Andreas 227 f., 231 – 233 Heller Ernst 227 f., 232 Heller Georg 227, 231 Heller Nandor 233 Heller Walter 22, 228, 230 f., 233 Helmer Oskar 75, 180 Hesse Hermann 150, 157, 159, 162 Heydrich Reinhard 282 Hieger Hanny 77 Hildebrand Kurt (Curt) 247 Hildebrand Marta 247 Himmler Heinrich 15, 121 f., 285 Hindels Josef 64 Hintermayer Franz 198 Hirschel Gutkind siehe Bonnier Gerard Hitler Adolf 26, 35, 81, 83 f., 86, 162, 205, 264, 280 – 284 Höjer Karl 44 f. Hoffmann-Radoh Helene 120 Hoffroy Joseph Peter 150 Hofmannsthal Hugo von 150 f., 154, 157, 167 Holewa Alice 90, 92 Holewa Erich 91 Holewa Hans 62, 90 – 99, 106 – 108 Holewa Johanna 90 Holewa Mikael 23 Hollnsteiner Johannes 149 Holowatyj Rudolf 284 Horch Franz 158 Horn Julius 48 – 50 Horowitz Georg 258 Horowitz Roland 258 Horthy Miklós 221 – 223, 231 Houssay Bernardo Alberto 215 Hrdlicka Alfred 276 Hubeny Karl 79 Huber Josef 128 f. Huebsch Benjamin 151, 158 Ibsen Henrik 150 Imgart Dagmar 284 Ivarsson Johannes 140 Jacobsen Jan Peter 150

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Johnson Herschel V. 218 f. Kaiser Konstantin 23, 77, 295 Kállay Miklós 221 Kamprad Ingvar 138 Kaplan Suzanne 199, 295 Karlsson Arne 15 Kery Theodor 185 Kessler Graf Harry 154 Key Ellen 150 Kiem Thomas 110, 112, 115 f. King Sol 217 Klausberger Christer 23 Kleineibst Johanna siehe Holewa Johanna Knorring Senta von 103 Körner Theodor 75, 181 Korotin Ilse 110 Kozlik Adolf 80 Krakauer Trude 77 Kreindl Gottfried 131 Kreisky Bruno 11 f., 20, 53 – 56, 59, 64, 67, 71 – 74, 76, 79, 84, 88, 110, 116, 122, 126, 128, 131, 136, 171, 178 – 182, 184 f., 189, 196, 216, 241, 246 f., 261, 280, 283 – 285, 295, 297 Kreisky Eva 23, 178 Kreisky Fritz 260 f. Kreisky Irene 67, 246 Kreisky Max 67 Kreisky Peter 23, 182, 184, 186 Kreisky Suzanne 178 Kreisky Vera 73, 189, 196, 297 Kreisky-Münz Selma 260 f. Kretschmann Uta Kristin 90 Kriszhaber Harry 82 Kronfeld Ernst 196 Kronfeld Otto 196 Kun Béla 258 Kunke Hans 79 Kunke Steffi 79 Lackenbacher Erwin 189 Lackenbacher Mina 189 Lagerkvist Pär 167 Lagerlöf Selma 158 Lakatos Géza 223 Lambert Jean siehe Lemberger Ernst Lamm Greta 250 f. Lamm Hermann 84 Lamm Martin 251 Landau Irene 236 Landau Zbigniew 236

