Stalins Ingenieure: Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren [Reprint 2014 ed.] 9783486596212, 9783486566789

Der Ingenieur war der "neue Mensch", der im Idealbild der Bolschewiki die Sowjetunion bevölkern sollte. Er sol

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German Pages 457 [456] Year 2002

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Stalins Ingenieure: Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren [Reprint 2014 ed.]
 9783486596212, 9783486566789

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Schattenberg Stalins Ingenieure •

Ordnungssysteme Studien

zur

Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 11

R. Oldenbourg Verlag München 2002

Susanne

Schattenberg

Stalins

ngenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren

R. Oldenbourg Verlag München 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek CIP Einheitsaufnahme -

Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure : Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den Susanne Schattenberg. München : Oldenbourg, 2002 (Ordnungssysteme ; Bd. 11) Zugl.: Frankfurt (Oder), Europa-Univ., Diss., 1999

1930er Jahren /

-

ISBN 3-486-56678-4

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen

Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH., Bad Langensalza ISBN 3-486-566678-4

Inhalt

Vorwort.7 I.

Einleitung.11 1) Fragestellung.11 2) Quellen.23

II. Der alte

Ingenieur.49

1) Entwicklung eines Berufsstandes.49 2) Die alte Elite und die neuen Machthaber.70 3) Die Vernichtung der alten technischen Intelligenz.85 III. Die Genese des

neuen

Ingenieurs.109

1) Kindheit.109 2) Am Wendepunkt.124 3) Ausbildung.140 IV.

Krisenmanager und Improvisationskünstler.181

1) Verteilung der Kader.181 2) In der Produktion.209 3) „Amerika einholen und überholen".253 V.

Versorgung und Vergnügen.287

1) Privilegien für die Elite.287 2) Kul'tumost'.306 3) Wohnungskarrieren.327 VI. Terror.339

1) Stachanovismus.339 2) Sergo Ordjonikidze Schutzpatron der Ingenieure.351 3) Sündenböcke.359 4) Schädlingsdiskurs.367 5) Verfolgung und Verhaftung.376 -

6

Inhalt

VII. Nachwort.397

1) Am Ende eines langen Jahrzehnts.397 2) Resümee.415 VIII.

Anhang.427

Abkürzungsverzeichnis.427 Quellen.429

Sekundärliteratur.437 Kurzbiographien zu 14 Ingenieur/innen.450

Personenregister.453

Vorwort

Diese Arbeit ist im Juli 1999 an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) als Promotionsschrift unter dem Titel ,„...trotzdem blieb ich Kommunist.' Die Welt sowjetischer Ingenieure in den dreißiger Jahren" angenommen worden. Sie entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs „Repräsentation, Rhetorik, Wissen. Grundlagen der Kulturwissenschaften". Für die Aufnahme in diesen kulturalistischen Melting Pot sowie für die dreijährige Förderung inklusive Reisebudget danke ich Anselm Haverkamp als Leiter des Graduiertenkollegs und der DFG. Eine weitere Archivreise ermöglichte ein Auslandsstipendium des DAAD. Dank gehört in erster Linie aber meinem Betreuer, Karl Schlögel, der sich mit großer Leidenschaft in die Welt der Ingenieure dachte, sich in ihr bewegte und mit den Protagonisten litt. Danken möchte ich auch Gabor T. Rittersporn als meinem Zweitgutachter, der sich wiederholt Zeit nahm, um jedes Detail durchzusprechen. In der Anfangsphase hat mir v.a. Bianca Pietrow-Ennker geholfen, das Thema handhabbar zu machen. Den glücklichen, wenn auch unter großem Druck stattfindenden Abschluß der Arbeit ermöglichten schließlich Dietrich Beyrau und Ingrid Schierle, die mich drei Monate lang in Tübingen unterbrachten. Für die Anregungen und Diskussion meiner Arbeit danke ich den Kolloquien und Osteuropa-Teams in Tübingen um Dietrich Beyrau, in Erlangen um Helmut Altrichter, damals noch mit Hubertus Jahn und Susan Morrissey, sowie dem von Stefan Plaggenborg organisierten StalinismusArbeitskreis. Jörg Baberwoski und Klaus Gestwa waren es, die mir nicht nur Tips und Anregungen gaben, sondern mich auch grundsätzlich darin bestärkten, Wissenschaft als ein die Mühen lohnendes Feld zu betrachten. Richard Stites ermöglichte mir meine Filmrecherchen und vermittelte mich an Maja Turovskaja, deren Bekanntschaft wie ein „Sesam-öffneDich!" zum Filmarchiv in Krasnogorsk bzw. zum Moskauer Filmforschungsinstitut (NIIKI) wirkte. Überaus entgegenkommend und kooperativ bei der Bereitstellung von Filmmaterial und einem Schneideplatz waren auch die Videothek des Kinozentrums Moskau sowie Naum Klejman als Direktor des Filmmuseums Moskau. Mein tiefer Dank gilt meinen Interviewpartnerinnen und -partnern, ohne deren Bereitschaft, mir offen ihre Lebensgeschichte zu erzählen, meine Arbeit kaum möglich gewesen wäre: Taisija Aleksandrovna Ivanenko, Sergej Semenovic Kisel'ev, Daniil' Isaakovic Maliovanov, Anna Isaako-

8

Vorwort

Pozdnjak, German Vasil'evic Rozanov, nov, Ljudmilla Sergeevna Van'jat.

vna

Vladimir

Michajlovic

Saza-

Danken möchte ich auch Galina Ivanovna Solov'eva, Leiterin der Abteilung für persönliche Nachlässe im Wirtschaftsarchiv Moskau, und ihren Mitarbeiterinnen, die stets sehr hilfsbereit waren und eine sehr angenehme Arbeitsatmosphäre schufen. (Daß im Archiv wegen offener Stromrechnungen der Fahrstuhl nicht funktionierte und ich mangels Personals die Akten aus dem zehnten Stock des Depots selbst in den Lesesaal und wieder zurück tragen durfte, war auch ein Entgegenkommen.) Schließlich danke ich meinen Korrekturleserinnen Julia Obertreis, Cornelia Siebeck und Angela Mai für ihre Knochenarbeit sowie Jochen Hellbeck für den zentralen Hinweis, daß eine Dissertation auch eine Dramaturgie benötigt. Mein Mann, Jo Breuninger, mußte das Ganze nicht nur lesen, formatieren helfen und Abbildungen scannen; er hielt mich darüber hinaus bei Laune und sorgte dafür, daß ich über dem Arbeiten nicht zu leben vergaß. Ein letzter Dank gehört der DFG, die die Veröffentlichung meiner Arbeit mit einer pauschalen Druckbeihilfe ermöglicht hat, sowie Cordula Hubert vom Oldenbourg Wissenschaftsverlag, die all meine Anfragen zur Formatierung eines solchen Textes geduldig über sich ergehen ließ.

Nürnberg, im März 2002

S.

Schattenberg

„Kannst Du Dir denn auch nur ein Hundertstel davon vorstellen? Wird denn das, was wir erlebt haben, Deine dickhäutige Stirn durchdringen?" (A. Karavaeva, Das Sägewerk, 1927)

„Sie, die von ihrer Aufgabe beseelten Menschen, bestanden ihr Examen als erstklassige Erbauer in den Wasserkraftwerken. (...) Sie, die sowjetischen Ingenieure, legten ihre ganze Seele in die Schaffung dieser Riesen. Nur sie, die sowjetischen Ingenieure, sind vor dem ganzen Land, vor der ganzen Welt verantwortlich für jeden Schritt, für jede Formel, für jede Zementmischung. (...) Über sie wird nicht ein Zeitgenosse, sondern die Kulturgeschichte berichten." (F. Gladkov, Pis'mo o Dneprostroe, 1931)

I.

Einleitung

1) Fragestellung „Ein echter Kommunist, der Techniker ist, das ist doch jetzt für uns der wich-

tigste Typ eines Kommunisten.

Auf jeden Fall ist das momentan der Typ

von

Kommunist, an dem es uns am meisten mangelt. Für uns steht fest, daß Technik und Kommunismus nicht voneinander getrennt werden können",1

verkündete das Politbüromitglied Vjaceslav Michajlovic Molotov (1890— 1986) 1928. Er drückte stellvertretend für die Führung der Bolschewiki um Stalin aus, daß sie nicht irgendwelche Fachleute brauchten, die die angestrebte und gerade beschlossene Industrialisierung durchführen konnten. Die Parteispitze hatte sich statt dessen entschieden, einen „Techniker-Kommunisten" zu kreieren, einen Mann, der in erster Linie die Weltanschauung der Bolschewiki teilen und erst in zweiter Linie über das nötige Fachwissen verfügen sollte. Dieser neue Ingenieur, der in sich das handwerkliche Können mit dem richtigen Bewußtsein verband,2 war auserkoren, nicht nur das Land zu industrialisieren und es auf einer rein materiellen Ebene zu Wohlstand zu führen. Er sollte gleichzeitig die neue Gesellschaft aufbauen, in der auf neue Art und Weise gearbeitet, gedacht und gelebt wurde. Der Ingenieursberuf war zu Beginn des ersten Fünfjahrplans 1928 nicht mehr eine einfache technische Profession, die bestimmte Fähigkeiten, mathematisches und naturwissenschaftliches Wissen verlangte. „Ingenieur" war eine neue Seinsform, ein ganzheitliches Konzept, das besagte, daß dieser Mensch außer der Technik auch Land und Gesellschaft gestaltete und Vollstrecker und Endprodukt der sozialistischen Utopie zugleich war. Der Ingenieur, der die Inkarnation des Formens, Gestaltens und Neuerschaffens war, wurde zum Protagonisten in einem Land, das in allen Bereichen der Gesellschaft, Natur und Technik neuerfunden werden sollte. Diese Idee, Tabula rasa zu machen, um dann alles, sowohl das Land als auch die Menschen, grundsätzlich neu zu errichten, drückte sich auch in dem von Ingenieuren gesungenen Lied aus: 1

2

Molotov, V.M.: O podgotovke novych specialistov, Moskau, Leningrad 1928, S. 62. Zur Konzeption des neuen Menschen, der in sich die körperliche Arbeit mit intellektuellem

Wissen und Klassenbewußtsein verbindet und die Erfüllung der sozialistischen Utopie bedeutet, vgl. auch Halfin, Igal: From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburgh 2000.

12

Einleitung „Die ganze Welt zerstören wir bis zu den Grundmauern, um dann die Welt aufs Neue zu erschaffen."3

Der Ingenieur war der neue Mensch schlechthin, der aus der Arbeiterschaft entsprungen war, im langen Kampf für die Revolution und die Etablierung der Sowjetmacht Bewußtsein erlangt und sich durch sein Studium die Welt des Wissens erobert hatte. Die Pravda schwärmte: „Die historische Rolle unserer sowjetischen Ingenieure ist einmalig. Alle wirklich technischen und wissenschaftlichen Probleme, die Epoche machen werden, entscheiden in Zukunft die Ingenieure unseres Landes, (...)."4 Derart wurde zu Beginn der forcierten Industrialisierung, die den nächsten revolutionären Schub für die gesellschaftliche Umstrukturierung markierte, das Ingenieursstudium zum meist propagierten Studienfach. Entsprechend der neuen Rolle des Ingenieurs wurden von den Studienanwärtern nicht in erster Linie gute Schulleistungen, sondern die „richtige" Herkunft bzw. das „richtige" Bewußtsein verlangt: 1928 sollten 65 Prozent und 1929 sogar 70 Prozent aller Studienanfänger aus der Arbeiterschaft stammen; Parteimitglieder wurden bevorzugt aufgenommen.5 Vydvizenie (Beförderung) wurde die Abordnung junger, kommunistischer Menschen aus der Arbeiterschaft zum Studium genannt. Als besondere Maßnahme konnten diejenigen, die bereits von Partei, Gewerkschaften oder von Regierungsinstitutionen geformt worden waren, als privilegierte Gruppe der Parteitausender (paritysjacnikï) oder entsprechend Gewerkschaftstausender (proftysjacniki) zum Studium delegiert werden:6 „In diesem Jahr nicht weniger als 1.000 Kommunisten, die die gewichtige Schule der Partei-, Sowjet- oder Gewerkschaftsarbeit durchlaufen haben, an den Technischen Hochschulen aufnehmen, wobei ihre materielle Versorgung

gewährleistet wird. Diese Maßnahme jährlich im Laufe der kommenden Jahre wiederholen."7 Zu den Auserwählten sollten ausdrücklich auch Frauen gehören.8 Angesichts des enormen Bedarfs an Fachkräften wurde dieses Ziel nicht unter emanzipatorischen Gesichtspunkten, sondern als „Faktor von größter ökonomischer Bedeutung" formuliert.9 Am 22. Februar 1929 ergriff das 3

Emel'janov, V.S.: O vremeni, o tovariscach i o sebe, Moskau 1968, S. 7. „O sovetskom inzenere", in: Pravda, 30. März 1934. 5 KPSS v rezoljucijach i resenijach s"ezdov, konferencij i plenumov CK, Bd. 2, 1925-1953, Moskau 1953, S. 518. 6 Fitzpatrick, Sheila: Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921-1934, Cambridge, New York, Melbourne 1979, S. 186; Bailes, Kendall E: Technology and Society under Lenin and Stalin. Origins of the Technical Intelligentsia, 1917-1941, Princeton, New Jersey, 1978, S. 200. 7

4

v rezoljucijach i resenijach, S. 403f. Vgl. auch: Schattenberg, Susanne: Frauen bauen den Sozialismus. Ingenieurinnen in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, in: Z Zeitschrift fur Kultur- und Geisteswissenschaften (1995/96)10, S. 25-37. 9 GARF, f. 5515, Narkomtrud, op. 13: Zenskaja inspekcija, d. 10.

KPSS

8

-

Fragestellung

13

VKP(b) die erste Maßnahme zur Förderung der Ausbildung von Ingenieurinnen und führte eine Frauenquote von 20 Prozent für die Neuaufnahmen an den Technischen Hochschulen (vtuz) bzw. 25 Prozent an

ZK der

Hochschulen für Chemie und Textilindustrie, an Technika und Arbeiterfakultäten (rabfaky und 35 Prozent an Hochschulen in Textilregionen ein." Von großen Unternehmen wurde verlangt, speziell für Arbeiterinnen Kurse zur Vorbereitung auf ein Hochschulstudium einzurichten; Kurse nur für Frauen gab es zwischen 1929 und 1930 auch an 27 Technischen Hochschulen und an 80 Arbeiterfakultäten.'2 Derart wurden Arbeiter und Arbeiterinnen sowie deren Söhne und Töchter massenhaft durch die Arbeiterfakultäten und die stark verkürzten Studiengänge geschleust oder direkt, ohne Studium, zu Ingenieuren und Ingenieurinnen ernannt. Der Leiter des Obersten Volkswirtschaftsrats (VSNCh) und spätere Volkskommissar für Schwerindustrie, Georgij Konstantinovic Ordjonikidze (1886-1937), begründete diese Politik folgendermaßen: „Wenn vor uns die Aufgabe des wirtschaftlichen Aufbaus steht, stellt sich ganz natürlich die Frage, welche kulturellen und technischen Kräfte diese Umgestaltung lenken werden. Ihr, die heranwachsende Generation roter Spezialisten, sollt unser Land zu einem sozialistischen machen."13 Diese Arbeit nimmt den

„Ingenieur neuen Typs" unter die Lupe:

seine

Genese, seine Karriere, sein Privatleben, seine Konflikte mit dem Staat. Es wird untersucht, mit welchen Mitteln er in den Medien propagiert und beschrieben wurde, wie Partei und Staat versuchten, ihn zu formen, und

wie er sich selbst als sowjetischer Ingenieur wahrnahm. Woher kamen diese Männer und auch Frauen, welche Stufen durchliefen sie auf ihrem Weg nach oben, und wie positionierten sie sich im sozialistischen Staat der dreißiger Jahre? Was für ein Selbstverständnis entwickelten sie, wie verhielten sie sich gegenüber Partei und Regierung, was waren ihre Ziele,

Wünsche, Träume? 10

Technikum: Lehranstalt, auf der in drei Jahren Techniker einer mittleren technischen Qualifikation ausgebildet wurden. Technika waren ein Produkt des vermehrten Kaderbedarfs der Industrialisierung: Die ersten wurden 1929 vom Volkskommissariat für Bildung gegründet, 1930 gab es bereits 320 in der gesamten SU, 1936 war ihre Zahl wieder auf 224 gesunken. Angaben aus: Kadry tjazeloj promyälennosti v cifrach, Moskau 1936, S. 47-51. Arbeiterfakultät: Bildungseinrichtung, die in zwei Jahren Arbeiter, Bauern und deren Kinder, die keine ausreichende Schulbildung genossen hatten, auf ein Hochschulstudium vorbereiten sollten. 1919 eingerichtet, wurden sie Ende der dreißiger Jahre wieder aufgelöst, da inzwischen vorausgesetzt wurde, daß jeder und jede die Möglichkeit hatte, eine ausreichende reguläre Schulzu erhalten. bildung " Bol'saja Sovetskaja Ëncyklopedija, Bd. 25, Moskau 1932, Sp. 259-260. 12 Aralovec, N.: Zenskij trud v promyälennosti SSSR, Moskau 1954, S. 83. n Pravda, 28. März 1928.

Einleitung

14

Über

die technische und wirtschaftliche Elite der Sowjetunion14 sowie über den Untergang der alten technischen Intelligenz und die Schaffung einer neuen, kommunistischen, aus der Arbeiterschaft stammenden Ingenieurselite sind v.a. in den sechziger bzw. siebziger Jahren zahlreiche Arbeiten erschienen.15 Besonders hervorzuheben ist dabei die Forschung von Sheila Fitzpatrick zur sozialen Mobilität. Fitzpatrick argumentierte erstmals, daß es Stalin nicht in erster Linie um die Vernichtung der alten, sondern um die Schaffung einer neuen, kommunistischen Elite ging. Die Parteiführung habe in den Jahren 1928-31 die entscheidende personelle Grundlage für die Sowjetunion gelegt und durch zahlreiche Privilegien diese Männer an sich gebunden.16 Es wurde eine neue, multifunktionale

14

DeWitt, Nicholas: Educational and Professional Employment in the USSR, Washington 1961; Azrael, Jeremy R.: Managerial Power and Soviet Politics, Cambridge, Mass., 1966; Granick, David: Soviet Metal-Fabricating and Economic Development. Practice versus Policy, Madison 1967; Graham, Loren R.: The Soviet Academy of Sciences and the Communist 1927-1932, Princeton, New Jersey, 1967. Party, 15 Lampert, Nicholas: The Technical Intelligentsia and the Soviet State, New York 1979; Barber, John: The Establishment of Intellectual Orthodoxy in the USSR, 1928-1934, in: Past and Present 83 (1979), S. 141-164; Bailes, Technology and Society under Lenin and Stalin; Neufeldt, Ingemarie: Die Wissenschaftlich-technische Intelligenz in der Entwicklung der

sowjetischen Gesellschaft. Die Auswirkung der theoretischen Umorientierung von einem egalitären zu einem differenzierten Modell der sozialistischen Sozialstruktur auf die Ausbildung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz der Sowjetunion (1925-1935), Berlin 1979; Schröder, Hans-Henning: Industrialisierung und Parteibürokratie in der Sowjetunion. Ein sozialgeschichtlicher Versuch über die Anfangsphase des Stalinismus (1928-1934), Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 41, Berlin 1988; Kuromiya, Hiroaki: Stalin's Industrial Revolution: Politics and Workers, 1928-1932, Cambridge, Mass., 1988. Diese Arbeiten entstanden offenbar auch in Reaktion auf die beginnende Diskussion über die Entstehung der technischen Elite in der Sowjetunion in der Chruscev-Ära. Hier konzentrierten sich Historiker

v.a.

auf den

Nachweis, daß einerseits die

neuen

Kader

aus

der Arbeiterschaft her-

vorgingen und daß sich andererseits die Sowjetregierung sehr um die Einbeziehung der alten Ingenieure in den Aufbauprozeß bemüht habe. Vgl. Kim, M.P. et al.: Sovetskaja intelligencija. Istorija formirovanija i rosta 1917—1965gg., Moskau 1968; Drobizev, V.Z.: Rol' rabocego klassa SSSR v formirovanii kadrov socialisticeskoj promysïennosti (1917-1936), in: Istorija SSSR 9 (1965) 4, S. 55-75; Batarina, A.: Industrualizacija strany velikij podvig rabocego klassa, vsego sovetskogo naroda, Dneptropetrovsk 1969; Fedjukin, S.A.: Bor'ba za perevospitanie staroj techniceskoj intelligencii v vosstanovitel'nyj period, in: Istorija SSSR 9 (1965) 4, S. 106-120; Genkina, É.B.: O leninskich metodach vovleèenija intelligencii v socialistiieskoe stroitel'stvo, in: Voprosy istorii 40,1 (1965) 3, S. 21-42. 16 Fitzpatrick, Education and Social Mobility; dies.: Stalin and the Making of a New Elite, -

1928-1939, in: Slavic Review 38 (1979), S. 377^102.

Fragestellung

15

Elite geschaffen,17 die zunächst die Wirtschaft leitete, um dann bis 1985 zu einem Großteil das Regierungspersonal zu stellen.18 In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß es nicht nur um die Ausbildung einer funktionalen Führungsschicht ging, sondern um das Projekt „neuer Mensch", um die Formung einer Generation mit spezifischen Normen und

Werten, Wahrnehmungsrastern und Handlungsmaximen. Die Sozial- und Strukturgeschichte hat viele essentielle Aussagen über die Beschaffenheit der sowjetischen Gesellschaft und ihre Existenzbedingungen machen können. Aber die quantifizierenden und objektivierenden Verfahren führten zur Vernachlässigung der entscheidenden kulturellen Dimension von Phänomenen sowie zur Nichtbeachtung der subjektiven Erfahrung der Sowjetunion durch einzelne Personengruppen.19 Dieses Versäumnis nachzuholen, die Geschichte der Sowjetunion durch ein neues Objektiv mit neuer Brennweite zu betrachten und die Frageapparatur nachzujustieren, um so die Vorstellung von den Verhältnissen der dreißiger Jahre zu korrigieren, ist die Neue Kulturgeschichte angetreten. Bisher wurde herausgearbeitet, daß das Politbüro 1928 eine Hetzkampagne und Terrorwelle gegen die „alten", unter dem Zaren ausgebildeten Ingenieure initiierte und gleichzeitig mit der massenhaften Ausbildung junger, kommunistischer Arbeiter und Arbeiterinnen zu Ingenieuren und Ingenieurinnen begann, daß im Juni 1931 die Spezialisten alter Provenienz rehabilitiert sowie Ingenieure generell privilegiert wurden, daß der Beginn der Stachanovbewegung im September 1935 eine neue Radikalisierung und Feindseligkeit gegenüber den Ingenieuren bedeutete und direkt in den Terror 1937/38 mündete. Doch dabei wurde weitestgehend die gesamte Dimension der offiziellen Werte, Leitmotive und Prioritäten ignoriert. Kulturgeschichte soll hier zum einen in dem Sinne praktiziert werden, daß der gesamte Werte- und Normen-Horizont der Sowjetunion der dreißiger Jahre, wie er sich in politischen Reden, Zeitungen und Zeitschriften, Romanen und Filmen in Bezug auf den Ingenieur präsentiert, ernst genommen und als entscheidender Faktor bei der Herausbildung des neuen Ingenieurs (re-)konstruiert wird. Zum anderen wird Kulturgeschichte als Subjektivierung verstanden. Die Geschichte der neuen technischen Intel17 Balzer, Harley: Engineers. The Rise and Decline of a Social Myth, in: Graham, Loren R.: Science and the Soviet Social Order, Cambridge, Mass., 1990, S. 141-167; Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissenz. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917-1985, 1993. Göttingen 18 Vgl. dazu: Hough, Jerry F.: The Soviet Prefects: The Local Party Organs in Industrial DeciCambridge, Mass., 1969. sion-Making, " Zum Vorwurf an die Strukturgeschichte, die „Innenseite" zu vernachlässigen, vgl. Nipperdey, Thomas: Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: Schulz, G. (Hg.): Geschichte heute. Positionen, Tendenzen, Probleme, Göttingen 1973, S. 225-255.

16

Einleitung

ligenz soll aus der Warte der betroffenen Personen erzählt werden.20 Aus den sozialgeschichtlichen Statistiken und Daten soll wieder der einzelne Mensch hervortreten; dem „Knochengerüst" soll „Fleisch" beigefügt werden.21 Rudolf Vierhaus hat für dieses Untersuchungsfeld den Begriff „Lebenswelt" geprägt.22 Die Welt der Ingenieure zu untersuchen, heißt, aus der Warte dieser Zeitgenossen die dreißiger Jahre zu betrachten, sich von ihnen erzählen zu lassen, wie sich in ihren Augen ihre Umwelt darstellte, was sie begeisterte und worunter sie litten, welche Hoffnungen und welche Ängste sie hatten, worauf sie stolz waren und was sie verachteten, was für sie von großer Bedeutung und was nebensächlich war, was sie in guter Erinnerung behielten und was sie verdrängten. Ihr kollektives Set von Normen und Werten, Weltanschauungen und Lebensphilosophien, Traditionen und Ritualen, Sitten und Bräuchen, Handlungsmustern und Alltagspraktiken soll als Kultur verstanden werden.23 Im Mittelpunkt dieser Studie steht das „System kollektiver Sinnkonstruktionen", mit denen die sowjetischen Ingenieure in den dreißiger Jahren ihre Wirklichkeit definierten, jener „Komplex von allgemeinen Vorstellungen, mit denen sie zwischen wichtig und unwichtig, wahr und falsch, gut und böse, sowie schön und häßlich" unterschieden.24 Vier Fragekomplexe stehen bei dieser Arbeit im Vordergrund: 1) Wenn wir von einer Interaktion zwischen den Konzepten, die sich ein Ingenieur von seiner Umwelt machte, und den Vorgaben der ihn um20

Schlögel, Karl: Kommunal'ka oder Kommunismus als Lebensform. Zu einer Topographie der Sowjetunion, S. 340, in: Historische Anthropologie, Kultur, Gesellschaft, Alltag 6 (1998) 3, S. 329-346; Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte auf dem Weg

Vgl. auch historischen

-

einer historischen Kulturwissenschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994) 3, 445-468; Hutton, Patrick H.: Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte, in: Raulff, U. (Hg.): Vom Umschreiben der Geschichte, Berlin 1986, S. 103-131; Kocka, Jürgen: Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte, in: ders. (Hg.): Geschichte und Aufklärung, Aufsätze, Göttingen 1989, S. 67-88. 21 Zum Umgang mit historischen Objekten in der Neuen Kulturgeschichte vgl. v.a. Daniel, Ute: „Kultur" und „Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, S. 72, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 69-99; Raphael, Lutz: Diskurse, zu

S.

Lebenswelten und Felder. Implizite Vorannahmen über das soziale Handeln von Kulturproduzenten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig, Wolfgang / Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Heute, Göttingen 1996, S. 165-181. Kulturgeschichte 22 Vierhaus, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, S. 14, in: Lehmann, Hartmut (Hg.): Wege zu eine neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 1, Göttingen 1995, S. 7-28. 23 Vgl. dazu auch: Jaeger, Friedrich: Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 371-393; Hunt, Lynn: Introduction: History, Culture, and Text, in: dies. (Hg.): The New Cultural History, Berkeley u.a. 1989, S. 1-22. 24 Neidhardt, Friedhelm: „Kultur und Gesellschaft". Einige Anmerkungen zum Sonderheft, S. 11, in: ders. u.a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986, S. 10-18.

Fragestellung

17

Welt ausgehen, dann ist es wichtig zunächst zu untersuchen, welche Maßstäbe Ingenieuren an die Hand gegeben, welche Werte popularisiert und für welches Weltverständnis geworben wurde. Die Deutungsangebote der Massenmedien, der Reden der Parteiführer, aber auch der Kinofilme, Romane und Theaterstücke waren wesentlich für die Formung des Welt- und Selbstbildes einzelner Gruppen oder Individuen.25 Hier wird daher zunächst herausgearbeitet, zu welcher Zeit welches Ingenieursbild propagiert wurde: Welche Eigenschaften zeichneten den neuen technischen Spezialisten aus, worin unterschied er sich von seinem unter dem Zaren ausgebildeten Vorgänger, in welch eine Beziehung wurde er zu seinen ausländischen Kollegen gesetzt und welche Wandlungen erfuhr dieses Ideal? Interessant ist nicht nur, welche Fähigkeiten ihm für die Arbeitswelt zugeschrieben wurden, sondern auch, welche Rolle ihm in Familie, Freizeit und Gesellschaft zugedacht war. Welche Katalysatorfunktion solche Leitbilder tatsächlich übernehmen konnten und wie stark sie auf Personenkreise wirkten, wird zu zeigen sein. Was griffen Ingenieure bewußt oder unbewußt von dem offiziellen Bild auf, um es zu ihrem eigenen Leitbild zu machen, welche Vorstellungen und Anforderungen wiesen sie zurück, wie weit internalisierten sie das Idealbild vom Ingenieur? Ideologie und Propaganda werden hier als konkrete, über die verschiedensten Kanäle verbreitete Bilder verstanden, die der Parteilinie entsprachen. 2) Die Kulturgeschichte hat gerade auch deshalb in der Stalinismusforschung Einzug halten können, weil man sich von ihr neue Antworten auf die ewige Frage erhofft, was Individuen und Gruppen dazu veranlaßte, der Kommunistischen Partei zu folgen und beim Aufbau der Sowjetunion mitzuwirken. Die Revisionisten haben die Überzeugung der Totalitaristen, Gefolgschaft sei allein durch Terror und Gewalt erzwungen worden, zurückgewiesen. Neben anderen hat Fitzpatrick die These vertreten, daß Geschichte nicht nur „von oben" gemacht, sondern auch „von unten" mitgetragen wurde.26 Als Motiv der jungen Ingenieure, den neuen Staat zu stützen, nannte sie die soziale Mobilität: den enormen Aufstieg, den die armen, ungebildeten Arbeiter zum studierten und angesehenen Ingenieur, Wirtschaftsführer und Mitarbeiter des Volkskommissariats erlebten.27 Ve-

gebenden

Dunham prägte darüber hinaus den Begriff „Big Deal": Die Partei gab Wohlstand und Komfort und erkaufte sich damit Loyalität und Gefolgra

25

Vgl. dazu Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Luther, Hans-Martin et al. (Hg.): des Selbst, Frankfurt am Main 1993, S. 24-62. Technologien 26 Zum Wechsel zu einer Geschichtsschreibung „von unten" vgl. auch: Geyer, Dietrich (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 14, 1991. Göttingen 27 Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S. 249.

18

Einleitung

schaft.28 Waren dies die Ergebnisse sozialgeschichtlich geprägter Arbeiten, wird nun nach Antworten gefahndet, die nicht allein auf den primären menschlichen Bedürfnissen aufbauen.29 Stephen Kotkin war einer der ersten, der den Anspruch erhob, Stalinismus auch als „set of values, a social identity, a way of life" zu beschreiben und damit neue Aussagen zum Urspung des Handelns des homo sovieticus geben zu können.30 Für seinen 28

Dunham, Vera S.: In Stalin's Time. Middleclass Values in Soviet Fiction, Cambridge, Mass., 1976. 29 Während die ersten westlichen postsowjetischen Arbeiten nicht nur neues Archivmaterial, sondern auch neue Herangehensweisen benutzten, waren die ersten neuen russischen Arbeiten über die technische

in den dreißiger Jahren oft noch damit beschäftigt, das im Westen schon lange gedacht werden konnte. Siehe Kislicyn, S.A.: Sachtinskoe delo. Nacalo stalinskich repressij protiv naucno-techniceskoj intelligencii v SSSR, Rostow am Don 1993; ders.: Évoljucija i porazenie bol'sevistskoj élity, Rostow am Don 1995; Malokova, L.M.: Zurnaly „Varnitso", „Front nauki i technik" kak istocnik izucenija istorii naucno-techniceskoj intelligencii (1928-1933), in: Problemy teorii i istorii izucenija intelligencii: poisk novych podchodov, Ivanovo 1994, S. 59-64; Gorinov, M.M.: Sovetskaja istorija 1920-30-ch godov: ot mifov k real'nosti, in: Bordjugova, G.A. (Hg.): Istoriieskie issledovanija v Rossii. Tendencii poslednich let, Moskau 1996, S. 239-277; Irosnikov, M.P. et al. (Hg.): Bez retuäi, stranicy sovetskoj istorii v fotografijach, dokumentach, vospominanijach, Leningrad 1991, 2 Bde.; Kumanev, V.A.: 30e gody v sud'bach otecestvennoj intelligencii, Moskau 1991. Einmal mehr gehuldigt wurde den technischen Spezialisten mit einer biographischen Enzyklopädie der Ingenieure Sankt Petersburgs, der ein zweiter Band über die Ingenieure Moskaus folgen soll. Der Band beeindruckt zwar durch seinen Umfang, ist aber erstaunlich schlecht recherchiert und bei weitem nicht vollständig. Melua, A.I.: Inzenery Sankt-Peterburga. Biograficeskaja mezdunarodnaja ènciklopedija „Gumanistika", St. Petersburg Moskau 1996. Besonders hervorzuheben sind dagegen die Arbeiten von Oleg Chlevnjuk, der entscheidende neue Einsichten in das Funktionieren der obersten Parteigremien gab: Chlevnjuk, O.V.: Stalin i Ordjonikidze. Konflikty v politbjuro v 30-e gody, Moskau 1993; ders.: Politbjuro. Mechanizmy politiceskoj vlasti v 1930e gody, Moskau 1996. Inzwischen sind auch in Rußland erste Arbeiten erschienen, die sich mit Alltagsproblemen beschäftigen und auf das Individuum fokussieren: Osokina, E.A.: Ierarchija potreblenija. O zizni ljudej v uslovijach stalinskogo snabzenija 1928-1935gg, Moskau 1993; Lebina, N.B.: Povsednevnaja zizn' sovetskogo goroda: normy i anomalü 1920/1930 gody, St. Petersburg 1999; dies.: Tenevye storony zizni sovetskogo goroda 20-30ch godov, in: Voprosy istorii 69 (1994) 2, S. 30-42. Siehe auch Vihavainen, Timo (Hg.): Normy i cennosti povsednevnoj zizni. Stanovlenie socialisticeskogo obraza zizni v Rossii, 1920-30-e gody, St. Petersburg 2000. 30 Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as Civilization, Berkeley 1995, S. 22. Kotkins Arbeit steht zugleich in einer Reihe mit anderen Arbeiten, die sich einzelner Phänomene der sowjetischen Geschichte annahmen und damit Abschied von den globalen Fragen der Sozialgeschichte nahmen. Sie versuchten, jenseits von Ideologien und Vorurteilen zu operieren und das Wesen der Sowjetunion in kleineren Strukturen sichtbar zu machen. Vgl. Rassweiler, Anne D.: The Generation of Power. The History of Dneprostroj, New York, Oxford 1988; Schultz, Kurt: Building the „Soviet Detroit": The Construction of the NizhnijNovgorod Automobile Factory, 1927-1932, in: Slavic Review 49 (1990), S. 200-212; Payne, Matthew: The Building of the Turkestano-Siberian Railroad and the Politics of Production during the Cultural Revolution 1926-1931, Vol. 1, Dissertation, Chicago, Illinois, 1995; Maier, Robert: Die Stachanov-Bewegung 1935-1938. Der Stachanovismus als tragendes und verschärfendes Element der Stalinisierung der Sowjetischen Gesellschaft, Stuttgart 1990;

nachzuvollziehen,

-

Intelligenzija

was

Fragestellung

19

Versuch, die treibende Kraft im einzelnen Individuum zu orten, wurde Kotkin scharf von Igal Halfin kritisiert, der dessen Subjektbegriff für „ahistorisch" und „psychologisch" erklärte. Halfin selbst vertritt die Überzeugung, es sei die Macht der neuen, sowjetischen Diskurse, die fortan Denken und Handeln vieler Sowjetbürger strukturierten und prägten. Er läßt sich nicht auf die Frage ein, ob es jenseits der Diskurse einen

Glauben gab, sondern handelt die Frage der Motivierung auf der Sprachebene ab." Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Jochen Hellbeck, wenn er zeigt, daß das propagierte Bild vom neuen Menschen eine solche Wirkung haben konnte, daß einfache Menschen wie der Arbeiter Stepan Podlubnyj ihre ganze Kraft darauf verwendeten, sich selbst dieserrT Vorbild anzugleichen.32 Auch diese Arbeit verfolgt das Ziel, die Beweggründe der Ingenieure für ihre aktive und passive Unterstützung des Staates zu erhellen. Dabei wird kein Erklärungsmuster von vornherein ausgeschlossen oder favorisiert. Die materiellen Vorteile sollen genauso in Betracht gezogen werden, wie die Mentalität und Grundwertausstattung einzelner Personen oder die Wirkung der Propagandasprache und -bilder. Die Untersuchung wird nicht auf eine reine Diskursanalyse beschränkt, die die Frage nach der Überzeugung von Menschen nicht mehr stellt, weil sie davon ausgeht, daß dem Signifikanten kein Signifikat mehr zugeordnet werden kann. Vielmehr soll weiterhin mit Kategorien wie Einstellung und Erfahrung argumentiert werden.33 Bei der Behandlung dieser Frage geht es aber keinesfalls nur um intentionales Handeln, als vielmehr um Strukturen und Mechanismen, die halfen, die Ingenieure für den neuen Staat zu gewinnen. Welche Ingenieure wurden weniger von der Ideologie oder von materiellen Privilegien angezogen, als von den Abenteuerversprechungen des Komsomol angelockt? Welche ließen sich in die Parteiorganisationen Shearer, David R.: Industry, State, and Society in Stalin's Russia, 1926-1934, Ithaca, London 1996; Kuromiya, Hiroaki: Freedom and Terror in the Donbas. A Ukrainian-Russian Borderland, 1870s-1990s, Cambridge 1998. 31 Halfin, Igal: Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkin's „Magnetic Mountain" and the State of Soviet Historical Studies, S. 459, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 S. 456-463. (1996)3, 32 Hellbeck, Jochen: Self-Realization in the Stalinist System: Two Soviet Diaries of the 1930s, S. 284, in: Hildermeier, Manfred: Stalinismus vor dem zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 43, München 1998, S. 275-290; ders.: Fashioning the Stalinist Soul: The Diary of Stepan Podlubnyj (1931-1939), S. 371, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) 3, S. 344-373. 33 Vgl. zur unzulässigen Reduktion von Sinnwelten und sozialen Praktiken: Chartier, Roger: L' Histoire Culturelle entre „Linguistic Turn" et Retour au Sujet, S. 43, in: Lehmann, Wege zu eine neuen Kulturgeschichte, S. 29-58; Toews, John E.: Intellectual History after the Linguistic Turn: The Autonomy of Meaning and the Irreducibility of Experience, in: American Historical Review 92 (1987), S. 879-907.

20

Einleitung

integrieren, weil sie es genossen, hier respektiert und gebraucht zu werden? Wie viele erlagen ihrer Technikliebe angesichts der Ingenieursparadiesen gleichen Großbaustellen? 3) Nach der Ausformung der allgemeinen Weltsicht des Ingenieurs soll die Ausbildung eines spezifischen sowjetischen Ingenieursethos im Vordergrund stehen. Welches Selbstbild entwickelten diese Techniker, was waren ihre Ansprüche an sich selbst und die Qualität ihrer eigenen Arbeit,

welchen Stellenwert hatte ihr Beruf in ihrem Leben? Untersucht wird, wie Ingenieure ihren Arbeitsalltag erlebten, mit welchen Problemen sie konfrontiert wurden und wie sie mit ihnen umgingen. Dabei interessiert v.a., was für eine neue Technikkultur diese Männer und Frauen entwickelten, mit welchen Attributen sie die Technik belegten. Beabsichtigt ist, zumindest eine Teilantwort auf die Frage zu geben, die Loren Graham unlängst mit „What have we learned about science and technology from the Russian experience?" stellte.34 Er skizziert, was passiert, wenn man Technik und Naturwissenschaft nicht ihren eigenen Gesetzen folgen läßt, sondern sie politischen Ideen unterwirft und an Ideologien anbindet. Diese teils heroische, teils leidvolle Erfahrung soll hier aus der Perspektive der Ingenieure beschrieben werden. Die Suche nach dem spezifisch sowjetischen Technikverständnis führt automatisch auch zu der Frage, welche alte Ingenieurskultur mit der zarischen Intelligenzija unterging. Diese Arbeit will Antworten darauf suchen, für welche wirtschaftlichen Konzepte, welche Arbeitseinstellung und welches Ingenieursethos die vor 1917 ausgebildeten Ingenieure standen und von Mitgliedern des Politbüros, allen voran Stalin, Kaganovic und Molotov, für bedrohlich gehalten wurden. Neben dem Verhältnis der neuen Ingenieure zu der Kunst ihrer Vorgänger muß auch ihre Einstellung zu den ausländischen Vorbildern und Konsultanten untersucht werden: hatten sie Vorbildfunktion oder wurden sie verachtet, machte die ausländische Technik Eindruck oder gab sie Anlaß zu Neid oder Herablassung, wurden die ausländischen Standards zu einem dauerhaften Maßstab und Fixpunkt für sowjetische Ingenieure? 4) Schließlich ist diese Arbeit nicht allein den „neuen roten Ingenieuren" gewidmet, sondern handelt auch von den Nachfahren der alten technischen Intelligenz, die trotz ihrer Herkunft Teil der neuen sowjetischen Technikerelite wurden. Parallel zum Weg der Arbeiterkinder werden auch die Lebensstationen derjenigen nachgezeichnet, die nicht den typischen, von der Partei erwünschten proletarischen Hintergrund mitbrachten, aber dennoch ihren Platz in der neuen Gesellschaft fanden. Für diese Ingenieure, die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammten oder Kinder von 34

Graham, Loren, R.: What Have We Learned about Science and Technology from the Rus-

sian

Experience?, Stanford

1998.

Fragestellung

21

Ingenieurskoryphäen waren, soll gezeigt werden, wer sich trotz seiner „bourgeoisen" Herkunft der kommunistischen Partei anschloß, welche Identifikationsangebote ihnen von Seiten des Staates gemacht wurden und welche Beharrungskräfte in ihnen wirkten, so daß sie sich trotz aller Widrigkeiten auf ein Leben in der Sowjetunion einließen. In welchen we-

sentlichen Punkten unterschied sich ihre Geschichte von der der „roten Ingenieure", zeigten sie sich résistent gegen die neuen Parolen und Leitbilder oder übernahmen auch sie Teile der sowjetischen Denkart? Welche Strategien der Integration und Assimilation bzw. der Abgrenzung und Verweigerung verfolgten sie? Diese Studie konzentriert sich auf die Generation, die um das Jahr 1905 herum geboren wurde und ungefähr während des ersten Fünfjahrplans studierte, um dann in den dreißiger Jahren am Aufbau des Landes beteiligt zu sein. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung umfaßt den Zeitraum von 1928 bis 1938, vom Beginn der Kulturrevolution bis zum Ende des großen Terrors. Darüber hinaus wird die Kindheit und Jugend der hier vorgestellten Ingenieure von 1900 an dargestellt. Ingenieure und Ingenieurinnen werden gleichermaßen behandelt, zumal die Ausbildungsangebote dezidiert auch Frauen ansprachen und von diesen genutzt wurden. Die hier besprochenen Ingenieure und Ingenieurinnen waren fast ausschließlich alle Russen bzw. Russinnen, so daß die ethnische Problematik keinen Raum findet. Territorial ist die Arbeit nicht beschränkt, da die „Wanderungsbewegungen" der Spezialisten und Spezialistinnen von der Provinz in die Metropolen und zurück an den Rand des Großreichs wesentlich für ihre Entwicklung und Karriere waren. Die Begriffe „Ingenieur", „Spezialist" oder auch „Techniker" werden synonym gebraucht. Auch die sowjetische Bezeichnung ITR (ingenieur-technischer Angestellter, inzenerno-techniceskij rabotnik) wird als Äquivalent benutzt und bezeichnet hier ausschließlich Ingenieure, während er historisch mehr als 31 Berufe einschloß, darunter auch Vorarbeiter, Laboranten und Rechnungsführer, Agronome, Architekten und Kartographen.35 Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und entwirft den typischen Lebenslauf eines Ingenieurs. Der Einleitung folgt zunächst ein Eingangskapitel über die Entstehung und Entwicklung der technischen Intelligenzija im 19. Jahrhundert. Hier wird in erster Linie vorgestellt, welchen Ruf der Ingenieur in der vorrevolutionären Gesellschaft genoß und welche Vorstellungen und Assoziationen seit der Zarenzeit mit dem technischen Spezialisten verbunden waren. Auch das Verhältnis zwischen den alten Ingenieuren und der neuen Regierung, Zusammenarbeit und Konfrontation bis zur Verfolgungskampagne 1928-31 werden hier umrissen. Nach35

Eine Liste sämtlicher mit „ITR" bezeichneter Berufe findet sich in: GARF, fond 5548, VMBIT, opis' 13, delo 3, list 31, 31 oborot.

22

Einleitung

dem derart die grundlegenden Informationen über die Geschichte der russischen Ingenieure sowie über die sowjetische Spezialistenpolitik gegeben sind, ist der dritte Block ganz der Genese der sowjetischen Ingenieursschaft gewidmet: Er befaßt sich mit dem sozialen Ursprung und den Kindheitserfahrungen der künftigen Ingenieure und Ingenieurinnen, behandelt ihre Reaktion auf die Revolution und ihre Lebensstationen in den zwanziger Jahren: Kampf im Bürgerkrieg, Parteiarbeit, Komsomolmitgliedschaft, Schule, Arbeiterfakultät und schließlich Studium. Kapitel vier zeigt den neuen, sowjetischen Ingenieur bzw. die neue, sowjetische Ingenieurin mit den spezifischen Phänomenen ihres Arbeitsalltags: den Wunsch, auf einer Baustelle zu arbeiten, den Konflikt mit der älteren Generation, den Umgang mit Materialmangel und Havarien, ihr Verhältnis zur Natur und ihre Einstellung gegenüber ausländischen Kollegen. Kapitel fünf thematisiert die kul 'turnost '-Kampagne und „goldenen Jahre" in der Mitte des Jahrzehnts und fragt nach den Lebensverhältnissen und dem Privatleben der Ingenieure. Der letzte Abschnitt ist dem Terror gewidmet und beschreibt, wie die Stachanovbewegung die Verfolgung von Ingenieuren vorbereitete, warum Ingenieure als Sündenböcke herhalten mußten und wie sie selbst mit der Bedrohung umgingen.

2) Quellen a) Memoiren: Konjunktur und Problematik Die Hauptquellen dieser Arbeit sind Memoiren,1 da sie für die Rekonstruktion von kollektiven und individuellen Weltbildern Selbstzeugnisse der geeignete Fundus zu sein scheinen. Im Zuge der Neuen Kulturgeschichte richten immer mehr Historiker und Historikerinnen ihren Blick auf persönliche Aufzeichnungen, Tagebücher und Memoiren, was sich zunächst an der Zunahme von Editionen zeigen läßt. Den von Stephen Kotkin 1989 und Michael Gelb 1991 herausgegebenen Erinnerungen des Arbeiters John Scott bzw. des Ingenieurs Zara Witkin, die als Amerikaner in der Sowjetunion der dreißiger Jahre gearbeitet hatten,2 folgte 1993 die von Loren Graham rekonstruierte Biographie des russischen Ingenieurs Petr Akimovic Pal'cinskij (1875-1930).3 Den ersten Sammelband mit sowjetischen Tagebüchern aus den dreißiger Jahren veröffentlichten 1995 Véronique Garros, Natalia Korenevskaya und Thomas Lahusen.4 Große Aufmerksamkeit erregte 1996 das von Jochen Hellbeck herausgegebene Tagebuch des Moskauer Arbeiters Stepan Podlupnyj.5 Bände mit Selbstzeugnissen von sowjetischen Frauen stellten Barbara Kerneck sowie Sheila Fitzpatrick und Yurij Slezkine zusammen.6 Neben diesen Editio-

1

Die Begriffe Memoiren, Autobiographie und Erinnerungen werden synonym benutzt. Memuary Memoiren und vospominanija Erinnerungen sind die gebräuchlichen russischen Termini, während avtobiografija nicht „Autobiographie", sondern „Lebenslauf bedeutet. Die gebräuchliche Unterscheidung zwischen Autobiographien als persönlichem, privatem Zeugnis und Memoiren als Chronik allgemeiner politischer Ereignisse ist im sowjetischen Kontext obsolet: Nach diesem Schema wären alle sowjetischen Aufzeichnungen „Memoiren"; niemand schrieb dort sein Leben abgewandt von den großen Ereignissen. 2 Scott, John: Behind the Urals. An American Worker in Russia's City of Steel, hg. v. Stephen Kotkin, Bloomington, Indianapolis 1989; Gelb, Michael (Hg.): An American Engineer in Stalin's Russia. The Memoirs of Zara Witkin, 1932-1934, Berkeley, Los Angeles, Oxford -

-

1991.

3

Graham,

Loren R.: The Ghost of the Executed Engineer. Technology and the Fall of the Cambridge, Mass., London 1993. 4 Garros, Véronique / Korenevskaya, Natalia / Lahusen, Thomas (Hg.): Intimacy and Terror. Soviet Diaries from the 1930s, New York 1995. 5 Hellbeck, Jochen (Hg.): Tagebuch aus Moskau 1931-1939, München 1996. 6 Kerneck, Barabara: Die starke Seite Rußlands. Frauenportraits aus einem Land im Aufbruch, München 1994; Fitzpatrick, Sheila / Slezkine, Yuri (Hg.): In the Shadow of Revolution: Life Stories of Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton 2000.

Soviet Union.

24

Einleitung

gibt es auch zunehmend mehr Untersuchungen zu Selbstdarstellung Selbstkonstruktion und von Sowjetbürgerinnen und -bürgern.7 Während im Westen sowjetische Memoiren erst seit etwa einem Jahrzehnt ins Blickfeld der Historikerzunft geraten sind, hat die Biographienliteratur in Rußland bzw. der Sowjetunion eine lange Tradition.8 Der Ursprung dafür liegt zu einem Großteil in der Geschichtskonstruktion der bolschewistischen Partei begründet, die die Idee vertrat, die adäquaten Historiker für das Land, in dem das Proletariat herrscht, seien eben diese Arbeiter. Anfang der dreißiger Jahre, als die Geschichtswissenschaft größtenteils noch als reaktionäre Disziplin geächtet war, wurden Werktätige aufgefordert, ihre persönliche Geschichte der Industrialisierung als authentische Schilderung des großen sowjetischen Aufbaus niederzuschreiben. Dieser Ansatz hatte zwei Vorteile: Zum einen wurde eine neuartige, auf den industriellen Aufbau fokussierende Geschichtsschreibung etabliert. Zum anderen sollte die Verschmelzung der persönlichen mit der sowjetischen Geschichte dahingehend wirken, daß sich die Schreibenden mit ihrem Staat identifizierten und sich selbst als neue, sowjetische Menschen konzipierten. Maksim Gor'kij (1868-1936) war Initiator dieser Geschichtskampagne und betrieb die Gründung des Verlags „Geschichte der Betriebe und Fabriken" (Istorija fabrik i zavodov), dessen einzige Aufgabe die Herausgabe der Erzählungen von Arbeitern und Ingenieuren war.9 nen

7

Kuromiya, Hiroaki: Soviet Memoirs as a Historical Source, in: Fitzpatrick, Sheila / Viola, Lynne (Hg.): A Researcher's Guide to Sources on Soviet Social History in the 1930s, Armonk, New York, London 1990, S. 233-254; Halfin, Igal: From Darkness to Light: Student Communist Autobiography During NEP, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997) 2, S. 210-236; Fitzpatrick, Sheila: Lives under Fire. Autobiographical Narratives and Their Challenges in Stalin's Russia, in: Godet, Martinée (Hg.): De Russie et d'ailleurs. Feux croisés sur l'histoire, Paris 1995, S. 225-232; Hellbeck, Self-Realization in the Stalinist System; Engelstein, Laura / Sandler, Stephanie (Hg.): Self and Story in Russian History, Ithaca, New York, 2000. 8 Lukasev, A. / Sauman, S. / Sceprov, S.: Memuarnaja literatura i istoriceskaja pravda, in: Kommunist 35 (1959) 11, S. 107-111; Cernomorskij, M.N.: Memuary kak ¡stocnik po istorii sovetskogo obscestva, in: Voprosy Istorii 35 (1960) 12; Ivanov, Ju.A.: Voprosy istocnikovedceskoj kritiki: Vospominanija rabotnikov sovremennoj promyälennosti, in: Iz istorii rabocego klassa v Kuzbasse, Kemerovo 21966, S. 109-129; Ozerov, Ju. A.: Istorija i memuary, in: Istorija SSSR 10 (1966) 2; Kljucnik, L.I.: O memuamoj literature, in: Voprosy istorii KPSS 10 (1966) 2; Strelskij, G.V.: Memuary kak istocnik Velikogo Oktjabrja na Ukraine, Kiev 1978. 9

Vgl. Gor'kij, M.: Istorija fabrik i zavodov, in: ders.: Sobranie socinenij v 30-i tomach, Moskau 1953, Bd. 26, S. 141-146; Zak, L.M. / Zimina, S.S. (Hg.): A.M. Gor'kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, Dokumentensammlung, Moskau 1959; Rogacevskaja, L.S.: Nekotorye itogi izucenija istorii fabrik i zavodov, in: Voprosy istorii 38 (1963) 3, S. 100-119; dies.: Istorija fabrik i zavodov: Itogi i problemy issledovanija, in: Voprosy istorii 42,2 (1967) 8, S. 155163; Panfilova, A.M.: The Status and Goals of Research into the History of Factories and Mills (Istorija SSSR 17 (1973) 2) in: Soviet Studies in History (1974) 1, S. 62-94; Mitrofanova A.V. et al.: Itogi i zadaci izucenija istorii fabrik i zavodov SSSR, in: Voprosy istorii 57 (1982) 1, S. 3-17. Die gesammelten Dokumente, Interviews und Manuskripte liegen

Quellen

25

Die gesammelten Interviews und Aufzeichnungen wurden stark redigiert, oft von professionellen Autoren neu geschrieben und in Sammelbänden als Fabrik- und Industriegeschichten veröffentlicht.10 Die darin enthaltenen Kurzbiographien erhoben den Anspruch, exemplarisch und wie ein Fragment die gesamte Geschichte der Sowjetunion und der Sowjetbürger widerzuspiegeln. Gleichzeitig erschienen die ersten, ebenfalls stark redigierten oder auch von „Ghostwritern" geschriebenen Autobiographien der großen Ingenieure wie Gleb Maksimilianovic Krzizanovskij (1872-1959) und Aleksandr Vasil'evic Vinter (1878-1958), der Väter des Elektrifizierungsplans GOÉLRO, oder Ivan Pavlovic Bardin (1883-1964) und Sergej Mironovic Frankfurt (t 1937), der Leiter der Baustelle des Metallkombinats in Kuzneck (Kuzneckstroj)." Diese Art der Geschichtsschreibung durch die Massen ließ die Sowjetregierung während der Entstalinisierung Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre wieder aufleben. Mit dem Ende des Personenkults und der Preisung Stalins als Erschaffer der Sowjetunion erfolgte eine erneute Hinwendung zum „kleinen Mann" als historischem Akteur: Allen voran wurden Ingenieure als die wahren Erbauer der Sowjetunion in den Mittelpunkt der sowjetischen Historiographie gerückt. Neben einer Neuauflage der Bände der „Geschichte der Betriebe und Fabriken"12 kamen in den 1, S. 3-17. Die gesammelten Dokumente, Interviews und Manuskripte liegen heute im GARF in Moskau, Fonds 7952, und sind nach Industriebranchen gegliedert in 10 Findbüchern beschrieben. 10 Vgl. z.B. [Pin, Ja.: Ljudi stalingradskogo traktornogo zavoda im. F. Dzerzinskij, Moskau 1933; Zav'jalov, S.: Istorija Izorskogo zavoda, Moskau 1934; Ljudi na Uralmase, Sverdlovsk 1934; Byli gory Vysokoj. Rasskazy rabocich Vysokogorsk zeleznogo rudnika o staroj i novoj zizni, Moskau 1935; Ljudi i stal'. Rasskazy znatnych ljudej „Krasnogo Oktjabra", Stalingrad 1935; Fedorovic, V.: Istorija fabriki Krasnyj perekop, 1918-1933, Moskau 1935; O lucsich ljudjach Luganskogo parovozastroitel'nogo zavoda. Sbornik statej, Lugansk 1935; Kosarev, A.: Rasskazy stroitelej metro, Moskau 1935; Lapickaja, S.: Byt rabocich Trechgornoj manufaktury, Moskau 1935; Stachanovcy Dzerzinki, Char'kov-Dnepropetrovsk 1936; Nasa rabota. Kramatorskij masinostroitel'nyj zavod im. Ordjonikidze, Char'kov 1936; Rasskazy o socialisticeskom masterstve. Rasskazy znatnych ljudej nasej strany o svoich trudovych podvigach na razlicnych ucastkach socialisticeskogo stroitel'stva, Moskau 1936; Prezde i teper'. Rasskazy rabocich, kolchoznikov i trudovoj intelligencii o svoej zizni pri carizme i pri Sovetskoj vlasti, Moskau 1938; Kumenko, S.: Ljudi bol'soj magistrali, Moskau 1938; Desjat' let goroda uglja i metalla, Sbornik, Stalinsk 1939; Staraja i novaja Danilovka. Rasskazy rabocich fabriki im. Frunze zapisala byvsaja rabotnica M.S. Ignat'eva, Moskau 1940; Desjat' let fabriki, 19301940. Kievskaja trikotaznaja fabrika im. Rozy Ljuksemburg, Kiev 1940. 11 Vinogradskaja, Sofia: Inzener nasej épochi [A.V. Vinter], Moskau 1934; Frankfurt, S.M.: Rozdenie stali i celoveka, Moskau 1935; ders.: Der Gigant in der Taiga. Aufzeichnungen des Direktors von Kuznezkstroj, Moskau 1936, ders.: Men and Steel. Notes of a Director of Soviet Industry, Moskau und Leningrad 1935; Bardin, I.P.: Rozdenie zavoda. Vospominanija inzenera, Novosibirsk 1936; ders.: Zizn' inzenera, Moskau 1938; Krzizanovskij, G.M.: Moja zizn', Kujbysev 1937. 12 Ozerskij, A.Ja.: Ljudi kuzneckie, Moskau 1957; Slavnye tradicii. K stoletiju zavoda „Krasnyj proletarij" im. A.I. Efremova 1857-1957, Sbornik, Moskau 1957; Makarov, E.: Uralmas.

26

Einleitung

sechziger Jahren eine Reihe von Autobiographien auf den Markt, in denen Ingenieure erstmals auch über den Terror berichteten.13 Für die Parteiführer war es einfacher und weniger riskant, so Hiroaki Kuromiya, die

Verbrechen in Memoiren und nicht in offiziellen Quellen oder wissenschaftlichen historischen Darstellungen veröffentlicht zu sehen.14 Darüber hinaus enthüllten Memoiren zwar Aspekte des Terrors, manifestierten aber gleichzeitig die Identifikation mit diesem Land, da die Schreiber sich selbst als Teile des gesamten Systems beschrieben. Das Ende dieser Geschichtspraxis kam mit dem Sturz Chruscevs. 1970 wurde der Chefredakteur der Zeitschrift Novyj mir, Aleksandr Trifonovic Tvardovskij (1910-1971), abgesetzt, der die Veröffentlichung vieler kritischer Memoiren wie der Aleksandr Solzenicyns und Ilja Erenburgs oder der der Ingenieure V.S. Emel'janovs und A. V. Gorbatovs ermöglicht hatte.15 Die Publikation von Ingenieursbiographien setzte sich zwar in den siebziger und achtziger Jahren fort, aber in dieser Zeit stand weniger die Aufklärung über die „wahre" Geschichte der Sowjetunion, als die Glorifizierung großer patriotischer Ingenieursleistungen im Vordergrund.16 Mit dem BeRasskazy uralmaäcev o svoem zavode, Sverdlovsk 1958; Slavnyj put'. Sbornik o Enakievskom metallurgiieskom zavode, Doneck 1959; Govorjat stroiteli socializma. Vospominanija ucastnikov socialistiieskogo stroitel'stva v SSSR, Moskau 1959; Bystrov, I. et al.(Hg.): Gvardija truda. Trudy i dni kollektiva Kirovskogo (byväego Putilovskogo) zavoda, Leningrad 1959; Evgarov, F.: 30 let bor'by i pobed. Stranicy iz istorii Gor'kovskogo avtozavoda, Gor'kij 1962; Stroiteli-novatory, Chabarovsk 1962; Licom k ognju. Kratkij ocerk istorii Dnepropetrovskogo metallurgiceskogo zavoda im. G.I. Petrovskogo, Dnepropetrovsk 1962; Iz istorii Magnitogorskogo metallurgiceskogo kombinata i goroda Magnitogorska 1929-1941, Sbornik dokumentov i materialov, Celjabinsk 1965; Istorija Moskovskogo avtozavoda im. I.A. Lichaceva, Moskau 1966; Taic, R.M. et al. (HG.): Korabel'sciki Narvskoj zastavy. Ocerk istorii zavoda im. Z.Z. Zdanova, Leningrad 1967; Byli zemli Doneckoj. Dokumenty, novelly, ocerki, Doneck 1967; Kamenscik, Ju. et al. (Hg.): Ljudi boevoj i trudovoj slavy, Dneprope50 let, trovsk 1968; Rozdennyj oktjabrem. Kaluzskomu èlektromechaniceskomu zavodu Kaluga 1967; Sevcenko, A.G. et al. (Hg.): Novokramatorcy. Ocerki po istorii Novokramatorskogo ordena Lenina masinostroitel'nogo zavoda im. V.l. Lenina, Doneck 1968; Ogon' Ocerki istorii zavoda im. Dzerzinskogo, Dnepropetrovsk 1969. Prometija. 13 Vgl. z.B. Fajnbojm, I.B.: Ivan Gavriloviö Aleksandrov, Moskau 1955; ders.: Boris Evgeneviö Vedeneev. Pod redakciej A.V. Vintera, Moskau 1956; Kamenckij, M.O.: Robert Èduardovií Klasson, Moskau, Leningrad 1963; Flakserman, Ju.N.: Gleb Maksimilijanovic Krzizanovskij, Moskau 1964; Slaventantor, D.E.: Celovek, pokarjaväij reki. N.O. Graftio (18691949), Leningrad 1966; Cekanov, A.A.: Michail Andreevii Satelen, 1866-1957, Moskau -

l[49K2u' omiya, Soviet Memoirs, S. 234. 15

Kuromiya, Soviet Memoirs, S. 235. Kosmodemjanskij, A.A.: Konstantin Éduardovic Ciolkovskij, 1857-1935, Moskau 1976; Mezenin, N.A.: Metallurg Grum-Grzimajlo, Moskau 1977; RjabèJkov, E. I.: Stanovlenie (A.N. Tupolev), Moskau 1978; Ignat'evic, O.A.: Konstruktor kosmiceskich korablej SP. Korol'ev, Moskau 1980; Kazakov, V.: Sotvori sebja. Dokumental'no-chudozestvennyj povest' 16

ob aviacionnom konstruktore O.K. Antonove, Saratov 1980; Arnautov, L.I.: Povest' o velikom inzenere V.J. Suchova, Moskau 1981; Pozdnjaev, K.I.: Na stal'noj zemle Magnitostroja: Kniga o Borise Riseja, Moskau 1982; Bogoljubov, A.N.: Ivan Ivanovic Artobolevskij,

Quellen

27

ginn

von glasnost' und dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann eine neue Phase, in der Ingenieure wieder über die Schattenseiten ihrer Aufbauarbeit berichteten. Nun konnte auch in Rußland über verfolgte Spezialisten wie Pal'cinskij, den Bergbauingenieur Vladimir GrumGrzimajlo, der offen die Großprojekte kritisiert hatte, oder den Flugzeugkonstrukteur Robert Ljudvigovic Bertini, der zusammen mit Andrej Nikolaevic Tupolev im Lager gesessen hatte, geschrieben werden.17 Erstmals erschienen auch Werke über emigrierte Ingenieure.18 Außerdem wurden die Geschichten anderer, längst bekannter Spezialisten neu geschrieben.19 Gleichzeitig setzte sich die Veröffentlichung von Memoiren fort, die keine grundsätzlich neuen Aussagen über die Sowjetunion machten, sondern bei den alten Bewertungen blieben.20 Während viele dieser Zeugnisse als Belege für einen Teil der lange verschwiegenen „objektiven" Geschichte publiziert wurden, interessieren sich russische Historikerinnen und Historiker in zunehmendem Maße auch für Selbstzeugnisse als Ausdruck subjektiven Erlebens einer Epoche.21 Waren in den dreißiger Jahren Biographien benutzt worden, um für Identifikation mit dem System zu sorgen, hatten sie in den Sechzigern dazu gedient, um sich von dem Personenkult zu verabschieden. In den Siebzigern erfüllten sie den Zweck, die sowjetischen Leistungen zu preisen; heute werden sie nicht mehr manipuliert oder funktionalisiert, sondern als historische

Quelle respektiert.

Die Edition solcher subjektiven Quellen nimmt in Ost wie West stetig Während Stephen Kotkin als Hauptmanko seiner eigenen Arbeit emp-

zu.

1905-1977, Moskau 1982; Lazarev, L.: Kosnuvsijs' neba. (Ob A.A. Archangel'skom), Moskau 1983; V.G. Suchov vydajuscijsja inzener i uöenyj, Moskau 1984; Efetov, B.M.: Otvetstvennost' prinimaju na sebja: iz vospominanija o E.O. Patone, Kiev 1984; Zenzinov, N.A.: N.S. Streleckij osnovopoloznik sovetskoj skoloj metallostrojtel'noj promyslennosti, Moskau 1984; Amautov, L.I.: Proryv v grjaduScee: stranicy zizni Bonc-Bruevica, Moskau 1986; Ponomarev, A.N.: Konstruktor S.V. Iljusin, Moskau 1988; Kuprijanov, V.: I vecnyj start—: rasskaz o glavnom konstruktore raketnych dvigatelej A.M. Isaeve, Moskau 1988; Borisov, V.P.: Sergej Arkad'evic Vekäinskij (1896-1974), Moskau 1988. Garaevskaja, I.A.: Petr Pal'cinskij. Biografija inzenera na föne vojn i revoljucij, Moskau 1996; Grum-Grzimajlo, Vladimir: Choöu byt' poleznym rodine, hg. von V.P. Andreev, I.A. Garaevskaja et al., Ekaterinburg 1996; Kaznevskij, V.P.: Robert Ljudvigovic Bartini, 1897— 1974, Moskau 1997. Neue kritische Ingenieursstimmen siehe auch: Kriger-Vojnovskij, È.B.: Zapiski inzenera. Vospominaija, vpecatlenija, mysli o revoljucii. Sproge, B.É.: Zapiski inzenera. Vserossijskaja memuamaja biblioteka, Serija „Nase nedavnee", Bd. 4, Moskau 1999. 18 Katysev, G.I. / Micheev, V.P.: Aviakonstruktor Igor' Ivanovic Sikorskij (1889-1972), Moskau 1989; dies.: Krylja Sikorskogo, Moskau 1992; Borisov, V.P. et al. (Hg.): Rossijskie i inzenery v émigracii, Moskau 1993. ucenye 19 Saukke, M.B.: Neizvestnyj Tupolev, Moskau 1993. 20 Siehe z.B. Bozenov, P.I.: Istorija russkogo inzenera, St. Petersburg 1998. 21 Vituchnovskaja, M. et al. (Hg.): Na könne vremeni. Interv'ju s leningradcami 1930-ch godov, St. Petersburg 2000. -

-

28

Einleitung

fand, keine „persönlichen Aufzeichnungen" gefunden

zu haben,22 wird das in Zukunft kaum mehr ein Historiker behaupten können. Bislang werden Memoiren aber hauptsächlich gesichtet, herausgegeben und kommentiert. In Forschungsarbeiten werden sie meist nach wie vor lediglich als illustrierendes Material verwendet; oft werden nur Lebensdaten oder prägnante Zitate extrahiert, ohne daß das Gesamtbild, das eine Person von sich und ihrer Zeit entwirft, zur Kenntnis genommen würde. Die vorliegende Arbeit soll der Versuch sein, Memoiren systematisch auszuwerten und sich ganz auf Personen, in diesem Fall Ingenieure, und die spezifische Darstellung ihres Lebens zu konzentrieren. Dieser Ansatz birgt Probleme in sich. Zunächst zählen Selbstzeugnisse allgemein in der Geschichtswissenschaft zu den „weichen" Quellen. Während Gesetzestexten, Urkunden, Protokollen, Konimissionsberichten, offiziellen Statistiken und ähnlichem Material generell Objektivität und Wahrhaftigkeit zugesprochen wird, gelten Memoiren nicht nur als subjektiv, sondern auch als unzuverlässig. Sie sind keineswegs eine Eins-zueins-Übertragung der „historischen Wirklichkeit", sondern werden meist erst viele Jahre nach den Erlebnissen verfaßt.23 „Quelle" der Lebenserinnerungen ist das Gedächtnis, das selektiv funktioniert: Nur eine Auswahl von Ereignissen wird memoriert, deren Bewertung heute anders ausfallen kann, als noch 30 Jahre zuvor.24 Was früher als Entbehrung erlebt wurde, kann heute als heroische Tat reproduziert werden, was als unangenehm empfunden wurde, kann verdrängt worden sein, was sich zu Beginn der dreißiger Jahre ereignete, ist vielleicht in den Erinnerungen an das Ende des Jahrzehnts gerutscht. Diese selektierten, neubewerteten Erinnerungseinheiten werden von dem oder der Erzählenden teils bewußt, teils unbewußt organisiert, strukturiert und zu einer schlüssigen, sinnhaften Erzählung zusammengestellt. Dabei spielt eine große Rolle, welche Intention der oder die Autor/in beim Aufschreiben der Memoiren verfolgt, ob er oder sie eine Beichte ablegen will, sich mit seinen Aussagen zu rechtfertigen sucht, als Chronist ein Zeitzeugnis hinterlassen oder infolge histo22

Kotkin, Magnetic Mountain, S. 373. Vgl. auch: Eakin, Paul John: Fictions in Autobiography. Studies in the Art of SelfInvention, Princeton 1985; Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin, Neuwied 1966; Kohli, Martin (Hg).: Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt, Neuwied 1978; Winter, Helmut: Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile, Heidelberg 1985; Starobinski, Jean: Der Stil der Autobiographie, in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gat23

tung, Darmstadt 1989, S. 200-213. Vgl. auch: Bertaux, Daniel / Bertaux-Wiame, Isabelle: Autobiographische Erinnerung und kollektives Gedächtnis, S. 150, in: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History", Frankfurt am Main 21985, S. 146-165; Hetmeier, Maria: Französische Arbeitermemoiren im 19. Jahrhundert. Zeugnisse einer anderen Kultur, Münster 1996, S. 38.

24

Quellen

29

risch-politischer Umbrüche

seine Vergangenheit neu verorten und sich seiner bzw. ihrer selbst zu vergewissern wünscht.25 Je nach Motivation kann die Lebensgeschichte sehr unterschiedlich ausfallen. Es entsteht eine Narration, die das Leben des Autors bzw. der Autorin vorzustellen beansprucht und bei der sich schnell die Frage aufdrängt, in welchem Verhältnis sie zu dem „wirklich gelebten Leben" steht. Doch das „authentische Leben" existiert nicht. Ein Ereignis besteht nicht in seiner Reinform, sondern wird, sobald es zu Tage tritt, mit Deutungen, Interpretationen und Wertungen ummantelt. „Bloße Fakten" gibt es nur in der Theorie; in der Praxis lassen sie sich nicht von den aus ihnen heraus bzw. um sie herum erzählten Geschichten trennen.26 Memoiren wären damit ein Text, der für den Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift sein Leben repräsentiert. Dies war seine Welt; ein „Dahinter" oder eine „wirklichere Welt" gab es für diesen Menschen nicht. Aus Autobiographien kann genau das rekonstruiert werden, wonach die Kulturgeschichte sucht: Wertmaßstäbe, Handlungsmuster, subjektive Welten. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß Lebensberichte zu absoluten Wahrheiten (v)erklärt werden. Um die Aussagen besser einschätzen und einordnen zu können, werden zum einen Autobiographien untereinander verglichen, so daß festgestellt werden kann, was allgemeine Einschätzungen einer Zeit sind und wo sich individuelle Urteile finden, an welcher Stelle sich Berichte widersprechen oder wo jemand Lücken läßt. Zum anderen werden Memoiren im Kontext vorhandener Daten eingebettet und durch den Vergleich mit anderen Quellen wie Zeitungen und Zeitschriften sowie Archivmaterialien relativiert. Ziel und Zweck dieses Vergleichs ist es nicht, die Berichte der Ingenieure als „falsch" zu entlarven oder ihnen z.B. Beschönigung vorzuwerfen. Vielmehr steht im Mittelpunkt die Frage, wie Ingenieure zu den Urteilen kamen, die wir heute in ihren Aufzeichnungen finden. Neben dieser allgemeinen Problematik weisen sowjetische Memoiren ein besonderes Handicap auf. Sie wirken für den westlichen, außenstehenden Betrachter sehr formalisiert und schematisch. Die Aussagen scheinen immer die gleichen zu sein, die Struktur und die Themen zeigen kaum Abweichungen, selbst Redewendungen und Beurteilungen bestimmter Erfahrungen scheinen festzustehen. Es scheint, als gebe es eine Bauanleitung für Autobiographien, als hätten sich alle Ingenieure aus dem gleichen Baukasten bedient. Diese Eindrücke führen oft zu der Behauptung, sowjetische Memoiren seien Propaganda und würden weniger 25

Hetmeier, Französische Arbeitermemoiren, S. 42. Siehe auch Passerini, Luisa: Fascism in

Popular Memory. The Cultural Experience of the Turin Working Class, Cambridge u.a. 1987. 26 Vgl. dazu auch Evans, Richard J.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt, New York 1998.

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Einleitung

den einzelnen Menschen als die Allmacht der Propagandasprache zeigen.27 Tatsächlich haben in den dreißiger Jahren „Ghostwriter" und Redakteure „Memoiren" je nach politischer Lage variiert. Hiroaki Kuromiya hat herausgefunden, daß der Leiter von Kuzneckstroj, Ivan Pavlovic Bardin, seine Lebensdaten einem Redakteur erzählte, der aus diesem Rohmaterial 1936 den Band „Geburt einer Fabrik. Erinnerungen eines Ingenieurs" (Rozdenie zavoda. Vospominanija inzenera) verfaßte und 1938 eine neue „Autobiographie" Bardins unter dem Titel „Das Leben eines Ingenieurs" (Zizn inzenera) veröffentlichte. Darin schilderte er die selben Ereignisse, änderte aber die Darstellung von Handlungen und die Bewertung einzelner Personen zum Teil grundlegend.28 Diese Art Manipulation ist typisch für die dreißiger Jahre, gilt jedoch nicht für die poststalinistische Ära. Wer aber erwartet, daß sich die Memoiren, die in der Tauwetterzeit oder später mit der glasnost '-Zeit erschienen, erheblich von denen aus den dreißiger Jahren oder der Brezenev-Zeit unterscheiden, irrt. Zwar werden Themen angesprochen, die zur Zeit der Zensur tabu waren, aber Form und Inhalt der Memoiren änderten sich nicht grundlegend. Bardin schrieb zu Beginn der sechziger Jahre seine Memoiren zum ersten Mal selbst nieder und wich in seinen Stellungnahmen nur unwesentlich von den Aussagen ab, die in den dreißiger Jahren für ihn der Redakteur getroffen hatte.29 Noch eine weitere, zunächst erstaunliche Entdeckung läßt sich machen: Auch die Erinnerungen, die unveröffentlicht im Archiv lagern und nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurden, zeigen kein grundsätzlich anderes Bild von den dreißiger Jahren als die redigierten und publizierten Memoiren. Ähnlich wie Bardin berühren sie zwar Themen, die sie zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht öffentlich hätten diskutieren können, grundsätzlich zeichnen aber auch sie ein begeistertes Bild von der Sowjetunion. Selbst in von mir geführten Interviews bzw. in den nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstandenen Autobiographien verurteilte keiner bzw. keine der Ingenieure und Ingenieurinnen die Sowjetunion grundsätzlich als Unrechtsregime o.a. Wenn die Autobiographien nicht „diktiert" wurden, woher stammt dann ihre auffallend ähnliche Struktur? Das Genre der Memoiren ist eine ge'

27

Barbara Evans Clements behauptet z.B., daß die offizielle Interpretation der Geschichte den ihr untersuchten Bolschewikinnen aufgezwungen wurde, muß aber gleichzeitig zugeben, daß diese Frauen offenbar Freude daran hatten, die großen Ereignisse und Triumphe zu schildern. Clements, Barbara Evans: Bolshevik Women, Cambridge 1997, S. 304f. 28 Moskovskij, A.S.: Istocnikovedceskij analiz memurarov I.P. Bardina kak istoriceskogo istocnika po izucenija stroitel'stva Kuzneckogo Kombinata (KMK), S. 42f, in: Istocniki po istorii osvoenija Sibiri v sovetskij period. Sbornik naucnych trudov, Novosibirsk 1988, S. 2343; vgl. auch Dacenko, V.l.: Vospominanija ucastnikov stroitel'stva kuzneckogo metalliceskogo kombinata kak istoriceskij istocnik, in: ebd., S. 46-61. 29 Vgl. dazu auch: Moskovskij, Istocnikovedceskij analiz memurarov, S. 34. von

Quellen

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wachsene Gattung, deren Wurzeln bis in die Heiligenviten zurückreichen und deren Tradition bis heute lebt und sich weiter entwickelt. Die Textform ist eine Repräsentationsstruktur, die den Schreibern und Schreiberinnen Form und Sprache zu Verfügung stellt und dabei gleichzeitig von den Autoren und Autorinnen verändert und weiterentwickelt wird. Die Ingenieure und Ingenieurinnen schrieben sich und ihre Geschichte in diese Biographientradition ein und setzen sie damit fort. Das Grundmuster dieser Erzählungen ist der dialektische Bildungsroman: Erzählt wird die Bildung des Menschen in doppelter Hinsicht: Seine Formung und Ausbildung von der armen, entrechteten, unwissenden Kreatur zum Menschen, der über Selbstbewußtsein verfügt und über die Wissenschaften gebietet.30 Diese lineare Entwicklung vollzieht sich über mehrere Stufen: Der Mensch muß auf seinem Weg zu sich selbst mehrere Hürden nehmen und Schwierigkeiten bewältigen. Doch letztlich bedeutet jede Gefahr und Anfechtung ein weiteres Erstarken seines Selbst und das Erreichen eines neuen Stadiums auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung. Diese Erzählstruktur findet sich bereits in Studentenbiographien im 19. Jahrhundert.31 Seine Prinzipien liegen aber auch dem Gottbildnertum (bogostroitel'stvo) zugrunde, in dessen Rahmen Revolutionäre predigten, die Kraft des Guten im Menschen sei so stark, daß sein Leben in jedem Fall eine glückliche Wendung nehmen werde. Die Vorstellung, der Mensch werde am Ende eines Wegs voll von Prüfungen doch sein Glück machen, findet sich auch im (russischen) Märchen, in dem der Ivan-duracok, der chronisch benachteiligte dritte Sohn am Ende Elend und Armut überwindet, um die Prinzessin zu heiraten. Diese Aufstiegsdialektik, die in der russischen Kultur bereits vorhanden war, wurde den Menschen nach 1917 in besonderer Form nahegebracht: Igal Halfin und Sheila Fitzpatrick beschreiben, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren Menschen regelrecht trainiert wurden, ihren Lebenslauf als Bildungsgeschichte zu erzählen, um in Komsomol, Partei oder an einer Hochschule aufgenommen bzw. weitergeführt zu werden.32 Catarina Clark hat herausgearbeitet, daß der sozialistische Held in den dreißiger Jahren als Produkt einer Bildungsgeschichte und Bewußtseinsfindung konzipiert war.33 Die dialektische Menschwerdung à la Sozialistischer

30

Vgl. auch Günther, Hans: Education and Conversion: The Road to the New Man in the Totalitarian Bildungsroman, in: ders. (Hg.): The Culture of the Stalin Period, London 1990, S. 193-209. 31 Morrissey, Susan: Heralds of Revolution. Russian Students and the Mythologies of Radicalism, Oxford 1998. 32 Halfin, Student Communist Autobiography, S. 212; Fitzpatrick, Lives under Fire, S. 225. 33 Clark, Katarina: The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago u.a. 21985, S. 15ff., 258.

32

Einleitung

zentral in allen Medien präsent.34 Selbst die großen, gefeierten Ingenieure wurden in den dreißiger Jahren als Menschen dargestellt, die nur dank der sozialistischen Aufbauarbeit zu sich selbst gefunden hatten: „Der [Staudammbau am] Dnjepr war ein Stadion seiner Ingenieurskunst und gleichzeitig eine Schule für ihn. (...) Aber politisch ist er erst am Dnjepr zu

Realismus

sich

war

gekommen."3

Derart hat sich aus vielen verschiedenen Strängen eine Repräsentationsstruktur entwickelt, auf die Ingenieure automatisch zurückgriffen, wenn sie sich ans Erzählen ihrer Erinnerungen machten. Aus diesen Texten bezogen sie die Kategorien, in denen sie ihr Leben dachten, und die Raster, nach denen sie ihre eigene Erfahrung strukturierten und bewerteten. Eine andere Sprache, als ihre Biographie in dieser dialektischen Entwicklung zu denken und zu empfinden, stand ihnen nicht zur Verfügung. Ihre Wahrnehmung war dadurch von vornherein präfiguriert. Abgesehen davon berichten viele Ingenieure einleitend, daß sie sich vor dem Aufschreiben ihrer eigenen Memoiren kundig machten, welche Regeln das Genre bereithielt. Es liegt eine gewachsene Autobiographientradition vor, die ihre Anfänge weit vor 1917 hat und über das Ende der Sowjetunion hinaus bis heute andauert. Weder läßt sich „Propaganda" von der „wahren" Haltung der Menschen, noch das „authentische Leben" von der Form der Memoiren trennen. Sie sind fest miteinander verwoben und nur theoretisch als zwei getrennte Einheiten zu denken. Für die Analyse soll aber überlegt werden, welche Faktoren bei der Herausbildung dieser Selbstsicht beteiligt waren, ohne daß das Produkt in „Originalzustand" und „Fremdeinwirkung" auseinander dividiert wird. Auch die Zeit des Aufschreibens bedingte die Aussagemöglichkeiten: In den sechziger Jahren, als die Ingenieure zum ersten Mal aufgefordert waren, ihre Geschichte niederzuschreiben, hatten viele Protagonisten des ersten Fünfjahrplans das Pensionsalter erreicht. Sie schrieben ihre Memoiren an ihrem Lebensabend, zur Feier von 40 Jahren Elektrifizierungsplan GOÉLRO (1960) oder zum 50. Jubiläum der Oktoberrevolution (1967) auf. Abgesehen von dem Abschluß des eigenen Lebenswerks und solcher Jahrestage herrschte in dieser Zeit ein Klima, das den Spezialisten suggerierte, sie seien als Erbauer der Kraftwerke und Fabriken die wahren Helden der Sowjetunion. Schließlich hatten sie das erste Mal die Möglichkeit, sich über den Terror zu äußern, so daß das Tauwetter den Rahmen ihrer Aussagen absteckte. 34

Vgl. auch Lahusen, Thomas / Dobrenko, Evgeny (Hg.): Socialist Realism Without Shores, Durham, London 1997; ersterer (Hg.): How Life Writes the Book. Real Socialism and Socialist Realism in Stalin's Russia, Ithaca, London 1997. 35

Vinogradskaja, Inzener nasej èpochi, S. 45.

Quellen

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Sowjetische Memoiren sollen als kollektives Gedächtnis zur vorherrschenden Meinung über die dreißiger Jahre und gleichzeitig über individuelle Schicksale und abweichende Meinungen befragt werden.36 An ihnen wird gezeigt, wie tief sowjetische Sichtweisen in vielen Menschen verankert waren und ihr ganzes Denken und Sein auch dann noch bestimmten, als die Sowjetunion längst zusammengebrochen war. Die Befürwortung dieses Staates war keine oktroyierte Haltung, die man wie einen Mantel wieder ablegen konnte und unter dem dann die „wahre" Haltung wieder zum Vorschein kam. b) Ingenieure als Chronisten Im Westen gelten Ingenieure als Personen, die sich in Zahlen, Gleichungen und Konstruktionen, nicht aber in literarischer Sprache ausdrücken.37 Angesichts der mangelnden Mitteilsamkeit und fehlender literarischer Fähigkeiten zählen Ingenieursmemoiren als Seltenheit. Grundlegend anders verhält es sich mit Ingenieursmemoiren in (Sowjet-) Rußland, wo es kaum eine andere Berufsgruppe gibt, die so viele Autobiographien verfaßte, und wo Autobiographien immer auch den Status von zentralen historischen Dokumenten beanspruchen konnten (s.o.). Anläßlich der Revision der Geschichte der dreißiger Jahre war es für viele Menschen ein Bedürfnis, die eigene Geschichte noch einmal Revue passieren zu lassen und sich zu vergewissern, was damals passiert war. Dabei leiten einige Ingenieure ihre Memoiren mit einem Zitat Il'ja Érenburgs (1891-1967) ein, der in seinen Erinnerungen geschrieben hatte: „Wenn die Augenzeugen schweigen, entstehen Legenden."38 Die Ingenieure machen damit deutlich, daß sie sich als Chronisten ihrer Zeit verstehen, die als einzige in der Lage waren zu berichten, wie es damals wirklich gewesen sei. Die Archive begannen im Zuge des Tauwetters und der Entstalinisierung der Geschichte 1957/58, systematisch solche Erinnerungen zu akquirieren. Sowjetische Archivare konnten nun laut ihre Kritik an der bisherigen Sammelpraxis äußern: „Auf die Sammeltätigkeit der Archive und die Benutzung der Quellenbasis hat sich unübersehbar der negative Einfluß des Personenkults um Stalin ausgewirkt. In der Periode des Personenkults wurde die Rolle der werktätigen 36

Zum kollektiven Gedächtnis siehe auch: Lachmann, Renate: Kultursemiotischer Prospekt, in: dies. / Haverkamp, Anselm (Hg.): Memoria, Vergessen und Erinnern, München 1993, S. XVII-XXVII. 37 Vgl. Miller, Walter J. (Hg.): Engineers as Writers. Growth of a Literature, New York u.a. 1953. 38 Érenburg, lija: Ljudi, gody, zizn'. Vospominanija v 3ch tomach, (1961), Moskau 1990, Bd.

1,S.47.

34

Einleitung Masse herabgemindert, um Stalin zu erhöhen; eine Reihe von herausragenden Personen der Kommunistischen Partei und des Staatsapparats sowie aktiver Teilnehmer der proletarischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus wurde widerrechtlich repressiert. Das wirkte sich in bedeutendem Maße auf die Auswahl und Benutzung der persönlichen Nachlässe aus."

In mehreren Rundschreiben verpflichteten die Archivverwaltungen der RSFSR und der UdSSR ihre Einrichtungen, Materialien derjenigen Personen, die für Staat und Gesellschaft von Bedeutung waren, zu sammeln. Nachdem zuvor hauptsächlich Bibliotheken persönliche Nachlässe aufbewahrt hatten, wurde im Juni 1961 das „Zentrale Staatsarchiv für Volkswirtschaft" (Central'nyj gosudarstvennyj Archiv narodnogo chozjajstva, CGANCh), heute „Rußländisches Staatsarchiv für Wirtschaft" (Rossijskij gosudarstvennyj archiv èkonimiki, RGAÈ), aus dem „Staatsarchiv der Oktoberrevolution" (Central'nyj gosudarstvennyj archiv Oktjabr'skoj revoljucci, CGAOR) ausgegliedert und erhielt u.a. den Auftrag, gezielt Archive großer Persörlichkeiten der Volkswirtschaft zusammenzutragen.40 Auf Anregung des Historikers Ju.F. Konov wurde eigens eine „Abteilung für persönliche Nachlässe" (Otdel licnych fondov) eingerichtet,41 um an einem zentralen Ort die Zeugnisse „herausragender Spezialisten, Wirtschaftsleiter, Direktoren, Abteilungsleiter und führender Ingenieure großer Betriebe von Unionsrang des produzierenden, erzfordernden oder des Baugewerbes (Kombinate, Truste, Baustellen, Kraftwerke, Erzgruben u.a.)" zu sammeln.42 Zu dieser Zeit gab es insgesamt nur 400 persönliche Nachlässe von sowjetischen Personen in den staatlichen Archiven, darunter 80 Prozent Dokumente von Historikern, Juristen und Kulturschaffenden.43 Mit der „Abteilung für persönliche Nachlässe" existiert eine staatliche Archiveinrichtung, in der sowjetische Geschichte in Form von Ingenieursmemoiren gesammelt wurde und wird. Diese einmalige Sammlung von Ingenieursnachlässen stellt die Grundlage dieser Arbeit dar.44 Das

3

Drobizev, V.Z. /Novikova, A.A.: Umnozim bogatstva nasich archivov, S. 198, in: Voprosy (1962) 12, S. 198-200. 40 Novikova, A.A.: O gosudarstvennom chranenii licnych archivov dejatelej sovetskogo obäcestva, S. 64ff„ in: Voprosy istorii 46/2 (1971) 8, S. 59-70. 41 Dmitriev, S.S.: Licnye archivnye fondy. Vidy i znacenija ich istoriceskich istocnikov, in: archivovedenija (1965) 3, S. 35-48 Voprosy 42 Novikova, O gosudarstvennom chranenii, S. 67. 43 Drobizev / Novikova, Umnozim bogatstva naäich archivov, S. 199. 44 Der alte Archivführer zu den persönlichen Nachlässen wird im Lesesaal des RGAÈ nicht mehr vorrätig gehalten: CGANCh SSSR: fondy licnogo proischozdenija. Putevoditel', Moskau 1987. Ein neuer ist in Vorbereitung und wird demnächst erscheinen. Die hier ausgesuchten Nachlässe wurden aufgrund des alten und des neuen recherchiert; letzterer konnte am Computer eingesehen werden. istorii 37

Quellen

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RGAÉ umfaßt heute 334 persönliche Fonds mit 63 505 Dokumenten.45

Rund 20 dieser Fonds sind Nachlaßzusammenstellungen von Ingenieuren einer Branche. Die größte derartige Sammlung ist der Fonds 9592 „Dokumentenkollektion herausragender Energietechniker" (Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ¿nergetiki), die als erste und wohl bedeutendste Kollektion angelegt wurde und in der sich Schriftstücke von fast 60 Ingenieuren und Wissenschaftlern befinden, die im Rahmen des Plans zur Elektrifizierung Rußlands GOÉLRO arbeiteten.46 Bei der Auswertung dieser Nachlässe muß bedacht werden, daß die Sammelpraxis des Archivs dazu führte, daß hier nur ein bestimmter Ausschnitt des gesamten Ingenieursspektrums Eingang fand: Während die

Werkhallenleiter, Abteilungsleiter, Chefingenieure, Fabrikdirektoren,

Baustellenleiter und Mitarbeiter der Truste, Volkskommissariate und Ministerien berücksichtigt wurden, blieben „kleine" Ingenieure ohne verantwortungsvolle Posten außen vor. Angesichts der bedeutenden Positionen, die diese Ingenieure erreichten, ist nicht damit zu rechnen, unter den Memoiren die eines Dissidenten zu finden. Und noch einen weiteren Ausschlußeffekt gibt es: Da in die hohen Positionen fast ausschließlich Männer aufstiegen, finden sich kaum persönliche Nachlässe von Ingenieurinnen im RGAÉ.47 Um auch diese Personenkreise in die Studie mit einzubeziehen, sind neben den Archivmemoiren weitere Autobiographien hinzugezogen worden: a) Aufzeichnungen von Ingenieurinnen, die zur Zeit der Sowjetunion veröffentlicht wurden, b) Niederschriften aus der Emigration, c) postsowjetische Erinnerungen, und schließlich habe ich d) Interviews mit Frauen und Männern geführt, deren Stellung nicht bedeutend genug war, um für das Archiv interessant zu sein, oder die ihr Leben nicht für spektakulär genug hielten, um es der Nachwelt schriftlich zu überliefern.48 Insgesamt sind für diese Arbeit rund 70 Selbstzeugnisse ausgewertet worden, von denen etwa die Hälfte aus dem Archiv stammt und ca. zehn 45

Kozlov, V.P. / Grimstead, Patricia (Hg.): Archivy Rossii. Moskva i Sankt-Peterburg. Spravocnik-obozrenie i bibliograficeskij ukazatel', russkoe izdanie, Moskau 1997, S. 168. 46 Drobizev /Novikova, Umnozim bogatstva naäich archivov, S. 199. 47 Im RGAÉ lagern ausschließlich Nachlässe der Ingenieurinnengeneration, die vor der Revolution an dem 1906 für Frauen eröffneten Technischen Institut studiert hatten und nach 1917 Mitarbeiterinnen der Elektrifizierungskommission GOÉLRO wurden. Zu diesen Ingenieurinnen siehe auch: Satalina, M.A. (Hg.): Pervye zensciny-inzenery, Leningrad 1966. 48 Bei den Interviews habe ich kein strenges Frageraster benutzt, weil es mir wichtig erschien, die Befragten weitgehend frei und ungestört ihre Lebensgeschichte nach ihrem eigenen Entwurf erzählen zu lassen. Wenn sie Bereiche, die mich interessierten, ausließen, habe ich nachgefragt, aber nicht auf (ausfuhrlichen) Antworten insistiert. Zu Nutzen und Problemen von Oral History siehe auch Niethammer, Lutz (Hg.): Einleitung, in: ders.: Die Jahre, weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll. Faschismus Erfahrung im Ruhrgebiet, Berlin

Bonn21986.

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Einleitung

als Interview vorliegen. Die Welt der Ingenieure und Ingenieurinnen in den dreißiger Jahren wird mit Hilfe von 14 exemplarischen Erzählungen rekonstruiert, die aus diesen 70 so ausgewählt wurden, daß das vorgefundene Spektrum von Lebensentwürfen und Schicksalen, sozialer Herkunft und politischer Haltung möglichst vollständig abgedeckt wird und auch das Geschlechterverhältnis einigermaßen ausgeglichen ist. Vier dieser Erinnerungen stammen aus dem RGAÈ; die ersten zwei sind typische Vertreter der „roten Ingenieure", die Arbeiter oder Knechte waren:49 1. Leonid Ignat'evic Loginov (geb. 1902, Todesdatum unbekannt) schrieb 1966/67 seine Erinnerungen von 143 Schreibmaschinenseiten mit dem Titel „Aufzeichnungen eines Ingenieurs" (Zapiski odnogo inzenera), die sich heute zusammen mit seinem Lebenslauf und wenigen anderen Dokumenten als Akte Nummer 350 im Fonds 9592 „Dokumentenkollektion herausragender Energietechniker" befinden, obwohl Loginov Zeit seines Lebens in der Industrie für Meßinstrumentenbau tätig war. Er stammte aus der Stadt Vjazniki im Gebiet Vladimir und wuchs als Sohn eines angestellten Verkäufers auf. Nach dem frühen Tod des Vaters, waren ihm nur vier Jahre Schulbesuch vergönnt, bevor er selbst zum Familieneinkommen mit beitragen mußte. 1918 lief er von zu Hause weg, um bis 1923 in der Roten Armee zu dienen. 1919 trat er in die Partei ein, leistete von 1924-26 Parteiarbeit und studierte von 1926-29 in Leningrad am Polytechnischen Institut. Nach einem schnellen Aufstieg in der Industrieverwaltung wurde er 1938 verhaftet und 1953 rehabilitiert. 2. Nikita Zacharovic Pozdnjak (1906-1982) schrieb seine Memoiren ebenfalls 1967. Sein Werk mit dem Titel „Erinnerungen und Aufzeichnungen eines Ingenieurs. Vom Tagelöhner aus Kachovka bis zum Gelehrtendiplom" (Vospominanija i zapiski inzenera. Ot Kachovskogo batraka do diploma ucenogo) umfaßt 480 Schreibmaschinenseiten und beschreibt ausschließlich die Zeit von seiner Kindheit bis zum Ende seines Studiums 1934. Pozdnjak plante einen zweiten Band über sein Leben als Ingenieur in der Buntmetallindustrie, den er aber nicht mehr schrieb. Sein Nachlaß bildet einen eigenen Fonds mit der Nummer 372 und umfaßt 111 Akten, die außer seinen Memoiren seine wissenschaftlichen Arbeiten, Taschenkalender und Fotographien enthalten. Geboren im Dorf

Agajmany (später Frunze) unweit der Stadt Kachovka im Chersoner (später Ivanovo-) Gebiet als Sohn eines Dachdeckers und Revolutionärs, besuchte auch

er nur

vier Jahre die Schule, bevor

49

er

mit zwölf Jahren

In den Fußnoten werden die Archivangaben wie folgt abgekürzt werden: Fonds (fond) = f., Findbuch (opis) op., Akte (delö) d., Blatt (list) 1. Die Memoiren aus dem Archiv werden dagegen nur bei der ersten Erwähnung mit Fonds, Findbuch und Akte genannt und danach nur noch mit dem Familiennamen und der Blattangabe belegt. -

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Quellen

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Vollwaise wurde und sich 1917-24 als Tagelöhner und Knecht verdingte. Er leistete 1926-27 hauptamtlich Komsomolarbeit, absolvierte 1927-29 die Arbeiterfakultät (rabfak) und studierte anschließend 1929-34 am Moskauer Institut für Buntmetallurgie und Gold (MICMiZ). Die folgenden zwei Männer stammten aus bürgerlichen Verhältnissen, nahmen aber den gleichen Weg wie Loginov und Pozdnjak: 3. Konstantin Dmitrievic Lavrenenkos (geb. 1908, Todesdatum unbekannt) Nachlaß umfaßt wie im Falle Loginov nur eine einzige Akte mit der Nummer 404 des Fonds 9592. In diesem ca. tausendseitenstarken, nicht laufend durchnumerierten Konvolut finden sich seine Memoiren, die 448 Schreibmaschinenseiten umfassen mit drei verschiedenen Titelblättern: „So war es" (Tak bylo), „Die Beichte eines Energietechnikers" (Ispoved' énergetika) und „Elektrizität und Menschen" (Élektricestvo i ljudi). Allen drei Titeln ist der Untertitel „Eine dokumentarische Erzählung" (Dokumental 'noe povestvovanie) angehängt. Die Memoiren bestehen aus sieben Kapiteln, von denen nur das erste mit 56 Seiten der Vorkriegszeit gewidmet ist. Das Datum der Niederschrift ist leider nirgends vermerkt. Da sich Lavrenenko nicht im alten Archivführer von 1983 findet, ist anzunehmen, daß seine Unterlagen erst später ins Archiv gelangten und wahrscheinlich auch erst zu Beginn der achtziger Jahre geschrieben wurden. Lavrenenko wurde auf dem Land in der Nähe von Kiew als Sohn eines Dorfschullehrers geboren, besuchte sieben Jahre lang die Schule und anschließend die Berufsschule der Metallfabrik in Dnepropetrovsk, wo er zum Schlosser und Anreißer ausgebildet wurde. Als Komsomolsekretär schloß er 1931 das Kiewer Polytechnische Institut ab, arbeitete in den dreißiger Jahren auf verschiedenen Posten in Kraftwerken und stieg 1938 in die Hauptverwaltung des Volkskommissariats für Schwerindustrie auf. 4. Andrej Andreevic Gajlits (geb. 1905, Todesdatum unbekannt) Memoiren finden sich als einzige Akte mit der Nummer 103 in dem Fonds 332 „Sammlung dokumentarischer Materialien bedeutender Persönlichkeiten der Metallindustrie" (Kollekcija dokumental"nych materialov vidnych dejatelej metallurgiceskoj promyslennosti). Seine 1980 geschriebenen Aufzeichnungen mit dem Titel „Chronik eines Lebens, das fast ausschließlich dem Komsomol, der Partei und der Aluminiumindustrie gewidmet war" (Chronika odnoj zizni, pocti polnostju posyjascennoj komsomolu, partii i aljuminevoj promyslennosti) umfaßt 342 Schreibmaschinenseiten, von denen die ersten 55 über die Vorkriegszeit berichten. Gajlit stammte aus einer lettischen Intelligenzijafamilie, trat 1918 in die Partei ein, legte 1924 das Abitur in Petrogad ab und studierte am Technologischen Institut in Leningrad. Seit Ende der zwanziger Jahre war er in der Aluminiumindustrie tätig.

38

Einleitung

Neben diesen vier Archivmemoiren sind drei Texte ausgewählt worden, die zur Zeit der Sowjetunion veröffentlicht wurden: 5. Aleksandr Sergeevic Jakovlev (1905-1989) stammte wie Lavrenenko und Gajlit aus dem Bürgertum, assimilierte sich wie sie und ging ganz in der Identität des Kommunisten auf. Seine Memoiren sind deshalb bemerkenswert, weil er sie zur Tauwetterzeit publizierte und sie eine Gratwanderung zwischen öffentlicher Anklage und Affirmation des Systems sind. Die rund 500 Seiten erschienen 1966 unter dem Titel „Cel zizni. Zapiski aviakonstruktoral\ 1972 auf englisch „The Aim of a Lifetime" und 1976 auf deutsch „Ziel des Lebens. Aufzeichnungen eines Konstrukteurs". Sie erreichten eine solche Popularität, daß sie immer wieder zuletzt im Jahr 2000.50 Jakovlev wurde in Moskau neu aufgelegt wurden in bürgerlichen Verhältnissen geboren, sein Vater war der Leiter der Transportabteilung bei der Firma „Nobel" in Moskau. Er schloß 1922 das Gymnasium ab, arbeitete 1924-26 als Hilfskraft und Motorenwart auf einem Flugplatz bei Moskau, studierte 1927-31 an der ZukovskijMilitärakademie für Luftfahrt in Moskau, war seit 1931 als Konstrukteur in den Mensinskij-Flugzeugwerken tätig und stieg Ende der dreißiger Jahre zu Stalins persönlichem Berater auf. Die nächsten zwei veröffentlichten Autobiographien haben hier Aufnahme gefunden, um das Frauendefizit der Archivbestände auszugleichen. Beide Werke erschienen in den siebziger bzw. achtziger Jahren und beschreiben den typischen Aufstieg von proletarischen Frauen: 6. Tatjana Viktorovna Fedorovas (geb. 1915, lebt heute in Moskau) Memoiren kamen 1981 unter dem Titel „Oben befindet sich Moskau" (Naverchu Moskva) (230 Seiten) heraus und fanden außerdem Aufnahme in dem Sammelband „Tage und Jahre des Metrobaus" (Dni i gody Metrostroja), Moskau 1981, S. 143-157. Fedorova ist eine der wenigen bekannten Ingenieurinnen und gilt als Legende des Metrobaus. Geboren in Moskau als Tochter einer Krankenschwester, schloß sie die siebenjährige Mittelschule ab, besuchte 1931-32 eine Fabrikschule (FZU), trat 1931 in den Komsomol ein und kam 1932 als Arbeiterin zum Metrobau, von wo aus sie als Stoßarbeiterin zum Ingenieursstudium (1937-41) am Moskauer Institut für Transportingenieure (MUT) abgeordnet wurde. 7. Tamara Borisovna Kozevnikova, geborene Odenova, (geb. 1917) veröffentlichte ihre 150 Seiten starken Memoiren „Die Berge verschwinden im Himmel" (Gory uchodjat v nebo) zusammen mit der Pilotin M.L. Popovic 1978 in einem gemeinsamen Buch mit dem Titel „Das Leben ist '

-

-

50

Jakovlev selbst verfaßte das letzte Vorwort zur Auflage von 1987, die er dem „55. Jahrestag des Siegs des sowjetischen Volks im Großen Vaterländischen Krieg" widmete. Obwohl bereits in der glasnost '-Zeit erschienen, nahm er keine Umwertungen vor. Jakovlev, A.S.: Cel' zizni. Zapiski aviakonstruktora. 6., vervollständigte Ausgabe, Moskau 2000.

Quellen

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ein ewiger Steigflug" (Zizn vecnyj vzlet). Geboren als Tochter eines Arztes in Kachetien, schloß auch sie die Mittelschule ab, trat 1931 in den Komsomol ein und erkämpfte sich als eine der ersten Frauen einen Studienplatz an der Zukovskij-Militärakademie für Luftfahrt. Ab 1940 arbeitete sie als Flugzeugwartungsingenieurin. Neben diesen zu Sowjetzeiten veröffentlichten Texten ist eine Lebenserzählung ausgesucht worden, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschrieben wurde, deshalb aber nicht kritischer mit der '

-

Vergangenheit umgeht: 8. Evgenij Fedorovic Calych (geb. 1901, lebt heute in Moskau) veröffentlichte 1996 seine Erinnerungen unter dem Titel „Aufzeichnungen eines sowjetischen Ingenieurs" (Zapiski sovetskogo inzenera) in Moskau als Bändchen von knapp 140 Seiten in einer Auflage von nur 500 Exemplaren. Geboren als Sohn eines Bauerns in Perovsk (Turkestan),

besuchte er 1909-1915 die Gemeindeschule und anschließend das Priesterseminar in Taskent, bevor er 1919 in die Rote Armee eingezogen wurde. Es folgte 1922-1929 ein Ingenieurstudium in Leningrad am Bergbauinstitut; in den dreißiger Jahren arbeitete er als parteiloser Ingenieur in der Kohlenstoff-, Elektroden- und Aluminiumindustrie. Diesen sowjetischen Texten werden zwei in der Emigration entstandene

Autobiographien entgegengestellt: 9. Valentina Alekseevna Bogdan, geborene Ivanova, (geb. 1911, lebt heute in England) veröffentlichte ihre Memoiren in zwei Bänden: „Studenten des ersten Fünfjahrplans" (Studenty pervoj pjatiletki) (280 Seiten) 1973 in Buenos Aires und „Mimikry in der UdSSR. Erinnerungen eines Ingenieurs 1935-1942, Rostow am Don" (Mimikrija v SSSR. Vospominaija inzenera 1935-1942 gody, Rostov-na-Donu) (322 Seiten) 1986 in

Main. Geboren als Tochter eines Lokführers in einer sehr in Kropotkin am Kuban, legte sie 1929 das Abitur ab, studierte 1929-35 am Institut für Lebensmittelindustrie in Krasnodarsk und arbeitete ab 1935 als Ingenieurin zunächst in einer Mähdrescherfabrik in Rostow am Don, dann in einem Mehl- und Nudelkombinat. 1942 floh sie aus der UdSSR. 10. Anatolij Pavlovic Fedoseev (geb. 1902, gestorben?) veröffentlichte seine knapp 270 Seiten starken Memoiren unter dem Titel „Die Falle. Der Mensch und der Sozialismus" (Zapadnja. Celovek i socializm) 1976 in Frankfurt am Main. In Petersburg als Sohn eines Ingenieurs geboren, wurde er nach dem Abitur 1927 drei Jahre in Folge nicht zum Studium zugelassen. Nachdem er Arbeiter geworden war, bekam er 1931 einen Studienplatz am Elektrotechnischen Institut in Leningrad und arbeitete seit 1936 in der Glühbirnen- und Generatorenindustrie. 1971 emigrierte Frankfurt

am

religiösen Familie

er.