Landauer Walter 165 Landor David siehe Landwehr Luki Landshoff Fritz H. 165, 167 Landwehr Luki 79 Lanzer Felix 236 – 238 Lanzer Gertrude Angela 236 – 239, 240, 245 f., 297 Lanzer Wanda 236 – 239, 241 – 243, 245 f., 297 Lanzer-Sillén Helena 23, 111, 132, 196, 239 f., 243, 245, 247 Lauda Ernst 214 Lauer Kálmán 218 Leander Zarah 63 Lehár Franz 61 Lehsmann Kurt 147 Leichter Otto 75 Lemberger Ernst 59 Lernet-Holenia Alexander 151 Lichtenberg Franz 77, 81 Liechtenstein Ferdinand zu 57 Liebermann Norbert 75, 196 f., 205 f. Lindegren Erik 96 Lindfors Viveca 63 Lindholm Sven Olof 16 Lindskog Elsa 244 Lissy Gerda 111, 119 Liwerant (Liverant) Johanna 126 Liwerant (Liverant) Rebekka 126 Löwy Herbert 131 Lomfors Ingrid 139 Lundborg Hans 22 f., 186 Lundqvist Åke 258 f. Lundvik Jan 226 Madelung Aage 150 Mahler Gustav 271 Malinowsky Rodion Jakowlewitsch 225 Malmborg Lars af 97 f. Mann Klaus 151 Mann Thomas 150, 152 f., 157 – 159, 161 f., 166 f. Marosi Hans 86, 134, 136 Marosi Karl 111, 203 Marosi Margarethe 134, 136, 196 Marx Karl 173, 192 Matteotti Giacomo 82 Meidner Rudolf 244 Meiner Ernst 211, 213 Meitner Lise 12, 61, 136, 162 Menzl Hans 130 f., 195, 198 Metzger Max Josef 284 Mihailović Dragoljub Draža 56

Misgeld Klaus 196 Möller Gustav 41 f., 283 Molotow Wjatscheslaw 172 Moser August 64 Moser Jonny 231 Mozart Wolfgang Amadeus 61, 271 Mraz Paula 79 Mueller Meinhold 126 Müssener Helmut 14 f., 93, 100, 112, 116, 275 Nansen Peter 150 Nawrocka Irene 11, 22, 45, 110, 194 Neill Laura 23 Neumüller Catrin 111 Neurath Paul 86 Nödl Frieda 180 Novy Ernestine (Erna) 246 Novy Franz 195, 198, 246 Nylander Lennart 9, 84 Offenthaler Eva 23 Olah Franz 181 Olsen Iver C. 218 f. Oscar II. 150 Osio Alois 71 Pammer Thomas 22, 34, 118 Paul Ernst 196 Peiper Else 122 Peiper Robert 122 Pergament Moses 299 Pernow Birger 140 f., 143, 145 f. Persson Göran 226 Peterson Anna-Lena 119, 141 Petterson Knut 42, 44 Pfeifer Josef 79 Philipp Rudolph 226 Pittermann Bruno 198 Pleyl Hannes Alfred 246 Pleyl Josef 64, 171, 246, 283 Pogner Eva 132 Polgar Alfred 47 Pollak Oscar 56, 75 Pontesegger Karl 57, 284 Popelka Alfred 84, 171 Poppe Nils 63 Popper Carl 209 Popper Christina siehe Friedmann Christina Popper Elsa 251 f., 259 Popper Friederike 208 – 210, 216, 298 Popper Hans 251 f., 255

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Popper Hans 213 Popper Ludwig 205 – 213, 215 f., 298 Popper Lutz 11, 22, 206, 208, 210, 212, 250 Popper Madeleine 207 f., 210 Popper Peter 207 f., 210 f. Popper Susanne 207 f., 210 Probst Otto 79 Propper Felix 119 f. Propper Gerda siehe Lissy Gerda Propper Gerold 119 f. Propper Gertraud siehe Fletzberger Gertraud Propper Leopoldine 119 f. Pusterer Anni siehe Binder Anni Querido Emanuel 164 f. Rack Ulrike 23, 226 Radoh Lilian 111, 120 f. Rath Ari 182 Reichner Herbert 152 Rehn Gösta 244 Reinhardt Max 101, 158 Reitbauer Alois 64, 73 f., 79, 122, 124, 128 f., 189, 196 Reitbauer Marianne 73 f., 189, 196 Renner Karl 75, 101, 181 Ribbentrop Joachim von 172 Rickmann Alfred Frederick 166 Ringborg-Weiss Carin 271 – 273 Robak Friedrich 185 Robinson Maria siehe Sive Maria Robinson Moritz 236, 238 f., 241 Robinson Regina 236, 238 f., 241 Roeder Ralph 157 Roosevelt Franklin Delano 219 Rosenberg Hilding 92 f., 99 Rosengren Henrik 22, 62 Rosner Jakob 64 Rotenberg Stella 295 Rother Bruno 247 Rühmann Heinz 63 Rydberg Viktor 97 Sachs Nelly 298 Sakrausky Oskar 183 Salten Felix 150 Sandler Rickard 15 f., 238 Schärf Adolf 21, 75, 181 Schärf Paul 198 Schein Harry 12, 63 Scheu (Familie) 179