40

Einleitung Schließlich wird dieses

Sample durch vier Interviews ergänzt. Die erInterviewpartnerinnen sind wie Fedoseev Kinder alter Ingenieure, die sich mit den Bolschewiki arrangierten. 11. Taisija Aleksandrovna Ivanenko, geborene Vasil'eva, (geb. 1913, lebt heute in St. Petersburg) kam als Tochter des Kraftwerksdirektors Aleksandr Vasil'ev in Gateina bei Petersburg zur Welt. Nach acht Jahren sten zwei

Schulbesuch mußte sie auf die Arbeiterfakultät wechseln, wurde 1930 dennoch nicht zum Studium zugelassen und statt dessen im Privatkurs von ihrem Vater zur Ingenieurin ausgebildet. In den dreißiger Jahren arbeitete sie als Bauingenieurin in verschiedenen Planungsbüros und Instituten. 1937 wurde ihr Vater verhaftet und erschossen. 12. Ljudmilla Sergeevna Vanjat, geborene Kric, (geb. 1919, lebt heute in Moskau), ist wie Ivanenko die Tochter eines großen „alten" Ingenieurs, des Bevollmächtigten der China-Osteisenbahn in Cita, Sergej Kric, der ebenfalls 1937 verhaftet und erschossen wurde. Sie wuchs behütet auf, machte 1936 Abitur und studierte am Moskauer Institut für Transportingenieure (MIIT), bevor sie 1940 heiratete und ihr Studium abbrach. Die letzten zwei Interviews sind ausgewählt worden, weil sie das Spektrum der hier vorgeführten Personen um den Pragmatiker einmal in der „enthusiastischen" und einmal in der „gleichgültigen" Variante erweitern: 13. DaniiV Isaakovic Maliovanov (geb. 1911, lebt heute in Moskau) kam als Sohn eines Buchhalters im Donbass in Juzovka (später Stalino) auf die Welt. Nach sieben Jahren Schule besuchte er 1926-29 eine Technische Berufsschule (proftechucilisce) und arbeitete als Dreher und Brigadier einer Komsomolbrigade, bevor er 1930 als „Gewerkschaftstausender" zum Studium abgeordnet wurde. 1935 schloß er das Bergbauinstitut in Stalino ab und war ab 1937 auf leitenden Posten in der Bergbauindustrie u.a. im Donbass tätig. 14. German Vasil'evic Rozanov (geb. 1915, lebt heute in Moskau) wurde in Saratow als Sohn eines Juristen geboren. Er erhielt sieben Jahre Unterricht bei einem Privatlehrer und blieb zunächst vom Studium ausgeschlossen. Nachdem er in den Komsomol eingetreten und Dreherlehrling geworden war, erhielt er 1931 die Studienzulassung. Zweimal wurde er als „antibolschewistisches" Element von der Hochschule entfernt, bevor 1938 die Moskauer Universität abschloß. Er fand eine Anstellung im Saratower Flugzeugwerk und 1943 die Aufnahme in die Partei.

er

41

Quellen

c) Ingenieurspresse Das offizielle Ingenieursbild, mit dem die Selbstkonstruktionen der Erinnerungen verglichen werden, wird aus folgenden Blättern rekonstruiert: 1. „Für die Industrialisierung" (Za industrializaciju) erschien vom 1. Januar 1930 bis zum 31. August 1937. Davor trug sie den neutraleren Namen „Handels- und Industrie-Zeitung" (Torgovo-promyslennaja gazeta), um im September 1937 zu einem weniger dynamischen Namen, „Industrie" (Industrijd), zurückzukehren. Die „Handels- und IndustrieZeitung" wurde von dem Höchsten Volkswirtschaftsrat (VSNCH) der UdSSR und der RSFSR herausgegeben und als „Für die Industrialisierung" mit der Gründung des Volkskommissariats für Schwerindustrie 1930 zum Organ und Sprachrohr dieses Ressorts unter seinem Leiter Georgij Konstantinovic Ordjonikidze (1886-1937) gemacht. Das Programm beschrieb die Redaktion wie folgt: „Die ,Handels- und Industrie-Zeitung' ist schon lange vor der Umbenennung zum Organ der sozialistischen Industrialisierung geworden. (...) sie kämpft

Industrialisierung und für die Generallinie. Sie wird dieKampfauch unter dem neuen Namen führen."51 Der Chefredakteur B.M. Tal' (1898-1938) begab sich jeden Abend zum Volkskommissar, um mit ihm die Hauptthemen für den nächsten Tag zu besprechen.52 Die Zeitung war demnach der unmittelbare Ausdruck der neusten Parolen und Kampagnen. Darüber hinaus richtete sich „Für die Industrialisierung" in besonderer Weise an Ingenieure, die in den Beiträgen zu außerordentlichen Anstrengungen angespornt, aber auch mit scharfer Kritik und Häme bedacht wurden. Das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie kann als eine Art Betriebszeitung und Mitteilungsblatt der „Konzernzentrale" an ihre Ingenieure verstanden werden. Daß die Wirtschaftsführer und Ingenieure die Zeitung lasen, beteuert Leonid Pavlovic Gracev, Roter Direktor in der Papierindustrie: Er habe ihr Erscheinen immer ungeduldig erwartet und sie von „Anfang bis Ende" durchgelesen, um sich über die neusten Entwicklungen zu informieren.53 2. Die Zeitschrift „Ingenieursarbeit" (Inzenernyj trud) gab sich international und führte auf ihrem Titelblatt immer auch den deutschen und englischen Namen: „,Ingenieur-Arbeit' Organ der Sektionsbüros der Ingenieure und Techniker unermüdlich fur die sen

der USSR und des Gebiets Moskaus und der Zentralbüros der Techniker-Sektionen der Gewerkschaften." -

Ingenieur- und

Sie war das Blatt der Gewerkschaftssektionen der Ingenieure. Da die letzten eigenständigen Interessenvertretungen von Ingenieuren während 51

Za industrializaciju Nr. 1, 1.1.1930. RGAÉ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej L.I.: Zapiski odnogo inzenera, Moskau 1966-67,1. 50. Loginov, 53 Gracev, L.P.: Doroga ot Volchova, Leningrad 1983, S. 99. 52

ènergetiki,

op. 1, d. 350:

42

Einleitung

aufgelöst wurden, gab es auch keine eigenständige Ingenieursgewerkschaft, sondern nur „Sektionen" für Ingenieure in den jeweiligen Fachgewerkschaften der Bergbauer, Metallurgen usw. Dachder Kulturrevolution

verband dieser Sektionen war das „Intersektionale Allunionsbüro der Ingenieure und Techniker" (Vsesojuznoe mezsekcionnoe bjuro inzenerov i technikov, VMBIT), das Herausgeber der Zeitschrift war. Sie erschien in den Jahren des Umbruchs 1929 und 1930 mit 24 Nummern bzw. 1931 und 1932 mit 36 Nummern im Jahr, während von 1924-28 und nach 1931 bis zur Einstellung im August 1935 nur eine Nummer pro Monat gedruckt wurde. Daß die „Ingenieursarbeit" Organ der Ingenieurssektionen war, bedeutete keineswegs, daß sie die Interessen der Ingenieure in dem Sinne verteidigte, daß sie ihre Klientel grundsätzlich vor Anschuldigungen, Hetze und Verleumdung in Schutz genommen hätte. Vielmehr war sie Sprachrohr derjenigen Gewerkschaftsfunktionäre, die strikt der Linie der Partei folgten und sich die Regierungsparolen zu eigen machten. 1929 erklärte die Redaktion, ihre Schwerpunkte seien die Politik, die Ingenieure und der Aufbau der Sowjetunion, wobei sie kein „Abklatsch" schon vorhandener Medien sein und auch nicht „am Ende" der „Bewegung" stehen wolle. Sie machte sich zur Aufgabe, „Fragen mit aller Schärfe" aufzuwerfen, selbst Initiatorin von Kampagnen zu werden und keine Rücksicht auf „Ivan Ivanovic" zu nehmen, der sich durch scharfe Äußerungen angegriffen fühlen könnte. Das Blatt nahm sich vor, den „vegetarischen", „zahnlosen" Stil aufzugeben, nicht mehr zu „schlafen" und zu warten, bis es „donnere", sondern aus eigenem Antrieb Probleme zu benennen, Feinde zu enttarnen und Lösungen vorzuschlagen.54 „Ingenieursarbeit" verstand sich als Werkzeug der parteitreuen und ergebenen Ingenieure zur Durchsetzung der Politik der Partei und Regierung gegenüber ihren Kollegen und machte sich den vorauseilenden Gehorsam zur Verlagsphilosophie. In dieser Funktion gibt sie Aufschluß darüber, in welchem Maße sich Ingenieure mit den Bolschewiki identifizierten, Unterwürfigkeitsgesten praktizierten und Kollegen denunzierten. In erster Linie aber ist sie die geeignete Quelle, um nach dem offiziellen Ingenieursbild befragt zu werden.

d) Fiktionale Quellen Für diese Arbeit sollen als dritte große Quellengruppe ergänzend und kontrastierend Romane, Dramen und Filme danach befragt werden, welche Vision sie vom Ingenieur entwarfen und verbreiteten. Diese Gattungen werden nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als weitere Ma-

Inzenernyj trud, Nr. 1, 1.1.1929, S. 3 f.

Quellen

43

schinerie, die am laufenden Band Ingenieurbilder produzierte, verstanden.

Spielfilme und Belletristik decken jenseits des Bereichs der professionellen Information als zweiten wichtigen Bereich der Meinungsbildung das Feld der kulturellen Information ab.55 Schließlich wird ein Mensch durch seine gesamte Umwelt und nicht nur durch Nachrichten und die direkte Politik beeinflußt. Außerdem haben Filme die Fähigkeit, „to reflect historical realities in a useful, if not unique manner", so der Filmhistoriker K.R.M. Short.56 Tatsächlich scheinen Filme und Literatur oft wie ein Brennglas der Spezialistenpolitik funktioniert zu haben. In diesen Medien wurden Meinungen zugespitzt, Typen geformt und Ereignisse dramatisiert. Durch die besonderen Ausdrucksformen sowohl des Films als auch der Literatur konnte die Haltung gegenüber der Intelligenzija wesentlich schärfer, aber auch amüsanter, in jedem Fall plastischer dargestellt werden, als dies in Reden und Erlassen der Fall war. Gerade weil der Film als Werkzeug gilt „to shape public opinion and use its potential force either to secure or to retain political, social or economic power",57 sollen Filme und Fiktion auch hier ernst genommen werden.58 Lenin schätzte den Film als die „wichtigste aller Künste",59 auf ih13. Parteikongreß im Mai 1924 beschloß die Russische rem Kommunistischen Partei der Bolschewiki, daß der Film bei der Erziehung, Ausbildung und Agitation der Massen eine zentrale Rolle einnehmen solle.60 Zu einer kontrollierten Waffe wurde die Filmindustrie späte-

Auf die Rolle der Bildenden Kunst kann im Rahmen dieser Arbeit leider nicht eingegangen werden. Zur Wirkung von Plakatkunst siehe auch: Bonnell, Victoria E.: Iconography of Power. Soviet Political Posters under Lenin and Stalin, Berkeley, Los Angeles, London 1998. 56 Short, K.R.M.: Introduction, S. 31, in: ders. (Hg.): Feature Films as History, London 1981, S. 16-36. 57 Short, Introduction, S. 16. 58 Zur Verwendung von Spielfilmen als historische Quelle vgl. auch Kahlenberg, Friedrich P.: Spielfilm als historische Quelle? Das Beispiel „Andalusische Nächte", in: Aus der Arbeit des Bundesarchiv: Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Boppard 1977, S. 511-532; Allen, Robert C: Film History. Theory and Practice, New York 1985; Behring, Heiner: Fiktion und Wirklichkeit: Die Realität des Films, in: Geschichtswerkstatt 17 (1989): Themenheft Film Geschichte Wirklichkeit, S. 6-12.; Carnes, Mark C. (Hg.): Past Imperfect. History According to the Movies, New York 1995; Ferro, Marc (Hg.): Bilder schreiben Geschichte. Der Historiker im Kino, Berlin 1991; ders.: Der Film als „Gegenanalyse" der Gesellschaft, in: Honegger, Claudia u.a. (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt 1977, S. 247-271; Wilharm, Ingrid (Hg.): Geschichte in Bildern. Von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle, Pfaffenweiler 1995, Smith, Paul (Hg.): The Historian and Film, London, New York, -

-

Melbourne21978. 59 Gespräch Lenins mit AV. Lunacarskij im Februar 1922, in: Lenin, V.l.: Polnoe sobranie 5. Ausgabe, Bd. 44, Moskau 1964, S. 579. socinenij, 60 13 s"eszd RKP (b) 23-31 maja 1924. Stenograficeskij otcet, Moskau 1924, S. 702f.

44

Einleitung

stens 1930 mit ihrer Transformation von

,JS~ovkino" in ,£ojuzkino".6I Stalin schätzte die Macht der Spielfilme als pädagogisches Instrument: „In den Händen der Sowjetmacht stellt das Kino eine enorme und unschätzbare Kraft dar. Mit seinen einmaligen Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Massen hilft der Film der Arbeiterklasse und ihrer Partei, die Arbeiter im Geiste des Sozialismus zu erziehen, die Massen zu organisieren und ihnen sowohl ein hohes kulturelles Niveau als auch politische Kampfkraft beizubringen."62 Er machte sich selbst zum ersten Drehbuchredakteur und Chefzensor; kein Film kam auf die Leinwand, bevor er nicht von Stalin in seinem privaten Vorführraum im Kreml begutachtet worden war. Trotz der starken etwa ein Drittel aller gedrehten Filme erschien nie auf der Zensur Leinwand arbeiteten die Regisseure der dreißiger Jahre nicht nur unter Zwang, sondern leisteten bereitwillig ihren Teil zum Aufbau des neuen Landes.63 Peter Kenez konstatiert: „The régime and the artists combined their talents to produce works that were -

-

needed for the maintenance of the

Derart stellen Filme nicht

system."64

die ideale Wirklichkeit entsprechend des Diktums des Sozrealismus dar,65 sondern zeigen auch die sowjetische Welt mit den Augen der Regisseure.66 Als normative Texte, die die sowjetische Idealwelt beschreiben, können Filme heute wieder lesbar gemacht werden.67 Für diese Arbeit wurden Filme ausgewertet, in denen Ingenieure als Haupt- oder Nebenfiguren auftauchen. Auf der offiziellen Rangliste der favorisierten Sujets rangierte der sozialistische Aufbau der Industrie auf Platz zwei nach der Kollektivierung. Trotz dieser großen Bedeutung der nur

61

Stites, Richard: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900, Cambridge 1992, S. 85; vgl. auch Youngblood, Denise: The Fate of Soviet Popular Cinema During the Stalin Revolution, in: Russian Review 50 (1991) 2, S. 148-162; Slater, J. Thomas: The Soviet Union, in: ders.: Handbook of Soviet and East European Films and Filmmakers, New York u.a. 1992, S. 1-68. 11.1.1935. 62Pravda, 63

Turovskaja, Maja: Das Kino der totalitären Epoche, S. 235, in: Bulgakova, Oksana (Hg.): Die unglaublichen Abenteuer des Dr. Marbuse im Lande der Bolschewiki. Das Buch zur Filmreihe „Moskau Berlin", Berlin 1995, S. 235-243. 64 Kenez, Peter: Soviet Cinema in the Age of Stalin, S. 58, 63, in: Taylor, Richard / Spring, Derek (Hg.): Stalinism and Soviet Cinema, London 1993, S. 54-68. 65 Inzenernyj trud, Nr. 31-33, 20.11.1932, S. 741. 66 Vgl. auch Leyda, Jay: KINO. A History of the Russian and Soviet Film, London 1960, S. 288. 67 Zum sowjetischen Spielfilm siehe auch: Babitsky, Paul / Rimberg, John: The Soviet Film Industry, New York 1955; Brooks, Jeffrey: Russian Cinema and Public Discourse, 19001930, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 11 (1991), S. 141-148; Der sowjetische Film, 1930-39, eine Dokumentation, 2 Bde., hg. vom Verband des deutschen Filmclubs, Bad Ems 1966; Taylor / Spring, Stalinism and the Soviet Cinema; Stites, Russian Popular Culture; Taylor, Richard / Christie, Ian (Hg.): The Film Factory: Russian and Soviet Cinema in Documents 1896-1939, Cambridge 1988; Izbrannye scenarii sovetskogo kino v 6-i -

tomach, Moskau 1951 ff.

Quellen

45

Industrialisierung, gab es relativ wenig Filme über diesen Topos.68 Peter Kenez hat ermittelt, daß von den 308 Filmen, die zwischen 1933 und 1940 auf dem Markt erschienen, nur zehn in Fabriken spielen. Kenez nimmt an, „that directors found it difficult to make interesting films about workers and therefore tended to avoid them."69 Diese Behauptung stimmt so nicht, zumal es eine Reihe von Filmen gibt, die auf Baustellen spielen, oder den Ingenieur in ein ganz anderes Umfeld setzen, so daß für die Zeit zwischen 1928 und 1941 rund 30 Filme entstanden sind, in denen Ingenieure eine Rolle spielen und die für diese Arbeit ausgewertet wurden. Die Rolle der Schriftsteller bei der Bildung des neuen Menschen galt als nicht weniger bedeutend als die der Regisseure.70 Immer wieder wurde betont, daß die Literatur an der Neuschaffung der sowjetischen Intelligenzija einen entscheidenden Anteil habe: „Die Kunst ist kein Selbstzweck, sie spielt eine kolossale Rolle in der Umerziehung, in der Umarbeitung der Menschen."71 Daß Schriftsteller als „Seeleningenieure" bezeichnet wurden, weist nicht nur auf die Symbolkraft der Ingenieure hin, sondern zeugt v.a. davon, daß die Partei die Literaten bei der Formung der Ingenieure fest eingeplant hatte.72 „Seid echte ,Seeleningenieure'! Seid unsere Lehrer des neuen Lebens!"73 wurde 1934 zur Eröffnung des ersten Schriftstellerkongresses von den Literaturschaffenden gefordert. Literarische Gestalten wurden wie reale Personen angeführt, um an ihnen zu demonstrieren, welche Eigenschaften ein Ingenieur haben oder ablegen sollte. Der Ingenieur Klejst aus Fedor VasiPevic Gladkovs (1883-1958) Roman „Zement" (Cement), der Ingenieur Gabruch aus dem heute kaum mehr bekannten Werk Sergej Aleksandrovic Semenovs (1893-1942) „Natal'ja Tarpova" und der Ingenieur 68

Taylor, Richard: Ideology as Mass Entertainment: Boris Shumyatsky and Soviet Cinema in 1930's, S. 210, in: Taylor, Richard / Christie, Ian (Hg.): Inside the Film Factory. New to Russian and Soviet Cinema, London, New York 1994, S. 194-216. Approaches 69 Kenez, Soviet Cinema, S. 56. 70 Zur großen Bedeutung von Literatur als Medium der Sozialkontrolle siehe auch: Wachtel, A.B.: The Battle for Childhood. Creation of a Russian Myth, Stanford 1990, S. 204; Dunham, In Stalin's Time, S. 22; Dobrenko, Evgeny: The Disaster of Middlebrow Taste, or, Who „invented" Socialist Realism?, S. 160, in: ders. / Lahusen, Thomas (Hg.): Socialist Realism the

Without Shores, Durham, London 1997, S. 135-164. 71 Front nauki i techniki, Nr. 3, 1934, S. 69. 72 Katarina Clark hat darauf hingewiesen, wie wichtig die Ingenieure und die Literatur fur die dreißiger Jahre sind, daß sie aber bisher viel zu wenig beachtet wurden: Clark, Katarina: Engineers of Human Souls in an Age of Industrialization. Changing Cultural Models, 1929-941, S. 248, in: Rosenberg, W.G. / Siegelbaum, L.H. (Hg.): Social Dimensions of Soviet Industrialization, Bloomington, Indianapolis 1993, S. 248-264. 73 Za industrializaciju, 17.8.1934.

Einleitung

4b

aus Aleksandr Il'ic Bezymenskijs (1898-1973) Erzählung Schuß" „Der (Vystrel) waren bekannte, viel zitierte Persönlichkeiten, die den Typ des alten Ingenieurs repräsentierten.74 Wie der Film wurde auch der Roman oder das Drama als direkte Handlungsanleitung für Ingenieure verstanden.75 Die Kunstschaffenden wurden angewiesen, den neuen, idealen Ingenieur zu entwerfen.76 Zusammen mit der Gründung der sowjetischen Schriftstellerunion 1934 und der Proklamierung des „sozialistischen Realismus'" wurde die Beschaffenheit des neuen Helden festge-

Zvjagincev

legt:77

„Unser Held ist positiv, (...). Unser positiver Held kämpft für das Glück. Aber er kämpft für das Glück aller Arbeitnehmer, sein persönliches Glück sieht er in dem Glück aller, seinen Nutzen sieht er genau darin, das Leben des gesamten Kollektivs zu verbessern. Unser Held steht für persönlichen Mut, Entschlußkraft, Initiative (...), aber er steht nicht über der „Masse", und sein Heldentum ist genau deshalb wunderbar, weil es einen massenhaften Charakter

hat."78 Die Organe der verschiedenen Ingenieursorganisationen erklärten, sie wollten in der Literatur nicht den „abstrakten" Menschen und Gelehrten in seiner Studierstube finden, sondern den neuen Ingenieur mitten auf der Baustelle vorgeführt bekommen. Es wurde ein Katalog an Themen aufgestellt, die für die Darstellung des Ingenieurs als geeignet galten: das „Schädlingstum", die Beziehungen der Ingenieure zu den Wirtschaftsführern sowie zu den Arbeitern und den Parteiorganisationen, die „Spezialistenfresserei" (speceedstvo) das Mobbing gegen Ingenieure, die Umerziehung der alten Kader sowie das Problem der „Väter und Söhne".79 Die Symbiose von Technik und Literatur ging schließlich soweit, daß von Schriftstellern verlangt wurde, sie sollten selbst in die Technik eintauchen, um das „richtige" Bild von den Baustellen zeigen zu können.80 -

„Die Unwissenheit noch

unserer

Dichter in Sachen Technik und Wissenschaft ist

größer als die unserer Prosa-Schreiber. Nehmen Sie ein beliebiges Werk

74

Vgl. Dinamov, S.: Ideologija nauínoj i techniceskoj ¡ntelligencii, S. 196, in: Novyj mir, 1929, Nr. 2, S. 193-202; Bajöevskij, V.: Techniceskaja intelligencija v naucnoj literature, S. 63, in: Front nauki i techniki, Nr. 4-5, 1931, S. 63-67; Boíaíer, M.N.: Incener Gabruch, in: Inzenernyj trud, Nr. 18, 30.9.1929, S. 532-534; Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 627. 75 Za industrializaciju, 19.8.1931. 76 Vgl. auch Günther, Hans: Die kompensatorische Funktion der sozialistisch-realistischen Literatur der dreißiger Jahre, S. 262, 270, in: Erler, Gernot / Süß, Walter (Hg.): Stalinismus.

Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg, Frankfurt am Main 1982, S. 262-271. 77 Clark, Katarina: The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago, London 21985, S. 3ff, 167. 78 Front nauki i techniki, Nr. 5-6, 1934, S. 3. 79 inzenernyj trud, Nr. 4, 15.2.1929, S. 102. 80 Vgl. auch Mayer, Wilhelm: Der sowjetische Industrieroman, S. 255, in: Osteuropa (1954), S. 255-261.

47

Quellen Dichter der Erkenntniswert im Bereich der Wissenschaft und Technik ist vernichtend gering, wenn er nicht ganz fehlt."81

unserer

-

In diesem Zusammenhang bekommt der Ausdruck „Seeleningenieur" noch eine weitere Bedeutung, denn tatsächlich förderte die Partei die Ausbildung von Schriftstellern zu Ingenieuren oder zumindest deren ausführliche Besuche auf den Großbaustellen des Landes.82 Der Schriftsteller Jurij Solomonovic Krymov (1908-1941) schloß 1930 ein Studium in Mathematik und Physik ab und arbeitete in den dreißiger Jahren auf den Werften am Kaspischen Meer, bevor er 1941 seine Erzählung „Ingenieur" (Inzener) schrieb. Gladkov wurde für die Authentizität von „Energie" (Ènergija) gelobt, weil er fünf Jahre lang auf der Baustelle des Staudamms am Dnjepr Dneprostroj verbracht und hier alle technischen Prozesse und Arbeitsabläufe studiert hatte.83 Auch Marietta Sergeevna Saginjan (1888-1982) schrieb ihr Werk „Das Wasserkraftwerk" (Gidrocentral *), nachdem sie mehrere Jahre auf der Baustelle des Wasserkraftwerks in Armenien DzoraGÈS am Fluß Pambak verbracht hatte. Daß viele Schriftsteller es als ihre Aufgabe betrachteten, auf die Baustellen zu fahren und von dort zu berichten, belegte Isaak Babel' (1894—

1940)1934:

„Ich habe recht daran getan, in den Donbass

zu fahren, diese Gegend muß kennen. Manchmal überkommt mich Verzweiflung bei dem Gedanken, wie man dieses unermeßliche, dahineilende Land, das UdSSR heißt, literarisch bewältigen soll."

man

Die

unbedingt

Verbindung der Schriftsteller mit den Ingenieuren und der Industrialisierung bestand folglich auf zwei Ebenen: Der Schriftsteller war zum einen gehalten, durch seine Darstellung den neuen Menschen zu formen. Zum anderen waren die Literaturschaffenden der dreißiger Jahre selbst Technikspezialisten, so daß sie sich ausgezeichnet im Metier der Ingenieure auskannten.85

Für diese Arbeit wurde eine Auswahl von 18 der meist genannten und zitierten Romane und Dramen der dreißiger Jahre herangezogen. Die meisten dieser Baustellenerzählungen stammen aus der Zeit des ersten Fünfjahrplans. Während in der Literatur nach dieser Periode andere Themen in den Vordergrund rückten, blieb der Ingenieur im Film bis ans Ende der dreißiger Jahre präsent.

81

techniki, Nr. 12, 1934, S. 88ff. 30ch godov, Moskau 1966, S. 144. Zukov, Jurij: Ljudi 83 Front nauki i techniki, Nr. 12, 1934, S. 89. 84 Piraschkowa, Antonina: Ich wünsche Ihnen Heiterkeit. Erinnerungen Russischen von Renate Landa, Berlin 1993, S. 49. 85 82

Front nauki i

an

Babel,

aus

dem

Zum literarischen Schaffen von Ingenieuren siehe auch: Schwiglewski, Katja: Erzählte Technik. Die literarische Selbstdarstellung des Ingenieurs seit dem 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1995.

II. Der alte

Ingenieur

1) Entwicklung eines Berufsstandes a) Der Ingenieur und die vorrevolutionäre Gesellschaft Die russische Ingenieursausbildung ist davon geprägt, daß sie aus dem Ausland importiert wurde, lange Zeit weniger an den Bedürfnissen der Wirtschaft als an den Interessen des Adels ausgerichtet war und an einem massiven Praxismangel litt.1 Die Literatur zu russischen Ingenieuren vor 1917 bzw. 1928 ist nicht sehr umfangreich. Siehe v.a. Späth, Manfred: Fach- und Standesvereinigungen russischer Ingenieure 1900-1914. Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, hg. von Hans-Joachim Torke, Berlin 1984; Balzer, Harley David: Educating Engineers: Economic Politics and Technical Training in Tsarist Russia, Diss., University of Pennsylvania 1980; ders.: The Engineering Profession in Tsarist Russia, in: ders. (Hg.): Russia's Missing Middle Class. The Professions in Russian History, Armonk, New York, London 1996, S. 55-88; Timoshenko, Stephen P.: Engineering Education in Russia, New York, Toronto, London 1959, ders.: The Development of Engineering Education in Russia, in: Russian Review 15 (1956) 3, S. 173-185, Guroff, Gregory: The Legacy of Pre-Revolutionary Economic Education: St. Petersburg Polytechnic Institute, in: Russian Review 31 (1972), S. 272-281; Gouzévitch, Irina et Dmitri: Les contacts francorusses dans le monde de l'enseignement supérieur technique et de P art de 1' ingénieur, in: Cahiers du monde russe et soviétique 34 (1993) 3, S. 345-368; Rieber, Alfred: The Rise of the Engineers in Russia, in: Cahiers du monde russe et soviétique 31 (1990) 4, S. 539-568; Lejkina-Svirskaja, V.R.: Intelligencija v Rossii vo vtoroj polovine XIX veka, Moskau 1971; Gumilevskij, Lev: Russkie inzenery, Moskau 21953; Satelen, M.A.: Russkie Élektrotechniki vtoroj poloviny XIX veka, Moskau Leningrad 1949. In der Sowjetunion wurde die Geschichte der alten Ingenieure oft nur am Rande in Technikgeschichten erwähnt, siehe Bel'kind, L.D. et al.: Istorija techniki, Moskau Leningrad 1956; Ocerki istorii techniki v Rossii (1861-1917), Moskau 1975; Razvitie techniki v SSSR (1917-1977), Moskau 1978; Danilevskij, V.V.: Tvorcestvo v technike ucenych i izobretatelej Rossii, in: Voprosy istorii otecestvennoj nauki. Obscee sobranie Akademii Nauk SSSR posvjascennoe istorii otecestvenoj nauki, 5.-11. Januar 1949, Moskau Leningrad 1949, S. 545-563; Cernysev, V.l.: Iz istorii razvitija techniki v pervye gody sovetskoj vlasti (1917-1927), Moskau 1962. Mit der alten technischen Intelligenz nach 1917 hat sich hauptsächlich S.A. Fedjukin beschäftigt: Fedjukin, S.A.: Sovetskaja vlast' i burzuaznye specialisty, Moskau 1965; ders.: Bor'ba za perevospitanie staroj techniceskoj intelligencii; ders.: Velikij Oktjabr' i intelligencija. 1z istorii vovlecenija staroj intelligencii v stroitel'stvo socializma, Moskau 1972; ders.: Bor'ba s burzuaznoj ideologiej v uslovijach perechoda k NËPu, Moskau 1977, ders.: Oktjabr'skaja revoljucija i intelligencija, in: Istorija SSSR 21 (1977) 5, S. 69-88; ders.: Nekotorye aspekty izucenija istorii sovetskoj intelligencii, in: Voprosy istorii 55 (1980) 9, S. 17-31, ders.: Partija i intelligencija, Moskau 1983; Filippov, N.G.: Naucno-techniceskie obscestva dorevoljucionnoj Rossii, in: Voprosy

50

Der alte

Ingenieur

(1672-1725) hatte die Vision eines auf Technik gegründeten Rußlands, das aufgrund von florierendem Bergbau, mächtigen Schiffswerften und einem das Land erschließenden Kanalsystem prosperieren würde. Die von ihm 1701 gegründete erste Schule für Mathematik und Navigation sowie die 1712 eingerichtete Ingenieurs- und Artillerieschule wurde von britischen Ingenieuren und Mathematikern aufgebaut und betreut.2 1773 richtete dann Katharina II. die erste BergbauAkademie ein, bevor die Expansion der Ingenieursausbildung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Anleitung und Einfluß von französischen Fachleuten geschah, die 1809 das Institut für Verkehrswege nach Bereits Peter I.

dem Muster des französischen Ecole national des ponts et chaussées aufbauten.3 Auch das für die russisch-sowjetische (Ingenieurs-) Geschichte wohl bedeutendste Institut, das Technologische Institut in St. Petersburg, von seinen Absolventen liebevoll technolozka genannt, und die Moskauer Ingenieursschmiede, die Technikerakademie (Moskovskoe techniceskoe ucilisce, später umbenannt in Moskovskoe vyssee techniceskoe ucilisce, MVTU, in der Sowjetunion Bauman-Institut, Institut imeni Baumana, genannt), wurden 1831 bzw. 1832 unter dem Einfluß von französischen Gelehrten gegründet.4 Die nur zögernd beginnende Formierung einer technischen Berufsgruppe stand in engem Zusammenhang mit der in Rußland nur langsam voranschreitenden industriellen Revolution.5 Rußland war und blieb ein agrarisch geprägtes Land, das einer breiten Ingenieursschicht nicht bedurfte, so daß die technische Ausbildung bis 1860 eher einen „experimentellen Charakter" behielt.6 Es entstand zunächst kein bürgerlicher Berufsstand, sondern eine weitere Spielart des wohlgeborenen Dienstmannes des Zaren. Die Ingenieursausbildung bereitete nicht auf technische Arbeit, sondern auf den Dienst im Ministerium vor: Bis 1860 wurden Ingenieure

istorii 60 (1985) 3, S. 31-45; Ul'yanova, Galina: Engineers in the Russian Empire, in: Charles McCleeland et al. (Hg.): Professionen im modernen Osteuropa. Professions in Modem Eastern Europe. Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 207, Berlin 1995, S. 335-366. 2 Armytage, W.H.G.: A Social History of Engineering, London 1961, S. 283f; Prokofev, V.l.: Moskovskoe vyssee techniceskoe ucilisce 125 let, Moskau 1955, S. 5. 3

4

5

Timoshenko, Engineering Education, S. 1. Bailes, Technology and Society, S. 25.

Zur russischen Rückständigkeit siehe auch: Gershenkron, Alexander: Economic Backwardin Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge 1966; Blackwell, William L.: The Beginnings of Russian Industrialization 1800-1860, Princeton, N.J., 1968; Mc Kay, John P.: Pioneers for Profit. Foreign Entrepreneurship and Russian Industrialization 1885-1913, Chicago, London 1970; Gindin, I.F.: Russkaja burzuazija v period kapitalizma, ee razvitie i osobennosti, in: Istorija SSSR 7 (1963) 2 und 3, S. 57- 80 und S. 37-60. 6 Blackwell, The Beginnings, S. 374; vgl. auch Späth, Standesvereinigungen, S. 343. ness

Entwicklung eines Berufsstandes

51

ausschließlich für die Beamtenlaufbahn ausgebildet,7 während die Arbeit in der Praxis als niedere Aufgabe verachtet wurde.8 Adelsfamilien mißbrauchten die Ingenieursinstitute, um dort ihren Sprößlingen durch die dort engagierten Tanz- und Fechtmeister den letzten gesellschaftlichen Schliff geben zu lassen.9 Nachdem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur einige hundert Ingenieure ausgebildet worden waren,10 begann nach dem Krimkrieg und der Bildungsreform der 1860er Jahre eine breitere Ausbildung von Ingenieuren." Die Institute wurden für alle Schichten geöffnet, wenn auch oft ein Drittel der Studienplätze für Ingenieurssöhne und Adlige reserviert blieb und Juden nur drei Prozent der Studenten stellen durften.12 Frauen wurde erst (im weltweiten Vergleich: bereits) ab 1906 die Möglichkeit geschaffen, eine technische Hochschulbildung zu erhalten, als in St. Petersburg das erste Polytechnische Institut für Frauen gegründet wurde.13 Der Ingenieursberuf wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Profession, die sozialen Aufstieg verhieß und viele junge Männer aus armen Verhältnissen anlockte. Mit einem Anfangsgehalt von rund 75 Rubeln, 475 Rubeln für Ingenieure in leitenden Positionen und 1 000 Rubel für Abteilungsleiter lag die Entlohnung weit über den 25 Rubeln, die z.B. ein Vorarbeiter verdiente.14 Stammte 1894 noch fast die Hälfte der Studierenden an Petersburger technischen Instituten aus dem Adel und dem Beamtentum, waren es 1919 nur noch ein gutes Drittel, während sich der Anteil der Rasnotschinzen genau gegenteilig entwickelte.15 V.a. um die Jahrhundertwende kam es zu einem rapiden Anstieg der Studierwilligen, so daß im Jahr 1894 von 2 647 Bewerber für sieben Institute nur 608 zugelassen werden konnten.16 7

Balzer, Educating Engineers, S. 453; Rieber, The Rise, S. 563. Bailes, Technology and Society, S. 26. 9 The Rise, S. 545. Rieber, 10 Bailes, Technology and Society, S. 30. " Graham, Science in Russia, S. 37; Rieber, The Rise, S. 539. 12 8

Späth, Standesvereinigungen, S. 344. ersten russischen Ingenieurinnen siehe Bogomazova, Z.P. / Katcenelenbogen, T.D. / Puzyrevskaja, T.N. (Hg.): Pervye zensciny-inzenery, Leningrad 1967; siehe auch: RGAÈ, f. 342, Kollekcija dejatelej sel'skogo chozjajsrva, op. 1, d. 69: Belkova, E.N., 1. 4. Das Institut wurde 1924 wieder geschlossen, da es seit 1918 für Frauen möglich war, an allen Hochschulen zu studieren, siehe Buzinova-Dybovkaja, V.M.: U istokov, S. 132, in: Sdelaem Rossiju èlektriceskoj. Sbornik vospominanijj ucastnikov komissii GOÈLRO i stroitelej élektrostancü, Moskau, Leningrad 1961, S. 132-140. 14 Bailes, Technology and Society, S. 37; Späth, Standesvereinigungen, S. 359, 447. 15 Späth, Standesvereinigungen, S. 449. 16 Schlögel, Karl: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. St. Petersburg 1909-1921, Berlin 1988, S. 106; Guroff, Legacy, S. 275; Lejkina-Svirskaja, Intelligencija, S. 113. 13

Zu den

52

Der alte

Ingenieur

Abb. 1: Professor Boris Ivanovic Ugrimov (1872-1941) in den 1910er Jahren mit der Schirmmütze des Ingenieurs, dem Erkennungsmerkmal der alten Zunft. Darauf gut erkennbar das Ingenieurszeichen: Hammer und Schlegel gekreuzt, das Zeichen des Handelsgottes Merkur. Quelle: RGAÈJ. 228, op. 1, d. 179, l. 8.

Entwicklung eines Berufsstandes

53

Die jungen Männer brachten aber noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft keine ausreichende Vorbildung mit, da es kaum allgemeinbildende Schulen, geschweige denn einen allgemeinverbindlichen Schulabschluß wie das Abitur gab.17 Angesichts der Ausrichtung des Studiums an der Beamtenlaufbahn war das Studium sehr theorielastig und hatte kaum Praxisbezug. Viele Professoren hatten selbst nie auf einer Baustelle, in einer Fabrik oder an einer Eisenbahntrasse gearbeitet. Die Studenten verachteten die unfähigen Bürokraten in den Ministerien als „Nichtsnutze", wohlwissend, daß auch ihnen nach Abschluß des Studiums kaum ein anderer Weg ins Berufsleben offenstehen würde.18 Für diejenigen angehenden Ingenieure, die auch die Praxis kennenlernen wollten, gab es große Probleme, denn bei den Unternehmern waren die Ingenieursstudenten als ungeschickte, unbrauchbare „Weißhändchen" (belorucki) verschrieen.'9 Das Problem der mangelhaften praktischen Ausbildung wurde so virulent, daß die Ingenieursgesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Kongresse zum Thema Berufsausbildung abhielten.20 Eine Antwort auf den fehlenden Praxisbezug war die Gründung der Polytechnischen Institute in St. Petersburg, Tomsk, Novocerkask, Kiew und Warschau um die Jahrhundertwende.21 Angesichts der mangelhaften heimischen Ingenieursausbildung studierten viele Techniker im Ausland oder ließen sich zumindest ihren letzten Schliff an der Kaiserlichen Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg oder an der Technischen Hochschule in Brüssel geben.22 Die Brüder Boris (1872-1941) und Aleksandr Ivanovic Ugrimov (* 1874), die beide in den zwanziger Jahren an der Elektrifizierung Rußlands mitarbeiteten, studierten Ende des 19. Jahrhunderts in Karlsruhe bzw. Freiburg Elektrotechnik und Agrarwissenschaft.23 Der In-

genieur

Aleksandr Pavlovic Serebrovskij (1884-1937), der unter Stalin die Goldindustrie führte, schloß 1911 die Technische Hochschule in Brüssel ab.24 Nikolaj Fedorovic Banin (1877-1954), Ingenieur für Wärmetechnik, der in den zwanziger Jahren auf den ersten Kraftwerken an den Flüssen Satura und Kasira arbeitete, studierte im Jahr 1900 in Charlottenburg.25 Nach dem Studium, das wegen finanzieller Probleme statt der vorgesehenen fünf bzw. sechs oft acht bis neun Jahre dauerte,26 fan17

Rieber, The Rise, S. 542. Bailes, Technology and Society, S. 30, 35. 19 Späth, Standesvereinigungen, S. 353. 20 Späth, Standesvereinigungen, S. 355. 21 Guroff, Legacy, S. 274ff. 22 Armytage, Engineering, S. 284; Blackwell, The Beginnings, S. 354. 25 Ugrimov, A.I.: Moj put' i rabota v GOÈLRO, S. 84, in: Sdelaem Rossiju, S. 83-93. 24 RGAÉ, f. 270, Serebrovskij, A.P., op. 1, d. 2, 1. 1. 25 RGAÉ, f. 89, Banin, Nikolaj Fedorovic, op. 1, d. 1,1. 123f., 131. 26 Ul'yanova, Engineers, S. 338. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielten nur acht Prozent ein Stipendium, 13 Prozent unterhielten sich selbst und 51 Prozent wurden von Verwandten 18

54

Der alte

Ingenieur

den die Absolventen keineswegs immer gleich einen gut dotierten Posten, da es entsprechend der Konjunktur der industriellen Entwicklung in Rußland immer wieder Ingenieursarbeitslosigkeit gab,27 v.a. nach dem Abflauen des Eisenbahnbaus in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende.28 In Moskau lag die Zahl der arbeitslosen Absolventen 1910 bei 20 Prozent.29 Der Ingenieur Stankov klärte einen jüngeren Kollegen über die Lage des russischen Ingenieurs auf: „(...) die russische Fabrik (...) benötigt keine Ingenieure. Der ausländische Meister und der ehemalige russische Lehrling sind die wahren Autokraten in der Fabrik; ein russischer Ingenieur hat da fürs erste noch nichts zu suchen."30 Angesichts des nur schwach entwickelten russischen Unternehmertums waren es ausländische Firmen, in deren Händen sich die meisten Fabriken, Gruben und Elektrizitätswerke befanden und über die Ingenieursposten verfügten." Die Ingenieurin Valentina Michajlovna Buzinova (*1889), die nach der Revolution an der Planung des Staudammbaus am Dnjepr Dneprostroj beteiligt war, sammelte 1913 Daten für ihre Diplomarbeit in der Fabrik „Westinghouse" und arbeitete nach Studienabschluß in dem Kontor der deutschen Aktiengesellschaft „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG)" in Petersburg.32 Der Ingenieur Dmitrij Ivanovic Bondarevskij (1892-1979) fand 1911 bei Siemens-Schuckert Arbeit bei der Montage von Stromnetzen.33 Da die Ingenieursstellen sehr knapp gesät und viele von ausländischen Spezialisten besetzt waren, kam es nicht selten vor, daß russische Ingenieure im Ausland nach Arbeit suchten. Zwar waren viele Firmen bemüht, ihr Personal zu „russifizieren", aber in den Schlüsselfunktionen blieben meist Ausländer, während den russischen Ingenieuren nur die niederen technischen Positionen offen standen.34 Als „Zuarbeiter" der Ausländer bezeichnet Karl Schlögel die

unterstützt. 60 Prozent hatten nicht mehr als 40 Rubel

and Society, S. 30. 27

zur

Verfügung, vgl. Bailes, Technology

Späth, Standesvereinigungen, S. 75. Balzer, Educating Engineers, S. 453. Zu dieser Zeit, 1897, wurde eine Volkszählung durchgeführt, die 4 006 Ingenieure für das ganze Reich feststellte. Allerdings ist davon auszugehen, daß sich in anderen Kategorien wie „Angestellte" und „Beamte" weitere Ingenieuren versteckten, vgl. Lejkina-Svirskaja, Intelligencija, S. 130. Bailes gibt für 1897 12 000 Ingenieure an, Bailes, Technology and Society, S. 30. Ul'yanova spricht von insgesamt 30 420 Ingenieuren zwischen 1860 und 1917, Ul'yanova, Engineers, S. 356. 29 Späth, Standesvereinigungen, S. 258, 345ff. Ul'yanova stellt allerdings das große Ausmaß von Arbeitslosigkeit unter Ingenieuren in Frage, Ul'yanova, Engineers, S. 363f. 30 Zitiert nach Späth, Standesvereinigungen, S. 279. 31 Satelen, Russkie Èlektrotechniki, S. 336. 32 RGAÈ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ènergetiki, op. 1, d. 5, I. 8, 13. 33 archiv, f. 402, Bondarevskij, Dmitrij Ivanovic, ohne opis', I. 29. Narodnyj 34 Lejkina-Svirskaja, Intelligencija, S. 120.

28

55

Entwicklung eines Berufsstandes

russischen Ingenieure, denen eigene Forschungs- und Entwicklungsvorhaben verwehrt blieben.35 Derart wurden russische Ingenieure, die sich für die Praxis entschieden hatten, oft frustriert. Die Zaren und ihre Regierungen sprachen sich meist gegen die Realisierung großer Ingenieursprojekte aus, so daß vom Mittelalter bis zum Jahr 1809 in Rußland nicht ein bedeutender Bau von Russen ausgeführt wurde: Alle Bauherren stammten aus dem Ausland.36 Erst im 19. Jahrhundert konnten wieder russische Ingenieure ihr Können unter Beweis stellen, als nach dem Projekt von S.L. Kerbedz (1810-1899) die Nikolaj-Brücke (1842-50) über die Neva entstand37 oder N.A. Beleljubskij (1845-1922) erstmals Holz- durch Metallbrücken auf der NikolajEisenbahnstrecke ersetzen ließ (1869-1881).38 Aber wichtige Neuerungen für die Entwicklung des Landes wurden weiterhin behindert: Stahlbeton bekam als Baustoff erst 1898 eine Zulassung,39 das 1903 vorgelegte Projekt für eine Moskauer Untergrundbahn von E.K. Knorre und P.I. Balinskij wurde als überflüssig abgelehnt,40 und der Ingenieur Genrich Osipovic Graftio (1896-1949) bekam gleich mehrere Absagen: Die von ihm geplanten Wasserkraftwerke am Volchov, am Kuoks und an der Narva sowie die Elektrifizierung der Bergstrecke der Kaukasus-Eisenbahnlinie wurden als nicht notwendig eingestuft.41 Der Ingenieur M.A. Satelen schreibt über seine Profession in der vorrevolutionären Zeit: „Vor der Oktoberrevolution konnten die russischen Elektrotechniker große Erfinder sein, große wissenschaftliche Entdeckungen machen und dennoch nichts bewirken. Ihre Gedanken umzusetzen, ihre Erfindungen anzuwenden, hatten sie im alten Rußland keine Möglichkeit."42 „Arbeit für die Schublade" nennt Karl Schlögel den Alltag der planenden und entwerfenden russischen Ingenieure, die sich in der „Warteschleife" befanden und den Tag herbeisehnten, an dem ihnen endlich die Chance gegeben würde, ihre Visionen umzusetzen.43

Das in der vorrevolutionären Gesellschaft vorherrschende Bild

vom

In-

genieur prägten aber nicht die drei Viertel aller Ingenieure, die vor dem Ersten Weltkrieg in der Praxis tätig waren,44 sondern diejenigen Institutsabgänger, die die Beamtenlaufbahn einschlugen. Angesichts der theorielastigen Ausbildung, die mehr Staatsdiener als Ingenieure hervor35

Schlögel, Jenseits des Großen Oktober, S. 295. Rieber, The Rise, S. 540. 37 Timoshenko, Engineering Education, S. 3f. 38 Ocerki istorii techniki, S. 20/21. 39 Ocerki istorii techniki, S. 239. 40 Ocerki istorii techniki, S. 122/123. 41 Iz istorii razvitija techniki, S. 15; Ocerki istorii techniki, S. 44. Cernysev, 42 Satelen, Russkie èlektrotechniki, S. 367. 43 Schlögel, Jenseits des Großen Oktober, S. 294. 36

44

Ul'yanova, Engineers, S.

358.

56

Der alte

Ingenieur

brachte, galt in der Gesellschaft der Ingenieur als die Inkarnation des Be-

Müßiggängers, der Korruption und des Eigennutzes, der InVerantwortungslosigkeit. Tatsächlich war in den Ministekompetenz rien Bestechung gang und gäbe, so daß es zur Regel gehörte, daß Ingenieure gegen Schmiergeld technisch mangelhafte Geräte abnahmen, Eisenbahntrassen verlegten und Fahrpläne änderten.45 Zahlreiche Unfälle, die das Resultat schlampiger Konstruktionsarbeit waren, und Korruptionsskandale brachten die Ingenieure zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr aus den Schlagzeilen der Zeitungen und Zeitschriften heraus. Das Problem des schlechten Rufes wurde so virulent, daß sich Ingenieure schließlich mit der eigenen Berufsethik auf einer Reihe von Kongressen zwischen 1908 und 1912 beschäftigten, auf denen sie das geringe Prestige ihrer Profession im Gegensatz zu dem Ansehen der Ärzte und Juristen beklagten.46 Technische Spezialisten genossen eher den Status eines notwendigen Übels als den des Neuerers und Boten des Fortschritts, als die amten

und

und

sie sich selbst gern sahen. Ihr Verhältnis zu den Arbeitern war besonders konfliktbeladen. Arbeiter sahen in Ingenieuren ihre Ausbeuter und Peiniger und unterschieden nicht zwischen Fabrikherr und technischem Personal, während letztere sich eher als ausführende Kraft fühlten und nicht mit den Arbeitgebern gleichgesetzt werden wollten. Zusätzlich wurden Mißgunst und Neid auf Seiten der Arbeiter durch den enormen Gehaltsunterschied hervorgerufen. Die Arbeiter hielten Ingenieure für gottlose Menschen, die sich nicht dem gemeinsamen Glauben unterwarfen, sondern eigene, unverständliche Wege gingen. Symptomatisch ist wohl der Fall des Ingenieurstudenten N.A. Subin (*1880), der im November 1904 fast von Arbeitern gelyncht worden wäre, weil Studenten angeblich bei einer Demonstration Ikonen zertreten hatten.47 Den Ingenieuren erschienen ihrerseits vielfach die Arbeiter suspekt, die einem für sie seltsamen Brauchtum und Aberglauben anhingen. Derart war die kulturelle Kluft zwischen den studierten Spezialisten und den ungelernten Saisonarbeitern kaum zu überbrücken und vertiefte sich eher mit der Zeit.48 Auch im Bereich der politischen Anschauungen und Betätigungen gab es kaum Übereinstimmungen. Das Interesse von Ingenieursseite an den Belangen der Arbeiter war relativ gering. Ein Großteil der Ingenieure zog es vor, die hoch politische Arbeiterfrage als betriebswirtschaftliches Problem zu lösen.49 Sie hielten ihre Untergebenen für Faulpelze und Nichtsnutze, die unverdient viele 45

Späth, Standesvereinigungen, S. 365ff. Späth, Standesvereinigungen, S. 264ff., 396. 47 46

48 49

RGAÉ, f. 94, Subin, N.A., op. 1, d. 82: Polveka na transporte, 1967, 1. Bailes, Technology and Society, S. 37. Späth, Standesvereinigungen, S.

314.

15.

57

Entwicklung eines Berufsstandes

Feiertage genossen und für die auf gar keinen Fall Erleichterungen wie ein Achtstundentag eingeführt werden dürften.50 Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Ingenieuren war von gegenseitigem Mißtrauen gekennzeichnet, das v.a. auf Arbeiterseite schnell in Haß umschlug. Ingenieure fühlten sich zwischen den Arbeitern auf der einen Seite und den Fabrikdirektoren auf der anderen Seite oft wie zwischen Hammer und Amboß.51

b) Technokratie versus Revolution Während die Bevölkerung im allgemeinen und die Arbeiter im besondeden Ingenieur beargwöhnten, hielten sich viele der Techniker berufen, die Gesellschaft zu Wohlstand und das Land zum Blühen zu bringen. „Die Ingenieure müssen nicht nur Mittler materieller Kultur sein, sondern auch Beispiel gesellschaftlicher Solidarität und sittlicher Schönheit geben. Weder der Arzt noch der Jurist noch ein anderes Mitglied der berufstätigen Intelligenzija vermag durch seine unmittelbare materielle Arbeit soviel Nutren

für die Massen und die Gesellschaft

oder Schaden

zen

Ingenieur",2 -

zu

stiften wie der

-

hob der Ingenieur I. Russak 1913 die Besonderheit seines Berufsstands hervor. Auch der Ingenieur V.L. Kirpicev sah sich und seinen Kollegen eine besondere Rolle zukommen: „Das goldene Zeitalter liegt in der Zukunft. Wir werden es auf dem Weg der technischen Verbesserung und Erneuerung erreichen. Anleiten, führen, den Weg weisen werden uns die Ingenieure."53 Diese Vorstellung, daß der Ingenieur durch seine technischen Kenntnisse auserwählt sei, die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen, war unter russischen Ingenieuren weit verbreitet.54 Das technokratische Gedankengut, die Idee, die Techniker seien auserkoren, die Geschicke eines Landes zu leiten, kam mit den Anhängern des Franzosen Claude Henry de Rouvroy Graf von Saint Simon (1760-1825), die in Rußland die Ingenieursausbildung aufbauten, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Rußland, wo sie dessen auf Wissenschaft und Technik gegründete sozialistische Utopie, niedergelegt in den drei Heften „Catéchisme des industriels" (1823/24), verbreiteten.55 Der Kreis der russischen Saint Simonisten feierte den Ingenieur als Befreier der Menschheit, der mit der Einführung der Eisenbahn die Menschen zu einem Volk mit einer ge50

Späth, Standesvereinigungen, S. 332. Schlögel, Jenseits des Großen Oktober, S. 313. 52 Zitat nach Späth, Standesvereinigungen, S. 337. 53 Zitat nach Balzer, Educating Engineers, S. 441. 54 Manfred Späth nimmt dagegen an, daß das Gros 51

der chen Idealen, als an materiellen Werten interessiert war, 55 Timoshenko, Engineering Education, S. 2/3.

Ingenieure weniger an gesellschaftliSpäth, Standesvereinigungen, S. 339.

58

Der alte

Ingenieur

Sprache vereinen würde.56 Ivan Alekseevic Vysnegradskij (1831-1895), Technokrat und Direktor des technolozka von 1875 bis 1879, sorgte dafür, daß das Saint Simonistische Gedankengut mit den Studieninhalten verschmolz und zur Grundlage des Bewußtseins vieler Ingenieure wurde, ohne daß sich diese unbedingt als dezidierte Technokraten bezeichnet hätten.57 Die erste, 1866 gegründete „Russische Technische Gesellschaft", später als „Kaiserlich" ausgezeichnet ((Impera-

meinsamen

torskoe) Russkoe techniceskoe obscetvo, (I)RTO), war ebenfalls stark technokratisch ausgerichtet.58 Der Glaube, mit der Ausübung des eigenen Berufs am besten die Welt verändern zu können, war für das Gros der russischen Ingenieure typisch: Sie träumten davon, endlich bedeutende Werke zu schaffen, große Erfindungen umzusetzen und ihre Umwelt damit zu verändern, und vermieden es, sich mit Politik zu befassen. Sie strebten nach beruflicher Autonomie und wollten selbst entscheiden, wie das Land industrialisiert werden sollte. Alle anderen Probleme der gesellschaftlichen Ordnung interessierten sie nur in zweiter Linie oder glaubten sie zusammen mit den technischen Problemen lösen zu können.59 Dennoch gab es eine Reihe von Ingenieuren, die sich aktiv an der Revolution von 1905 beteiligten. Im „Manifest der 198 Ingenieure", das Sergej Vitte überreicht wurde, beschuldigten Techniker die zarische Regierung, für den Blutsonntag am 9.1.1905 verantwortlich zu sein.60 Das Zentrum der Revolution lag in den Instituten, in denen schon seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder die Studenten aufbegehrten.61 Die Hochburg der Revolutionäre war das technolozka, an dem Studenten eine geheime marxistische Bibliothek unterhielten.62 Der politischen Bewegung der Ingenieure bereitete die Regierung ein schnelles Ende: Im April 56

Rieber, The Rise, S. 552. Rieber, The Rise, S. 563. 58 Balzer, Educating Engineers, S. 135. Der RTO folgte 1878 die Polytechnische Gesellschaft Politechniceskoe obscesvto (PO), 1884 die Gesellschaft der Technologen Obscestvo technologov (OT), 1896 die Vereinigung der Ingenieure der Verkehrswege Sobranie inzenerov putej 57

1904 die Allrussische Union der Ingenieure und Techniker Vserossijkij inzenerov i technikov (VSIIT) und 1908 der Kreis der Moskauer Technologen Kruzok Technologov Moskovskogo Rajona (KTMR), um nur einige zu nennen. Sowohl die PO (Technolozka), als auch die OT (MVTU) und die SIPS (Institut inzenerov putej soobscenija) wurden an Instituten als Selbsthilfeorganisationen gegründet, um u.a. ein Netzwerk zu bilden, das den eigenen Studenten und Abgängern im Notfall sowie bei der Praktikums- und Arbeitsuche helfen sollte. Gleichzeitig war immer auch Ziel, die Wissenschaft und Technik zu fördern, Vorträge zu organisieren und eine eigene Zeitschrift herauszugeben sowie Ingenieure und Fabrikanten zusammenzubringen. Vgl. Späth, Standesvereinigungen, S. lOlff., 142ff., 159ff, 168ff., 182, 196. 59 Rieber, The Rise, S. 563. 60 Erman, Lev Konstantinovic: Intelligencija v pervoj ruskoj revoljucii, Moskau 1966, S. 87. 61 Prokof ev, Moskovskoe vysäee techniceskoe ucilisöe, S. 100. 62 Späth, Standesvereinigungen, S. 383.

soobscenija (SIPS), sojuz

Entwicklung eines Berufsstandes

59

1905 löste die Regierung den gesamtrussischen Kongreß der Ingenieure und Techniker in Petersburg auf und begann sofort nach dem Zusammenschluß verschiedener professioneller Organisationen zum „Verband der Verbände" (Sojuz sojuzov) im Mai 1905 mit Verhaftungen unter den Ingenieuren.63 Mehrere Technische Institute wurden für einige Monate oder sogar Jahre geschlossen.64 Viele Ingenieure wurden wegen mangelnder politischer Vertrauenswürdigkeit aus dem Staatsdienst entlassen und verdingten sich u.a. als Hausmeister.65 Einige flohen ins Ausland und kehrten 1913, als der Zar zur 300-Jahr-Feier der Romanov-Dynastie eine Amnestie erließ, oder erst mit der Revolution 1917 zurück.66 Die ohnehin eher unpolitischen Ingenieure waren nach der Niederschlagung der Revolution erst recht verunsichert und wollten mit der Politik nichts mehr zu tun haben, so Manfred Späth und Karl Schlögel.67 In den folgenden Jahren wurde mehrmals der Versuch gemacht, die Ingenieursvereinigungen endlich unter einem Dach zu einen, der aber immer wieder an der Angst einzelner Organisationen, den eigenen Einfluß zu verlieren, und auch an der im Land herrschenden Reaktion scheiterte. Der endlich einberufene und genehmigte Gründungskongreß im Herbst 1914 konnte wegen des Kriegsausbruchs nicht stattfinden.68 Während die Ingenieure ungeeint blieben, brachte ihnen der Erste Weltkrieg eine Aufwertung. Wieder war es der Ausnahmezustand, der die zarische Regierung die industrielle Rückständigkeit des Landes bzw. die Abhängigkeit vom Ausland spüren ließ, in dessen Händen sich bis zu 90 Prozent der Fabriken einer Branche befanden.69 Um die Produktionsmittel zu konzentrieren, einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu vermeiden und eine bestmögliche Versorgung der Armee zu gewährleisten, wurde 1915 von der Regierung an der Akademie der Wissenschaften die Commission zur Erforschung der natürlichen Produktivkräfte" (Ko-

missija po izuceniju estestvennych proizvodstvennych sil, KEPS) gegründet, deren Leitung in die Hände von Wissenschaftlern und Ingenieuren

V.l. Vernadskij gelegt wurde.70 Auch westliche Regierungen gaben während des Ersten Weltkriegs die Verantwortung für die Industrie an Technische Räte ab.71 Diese Entwicklung gab der Technokratie weltweit unter

63 64

Späth, Standesvereinigungen, S.

186.

Zenzinov, N.A.: Kumir studencestva, S. 12, in: ders. (Hg.): Pavel Apollonovié Velichov, i celovek, Moskau 1994, S. 6-31; RGAÈ, f. 94, Subin N.A., op. 1, d. 82,1. 9. uíenyj 65 Späth, Standesvereinigungen, S. 357; RGAÈ, f. 108, Malinovskij, P.P., op. 1, d. 93, I. 26. 66

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 41. Späth, Standesvereinigungen, S. 196; Schlögel, Jenseits des Großen Oktober, S. 299. 68 Späth, Standesvereinigungen, S. 393ff. 69 Garaevskaja, Pal'íinskij, S. 49. 70 iz istorii razvitija techniki, S. 21. Cernysev, 71 Graham, Loren R.: Science in Russia and the Soviet Union. A Short History, Cambridge 67

1993, S. 160.

60

Der alte

Ingenieur

einen erneuten Aufschwung.72 Die russischen Ingenieure waren endlich in ihrem Element: Sie planten und leiteten selbständig, ohne sich mit Politik befassen zu müssen. So blieb aus der Zarenzeit v.a. die Vorstellung von dem Ingenieur als unpolitischem Menschen, der Arbeiter ausbeutete, selbst nur dilettierte und ein Schreibtischtäter war, der keine Ahnung von der Praxis hatte. Die Ingenieure selbst litten unter dieser Unterschätzung sowie der ständigen Unterordnung unter die ausländischen Spezialisten und Unternehmer und träumten von einer Zeit, in der sie die Geschicke der Wirtschaft und Industrie leiten würden.

c) Biographien vor 1917 Um einen Eindruck von den Ingenieuren zu geben, die das Zarenreich hervorbrachte, sollen hier wenige exponierte Ingenieure vorgestellt werden. Eine herausragende und zugleich tragische Figur ist der Bergbauingenieur Petr Akimovic Pal'cinskij (1875-1929). Pal'cinskij war einer der Ingenieure, die das Ingenieursstudium als Chance begriffen, der Armut zu entkommen. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Kazan' auf, nachdem sein Vater die Mutter und die fünf Kinder verlassen hatte. Um so härter traf es ihn, als er 1892 durch die Aufnahmeprüfungen des Petersburger Bergbauinstituts fiel und ein Jahr mit Nachhilfestunden überbrücken mußte.73 Trotz seiner materiellen Not strebte er nicht in erster Linie eine Versorgungsstelle an; vielmehr machte er sich zum Ziel, Rußland zu entwickeln. Er war einer derjenigen Studenten, die sich selbständig ein Praktikum suchten: Er arbeitete in Frankreich im Steinkohleabbau und in Turkestan bei der Erforschung von Brennstoffen. Nach Beendigung des Studiums im Jahr 1899 lehnte Pal'cinskij die ihm angebotene Forschungsstelle im Bergbauinstitut ab, um sich der Praxis zuzuwenden und sein Land „zum Blühen" zu bringen.74 Er bekam vom Ministerium den Auftrag, die Arbeitsbedingungen im Donbass zu untersuchen, und ließ sich kurz darauf in Sibirien mit einem eigenen Unternehmen nieder. Pal'cinskij war einer der wenigen Ingenieure, die sich ernsthaft der Arbeiterbelange annahmen. In Sibirien richtete er eine Sonntagsschule für Arbeiter ein und organisierte Unterricht für deren Kinder. Wie so vielen anderen war auch ihm die ausländische Dominanz ein Dorn im Auge war,

72

Vgl. Willeke, Stefan: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland Weltkriegen: eine vergleichende Analyse, Frankfurt am Main u.a. 1995. 73 Pal'cinskij, S. 1 Iff. Garaevskaja, 74 Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 16ff.

schen den

zwi-

Entwicklung eines Berufsstandes

61

62

Der alte

Ingenieur

auf seine 1906 in Sibirien gegründete Genossenschaft „Bel'cirZablagrask-Gruben des Bergbauingenieurs Pal'cinskij und Co." (Bel'cirZablagraskie rudniki gornogo inzenera Pal 'cinskogo i Ko), in der russische Ingenieure die sibirische Kohleindustrie mit russischen Mitteln entwickelten, besonders stolz war. Er äußerte sich auch öffentlich zur russischen Ingenieursausbildung und forderte 1907 als einer der ersten, Wirtschaft als reguläres Fach an allen Ingenieursinstituten einzuführen.75 Politisch fühlte sich Pal'cinskij von den Anarchisten um Kropotkin und Bakunin, angezogen und sympathisierte mit den Sozialrevolutionären.76 Während des Studiums blieb er trotz seiner Teilnahme an den Studentenunruhen 1899 unbehelligt, war aber 1905 mit für die Ausrufung der Demokratischen Republik Irkutsk in Sibirien verantwortlich, wo er sich zum Sekretär des Angestellten- und Arbeitersowjets der Stadtverwaltung, des Eisenbahndepots und der Eisenbahnstation wählen ließ.77 1906 wurde Pal'cinskij als einer der Anführer der sibirischen Demokratie verhaftet, bald darauf wieder freigelassen, unter Polizeiaufsicht gestellt und kurze Zeit später nach St. Petersburg verbannt. Als ihm ein Prozeß und Haftstrafe drohten, floh er ins Ausland. Während seiner Zeit im Exil vertrat er den Rat der Kongresse der Bergleute Südrußlands in Frankreich und 1911 auf der Industriemesse in Turin, studierte das deutsche Arbeiterversicherungswesen und westeuropäische Hafenanlagen, um später Hafenprojekte am Schwarzen Meer zu entwerfen.78 1913 infolge der Amnestie nach Rußland zurückgekehrt, sah er seine Stunde gekommen, als die zarische Regierung die KEPS einrichtete. Als Vorsitzender der IRTO gründete er ein eigenes Komitee für kriegstechnische Hilfe (Komitet po voennotechnlceskoj pomosci, KVTP), das während des Krieges drei Kongresse veranstaltete. Auch in dem im Mai 1915 von der Duma ins Leben gerufenen Kriegs-technischen Komitee (Voenno-promyslennyj komitet, VPK) zur Versorgung von Armee und Flotte, arbeitete Pal'cinskij in leitender Position mit.79 1916 gründete er ein „Institut zur Erforschung der Oberfläche und Tiefe des Bodens" (Institut poverchnosti i nedra zemli) und begann, eine eigene Zeitschrift herauszugeben.80 Pal'cinskij war einer der Männer, die der Ingenieursberuf aus der Armut herausgeholt hatte, die sich aber keineswegs auf gutdotierten Posten ausruhen wollten, sondern die Vorstellung hatten, mit ihrem Wissen das Land zu entwickeln. Er war kein sozialistischer Revolutionär, sondern versuchte in erster Linie, dort anzupacken und den Menschen zu helfen, wo er es konnte. Er war überso

75 76 77

78

daß

er

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 27f., 45. Graham, The Ghost, S. 10, 12. Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 17, 25.

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 26ff. Garevskaja, Pal'cinskij, S. 50ff. 80 79

Graham, The Ghost, S. 20.

Entwicklung eines Berufsstandes

63

zeugt von der großen Rolle, die Ingenieure bei der Umstrukturierung der

Gesellschaft spielen würden, und fühlte sich in dieser Ansicht durch die Gründung der KEPS bestätigt. Der Weg Ivan Pavlovic Bardins (1883-1964) unterscheidet sich kaum von dem Pal'cinskijs, und doch gehört er im Unterschied zu letzterem zu denjenigen alten Ingenieuren, welche die Kulturrevolution überlebten. Bardin wuchs in dem Dorf Sirokij ustup im Altarskij Landkreis im Gouvernement Saratow in einfachen Verhältnissen auf. Der Vater arbeitete mal als Lastenträger, mal als Schneider, mal als Stadtbeleuchter in Saratow. Seine Schulbildung und sein Ingenieursstudium mußte Bardin sich gegen den Widerstand seiner Eltern angesichts ihrer Geldnot hart erkämpfen. Schließlich besuchte er von 1903 bis 1910 erst das Landwirtschaftsinstitut in Novo-Aleksandrijsk und endlich das Kiewer Polytechnische Institut.81 Wie Pal'cinskij war Bardin ein Mann der Praxis, der während seines Studiums in allen großen Metallfabriken Rußlands arbeitete, darunter in den Fabriken in Juzovka, Kramatorsk und Mariupol'.82 Im Gegensatz zu Pal'cinskij, der 1899 sofort eine Arbeit fand, beendete Bardin sein Studium in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Er fand zunächst nur eine Anstellung auf der Messe für landwirtschaftliche Maschinen in Ekaterinoslav, wo er von einem amerikanischen Aussteller in die USA eingeladen wurde. Dort wurde er als Arbeiter er in verschiedenen Metallwerken eingesetzt, unter anderem in der weltweit größten Metallhütte bei Chicago, „Gary", die das Vorbild für die sowjetischen Stahlgiganten werden sollte. Auch nach seiner Rückkehr 1911 gelangte er erst nach einer Tätigkeit als Zeichner auf die ersehnte Stelle in der Hochofenzeche. 1916 stieg er in dem von Belgiern geleiteten Metall werk in Enakievo zum Zechenleiter auf: „Ein Traum ging in Erfüllung. Ich hatte die Hochofenzeche der zweitgrößten Fabrik und damit 2 000 Arbeiter unter mir."83 Bardin wurde enger Mitarbeiter des größten Hochofenspezialisten Rußlands, Michail Konstantinovic Kurako (1872-1920), der 1917 den Auftrag bekam, die Pläne für das Metallkombinat Kuzneckstroj auszuarbeiten. Bardin beschreibt sich keineswegs als dezidierter Bolschewik. Seinen Institutsausschluß 1904 begründete er nicht mit seinem politischen Kampf, sondern als Ritual: „Eine ungeschriebene Regel war es, mindestens ein oder zwei Jahre aus dem Institut aus politischen Gründen ausgeschlossen gewesen zu sein. Einfach so das Institut abzuschließen, galt als schlechter Ton; das wurde zur Tradition. Auch ich zollte dieser Tradition meinen Tribut."84 81

Bardin, LP.: Vospominanija, in: ders.: Izbrannye trudy, Bd. 2, Moskau 1968, S. 7ff. Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 26f. Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 37ff. 84 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 15. 82 83

Der alte

64

Ingenieur

ein begeisterter Ingenieur und Patriot, der sich danach sehnte, den Ausländern die Herrschaft über die russischen Fabriken zu entreißen. Neben Männern wie Pal'cinskij und Bardin gab es vor 1917 Gruppierungen von bolschewistischen Ingenieuren, die sich bereits früh vernetzten und gegenseitig unterstützten. Am technolozka entstand Ende des 19. Jahrhunderts einer dieser Kreise um die Ingenieursstudenten I.I. Radcenko (1874-1942), G.M. Krzizanovskij (1872-1959), V.V. Starkov sowie die Brüder Leonid (1870-1926) und German Borisovic Krasin (18711947).85 Sie trafen bereits 1893 mit Lenin zusammen und waren nach 1917 Autoren und Hauptakteure des Elektrifizierungsplans GOÉLRO. Als der ganze Kreis 1895 verhaftet wurde, befanden sich Starkov und Krzizanovskij zusammen mit Lenin drei Jahre lang in der Verbannung; Krzizanovskijs Verbindung zu Lenin riß fortan nicht mehr ab.86 Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hielten sie sich in Baku auf, wo der Ingenieursstudent Aleksandr Vasil'evic Vinter (1878-1958), der spätere Bauherr von Dneprostroj, dazustieß, als er 1901 in die Stadt des Öls verbannt wurde. R.E. Klasson und Leonid Krasin bauten hier unter Mithilfe Vinters das erste E-Werk Rußlands (Èlektrosila).sl Auch Serebrovskij, der 1902 sein Studium am technolozka begann und sogleich verhaftet und nach Sibirien verbannt wurde, hielt sich nach seiner Flucht in Baku auf, wo er für die RSDPR(b) in Fabriken Agitation betrieb.88 Bereits 1908 versuchten diese Ingenieure mit der Gründung des „Kreises Moskauer Technologen" (Kruzok Technologov Moskovskogo Rajona, KTMR) eine größere Gruppe von Kollegen zu erreichen und für ihre (Sozial-)Politik zu gewinnen.89 Anfang der zehner Jahre sammelten sie sich in Moskau, wo 1912 Klasson zusammen mit Vinter den Bau des ersten Moskauer Torfkraftwerks (Èlektroperedaca) unternahm.90 Radcenko, dem Krzizanovskij zur gleichen Zeit einen Verwaltungsposten bei der „Aktiengesellschaft für elektrische Beleuchtung des Jahres 1886" (Akcionernoe obscestvo élektriceskogo osvescenija 1886 goda) vermittelt hatte, wechselte ebenfalls 1913 zum Bau der Èlektroperedaca.9' Die Direktoren und Leiter der „Aktiengesellschaft von 1886", unter ihnen Klasson, trafen sich unter dem Dach der Elektrizitätswerke zu konspirativen Gesprächen.92 So waEr

war

85

Vgl. auch O'Connor, Timothy E.: The Engineer of Revolution. L.B. Krasin and the Bolsheviks, 1870-1926, Boulder, San Francisco, Oxford 1992. 86 Krzizanovskij, Moja zizn', S. 15ff. 87 Vinter, Moja zizn', S. 12ff. 88 RGAÈ, f. 270, Serebrovskij, A.P., op. 1, d. 2, I. 1. 89

90

Späth, Standesvereinigungen, S.

197ff.

Vinter, Moja zizn', S. 16. 91 RGAÈ, f. 9455, Radcenko, IL, Vorwort zum Findbuch 1, ohne Seitenangabe. 92 RGAÈ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ènergetiki, hier: Rjazanov, F.A., op. l,d. 353,1.2Iff

Entwicklung eines Berufsstandes

65

die großen Ingenieure, die die Elektrifizierung Rußlands unter den Bolschewiki ausführen sollten, schon lange vor der Revolution miteinander bekannt und vernetzt. Die Èlektrosila in Baku, die Èlektroperedaca bei Moskau und die Akcionernoe obscestvo èlektriceskogo osvescenija 1886 goda waren Stationen auf ihrem Weg zur Revolution. Hier arbeiteten sie bereits an der Elektrifizierung Rußlands, bevor die Revolution ausgebrochen und der GOÉLRO verabschiedet war. Doch diese kleinen Kraftwerke waren nur Fingerübungen und Gesellenstücke gegen die Meisterwerke, die noch folgen sollten. ren

d) Der Ingenieur in der Literatur vor 1917 Der Ingenieur war bereits in der Literatur vor 1917 präsent. Die entsprechenden Romane sind in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen spitzen die Autoren die Figur des Ingenieurs zu und zeigen manchmal schon karikaturenhafte Charakterzüge, die für den russischen Ingenieur als typisch galten. Zum anderen waren es diese Werke, die die zukünftige sowjetische Intelligenzija las, um hier sowohl eine Vorstellung vom alten Ingenieur als auch vom Ingenieur allgemein zu bekommen. Die meisten der sowjetischen Ingenieure betonen, wie wichtig die Literatur für ihre Entwicklung war. Ihre Lektüre umfaßte nicht nur die russischen Klassiker und ausländische Abenteuergeschichten, sondern auch Ingenieursromane. Der Ingenieur Jurij Nikolaevic Flakserman (*1895) berichtet, er habe die Werke N. Garins (bürgerlich Nikolaj Georgievic Michajlovskij, 18521906) über den Ingenieur Tema Kartasev verschlungen und daraufhin beschlossen, Ingenieur zu werden und Eisenbahnen zu bauen.93 Der Schriftsteller Aleksandr Ivanovic Patreev (* 1900) ließ in seinem Roman „Ingenieure" (1933-41) seinen Helden Boris Dynnikov, den (fiktiven) Leiter von Avtostroj, des Baus des Automobilwerks in Niznij Novgorod, zusammen mit seiner Frau „Der Tunnel" (1913) von Bernhard Kellermann lesen und begeistert diskutieren.94 Krzizanovskij war so begeistert von „Der Tunnel", daß er 1931 ein Vorwort zur neuen Auflage verfaßte.95 Eins der bekanntesten Werke, in denen der Ingenieur der Protagonist ist, war die Tetralogie „Die Kindheit Temas" (1892), „Gymnasiasten" (1893), „Studenten" (1895) und „Ingenieure" (1907) von N. Garin, der 1878 das Verkehrswege Institut in St. Petersburg abschloß und als Ingenieur beim Eisenbahnbau arbeitete. In den vier Bänden beschreibt er das 93

Er wurde Ingenieur, baute allerdings Elektrizitätswerke. RGAË, f. 165, Flakserman, Jurij Nikolaevic, op. 1, d. 15: „Vam, komsomol'cy", 1981, I. 9. 94 A.: lnzenery, Bd. 1, Gor'kij 1965, S. 694. Patreev, 95 RCChiDNl, f. 355, Krzizanovskij, G.M., op. 1, d. 106,1. 3.

66

Der alte

Ingenieur

Schicksal der jungen Generation der Umbruchszeit Rußlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel seiner Figur Artemij Nikolaevic Kartasev: Nach seinem Studium realisiert Kartasev, daß er weder praktische Fähigkeiten erworben noch ein Praktikum absolviert hat. Der Beginn seines Ingenieurdaseins führt ihn nicht auf eine Baustelle oder in eine Fabrik, sondern ist durch bürokratische Schritte gekennzeichnet: Er kauft sich das Ingenieursabzeichen und meldet sich im Ministerium für eine Beamtenlaufbahn, wohlwissend, daß es hier ohnehin keine Verwendung für ihn gibt.96 Kartasev träumt vom Eisenbahnbau, ist aber lethargisch und hat schon längst resigniert, als er schließlich doch die Möglichkeit bekommt, auf einer Eisenbahnstrecke zu arbeiten. Allerdings darf er nur als Praktikant beginnen, nachdem ihm der Chefingenieur das Wissen eines Anfängers bescheinigt hat.97 Kartasev wird als Spießbürger (obyvatel') beschrieben, der sich nur langsam zum Ingenieur und damit zum Mann der Tat wandelt. Zur Arbeit erscheint er zur Verärgerung und Belustigung der anderen Ingenieure als rechter Stutzer im Sonntagsstaat mit Zwicker, obwohl er überhaupt keine Sehhilfe benötigt.98 Garin zeigt seinen Protagonisten als den typischen Taugenichts mit technischem Studium, der nur Verachtung hervorruft: „Ich hatte oft genug die Ehre, Eure diplomierten Ingenieure und Studenten kennenzulernen. Meine Güte, was sind das für Drückeberger, was für Nichtsnutze!"

Ein echter Ingenieur steht dagegen morgens um 4.00 Uhr auf, verschreibt sich mit Leib und Seele seinem Projekt und erschießt sich für seine Ingenieursehre, lernt Kartasev.100 Er begreift langsam, was es heißt, ein Ingenieur zu sein: Er wirft seinen Zwicker weg, bewährt sich bei der Arbeit und steigt zum Assistenten auf.101 Gleichzeitig entwickelt sich sein soziales Gewissen. Bestechung und Bereicherung, die Garin als alltägliche Praxis unter Ingenieuren darstellt, verurteilt Kartasev. Er bezahlt aus eigener Tasche einen Arbeiter, dem der Lohn vorenthalten wurde, und ist angewidert, als die Abnahmekommission bestochen wird.102 Garin, der sich ausführlich mit Sozialreformen auseinandersetzte, schildert in seinem Buch sehr eindrücklich, daß es für ihn zwei Sorten Ingenieure gab und es an der Zeit war, daß die Spießbürger und Stutzer von einer neuen Generation abgelöst würden: von Männern, die ihr Leben nach ihren Projekten ausrichteten und für die Technik starben. 96

Garin-Michajlovskij, N.G.: Inzenery, S. 247ff.,

1957. 97

Garin, Inzenery, S. 314. Garin, Inzenery, S. 320. 99 Garin, Inzenery, S. 320f. 100 Garin, Inzenery, S. 323ff. 101 Garin, Inzenery, S. 330ff. 102 Garin, Inzenery, S. 250, 428, 435, 449. 98

in: ders.: Sobranie

socinenij,

Bd. 1, Moskau

Entwicklung eines Berufsstandes

67

Das Thema der Ablösung einer alten Ingenieurskaste durch eine neue Technikergeneration spielt auch A. Bogdanov (bürgerlich Aleksandr Aleksandrovic Malinovskij, 1873-1928) in seinem Werk „Der Ingenieur Mènni" (1912) durch. Wie sein erster Band „Roter Stern" (1908) spielt auch „Mènni" auf dem Mars und ist ein utopischer Roman. Bogdanov zeigt zwei Ingenieursgenerationen: eine alte, die korrupt ist, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften verweigert und nicht davor zurück-

schreckt, für den Profit Arbeiter in den Tod zu schicken. Die neue besteht jungen Männern, die aus der Arbeiterschaft hervorgegangen sind und

aus

für einen sozialistischen Staat eintreten. Der Konflikt zwischen diesen beiden Generationen wird an dem alten Ingenieur Mènni Al'do, dem Sohn eines Fürsten, und seinem unehelichen, in der Arbeiterschaft aufgewachsenem Sohn Nètti vorgeführt. Die Handlung entwickelt sich rund um den Bau eines gigantischen Kanalsystems, das Mènni entworfen hat und mit dem die Wüste bewässert werden soll, um für 20 Millionen Menschen Arbeit zu schaffen.103 Mènni ist der einsame Ingenieur, der zwar hohe Ansprüche an sich und seine Arbeit stellt, aber nicht bereit ist, seine Macht mit den Arbeitern zu teilen. Er setzt die Technik gegen die Arbeiter ein. Sein Sohn aber kämpft dafür, daß auf der Grundlage der Technik ein neuer Staat errichtet wird: „Die Wissenschaft ist bisher die Kraft gen,

wenn

wir sie

zu unserer

unserer Feinde. Wir werden dann sieKraft gemacht haben."104

In diesem Roman nimmt Bogdanov quasi die russische Revolution und den Umgang der Bolschewiki mit den alten Ingenieuren vorweg: Nètti verordnet, daß die Arbeiter Ingenieure werden müssen. Bis sie ausgebildet sind, soll sich der junge Staat die alte Elite zu nutze machen. Mènni darf sein Werk vollenden und begeht danach Selbstmord. Nètti bezeichnet seinen Vater als Vampir, der immer noch das Blut der anderen trinkt und selbst der Gesellschaft nichts mehr zu geben vermag.105 Bogdanov kündigt den Kampf der Generationen an: „Mènni und Nètti sind von Natur aus Feinde. Jetzt noch sind beide froh, dem

Kampf zu entsagen.

Aber das ist nicht für

lang.

So sehr sie sich anstrengen

werden, das Leben wird sie zusammenstoßen lassen, und das heftig."106

Bogdanov

verbreitete so nicht nur die bolschewistische Sicht über das Schicksal der alten und die Rolle der neuen Intelligenz, sondern nahm auch den ersten Fünfjahrplan vorweg, der bei ihm wie bei den Bolschewiki „Plan der großartigen Arbeiten" 103

Bogdanov,

A.

(Malinovskij,

Aleksandr

sica, Bd. 2, Hamburg 1979, S. 17fr. 104 Bogdanov, Inzener Mènni, S. 76. 105 Bogdanov, Inzener Mènni, S. 69, 120ff. 106 Bogdanov, Inzener Mènni, S. 95. 107 Bogdanov, Inzener Mènni, S. 37.

(plan velikich rabot) hieß.107

Aleksandrovic):

Inzener

Mènni, Bibliotheka Rus-

68

Der alte

Ingenieur

Bogdanov geht eindeutig einen Schritt weiter als Garin. Während Garin ein bürgerliches Ingenieursideal entwickelt, das Praxis, Disziplin und Präzision beinhaltet, plädiert Bogdanov für den sozialistischen Ingenieur, bei dem nicht die technische Kenntnis, sondern die politische Haltung im Vordergrund steht. Das Vorbild Garins ist bei Bogdanov der alte, zu überwindende Ingenieurstyp. Der neue Ingenieur Bogdanovs ist ein Arbeiterkind, das die Wissenschaft für seine Klasse erobert. Noch ein drittes Werk fand in Rußland große Beachtung: „Der Tunnel" (1913) des deutschen Autors Bernhard Kellermann (1879-1951), der die technische Hochschule in München besucht hatte. Kellermann stellt einen ganz ähnlichen Ingenieurstyp wie Bogdanov mit Ménni vor: den einsamen Kämpfer, der sich von menschlichem Leid nicht bewegen läßt und nur für sein Großprojekt lebt und stirbt. Es ist dies der kapitalistische Ingenieur, wie er von den Bolschewiki später benutzt wurde, um die alte Intelligenzija in Verruf zu bringen: ein unpolitischer Mann, der sich weder um das System noch um seine Arbeiter schert. Gleichwohl stieß „Der Tunnel" in der Sowjetunion auf große Begeisterung. Schließlich ist der Ingenieur Mac Allan zwar unpolitisch, stammt aber selbst aus ärmsten Verhältnissen, hat sich vom Pony-Jungen im Untertagebau zum Ingenieur hochgearbeitet und ist der störrische, unbeirrbare und wortkarge Techniker, der auch in den dreißiger Jahren glorifiziert wurde.108 Auch sein Projekt, den Atlantik zu untertunneln, um so Amerika mit Europa zu verbinden, war ein Plan, der in seinen Maßstäben und seiner Kühnheit viele Menschen in der Sowjetunion begeisterte und an den eigenen Fünfjahrplan erinnerte. Mac wird zunächst von der ganzen Welt für sein Projekt gefeiert, endet dann aber tragisch: Bei einer Explosion im Tunnel bricht ein Feuer aus, in dem über 3 000 Arbeiter sterben; der rasende Mob erschlägt seine Frau und Tochter.109 Es gibt einen Börsencrash und Massenentlassungen."0 Als er die Tochter eines Finanzmagnaten heiratet, bekommt er schließlich das Geld, um den Bau zu vollenden.1" Kellermann entwarf nicht nur den wortkargen, verbissenen Ingenieur, sondern auch das amerikanische Tempo: „Hobby [der Chefingenieur] fluchte das Blaue vom Himmel herunter. Allan begrub ihn buchstäblich. Dann aber ergab er sich in sein Schicksal: Er erkannte Allans Tempo. Es war das an sich höllische Tempo Amerikas und dieser Zeit, zur Raserei gesteigert. Und er respektierte es, obwohl es ihm den Atem nahm, und potenzierte seine Anstrengungen.""2 108

Kellermann, Bernhard: Der Tunnel, Berlin Weimar 1964, S. 48ff. Kellermann, Der Tunnel, S. 154, 158, 203. 1,0 Kellermann, Der Tunnel, S. 231, 277, 284. 111 Kellermann, Der Tunnel, S. 287, 309, 316. 112 Kellermann, Der Tunnel, S. 60. 109

-

69

Entwicklung eines Berufsstandes Er

präsentiert eine Baustellenästhetik, die

stimmte:

auch die

dreißiger Jahren

„Am anderen Tag waren es Rudel [von Lokomotiven] und eine Woche später waren es Schwärme dieser schwarzen, rauchenden Dämonen, die die Luft mit der bebenden Ausdünstung ihrer Leiber erschütterten, ihre Saurierknochen schwangen und aus Kiefern und Nasenschlund Dampfund Rauch stießen. (...) Die Stadt tobte und schrie, sie pfiff, schoß, donnerte, gellte.""3

be-

Schließlich findet sich auch die in den dreißiger Jahren in der Sowjetuniverbreitete Vorstellung, daß Bauarbeiten keine rein technischen Vorgänge seien, sondern ein eigenes Leben entwickelten und die Baustellen zum Schlachtfeld wurden, auf dem der Mensch gegen die Natur kämpfte, in Kellermanns Roman: „Die Allanschen Bohrer, die den Berg perforierten, setzten mit einem klirrenden Schrillen ein, der Berg schrie wie Tausend Kinder auf einmal in Todesangst, er lachte wie ein Heer Irrsinniger, er delirierte wie ein Lazarett von Fieberkranken, und endlich donnerte er wie große Wasserfälle.""4 Die drei Werke zeigen eindrucksvoll, welche zum Teil revolutionären Erwartungen mit der Technik bereits zu Beginn des Jahrhunderts verbunden waren und welche entscheidende Rolle Ingenieuren bei der Gestaltung der Zukunft zugewiesen wurde. Die technischen Visionen waren international; die Vorstellungen der Russen Bogdanov und Garin unterschieden sich nicht wesentlich von der des Deutschen Kellermann. Diese Romane trugen ihren Teil dazu bei, das sowjetische Zeitalter der Technik und der Ingenieure vorzubereiten. Sie kündeten nicht nur von gigantischen Projekten und dem „Plan der großartigen Arbeiten", sondern auch von einer neuen Ingenieursgeneration. Sowohl der bürgerliche Garin als auch der revolutionäre Bogdanov hatten eine negative Meinung von den alten Ingenieuren. Es ist bezeichnend, daß „Roter Stern" und „Ingenieur Mènni" zu Stalins Lieblingsliteratur gezählt haben."5 Insofern war die Forderung der Bolschewiki 1917, die alte technische Elite zu ersetzen, nicht neu. Angehende Ingenieure mußten nicht erst von der Sowjetregierung lernen, daß sie als Ingenieure eines neuen Typus die alte Generation ablösen sollten, sondern hatten die neuen Ideale bereits verinnerlicht. on

Kellermann, Der Tunnel, S. 63. Der Tunnel, S. 112. Kellermann, 115 Graham, The Ghost, S. 62.

114

Der alte

70

Ingenieur

2) Die alte Elite und die neuen Machthaber a) Der gemeinsame Traum von einem industrialisierten Rußland hatte in seinem Roman vorweg genommen, welche Rolle die technische Intelligenz unter den Bolschewiki zu spielen hatte: ihr technisches Wissen weitergeben, ihre Projekte vollenden und dann abtreten.1 Der Ingenieur wurde entsprechend seiner Rolle als Wissensträger ohne Eigenwert von den Bolschewiki nur noch abfällig als specialist bzw. in abgekürzter Form als spec bezeichnet, der seine Daseinsberechtigung allein aus diesem Wissen bezog. Lenin formulierte seine Politik gegenüber den specy wie folgt:

Bogdanov

„Je schneller wir, die Arbeiter und Bauern, uns selbst eine bessere Arbeitsdisziplin und eine höhere Arbeitstechnik aneignen, indem wir für diese Kunst die

bürgerlichen Spezialisten ausnutzen, desto eher werden wir uns von jedem Tribut an diese Spezialisten befreien."2 Nachdem die Bolschewiki im November 1917 den Ingenieuren per Dekret die Kontrolle über die Fabriken entzogen und den Arbeitern übergeben hatten,3 erfolgten schon bald die ersten Kooperationsangebote. Die Ingenieure, die als Reaktion auf Anarchie in den Betrieben und den Zusammenbruch der Produktion ihren Dienst verweigert und den lang ersehnten Dachverband der Ingenieure allrussische Union der Ingenieure" (Vserossijskij Sojuz Inzenerov, VSI) als antibolschewistische Vereinigung der technischen Intelligenz gegründet hatten,4 mäßigten ihrerseits ihre Positionen. Das im Januar 1918 beschlossene Kooperationsverbot mit den Bolschewiki hob ein Kongreß des VSI im Oktober wieder auf, um einen Modus vivendi mit der neuen Regierung zu finden.5 Dennoch löste die Regierung den VSI 1919 als konterrevolutionäre Organisation auf.6 Die offiziell nie ganz zurückgenommene Einschätzung der technischen Intelligenz als Konterrevolutionäre und Arbeiterfeinde korrespondierte mit der Stimmung unter Arbeitern, ihrem in der Zarenzeit entstandenen Haß in den Revolutionsjahren freien Lauf ließen. Das Klima war so auf-

'

2 3

Graham, Science in Russia, S. 82. Lenin, Polnoe sobranie socinenij, Bd. 36, Moskau 1962, S. 181.

Lampert, Technical Intelligentsia, S. 13. Naumov, O.V. et al.: Kadry rukovoditelej, specialistov i obsluzivajuscego personala promyslennych predprijatij po dannym professional'noj perepisi 1918 goda, S. 96, in: Istorija SSSR 25 (1981) 6, S. 92-108; Prokofjew, W.W.: Techniker und Ingenieure in der UdSSR, Moskau 1933, S. 4; Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 42. 5 Späth, Standesvereinigungen, S. 294; Bailes, Technology and Society, S. 20f, 45ff. 6 Lampert, Technical Intelligentsia, S. 14. 4

Die alte Elite und die

neuen

Machthaber

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geheizt, daß Ingenieuren nicht nur mißtrauisch begegnet wurde, sondern Arbeiter Ingenieure auch aus den Fabriken vertrieben oder ermordeten.7 Während der Bürgerkrieg gerade erst begann und die Sowjetmacht sich erst im ganzen Land in blutigen Kämpfen durchsetzen mußte, schuf sie gleichzeitig gemäß ihres Slogans „Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus" die Grundlagen für die Elektrifizierung und Industrialisierung des Landes. Die Ingenieure waren durch so ein Programm bestochen. Es ist viel überlegt worden, was die entscheidenden Gründe für das Zusammengehen der Ingenieure mit den Bolschewiki war: ob sie in ihnen die Kräfte erkannten, die am ehesten das Land vor weiterem Chaos, die kulturellen Werte vor dem Verfall und das Land von einer Intervention zu schützen vermochten, ob es ihre Obrigkeitshörigkeit oder ihr Patriotismus war.8 Die meisten Spezialisten, so Kendali Bailes, litten, schwiegen und kamen zu der Einsicht, daß sie eine Weile mit den Kommunisten würden leben und arbeiten können.9 Tatsächlich scheint ihre Technikbegeisterung, die Vorstellung, endlich all die unrealisierten Pläne und die in den Köpfen vorhandenen Träume von einem hochindustrialisierten Rußland umsetzen zu können, ausschlaggebend gewesen zu sein. Der gemeinsame Traum der Ingenieure und Bolschewiki von einem elektrifizierten Rußland und einer rational geplanten Wirtschaft wurde mit der „Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Rußlands" (Gosudarstvennaja Komissija po Ëlektrifikacii Rossü, GOÈIRO) Wirklichkeit. Die Elektrifizierungskommission ging aus einem Ableger der KEPS hervor,10 unter der 1918 bei maßgeblicher Beteiligung der Ingenieure der IRTO eine Abteilung für Energie eingerichtet wurde, aus der im Herbst 1918 der Zentrale Elektrotechnische Rat hervorging, der den Plan zur Elektrifizierung des Landes ausarbeitete." Die Ingenieure, die zum Großteil noch der „Russischen Technischen Gesellschaft" angehörten, die sich „kaiserlich" nannte, arbeiteten das „zweite Parteiprogramm" der Bolschewiki aus. Als nach zwei Jahren 1920 der GOÈLRO beschlossen wurde, hatten die 180 Spezialisten und Spezialistinnen der Kommission ein System von 30 Kraftwerken entworfen, das innerhalb von zehn bis 15 Jahren in Rußland realisiert werden sollte.12 Der Fakt, daß der GOÉLRO doppelt, nämlich von der Regierung auf dem 8. Rätekongreß im Dezember 1920 und 7

Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjet1917-1985, Göttingen 1993, S. 27. 8 Vgl. dazu Ul'janovskaja, V.A.: Formirovanie naucnoj intelligencii v SSSR 1917-1937, Moskau 1966, S. 49; Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 65; Graham, Loren R: Science and the Soviet Social Order, Cambridge 1990, S. 45ff. 9 Bailes, Technology and Society, S. 55. 10 Cernysev, Iz istorii razvitija techniki, S. 27. " Cernysev, Iz istorii razvitija techniki, S. 30, 34, 52, 63. 12 union

Satelen, Russkie Èlektrotechniki, S. 369.

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1921 von 1 500 Ingenieur/innen auf dem 8. Elektrotechnischen Kongreß der IRTO, beschlossen wurde, wirkte wie ein Pakt zwischen den Bolschewiki und den alten Spezialisten.13 Es war die Besiegelung einer längst begonnen Zusammenarbeit für die nächsten sieben Jahre, die öffentliche Bezeugung, daß man die gleichen Interessen hatte. Daß die Regierung den GOÈLRO mit einer feierlichen Zeremonie im Bol'soj-Theater verabschiedete, das festlich beleuchtet war, obwohl akuter Strommangel herrschte, machte den Ingenieuren noch einmal deutlich, welch herausragende Rolle ihnen zugedacht war.14 Bereits am 4. Juni 1922 wurde das Kraftwerk am Fluß Kasira eingeweiht, am 6. Dezember 1925 folgte das an der Satura, und am 19. Dezember 1926 wurde das Wasserkraftwerk am Volchov in Betrieb genommen. Aber nicht nur im Rahmen der Elektrifizierung band die Sowjetregierung Ingenieure für ihre Interessen ein.15 Viele Ingenieure, die zunächst von ihren Posten vertrieben worden waren, wurden bald wieder zurückgeholt, andere arbeiteten ohne Unterbrechung weiter oder übernahmen einen Betrieb, in dem sie zuvor unter ausländischer Regie gearbeitet hatten.16 Im Frühjahr 1918 wurde entschieden, die Akademie der Wissenschaften, das Herzstück der vorrevolutionären Gelehrtenwelt, weiter zu unterstützen.17 Unter dem im Januar 1918 gegründeten Obersten Volkswirtschaftsrat (Verchovnyj Sovet narodnogo chozjajstva, VSNCh) richtete die Regierung im August 1918 die „Wissenschaftlich-technische Abteilung" (Naucno-techniceskij otdel, NTO) ein, die als Sammelbecken und Vermittlungsstelle für Wissenschaftler fundie Sowjetregierung gierte.18 Während der Bürgerkrieg tobte, gründete 117 neue wissenschaftliche Einrichtungen. " Wenn es diesen Instituten auch an Ausstattung mangelte, waren sie für ihre Zeit generös und ein wichtiges psychologisches Mittel im Kampf um das Vertrauen der Wissenschaftler und Techniker.20 Die Bemühungen der Sowjetregierung um die Spezialisten blieben nicht ohne Erfolg: Eine inoffizielle Umfrage unter 230 Ingenieuren in Moskau 1922 ergab, daß zwölf den Bolschewiki feindlich gegenüberstanden, 28 mit ihnen sympathisierten, während 110 smenovechovcy (wörtlich: „Meilensteinwechsler") waren, d.h. dafür plädierten, die Res13

Cernysev, Iz istorii razvitija techniki, S. 38; Satelen, Russkie Élektrotechniki, S. 347; Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 105. 14 Zum Festakt siehe: RGAÉ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej energetiki, hier: Kolpakova, A.I., op. 1, d. 41, Dokumente B, 1. 1, und E, 1. 5. 15 Guroff, The Legacy, S. 280; Genkina, O leninskich metodach, S. 23. 16 Lampert, Technical Intelligentsia, S. 16, 22. 17 Bailes, Technology and Society, S. 45ff. 18 Ul'janovskaja, Formirovanie naucnoj intelligencii, S. 64. 19 Velikij Oktjabr', S. 144ff. Fedjukin, 20 Bailes, Technology and Society, S. 53.

Die alte Elite und die

neuen

sentiments gegenüber den Bolschewiki meinsam das Land aufzubauen.21

zu

Machthaber

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vergessen und mit ihnen ge-

b) Technokratische Illusionen Das technokratische Gedankengut russischer Ingenieure war Ausgangsund Endpunkt ihrer Zusammenarbeit mit den Bolschewiki. In ihrem Streben, eine rational und zentral geplante Wirtschaft zu befehligen, waren die Spezialisten von den neuen Betätigungsfeldern, die die Bolschewiki ihnen boten, und den neuen Organisationsformen beeindruckt.22 Die Positionen, die sie im VSNCh, in den Volkskommissariaten, auf den Baustellen der Kraftwerke und in den Fabriken einnehmen konnten, machten sie glauben, daß ihnen die Leitung dieser Wirtschaft übertragen worden sei.23 In vielen Ansichten stimmten sie mit den Bolschewiki überein. Nach der leidvollen Erfahrung im Zarenreich, in dem es keine Förderung oder Koordination der technischen Entwicklung gegeben hatte, befürworteten auch Ingenieure eine zentrale Planung der Wirtschaft.24 Vor dem Hintergrund ihrer mächtigen Positionen, der Hofierung durch die Sowjetregierung und des Eindrucks, jetzt tatsächlich die Wirtschaft nach eigenem Gutdünken gestalten zu können, brachten die Ingenieure die Technokratiebewegung in der Sowjetunion in den zwanziger Jahren zu einer neuen Blüte. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen, parallel im Westen. Der Amerikaner Thorstein Veblen, der mit seiner Schrift „The Engineers and the Price System" 1921 zur Leitfigur dieser Bewegung in den USA avancierte, machte Anleihen bei dem sowjetischen System und nannte den Obersten Planungsrat seiner Utopie „Soviet of Technicians".25 Der Traum der amerikanischen Ingenieure war ein wissenschaftlich entwickeltes Management, das weder von den Interessen der Unternehmer noch von denen der Arbeiter gestört, sondern allein von den Technikern bestimmt und von der Idee maximaler Effizienz geleitet werden sollte.26 Veblen forderte, die Ingenieure müßten 21

Fedjukin, Bor'ba, S. 109. auch Guroff, The Legacy, S. 279. Vgl. 23 22

Vgl. auch Bailes, Kendall E.: Politics of Technology: Stalin and Technocratic Thinking among Soviet Engineers, in: American Historical Review 79 (1974) 2, S. 445^169. 24 Cinella.Ettore: Etat „prolétarien" et science „bourgeoise": Les specy pendant les premières années du pouvoir soviétique, S. 481, in: Cahiers du monde russe et soviétique 32 (1991) 4, S. 469-500; Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 106; Schlögel, Jenseits des Großen Oktober, S. 304. 25 Veblen, Thorstein: The Engineers and the Price System, New York 1921, S. 138. 26 Siehe auch Stabile, Donald R.: Veblen and the Political Economy of the Engineer: The Radical Thinker and Engineering Leaders Came to Technocratic Ideas at the Same Time, S. 4 Iff., in: American Journal of Economy and Society 45 (1986), S. 41-52.

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bei der Verteilung von Ressourcen, Material, Maschinen und Menschenkraft ungeachtet jeglicher nationalen Interessen freie Hand haben; Politiker betrachtete er als Störfaktoren für eine rationale Planung.27 Genau solche Kompetenzen strebten auch russische Ingenieure an bzw. meinten sie bereits durch ihre Stellung innerhalb des Obersten Sowjets für Volkswirtschaft zu besitzen. Viele Ingenieure hielten sich für die einzig Qualifizierten, um eine Kommandowirtschaft zu befehligen und einen Fünfjahrplan zu entwerfen bzw. kompetent zu beurteilen.28 Sie glaubten, auch die Macht zu besitzen, nach eigenen Vorstellungen eine Reform des VSNCh durchzusetzen.29 Die Mehrheit der mehr als 10 000 studierten Ingenieure waren nach der Auflösung des VSI der „Allunionsassoziation der Ingenieure" (Vsesojuznaja associacija inzenerov, VAI) beigetreten, die von der Regierung als technokratisch eingeschätzt wurde.30 Die Lage spitzte sich zu, als im Mai 1927 der Ingenieur P.K. Engel'mejer innerhalb der VAI einen „Kreis für generelle Fragen der Technologie" gründete, die Entwicklung eines ideologisches Fundaments für die Technokratie ankündigte und die Technokratie als Allheilmittel für sämtliche gesellschaftliche, industrielle und kulturelle Probleme pries. Engel'mejer mußte insofern für die Parteileiter als eine Bedrohung wirken, als er beabsichtigte, die bisher eher als theoretisches Gedankengebäude bestehenden technokratischen Ideen in die Praxis umzusetzen. Die Gruppe von rund 15 Mitgliedern, die sich regelmäßig traf, hatte sich zum Ziel gesetzt, in ganz Rußland ähnliche Kreise zu gründen und eine möglichst breite Zahl von Ingenieuren für ihre Ideen zu begeistern. Im Januar 1929 proklamierte Engel'mejer unter der Überschrift „Brauchen wir eine Philosophie der Technologie?": „Das Leben selbst hat unsere Ingenieure zu der Notwendigkeit geführt, sich zu vereinigen, nicht nur in Gewerkschaften, sondern auch auf der Basis, sozusagen, von Ideologie, mit der Absicht, ein objektives Licht auf verschiedene Probleme zu werfen, die unter den heutigen Bedingungen der technischen Arbeit entstehen."31 Dieses Statement glich einer Kampfansage an die Regierung: Sowohl die vorhandenen Gewerkschaften als auch die vorherrschende Ideologie des Marxismus-Leninismus wurden als unbrauchbar deklariert. Engelmejer stellte die Technologie in den Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Entwicklungen und beanspruchte damit einen Platz, den die Partei bereits dem Kommunismus reserviert hatte.

Veblen, The Engineers, S. 54. Graham, Science in Russia, S. 160. Bailes, Technology and Society, S. 107. 30 Bailes, Technology and Society, S. 102. 31 Inzenernyj trud, Nr. 2, 15.1.1929, S. 36ff. 28 29

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Die Parteiführer um Stalin nahmen die Technokratiebewegung ernst und empfanden sie als Bedrohung. Der Kampf gegen die Technokratie wurde eröffnet und das Streben der technischen Intelligenzija nach einer „technischen Internationale" samt ihrer „Ideologie" als Ketzerei angeprangert. „Technokrat" wurde zu einem eindeutigen Schimpfwort und Feindbild: Solche Ingenieure verwischten in ihrem Streben nach „wissenschaftlichem Internationalismus" und Glauben an die „Einheit aller Wissenschaft" die Grenzen zwischen Kapitalisten und Kommunisten. Ihnen wurde zur Last gelegt, mit ihrem Kampf für einen von einer Elite aus Wissenschaftlern und Technikern geführten „Weltstaat" betrieben sie die Auflösung der Sowjetunion und die Entmachtung des Proletariats, nur um sich selbst zu inthronisieren.32 Das Verhältnis der Ingenieure und der Bolschewiki wurde zunehmend belastet. In dem innerparteilichen Kampf 1927 darüber, ob die Industrialisierung mit der Schwerindustrie beginnen solle oder ein sanfter Anfang mit der vorrangigen Entwicklung der Leichtindustrie zu bevorzugen sei, spielten die Ingenieure als Planende und Entwerfende eine große Rolle. Sie waren größtenteils Befürworter einer „behutsamen" Industrialisierung, die klein anfangen und durch die erzielten Exportgewinne langsam, aber kontinuierlich expandieren sollte. Rationalität und peinlich genaue Planung, bestmögliche Ressourcenausschöpfung und minimaler Aufwand bei optimalem Ergebnis waren die Standards der Ingenieure. Außerdem sprachen sie sich dafür aus, zunächst in den Faktor Mensch zu investieren, um eine qualifizierte Arbeiterschaft zu schaffen.33 Die Parteiführer um Stalin interessierten sich indessen nicht für Kosten-NutzenRechnungen, Wörter wie „Unrentabilität" oder zu hohes „Produktionsrisiko". Nicht Wirtschaftlichkeit, sondern Gigantomanie, nicht sparsamer Einsatz der Arbeitsressourcen, sondern extensives Bauen, nicht eine langsame, gesicherte Entwicklung, sondern das sofortige Übertrumpfen aller Industrienationen waren ihre Leitlinien. Ingenieure, die das bisher Existente, Erprobte und Bewährte als Argument gegen den sowjetischen Traum anführten, waren Stalin suspekt. Auch war es nicht das Ziel Stalins, eine mündige Arbeiterschaft zu schaffen, sondern mit den Methoden des sowjetischen Taylorismus die Industrie von ungelernten Arbeitermassen aufbauen zu lassen.34 32

Dinamov, S.: Ideologija naucnoj i techniceskoj intelligencii, S. 194/195, in: Novyj mir, Nr. 2, 1929, S. 193-202. 33 Graham, The Ghost, S. 37. 34

Die Idee des Taylorismus' entwickelte der US-amerikanischen Ingenieur Frederick W. Taylor (1856-1915) Ende des 19. Jahrhunderts. Er wollte auf Grundlage von genau segmentierten, optimierten, zeitlich gemessenen, normierten und geldlich bewerteten Handbewegungen eines Arbeitsganges die Produktion rationalisieren, ihren Ertrag steigern und den Lohn der Arbeiter erhöhen. Wurde zunächst von den Bolschewiki der Taylorismus als Arbeiteraus-

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Als 1928 Stalin und seine Gefolgsleute den ersten Fünfjahrplan als forcierten Aufbau der Schwerindustrie durchsetzten, befanden sich die technischen Spezialisten in der äußerst prekären Lage, gegen Stalin argumentiert zu haben, seine Pläne für falsch gehalten und zudem seinen parteiinternen Opponenten Nikolaj Ivanovic Bucharin (1888-1938) und Aleksej Ivanovic Rykov (1881-1938) Argumente an die Hand geliefert zu haben.35 Noch auf einer Präsidiumssitzung der Staatsplankommission (Gosplan), im Februar 1929 bezweifelten namhafte Ingenieure, allen voran I.A. Kalinnikov, die Realisierbarkeit des ersten Fünfjahrplans.36 Gelitten war jetzt nur noch eine Minderheit von Ingenieuren wie Vinter, der anläßlich des Baus von Dneprostroj weder Zweifel äußerte noch nach dem Ausland rief, sondern im Brustton der Überzeugung proklamierte: „Das können wir selbst!"37

c) Gleichschaltung der Ingenieursverbände Die offizielle Zusammenarbeit mit den alten Ingenieuren, die nun aufgekündigt wurde und in offene Feindschaft umschlug, war die gesamten zwanziger Jahre hindurch von Übergriffen auf und Gewalt gegen Vertreter der technischen Intelligenz begleitet worden. Arbeiteraktivisten und die linke Fraktion der Bolschewiki höhnten angesichts der Zugeständnisse an die technische Intelligenz, die neue Losung der Sowjetregierung hieße „Alles den Spezialisten".38 Der Ruf, die alte Intelligenz gleich zu zerschlagen und auf eigene Kader zurückzugreifen, war laut und ver-

beutung abgelehnt,

entdeckte Lenin ihn nach der Revolution als geeignetes Rezept, aus der kaum noch existenten Industrie einen größtmöglichen Ertrag herauszupressen. 1920 gründete der Gewerkschafter, Revolutionär und Dichter Aleksej Gastev unter dem Gewerkschaftsbund das Zentrale Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation (NOT) als Zentrale des sowjetischen Taylorismus. In der Sowjetunion wurde zwar eine moderne Technik nach allen Kräften gefordert, aber nicht mehr als Voraussetzung für den Taylorismus gesehen. Vom Taylorismus blieb bald nur noch die Forderung an den Arbeiter übrig, im Akkordtempo zu arbeiten. Gastevs Institut bildete eine Million Arbeiter, darunter v.a. die späteren Stachanovarbeiter, aus, bevor er 1938 repressiert wurde und umkam. Vgl. Bailes, Kendall E.: Alexej Gastev and the Soviet Controversy over Taylorism 1918-1924, S. 373ff, in: Soviet Studies 29 (1977) 3, S. 373-394; Lenin, Polnoe sobranie socinenij, Bd. 36, Moskau 1962, S. 141; Miller, Engineers as Writers, S. 157. 35 Vgl. Fitzpatrick, Stalin and the Making of a New Elite, S. 378f; Bailes, Technology and S. 114. Society, 36 Schröder, Industrialisierung und Parteibürokratie, S. 31 f. 37 Vinter, Moja zizn', S. 19. 38 Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 82; Fitzpatrick, Sheila: The Bolshewiks Dilemma: Class, Culture, and Politics in the Early Soviet Years, S. 605, in: Slavic Review 47 (1988) 4, S. 599613; Bailes, Technology and Society, S. 52.