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Schickele René 154 Schiff Otto 147 Schimmerl Martha 132 Schleifer Friedrich 117 Schnabl Ludwig 196 Schnabl Malvine 196 Schnitzler Arthur 61, 69, 150 f., 154, 164 Schönberg Arnold 62, 94 Schostakowitsch Dmitri 94, 107 Schütz Adolf 63 Schult Tanja 14, 22 Schuschnigg Kurt 71, 81, 149 Schwab Ernst 236 Shaw George Bernard 150, 154 Siering Walter 257 f. Sillén Gunnar 244 f. Simon Joseph 79 f. Singer Kurt 92 Singer Walter 161, 167 Sive Maria 236, 238 f., 241 Sjögren Monika 139 Skutezky Katharina 237 Sladky Emil 171 Smirnov 104 f. Söderberg Hjalmar 158 Soldan Lilly 237 Soldatics 185 Sommer Auguste 119 Sottopietra Doris 67 Specht Richard 154 Stalin Josef Wissarionowitsch 35, 106, 109, 248, 258 Steiner Rudolf 237 Stempel Maxim 62 f., 90, 94 f., 99 – 109 Stempel Paul 23, 63, 111 Stern Alfred 74, 188 – 190, 196 Stern Annie 161, 166 Stern Eduard 190 Stern Fritz 190 Stern Kurt 190, 203 Stern Sophie 74, 188 – 190, 196 Stiernhielm Georg 103 Strasser Peter 79, 242 Strauss Johann 61 Streller Franz 44 f., 129 Strindberg August 158, 298 Sturmthal Adolf 75 Suhrkamp Peter 153, 162, 167 Szálasi Ferenc 223 Szende Stefan 196 Sztójay Döme 222 Tegnér Esaias 97

Thurell Katarina 23 Tilly Ulrike 23 Tito Josip Broz 56, 59 Toller Ernst 151 Tranmæl Martin 196 Traven B. 298 Trebitsch Siegfried 154 Ullmann Otto 23, 138, 274 Usaty Simon 11, 22 f., 44, 288 Veesenmayer Edmund 229 Venus Theodor 111, 299 Veres Thomas 231 – 233 Vöczköndy László 223 Vogel 102 Waldbrunner Karl 198 Waldheim Kurt 73, 186, 211 Wallenberg Gustaf 217 f. Wallenberg Jacob 218 Wallenberg Maj Wising 217 Wallenberg Marcus 218 Wallenberg Raoul Oscar 14, 22, 217 – 226, 229, 231 f., 284 Wassermann Jakob 150 f., 154 Weigel Helene 152, 191 Weingeist Sally 202 Weiss Alexander 264, 272, 275 Weiss Belalcazar Anita 77 Weiss Gunnar 272

Weiss Hannes 264, 272, 276 Weiss Hellmut 23, 111, 265, 268, 271 – 277 Weiss Herbert 264, 273 – 276 Weiss Kurt 77, 81 Weiss Lennart 273, 276 Weiss Lichtenberg Elfi 77, 81 Weiss Margit 264, 266, 272, 276 Weiss Peter 298 Weiss Robert 147 Weiss Thea 77, 81 Weiss-Larsson Helena 271 Weissenstein Ignatz 78 Weissenstein Therese 68 Wendel Hermann 69 Werfel Franz 151, 162, 164, 167 Wiesinger-Stock Sandra 11, 22 Winkelmann Otto 229 Winkler Ernst 246 Winkler Karen 246 Winterstein Paul 112 f. Wittgenstein (Familie) 178 Wodak Walter 82 Zelichowski Paweł 23 Zuckmayer Carl 151, 157, 162, 164, 167 Zweig Stefan 68, 151 f., 162, 164, 167 Åmark Klas 22, 140, 143 Åsbrink Elisabeth 23, 138 f., 275 Åsbrink Molly 104

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