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und Presse nicht.39 Es gab einige, zum Teil halbherzige die Leninsche Versuche, Spezialistenpolitik und das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen.40 Verbale Angriffe und tätliche Überfalle auf Ingenieure versuchte die Regierung als „Spezialistenfresserei" (speceedstvo) zu verdammen.41 Der unkontrollierten Verfolgung von Spezialisten versuchte sie 1919 mit einem Dekret zu begegnen, entsprechend dem Spezialisten nur dann verhaftet werden durften, wenn ihre Tätigkeit erwiesener Maßen Sabotage zum Ziel hatte.42 Mitunter versuchte sie auch mit Hilfe von Gerichtsprozessen, ihre Politik zu behaupten und die Spezialisten zu beruhigen. Besonderes Aufsehen erregte 1922 der Prozeß gegen Mitglieder der Arbeiter- und Bauerninspektion (Rabocajakrest'janskaja komissija, RKI), denen die Staatsanwaltschaft zur Last legte, mit Sabotagevorwürfen und Schikanen den Chefingenieur der Moskauer Wasserwerke, V.V. Ol'denborger (1863-1921), in den Selbstmord getrieben zu haben.43 Dem gegenüber standen aber eine Reihe von Prozessen gegen Ingenieure, die angeblich für ihre ehemaligen ausländischen Arbeitergeber spioniert oder deren Rückkehr vorbereitet hatten. 1921 ließ die Regierung die im Fall der Hauptverwaltung für die zentrale Brennstoffverteilung (Glavtop) angeklagten Ingenieure und Techniker erschießen, weil sie im Auftrag der Firma „Nobel" deren Immobilien und Besitz geschützt hätten. Betroffen von solchen Fällen waren auch Ingenieure aus der Textilindustrie, dem Bergbau, der Platingewinnung und der Metallherstellung.44 Während die Regierung derart im Großen und Ganzen daran interessiert war, den Spezialisten sichere Arbeitsbedingungen zu schaffen, versuchte sie gleichzeitig in zunehmendem Maße, die Ingenieure unter ihr politisches Dach zu zwingen. Seit der Auflösung des VSI 1919 versuchte die Partei, den Ingenieuren auf dem Gebiet ihrer professionellen Autonomie Stück für Stück Land abzunehmen. Zwar wurde die 1917 gegründete Ingenieursorganisation VAI, die 1919 die Ingenieure des VSI aufnahm, bis 1929 toleriert, aber die Politik ging eindeutig dahin, möglichst viele Ingenieure und Techniker in die bereits bestehenden Branchengewerkschaften zu integrieren. Daß die VAI sich zur rein technischen Gesellstummte in Partei

39

Bailes, Technology and Society,

S. 59; Kim, Sovetskaja intelligencija, S. 27; Graham, Sciin Russia, S. 88. 40 Zum Versuch, mittels lancierter Diskurse das Verhältnis zwischen den Arbeitern und den Roten Direktoren zu befrieden, siehe: Koenker, Diane P.: Factory Tales: Narratives of Industrial Relations in the Transition to NEP, in: Russian Review 55(1996) 3, S. 384^111. 41 Fedjukin, Bor'ba za perevospitanie, S. 113. ence

42

Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 95. Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 303; Beyrau, Intelligenz, S. 30; Bailes, Technology and S. 60/61; Cinnella, Etat prolétarien, S. 485. Society, 44 Golinkov, D.L.: Krach vrazeskogo podpol'ja. Iz istorii bor'by s kontrrevoljuciej v Sovetskoj

43

Rossii

v

1917-1924 gg., Moskau 1971, S. 34Iff.

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Ingenieur

schaft ohne Anspruch auf Vertretung einer eigenen Politik erklärte, retnicht.45 1924 wurde ihre Leitung durch Kommunisten abgelöst. Gleichzeitig wurde die IRTO aufgefordert, mit der VAI zu fusionieren. Als sie sich weigerte, lösten die Bolschewiki sie 1925 zwangsweise auf.46 Die Integration der Ingenieure in die Gewerkschaften diente mehreren Zielen: Erstens sollten auf diese Weise die Ingenieure der Kontrolle der Zentralgewerkschaft, also Arbeitern und Funktionären, unterstellt werden. Zweitens war der Eintritt in eine Gewerkschaft ein Bekenntnis zur Arbeiterklasse. Drittens konnte so eine rein intellektuelle Elite aufgelöst werden, denn die Gewerkschaften nahmen in den Ingenieursabteilungen nicht nur studierte Spezialisten, sondern auch Techniker und Angehörige anderer Berufsgruppen auf, die weit entfernt von der Ausbildung und dem Habitus eines Ingenieurs waren. Diese Abschaffung des reinen Ingenieurs wurde auch durch die Etablierung einer neuen Berufsbezeichnung forciert: Der Begriff ingenieur-technischer Angestellter bzw. Mitarbeiter (inzenerno-techniceskij rabotnik, ITR) wurde kreiert und fortan in den Medien anstelle des Begriffs „Ingenieur" verwendet. ITR war der sowjetisierte Ingenieur, der sich als Teil der Arbeiterklasse verstand, der Sowjetmacht bedingungslos folgte und ihre Politik vertrat. Für diese ITR wurden innerhalb der bestehenden Gewerkschaften „Sektionen der Ingenieure und Techniker (inzenerno-techniceskie sekcii, ITS) eingerichtet. Die ITS waren nicht nur auf den verschiedenen Stadt-, Kreis- und Gebietsebenen zu intersektionalen Büros (MBIT) zusammengeschlossen, sondern gründeten auch 1922 mit dem „Allsowjetischen Intersektionalen Büro der Ingenieure und Techniker" (Vsesojuznyj mezsekcionnyj bjuro inzenerov i technikov, VMBIT) eine Dachorganisation, die fortan die offiziell anerkannte Vertretung der Ingenieure darstellte. Ihr Organ war die 1924 gegründete Zeitschrift „Ingenieursarbeit" (Inzenernyj trud). 1927 waren 105 600 Ingenieure und Techniker bzw. ca. 90 Prozent aller ITR in ITS organisiert. Da aber der Verband seit 1921 auch nichtgeprüften Technikern offenstand, fanden sich hier eher die Praktiker und Facharbeiter; die studierten Ingenieure zogen weiterhin eine Mitgliedschaft in der Assoziation der Ingenieure" vor.47 Während die Regierung mit der Etablierung der ITS versuchte, die Ingenieure den Arbeiterorganisationen einzuverleiben, gründete eine Hand

tete sie

voll Wissenschaftlern 1927 die ,Allunionsassoziation der wissenschaftlichen und technischen Angestellten zur Unterstützung des sozialistischen Aufbaus" (Vsesojuznaja Associacija rabotnikov nauki i techniki po so45

Garevskaja, Pal'cinskij,

Proletarien, S. 479.

46 47

S. 135; Bailes,

Technology

and

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 135ff. Fedjukin, Velikij Oktjabr', S. 314ff.; Fedjukin, Bor'ba, S.

Society,

110.

S. 58;

Cinnella,

Etat

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dejstviju socialisticeskogo stroitel'stva, VARNITSO), um zu demonstrieren, daß Spezialisten als solche auf der Seite der Sowjetmacht kämpften.48 Die VARNITSO richtete sich gezielt nur an Personen mit Hochschulabschluß, die wissenschaftlich arbeiteten und gleichzeitig entschlossen waren, sich dem sozialistischen Aufbau zu verschreiben. Als Ziel gaben die Gründungsmitglieder unter dem Vorsitz des Akademie-Mitglieds A.N. Bach an, die Intelligenz politisch erziehen zu wollen.49 Die Mitglieder machten sich zur Aufgabe, die alten Spezialisten für die Arbeit am ersten Fünfjahrplan zu gewinnen, eine neue technische Intelligenz auszubilden und mit den Arbeitern zu kooperieren.50 Entsprechend dieser Zielsetzung

wurde die VARNITSO auch „Professorenkomsomol" genannt; sie war ein „eigenartiger Vertreter der Partei der Bolschewiki unter den Gelehrten, Dozenten, Ärzten und Ingenieuren."51 In dem monatlich von 1928-38 erscheinenden Kampfblatt „Front der Wissenschaft und Technik" (Front nauki i techniki) dienten sich Wissenschaftler und Ingenieure den Bolschewiki an, indem sie am lautesten gegen „Saboteure" und „Verräter" in den eigenen Reihen hetzten.52 Die VARNITSO war aber nicht repräsentativ für die alte Intelligenzija: 1932 hatte sie erst 360 Mitglieder, hetzerische Reden gegen das „Schädlingstum" wurden vom Publikum oft mit eisigem Schweigen quittiert, und 1930 forderte der Direktor des Marx und Engels Instituts die Liquidierung der VARNITSO, wofür er sofort als Menschewik angegriffen wurde.53 Sowohl das VMBIT als auch die VARNITSO waren Organisationen, die nicht die Interessen von Ingenieuren als ihrer Klientel vertraten, sondern umgekehrt bezweckten, die Politik der Regierung gegenüber den Ingenieuren durchzusetzen. Teils aus Überzeugung, teils aus Opportunismus machten sich Ingenieure und Wissenschaftler zu Vollstreckern der stalinschen Politik. Während die VARNITSO hauptsächlich im Bereich der politischen und technischen Bildung tätig war, sich um die Förderung von Wissenschaft48

Zur Geschichte des VARNITSO vgl. auch Zak, L.M.: VARNITSO. Sozdanie i dejatel'nost' 1927-1932 gg, in: Istorija SSSR 3 (1959) 6, S. 94-107; dies.: VARNITSO v gody vtoroj pjatiletki. Trudy Moskovskogo istoriko-archivnogo instituía, Moskau 1960; Veselovskaja, V.V.: Dokumenty CGANCh o dejatel'nosti VARNITSO (1927-37), Moskau 1992, unveröffentlichte Diplomarbeit. 49 RGAÈ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 1.1.5,11. 50 RGAÉ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 41,1. Iff. 51 Kotlova, T.B.: O roli VARNITSO v formirovanii Sovetskoj intelligencii, S. 69, in: Probteorii i istorii izucenija intelligencii: poisk novych podchodov, Ivanovo 1994, S. 65-73. lemy 52 Vgl. auch Malokova, L.M.: Zurnaly „Varnitso", „Front nauki i techniki" kak istocnik izucenija istorii naucno-techniceskoj intelligencii (1928-1933), in: Problemy teorii i istorii izucenija intelligencii: poisk novych podchodov, Ivanovo 1994, S. 59-64. Der VARNITSO wurde 1937 im Zuge der Repressionen gegen Spezialisten aufgelöst. 53 Malokova, Zurnaly „Varnitso", S. 62; Kotlova, O roli VARNITSO, S. 71. v

so

Der alte

Ingenieur

lerinnen kümmerte, an den Universitäten und Instituten Veranstaltungen organisierte und ausländische Konsultanten betreute,54 entwickelten sich die ITS immer mehr zu Versorgungsstellen für Techniker. Zum einen wurden Ingenieure zur Mitgliedschaft in den Sektionen gezwungen, weil sie ohne Gewerkschaftsausweis keine Stellung mehr bekommen konnten. Andererseits weckten die Privilegien hinsichtlich der ITR bei der Versorgung mit Wohnraum, Nahrungsmitteln und Urlaubsreisen Begehrlichkeiten vieler Nicht-Ingenieure, die sich öffentlich beschwerten, keinen Zugang zu den Pfründen zu erhalten. Die ITS waren in dem eingeschränkten Sinne eine Interessenvertretung, als sie versuchten, die Zahl der Zugangberechtigten in Bezug auf die weniger qualifizierten technischen Berufe klein zu halten und den Eintritt von Meistern und Vorarbeitern zu verhindern. Die Aufnahmevoraussetzungen hinsichtlich Berufsausbildung, Diplom, Branche und Berufserfahrung waren penibel festgelegt und trotzdem immer wieder umstritten, wenn z.B. auch Ökonomen Anspruch erhoben, Mitglied der ITS zu werden, um in den Genuß der relativ guten Versorgung mit Verbrauchsgütern und Lebensmitteln zu kommen.55 Während einerseits die Sowjetregierung versuchte, mit der VAI die „Kastenhaftigkeit" der Ingenieure abzuschaffen und die Ingenieure als „ITR" an die Arbeiter anzugleichen, entstand mit den ITS eine neue Standesorganisation, die nicht nur von den alten Spezialisten, sondern auch von den jungen, aus der Arbeiterschaft stammenden Ingenieuren gegen „unbefugte Eindringlinge" verteidigt wurde. So entwickelte sich langsam eine neue, sowjetische Ingenieurskaste, die sich aber nicht mehr eigenständig politisch äußerte, sondern nur noch ihre Pfründe verteidigte.

d) Ingenieurslaufbahnen nach 1917 „Um zu verstehen,

was für uns damals der Leninsche Aufruf hieß, nicht einen verlieren und sich sofort an die Wiedererrichtung unseres Landes zu machen, muß man in unserer Epoche gelebt haben und eine Vorstellung von dieser schweren Zeit haben, in der der Aufruf erklang",56

Tag

zu

Aleksandr Ugrimov. Die Ingenieure um Krzizanovskij wurden unmittelbar nach der Oktoberrevolution in den Aufbau des Landes eingebunden. Vinter und Radcenko vereinbarten nur wenige Tage nach der Oktoberrevolution im Dezember 1917 mit Lenin den Bau eines neuen Kraftwerks, das Torf verströmen sollte: Der Bau der Satura begann beso

54 55

RGAÈ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 92, 124,

155.

Inzenernyj trud, Nr. 16, 30.8.1929, S. 485; GARF, f. 5548, VMBIT, op. 8, d. 50, d. 20,1. 1-56; op. 12, d. 27,1. 2ff, 53; op. 12, d. 28,1. 21; op. 14, d. 14,1. 16ff. 10, 56 Ugrimov, Moj put', S. 83ff.

1.

1; op.

Die alte Elite und die

neuen

81

Machthaber

Frühjahr 1918.57 Lenin unterstrich gegenüber Vinter, daß die Elektrifizierung für ihn höchste Priorität genoß: „Wir werden Ihnen helreits im

fen, und Sie wenden sich immer mit Bitten direkt an mich."58 In der Kommission GOÉLRO arbeiteten unter der Leitung Krzizanovskij s die Ingenieure Vinter, Klasson, Radcenko, L. Krasin, die Brüder Ugrimov und viele andere.59 GOÉLRO war eine Kommission zur Umsetzung langgehegter Ingenieurspläne. Neben Radcenko konnte auch der Ingenieur Ivan Gavrilovic Aleksandrov (+1936) sein lang geplantes Konzept eines durch Wasserkraft betriebenen Industrie-Zentrums im Süden umsetzen: der Bau des Staudamms und Wasserkraftwerks am Dnjepr, Dneprvstroj, wurde zum Herzstück des Plans.60 Auch Genrich Osipovic Graftio (18691949), der vor 1917 nicht mit den Bolschewiki in Verbindung gestanden hatte, wurde bereits im Januar 1918 von Lenin aufgefordert, das Wasserkraftwerk am Volchov, dessen Bau er schon seit zehn Jahren plante, nun endlich in die Tat umzusetzen. „Ich war vollkommen verblüfft", schreibt Graftio: „Es schien auf den ersten Blick wirklich sehr gewagt, in einer so schwierigen Zeit den Bau einer riesigen Wasserkraftstation zu beginnen, den das zarische Rußland selbst in Friedenszeiten abgelehnt hatte. (...) Vergnügt machte ich mich an die Arbeit. Ich holte die längst vergessenen Zeichnungen wieder hervor."61 Viele „alte" Ingenieure wurden zu Bauherren der Kraftwerke der zwanziger Jahre bzw. des ersten Fünfjahrplans und wechselten oft kollektiv von Baustelle zu Baustelle: von der Satura an die Kasira weiter an den Svir', vom Volchovstroj zum Dneprostroj weiter zum Volgostroj ( 1932-1936).62 So wie die Energetiker wurden auch Ingenieure anderer Branchen wie Bardin und Serebrovskij integriert: Bardin, der 1917 von den Arbeitern der Fabrik in Enakievo zum Chefingenieur gewählt worden war, begann bald mit den Bolschewiki zu kooperieren. 1921 ernannte ihn die Regierung zum Leiter des Stahltrust „Südstahl" (Jugostal '). Bardin ist einer der Ingenieure, der sich unmißverständlich auf die Seite der Sowjetregierung stellte, indem er Mitglied von VARNITSO wurde und deren Filiale in Kuzneck leitete.63 Serebrovskij bekam als alter Parteisoldat zunächst die Leitung der „Putilov-Werke" in Petrograd übertragen, wurde dann stellvertretender Leiter der „Kommission zur Versorgung der Armee", bevor er 1920 den Vorsitz des Öltrusts „Asowöl" (Azneft') übernahm.64 57

Vinter, Mojazizn', S. 17. Vinter, A.V.: Ot Satury do Dneprogèsa, S. 32, in: Sdelaem Rossiju, S. 32-39. 59 Cernysev, Iz istorii razvitija techniki, S. 30, 34, 52, 63. 60 Cernysev, Iz istorii razvitija techniki, S. 36/37. 6i Graftio, GO.: Vstreci, S. 29, in: Sdelaem Rossiju, S. 29-31. 62 Vgl. RGAÈ, f. 641, Zachar'evskij, V.A., op. 1, d. 17, 1. 360ff. 63 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 42ff; Veselovskaja, Dokumenty CGANCh, S. 64 RGAÈ, f. 270, Serebrovskij, A.P., op. I, d. 2,1. 1. 58

1.

X2

Der alte

Ingenieur

Diese Begeisterung für den Aufbau, die die politische Frage, für welches System dies geschah, vollkommen in den Hintergrund drängte, verspürte auch Pal'cinskij. Jedoch war sein Verhältnis zu den Bolschewiki von vornherein belastet, da er in der Provisorischen Regierung als Minister für Handel und Industrie diente und am Tag der Oktoberrevolution, dem 7. November 1917, die Verteidigung des Winterpalastes leitete.65 Er wurde sofort abgeführt und noch zwei weitere Male verhaftet: Im Sommer 1918 nahm ihn die Regierung zusammen mit anderen Angehörigen der Elite als Geisel. Man drohte, ihn zu erschießen, wenn Regierungsmitglieder bei Straßenunruhen umkämen.66 Im August 1922 arrestierte man Pal'cinskij wegen „konterrevolutionärer" und „antisowjetischer" Tätigkeit.67 Er ließ sich von diesen Verhaftungen in seinem Tatendrang nicht beirren, und auch die Sowjetregierung suchte immer wieder seinen Rat.

Hatte Lenin noch während Pal'cinskijs erster Haft eine Polemik über ihn verfaßt, sorgte er bei der zweiten Haft persönlich dafür, daß der Ingenieur in den Genuß der Amnestie vom November 1918 kam.68 In welchem Maße sich Kooperation und Repression überschneiden konnten, wird daran deutlich, daß Pal'cinskij während seines Arrests von Sommer 1918 bis März 1919 seine Geschäfte und Beratungstätigkeit vom Gefängnis aus weiterführte und hier die gesamte technische und wirtschaftliche Elite empfing.69 Aus seiner dritten Haft befreite ihn 1922 Krzizanovskij, da Pal'cinskij inzwischen Mitarbeiter der „Staatlichen Planungskommission" war und Pläne abzuliefern hatte.70 Trotz seiner Exponiertheit ist Pal'cinskij ein exemplarisches Beispiel für all die Haltung all der Ingenieure, die meinten, sie könnten die Einrichtungen der Sowjetunion für ihre Ziele nutzen. Sie waren Technokraten in dem Sinne, daß sie alle über die Industrialisierung hinausgehenden Ziele der Bolschewiki verdrängten und glaubten, sich weiterhin frei äußern und betätigen zu können.71 1924 hatte Pal'cinskij auf einem Kongreß der VAI gefordert, die Bolschewiki müßten den Ingenieuren eine größere Rolle zugestehen.72 In seinen Auftritten und Diskussionsbeiträgen plädierte er immer wieder für eine technikgeleitete Politik. 1926 formulierte er in einem Brief an Rykov, den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, dessen Absendung seine Freunde gerade noch verhindern konnten: 65

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 55, 94ff. Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 97ff. 67

66

68 69 70 71 72

Graham, The Ghost, S. 29f.

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 94, 98. Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 95ff.

Graham, The Ghost, S. 29f. Graham, Science and the Social Order, S. 149.

Garaevskaja, Pal'cinskij, S.

137.

Die alte Elite und die

neuen

83

Machthaber

„Die Basis für die ausgezeichnete und wertvolle, durch die Revolution errungene Herrschaft der Wissenschaft und Technik in unserem Jahrhundert, einem Jahrhundert, das weniger eines der Komintern als der Techintern ist, stellen an erster

Stelle eben diese wissenschaftlich-technischen Kräfte dar."73

träumte

von einer „Technischen Internationale" und verlor darüber den Blick für die Wirklichkeit. Er weigerte sich anzuerkennen, daß er nur für eine gewisse Zeit sein Fachwissen der Sowjetregierung zur Verfügung stellte, daß er ein „spec" war, der sich für Geld und Lebensmittelrationen verkaufte. Die Beschwörungen seiner Frau, er solle sich als ehemaliges Mitglied der Provisorischen Regierung und als Vorsitzender der Russischen Technischen Gesellschaft, die sich immer noch „Kaiserlich" nannte, nicht zu sehr exponieren und sich der von den Bolschewiki vorgegebenen Rolle anpassen, ignorierte er.74 So war er nicht nur Mitglied in der Wissenschaftlich-technischen Abteilung des VSNCh, arbeitete nicht nur bei Gosplan mit und überführte nicht nur sein Institut für Oberflächenforschung in ein sowjetisches Forschungsinstitut. Er organisierte auch sein Komitee für Kriegstechnische Hilfe neu, richtete eine Expertenkommission ein und gründete eine Handels- und Industriegenossenschaft für Ingenieure (Inzenernoe torgovo-promyslennoe tovariscestvo, VINT). Er war Vorsitzender des VSI gewesen, leitete danach die VAI und auch die IRTO, unter der er 1922 eine eigene „Kommission zur Verbesserung der Lebensumstände der Ingenieure" (Komissija po uluceniju byta inzenerov, KUBI) ins Leben rief, die von November 1921 bis Februar 1922 für 1,5 Milliarden Rubel im Ausland Lebensmittel einkaufte.75 Zum Bruch mit der Sowjetregierung kam es in dem Moment, als Pal'cinskij sich wie viele andere Ingenieure auch weigerte, eine Politisierung seiner Tätigkeitsbereiche und die zunehmende Einflußnahme der Partei zuzulassen.76 Als im Dezember 1924 die VAI unter Parteikontrolle gezwungen wurde, erklärte er seinen Austritt: „Zu meinem Bedauern kann überhaupt keine Rede von meiner Rückkehr sein, solange die Assoziation keine freie Ingenieursorganisation mehr ist und sich außer Stande zeigt, die ihr aufgezwungenen Führer, die ihren Charakter zer-

Pal'cinskij

stören, nicht entmachtet."

Nachdem Krzizanovskij ihm mehrfach bedeutet hatte, daß ihm dessen Kritik an der Partei nicht gefalle, verließ Pal'cinskij 1924 auch Gosplan. Als Vorsitzender der IRTO wehrte er sich mit allen Mitteln gegen deren Auflösung, die trotzdem 1925 „liquidiert" und deren Besitz beschlag-

3

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 149ff Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 106, 117. 75 Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 105, 117f; Russkij Inzener", organ" 74

Inzenerov" v" Germanii, Berlin 76 Graham, The Ghost, S. 31. 77 Graham, The Ghost, S. 3If

1921, Nr. 4, S. 80.

Obscestva russkich"

84

Der alte

Ingenieur

nahmt wurde.78 Aber er gab noch immer nicht auf; 1927 gründete er als Ersatz für die aufgelöste IRTO die Organisation „Die Technik den Massen" (Technika massam), um unter diesem Dach mündige, vielseitig qualifizierte Arbeiter auszubilden.79 Er machte damit der Sowjetregierung ein Monopol streitig, die sich unter Stalin zudem bereits für den unqualifizierten Massenarbeiter und den sowjetischen Taylorismus entschieden hatte.80 Schließlich gehörte Pal'cinskij auch zu den Spezialisten, die den Fünfjahrplan mit ihren Ingenieursmaßstäben maßen und sich nicht scheuten, ihn zu kritisieren. Bei der Evaluation der Ölindustrie beanstandete er, daß die Anweisungen aus dem Zentrum keine Rücksicht auf die Belange der Region nähmen, bei der Beurteilung der Celjabinsker Kohleregion 1928 weigerte er sich, ohne genaues Studium aller Aspekte eine Bewertung abzugeben.81 Bei Dneprostroj, für den Pal'cinskij ebenfalls ein Gutachten erstellte, gab er zu bedenken, daß sich evtl. ein Kohlekraftwerk besser rechnen würde; dem Metallkombinat in Magnitogorsk bescheinigte er, daß er am falschen Ort entstehe.82 Für die Parteiführer um Stalin war das reine Ketzerei. Während sich Ingenieure wie Krzizanovskij und Serebrovskij, Graftio und Vinter in der Lage zeigten, sich ganz den Bolschewiki anzupassen bzw. sich für deren Projekt zu begeistern, war Pal'cinskij nicht bereit, sein eigenständiges Handeln und Denken aufzugeben. Während er seine Opposition als legitime Haltung betrachtete, sah die Sowjetregierung in ihm in zunehmendem Maße einen Feind und Widersacher. -

79

80

Garaevskaja, Pal'cinskij, S.

135ff.

Graham, The Ghost, S. 39.

Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 149; Graham, Science in Russia, S. 162; Fitzpatrick, Bolsheviks Dilemma, S. 611. 81 Graham, The Ghost, S. 33. 82 Graham, The Ghost, S. 52, 57.

Die

Vernichtung der alten technischen Intelligenz

85

3) Die Vernichtung der alten technischen Intelligenz a) Sachtinskoe delo und Prompartija

Angesichts der technokratischen Ambitionen vieler Ingenieure und der grundsätzlich anderen Maßstäbe bei der Bewertung des Fünfjahrplans spitzte sich die Situation der technischen Intelligenzija immer weiter zu.

Die Bolschewiki um Stalin verstanden sie zunehmend als ein Hindernis, und sie brauchten einen Sündenbock, um die mangelhafte wirtschaftliche Entwicklung zu erklären. Bereits 1927 wurden in der Stadt Gorlovka im Donez-Becken Grubeningenieure in größerer Zahl als bisher üblich wegen angeblich absichtlich herbeigeführter Unfälle vor Gericht gestellt. Am 10. März 1928 berichtete die Pravda unter dem Titel „Wirtschaftliche Konterrevolution in der Kohleindustrie", die GPU habe eine konterrevolutionäre Wirtschaftsverschwörung unter Grubeningenieuren in der Stadt Sachty aufgedeckt, die seit fünf Jahren systematisch Maschinen ruiniert oder unwirtschaftlich eingesetzt, Feuer gelegt, Gruben unter Wasser gesetzt und sich provozierend gegenüber den Arbeitern verhalten hätten. Sie seien dafür verantwortlich, daß die Gruben, die Millionen von Tonnen Kohle hätten liefern können, nur einen Bruchteil davon gefördert hätten.' Stalin und seine Gefolgsleute inszenierten diesen Prozeß als Auftakt zur Vernichtung der alten Intelligenzija und ihrer Strukturen. Nicht nur den genauen Ablauf der Verhaftungen und einzelnen Prozesse legten sie vorab fest. Das stalinsche Politbüro entwarf auch eine genaue Genealogie der Verschwörung. Bereits 1925 hätten Ingenieure ein konterrevolutionäres „Ingenieurszentrum" gegründet, aus dem später die Täter von Sachty und anderen Sabotagefallen hervorgegangen seien. In den Zeiten des „verschärften Klassenkampfes", wie er beim Übergang von der NEP zur Planwirtschaft stattfände, teile sich die neutrale Masse der Bourgeoisie in Freund und Feind. 1927, als der Wiederaufbau abgeschlossen gewesen sei, hätten die Ingenieure, die immer noch auf eine Wiederherstellung des Kapitalismus gehofft hätten, sich gegen die Sowjetmacht und für einen gewaltsamen Umsturz entschieden.2 Fitzpatrick weist darauf hin, daß die Sachty-Affäre (Sachtinskoe delo) auf einen Coup Stalins hindeute. Das Vorgehen gegen die Ingenieure war im Politbüro nicht abgesprochen, sondern stellte einen Alleingang Stalins und Molotovs dar. Während diese Seite zum großen Schlag gegen die technische Intelligenz und die innerparteiliche Opposition ausholte, versuchten

'Pravda,

2

10.3.1928.

Prokofjew, Techniker, S.

11.

86

Der alte

Ingenieur

andere Politbüromitglieder noch, sich selbst und die Intelligenz in Reden und Zeitungsartikeln zu beruhigen.3 In dem Prozeß, der von März bis Juli 1928 ein Vierteljahr lang die Presse beherrschte, wurden am Ende vier der 53 angeklagten Ingenieure freigesprochen, 38 zu Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren und elf zum Tode verurteilt.4 War der Sachty-Prozeß der Auftakt zur Verfolgung der Ingenieure allgemein, führte die Sowjetregierung vom 25. November bis zum 8. Dezember 1930 einen Prozeß gegen die sogenannte „Industriepartei" (Promyslennaja partija), um mit der Technokratie speziell abzurechnen.5 Der Chefankläger N.V. Krylenko (1885-1938) machte diesmal denjenigen herausragenden Fachkräften den Prozeß, die als Mitarbeiter des VSNCh oder von Gosplan für eine alternative Industrialisierungspolitik plädiert und offen ihre Kritik am Fünfjahrplan geäußert hatten. Sämtliche Branchen, so Krylenko, seien vom „Schädlingstum" befallen worden, und in allen Fällen sei die Sabotage von einer Zentrale ausgegangen, die sich in VSNCh und Gosplan eingenistet habe.6 In diesem Prozeß stellte die Sowjetregierung nicht wie bei der Sachty-Affäre „beliebige" Ingenieure einer einzigen Branche vor Gericht, sondern eine Auswahl der bekanntesten und mächtigsten Wirtschaftsführer des Landes, darunter an erster Stellte Leonid Konstantinovic Ramzin (1887-1948), den weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannten Energietechniker, der Direktor des Technischen Instituts für Thermik in Moskau und Professor an der MVTU war, Ivan Andereevic Kalinnikov (* 1874), der nicht nur Vorsitzender des Produktionssektors von Gosplan und Professor der MilitärFlugakademie, sondern auch Herausgeber des technokratischen Blattes „Ingenieursherold" (Vestnik Inzenerov) war, sowie Pal'cinskij als Anführer der Technokratie. „Entweder mit uns (...) oder mit den Pal'cinskijs", drohte die Presse den Ingenieuren.7 Die Ingenieure um Pal'cinskij waren der Sabotage und Diversion angeklagt: Sie hätten finanzielle Mittel dem Aufbau des eigenen Landes entzogen und statt dessen in den Import teurer Gebrauchsgüter investiert. Für die Umsetzung ihrer Pläne hätten sie 1926 unter der Leitung von Pal'cinskij die „Industriepartei" gegründet, Kontakt zu den ehemaligen Fabrikbesitzern hergestellt und eine Invasion Frankreichs vorbereitet. Die Anklage beschwor den Ingenieur alten Typs herauf, der es aus der Zarenzeit gewohnt war, selbstherrlich Entscheidungen zu treffen und nur an seine eigenen Belange zu denken. Diese Männer, die ihrer Macht enthoben und ihrer Fabriken enteignet worden waren, 3 4

Fitzpatrick, Stalin and the Making of a New Elite, S. 379f.

Pravda, 18.5.1928; 6.7.1928. 5 Za industrializaciju, 25.11.1928; 8.12.1928. 6 Inzenernyj trud, Nr. 21, 20.11.1930, S. 622f. 7 Inzenernyj trud, Nr. 3, 15.2.1930, S. 64.

Die Vernichtung der alten technischen

Intelligenz

S7

so machten die Anklage und die Presse deutlich, seien unfähig, sich auf den Dienst für die Sowjetmacht einzulassen, und müßten deshalb beseitigt werden.8 Von den acht angeklagten Ingenieuren wurden zwei zu fünf Jahren Haft, die anderen zur Todesstrafe verurteilt, die aber nicht in allen Fällen vollstreckt wurde.9 Die VAI als Trägerverein der Technokratie war bereits vor dem Prozeß gegen die Prompartija am 27. August 1929 vom Sowjet der Volkskommissare aufgrund ihrer „Kastenhaftigkeit" sowie der hier vereinigten „Spekulanten" und „finsteren Gestalten" aufgelöst und ihr Besitz samt Zeitschrift „Der Ingenieursherold" an das VMBIT übergeben worden, das auf seinem 4. Kongreß den Triumph über die VAI feierte und postum die „Industriepartei" zur „Zitadelle des Schädlingswesens" und der Technokratie erklärte.10 Doch das VMBIT war keineswegs der große Gewinner der Kulturrevolution, da die Parteiführer und Arbeiteraktivisten bei ihrem Vernichtungsfeldzug auch vor den Gewerkschaften nicht halt machten. Im Gegenteil wurde festgestellt, der Feind habe die besondere Bedeutung der ITS erkannt und sie deshalb mit „Schädlingen" durchsetzt. Die ITS beständen zum größten Teil aus „Ehemaligen": „kleinen und größeren Unternehmern, Besitzern von technischen Büros, diplomierten Unternehmern."" Das VMBIT und die VARNITSO versuchten sich zu retten, indem sie sich beeilten, die Feinde in den eigenen Reihen zu denunzieren. Das VMBIT veröffentlichte unmittelbar nach Bekanntwerden des SachtyFalls eine Erklärung, in der es die „Verbrecher" verurteilte, die Entlarvung aller Feinde in den eigenen Reihen schwor und eine harte Bestrafung forderte.12 Sowohl das VMBIT als auch die VARNITSO wurden bei Stalin mit der Bitte vorstellig, in den Prozessen gegen die SachtyIngenieure und die Industriepartei einen .Ankläger aus der Bevölkerung" (obscestvennyj obvinitel') stellen zu dürfen, der vor Gericht die Anklage gegen die Ingenieure mitvertreten sollte, um zu zeigen, daß sie an vorderster Front gegen die „Schädlinge" vorgingen.13 Gleichzeitig begannen die Organisationen, sich in Ritualen der Selbstkritik selbst anzuprangern, sie seien nicht in der Lage gewesen, die Feinde in ihren eigenen Reihen zu enttarnen und die Masse der ITR für den sozialistischen Aufbau zu akti-

8

Za industrializaciju, 5.11.1930; 11.11.1930. Za industrializaciju, 8.12.1930. 10 Der VMBIT führte die Zeitschrift unter dem Titel Vestnik inzenerov i technikov weiter; der Anhang „und Techniker" unterstrich die Nähe zu den niederen technischen Berufen und den

Arbeitern. Nach Auflösung der Inzenernyj trud 1935 fungierte der Herold bis zu seiner Einstellung 1953 auch als Organ des VMBIT. Inzenernyj trud, Nr. 16, 30.8.1929, S. 465, 491; Nr. 22-23, 5.-20.12.1930, S. 667f. 1' Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1928, S. 361. 12 Inzenernyj trud, Nr. 3, März 1928, Sonderbeilage. 13 RGAÉ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 41,1. 12 (Telegramm an Stalin).

88

Der alte

Ingenieur

Leitung des VMBIT gesäubert und die ITS neu gewählt. Die Inzenernyj trud, deren Artikel bis 1928 in einem relativ nüchternen und liberalen Stil geschrieben worden waren und die zu einem Großteil noch aus Fachaufsätzen bestand, machten die Redakteure unter dem Eindruck der Bedrohung zu einem Kampfblatt zur Durchsetzung der Regierungspolitik. Dennoch wurde im April 1929 und erneut Ende 1930 fast das ganze Kollegium ausgewechselt.15 Die Zeitschrift übte Selbstkritik: „Erst nach der Ersetzung der opportunistischen Führung, dem Rausschmiß der Schädlinge aus dem VMBIT und den Organen der ITS, nachdem wir unsere apolitische Haltung überwunden hatten, kam die Inzenernyj trud auf den Weg der bolschewistischen Presse."1 Die Verfolgung der alten technischen Intelligenz in den bestehenden sowjetischen Strukturen richtete sich auch gegen „Lenins" Ingenieure. Im Prozeß der Prompartija stellte die Staatsanwaltschaft nicht nur eine Reihe von Ingenieuren des GOÈLRO vor Gericht; die Verhandlung war auch so angesetzt, daß sie mit dem zehnjährigen Jubiläum des GOÈLRO, das im Dezember 1930 begangen wurde, zusammenfiel.17 Zur gleichen Zeit, am 11.11.1930, wurde Krzizanovskij von seinem Posten als Vorsitzender von Gosplan entlassen und Valerian Vladimirovic Kujbysev (1888-1935) mußte sein Amt als Vorsitzender des VSNCh an Grigorij Konstantinovic Ordjonikidze (1886-1937) übergeben.18 Stalin begann, seine eigenen Gefolgsleute zu installieren und durch die massenhaften Verhaftungen in den Behörden die ersten jungen Ingenieure, die aus der Arbeiterschaft stammten, in verantwortungsvolle Positionen zu hieven.19 Auf diese Weise wurden die alten Strukturen der Intelligenzija zerschlagen und die neuen gesäubert und gefügig gemacht.

vieren.14 Nichtsdestotrotz wurde die

b) Ingenieursschicksale während der Schauprozesse Die permanenten Berichte über „Schädlingsaktionen" und die nicht enden wollende Reihe von kleinen und großen Prozessen gegen Wissenschaftler und Techniker sorgten dafür, daß selbst Ingenieure an Sabotage glaubten. Die Ingenieurin Tat'jana Borisovna Stjunkel' berichtet, daß der Prozeß gegen die Sachty-Ingenieure in ihrer Familie ein Drama auslöste. Ihr Vater, Professor Boris Érnestovic Stjunkel' (1882-1938), der 1925-28 In14

Za industrializaciju, 3.11.1930; Inzenernyj trud, Nr. 22-23, 5.-20.12.1930, S. 669. Inzenernyj trud, Nr. 9, 1.5.1929, S. 257; Nr. 1-2, Januar 1931, S. 1. 16 Inzenernyj trud, Nr. 5, Mai 1934, S. 130f. 17 Za industrializaciju, 22.12.1930, Inzenernyj trud, Nr. 24, 31.12.1930, S. 715. 18 Za industrializaciju, 11.11.1930. 19 Vgl. RGAÈ, f. 543, Steklov, V.Ju., op. 2, d. 117: Otryvki iz vospominanij, 1960, S. 3ff. 15

Die Vernichtung der alten technischen Intelligenz

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der Kraftwerks-Gesellschaft „Wärme und Kraft" und danach stellvertretender Vorsitzender des Komitees zur Elektrifizierung des Donbass war, habe geglaubt, daß die angeklagten Ingenieure schuldig seien. Sein Bruder versuchte vergeblich, ihn zu überzeugen, daß die Anschuldigungen bloße Lügen waren, und floh 1928 allein aus Rußland.20 Stjunkel' und sein Freund Sergej Dmitrievic Sejn, Vorsitzender des VMBIT, Chefredakteur der Inzenernyj trud und ,Ankläger aus der Gesellschaft" im Sachty-Prozeß, beide Mitbegründer der VARNITSO, blieben dagegen im Land, weil sie eine Verschwörung gegen die Ingenieure für absurd hielten.21 Sejn war einer der Ingenieure, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts an der revolutionären Bewegung teilgenommen hatten, mehrfach verhaftet worden waren und 1917 sofort verantwortungsvolle Posten in der Chemischen Industrie übernommen hatten.22 Im Prozeß der Industriepartei beschuldigten Ramzin und V.A. Laricev (*1887), Vorsitzender der Abteilung für Brennstoffe von Gosplan, Sejn als Mitglied des „ZK der Prompartijd' und des „Ingenieurzentrums"; er sei die Schaltstelle zwischen den sowjetischen Organisationen und den alten Ingenieuren gewesen und habe die Rolle als Ankläger aus der Gesellschaft" nur als Tarnung benutzt.23 Obwohl Sejn in vielen Reden die Fehler des VMBIT bereute und Besserung gelobte, wurde er im April 1929 nach dem 4. Kongreß des VMBIT des Postens des Chefredakteurs enthoben und 1930 als Mitglied der Prompartija zum Tode verurteilt.24 B.É. Stjunkel' wurde bereits 1928 zusammen mit anderen namhaften Ingenieuren kurz nach dem Sachty-Prozeß der Sabotage angeklagt: Sie hätten in der Baskirischen Republik die Inbetriebnahme eines Kraftwerks absichtlich verzögert.25 Während dieser Prozeß auf Einmischung des Präsidiums des VSNCh hin gestoppt wurde, verhaftete die GPU Stjunkel' nach dem Prozeß gegen die Prompartija und verurteilte ihn als Mitglied der „Char'kover Filiale der Prompartija" zu zehn Jahren Arbeit im Konstruktionsbüro der GPU.26 Stjunkel' wurde zur Technokratie gezählt, da ihn Èngel'mejer in seinem Artikel über die „Technikphilosophie" mit den Worten zitiert hatte, die Industrie könne sich nur normal entwickeln,

genieur

20

RGAÉ, f. 332, Kollekcija dokumentärnych materialov vidnych dejatelej metallurgiceskoj op. 1, d. 104-109: Stjunkel', B.É, hier: d. 104,1. 10. promyslennosti, 21 22

RGAÉ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 1,1. 36.

Inzenernyj trud, Nr. 10, 25.5.1929, S. 290. 23 Inzenernyj trud, Nr. 22-23, 5.-20.12.1930, S. 669f. 24 Inzenernyj trud, Nr. 7, Juli 1928, S. 302; Nr. 19, 15.10.1929,

S. 500; Nr. 20, 31.10.1929,

S. 596.

25 26

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 7, d. 52,1. 7ff. RGAE, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 1,1. 36; f. 332, Stjunkel', B.Ë., op. 1, d. 104, 1. 10.

90

Der alte

Ingenieur

Spitze eines jeden Unternehmens ein erfahrener, vielseitig gebildeter Ingenieur stehe.27 Die Ingenieure Sejn und Stjunkel' zeigen, wie Täter selbst zu Opfern wurden und welche Tragödie sich für Menschen abspielten, die an die Sowjetunion glaubten und sich nicht vorstellen konnten, daß sich die Regierung der alten Ingenieure entledigen wollte. Selbst Pal'cinskij glaubte nicht daran, daß die Bolschewiki gegen die Ingenieure gezielt vorgehen könnten, sondern vertrat die Meinung, daß die GPU einem „falschen Agenten" aus dem Ausland aufgesessen sei, so

wenn an

der

daß sich bald „alles aufklären" werde. Die Warnungen seiner Frau Nina Aleksandrovna, die die Lage wesentlich realistischer einschätzte und „ein Unglück" kommen sah, brachten Pal'cinskij nicht von seiner Meinung ab, daß Recht und Wahrheit sich durchsetzen würden.28 Am 21. April 1928, kurz nach Veröffentlichung der Sachty-Affäre, wurde Pal'cinskij in seiner Wohnung in Leningrad verhaftet. Die GPU führte bereits seit 1926 eine Akte über ihn, die auch Denunziationen aus seinem Kollegenkreis enthielt. Da Pal'cinskij kein „Geständnis" ablegte, wurde ihm nicht zusammen mit den Sachty-Ingenieuren der Prozeß gemacht. Nach sechs Monaten Gefängnis schrieb Pal'cinskij schließlich eine Abrechnung mit dem Regime, in der er die GPU und die Partei beschuldigte, das Land zu zerstören. Damit hatte der Ermittler endlich die Aussage Pal'cinskijs in der Hand, seine politische Tätigkeit sei „antibolschewistisch" gewesen, und, wenn man die Sowjetmacht mit einer Diktatur des Proletariats gleichsetze, auch „antisowjetisch". Nachdem die Staatsanwaltschaft seinen Fall an das Verfahren gegen Ingenieure aus der Gold- und Platinindustrie Anfang 1929 gehängt hatte, verkündete die Pravda am 24. Mai 1929, daß Pal'cinskij am 22. Mai zum Tode verurteilt und das Urteil bereits vollstreckt worden sei.29 Da aber Pal'cinskijs Name zu bekannt und seine Bedeutung für die Technokratie zu groß war, als daß der Partei eine physische Vernichtung gereicht hätte, wurde er posthum zum Gründer der Industriepartei erklärt und in dem Prozeß 1930 als einer der Anführer der Technokratie ein zweites Mal vernichtet, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Kalinnikov, Ramzin, Laricev und die anderen Angeklagten wurden in dem Verfahren dazu genötigt, Pal'cinskij schwer zu belasten.30 Er wurde erst 1989 rehabilitiert.31 Die alte technische Intelligenzija war nach den Prozessen zu Beginn des Jahres 1931 in ihren Strukturen vernichtet, ihre herausragenden Ver27

Inzenernyj trud, Nr. 2, 15.1.1929, S. 39. Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 152, 157. 29 Garaevskaja, Pal'cinskij, S. 154ff. 30

28

31

Pravda, 1.12.1930.

Garaevskaja, Pal'cinskij, S.

169.

Die

Vernichtung der alten technischen Intelligenz

91

Allerdings wurden nur wenige wie Pal'cinskij tatsächlich erschossen. Der Großteil arbeitete wie Stjunkel' in Konstruktionsbüros, in Erziehungslagern wie dem zum Bau des Weißmeerkanals oder in ganz normalen Fabriken weiter. Allein in Leningrad waren 98 verhaftete Ingenieure in den großen Unternehmen wie der Putreter verurteilt und in Haft.

tilov-Fabrik, der Metallfabrik Stalin, auf dem Kraftwerk Èlektrosila und in anderen Betrieben beschäftigt.32 In den Listen, die über die verhafteten Ingenieure geführt wurden, war sorgfältig vermerkt, wo der Verurteilte gebraucht wurde und einzusetzen sei.33 Die verhafteten Ingenieure wurden zu großen Teilen 1931/32 wieder entlassen, rehabilitiert und sogar für die in Gefangenschaft geleistete Arbeit ausgezeichnet.34 Viele von ihnen verhaftete der NKVD allerdings in den Jahren 1937/38 erneut. Stjunkel' wurde 1931 rehabilitiert, 1938 erschossen und 1956 rehabilitiert.35 Boris Ugrimov, 1930 ebenfalls als Mitglied der Prompartija verurteilt und nach Sverdlovsk verbannt, durfte im Frühjahr 1932 nach Moskau zurückkeh-

ren. Er wurde 1937 erneut verhaftet und kam 1941 in Gefangenschaft um.36 Ramzin, der noch im Prozeß bekundet hatte, er sei bereit, alles für die Sowjetunion zu tun und ihr bedingungslos zu dienen, wurde unter GPU-Aufsicht gestellt und durfte in ständiger Begleitung von Staatssicherheitsbeamten weiterhin als gefragter Energiespezialist tätig sein.37

c) Der alte Ingenieur in Literatur und Film „Es muß als charakteristisch festgehalten werden, daß die Sachty-Täter auf

Anklagebank der sowjetischen Literatur und des Theaters saßen, lange bevor der Arm des Obersten Gerichts sie auf die tatsächliche Anklagebank im Säulensaal des Gewerkschaftshauses setzte",38 der

stellte die Inzenernyj trud im Februar 1929 fest. Tatsächlich präsentierten Schriftsteller bereits vor 1928 den Ingenieur in ihren Werken als Feind der Arbeiter, als unbelehrbaren Aristokraten und schließlich auch als Saboteur. In der Literatur dominierte der Typ des ewiggestrigen Spezialisten, der nicht bereit war, den Bolschewiki zu folgen und der an der neuen Wirklichkeit scheiterte. Der sich der Kooperation verweigernde Ingenieur war so präsent, daß die Inzenernyj trud befand, die Schriftsteller übertrieben und versäumten es, auch positive Ingenieure darzustellen. 32 33

RCChlDNI, f. 85, Ordjonikidze, G.K., op. 27, d. 30,1. 2ff. RCChlDNI, f. 17, Kollekcija dokumental'nych materialov ob oppozicii, op. 71, d. 28,

1. 15ff. 34

35 36

37 38

RCChlDNI, fond 85, Ordjonikidze, G.K., op. 27, d. 89,1. 1, d. 30,1. 1. RGAÉ, f. 332, Stjunkel', B.É., op. 1, d. 104,1. 11, 24. RGAÉ, f. 228, Ugrimov, B.I., op. 1, d. 1,1. 66.

Fedjukin, Velikj Oktjabr', S. 385. Inzenernyj trud, Nr. 4, 15.2.1929, S.

103.

92

Der alte

Ingenieur

Mit der Verbreitung des Feindbilds „Ingenieur" in der Literatur bekam die Vorstellung, der Spezialist sei ein „Schädling", eine gewisse Normalität, so daß lange vor dem Sachty-Prozeß der Boden für Anfeindungen bereitet war. Parteiaktivisten griffen auf die literarischen Figuren zurück, um zu illustrieren, mit welchem Typ Ingenieur sie auf der Arbeit konfrontiert waren. Der Redakteur der Inzenernyj trud, M.N. Bocacer, erklärte den Ingenieur Gabruch aus dem dreiteiligen Roman „Natal'ja Tarpova" (1925-1927) von Sergej Aleksandrovic Semenov (1893-1942) zum typischen Techniker, mit dem man es überall zu tun habe: „Er lebt in Leningrad. Sie können ihn oft im Wagen erster Klasse des Schnellzuges „Moskau-Leningrad" treffen: Er besucht oft die Hauptstadt. Sie treffen ihn auch auf Sitzungen der Hauptverwaltungen der Wirtschaft und von Gosplan, wo er mit ernsthafter Geschäftigkeit das „Budget seiner Fabrik" gegen die hauptstädtischen Streichabsichten verteidigt. Wo sich seine Fabrik befindet, können wir nicht sagen, da der Autor von ,Natal'ja Tarpova' S. Semenov

die Adresse nicht angibt."39

„Natal'ja Tarpova" ist eine Art Sittenroman und beschreibt die unterschiedlichen Handlungsmaximen, Weltanschauungen und Bräuche der neuen sowjetischen Generation, verkörpert durch die Arbeiterin Natal'ja Ipat'evna Tarpova einerseits und den Ingenieur Viktor Sergeevic Gabruch andererseits. Semenov stellt Gabruch als verbrauchten, perspektivlosen und in bürokratischen Abläufen gefangenen Mann vor, der sich von der Kraft und Energie ausstrahlenden jungen Arbeiteraktivistin Tarpova angezogen fühlt.40 Bocacer streicht heraus, daß Gabruch der Ingenieur ist, der auf den ersten Blick wie ein Enthusiast des sozialistischen Aufbaus erscheint, seinen Kollegen und seinen Eltern nicht in die Emigration folgte und Verständnis dafür hat, daß solche Menschen auf den „Müllhaufen der Geschichte" gehören. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich, daß Gabruch ein smenovechovec ist, ein Ingenieur, der unabhängig von den Bolschewiki Rußland aufbauen möchte, und damit nicht den Sozialismus, sondern einen kapitalistischen Staat meint. Die Bolschewiki toleriert er nur soweit, wie sie ihn nicht bei seiner Arbeit stören. Gabruch, ist Bocacer überzeugt, ist der typische Klassenfeind, der unfähig ist, sich zu wandeln oder von der Partei umerzogen zu werden: „Wir unterstreichen: Gabruch wird sich nicht ändern. Ihn rettet Wir werden

Weg."41

uns

nur das Grab. nicht auf die Gabruchs verlassen. Sie teilen nicht unseren

Genauso „berühmt" wie Gabruch war auch der Ingenieur German Germonovic Klejst aus Fedor Vasil'evic Gladkovs (1883-1958) Roman

39 40 41

Inzenernyj trud, Nr. 18, 30.9.1929, S. 532. Semenov, S.A.: Natal'ja Tarpova, Moskau, Leningrad 1928. Inzenernyj trud, Nr. 18, 30.9.1929, S. 533ff.

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Vernichtung der alten technischen Intelligenz

93

„Zement" (1925).42 Wie Semenov stellt Gladkov den alten Ingenieur, dessen Welt untergegangen ist, dem Arbeiter Gleb Cumalov, der erst am Anfang seines Weges steht, unversöhnlich gegenüber. Nach dem Bürgerkrieg kehrt Cumalov in seine Heimatstadt zurück, wo das einst stolze

Zementwerk stillsteht. Er ist als Arbeiter derjenige, der all seine Kraft dafür einsetzt, daß die Fabrik wiederaufgebaut wird, während der Ingenieur Klejst als Bauherr längst sein Werk, sich selbst und Rußland aufgegeben hat. Klejst ist ein verbitterter, ergrauter und gebückter Herr, ein „Emigrant im Kellerloch", der sich hinter Staub und Spinnweben im Muff der Zarenzeit versteckt.43 Er läßt sich schließlich von dem Enthusiasmus Cumalovs anstecken und arbeitet demütig für die Bolschewiki. In seiner Einsamkeit erinnert er an den Ingenieur Ménni, der sein Lebenswerk vollendet, bevor er stirbt und eine ganze Epoche mit ins Grab nimmt. Zeigte Gladkov ursprünglich mit „Zement", wie die Bolschewiki die alten Ingenieure zur Mitarbeit bewegte, galt Klejst während der Kulturrevolution als Negativbeispiel der alten individualistischen Ingenieure, die sich als Erschaffer einer Fabrik gerierten und nicht in der Lage waren, sich als Teil der den Sozialismus bauenden Masse zu begreifen.44 Der dritte Ingenieur in dieser Runde ist der Ingenieur Filip Aleksandrovic Renne aus einem der ersten und auch bekanntesten Werke über die Zeit des ersten Fünfjahrplans „Das Werk im Urwald" (Sot\ 1928-29) von Leonid Maksimovic Leonov (*1899), das von dem Bau einer Papierfabrik mitten in der Wildnis am Fluß Sot' zu Beginn des ersten Fünfjahrplans erzählt.45 Leonov zeigt noch drastischer als Gladkov und Semenov, daß der alte Ingenieur die neue Welt nicht versteht und in ihr zum Scheitern verurteilt ist. Für ihn ist mit der Revolution „das Licht der Welt" ausgegangen, seine Frau ist erblindet und er selbst wird fast von der Straßenbahn, einem Symbol des Fortschritts, überrollt.46 Renne besitzt alle Eigenschaften des zurückgebliebenen Ingenieurs: Er glaubt, daß ein schnelles Bautempo nicht zu Rußland paßt, spricht sich gegen den Import von Maschinen aus den USA aus und ist in den „alten russischen Maßstäben" gefangen. Als Zeichen seiner Rückständigkeit trägt er die Ingenieursmütze, die er sich weigert abzulegen. Nachdem ihn die Arbeiter zur Demütigung auf einer Schubkarre durchs Dorf gefahren haben, erschießt sich der alte Ingenieur.47 42

Vgl. auch Mayer, Der Sowjetische Industrieroman; Leppmann, Wolfgang: Fedor Gladkov, in: Osteuropa 1930/31, S. 329-337; Busch, Robert: Gladkov's Cement: The Making of a Soviet Classic, in: Slavic and East European Journal 22 (1978) 3, S. 348-361. 43 Gladkov, Fjodor: Zement, Leipzig 1975, S. 101. 44 Front nauki i techniki, Nr. 4-5, April/Mai 1931, S. 63. 45 Front nauki i techniki, Nr. 4-5, April / Mai 1931, S. 67. 46 Leonov, L.M.: Sot', Moskau Leningrad 1930, S. 73ff. 47 Leonov, Sot', S. 99, 130, 177, 219, 224.

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Der alte

Ingenieur

Den Ingenieuren Klejst, Gabruch und Renne folgten noch viele anderer ihrer Art: der Ingenieur Zvjagincev aus Aleksandr Il'ic Bezymenskijs (*1898) Komödie in Versen „Der Schuß" (Vystrel, 1929), dem Bezymenskij in den Mund legte: „In unseren Reihen findet sich so manch gemeiner Lump Wählt selbst für die Zusammenarbeit die besten von uns

aus,"4

Ingenieur Goncarov aus Nikolaj Fedorovic Pogodins (1900-1962) Drama „Tempo" (Temp, 1930), der als Adliger im Ausland studiert hat und jetzt Sabotage betreibt,49 oder der Ingenieur Nalbandov aus Valentin Petrovic Kataevs (* 1897) „Im Sturmschritt vorwärts!" (Vremja, vpered!, 1932), der den Enthusiasmus für „unwissenschaftlich" erklärt.50 Die literarische Ingenieursfigur entsprach ganz dem Bild des Reaktionärs, das auch in den Medien gezeichnet wurde. Ingenieure aus der Zarenzeit waren alte, behäbige, der Welt entfremdete Männer, die zwar behaupteten, sie seien loyal und gingen mit den Bolschewiki den gleichen Weg, die aber tatsächlich den sozialistischen Aufbau nicht begriffen und sich im Zweifelsfall als „Schädlinge" entpuppten. Sie alle trugen als Ausdruck ihrer konservativ-reaktionären Haltung die Ingenieursmütze oder das Ingenieursabzeichen. Auch wenn diese Werke z.T. heitere Komödien waren und die alten Ingenieure verulkten, trugen sie doch zu dem durchgängig negativen Bild vom alten Ingenieur bei. Der „Schädlings"-Ingenieur war in den Romanen und im Theater omnipräsent. Darüber hinaus transportierte auch der Spielfilm in diesen Jahren das Bild vom Ingenieur als Saboteur. Im April 1928, passend zur SachtyAffäre, kam die Verfilmung von „Zement" in die Kinos, wobei das Sujet auf den Kampf Cumalovs mit den „bösartigen Intrigen maskierter Feinde aus den Reihen der technischen Spezialisten" zugespitzt wurde.51 Ebenfalls 1928 erschien in den Moskauer Kinos der Film „Der Ingenieur Elagin", der gleich von drei Ingenieuren handelte, die willkürlich eine Explosion in einer Lokomotivbaufabrik herbeiführen.52 Bemerkenswert

der

ist, daß in dieser Zeit außerdem zwei Filme anliefen, die vor der Revolution spielen und dezidiert den vorrevolutionären Ingenieur zeigen, der die Arbeiter schindet und verhöhnt. Im Januar 1928 war der bereits 1926 gedrehte Film „Die Explosion" zu sehen, der in den Kohlegruben im Donbass vor 1917 spielt. Gezeigt wurde der Ingenieur Klimovic, der nicht nur 48

Bezymenskij, A.: Vystrel. Komedija v stichach, Moskau Leningrad 1930, S. 34. Pogodin, N.: Temp, S. 97, in: ders.: Sobranie socinenij v 4ch tomach, Moskau 1972, Bd. 1. 50 Kataev, V.P.: Vremja, vpered!, Moskau 1932, S. 297. 51 Cement, VUFKU Odessa 1927, Regie: V. Vil'ner, der Film ist nicht erhalten. Maceret, Aleksandr: Sovetskie chudozestvennye fil'my, anotirovannyj katalog, Bd. 1, Moskau 1961,

49

S. 233f. 52 Inzener Elagin, Sovkino Leningrad 1928, Regie: V. Fejnberg, der Film ist nicht erhalten. Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 1, S. 266.

Die

Vernichtung der alten technischen Intelligenz

95

ausgesprochen grausam mit seinen Arbeitern umgeht, sondern auch eine Arbeiterin vergewaltigt, den Seilzug des Lifts kappt, so daß ein Arbeiteraktivist zu Tode kommt, eine Explosion hervorruft und Arbeiteraktivisten

im Stollen einmauern läßt.53 „Goldene Berge", der 1931 anlief, spielt im Jahr 1914 und zeigt wie „Die Explosion" den Ingenieur als grausamen und zynischen Unterdrükker der Arbeiter, der zudem weniger ein Techniker als ein arroganter Aristokrat ist. Nach der letzten Mode gekleidet, mit Glacehandschuhen und einem gepflegten Zwirbelschnurrbart ausgestattet, erscheint er als der typische St. Petersburger Dandy. Sein Ort ist nicht die Fabrik, in der er eher als Fremdkörper wirkt, sondern der Salon, in dem er am Konzertflügel musizierend gezeigt wird. Um einen Streik in seiner Petersburger Fabrik „Krutilov und Sohn" zu verhindern, untergräbt er die Arbeitersolidarität, indem er dem Arbeiter Petr eine silberne Taschenuhr schenkt. Der dicke Meister und der Ingenieur amüsieren sich köstlich über diesen Streich, der seine Wirkung nicht verfehlt: Petr verrät seine Genossen. In letzter Sekunde aber merkt Petr, welchem Irrtum er erlegen ist. Er schlägt den Meister nieder und gibt rechtzeitig das Signal zum Streikbeginn.54 Diese beiden Filme griffen auf die vorrevolutionäre Zeit zurück, um den Ingenieur noch überzeugender als unversöhnlichen Feind des Arbeiters zeigen zu können. Zum einen wurden zehn Jahre Annäherung der Ingenieure an die Bolschewiki durchgestrichen und wie ungeschehen gemacht. Die Filme wirken, als wenn sie sagen wollten, dies seien die Ingenieure, mit denen man es auch heute noch zu tun habe: Kapitalisten, Menschenschinder und Mörder. Zum anderen wurde die Revolution wieder in Erinnerung gebracht und gezeigt, daß der bewaffnete Aufstand das geeignete Mittel zur Bekämpfung der Ingenieure sei. Übertragen auf die Situation zur Zeit der Kulturrevolution wirkten die Filme wie ein Aufruf, die 1917 begonnene Revolution jetzt fortzusetzen und ein zweites Mal eine Attacke gegen die Spezialisten zu führen.

d) Kulturrevolution Die Kulturrevolution, die

von

1928 bis 1931 währte,

Elitenwechsel,55 sondern beinhaltete

v.a.

auch eine

nicht allein ein Ablösung der alten war

53

Vzryv, VUFKU Odessa 1926, Regie: P. Sazonov, der Film ¡st nicht erhalten. Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 1, S. 128. 54 Zlatye gory, Sojuzkino Leningrad 1931, Regie: S. Jutkevic, Filmnachweis: Bundesarchiv Filmarchiv, Berlin. 55 Siehe Fitzpatrick: Cultural Revolution as Class War, Chapter 6, in: dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia, Ithaca, London, 1992, S. 115-148; Kim, M.P.: Istoriceskij opyt kul'turnoj revoljucii v SSSR, in: Voprosy istorii 43/1 (1968) I, S. 109-

96

Der alte

Ingenieur

Idealvorstellungen.56 Der alte Ingenieur mit all seispezifischen Eigenschaften wie wissenschaftliche Präzision, bürgerlicher Hintergrund und politische Zurückhaltung wurde diffamiert, karikiert und schließlich kriminalisiert.57 Mit dem Sachty-Prozeß wurde das alte Feindbild des zarischen Ingenieurs heraufbeschworen und jede Anstrengung, den Ingenieur als Freund des Arbeiters erscheinen zu lassen, wieder zunichte gemacht. Diese Umwertung des Spezialisten wirkte wie ein Katalysator auf die aufgestaute Wut und Aggression; Sozialneid und Arbeitskonflikte konnten von Arbeitern wieder ausgelebt werden, ohne daß sie Sanktionen befürchten mußten. Es kam zu einem Zusammenspiel von vorgegebenen Feindbildern einerseits und traditionellem Ouvrierismus und Syndikalismus andererseits. Der Klassenkampf war keine Erfindung der Bolschewiki: Vielmehr empfanden viele Arbeiter nach wie vor die Ingenieure als ihre Peiniger. Nun machten sie sich das Vokabular der Regierung zu eigen und gingen damit gegen ihre vermeintlichen Feinde vor. In den zwanziger Jahren, so berichtete das VMBIT, sei das Verhältnis zwischen den Arbeitern und Ingenieuren insgesamt gut gewesen, weil die Arbeiter eingesehen hätten, daß die Ingenieure gebraucht würden. Nur 1926 sei es zu einer Reihe von Zwischenfallen, Morddrohungen und Morden gekommen, als feste Arbeitsnormen eingeführt worden waren und Ingenieure das Recht bekommen hatten, Arbeiter zu entlassen. Aber nach dem Sachty-Fall im Jahr 1928 noch für ein gutes Verhältnis zwiMaßstäbe,

Werte und

nen

schen Arbeitern und ITR zu sorgen, hielt das VMBIT für fast unmöglich.58 Die Arbeiter fühlten sich durch die Prozesse und öffentlichen Anklagen in ihrem Vorgehen gegen Ingenieure bestätigt. Viele „unaufgeklärte" Arbeiter befanden nach dem Sachty-Fall: „Ich bin ein Arbeiter. Ich darf alles! Aber ,er' soll ich mit ihm zimperlich

sein!"59

ist ein spec, ein Bürokrat,

was

-

Die offizielle Losung, im Verhalten gegenüber den Spezialisten „gesundes Mißtrauen" zu zeigen, übersetzten Arbeiter wie die der Grube Nr. 22 der Bergbauverwaltung in Kadievo in den Schlachtruf: „Die Spezialisten jagen!" (Gnat' specialistov!). Sie beschlagnahmten deren Autos und Fuhrwerke, warfen sie aus ihren Wohnungen und gründeten unter der Gewerkschaft eine Kommission zur Wohnungsenteignung und Lohnminderung für Ingenieure. Techniker wurden zunehmend auch für Vorfälle 122; Biggart, Dz.: Bucharin, „kul'turnaja revoljucija" i istoki stalinizma, in: Otecestvennaja 90-104. istorija2(1994),S. 56 Vgl. dazu auch David-Fox, Michael: What ist Cultural Revolution?, in: Russian Review 58

1,S. 181-201. (1999) 57

Siehe auch: Schattenberg, Susanne: „Uniformierte Schädlinge". Die alten technischen Spezialisten und die Kulturrevolution in der Sowjetunion (1928-31), in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte. Revue d'histoire, 8 (2001) 2, S. 85-95. 58 GARF, fond 5548, VMBIT, op. 7, d. 71,1. 5. 59 Inzenernyj trud, Nr. 12, Dezember 1928, S. 531.

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Verantwortung gezogen, mit denen sie überhaupt nicht in Verbindung standen. Sie wurden bestraft, weil Arbeiter ihr Wohnheim nicht putzten oder unter ihrem Bett Kartoffeln bunkerten. Bei Betriebsunfällen wurde nicht mehr nach der Ursache gefragt, sondern von vornherein der Ingenieur beschuldigt. In der Vorosilov-Fabrik äußerten Arbeiter die Meinung, sie brauchten keine Spezialisten mehr, denn ohne sie gebe es wenigstens keine Sabotage. Als auf Dneprostroj die ITS einen Raum beantragte, reagierte das Arbeiterkomitee: „Wir werden keinen Adelsclub dulden."60 Die An- und Übergriffe auf Ingenieure nahmen zu. In der KarlLiebknecht-Zuckerfabrik in L'govsk attackierte ein Arbeiter den stellvertretenden Direktor tätlich, weil dieser ihn in eine andere Abteilung versetzt hatte. In der Fabrik Nr. 1 in Tula schlug ein Arbeiter den Leiter mit einem Stuhl zusammen; ein anderer verprügelte seinen Meister, weil dieser sich weigerte, die Normen zu senken; in der Leningrader Fabrik Skorochod schoß ein Arbeiter auf seinen Vorgesetzten.61 Zu Beginn des Jahres 1929 bilanzierte die Inzenernyj trud für 1928 eine Zunahme der „Anti-Spezialisten-Haltung" (antispecovskie nastroenija) unter den Arbeitern, die ihren Ausdruck in „Hooliganismus" und „pogromhaften Ausschreitungen" gegen Ingenieure gefunden hätte.62 Die von der Sowjetregierung in den Schauprozessen und in den Medien gesetzten Signale wurden von Arbeitern sofort verstanden. Das Bild des alten Ingenieurs setzte sich aus drei Anschuldigungen zusammen, die als Vorurteile bereits seit dem 19. Jahrhundert existierten. Der zentrale Vorwurf lautete, die zarischen Ingenieure seien theorielastig und würden sich in der Praxis nicht auskennen. Sie arbeiteten ihr Leben lang am Schreibtisch und im Büro, produzierten endlose, unnütze Zahlenreihen und Berechnungen, versagten aber an der konkreten Maschine und könnten nicht einmal den einfachsten Mechanismus bedienen. Gleichzeitig wurde während des ersten Fünfjahrplans der Sinn wissenschaftlicher Forschung generell in Frage gestellt: Sie habe die „Verbindung zur Praxis" verloren und sei reiner „Selbstzweck" ohne praktischen Nutzen geworden. Als „Empirismus" wurde die Wissenschaft verhöhnt, den der Ingenieur überwinden müsse, um zum Materialismus zu gelangen. Die Zeitschrift „Neue Welt" (Novyj Mir) verstieg sich sogar zu der Aussage, in Italien könne man sehen, daß die bourgeoise Wissenschaft in Denkverbote münde.63 Die Inzenernyj trud führte als besonders negatives Beispiel für die Entfremdung der

zur

60

Inzenernyj trud, Nr. 8, 15.4.1929, S. 7f. Inzenernyj trud, Nr. 12, Dezember 1928, S. 531. 62 Inzenernyj trud, Nr. 1, 1.1.1929, S. 3. 63 Novyj Mir, Nr. 2, 1929, S. 193, 198. 61

98

Der alte

Ingenieur

VIlOHb

H IllOJIliOn 'ITO-TO

MOpTIlT,

'ITO-TO nHIHOT...

Abb. 3a und 3b: Karikaturen über Ingenieure der vorrevolutionären Generation, denen Raffgier, Usurpation und Gastrollen-Verhalten vorgeworfen wird. Statt praxisbezogen zu arbeiten, verlören sie sich in einer absonderlichen Wissenschaftlichkeit oder bürokratischer Detailversessenheit. Oben: „Dabei hilft ihm angeblich der schöne Mond..." Über den Ingenieur Krasil'nikov, der sich auf die Berechnung des Glücksspiels und die stundengenaue Wettervorhersage spezialisiert habe und dafür den Mond zu Rate ziehe. Der Dargestellte gleicht mehr einem Zaubermeister oder Alchimisten denn einem Ingenieur. Sein Attribut ist neben einem buckligen Kater und einer Eule auch eine Kasse. So wurde die angebliche Praxisfeme nebst Geldgier der alten Ingenieursgeneration angeprangert. Unten: „Juni und Juli verbringt er damit, mal etwas zu zeichnen, mal etwas zu schreiben..." Über den „engspezialisierten" Ingenieur Cernjak, der Lohn bezieht, Unmengen von Papierbogen mit unbrauchbaren Kritzeleien füllt, um danach fluchtartig den Betrieb zu verlassen. Auch er ist weit von der praktischen Arbeit entfernt. Der akkurat gezogene Scheitel und die tadellose Kleidung markieren den „Theoretiker" und „Gastschausteller". Expertisen und Berechnungen wurden mit solchen Darstellungen von vollgekritzeltem Papier als nutzlos verhöhnt. Quelle: Inzenernyj trud, Nr. 1, 15.1.1930, S. 24.

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Intelligenz

99

Wissenschaftler und Ingenieure von den aktuellen Problemen ein Holzinstitut an, in dem der Einfluß der Sonnenstrahlung auf die Geschwindigkeit der Schneeschmelze im Wald untersucht würde.64 In der Rubrik „Unser Panoptikum", in der die Zeitschrift die verschiedenen Abarten der Ingenieure anprangerte, verhöhnte sie auch den Ingenieur Krasil'nikov, der vor der Revolution das Glücksspiel wissenschaftlich erforscht und sich jetzt auf „stundengenaue Wettervorhersagen" spezialisiert habe, für die er den Mond befrage. Krasil'nikov wurde als Greis karikiert, der, halb unzurechnungsfähig, halb Magier, mit einem Fernrohr aus seinem Studierstübchen heraus den Mond betrachtet. Ein anderer Ingenieur namens Cernjak wurde als nichtsnutziger Bürokrat dargestellt, der im Jackett, mit akkurat gezogenem Scheitel und glatt rasiertem Kinn nichts anderes zustande brachte, als Papier über Papier mit sinnlosen Kritzeleien zu füllen.65 Begleitend ermahnte das Organ des VMBIT alle Ingenieure, daß sie es sich angesichts solcher Erscheinungen gefallen lassen müßten, von Arbeitern „examiniert" zu werden. Letztere sähen zunehmend in Ingenieuren „störende Gelehrte", die man prüfen müsse, ob sie auch Ahnung von der Praxis hätten.66 Ingenieure wurden aber nicht nur als für die Berufspraxis untauglich gebrandmarkt, sondern auch als „Usurpatoren" (samozvancy) und „Pseudo-Spezialisten" (Izespezialisty) beschimpft. Solchen Ingenieuren wurde unterstellt, ihre Diplome gefälscht zu haben und sich nur deshalb als Spezialisten auszugeben, um in den Genuß der großzügigen Privilegien für die technische Intelligenz zu kommen.67 Der Ursprung dieser Hochstapelei liege in der Zarenzeit: „Die Wissenschaft ging schwer, die Köpfe arbeiteten langsam; sie saßen, zehn, zwölf, 15, sogar 18 Jahre lang im Institut und bestanden das Examen auch bei Wiederholung nicht. Sie kauften sich eine Diplomarbeit, die sie dann verteidigten. (...) Zum Ingenieur wurden diejenigen, die selbst kein Projekt zustande brachten. (Das ist ein Fakt.)"68 Während die einen noch zur Zarenzeit ihre Diplome erschwindelt hätten, gäben andere vor, in den USA studiert zu haben und legten irgend welche dubiosen Papiere vor.69 Das „Usurpatorentum" wurde als charakteristisches Merkmal der Ingenieure dargestellt.70 Besonders Ingenieure, unter

64

Inzenernyj trud, Nr.7, 10.4.1931, S. 157. Inzenernyj trud, Nr. 1, 15.1.1930, S. 24. Inzenernyj trud,Nr. 2, 15.1.1929, S. 42f. 67 Inzenernyj trud, Nr. 2, 31.1.1930, S. 59. 68 Inzenernyj trud, Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 634. 69 Inzenernyj trud, Nr. 8, 15.4.1929, S. 17. 70 Inzenernyj trud, Nr. 10, Oktober 1928, S. 440ff.

65

66

100

Der alte Ingenieur

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Die Vernichtung der alten technischen

Intelligenz

101

denen es zu Unfällen kam, liefen Gefahr, als „Pseudo-Ingenieure" hingestellt und vor Gericht angeklagt zu werden.71 Die Beschuldigung der Usurpation beinhaltete bereits den zweiten entscheidenden Vorwurf gegenüber Ingenieuren, sie ergriffen diesen Beruf nur um der Privilegien willen. „Wo ist unsere Ingenieursschaft? Wo sind unsere Techniker? Außer als um ihre persönlichen Interessen wollen sich die Ingenieure um nichts küm«72 mem. _

Anstatt sich für die Technik und den wirtschaftlichen Aufbau zu interessieren und zu begeistern, seien Ingenieure nur auf ihr eigenes Wohl bedacht. Auch dieser Vorwurf hatte seine Wurzeln in der Zarenzeit, als Ingenieuren nachgesagt wurde, kein Interesse für ihren Beruf zu haben, sondern ihn nur zur Anhäufung von Reichtum zu benutzen. Neben Izespec wurden weitere Schimpfwörter für Ingenieure geprägt: der Spezialisten-Raffke (specrvac), der Spezialisten-Gastschausteller (specgastroler) und der Spießbürger-Ingenieur (iniener-obyvateV). Damit wurde ausgedrückt, daß Spezialisten den Ingenieursmangel schamlos ausnützten, indem sie besonders hohe Gehälter verlangten und von Fabrik zu Fabrik zögen, um nur die Abschlagszahlungen einzustreichen, ohne die Stelle anzutreten. Folgende Geisteshaltung attestierte man den Ingenieuren: „Wir sind Defizitware. Wir sind Devisen

aus Gold. Unser Kurs auf dem soEs kommt nur darauf an, sich nicht unter Preis zu verkaufen. Nun, Väterchen, ich bin mir meines Werts bewußt."73

wjetischen

Markt

steigt.

Reihenweise wurden Ingenieure als „Raffkes" geoutet: der Spezialist Reder Ölvereinigung in Cerepovec, der sich weigerte, für 300 Rubel im Monat zu arbeiten; der Ingenieur Kusenko, der darauf bestand, daß man ihm ein Auto aus dem Ausland bestellte, der Ingenieur Krimker, der 900 Rubel Vorschuß kassierte und verschwand, der Ingenieur Polov'ev, der die Leitung einer Möbelfabrik übernahm und erst einmal auf der Krim Urlaub machte, der Chefingenieur der Verwaltung von „Chemiebau", E.É. Lider, der 20 000 Rubel Wohngeld verlangte, der Ingenieur Mordinov, der gleich zwei Wohnungen forderte.74 Die Inzenernyj trud bezeichnete die ITR als einen Sumpf voll quakender Frösche.75 Der dritte und schwerwiegendste Vorwurf, der ebenfalls aus der Zarenzeit importiert vo

wurde, lautete, der Ingenieur sei unpolitisch und gleichgültig gegenüber

71

Inzenernyj trud, Nr. 12, Dezember 1928, S. 534f.; Nr. 1, 15.1.1930, S. 23f.; Nr. 8-9, 31.3.1932, S. 228. 72 Inzenernyj trud, Nr. 14, 30.7.1929, S. 418. 73 Inzenernyj trud, Nr. 14, 30.7.1930, S. 76. 74 Inzenernyj trud, Nr. 16, 30.8.1929, S. 488; Nr. 17, 15.9.1929, S. 515; Nr. 21-22, 30.11.1929; Nr. 1, 15.1.1930, S. 23; Nr. 19-20, Oktober 1930, S. 606. 75 Inzenernyj trud, Nr. 6, 31.3.1930, S. 175.

102

Der alte

Ingenieur

Abb. 5: Karikatur über die alten, behäbigen Ingenieure, die sich auch nach dem Uniformverbot durch den 4. Gewerkschaftskongreß der Ingenieurssektionen im April 1929 nicht von ihren Uniformen trennen wollten. Die Uniform wurde als Symbol für die „Kastenmentalität" der alten Ingenieure, ihren mangelnden Praxisbezug und ihre Vorbehalte gegenüber dem sozialistischen Aufbau gegeißelt. Unter der Überschrift Weg mit den Borten und Abzeichen! wird als Ingenieur ein dicker, kurzsichtiger Bürokrat mit beringten Wurstfingern gezeigt, dessen Haar dort bereits fehlt, wo einst die geliebte Schirmmütze saß, der er nun nachweint: „Man will uns trennen!" Quelle: "



Inzenernyj trud, Nr. 9, 1.5.1929, S. 261.

Die Vernichtung der alten technischen Intelligenz

103

allen politischen Ereignissen im In- und Ausland.76 Hatte Lenin zu Beginn der zwanziger Jahre noch erklärt, die Neutralität der Ingenieure sei eine ausreichende Voraussetzung für eine Zusammenarbeit, verlangte die Partei um Stalin jetzt von den Ingenieuren ein eindeutiges Bekenntnis für die Bolschewiki. Neutrale Ingenieure wurden nicht mehr toleriert, weil sich in Zeiten des Klassenkampfes die Menschen in Freund und Feind teilten, so daß jeder Farbe bekennen müsse:77 „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns."78 Das Organ des VMBIT dozierte, niemals habe die Neutralität der Ingenieure eine solche Gefahr wie in dem Moment dargestellt, wo sich hinter Neutralität nicht nur Unglaube an den Bau des Sozialismus, sondern oft auch „Schädlingstum" verstecke.79 Sich ausschließlich für die Technik zu begeistern und in seine Fabrik vernarrt zu sein, reiche nicht mehr. Von Ingenieuren wurde verlangt, sich deutlich zur Sowjetmacht zu bekennen, sich an den Versammlungen im Betrieb zu beteiligen, sich bei der Gesellschaftsarbeit zu engagieren und Arbeiter zu unterrichten.80 Diese Zusatzbelastung stieß bei Ingenieuren auf heftigen Widerstand, die darauf verwiesen, daß sie auch ohne die Gesellschaftsarbeit kaum genügend Zeit für die Produktionsarbeit hätten. Ingenieure, die Betriebsversammlungen für „Zeitverschwendung" hielten oder äußerten, sie hätten etwas „Sinnvolleres" zu tun, wurden umgehend entlassen und aus der Gewerkschaft aus-

geschlossen.81 Zum Symbol dieses für die Produktionsarbeit untauglichen, habgierigen und unpolitischen Ingenieurs, der durch und durch ein „Bourgeois" war und auf die Arbeiter von oben herab sah, machte der VMBIT die Ingenieursuniform. Seit dem 19. Jahrhundert trugen russische Ingenieure eine Uniform: eine Schirmmütze mit dem Ingenieursabzeichen, das einen gekreuzten Hammer und Schlegel, das Zeichen des Handelsgottes Merkur, darstellte, und einen langen Mantel mit zwei Reihen blanker Knöpfe, dessen Kragen ebenfalls das Abzeichen zeigte und mit einer grünen Borte eingefaßt war. Im April 1929 verbot der 4. Kongreß der Ingenieurssektionen die Uniform als Ausdruck der „Kastenmentalität" der Ingenieure.82 Der Ingenieur sollte gleichsam mit der Uniform sein Standesgehabe

76

Inzenernyj trud, Nr. 10, 25.5.1929, S. 297. Inzenernyj trud, Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 617. 78 Inzenernyj trud, Nr. 24, 25.12.1929, S. 727. 79 Inzenernyj trud, Nr. 20, 31.10.1929, S. 591. 80 Inzenernyj trud, Nr. 15, 15.8.1929, S. 445. 81 Inzenernyj trud,~Hr. 7, 19.4.1931, S. 172f. 82 Ein sowjetisches Ingenieursabzeichen wurde erst 1959 offiziell eingeführt. Vgl. Filimonov, N.A.: Po novomu ruslu, vospominanija, Leningrad 1967, S. 15. 77

104

Der alte

Ingenieur

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Ató. 6a m«íí 6b: Karikaturen zum Thema „Uniformträger", denen mit Hilfe einer Pressekampagne und durch Aufrufe, Uniformträger zu denunzieren, das Tragen ihrer Signets endgültig vergällt werden sollte. Links: Unter der Überschrift „Ausstellung des Panoptikums" ist ein ausgestopfter Ingenieur in Uniform in einer Vitrine zu sehen. Etikettiert ist er als Uniformträger normalis"; darunter bittet ein Schild „Nicht berühren". Die Uniformmütze liegt separat konserviert in einem Einmachglas. Weitere Markenzeichen des ausrangierten, als Zeugnis einer vergangenen Zeit im Museum ausgestellten Ingenieurs sind ein Binokel und der zarische Schnauzbart. Quelle: Inzenernyj trud, Nr. 14, 30.7.1929, S. 418. Rechts: „Das besondere „Abzeichen": „Ich schlage vor, zehn Tausende von Abzeichen prägen zu lassen ", aus dem Brief des Ingenieurs Evfarickij, der vorgeschlagen hatte, mit dem Verkauf von Ingenieursabzeichen den sozialistischen Aufbau zu unterstützen. Seiner Meinung, das Tragen einer Uniform sei eine Nebensächlichkeit, widersprach das Gewerkschaftsorgan vehement und rückte ihn und damit alle Uniformträger in die Nähe von Weißgardisten. Die Abzeichen, mit denen der Ingenieur übersät ist, erinnern darüber hinaus an das Hakenkreuz und rücken ihn damit in die Nähe von Nationalsozialisten. Weitere Attribute des Feindes sind: Glacehandschuhe sowie ein Mittelscheitel und abrasiertes Seitenhaar. Dazu dichtete das Gewerkschaftsblatt: Wer ist er ein Narr oder ein Sonderling? /Abzeichen prägen! Was liegt hier vor? / Abzeichen oder einfach ein Zeichen, /Nicht der Technik, sondern der Weißen!??" Quelle: Inzenernyj trud, Nr. I, 15. Januar 1930, S. 25. „



-

Die

Vernichtung der alten technischen Intelligenz

105

Genossen des Arbeiters werden.83 Ingenieure wurden ein Scharlatan trage eine Uniform. Ein echter Ingenieur, beschworen, ein Mann der Praxis und der Tat, brauche keine Uniform, weil seine Taten für ihn sprächen. Der Ingenieur, der seine Uniform abgab, wurde als schlanker Mann in Arbeiterjacke und mit Arbeitermütze gezeigt, der Spezialist, der seiner Uniform nachweinte, als dicker, kurzsichtiger Bürokrat mit beringten Wurstfingern, dessen Haare bereits fehlten, wo einst die Schirmmütze gesessen hatte, karikiert. Die Inzenernyj trud höhnte, das von solchen Menschen nichts übrig bleibe als „ein Dutzend durchgesessener Stühle", ebenso viele „abgewetzte Hosen" und ein „fetter Bauch".84 Der Kampf um die Uniform wurde von der Gewerkschaft einerseits und Ingenieuren andererseits erbittert ausgefochten. Das Organ der Ingenieurssektionen rief dazu auf, uniformtragende Kollegen zu denunzieren und ihre Fotos samt Namen einzusenden.85 Ingenieure widersetzten sich und protestierten, daß es doch wichtigere Fragen gebe, als die, wie sich der Ingenieur kleide. Ein Spezialist namens Evfarickij schlug vor, Tausende von Ingenieursabzeichen prägen zu lassen und den Erlös aus ihrem Verkauf dem Aufbau des Landes zukommen zu lassen. Die Gewerkschaft widersprach vehement: Kleidung sei ein Ausdruck von Hierarchien und Machtverhältnissen und müßte dementsprechend bekämpft werden: „Uniform, Frack, Smoking und Visitenkarten all diesen Hahnenschmuck der Bourgeoisie haben wir längst beerdigt."86 Den Verteidiger der Uniform karikierte die Inzenernyj trud in ihrem „Panoptikum" halb als einen Weißgardisten, halb als einen Nationalsozialisten, der anstelle des Hakenkreuzes Ingenieurabzeichen trug. Um endlich den Widerstand der Ingenieure zu brechen und ihnen das Tragen der Uniform abzugewöhnen, wurde deren Bedeutung kriminell aufgeladen; Uniformträger wurden mit „Schädlingen" gleichgesetzt.87 Anläßlich der Verhaftung uniformierter Ingenieure befand das Gewerkschaftsblatt: „Wie gut passen diese zwei Wörter zusammen: uniformtragender Schädling (vreditel '-formonosec)." Die Schirmmütze bekam in Anspielung auf den Prozeß gegen die SachtyIngenieure den Namen sachtinka verliehen.89

ablegen

und

zum

nur

-

83

Inzenernyj trud, Nr. 9, 1.5.1929, S. 261. Inzenernyj trud, Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 634. Inzenernyj trud, Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 635. 86 Inzenernyj trud, Nr. 1, 15.1.1930, S. 25. 87 Inzenernyj trud, Nr. 7, 15.4.1930, S. 191. 88 Inzenernyj trud, Nr. 3, 15.2.1930, S. 92. 89 Bezborodov, Sergej Konstantinovic: Vrediteli 84 85

Hinweis danke ich Thomas Held, Osnabrück.

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stanka, Leningrad 1930, S. 9. Für diesen

Der alte

Ingenieur

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Tragen der Ingenieursuniform wurde schließlich kriminalisiert und jeder Uniformträger mit „Schädlingen" und Saboteuren gleichgesetzt. Aus den Spezialisten wurden Schlangen mit Schirmmützen, zu deren Vernichtung das Organ der Gewerkschaften aufforderte: Unter den Stiefel! Spezialisten Schädlinge und Hörige des Kapitals, ideologisch mit der Bourgeoisie verwachsen und dem ausländischen Kapital verpflichtet schreiten zur Tat. Dazu wurde gedichtet: Oft hat man sie nicht gleich erkannt... /Auf den ersten Blick ein Freund, auf den zweiten ein Reptil, /Den Ent-

Abb. 7: Das



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-

larvten zogen wir die ,Zähne' / Und neutralisierten ihr Gift... /Jetzt die Scheusale zu dauern, / Die unseren Aufschwung verhindern wollen / Nein! Es ist Zeit, sie unter dem proletarischen Stiefel / Zu Pulver zu zermahlen! Quelle: Inzenernyj trud, Nr. 7, 15. April 1930, S. 191. -

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Die

Vernichtung der alten technischen Intelligenz

107

Die Sowjetregierung führte in den Jahren 1928 bis 1931 einen Kampf gegen die gesamte Kultur der alten Ingenieurszunft, gegen ihre Organisationen, ihre Weltanschauung, ihre Arbeitsmethoden, ihre Verhaltensweisen und gegen ihre Kleidung. Dafür konnte sie auf ein Repertoire von Vorurteilen und Ressentiments gegen Ingenieure zurückgreifen, das aus der Zarenzeit stammte. Die Gewalt gegen Ingenieure war das Produkt von staatlich verordneten Feindschablonen einerseits und Arbeitskonflikten andererseits. In dem Kampf gegen den alten Ingenieur wurde deutlich, daß sich der neue, sowjetische Ingenieur in allen Punkten von dem alten zarischen abheben mußte: Er sollte aus der Arbeiterschaft stammen, sich wie ein Arbeiter kleiden und die Produktion nach den Vorstellungen der Arbeiter ausrichten. Er sollte nicht in der Studierstube hocken und komplizierte Rechnungen aufstellen, sondern im Glauben an den sozialistischen Aufbau Projekte entwerfen und Probleme spontan lösen. Die neue Devise gab der alte Vorsitzende des VMBIT Sejn (* 1882) aus: „den Ingenieur zum Arbeiter und den Arbeiter zum Ingenieur machen" (obrabocit' inzenera i obinzenerit' rabocego).90 Die alten Spezialisten, deren Blütezeit gerade erst begonnen hatte, mußten einer neuen sowjetischen Ingenieursriege Platz machen, deren Vorbilder nicht mehr Davinci, Watt und Lomonosov, sondern Marx, Lenin und Stalin hießen, die ihre Ehre nicht daraus bezogen, daß ihre Werke genau ihren Projekten entsprachen, sondern zu Ruhm kamen, weil sie Berechnungen als hinderlich entlarvten, um das Unmögliche möglich zu machen.

Inzenernyj trud, Nr. 20, 31.10.1929, S. 596.

III. Die Genese des neuen Ingenieurs

1) Kindheit a) Arbeiterkindheit: arm und ausgebeutet Die Männer und Frauen, die von der Sowjetmacht auserkoren wurden, neue Menschen zu werden, stammten aus ärmsten Verhältnissen. Sie waren in der Regel um das Jahr 1905/1906 herum geboren und erlebten ihre Kindheit, die ersten zehn Lebensjahre, unter dem Zaren: Dieser erste Lebensabschnitt bis 1917 war für sie eine perspektivlose, triste Zeit. In ihren Lebenserzählungen nimmt diese Periode einen zentralen Platz ein.' Es gibt kaum einen Ingenieur oder eine Ingenieurin, die nicht ausführlich über seine bzw. ihre ersten Jahre in der Zarenzeit berichten würde. Die Schilderung der Kindheit gerät dabei zur Negativfolie, von der sich das spätere Leben unter der Sowjetregierung als strahlende Zukunft absetzt. Das Jahr 1917 wird als klare Zäsur herausgestellt, die das Leben in zwei Abschnitte teilt: die elende Epoche vor der Revolution und die großartige Periode danach. Diese Erzählstrategie ist nicht nur ein Darstellungsmittel zur Spannungssteigerung; sie zeigt das dialektische Weltverständnis der Autoren und Autorinnen und macht deutlich, wie sehr sich diese mit der Sowjetunion identifizierten. Diese Ingenieure lassen keinen Zweifel daran, was es für sie bedeutete, von einem Knecht, Dienstboten oder Fabrikjungen zu einem Ingenieur, Parteikader und stellvertretenden Volkskommissar auf-

zusteigen.2 Der Ingenieur

Leonid

Ignat'evic Loginov (*1902),

Ziel aufzuschreiben, Erinnerung geblieben ist und wie Meilensteine auf meinem Lebensweg"3 wirkte, beginnt seine Aufzeichnungen mit der Überlegung: setzte

der sich

zum

„was mir sehr stark in

1 Zur Bedeutung der Kindheit in russischen Memoiren vgl. auch Cooper, Nancy L.: A Chapter in the History of Russian Autobiography: Childhood, Youth, and Maturity in Fonvizins „Chistoserdechnoe priznanie v delakh moikh i pomyshlenijakh" (A sincere Avowal of my Deeds and Thought), in: Slavic and East European Journal 40 (1996) 4, S. 609-622. 2 Vgl. auch Brooks, Jeffrey: Revolutionary Lives: Public Identities in Pravda During the 1920s, S. 37, in: White, Stephen (Hg.): New Directions in Soviet History, Cambridge u.a. 1992, S. 27-40. 3 Loginov, Vorwort, 1. ii.

110

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

„Die meisten schreiben: ,Er hatte keine Kindheit.' Mir scheint, daß man das so nicht sagen kann. Jeder hatte eine Kindheit, eine andere Sache ist, was für

eine."4

Loginov ist bewußt, daß er sich in eine Reihe vieler anderer Memoirenautoren stellt, und legt dennoch Wert darauf, eine individuelle Kindheit gehabt zu haben. Er wuchs zusammen mit zwei Brüdern in der Stadt Vjazniki im Gouvernement Vladimir auf. Sein Vater war angestellter

Verkäufer in einem kleinen Laden, so daß die Familie einfach, aber gut in einem winzigen Haus mit Garten bis zu dem Zeitpunkt lebte, an dem der Vater an Tuberkulose erkrankte. Sein Tod 1908, als Loginov sieben Jahre alt war, veränderte die Situation der Familie grundsätzlich: Die Mutter blieb mit drei kleinen Kindern ohne Habe und Bleibe zurück. Sie fanden Unterschlupf beim Großvater in dem Dorf Nikologory, wo die Mutter zunächst als Heimarbeiterin Geld verdiente und später als Weberin Arbeit in einer Textilfabrik fand. Loginov konnte nur vier Jahre lang die Schule besuchen, bevor er zum Unterhalt der Familie beitragen mußte. Zwölf Stunden am Tag arbeitete er in einer Fabrik, flüchtete dann 1913 vor den Schlägen des Meisters in den Dienst eines Kaufmanns, bei dem er mit den anderen Dienstboten in der Küche hauste, bis er 1917 Arbeit als Tischlerlehrling bei seinem Onkel in einer Waggonrepataturwerkstatt fand. Loginov machte die Erfahrung, daß mit der Krankheit und dem Tod des Vaters die gesamte Existenzgrundlage wegbrach. Da er nicht die Möglichkeit hatte, eine ausreichende Schulbildung zu erwerben, sah er kaum eine Perspektive für sich, eines Tages aus der Abhängigkeit von den ihn ausbeutenden Dienstherren zu entkommen. Sein Vater hatte viel Wert auf Bildung gelegt; er war Atheist gewesen, hatte Zeitschriften abonniert und den Kindern eine Kiste mit Büchern hinterlassen.5 Zwei Auswege sah Loginov aus seiner Lage: Bildung und Revolution. Wie Loginov betonen viele Ingenieure, daß sie Bücher als ersten Schritt auf dem Weg zu einem besseren Leben betrachteten: „In der Kindheit liebte ich es zu lesen."6 Loginov las Nekrasov, Krylov und Tolstoj und hoffte, bei einem seiner Dienstherren doch noch eine richtige Ausbildung zu bekommen. Parallel interessierte er sich für „Revolutionäre" und versuchte Kontakt zu ihnen zu bekommen: er bewunderte die Tochter seines Arbeitgebers, die in Petersburg studierte und „wie eine typische Revolutionärin" aussah, und ließ sich von seinem Onkel in die revolutionären Ideen einführen.7 Der Ingenieur Nikita Zacharovic Pozdnjak (1906-1982) widmet seinem Leidensweg als Kind und Jugendlicher noch wesentlich mehr Platz als 4

Loginov, 1.1. Loginov, 1. 2, 12. Loginov, 1.1. 7 Loginov, 1. 9ff.

5

6

111

Kindheit

Loginov. Pozdnjak

macht es sich zur Hauptaufgabe zu zeigen, welch dank der Bolschewiki entkommen konnte: „In diesen Erinnerungen ist das schwere Leben eines minderjährigen Knechts, die grausame Ausbeutung durch Kulaken und dann die freudige Aufnahme

elendem Schicksal

er

Oktoberrevolution, das Leben und Lernen der Waisenkinder in einer Landwirtschaftsschule in den ersten Jahren der Sowjetmacht und das weitere Studium des Autors an der Arbeiterfakultät und an den Hochschulen der

der

Hauptstadt niedergelegt."8 1906 in dem Dorf Agajmany (später Frunze), unweit der Stadt Kachovka im Gouvernement Cherson (später Ivanovo), als Sohn eines Dachdeckers und der Tochter des lokalen Kirchenältesten geboren. Die Familie mit fünf Kindern lebte in bescheidenem Wohlstand, bis der Vater 1905 als Revolutionär verhaftet und öffentlich ausgepeitscht wurde. Der Vater war fortan nicht mehr anwesend: Er blieb bis 1914 in Haft und wurde bei Kriegsausbruch sofort mobilisiert. Die Mutter, die seit 1905 für den Unterhalt der Familie gesorgt hatte, erkrankte und starb 1916. Unter diesen Umständen konnte Pozdnjak ähnlich wie Loginov nur fünf Jahre lang die Schule besuchen. 9 Pozdnjak beschreibt in erster Linie seine Ohnmacht und Hilflosigkeit. Hatte Loginov noch seine Mutter, die ihm Sicherheit gab, fühlte er sich allen Menschen schutzlos ausgeliefert. Die ersten, die sich an Eltern statt seiner annahmen, waren die Bolschewiki,

Pozdnjak wurde

so

empfand er es.

Wie Loginov stand auch Pozdnjak unter dem Eindruck seines Vaters, der Revolutionär war. Er schreibt, daß er ihm 1918 an seinem Sterbebett geschworen habe, alles zu tun, was auch er getan habe: „Ich beschuldigte ihn nicht für unser schweres Leben; ich kämpfte für die Sache, die unsere Väter begonnen haben."10 Die Memoiren von Loginov und Pozdnjak sind typische Beispiele für autobiographische Texte, wie sie im Wirtschaftsarchiv in Moskau zu finden sind. Genau die gleiche Sicht auf seine arme Kindheit und den Aufstieg unter der Sowjetunion zeigt aber auch der Ingenieur Egor' Fedorovic Calych (*1901), obwohl er seine Memoiren erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb. Das bewirkte aber nicht, daß er seine Lebensgeschichte revidierte. Vielmehr sah er sich gerade unter den neuen Umständen dazu bemüßigt, die positiven Seiten der Sowjetunion herauszustreichen, die er genau wie Loginov und Pozdnjak darin erkannte, daß er der Armut entrinnen konnte: „Die Sowjetmacht hat die Bedingungen geschaffen, damit ich eine Hochschulbildung erhalten konnte, und die ganze Sowjetzeit hindurch arbeitete ich als Ingenieur und nahm damit am Aufbau und an der Entwicklung der Elek-

RGAË, f. 372, op. 1, d. 34: Pozdnjak, N.Z.: Vospominanija i zapiski batraka do diploma ucenogo, Vorwort ohne Blattangabe. Kachovskogo 9 1. 5ff. und 60ff. Pozdnjak, 10 Pozdnjak, 1. 18. 8

inzenera. Ot

112

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

trodenindustrie unseres Landes aktiv teil. Jetzt (...) kann ich nicht ein passiver Beobachter der im Lande stattfindenden politischen und ökonomischen Umbrüche bleiben. Ich möchte mein Ingenieurswissen und meine Position als In-

genieur darlegen."" bietet sich selbst als charakteristisches Beispiel für einen Menschen an, der unter der Sowjetunion geformt wurde. Er sei eine „carte blanche" gewesen, auf der sich die Geschichte seines Landes eingetragen habe. Calych versucht an sich selbst das kulturelle Erbe der Sowjetunion vorzuführen, in dem er einen unvergänglichen Wert sieht. In der Absicht, das Vermächtnis der Sowjetunion und damit seinen eigenen Lebenslauf zu retten, schildert Calych, daß es ihn noch heute verblüffe, daß er seinem armen Leben entkommen konnte: „Mich beschäftigt ständig die Frage, wie ein Dorfjunge aus einer armen Familie eine Ausbildung erhalten, einen hohen Ingenieursposten ausfüllen und schließlich Dozent sowie Autor vieler Monographien und Lehrbücher werden konnte."12 Calych wurde 1901 in Perovsk in dem Syr-Dar'inja Gebiet in Turkestan (in der Sowjetunion Kzyl-Orda Gebiet in Kasachstan) als einziger Sohn eines Forstwächters (ob 'ezdcik) und einer Wäscherin geboren. Seine Eltern waren Analphabeten und so arm, daß die Nachbarn sagten: „Sie teilen sich zu dritt ein Hemd."13 Calych besuchte von 1909 bis 1915 die Schule, wo er Schustern und Schreinern lernte sowie Puskin, Turgenev, Tolstoj und Krylov las. Vier Rubel Schulgeld mußte er dafür aufbringen, eine Summe, mit der man in der Vorkriegszeit 160 Kilogramm Hammelfleisch kaufen konnte. Calych beschreibt die Erfahrung von sehr großer Armut, der er aber schon vor der Revolution entfliehen konnte. Anders als Loginov und Pozdnjak blieb ihm sein Vater erhalten, der ihm eine Ausbildung finanzieren konnte. 1915 entschied sich Calych für den Besuch eines Lehrerseminars, mit dem er Armut und Unbildung endgültig hinter sich ließ: „Diese Periode war entscheidend für die Herausbildung meiner menschlichen

Calych

'

und moralischen Qualitäten.

(...) Ich liebte und liebe mein Seminar." sogar ein eigenes Instrument, nachdem es im Haus seiner Eltern nicht einmal ein Buch gegeben hatte.14 Die Memoiren Calychs machen deutlich, daß das alte Erzählmuster bzw. die Deutung der eigenen Geschichte mit dem Ende der Sowjetunion keineswegs an Gültigkeit verlor und keinem neuen Paradigma wich. Genau wie Loginov und Pozdnjak in den sechziger Jahren interpretiert Calych in den neunziger Jahren sein Leben in der Sowjetunion als Erfolgsgeschichte, als Aufstieg aus Armut und Unbildung. Auch für ihn re-

Calych lernte, Geige zu spielen, und besaß

11

Calych, E.F.: Zapiski sovetskogo inzenera, Moskau 1996, S. 3. Calych, S. 3. 13 Calych, S. 4ff. 14 Calych, S. 8ff. 12

Kindheit

113

präsentierte das Zarenreich Elend und Analphabetismus, während die Sowjetmacht den sozialen Aufstieg verkörperte. Eine derartige Periodisierung der eigenen Lebensgeschichte findet sich typischerweise nicht bei Ingenieurinnen. Frauen strömten erst später als Männer, nämlich gegen Ende der dreißiger Jahre, massenhaft an die technischen Hochschulen und entstammten in ihrer Großzahl den Jahrgängen um 1915, so daß sie keine Erinnerung an die Zarenzeit haben. Die Rolle der furchtbaren Vergangenheit, die sie hinter sich ließen, nimmt bei den Ingenieurinnen der Bürgerkrieg samt Flucht und Hungersnot ein. Die Opposition des Vorher-Nachher fällt dadurch nicht ganz so stark wie in den Darstellungen der Männer aus, aber auch bei ihnen wird deutlich, daß das Leben erst mit der Ordnung durch die Bolschewiki in die richtigen Bahnen gelenkt werden konnte. Die Ingenieurin Tat'Jana Viktorovna Fedorova (*1915) erinnert sich: „Die Kindheit und Jugend meiner Generation war hungrig und barfüßig (...)."15 Sie wurde 1915 in Moskau geboren und erlebte als Kleinkind die Hungersnot während des Bürgerkriegs. Ihr Vater war früh gestorben, und die Familie mit drei Kindern floh vor dem Hunger in die Provinz an den Don. Die Mutter arbeitete im Krankenhaus, wo die Familie in einem Zimmer lebte. Sie heizten den Ofen mit Samenhülsen aus der nahegelegenen Ölfabrik, nähten Mäntel aus alten Bettdecken und backten Pfannkuchen aus Kartoffelschalen: „Was Zucker war, wußten wir nicht, aber dafür, wie süß und lecker gebackene '6 rote

Beete sind."

Die Familie war so arm, daß sie nicht in der Lage war, Fedorovas ältere Schwester mit einer Mitgift auszustatten. Fedorova hatte dagegen die Möglichkeit, erst in der Provinz eine Schule zu besuchen und nach ihrer Rückübersiedlung nach Moskau Mitte der zwanziger Jahre weiter zu lernen. Fedorova hebt sehr deutlich ihr eigenes Schicksal von dem ihrer Mutter und ihrer Schwester ab: Die Mutter war begabt, liebte Bücher und das Theater, hatte aber keine Möglichkeit gehabt, etwas aus ihren Talenten zu machen. Auch ihre ältere Schwester hatte keine andere Chance bekommen, als zu heiraten und Hausfrau und Mutter zu werden. Fedorova selbst war die erste Frau in der Familie, der sich die Möglichkeit öffnete, eine Ausbildung zu bekommen. Von Hunger, Kälte und Typhus während des Bürgerkriegs auf der einen Seite und ihrer Ausbildung auf der anderen Seite berichtet auch die Ingenieurin Tamara Bogdanovna Kozevnikova (* 1917), geborene Odenova. Ihr Vater schloß nach der Oktoberrevolution seine Ausbildung zum Arzt ab; über ihre soziale Herkunft gibt sie keine Auskunft, beschreibt aber ein 15

16

Fedorova, T.V.: Naverchu Moskva, Moskau 21986, S. 5. Fedorova, Naverchu, S. 6. -

114

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

Leben in Armut wie ein Arbeiterkind. Sie wurde als Einzelkind 1917 in Kachetien geboren und erlebte den Bürgerkrieg in Odessa, wo ihr Elternhaus beschossen wurde, so daß die Familie nach Batumi fliehen mußte. Als Kind konnte sich Kozevnikova nicht vorstellen, daß sie sich einmal werde satt essen können. Der Vater brachte morgens von der Arbeit einen Beutel Maismehl mit, der als Nahrung für die dreiköpfige Familie den ganzen Tag reichen mußte. Nachdem sie in ihrer Kindheit immer barfuß gelaufen war, zögerte sie, ihr erstes Paar Schuhe anzuziehen, weil sie ihr dafür zu schade erschienen. Ihre Einschulung 1925, die sich durch die Wirren des Bürgerkriegs lange verzögert hatte, beschreibt sie als ein lang ersehntes Ereignis, das das Ende des Elends markierte: „Endlich konnte ich zur Schule gehen. Lange hatte ich daraufgewartet."17 Während Fedorova beschreibt, wie sie dem typischen Frauenschicksal entkam, stellt sich Kozevnikova als Kind vor, das sich von vornherein wie ein Junge verhielt, das Spiel mit Mädchen langweilig fand und am liebsten mit seinem Hund in den Bergen herumstreunte. Aber auch sie mußte sich gegen vorgegebene Rollen wehren: Sie verweigerte sich dem Wunsch ihrer Eltern, Ärztin zu werden, und beschloß schon sehr früh, daß sie Flugzeuge bauen würde.18 Beide Ingenieurinnen betonen damit, daß sie ihre Vergangenheit gleich doppelt überwinden mußten: zum einen die Armut und Unbildung, zum anderen die traditionelle Rolle der Frau. Zu dieser Gruppe von Ingenieuren und Ingenieurinnen aus der Arbeiterschaft gehören noch zwei weitere Männer, obwohl sie nicht aus den unterprivilegierten Schichten stammen. Das erstaunliche aber ist, daß, obwohl ihre Herkunft „arbeitende Intelligenz" lautet, sie dennoch ihr Leben in den gleichen Rastern wie etwa Loginov oder Calych erzählen, die gleichen Wertungen vornehmen und zu den gleichen Schlüssen kommen. Die Ingenieure Gajlit und Jakovlev gehören zu denjenigen Angehörigen des alten Bürgertums, die sich den Bolschewiki anschlössen, überzeugte Kommunisten wurden bzw. waren und die Sowjetunion mit aufbauten. Diese Haltung, die sich in ihrem Lebensweg widerspiegelt, war entscheidend für die Darstellung und Interpretation der eigenen Geschichte: Jakovlev und Gajlit folgten ihren Kollegen aus der Arbeiterschaft nicht nur hinsichtlich ihrer Lebensstationen, sondern auch beim Aufschreiben ihres Lebensweges. So erscheint auch bei ihnen, obwohl sie materiell keine Not litten, die Zarenzeit zumindest als vormoderne, antiquierte, graue Vorzeit, nach deren Überwindung ihr Leben erst wirklich begann. Andrej Andreevic Gajlit (*1905) war der Sohn eines lettischen Verkehrswegetechnikers. Sein Vater starb früh und ließ die Mutter mit zwei 17

Kozevnikova, T.B.: Gory uchodjat Moskau 1978, S. 7-150. Kozevnikova, S. 13ff.

vzlet, vecnyj 18

v

nebo, S. 19, in: dies. / Popovic,

M.

(Hg.):

Zizn' -

Kindheit

115

Kindern zurück. Als ausgebildete Krankenschwester hatte sie allerdings weniger Probleme, ihre Kinder zu ernähren, als die Mütter Loginovs, Pozdnjaks oder Fedorovas. Die Familie zog nach Gateina in die Nähe von Petersburg, wo Gajlit eine unbeschwerte Kindheit erlebte, die von Jungenstreichen, Fußballspiel und Bücherlesen geprägt war.19 Der Vater Aleksandr Sergeevic Jakovlevs (*1906) war Absolvent der Aleksandr-Handelsschule und arbeitete bis 1917 bei der Erdölfirma „Alexander Nobel" in Moskau. Obwohl Jakovlev aufwendiges Spielzeug besaß und die Möglichkeit hatte, eines der besten Privatgymnasien Moskaus zu besuchen, besteht er darauf, daß die fünfköpfige Familie sehr beengt gelebt und unter dem ständigen Lärm des nahen Trödelmarkts gelitten habe. Er unterstreicht seine Nähe zur Arbeiterschaft, indem er sich auf seinen Urgroßvater beruft, der Leibeigener an der Wolga war, und seinen Großvater nennt, der einen kleinen Kerzenladen am Il'in-Tor in Moskau betrieb. Daß Jakovlev dennoch einen ganz anderen Hintergrund als etwa Loginov, Pozdnjak oder Fedorova hatte, ist allein schon daran erkenntlich, daß seine Mutter mit Selbstverständlichkeit davon ausging, ihr Sohn werde einmal Techniker werden.20 Jakovlev und Gajlit bezeugen, daß sich für Ingenieure eine Lebensschreibung etablierte, die allgemeine Gültigkeit besaß. Obwohl die Struktur dieses Genre von einem armen Arbeiter als Held ausging, war sie für Ingenieure mit einem anderen Hintergrund adaptierbar. Entscheidend waren letztlich nicht Ereignisse und Hintergründe, sondern allein ihre Bewertung und Einordnung.

b) Bürgerkindheit: behütet und sorglos Ganz anders bewerten Ingenieure und Ingenieurinnen bürgerlicher Herkunft die Zarenzeit, die den Bolschewiki ablehnend bis feindlich gegenüberstanden und die Zarenzeit gern konserviert hätten. Auch sie nehmen eine Zweiteilung ihrer Lebenszeit vor, nur daß bei ihnen auf das glückliche Leben Existenzbedrohung und Schrecken folgten. Sie entwerfen eine wunderbare, sorglose Zeit unter dem Zaren, die sich mit Einschränkungen auch noch nach 1917 fortsetzte, aber spätestens 1928 abrupt endete. Dabei folgen auch sie einem Muster: Bereits im Adel und den bürgerlichen

19

RGAÉ, f. 332, Kollekcija dokumentärnych materialov vidnych dejatelej metallurgiceskoj promyslennosti, op. 1, d. 103: Gajlit, A.A.: Chronika odnoj zizni, pocti polnost'ju posvjasdennoj komsomolu, partii i aljuminevoj promyslennosti, I. Iff. 20 Jakowljew, Alexander: Ziel meines Lebens. Aufzeichnungen eines Konstrukteurs, Moskau

21982, S.

11 ff.

116

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

Schichten des 19. Jahrhunderts war es üblich, die Kindheit als das „goldene Zeitalter" eines jeden Lebens darzustellen.21 Diese Ingenieure und Ingenieurinnen waren oft die Kinder von zarischen Ingenieuren, die wie Bardin oder Ugrimov unter den Bolschewiki weiter arbeiteten, weil sie ihren Beruf als Techniker liebten und glaubten, die politischen Umstände ignorieren zu können. Diese Haltung, sich nur auf das eigene Metier zu konzentrieren und dabei zu versuchen, die politischen Ereignisse auszublenden, übernahmen vielfach auch die Kinder der alten Intelligenzija. Anatolij Pavlovic Fedoseev (*1902) war der Sohn einer der Ingenieure, die zwar der Sowjetmacht ablehnend gegenüberstanden, sich davon aber nicht abhalten ließen, die verlockenden Arbeitsangebote anzunehmen. „Heute würde man ihn einen Pragmatiker nennen, der aus rein praktischen Erwägungen beim Aufbau mitwirkte."22 Fedoseevs Vater war einer der sogenannten „Praktiker", der ohne Studium vom Techniker im Petersburger Marien-Theater zum Ingenieur in der Abteilung für Getreidevorräte der Staatsbank aufgestiegen war.23 Die wirklich interessanten und auch lukrativen Arbeitsangebote bekam er aber erst nach der Revolution und lehnte sie nicht ab. Im Gegenteil genoß er es, in den zwanziger Jahren von Fabrik zu Fabrik wechseln und immer neue Städte und Produktionsstellen kennenzulernen. Politik war nahezu ein Tabu. Fedoseev berichtet, daß in seiner Familie in den zwanziger Jahren nie über die Ereignisse geredet wurde, sie keine Zeitung lasen und der Vater anläßlich des Geheuls der Fabriksirene, die Lenins Tod verkündete, nur lapidar äußerte: „Es scheint, als sei dieser Bandit Lenin gestorben."24 Fedoseev ist der Sohn eines typischen smenovechovec, der sich für den Aufbau des Landes engagierte, ohne sich dabei um die Machthaber kümmern zu wollen. Er wurde 1910 in Petersburg als ältestes von drei Kindern geboren. Seine Mutter war Schneidermeisterin. Er erlebte dank der guten Stellungen seines Vaters eine glückliche Kindheit. In den vorrevolutionären Jahren lebte die Familie in Petersburg in einem großen Haus auf dem Englischen Prospekt (später Maklin-Prospekt), vermietete an einen Untermieter, der den Kindern Schokolade mitbrachte, und hielt für die jüngste Tochter eine Kinderfrau. Dieses friedvolle, geborgene Leben setzte sich zunächst auch nach 1917 fort. Die Familie floh vor der Revolution in die Provinz und suchte dort so lange wie möglich das alte Leben aufrechtzuerhalten: „Damals konnte man in der Provinz noch auf Leute stoßen, die nichts von der Revolution und der Sowjetmacht wußten. (...) Auch unserer Familie gelang 21

Wachtel, The Battle for Childhood, S. 203. Fedoseev, Anatolij Pavlovic: Zapadnja. Celovek i socializm, Frankfurt a.M. 21979, S. 42. 23 Fedoseev, S. llff., 18. 24 Fedoseev, S. 30. 22

Kindheit

117

Berührung mit der neuen Ordnung und der neuen Macht zu vermeiden."25 Die Familie richtete sich in einer Kosakensiedlung am Kuban in der Nähe der Stadt Ekaterinodar (später Krasnodar) fernab von Bürgerkrieg und Hunger in einem geräumigen Holzhaus mit großem Obstgarten ein: „Heute erscheint unser damaliges Leben wie ein Wunder: Es herrschten Bürgerkrieg, Hunger und Krankheit, aber am Kuban war alles still, und es gab genug zu essen."26 Fedoseev unterstreicht, daß die Familie jedesmal helle, große Quartiere fand, die kein Vergleich waren zu den Behausungen, in denen er später wohnen mußte. Ob die Familie 1920 nach Moskau übersiedelte, 1923 in das Dorf Kuvsinova im Tverer Gouvernement zog oder sich 1925 in Dubrovka an der Neva niederließ: mal fanden sie eine großzügig geschnittene, lichtdurchflutete Wohnung, mal ein Haus am Fluß mit Garten. Die Fedoseevs hielten sich eine Haushälterin und hatten ein sehr hohes Lebensniveau, wie Fedoseev betont. Er genoß die Unbeschwertheit des Landlebens: Den Sommer verbrachte er am Fluß beim Krebsefangen und den Winter auf Skiern. Fedoseev besuchte nicht nur eine weiterführende Schule in Leningrad, sondern sein Vater weckte auch gezielt sein Interesse für die Elektrotechnik, abonnierte für ihn Fachzeitschriften und baute mit ihm zusammen einen Radioempfänger. Ganze Nächte verbrachte Fedoseev vor dem Gerät auf der Suche nach Sendern aus BerlinKönigswusterhausen, Paris oder Rom.27 Fedoseev betont, daß die Phase der NÉP die schönste Periode in seinem Leben war: „An diese Zeit habe ich wenige, aber die schönsten Erinnerungen."28 Gleichzeitig unterstreicht er im Gegensatz zu den Arbeiterkindern, daß er der Sowjetmacht nichts zu verdanken habe, sondern im Gegenteil immer wieder mit ihr in Konflikt geriet, obwohl er versucht habe, sich nicht um Politik zu kümmern.29 Die Ingenieurin Valentina Alekseevna Bogdan (*1911), geborene Ivanova, entstammt einem sehr ähnlichen Hintergrund wie Fedoseev. Auch sie hätte gern die Welt so konserviert, wie sie sich ihr als Kind darbot. Ihre Familie versuchte wie die Fedoseevs, nicht mit der Sowjetmacht in Kontakt zu kommen und die politischen Ereignisse zu ignorieren. In der Familie waren die Söhne traditionell Priester gewesen, erst Bogdans Vater hatte diese Tradition durchbrochen und war Lokführer geworden. Die Kinder wurden religiös und nach alten Werten erzogen; als Bogdan 1929 es, eine direkte

Fedoseev, S. Fedoseev, S. Fedoseev, S. Fedoseev, S. Fedoseev, S.

31. 18ff. 25ff. 17. 7.

118

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

:

Abb. 8: Valentina Alekseevna Bogdan (*19I1), geb. Ivanova, zu Beginn der 1940er Jahre in Rostow am Don. Quelle: Bogdan, V.A.: Mimikrija v SSSR. Vospominanija inzenera 1935-42 gody, Rostov-na-Donu, Frankfurt am Main 1982.

119

Kindheit

das Elternhaus verließ, mußte sie ihrer Mutter versprechen, täglich zu beten.30 War es bei Ivanovs eher eine religiöse, apolitische Haltung, die sie das System tolerieren ließ, vertraten Bogdans Mann und ihr Schwiegervater eine Haltung wie die smenovechovcy. Bogdans Schwiegervater war ein weltweit bekannter Agrarwissenschaftler, der wissenschaftliche Versuche in den Trockenregionen der Wolga leitete und nach der Revolution eine Einladung der Amerikaner abgelehnt hatte: „Wenn wir alle ausgewandert wären, wer hätte unseren russischen jungen Menschen unterrichtet? Sie wären zu Wilden geworden." ' Mit dem gleichen Argument rechtfertigte Valentinas Mann, Sergej Vasil'evic Bogdan, der ebenfalls Agrarwissenschaftler war, sein Leben und Arbeiten in der Sowjetunion: „Wenn wir Lehrenden aufhörten, nach bestem Gewissen unsere Jugend zu unterrichten, nur weil wir die Sowjetmacht schlecht finden, wohin würde das führen? Ich arbeite nicht für sie, ich arbeite für die Studenten."32 Bogdan selbst war weder religiös, noch fühlte sie sich berufen, ihrem Land zu dienen. Sie beschreibt sich als unpolitischen Menschen, der sein Leben genießen und sich wenig um die äußeren Bedingungen kümmern wollte: „Ich wollte nie und werde nie an der Politik aktiv teilnehmen. Das Leben ist kurz, und es gibt viele andere für mich interessantere Möglichkeiten, es zu er-

füllen."33 Bogdan berichtet wenig über ihre Kindheit, läßt aber keinen Zweifel daran, daß sie vor der Revolution in bescheidenem Wohlstand lebten. Sie wuchs in der Kosakensiedlung Kropotkin am Kuban auf, wo ihr Vater im Eisenbahndepot arbeitete, während sich ihre Mutter um die fünf Kinder und den Haushalt kümmerte. Die Familie bewohnte ein mit sechs Zimmern sehr geräumiges Haus aus Stein, zu dem ein großer Garten gehörte. In ihrer Familie war es eine Selbstverständlichkeit, daß die Kinder Abitur machten. Ein Studium war für Bogdan ursprünglich nichts, das sie sich erkämpfen mußte: Es gehörte zum gewöhnlichen Lebensentwurf dazu.34 Weniger stark betont wird die Zäsur 1917 bzw. 1928 von Ingenieuren und Ingenieurinnen, die aus der alten Intelligenz stammten, aber nicht früher oder später wie Fedoseev oder Bogdan ins Ausland emigrierten. Auch sie beschreiben eine unbeschwerte Kindheit, ohne sie aber in Kontrast zu ihrem Leben unter der Sowjetregierung zu setzen. Die Väter der beiden Frauen Taisija Aleksandrovna Ivanenko (* 1913), geborene Va30

Bogdan,

Valentina Alekseevna:

Bogdan,

V.A.:

225. 31

Mimikrija

v

Studenty pervoj pjatiletki,

SSSR.

Donu, Frankfurt am Main 1982, S. 34f.

Vospominanija

inzenera 1935-1942

32

Bogdan, Mimikrija, S. 130. Bogdan, Mimikrija, S. 305. 34 Bogdan, Studenty, S. 19, 28, 66, 74; Mimikrija, S.

Buenos Aires

33

175.

1973, S. 69, 73f,

gody,

Rostov-na-

120

sil'eva,

Die Genese des

und

neuen

Ingenieurs

Ljudmilla Sergeevna Van'jat (*1919), geborene Kric, begei-

zu einem bestimmten Grad für die Bolschewiki. Sie waren die nicht nur pragmatisch handelten, sondern dem neuen System Männer, tatsächlich loyal gegenüberstanden. Van'jat beschreibt das Verhältnis ihres Vaters zu den Bolschewiki: „Die Menschen damals waren sehr tolerant."35 Ivanenko pflichtet bei: „Die Intelligenzija war zur Sowjetmacht immer loyal, sehr loyal, und hat ehrlich gearbeitet."36 Beide Frauen beschreiben mit den Adjektiven „tolerant" und „loyal" eine spezifische Haltung alter Ingenieure, die tolerant in dem Sinne waren, daß sie jedem seine eigenen Verhaltensweisen und Maßstäbe zubilligten und so auch die Bolschewiki als eine Gruppe betrachteten, die sich nach spezifischen Regeln verhielt, über die zu richten ihnen nicht zustand. Aleksandr G. Vasil'ev (1885-1937) war Direktor des Hof-Kraftwerks in Gateina bei Petersburg, das das Zarenschloß, die Orangerie und das Krankenhaus beheizte. Ivanenko, 1913 in Gateina geboren, wurde nach der Revolution von ihrem Vater zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zu Verwandten in den Norden geschickt, da ihr Vater sie in den Revolutionswirren in Sicherheit wissen wollte. Vasil'ev behielt seine Position, wurde von den Bolschewiki als großer Spezialist geschätzt und galt sogar als „Roter Direktor".37 Er holte die Familie erst am Ende des Bürgerkriegs zurück, um fortan ein relativ sorgloses Leben zu genießen. Ivanenko spielte in Schloß und Park von Gateina, wo sie sich wie zu Hause fühlte. Wie für Bogdan und Fedoseev war es auch für sie selbstverständlich, ein Gymnasium zu besuchen.38 Sergej Il'ic Kric war vor und nach 1917 Ingenieur und stellvertretender bevollmächtigter Leiter an der China-Osteisenbahn in Cita in der Mandschurei. Vanj'ats Mutter, Tat'jana Dmitrievna Scerbina, die in den Schule für Höhere Töchter zur Pädagogin ausgebildet worden war, sorgte persönlich für eine exzellente Erziehung ihrer beiden Töchter nach humanistischen Idealen. Van'jat besuchte das Gymnasium, musizierte und lernte Englisch und Chinesisch. Im Sommer spielten die Mädchen Tennis und Tischtennis, im Winter liefen sie Schlittschuh.39

sterten sich bis

Van'jat, Ljudmilla Sergeevna (geb. Kric), Interview am 27.2.1994

S. 3. 36

Ivanenko, Taisija Aleksandrovna (geb. Vasil'eva), burg, Manuskript, S. 3. 37 Siehe auch: Gatcinskaja Pravda, 15.1.1983. 38 39

Ivanenko, S.

Van'jat, S.

1.

1.

Interview

am

in

Moskau, Manuskript,

3.10.1993 in St. Peters-

121

Kindheit

c) Pragmatiker Schließlich gibt es eine weitere Gruppe von Ingenieuren, die auf eine Zäsur verzichten und ihr Leben weder als klare Aufwärtsbewegung, noch als klaren Abstieg erzählen. Im Unterschied zu Ivanenko und Van'jat betrachten sie sich auch nicht ausdrücklich als Angehörige der bürgerlichen Klasse, bemühen sich aber auch nicht wie Jakovlev oder Gajlit, als Teil der Arbeiterklasse zu erscheinen. Bewegen sich die Berichte der bisher vorgestellten Personen immer auf zwei Ebenen, nämlich der einer politischen Stellungnahme und der der persönlichen Erfahrung, fehlt in diesen Erzählungen die übergeordnete politische Ebene als Bezugspunkt und Maßstab. Diese Personen zeigen sich gegenüber den politischen Verhältnissen gleichgültig; für sie zählt nur die jeweilige eigene Situation. Dementsprechend wechselt ihre Einschätzung der Bolschewiki gemäß ihrer Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Man könnte diese Personen „Pragmatiker" oder auch abwertend „Mitläufer" nennen. Eine solche von politischen Grundsatzfragen oder Klassenideologie freie Haltung ist in den Erinnerungen des Ingenieurs Konstantin Dmitrievic Lavrenenkos (* 1908) zu erkennen. Lavrenenko und sein älterer Bruder wuchsen auf dem Land in der Nähe von Kiev auf. Der Vater war Dorfschullehrer, die Mutter kümmerte sich um die Kinder und das Haus. Lavrenenko verlebte eine glückliche Kindheit, besuchte die Schule, liebte die Fächer Mathematik und Physik und las mit Begeisterung Puskin und Gogol'. Im Sommer angelte er am Fluß und verdiente sich später etwas Geld als Schlosser beim Torfabbau.40 Lavrenenko beschreibt eine glückliche, geborgene Kindheit, ohne sie als Argument zu instrumentalisieren oder sich selbst einer Gruppe zuzuordnen. Er verzichtet darauf, eine gerade Linie durch sein Leben zu legen, und betrachtet statt dessen jedes Ereignis einzeln. Auch German Vasil'evic Rozanov (* 1915) enthält sich dezidiert einer politischen Festlegung. Er ist der Sohn eines Juristen aus Saratov, der an der Kazaner Universität studiert hatte und dessen gerade erst begonnene Verwaltungskarriere durch die Revolution abrupt beendet wurde. Die Eltern schafften es, sich irgendwie zu arrangieren, und das war die Hauptsache. Seine Mutter hatte das pädagogische Institut besucht und konnte als Schriftführerin unterkommen. Die rungen evozierten in Rozanov keine gegenüber den Bolschewiki.41

negativen und bedrohlichen Erfahgrundsätzlich ablehnende Haltung

40

RGAÈ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ènergetiki, op. 1, d. 404: Lavrenenko, Konstantin Dmitrievic: Tak bylo / Ispoved' ènergetika / Élektricestvo i ljudi. Dokumental'noe povestvovanie, 1. 1. Rozanov, German Vasil'evií, Interview

41

am

2.10.1996 in Moskau,

Manuskript S. 1.

122

Die Genese des neuen

Ingenieurs

Daniil' Isaakovic Maliovanov (*1911) schließlich betont ausdrücklich, daß er die dreißiger Jahre genoß, weil sie ihm einen gewissen Wohlstand und persönliches Glück bescherten. Ihm ging es nicht wie den Arbeiterkindern um Bildung oder die Überwindung des Zarenreiches, sondern ganz konkret um sein materielles Wohl. Er hatte eine positive Einstellung zu diesem Staat und der Partei, weil er mit ihrer Hilfe seine persönlichen Ziele verfolgen konnte. Maliovanov wurde 1911 in Elizavetograd (später Kirovograd) in der Ukraine geboren und lebte seit 1925 mit seinen Eltern im Zentrum des Donbass in Juzovka (später Stalino), wo der Vater als Buchhalter arbeitete, während sich die Mutter um den Haushalt kümmerte.42 Im Unterschied zu Bogdan, Fedoseev, Van'jat und Ivanenko berichten diese drei Männer nicht davon, wie man sich in ihrem Elternhaus zur Sowjetmacht verhielt. Während sich die erstgenannten als „unpolitisch" verstanden, weil sie sich nicht in die Politik einmischen und nicht von den Bolschewiki in sie involviert werden wollten, tatsächlich aber eine politische Meinung vertraten, waren Lavrenenko, Maliovanov und Rozanov insofern „unpolitisch", als sie sich keine grundsätzliche, an eigenen Idealen ausgerichtete Meinung zu den Bolschewiki bildeten. Sie begnügten sich damit, die jeweilige Situation, in der sie sich befanden, zu bewerten. Während Fedoseev seinen Vater nur in seinen Handlungen als einen „Pragmatiker" beschreibt, waren diese Männer in jeder Hinsicht

Pragmatiker.

Die Kinder der alten Intelligenzija und Bürgerschicht erlebten eine Kindheit in relativem Wohlstand, Geborgenheit und Sicherheit. Das Elternhaus funktionierte als Ernährer, Schutz und Bildungseinrichtung. Dies waren zentrale Erfahrungen, die das spätere Leben mitbestimmten und die sie grundsätzlich von den Kindern aus der Arbeiterschaft unterschieden. Während letztere in ihrer Kindheit kein Fundament gelegt bekamen, auf dem sie ihr weiteres Leben erfolgreich hätten aufbauen können, erhielten erstere alle nötigen Voraussetzungen. Dementsprechend maßen Fedoseev und Bogdan ihr Leben unter der Sowjetunion an ihren Erinnerungen aus der Zarenzeit und bewerteten es negativ. Gleichzeitig spielte eine große Rolle, welches Weltbild den zukünftigen Ingenieuren und Ingenieurinnen im Elternhaus vermittelt wurde: Bei Fedoseev und Bogdan war das eine klar ablehnende Haltung. Van'jat und Ivanenko erlebten dagegen, daß ihre Väter bereitwillig mit den Bolschewiki zusammenarbeiteten. Obwohl sie in ihrer Kindheit und auch in ihrem späteren Leben strukturell sehr ähnliche Erfahrungen machten, kamen die einen früher oder später zu dem Schluß, daß sie dieses Land verlassen mußten, 42

Maliovanov, Daniil' Isaakovic, Interview am 9.9.1997 in Moskau, Manuskript S. 1.

Kindheit

123

während die anderen sich nie ganz von der Sowjetunion abwandten. Ingenieure wie Rozanov, Maliovanov und Lavrenenko haben dagegen weder von den Eltern eine dezidierte Haltung gegenüber der Sowjetmacht übernommen, noch sich später unabhängig von den konkreten Ereignissen eine grundsätzliche Meinung gebildet. Sie blieb immer an die Ta-

gespolitik gekoppelt. Während die „Pragmatiker" die Revolution nicht als Ereignis beschreiben, das über ihr Schicksal bestimmte, ist den Ingenieuren und Ingenieurinnen sowohl der Arbeiterschaft als auch aus der Intelligenzija gemein, daß sie 1917 bzw. 1928 als Zäsur empfanden, die ihr Leben in eine „dunkle" und eine „helle" Epoche teilte.

124

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

2) Am Wendepunkt a) Wie der Stahl gehärtet wurde Vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen ihrer Kindheit unter dem Zaren, die für Stillstand, Eintönigkeit und Perspektivlosigkeit stand, erlebten die Arbeiterkinder die Revolution und den Bürgerkrieg als das Ereignis, das Bewegung, Veränderung und Zukunft versprach. Für viele Memoirenschreiber sind die Ereignisse 1917 als Wendepunkt in ihrem Leben so zentral, daß sie ihre Erzählung mit einer Szene aus dem Bürgerkrieg beginnen. Der spätere stellvertretende Minister der RSFSR für Energie, Matvej Savel'evic Smirnov (1902-1988), leitet seinen Lebensbericht mit den Worten ein: „Im Juni 1919 zog ich in den Bürgerkrieg. Diese Monate

waren wahrscheinlich die kritischsten für die südliche Front der Roten Armee und für das ganze

Land."' Smirnov unterstreicht damit nicht nur, daß mit der Revolution sein eigentliches Leben erst begann, sondern auch, daß er die Interessen der Sowjetmacht als seine Interessen verstand. Genau die gleiche Haltung ist auch bei Loginov zu erkennen: „1918 war ein hartes Jahr für die Sowjetmacht."2 Loginov ging wie viele andere eine Schicksalsgemeinschaft mit der „Sowjetmacht" ein, d.h. er verband die Chance, seiner tristen Vergangenheit zu entkommen, mit der Zukunft der Bolschewiki. Nachdem er zunächst einer Gruppe für Schießübungen beigetreten war, schloß er sich im Oktober 1918 einer „Lebensmitteltruppe" an, die für den Kampf gegen das Kulakentum, Spekulanten und Hamsterer gebildet wurde. Heimlich verließ er das Haus, weil er nicht sehen wollte, wie seine Mutter weinte. „So endete meine Kindheit."3 Diese Feststellung bedeutete zweierlei: Zum einen wurde er mit 16 Jahren erwachsen, zum anderen ließ er seine Vergangenheit im Zarenreich für immer hinter sich. Vor diesem Hintergrund muß auch der Ausspruch Loginovs verstanden werden: „Das wichtigste Ereignis in meinem Leben war der Parteieintritt im März 1919."4 Fast alle Ingenieure wiederholen genau diesen Satz. Er sollte aber nicht als leere Floskel abgetan, sondern in seinem Kontext gedeutet werden. Für Loginov war der Parteibeitritt die Bestätigung, daß er das alte Leben hinter sich gelassen hatte. Er besiegelte damit einen Pakt mit den Bol1

RGAÉ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ènergetiki, op. 1, d. 248: Smirnov,

Vospominanija zam ministra ènergetiki, Kapitel 1,1. 1. 15. Loginov, 3 Loginov, 1. 16. 4 Loginov, 1. 17. M.S.:

2

1.

Am

Wendepunkt

125

schewiki, der beinhaltete, daß er für sie kämpfen und umgekehrt die Par-

tei für ihn sorgen würde. Auf diesem Fundament baute seine ganze künftige Karriere auf. Insofern war der Eintritt in die Partei für ihn tatsächlich der Wendepunkt in seinem Leben. Während Loginov vor der Revolution Schwierigkeiten gehabt hatte, seinen Platz im Leben zu finden, erlebte er in der Armee, in der er bis 1923 diente, daß er gebraucht und ernst genommen wurde. Unter all den analphabetischen Soldaten hob er sich durch seine Lese- und Schreibfertigkeiten hervor und stieg schnell auf: vom Politinstrukteur zum Versorgungskommissar einer Schützenbrigade und schließlich zum Kommissar. Loginov beteiligte sich an der Niederschlagung von Bauernaufständen im Gouvernement Penza dabei und kämpfte gegen die „Banden Antonovs, Serovs, Sarafankins und anderer".5 Er war dadurch nicht nur auf dem Papier der Partei verbunden, sondern schloß gewissermaßen einen Blutbund mit den Bolschewiki. Auch Pozdnjak beschreibt die Revolution als Wendepunkt in seinem Leben, zögert aber mit einer uneingeschränkt positiven Beurteilung: „Der Bürgerkrieg ging zu der Zeit weiter; wir wußten nicht, was im Land vorgeht, aber ungeduldig erwarteten wir die Rote Armee. Sie kam im Winter 1919/20. Das war eine Freude ohne Ende, obwohl sich in meinem persönlichen Leben nichts änderte."6 Er unterscheidet zwischen den politischen Veränderungen, die er eindeutig begrüßte, und seiner persönlichen Lage, die sich nur langsam änderte, zunächst sogar verschlechterte. Im Bürgerkrieg starben sein Vater und zwei seiner Brüder. Er blieb mit seinem jüngeren Bruder allein zurück, der von einem Pozdnjak feindlich gesonnen Onkel aufgenommen. Pozdnjak selbst wußte keinen anderen Ausweg, als sich auf den Dienstbotenmarkt in die Stadt Kochovka zu begeben, um eine Anstellung als Knecht zu finden. Der „Kulak", wie Pozdnjak mit größter Selbstverständlichkeit seinen Herrn Nazar' Piznyk nannte, trieb ihn von morgens früh bis abends spät zur Arbeit an, beschimpfte ihn und drohte ihm mit der Knute. Die im Winter von ihm bezogene warme Kleidung mußte er im Sommer abarbeiten. Während der Hungersnot zu Beginn der zwanziger Jahre wurde er von seinem Peiniger in der Einöde ausgesetzt, konnte sich aber trotz Schnee und Eis zurück schleppen. Als die neue Regierung schließlich die Bezahlung von Knechten regelte, so daß Pozdnjak erstmals als Lohn ein Pferd und einen Sack Getreide erhielt, beschlagnahmte sein Onkel sofort alles.7 Pozdnjak schwankt zwischen dem Vorwurf, die Bolschewiki hätten sich nicht um sein persönliches Schicksal gekümmert, und der Selbstbe5

Loginov, 1. 18. Pozdnjak, 1. 28. 7 Pozdnjak, 1. 64. 6

126

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Ingenieurs

er habe erst lernen müssen, sich selbst richtig wie ein Komverhalten.8 Er schwärmte auf der einen Seite von der Sowjet-

zichtigung, munist macht:

zu

„Die Oktoberrevolution brachte den Humanismus mit sich: Beim Sturm des Winterpalastes war ihnen jeder Tropfen Blut es Wert, den Sieg herauszuzö-

gern, wenn man dadurch nur Menschenleben retten konnte."9 Auf der anderen Seite bemängelte er, daß die Rotarmisten sich nicht um sein Schicksal als unterdrückten Knecht kümmerten, ja ihn sogar selbst als Laufburschen benutzten und Schuhe putzen ließen, als sie in dem Dorf Agajmany Station machten. Die „Kulaken" schafften es zu Pozdnjaks Empörung, ihre Schandtaten vor den Rotarmisten zu verbergen. Sein Herr Nazar habe vorgetäuscht, mit Pozdnjak aus Menschenliebe eine Waise aufgenommen zu haben, und habe so eine milde Behandlung durch die Soldaten erreicht.10 Pozdnjak will dafür aber nicht die Bolschewiki verantwortlich machen, sondern schreibt: „Endlich war die Sowjetmacht da, aber sie war mit Dringenderem beschäftigt, und wir waren immer noch Knechte, waren dumm und unerfahren."" Schließlich ergriff auch Pozdnjak wie Loginov der Tatendrang, und er schloß sich im März 1920 im Alter von 14 Jahren mitsamt einigen Pferden, die er seinem Herrn stahl, einem Litauischen Bataillon der Roten Armee an. Pozdnjak nahm am Kampf in Sevastopol' gegen die Armee Vrangel's teil, brachte Patronen an die Front und transportierte Verwundete ab. Aber nach einer Explosion blieb er am Bein verwundet auf dem Schlachtfeld zurück und geriet in Weiße Gefangenschaft. Nach seiner Genesung setzten ihn die Weißen beim Bau von Befestigungsanlagen ein, bis Pozdnjak die Flucht gelang. Es spricht für seine Orientierungslosigkeit, daß er sich nicht anders zu helfen wußte, als zu seinem „Kulaken" zurückzukehren und auf bessere Zeiten zu warten.12 Nach fünf Jahren Knechtschaft endete Pozdnjaks Dienst am 1. Oktober 1924; zum ersten Mal bekam er seinen Lohn in sowjetischer Währung ausgezahlt.13 Doch die plötzliche Freiheit schreckte ihn: „Es war furchtbar und aufregend zugleich. Ich war so frei keiner erwartete

mich, keiner brauchte mich." Zunächst zog es ihn wieder nach Kachovka auf den Arbeitskräftemarkt. Er verbrachte ein paar Tage in einer Erdhöhle, ohne zu wissen, wohin er -

8

Seine innere Haltung erinnert sehr an die Zerrissenheit des Arbeiters Stepan Podlubnyj, der sich dafür schalt, daß er die neue Politik noch nicht richtig verstehe. Vgl. Hellbeck, Tagebuch aus Moskau. 9 Pozdnjak, 1. 24. 10 Pozdnjak, 1. 28, 55, 57. 11 Pozdnjak, 1. 55. 12 Pozdnjak, 1. 30, 39ff. 13 Pozdnjak, 1. 63, 66. 14 Pozdnjak, 1. 67.

Am

Wendepunkt

127

sich wenden sollte. Weder kannte er den Komsomol noch die Organisatider Armen (Komnezam). Schließlich kehrte er in sein Heimatdorf Agajmany zurück und mietete sich von seinem Lohn ein Zimmer bei einem Bauern. Pozdnjak und Loginov beschreiben die Begegnung mit der Revolution und dem Bürgerkrieg als eine existentielle Erfahrung. Angesichts der zuvor erlebten Tristesse und der Dramatik der jetzt einsetzenden Ereignisse scheint die unterstrichene Bedeutung dieses Wendepunktes keineswegs übertrieben. Der Unterschied zwischen Loginov und Pozdnjak besteht darin, daß ersterer angibt, er habe sich durch die neue Situation nicht irritieren lassen, während sich letzterer zeitweilig als vollkommen orientierungslos zeigt. Seine eigene Lage sah Pozdnjak im Widerspruch zu den Erwartungen, die er gegenüber den neuen Machthabern hatte. Während Loginov sein Verhältnis zu den Bolschewiki als eindeutig und unanfechtbar beschreibt, zeigt Pozdnjak, daß er viele Stufen überwinden mußte, um sich seinen neuen Beschützern anzunähern. Trotz dieses Unterschiedes sind beide Männer, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in der Partei hochdienten. Loginov wurde 1923 aus der Armee entlassen, „weil der Kriegszustand vorbei war und in der Armee gute Köpfe gebraucht wurden. Ich merkte, daß ich viel zu wenig wußte. Ich war noch jung und hatte aus irgend einem Grund im Formular für mein Parteibuch angegeben, daß ich eine landwirtschaftliche Ausbildung bekommen möchte."15 Loginov betont bereits hier, daß er seinen Wissensmangel als Defizit verspürte und nach einem Studium strebte, stellte sich aber zunächst weiterhin ganz der Partei zur Verfügung. 1922, während des Krieges, hatte er seine Frau, F.I. Lobanova, kennengelernt, die in der Bibliothek der Politabteilung der Armee arbeitete und an der Universität Saratow Medizin studierte. Loginov folgte ihr nach Saratow und meldete sich bei dem Sekretär des Gouvernementkomitees der Partei, der ihm vorschlug, sich um den Posten des Universitätssekretärs für studentische Angelegenheiten zu bewerben. Loginov geriet damit mitten in den Kampf zwischen der alten, unpolitischen Professorenschaft und den Kommunisten um die Vormachtstellung an der Universität. Genau wie Pozdnjak von seinem Herrn selbstverständlich als „Kulak" spricht, drückt Loginov aus, daß für ihn kein Zweifel daran bestand, daß es „fremde Elemente" gab, die „liquidiert" oder „gesäubert" werden mußten. Stolz beschreibt er, daß es ihm gelang, den parteilosen, alten Direktor davon zu überzeugen, daß er der richtige für die vakante Stelle sei.16 Während der landesweiten ersten großen Hochschul Säuberungen 1924 agierte er als Vorsitzender der Säuberungskommission der juristischen Fakultät: on

15 16

Loginov, 1. 18f. Loginov, 1. 20.

128

Die Genese des neuen

Ingenieurs

„Am Ende mußten 40 Prozent der Studenten ausgeschlossen werden. Damals

gab es tatsächlich viele feindselige Elemente an den Provinzuniversitäten. Der Auftrag der Partei war sehr verantwortungsvoll; im Land wurden organisierte antisowjetische Aktionen erwartet. An den Wänden, v.a. auf den WCs, gab es Schmierereien mit Drohungen gegen die Kommissionsmitglieder und auch gegen mich."' Loginov kämpfte nicht nur an der Universität an vorderster Front für die Partei. Sein Studium der Rechtswissenschaft, für das er eingeschrieben war, wurde immer wieder von Parteiaufträgen in den Hintergrund gedrängt. Als 1923 nach dem Hamburger Aufstand die Revolution in Deutschland erwartet wurde und Truppen an die Grenze geschickt werden sollten, drohte das städtische Kriegskommissariat, auch ihn einzuziehen. Dieser Einberufung entging er, wurde aber 1924 für die Parteiarbeit auf dem Land mobilisiert. Loginov läßt erkennen, daß er zwar die Maßnahmen der Partei restlos unterstützte, darüber aber seine eigenen Interessen nicht vergaß und versuchte, diese gegenüber der Partei durchzusetzen. Aber die Saratower Partei nahm keine Rücksicht auf seine persönlichen Wünsche: „Alles Klagen, daß ich Student war, daß auch meine Frau studierte und ein Kind unterwegs war, nützte nichts. Im September wurde ich in die Stadt Atkarsk geschickt, um an den Arbeiten der Provinz-Parteikonferenz teilzunehmen. Als einziges Zugeständnis wurde mir zugesagt, daß ich nach zwei Jahren, wenn meine Aufgabe erfüllt sein würde, zurückgehen und mein Studium abschließen dürfte."18 In Atkarsk, 90 Kilometer von Saratow entfernt, wurde er in das ProvinzParteikomitee gewählt und arbeitete anderthalb Jahre als Leiter der Agitpropabteilung. Er baute ein Netz von Lektoren auf, die Vorträge hielten und den Leute Rede und Antwort standen, wie es unter dem Kommunismus mit Steuern, der Familie, dem Erben u.a. bestellt sein würde. Seine Aufgabe erfüllte er so gut, daß er ins Gouvernementkomitee als verantwortlicher Instrukteur der Agitpropabteilung berufen wurde. Obwohl Loginov diese Zeit „interessant" fand und schreibt, er habe „gute Erinnerungen" an diese Tätigkeit, nutzte er die erste Gelegenheit 1926, von seinen Pflichten entbunden zu werden, um seine Ausbildung abzuschließen.19 Loginov hatte der Partei ausreichend gedient: fünf Jahre in der Armee, ein Jahr an der Universität als ihr Interessenvertreter und zwei weitere Jahre auf dem Land als Propagandist. Nun endlich wurde seinem Wunsch stattgegeben, unbehelligt studieren zu dürfen. Ähnlich wie Loginov mußte sich auch Pozdnjak seinen Studienplatz hart verdienen und erkämpfen. Zurück in seinem Heimatdorf Agajmany trat er 1924 zunächst dem Komsomol bei. Selbst auf der Suche nach Ori17

Loginov, 1. 22, 24f. Loginov, 1. 25. 19 Loginov, 1. 28ff. 18

129

Am Wendepunkt

entierung und einer neuen Heimat, empfand er Ehrfurcht vor der Selbstsicherheit der Komsomolzen:

„Ich war sehr beeindruckt von den Komsomolzen:

von

ihrer hohen und reinen

Geisteshaltung, ihrer Bescheidenheit und ihrem klarem Verständnis ihrer Aufgaben und Pflichten."20 Dennoch war er der Meinung, daß auch seine Kameraden sich noch nicht wie „richtige" Bolschewiki verhielten. Sie waren junge, unerfahrene Leute, die jetzt zwar Vertreter der Partei waren, deshalb aber noch nicht davor gefeit waren, bei ihren Entscheidungen Fehler zu machen. Pozdnjak betont auch an dieser Stelle, daß er seinen eigenen Ansprüchen nicht genügte. So wurde er zwar in den Dorfsowjet entsandt, fühlte sich damit aber eigentlich überfordert, weil er von allen der „am wenigsten gebildete" gewesen sei. Die Arbeit des Komsomols kritisiert er als „Zusammenklüngeln" und „im eigenen Saft Schmoren". Er und seine Genossen seien zu radikal gewesen: „Alle, die Romane lasen oder tanzen gingen, waren für uns verdächtig. Natürlich war das eine gewisse Verirrung, aber im Grunde hatten wir recht, denn man mußte als erstes die Zerstörung beseitigen, gegen den Hunger und die Arbeitslosigkeit kämpfen usw."21 Als stärkstes Zeichen ihrer Unreife empfand Pozdnjak jedoch, daß die anderen von ihm die Adresse seines ehemaligen Herrn Nazar verlangten, weil sie angesichts der herrschenden Arbeitslosigkeit in dessen Dienste treten wollten. Sich selbst wirft Pozdnjak vor: „Ich bekam nicht gleich ein sowjetisches Bewußtsein. Noch lange dachte ich: So ist es eben, so sind wir halt."22 Pozdnjak fand im Komsomol eine erste Orientierung, aber noch lange nicht seinen Platz. Die Komsomolsekretärin besorgte ihm schließlich 1925 zu seiner großen Freude eine Abordnung (putevka) in die für obdachlose Kinder (besprizornye) eingerichtete Arbeiterkolonie und Landwirtschaftsschule „Roter Kosake" (Cervonyj Kazak) in der Region Akimov im Kreis Melitopol'. Obwohl diese Einrichtung, in der die Kinder einen halben Tag in den Stallungen und im Garten arbeiten und einen halben Tag Unterricht bekam, völlig verwahrlost war, fühlte sich Pozdnjak hier bald heimisch.23 Mit seinem Komsomolbuch behandelten ihn die anderen Kinder, die noch nie so ein Dokument gesehen hatten, wie eine Respektsperson. Er etablierte sich als Anführer und Organisator, der dafür sorgte, daß in gemeinsamen Arbeitseinsätzen das Gelände, die Gebäude und schließlich auch die Kinder selbst

20

Pozdnjak, 1. 68. Pozdnjak, 1. 68a, 69. 22 Pozdnjak, 1. 69f. 23 Pozdnjak, 1. 7Iff. 21

gereinigt und geschrubbt

130

Die Genese des neuen Ingenieurs

Pozdnjak (1906-1982; links außen stehend) mit einer Gruppe Komsomolzen in seinem HeimatdorfAgajmany im Jahre 1925. Quelle: RGAÈ,

Abb. 9: Nikita Zacharovic

f. 372,

op.

1, d. 110, l. 41.

Am

Wendepunkt

131

wurden.24 In der Schule überlegten sie sich, wie man sich unter dem Kommunismus verhalten würde, und organisierten eine „rote Taufe".25 Pozdnjak genoß diese Zeit nicht zuletzt deshalb, weil er überzeugt war, in der Kolonie die richtigen Verhaltensweisen eines Kommunisten zu entwickeln: „Sie ließ einen großen Eindruck zurück: nach der langen Knechtschaft, hatte ich die Süße der Arbeit gespürt und es geschafft, die richtigen Seiten eines Sowjetmenschen zu entwickeln."26 1926 folgte die Aufnahme in die Partei, die auch er das „wichtigste Ereignis" in seinem Leben bezeichnet.27 Der Parteieintritt war auch für ihn ein Symbol dafür, daß er endlich eine Heimat und seinen Platz im Leben gefunden hatte. So wie Loginov zeigt aber auch Pozdnjak die negative Seite seiner Bindung an die Partei, die ihn nicht den Weg gehen ließ, den er gehen wollte. 1926 wurde er zum Sekretär des Dorfsowjets gewählt, dann in das Bezirkskomitee entsandt und 1927 zum Stellvertreter des Komsomolsekretärs der Akimov-Region sowie zum Leiter der Agitpropabteilung gemacht. Von all diesen neuen Aufgaben fühlte Pozdnjak sich überfordert: „Mir wurde das alles zuviel, und ich bat, daß

man mir einen Teil der Arbeit abnehme. (...) Manchmal war ich eifersüchtig auf Jungen, die sich mit einem Mädchen auf eine Bank zurückzogen."28

Pozdnjak setzte sich genau wie Loginov gern für die Partei ein, war aber nicht willens, darüber seine eigenen Belange zu vergessen. Besonders

schwer fiel es ihm, die Kinderkolonie zu verlassen, weil das Amt des Komsomolsekretärs den Umzug nach Atkarsk verlangte: „Ich nahm das ohne Begeisterung auf. Es war schwer, Abschied zu nehmen."29 Die Aufgaben, die er hier übernahm, waren eintönige Verwaltungstätigkeiten. Im Kampf gegen die „Kulaken" und „NEP-Männer" (nèpmany), Gewerbetreibenden und Kaufleute, übte er die Aufgaben eines Volksermittlers aus:

„Den ganzen Sommer schrieb ich Protokolle, Beschlüsse, Anordnungen und andere Papiere ab. Ich rauchte nicht, machte keine Pause. Abends fühlte ich mich müde und tot. (...) Nur sonntags ging ich zum Fluß und las dort ein Buch. (...) Meine Wirtsleute wie auch Heimweh hatte."30

einige Komsomolzen glaubten, daß ich

Pozdnjak sehnte sich in der Tat nach seiner Schule und der alten Komsomolzelle zurück. Bereits im Juli 1927 machte er eine Eingabe, daß er weiterlernen wolle. Die Mitglieder des Bezirkskomitees zeigten sich er24

Pozdnjak, 1. 85ff. Pozdnjak, 1. 106. Pozdnjak, 1. 127. 27 Pozdnjak, 1. 109. 28 25

26

Pozdnjak, 1. 114, 120ff. 1. 123f. Pozdnjak, 30 Pozdnjal, 1. 140ff.

29

132

Die Genese des neuen

Ingenieurs

Erfolg, ihm „die Romantik der Arbeit des Ermittlers und der kriminalistischen Untersuchungen zu vermitteln."31 Schließlich bekam er doch von der Abteilung für Volksbildung des Kreises die Genehmigung, sich bei der Arbeiterfakultät in Dnepropetrovsk bewerben zu dürfen. Dies war für Pozdnjak der ersehnte Moment, für den er hart gearbeitet hatte: Wie Loginov hatte auch er, wenn auch nur kurze Zeit, in der Roten Armee gedient, hatte die Komsomolzelle in seinem Heimatdorf mitaufgebaut und war Komsomolsekretär, Politinstrukteur und Ermittler gewesen. Beide zeigen, wie sehr sie sich mit der Partei identifizierten, ohne zu verschweigen, daß die Aufgaben der Partei zum Teil nur auf Kosten ihrer eigenen Interessen ausgeführt werden konnten. Während Loginov sich nicht bemüßigt fühlt, diese Dissonanz zwischen seinen Anliegen und den Parteiaufträgen aufzulösen, versucht Pozdnjak auch hier, eine Erklärung zu finden: staunt und versuchten ohne

„Die Gesellschaftsarbeit entwickelte sich eben, wie sie sich entwickeln mußte; damals im neuen Leben war sie mußte ich Komsomolarbeit machen."32

wichtig. Entsprechend

meines Alters

Konflikt, der Partei folgen zu müssen, aber doch eigentlich anderes wollen, ist ein häufiges Sujet in Ingenieursmemoiren. Die meisten beschreiben, daß sie der Partei gleich ihren Eltern glaubten, daß sie nur ihr Den

zu

Bestes wollte. Der Ingenieur Andrej Efimovic Bockin brachte diese Haltung auf den Punkt: „Heute, wenn ich über den zurückgelegten Weg nachdenke, der aus einer Vielzahl von Ernennungen bestand, bei denen man meinen Wünschen durchnicht immer Rechnung trug, und aus einer Vielzahl von Zigarren, die man mir verdient oder unverdient verpaßt hatte, will es mir scheinen, als ob man mich nach einem Spezialprogramm geschmolzen, gehärtet und geschmiedet hätte. Nach einem Programm, das speziell für mich, entsprechend einem im voraus festgelegten Ziel aufgestellt worden ist, so lebensnotwendig war alles, was ich durchgemacht habe."33 aus

Diese Ingenieure betrachteten ihren Werdegang als festgelegtes Programm, als kontinuierliche Aufwärtsbewegung, die nur von wenigen Hindernissen, die überwunden werden mußten, unterbrochen wurde. Die Dialektik, die Loginov und Pozdnjak zwischen Zarenzeit und Sowjetzeit, Lethargie und Kampf, Kindheit und Erwachsenwerden beschreiben, folgt dem Muster des Bildungsromans und des sowjetischen Helden, so wie es u.a. mit Nikolaj Ostrovskijs (1904-1936) Roman „Wie der Stahl gehärtete wurde" (1930-33) Mitte der dreißiger Jahre etabliert wurde. Diese kanonisierte autobiographische Erzählung des Sozrealismus wurde nicht nur für die Belletristik zum Vorbild, sondern auch für die Memoirenlite-

31

Pozdnjak, 1. 148. Pozdnjak, 1. 149f. 33 Botschkin, Andrej 32

Efimovic: Mein ganzes Leben, Moskau 1968, S. 8.

Am Wendepunkt

133

ratur.34 Der Roman beinhaltete das idealtypische Interpretationsangebot für Lebensgeschichten: Mit dem Protagonisten wird exemplarisch die Jugendzeit der ersten sowjetischen Generation vorgeführt, die als Kinder das Zarenreich hassen lernten, im Bürgerkrieg ihr Leben für die Sowjetmacht riskierten und in den zwanziger Jahren beim Aufbau des neuen Staates und der zerstörten Wirtschaft mithalfen.35 Der Stahl waren die jungen Männer, und die Härtung erfuhren sie durch Revolution, Bürgerkrieg und Parteiarbeit. Da die künftigen Ingenieure einen Lebensweg wie der Protagonist Pavel Kocargin zurücklegten, erstaunt es nicht, daß sie diese Geschichtsschreibung adaptierten. Für sie war dies nicht nur die adäquate Form, ihr Leben zu schreiben; die Dialektik war auch die Struktur, in der sie ihre Erfahrungen memoriert hatten.

b) Komsomol als Abenteuer Anders als Loginov und Pozdnjak mußten sich Calych, Gajlit und Lavrenenko ihr Studium nicht mühsam erarbeiten. Dennoch schlugen sie den gleichen Weg ein, als auch sie sich nach der Revolution dem Komsomol oder der Partei anschlössen, sich für die Sowjetmacht einsetzten und die neuen Chancen nutzten. Calych schreibt, daß er sowohl Februarrevolution als auch Oktoberrevolution gleichgültig aufnahm, die beide nichts an seinem Seminaristenleben änderten. 1919 kehrte er zu seinen Eltern in die Siedlung Solo-Tjube zurück, unterrichtete dort zunächst in einer kleinen Schule, arbeitete dann als Bürogehilfe und wechselte schließlich als Lehrer in ein ehemaliges Gymnasium in Perovsk, wo er einen Chor und Theateraufführungen organisierte. Calych meldete sich nicht freiwillig, um die Sowjetmacht zu verteidigen, sondern wurde 1920 eingezogen. Die Regierung, so schreibt er, wollte in drei Monaten die Rote Armee alphabetisieren und brauchte ihn als Instrukteur für Schulangelegenheiten an der Turkestan-Front unter M.V. Frunze. Die Arbeit war schwer, weil ihm fast keine Mittel zur Verfügung standen und während der Kämpfe der Unterricht ausfallen mußte. Noch im gleichen Jahr erreichte Calych seine Entlassung: Er bestand die Aufnahmeprüfung für die neu gegründete Mittel-Asiatische Staatsuniversität in Taschkent und wurde für ein Studium freigestellt.36 Calych betont, daß er die Revolution nicht begeistert wie Loginov und Pozdnjak begrüßte. Aber er stand ihr auch nicht ablehnend gegenüber, sondern nutzte die neuen Möglichkeiten.

Vgl. auch Clark, The Soviet Novel. Ostrowskij, Nikolaj: Wie der Stahl gehärtet wurde, Leipzig 181974.

Calych, S.

11 ff.

134

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

Ganz ähnlich schildert auch Gajlit seine Erfahrungen: Die beiden Revolutionen hätten zunächst keine Auswirkungen auf ihn gehabt, wenn man nicht mitrechne, daß sich sein älterer Bruder von Anfang an ins politische Leben einschaltete. Er selbst erinnere sich nur noch undeutlich, wie die Truppen Judenics sich auf Gateina zu bewegten und sich seine Mutter versteckte, da sie fürchtete, wegen ihres kommunistischen Sohnes bestraft zu werden. Mit seinem 15. Lebensjahr 1920 wurde auch Gajlit politisch aktiv. Er schloß sich dem Komsomol an, in dessen Namen er Aufklärungs- und Agitationsarbeit betrieb, wurde 1921 in das Plenum des Provinzkomitees Gateina gewählt und beteiligte sich sowohl an der Bewachung von Parteieinrichtungen als auch an den Samstagarbeitseinsätzen (subbotniki) zur Brennstoffbeschaffung. Anders als für Loginov oder Pozdnjak war diese Beschäftigung aber keine existentielle Erfahrung, von der sein Leben dominiert wurde, sondern hatte eher den Charakter einer aufregenden Freizeitgestaltung. Gajlit trat in den Komsomol ein, weil das viele so machten. Die Arbeiten beschreibt er weniger als politischen Ernst, als als gemeinsame Unternehmungen mit Freunden, bei denen man stolz war, etwas zu leisten und gebraucht zu werden. Bei einem subbotnik verletzte er sich an einer Elektrosäge so stark, daß er für körperliche Arbeit nicht mehr tauglich war.37 Er zog zu seiner Tante nach Petrograd, um dort die 193. Sowjetische Einheitliche Arbeitsschule zu besuchen. Auch hier setzte sich das Abenteuer Komsomol fort: „Zu der Zeit [1924] gab es katastrophale Überschwemmungen in Leningrad, und wie immer waren die Komsomolzen auf den ersten Ruf der Partei sofort zur Stelle und halfen bei der Evakuierung der Schüler und wertvollen Gegenstände. Ich erinnere mich gut daran, wie mir auf der Petersburger Seite das Wasser bis zur Brust stand und ich kleine Kinder trug."38

Nach seinem Schulabschluß 1924 erhielt er eine Abordnung des Regionskomitees des Komsomol für den elektrochemischen Zweig des Leningrader Elektrotechnischen V.l. Ul'janov-Instituts. An Gajlit und Calych wird sichtbar, daß man nicht aus ärmsten Verhältnissen kommen oder ein überzeugter Kommunist sein mußte, um sich in der Jugendorganisation der Partei zu engagieren und schließlich auch von ihr zu profitieren. Aus ähnlichen Motiven trat auch Lavrenenko in den Komsomol ein. Auch er war zunächst nicht weiter von der Revolution betroffen, schloß die Mittelschule nach sieben Jahren ab und besuchte danach die Berufsschule, die an die Metallfabrik in Dnepropetrovsk angeschlossen war. Durch sein junges Alter 1917 war er erst neun Jahre alt hatte er wie Calych keine eigene Revolutionserfahrung, sondern ließ sich von den Erzählungen anderer begeistern. In den Komsomol trat er wie in einen Jugendclub ein: -

Gajlit, 1.1 ff. Gajlit, 1. 4.

-

Am

135

Wendepunkt

„Damals erzählte mir mein Cousin, der wesentlich älter als ich und ein Teilnehmer des Bürgerkriegs und Kommandeur eines rotarmistischen Bataillons war, von der Großartigkeit des Oktobers, von dem Blutpreis, der für das Volk gezahlt worden war, und zog mich auf den Weg des Komsomols. Also wurde ich Komsomolführer in der Berufsschule der Metallfabrik Dnepropetrovsk."39

Daß der Komsomol nicht nur als eine politische Organisation funktionierte, sondern auch als ein Verein für Jugendliche, die etwas erleben wollten, zeigen nicht zuletzt Kozevnikova, Fedorova und Maliovanov. Sie betonen sowohl die kommunistische Überzeugung wie Loginov und Pozdnjak als auch den Freizeit- und Unterhaltungsfaktor des Komsomols wie Lavrenenko und Gajlit. Fedorova unterstreicht dabei besonders das Selbstbewußtsein, das ihr schon die Pioniere, denen sie 1925 beitrat, vermittelten: „Ihr seid die jungen Herren des Landes, Ihr seid für alles verantwortlich, Ihr sollt alles können."40 Von ihrer Komsomolzeit erzählt Fedorova: „Alles schien interessant, hielt mich fest und war aufregend."41 Fedorova trat 1930 in den Komsomol ein, nachdem sie die siebenjährige Schule abgeschlossen und in der Moskauer Fabrik „Stratosphärenballon" eine Ausbildung zur Taklerin begonnen hatte. So wie andere das Jahr 1917 als Wendepunkt begriffen, markierte für Fedorova der Eintritt in den Komsomol den Beginn eines neuen Lebens. Ihre Fabrik betrachtete sie als „Geburtshaus", in dem die alte Generation der Arbeiter die neue Generation einsetzte und ihnen ihr Wissen über die Fabrik weitergab: „Es war eine harte Zeit. (...) Lebensmittel und Gebrauchsgüter wurden streng rationiert und nur auf Bezugsschein ausgegeben. Aber uns ging es gut! Wir gehörten schon fast zur Arbeiterklasse. (...) Und wie wir die Feiertagsdemonstrationen liebten. Besonders schön

schieren, wenn es Frühling war!"42

war

es,

am

1. Mai durch Moskau

zu mar-

Sie beschreibt eine Welt, die ihr offen stand, die Abenteuer und Spannung bot, die ihr Ausbildung und beruflichen Erfolg brachte. All das verkörperte die Gemeinschaft des Komsomol. Als der Komsomolsekretär den jungen Arbeiterinnen und Arbeitern 1932 von Metrostroj, dem Bau einer Untergrundbahn in Moskau, berichtete, war für sie klar, daß sie auch dort dabei sein mußte: „Ohne sich abzusprechen, hoben drei Mädchen, drei, die bis vor kurzem noch Fabrikhäschen gewesen waren, die Komsomolzinnen Zina Maksokova, Sura Lazareva und ich die Hand: Wir gehen, schreiben Sie uns auf!"43 Beim Metrobau erlebte Fedorova den Komsomol v.a. als privilegierte Gemeinschaft von Freundinnen, mit denen sie zusammen Tee trank, ins Kino ging und politische Veranstaltungen besuchte. Ein Highlight, das 39 40 41

Lavrenenko, 1.1. Fedorova, Naverchu, S. 9. Fedorova, T.V.: Naverchu

S. 143-157. 42 43

Moskva, S. 143, in: Dni i gody Metrostroja, Moskau 1981, -

Fedorova, Naverchu, S. 11 f. Fedorova, Dni i gody, S. 144.

136

Die Genese des neuen

Ingenieurs

der Komsomol des Metrobaus seinen Mitgliedern zu bieten hatte, war der eigene Fliegerclub vor den Toren Moskaus, wo sich die jungen Kommunisten und Kommunistinnen beim Fallschirmspringen, dem Modesport der dreißiger Jahre vergnügten.44 Fedorova stieg beim Metrobau schnell auf, leitete eine Nachtschicht mit 23 Arbeiterinnen, wurde Maschinistin und Vorarbeiterin. Abends bekamen die Arbeiter/innen von den Ingenieuren Unterricht; später besuchte Fedorova die Arbeiterfakultät.45 An Fedorova wird sehr deutlich, daß die Partei es immer wieder verstand, Menschen das Gefühl zu geben, vom Land gebraucht zu werden, wichtig für den Aufbau zu sein und die eigene Zukunft sowie die des Landes gestalten zu können. Wie Fedorova trat Kozevnikova dem Komsomol nach dem Abschluß von sieben Jahren Schule und dem Eintritt in das Technikum für Erdölraffinerie in Baku 1932 bei. Daß Kozevnikovas Lernbrigade geschlossen ihren Beitritt erklärte, weist deutlich darauf hin, daß die Mitgliedschaft weniger ein politischer Akt als ein Ritual war, das zum Erwachsenwerden und zur Ausbildung dazugehörte. Kozevnikova begann sich in der Gesellschaftsarbeit zu engagieren und arbeitet bei der „Liquidierung des

Analphabetentums" (likbez).46 Die Verlockungen des Komsomols wirkten schließlich auch auf junge Menschen, die keine überzeugten Kommunisten waren, aber in ihrem jugendlichen Elan die Gemeinschaft des Komsomol nicht missen wollten. Maliovanov trat wie Fedorova und Kozevnikova nach dem Abschluß von sieben Jahre Schule 1926 und seiner Ausbildung zum Arbeiter in die Jugendorganisation ein: „Ich war jung, voller Energie und trat dem Komsomol 1929 bei. Ich war Brigadier einer Komsomolbrigade, verdiente gut und kleidete mich neu ein aber das ist schon nicht mehr für das Tonband, naja... soll es drauf körnig? -

men.

Maliovanov trat dem Komsomol bei, weil es ihm Spaß machte, eine Brigade zu leiten, und sich dies darüber hinaus finanziell auszahlte. Im Interview war es ihm peinlich preiszugeben, daß ihn damals vor allem das Geld lockte. Er macht damit sehr deutlich, daß es für junge Menschen wie ihn eine große Rolle spielte, die Angebote der Partei nutzen zu können, um selbständig und unabhängig zu werden. Sein Gehalt gab ihm einerseits die Möglichkeit, sich schick zu kleiden und sich von seiner ärmeren Kindheit abzusetzen. Andererseits war er verliebt und machte sich ein Vergnügen daraus, seiner Freundin kostspielige Geschenke zu kaufen. Er

44

Fedorova, Dni i gody, S. 146ff. Fedorova, Dni i gody, S. 145; Naverchu, S. 17, 33, 53. 46 Kozevnikova, S. 19ff. 47 Maliovanov, S. 1. 45

137

Am Wendepunkt

probte

ein neues Sozialverhalten und eine Eltern nicht möglich gewesen war.

Selbstpräsentation, die

seinen

An diesen Personen ist deutlich geworden, daß der Komsomol nicht nur eine politisch-ideologische Organisation der Partei war, sondern auch wichtige sozial-integrative Funktionen erfüllte. Gerade das Angebot, über die Komsomolschiene einen Studienplatz zu bekommen, zur Elite des Landes aufzusteigen, Spaß und Abenteuer zu erleben, machte den Komsomol attraktiv und damit erfolgreich. Ilja Erenburg (1891-1967) schrieb über die bevorzugten Vergnügen dieser Komsomol-Generation in seiner Erzählung „Der zweite Tag" (1932-33): „Die stupsnasige Sura aus Krivodanovka ging umher wie ein Geburtstagskind: Mit einemmal hatte sie alles geschenkt bekommen: das ABC, städtische Stiefelchen, Kino und Versammlungen."48

c) Existenzbedrohung Weder als Befreiung noch als Eröffnung neuer Optionen erlebten bürgerliche Kinder die Revolution. Im Gegenteil: Sie war das Ereignis, das langfristig ihre Existenz gefährdete oder zumindest ihre bisherigen, traditionellen Lebensentwürfe in Frage stellte. Für Bogdan war die Zeit nach 1917 durch die Verknappung von Lebensmitteln und die Umwandlung des heimischen Gartens in einen Gemüseacker gekennzeichnet. Um sich zu ernähren, mußte sich die Familie nun ein Schwein, eine Kuh und Hühner halten. Die einschneidenden Veränderungen begannen aber erst während der Zeit des großen Umbruchs 1929, als ihr Vater zu einem halben Jahr Zwangsarbeit verurteilt wurde. Die Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last, einen Zug mit von Bauern konfisziertem Getreide nicht rechtzeitig abgefertigt zu haben. Zwangsarbeit bedeutet für ihn, daß er auf seinem Posten weiter arbeitete, aber ein Teil seines Gehalts einbehalten wurde, so daß es der Familie in dieser Zeit bedeutend schlechter ging. Der nächste Schicksalsschlag folgte 1932, als die örtlichen Behörden Bogdans Elternhaus beschlagnahmten. Die Partei vor Ort hatte befunden, daß es für ein Ehepaar mit nur noch einem ständig dort lebenden Kind zu groß war. Als Ausgleich erhielten die Odenovs Staatsanleihen, von denen sie sich nur eine Lehmhütte mit wesentlich kleinerem Garten kaufen konnten. In ihr Haus zog die örtliche Fabrikschule ein.49 48

Ehrenburg, Ilja:

Der zweite

Tag (1932-1933), übersetzt

1958, S. 47. 49 Bodan, Studenty, S. 189ff, 209.

von

Rudolf Selke

1933, Berlin

138

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

Auch Fedoseev bringt den Beginn des ersten Fünfjahrplans in erster Linie mit Wohnraum- und Lebensmittelverknappung in Zusammenhang. Nachdem die Fedoseevs lange der Revolution und ihren Folgen räumlich ausgewichen waren, kehrten sie 1927 nach Leningrad zurück, wo sie mit der neuen Realität konfrontiert wurden: Nach großen Wohnungen und kleinen Häusern mit Veranda und Garten fanden sie jetzt nur ein einziges Zimmer in einer Kommunalwohnung, in der sich vier Familien fünf Zimmer, eine Toilette und eine Küche teilten.50 Ein Bad gab es nicht: „Früher war diese Wohnung ein großer Saal gewesen, der nun durch dünne Holzwände aufgeteilt war. Die Wohnung war extrem hellhörig; jeder Nachbar wußte alles über den anderen. Wir teilten unser Zimmer nochmals in zwei Hälften. Es war aus mit dem Luxus am Kuban, in Kuvsinovo und Du-

brovka."51 Während in diesem Jahr noch die Geschäfte mit Waren gefüllt waren, Fedoseev mit Vorliebe über den reich beschickten Heumarkt streifte oder sich in den Schulpausen französische Brötchen und Schokolade mit Cremefüllung kaufte, verschwanden langsam auch diese Relikte einer alten, guten Zeit: „Ich halte mich extra bei diesen Details auf, weil ich die Lebensbedingungen in der UdSSR und ihre Entwicklung zeigen will."52 Auf andere Weise traf Ivanenko die neue Zeit. Ihre Familie wurde nicht wie die Familien Fedoseevs oder Bogdans räumlich beengt oder war von Zwangsverkauf betroffen. Aber während Bogdan 1929 und Fedoseev 1927 das Abitur ablegten, fiel Ivanenkos Schulabschluß genau in die Zeit, in der das Abitur abgeschafft wurde. Die Schüler und Schülerinnen ihrer Schule in Leningrad, so berichtet sie, wurden 1929 nach acht Jahren Schule mit dem Hinweis entlassen, wer weiter lernen und eine Hochschulzugangsberechtigung erreichen wolle, solle die Arbeiterfakultät besuchen. Also absolvierte sie hier ein weiteres Jahr.53 Interessanterweise erzählt auch Jakovlev von der Revolution als Zusammenbruch einer vertrauten und ihm lieben Welt. Obwohl er in seinen Memoiren unterstreicht, daß er ein Anhänger der Sowjetmacht sei, tritt in seinen Ausführungen deutlich hervor, daß die Ereignisse 1917 von ihm eine vollkommene Neuorientierung verlangten. Er erlebte sowohl die Februar- als auch die Oktoberrevolution als Stillstand des bisherigen Alltags: Die Zeitungen erschienen nicht mehr, die Telefonleitung wurde gekappt und die ihrem Haus gegenüber befindliche Weinhandlung geplündert. Er selbst mußte den Schulbesuch unterbrechen, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. Er arbeitete bei der Hauptver50

Zum Leben in der Kommunalwohnung als „Ort der Zerstörung nisse" siehe auch: Schlögel, Kommunalka, S. 332. 51 Fedoseev, S. 37. 52 Fedoseev, S. 38. 53 Ivanenko, S. 1.

bürgerlicher Lebensverhält-

Am

139

Wendepunkt

waltung für die zentrale Brennstoffverteilung (Glavtop), weil sie bekannt für die großzügigen Lebensmittelrationen war: Zu Neujahr erhielt Jakovlev eine Gans und ein halbes Pud Traubenzucker. Hier begann er eine Kontoristenlehre im Archiv und stieg bald zum Sekretär des Abteilungsleiters auf. 1921 kehrte

er

in die Schule

zurück,

um

1922 das Abitur ab-

zulegen.54 Jakovlev zeigt ungewollt, daß er in der gleichen Welt wie Fedoseev, Bogdan und Ivanenko beheimatet war. Auch wenn er sich bemüht, die Zarenzeit zu verteufeln, wird deutlich, daß er sich nur langsam und den Notwendigkeiten folgend der Sowjetmacht zuwandte. Sein erster Schritt in diese Richtung war das Engagement im Schülerkomitee.

Rozanov erlebte die kritischste Zeit, als sein Vater 1917 aus dem Beamtendienst entlassen wurde. Aber der Großvater, der als Eisenbahner auf der Bogorodskij-Linie arbeitete, verschaffte seinem Sohn zunächst eine Stellung in der Verwaltung, später als Zugkontrolleur. So entging die Familie dem Schicksal, als „nichtarbeitende Intelligente" in die niedrigste Versorgungskategorie eingestuft zu werden. Obwohl sie relativ arm waren, ließen die Eltern ihren einzigen Sohn bis zum siebten Schuljahr von Privatlehrern unterrichten. Anschließend besuchte er bis 1930 eine sowjetische Experimental-Schule, in der die Schüler in Fünfer-Gruppen lernten, selbst über ihre Lerneinheiten entschieden und alle Aufgaben in Gemeinschaftsarbeit lösten. Rozanov blieb damit trotz der Entlassung seines Vaters aus der Beamtenlaufbahn privilegiert. Es machte ihm Spaß, an der Experimental-Schule zu lernen und von den neuen Methoden zu profitieren.55 Die neue Zeit brachte ihm weder dezidiert negative noch positive Erfahrungen. Van'jat erlebte weder materielle Einschränkungen noch galten die Bildungsbeschränkungen noch, als sie 1936 ihre Hochschulreife ablegte. In Cita, wohin die Familie 1934 zog, bewohnten sie eine große Sechszimmerwohnung und litten keinerlei Mangel.56

54 55 56

Jakowljew, S.

Rozanov, S. 1.

Van'jat, S.

1.

19ff.

140

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

3) Ausbildung a) Vydvizenie der Arbeiterkinder „Einer der den Nichtrussen am stärksten Eindrücke ist der ungeheure Drang, der unersättliche Hunger (...) der russischen Jugend nach Wissen und Bildung. Daß es sich dabei in erster Linie um technisches Wissen, um zivilisatorische Bildung handelt, mag manchem Deutschen mißfallen, trotzdem manifestiert sich darin das erste Erwachen, das geistige Sich-Recken und -Strecken eines Volkes (...). (...) Ich werde das Bild nie vergessen, das sich mir bot, wenn ich auf der langen Fahrt durch Sibirien durch den Expreß ging: (...) die Russen (...) lasen alle technische und nationalökonomische Lehrbücher, Protokolle

Parteikongressen, Agitationsbroschüren,

von

landwirtschaftliche Aufklä-

rungsschriften."1

So berichtet Klaus Mehnert von der Begeisterung, mit der sich Russen Studieren machte. Diesen Eindruck, sich ganz der Bildung hinzugeben, in eine andere Sphäre des Wissens einzutauchen und als neuer Mensch aus dem Studium hervorzugehen, erwecken auch die Memoirenschreiber. Der Studienbeginn bedeutete gerade für die jungen Männer und Frauen aus armen Verhältnissen, deren Eltern Analphabeten gewesen waren, Zutritt zu einer ganz neuen Welt zu bekommen, die sie beeindruckte und mit Ehrfurcht erfüllte. Der Ingenieur Michail Samojlovic Nejman (1905-1975) schildert seine Gedanken anläßlich seines Studienbeginns 1926 in dem von dem berühmten Physiker A.F. Ioffe gegründeten Radiolabor: „Ich hatte das aufregende Gefühl, daß mir ein großes Erbe, eine hohe Kultur der Arbeiter, Techniker und Gelehrten, die vor mir gearbeitet hatten, anvertraut worden war. Mehrfach überlegte ich, ob ich dieser Aufgabe würdig ans

sei."2

Der „Herr" über all diese „wertvollen und luxuriösen" Geräte im Labor, in die viel „menschliche Arbeit, Verstand und Genie hineingelegt" worden waren, Professor Dmitrij Apollonovic Rozanovskij und seine Assistenten, beeindruckten ihn nicht minder: „Ich erinnere, wie freundlich mich der Mitarbeiter Aleksandr Nikolaevic Sukin empfing, der 45 Jahre älter als ich war. Er nannte mich bei Vor- und Vatersnamen, was für mich ganz ungewohnt war.""

daß die Hochschule für ihn auch deshalb fremd eine weil hier noch ganz andere Generation von Gelehrten herrschte, war, die nicht nur die Wissenschaft repräsentierten und Gebieter über all die

Nejman weist daraufhin,

1

Mehnert, Klaus: Rußlandfahrt, Herbst 1931, S. 77, in: Osteuropa 1931/32, S. 72-85. RGAË, f. 691, Nejman, Michail Samojlovic, op. 1, d. 38: Vospominanija: 45 let, otdannych radioèlektronike, 1. 26.

2

3

Nejman, 1.

10.

Ausbildung

141

Gerätschaften und Bücher waren, sondern auch andere Umgangsformen pflegten und die Studenten noch mit Vor- und Vatersnamen anredeten, anstatt sie „Genosse" zu nennen.4 Auf ähnliche Weise schildert Pozdnjak,

wie beeindruckt er 1927 war, als er, die Waise und der frühere Knecht, jetzt eine Arbeiterfakultät besuchen durfte: „Die Arbeiterfakultät befand sich damals in den schönsten Räumen des Institutsgebäudes. Als wir eintraten, staunten wir alle „ah!" und „oh!", was für ein Tempel der Wissenschaft! Wir mußten uns erst wieder sammeln. Das war es, wofür wir gekämpft hatten." Allein die Aufnahmeprüfung war für ihn ein so feierlicher Anlaß, daß er in seinem Sonntagsstaat in schwarzer Hose und weißem Hemd mit Umlegekragen erschien.6 Pozdnjak hielt das Erlangen der Hochschulreife für einen so wichtigen und entscheidenden Schritt in seinem Leben, daß er enttäuscht war, als der Abschluß 1929 nicht feierlich begangen wurde und sie nicht einmal ein repräsentatives Dokument erhielten: „Wir hatten alle erwartet, daß wir eine großartige Urkunde bekommen würden."7 Enttäuscht zeigte sich Pozdnjak auch darüber, daß er eine Abordnung an die Chemische Fakultät der Leningrader Universität erhielt. Sein Wunsch war es, Hochofenspezialist zu werden, da er in den Semesterferien in der Dnepropetrovsker Fabrik in der Hochofenzeche gearbeitet und versprochen hatte, hierhin als Ingenieur zurückzukehren. Leningrad gefiel ihm nicht, so daß er weiter nach Moskau fuhr, wo er eine Landsmannschaft von Ukrainischen Studenten traf, die ihm eine Auswahl von mehreren Studienplätzen (putevki) anbot. Glücklich und am Ziel seiner Träume wählte er einen Platz an der Fakultät für Metallurgie an der Moskauer

Bergbauakademie.8 Die Bedeutung dieses Moments, als einer der früheren Unterprivilegierten jetzt zu so hohen Weihen zu kommen, empfand Calych genauso stark wie Pozdnjak: „Ich hatte nie

von einer Hochschulbildung geträumt, denn das war für arme unerreichbar."9 Er hatte sich 1920 zunächst an der Universität in Tomsk für Agronomie eingeschrieben und stellte erst im Praktikum fest, daß ihn die Tätigkeit eines Agronomen langweilte. Ohne daß sie es ausdrücklich erklären, wird im Falle Calych wie auch bei Pozdnjak deutlich, daß beide in die Ingenieurswissenschaft strebten, weil sie dieses Gebiet für das spannendste Metier hielten, das zudem am ehesten ihrer Epoche entsprach. Wie Pozdnjak zog es auch Calych aus der Provinz in die Metropole. Im Früh-

Leute

4

Nejman, 1. 42f. Pozdnjak, 1. 156. 6 Pozdnjak, 1. 151. 7 Pozdnjak, 1.216. 8 Pozdnjak, 1. 217f. 9 Calych, S. 12. 5

142

Die Genese des neuen

Ingenieurs

jähr

1922 erhielt er endlich die Genehmigung, nach Petrograd zu wechseln und sich an der Elektrochemischen Fakultät des Polytechnischen Instituts einzuschreiben.10 Loginov studierte zur gleichen Zeit wie Calych am Leningrader Polytechnischen Institut. Auch er wechselte von der Anfangs gewählten Disziplin zu einem Ingenieursstudium, ohne diese Wahl zu begründen: „Ich erfuhr, daß ich nach dem Studium wahrscheinlich als Staatsanwalt von einer Stadt in die andere geschickt werden würde. Dazu hatte ich keine Lust. (...). Mit allen Dokumenten ausgestattet, fuhr ich nach Leningrad, wo ich ins dritte Studienjahr des Industriezweigs des Polytechnischen Instituts ein'

stieg."1

Gajlit

nahm 1924 ein

Ingenieursstudium

am

technolozka in

Leningrad

auf; Lavrenenko blieb als einziger in seiner Heimat und begann sein Stu-

dium zum Beginn des ersten Fünfjahrplans in Kiew am dortigen Polytechnischen Institut.12 Maliovanov hebt sich von all diesen Männern, für die der Beginn des Ingenieursstudiums ein besonderer, bedeutungsvoller Schritt in ihrem Leben war, insofern ab, als er nicht unbedingt studieren wollte. Er war mit seinem Leben als Arbeiter und Brigadier vollkommen zufrieden, und meinte, schon jetzt sein Ziel erreicht zu haben. Seine künftige Frau war dagegen ganz wie Pozdnjak, Calych und Loginov von dem Geist des ersten Fünfjahrplans und seiner Parole „Lernen, lernen, lernen!" ergriffen. Bevor sie in eine Heirat einwilligte, bestand sie darauf, daß beide studierten. Also besuchte Maliovanov acht Monate lang die Arbeiterfakultät, bevor er von der Gewerkschaft als Gewerkschaftstausender (proftysjacnik) 1930 an das Bergbauinstitut in Stalino geschickt wurde. Die Tatsache, daß die Gewerkschaft ihn zu einem der Auserwählten und Privilegierten erkor, zeigt, daß sich Maliovanov hervorragend in die vorhandenen Strukturen und Muster integrierte und genau das Verhalten zeigte, das Gewerkschaft und Partei belohnten.13 Maliovanov zeigt sich einmal mehr nicht als Kommunist aus ideologischer Überzeugung, sondern aus

enthusiastischem Pragmatismus. So wie Maliovanov wurde auch Fedorova als Arbeiterin zum Studium abgeordnet: 1937 schickte die Partei sie als Stachanov-Arbeiterin an das Moskauer Institut für Verkehrsingenieure (MIIT).]i Jakovlev und Kozevnikova gingen einen besonderen Weg zum Studium. Sie hatten sich beide in den Kopf gesetzt, Flugzeugbau zu studieren, und fanden lange Zeit keine Möglichkeit, diesen Wunsch zu erfüllen. 10

Calych, S. 13f. Loginov, 1. 33f. 12 1. 4; Lavrenenko, 1. Gajlit, 13 "

14

Maliovanov, S.

1.

1.

Fedorova, Dni i gody, S. 149.

143

Ausbildung

Flugzeugbau konnte damals nur an der Zukovskij-Luftwaffenakademie in

Moskau studiert werden, die beiden zunächst verschlossen blieb: Jakovlev, weil er nicht in der Roten Armee gedient hatte, Kozevnikova, weil sie eine Frau war. Jakovlev ist damit auch ein bürgerlicher Benachteiligter, weil er sich nicht im Bürgerkrieg für die Bolschewiki geschlagen hatte. Er schildert seinen Weg zum Studium als die Jahre seiner Wandlung vom Intelligenzlersohn, Abiturienten und Nicht-Rotarmisten zum Arbeiter und Krieger. Sehr zum Ärger seines Vaters, der wollte, daß er einen „richtigen" Beruf erlerne, widmete sich Jakovlev nach seinem Schulabschluß 1923 ganz dem Flugzeugbau. Jakovlev schreibt: „Mein Beschluß stand fest: Ich werde Flugzeugkonstrukteur. Aber womit anfangen, an wen mich wenden?"' Er begann, sein erstes Segelflugzeug als Autodidakt zu bauen, mit dem er an einem Wettbewerb auf der Krim teilnahm. Zwar flog sein Vehikel nicht, dafür traf er hier H'jusin, Pysnov und Goroscenko, junge Flugzeugbegeisterte wie er, die später zu den großen Flugzeugkonstrukteuren der Sowjetunion gehören sollten. Von ihnen erfuhr er, daß Flugzeugbau an der Akademie studiert werden konnte, die für ihn verschlossen war.16 Jakovlev ließ sich nicht beirren: Sein zweites Flugzeug holte ein Jahr später schon einen Preis. 1924 fand er eine Anstellung in den Lehrwerkstätten der Luftwaffenakademie, arbeitete als Hilfskraft auf dem Flugplatz, stieg schließlich zum Flugzeughallenchef und Motorwartgehilfen auf, und der in den dreißiger Jahren gefeierte Pilot Piontkovskij nahm ihn zu Flügen mit. Jakovlev berechnete schließlich sein erstes zweisitziges Flugzeug, das er mit Hilfe verschiedener Organisationen, wie der „Gesellschaft der Freunde der Luftflotte" (ODVF) und der „Gesellschaft zur Unterstützung der Luftfahrt und der chemischen Industrie" (OSoAviaChim) bauen konnte. Für den bestandenen Probeflug im Juni 1927 erhielt Jakovlev als Belohnung eine Urkunde, eine Prämie und endlich die lang ersehnte Zulassung zur Luftwaffenakademie.17 Jakovlev beschreibt, welche Veränderungen er in dieser Zeit durchmachte. Bei einem Schultreffen 1926 präsentierte er sich stolz als neuer Mensch: „Meine Schulkameraden [erkannten] mich

zuerst

nicht wieder: Ich

war

braungebrannt, hatte den Rotarmistenmantel an, trug Stiefel, und an meiner Budjonowka prangte der blaue Fliegerstern."'8 Ein Jahr brauchte Jakovlev, um zu erfahren, an welche Hochschule er sich wenden mußte, und vier weitere, bis er dort aufgenommen wurde.

15

Jakowljew, S. 27. Jakowljew, S. 28f. 17 Jakowljew, S. 43ff., 57ff., 65f. 18 Jakowljew, S. 33ff. 16

144

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

& / Abb. 10: Aleksandr Sergeevic Jakovlev (1905-1989) als Student der Luftwaffenakademie in Moskau 1930 neben einem von ihm konstruierten Sportflugzeug. Quelle: Jakovlev, A.S.: CeT zizni. Zapiski aviakonstruktora, Moskau 2000.

Ausbildung Am Ende hatte

145

geschafft: Er war Rotarmist, anerkannt in der Flieund hatte seinen Makel als „Abiturient" verloren. gergemeinschaft Kozevnikova brauchte nach Schulabschluß 1931 drei Jahre, bis sie 1934 Studentin der Luftwaffenakademie werden konnte. Auch sie war von der Entdeckung einer neuen Welt so begeistert, daß sie sich nicht von ihrem Ziel abbringen ließ und sich zunächst ins Selbststudium stürzte.19 Auch ihr half der OSoAviaChim, der sie nach einem Vortrag über die Konstruktionsprinzipien eines von ihr entworfenen Düsenmotors im November 1932 vom Technikum, das sie bis dato besucht hatte, in die Vorbereitungskurse für das Azerbajdzaner Polytechnische Institut schickte. Doch Kozevnikova stellte bald fest, daß hier nur Ingenieure für die Ölindustrie ausgebildet wurden, so daß sie beschloß, nach Moskau zu gehen, ohne aber zu wissen, an wen sie sich dort wenden sollte. Sie schrieb sich am Institut für Energiewirtschaft ein, weil ihr jemand gesagt hatte, daß dort das Studium „am schwierigsten" sei. „Mir schien, daß es dort zur Fliegerei geht."20 Als sich auch dieses Institut als Sackgasse erwies, wußte sie sich keinen anderen Rat, als sich im Herbst 1933 persönlich an den Begründer der russischen Luftfahrt, Konstantin Eduardovic Ciolkovskij (1857-1935), zu wenden, der ihr nach der Begutachtung ihrer Düsentriebkonstruktionen eine Empfehlung für die Luftwaffenakademie an den Verteidigungsminister, Kliment Efremovic Vorosilov (1881-1969), schrieb. Aber auch das half ihr nicht weiter, so daß sie sich erneut an eine große Persönlichkeit wandte und 1934 beim Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Ja.I. Alksnis, vorsprach, der sie zu den Aufnahmeprüfungen an der Akademie zuließ. Die Benachrichtigung, daß sie zum Studium an der Luftwaffenakademie zugelassen seien, erhielten sie und zwei weitere Frauen erst, nachdem das Semester bereits begonnen hatte.21 Kozevnikova schildert diese Odyssee als den Weg ihrer Emanzipation. Einerseits setzte sie sich gegen ihre Eltern durch, die sie nicht aus Baku weggehen lassen wollten. Andererseits machte sie sich von den Klischees frei, als Frau nicht an eine Militärakademie zu gehören. Die Welt, die sie sich eroberte, erschien ihr „buchstäblich" wie eine „Zauberwelt".22 Nahezu alle Ingenieure verließen spätestens mit Beginn des Studiums die Provinz, um ein neues Leben in den Metropolen Moskau, Leningrad oder auch Kiew zu beginnen. Das Elternhaus und die alte Zeit wurden damit endgültig zurückgelassen. Die Wahl eines Ingenieursstudiums bedurfte in der Zeit der Rekonstruktion und des Aufbaus des Sozialismus keiner Begründung mehr. Entscheidend war nicht nur, daß die jungen 19 20 21 22

er es

Kozevnikova, S. 25f. Kozevnikova, S. 27f. Kozevnikova, S. 8ff., 28ff. Kozevnikova, S. 28f.

146

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

der Arbeiterschaft den Ingenieursberuf aus eigebesten kannten, wie Sheila Fitzpatrick angemerkt hat.23 Wesentlich war v.a. die Atmosphäre dieser Jahre, die von Industrie, Technik und Wiederaufbau beherrscht wurde. Die Jugend, egal ob kommunistisch oder pragmatisch, dürstete nach Wissen, das die Partei ihr in erster Linie als Ingenieursstudium zur Verfügung stellte. Die Bolschewiki riefen in ihren Kampagnen nach einer neuen technischen Intelligenz, und Männer und Frauen wie Loginov, Calych oder Kozevnikova folgten „von einer unbegreiflichen Begeisterung ergriffen"24 diesem Ruf, weil sie schon immer von einem Studium geträumt hatten. Männer und Frauen ner

Anschauung

aus

am

b) Der schwere Weg der Bürgerkinder zum Studium

Intelligenzija standen dem Aufbau grundsätzlich nicht weniger begeistert gegenüber als ihre Kollegen und Kolleginnen aus der Arbeiterschaft, und der Wunsch, Ingenieur zu werden, war unter ihnen genauso weit verbreitet. Kannten die Arbeiter den Ingenieursberuf aus eigener Anschauung aus den Fabriken, war den Nachkommen der alten Ingenieure der Beruf durch ihre Väter vertraut. Ivanenko betont: Die Kinder der

„Alle wollten damals Ingenieur werden, Männer wie Frauen. Nicht, weil es Prestige hatte oder propagiert wurde, sondern weil es interessant war. Nie-

mand wollte Pädagoge oder Arzt werden."25 Die Technikbegeisterung war keine bolschewistische Eigenheit, sondern ein Phänomen, das sich international kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hatte (s. Kapitel II, 1 und 2). Der Traum von Fortschritt und Industrie, der die Vätergeneration zu einer Zusammenarbeit mit den Bolschewiki veranlaßt hatte, sorgte jetzt dafür, daß sich die junge Generation mit Begeisterung zu sowjetischen Ingenieuren ausbilden lassen wollte. Van'jats Vater war begeistert, als er davon hörte, daß seine Tochter ihm ins Ingenieurswesen folgen wollte. Stolz sagte er: „Wir werden den gleichen Beruf haben und die gleiche Uniform tragen."26 Aber wenn sich die junge Generation in ihrer Technikbegeisterung einig war, hatten die Kinder der Bourgeoisie während des ersten Fünfjahrplans kaum die Möglichkeit, ihre Träume umzusetzen. Während vor Beginn des ersten Fünfjahrplans ein Studium für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen war, sahen sie sich jetzt mit Quoten konfrontiert, die sie von den Hochschulen fernhalten sollten. Die Aufnahme von Kindern der „arbei23 24 25

26

Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S. Kozevnikova, S. 29. Ivanenko, S. 1.

184.

Diese Äußerung bezieht sich wahrscheinlich eher auf die Uniform des Eisenbahners, denn auf die des Ingenieurs. Van'jat, S. 2.

147

Ausbildung

Intelligenz" und gerade der im Dienst der Sowjetmacht stehenden Ingenieure an Hochschulen war zwar keineswegs verboten worden. Das ,Allrussische Komitee für technische Hochschulbildung" (Vsesojuznyj komitet po vyssemy techniceskomu obrazovaniju) hatte am 18. September 1930 lediglich positiv festgelegt, daß bevorzugt diejenigen Bewerber und Bewerberinnen zum Ingenieursstudium zuzulassen seien, „die von Arbeitern, Kolchosbauern, Kleinbauern oder Knechten abstammen." Ausgetenden

schlossen waren nur: ,,a) Personen, die das Wahlrecht verloren haben oder nicht von den Einkünften einer Arbeit lebten (lica zivuscie na netrudovoj dochod) b) Personen, die von

technischen Hochschulen, Technika oder anderen Lehranstalten

aus

sozi-

alpolitischen Gründen ausgeschlossen wurden."27 Dennoch wirkten solche Vorgaben und die Quoten de facto als Barriere

für bürgerliche Kinder. Das Problem war so enorm, daß selbst die Presse immer wieder darüber berichtete, obwohl die Fürsprache für die (alte) Intelligenzija in diesen Tagen nicht opportun war. Unter der lapidaren Überschrift „Über die Aufnahme der Spezialistenkinder an den Lehranstalten" wurden in kurzen nüchternen Sätzen die Schwierigkeiten skizziert, die manche Studierwillige fast verzweifeln ließen. Die Inzenernyj trud bemerkte, daß, seitdem zum Studienjahr 1929/30 die Kategorie „arbeitende Intelligenz" abgeschafft worden sei und die Spezialistenkinder sich nur noch als „Angestellte" bewerben könnten, für die Sprößlinge der Intelligenz auf nichts mehr Verlaß sei. Die Anweisung des Volkskommissariats für Bildung, Spezialistenkinder bevorzugt aufzunehmen, werde nicht eingehalten.28 Verstöße gegen den Erlaß des Rats der Volkskommissare, sie den Arbeiterkindern gleichzustellen, seien der Normalfall. Auch die Empfehlung des Zentralrats der Gewerkschaften, die Aufnahmekommissionen auch mit Mitgliedern aus den Ingenieursgewerkschaften zu besetzen, werde schlicht ignoriert.29 Im Dezember 1930 mahnte das Gewerkschaftsblatt: „Alte Ingenieure und Techniker, die seit vielen Jahren weit entfernt von den Kulturzentren der Republik Hand in Hand mit Arbeitern arbeiten, haben das gleiche Recht wie Arbeiter, ihre Kinder in die technischen Hochschulen zu schicken."30 Dennoch versuchten die technischen Hochschulen mit allen Tricks, die Aufnahme von Spezialistenkindern zu umgehen. Dies Verhalten führte zu Reaktionen wie die des Ingenieurs Suljakov, der nach der Ablehnung seines Sohnes an der Hochschule seinem Arbeitgeber mitgeteilt hatte, er werde künftig nicht mehr als Ingenieur Hochöfen reparieren, sondern sich 27

GARF, f. 8060, Vsesojuznyj komitet po vyssemu CIK SSSR, op. 3, d. 367. pri 28 trud, Nr. 1, 15.1.1930, S. 40. Inzenernyj 29 trud, Nr. 15, 15.8.1929, S. 448. Inzenernyj 30 Inzenernyj trud, Nr. 24, Dezember 1930, S. 725.

techniéeskomu

obrazovaniju (VK VTO)

148

Die Genese des neuen

Ingenieurs

gemeiner Arbeiter verdingen, damit sein Sohn endlich studieren kön„Solche Suljakovs gibt es viele",31 glaubte das Organ der Ingenieursvertretung. Nach der Rehabilitierung der alten Intelligenzija 1931 verschwanden die Appelle und Klagen aus der Presse. Wenn die Spezialistenkinder es in den Jahren 1928-31 dennoch schafften, einen Studienplatz zu ergattern, dann geschah das trotz des neuen Systems, wie Fedoseev unterstreicht:

als

ne.

„Durch den Willen des Schicksals (und nicht dank des Staates) bekam ich die Möglichkeit, eine gute Ausbildung (...) zu erhalten, (...)."32 Fedoseev bewarb sich 1927 das erste Mal um einen Studienplatz, erhielt aber erst vier Jahre später den Zugang zur Hochschule. Er hatte es für ei-

Selbstverständlichkeit gehalten, sein Hobby Radiotechnik zum Beruf machen zu können, und nicht mit Schwierigkeiten gerechnet. 1927 fiel Fedoseev „mit Pauken und Trompeten" durch die Aufnahmeprüfungen für das Leningrader Polytechnische Institut.33 Das Durchfallen hatte schwere Folgen für ihn, denn in den darauffolgenden drei Jahren bestand er zwar den Aufnahmetest, wurde aber als „Angestelltensohn" und NichtParteimitglied nicht zum Studium zugelassen. Nicht einmal das Vorzeigen von Gewerkschaftsdokumenten half ihm. „Alle Versuche meines Vaters, mir mit Dokumenten der ITS zu helfen, blieben erfolglos."34 Fedoseev beschreibt wie Jakovlev, wie er sich langsam dem System und seinen Anforderungen anpaßte, erzählt diesen Weg aber nicht als positive Erfahrung und Aufwärtsbewegung, sondern als Zeit der Verzweiflung und des persönlichen Stillstands. Besonders schwer fiel ihm, das erste Jahr tatenlos als Arbeitsloser zu verbringen. Im zweiten Jahr gelang es ihm durch Vermittlung der Arbeitsbörse, auf verschiedenen Baustellen als Lastenträger, Maurer und Betonierer oder auch als Küchenjunge im Restaurant des Taurischen Palasts in Leningrad zu arbeiten. Ende 1929 folgte er dem Vater zum Bau des Chemiekombinats in Berezniki, einer der Vorzeige-Baustellen des ersten Fünfjahrplans. Damit war er Arbeiter geworden, und er trat sogar in die Gewerkschaft ein, obwohl er mit Bitterkeit feststellte, daß die Organisation weder jemals seine Rechte verteidigt, noch ihm irgend welche Vorteile verschafft habe. Nach dieser ersten regulären Arbeit im Umschaltwerk auf Berezniki, sah Fedoseev Licht: „Plötzlich hatte ich ungemeines Glück."35 1930 trat er eine Stelle an einer Werkbank in der Rüstungsfabrik Nr. 4 auf der Vasilij-Insel in Leningrad, die Schußkanäle für Waffen herstellte, an. Fedoseev fühlte sich „im siebten Himmel vor Freude, daß ich endlich einen richtigen Arbeitsplatz mit ne

31

32

Inzenernyj trud, Nr. 24, Dezember 1930, S.

Fedoseev, S. 7. Fedoseev, S. 38. 34 Fedoseev, S. 39. 35 Fedoseev, S. 46. 33

725.

Ausbildung

149

Perspektive hatte."36 Die Herstellung von Schußläufen mit 0,01 Meter Durchmesser, die größtes Geschick verlangte, meisterte Fedoseev bald so gut, daß

die Norm übererfüllte und ein „sogenannter Stoßarbeiter" selbst den Titel abfällig apostrophiert. Aber so wenig er sich mit solchen Meriten identifizierte, sie brachten ihn doch an das Ziel seiner Wünsche: Für seine Arbeit wurde er mit Prämien ausgezeichnet, in der Fabrikzeitung lobend erwähnt und schließlich mit einem Empfehlungsschreiben für die Hochschule belohnt. Fedoseev begann sein Studium an der Fakultät für Elektrophysik des Leningrader Elektrotechnischen Instituts 1931. Seine Haltung damals beschreibt er wie folgt: „Ich war jung und mein erstes Ziel war es, eine Ausbildung zu bekommen (ich wollte Physiker oder Elektriker werden), und das zweite Ziel war, bis dahin irgendwie durchzuhalten."37 Einen ganz ähnlichen Weg ging Rozanov, der 1930 die Schule abschloß und wie Fedoseev als parteiloser Angestelltensohn weder einen Studienplatz erhielt noch an dem Technikum aufgenommen wurde, an dem er sich beworben hatte. Während Fedoseev die Ablehnung an der Hochschule vollkommen unvorbereitet traf und ihn fast verzweifeln ließ, zeigt Rozanov einen wesentlich größeren Pragmatismus. Er erkannte, daß er als Parteiloser keine Chance hatte, Zugang zur Hochschule zu bekommen, und trat deshalb 1930 gezielt dem Komsomol bei. Genauso zielstrebig bemühte er sich darum, Arbeiter zu werden. Nachdem er zunächst eine Zeitlang als Lehrer gearbeitet hatte, wobei er von seiner Erfahrung als Schüler einer Experimental-Schule profitierte, vermittelte ihn die Arbeitsbörse noch im gleichen Jahr als Dreherlehrling an eine Berufsschule (FZU) an die Ural-Eisenbahnstrecke, wo sein Komsomolleben und seine Tätigkeit als Gesellschaftsarbeiter u.a. in der Redaktion einer Regionalzeitung begannen. Als Arbeiter, Komsomolze und Gesellschaftsarbeiter stand ihm 1931 der Weg in eine Hochschule frei. Er begann ein Abendstudium am Technischen Institut in Saratow, wechselte aber, nachdem die Regionalzeitung ihr Erscheinen wegen Papiermangels einstellen mußte, bald zum regulären Studium.38 Während Fedoseev und Rozanov sich assimilierten und zum Arbeiter, Gewerkschafter, Gesellschaftsarbeiter und Komsomolzen transformierten, fand Ivanenko eine andere Lösung, ans Ziel zu kommen. Zeigt sich Fedoseev als begeisterter Radiotechniker, den sein Vater gezielt zum Ingeer

wurde, wie

er

nieursstudium hingeführt hatte, galt Ivanenkos Sehnen zunächst gar nicht der Technik. Als sie 1930 die Arbeiterfakultät abschloß, galt ihr größtes Interesse der Antike. Sie hätte am liebsten Geschichte studiert, doch zu dieser Zeit war Geschichtswissenschaft als Studien- und Unterrichtsfach Fedoseev, S. 46. Fedoseev, S. 42. Rozanov, S. 1.

150

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

abgeschafft. Daher wählte auch sie das Fach, das in Mode war und das ihr Vater ihr nahelegte. Aber als Tochter eines Spezialisten erhielt sie 1930 im gleichen Jahr wie Rozanov keine Zulassung zum Ingenieursstudium.

-

Daraufhin entschlossen sich ihr Vater und andere große Ingenieure, deren Kinder von den neuen Regelungen betroffen waren, ihren Kindern selbständig und unabhängig vom Staat eine Ingenieursausbildung zu bieten. Im „Haus des Ingenieurs und Technikers" organisierten sie Kurse, in denen sie ihre Töchter und Söhne täglich von 9.00 bis 15.00 Uhr selbst unterrichteten: „Es waren dort die besten Lehrer der damaligen Zeit vereint, die Unterricht außerhalb ihrer normalen Tätigkeit in der Fabrik oder im Institut unentgeltlich -

freiwillig gaben."39 und Grundlagenwissen setzen die alten Ingenieure bei ihren Kindern voraus; das zu vermittelnde Fachwissen faßten sie in einem einzigen Jahr zusammen. So war Ivanenko bereits 1931 eine fertig ausgebildete Ingenieurin, die allerdings kein Diplom oder eine offizielle Bescheinigung über ihre Ausbildung vorweisen konnte.40 Bogdan ist von den hier vorgestellten Intelligenzijakindern die einzige, die 1929 auf Anhieb einen Studienplatz am Krasnodarsker Institut für Lebensmittelindustrie bekam. Nichtsdestotrotz erlebte sie die neue Regelung, Parteimitglieder und Arbeiterkinder bei der Studienplatzvergabe bevorzugt zu berücksichtigen, als große Ungerechtigkeit und Bedrohung. Bogdan betont, daß selbst ihre beiden Freundinnen, Lida und Tanja, die Komsomolzinnen waren, diese neue Regelung mißbilligten. Ein Bekannter hatte ihnen berichtet, daß in erster Linie Parteimitglieder aus Arbeiterfamilien aufgenommen würden. Bogdan wurde trotz sozialen Makels offensichtlich aufgrund ihres ausgezeichneten Abschneidens zugelassen.41 Van'jat bewarb sich 1936 in einer ganz anderen Situation um einen Studienplatz. Nachdem bereits am 1. August 1931 das Zentrale Exekutivkomitee angeordnet hatten, daß der Intelligenzija bei der Vergabe von Studienplätzen die gleichen Rechte wie die Arbeiterklasse zuzugestehen seien,42 schaffte der Rat der Volkskommissare am 29. Dezember 1935 die Sozialquoten an den Hochschulen endgültig ab. Die Aufnahme wurde und

Allgemein-

1936

folgendermaßen geregelt:

„1. Aufgenommen werden können Bürger der UdSSR beiderlei Geschlechts im Alter von 17 bis 35 Jahren, die die Mittelschule abgeschlossen, die Arbeiterfakultät oder ein Technikum besucht haben."4

59 40 41

42

Ivanenko, S. 1. Ivanenko, S. 1.

Bogdan, Studenty, S. 1 Iff. Za industrializaciju, 10.8.1931; vgl.

auch

Fitzpatrick,

Education and Social

Mobility,

216f; Neufeldt, Wissenschaftlich-technische Intelligenz, S. 194. 43 Direktivy VKP (b) i postanovlenija sovetskogo pravitel'stva o narodnom obrazovanii. Sbornik dokumentov za 1917-1947, Moskau Leningrad 1947, S. 89. S.

-

Ausbildung

151

mußte als Spezialistentochter also nicht mehr mit besonderen Hürden rechnen. Im Gegenteil, nachdem die Studienplätze wieder nach Leistung vergeben wurden, hatte sie als Jahrgangsbeste sogar die Möglichkeit, von den Zulassungsprüfungen befreit und direkt zugelassen zu werden.44 Ihre Geschichte ist aber der Ivanenkos nicht unähnlich, denn auch sie interessierte sich zunächst nicht für die Ingenieurswissenschaften, sondern träumte davon, Mathematik oder Astronomie zu studieren: „Der Himmel und die Sterne das war es, was mich reizte."45 Durch ein Mißgeschick gelangten ihre Unterlagen aus Cita aber nicht rechtzeitig nach Moskau, und als sie mit ihrer Mutter kurz vor Semesterbeginn im August 1936 in Moskau eintraf, stand sie ohne Studienplatz da: „Wohin jetzt, was sollte ich tun?"46 Es scheint typisch für die dreißiger Jahre, daß das einzige Institut, das zu diesem Zeitpunkt noch Plätze zu vergeben hatte, ein Ingenieursinstitut, nämlich das MUT, war, an dem ein Jahr später auch Fedorova studieren sollte (s.o.). Genauso typisch für diese Zeit ist, daß Van'jat sich für diesen technischen Studiengang entschied; den Vorschlag ihrer Mutter, doch wie sie Sprachen zu studieren, wies Van'jat vehement zurück: „Für nichts im Leben, niemals!"47

Van'jat

-

Während die Arbeiterkinder sich bereits mit der Revolution, dem Bürgerkrieg oder dem Einstieg ins Berufsleben von ihren Eltern getrennt hatten, erlebten die Intelligenzijakinder erst mit Studienbeginn den Schritt ins selbständige Erwachsenenleben. Sie verspürten vielleicht nicht die gleiche Ehrfurcht vor der Wissenschaft wie z.B. Pozdnjak, empfanden dieses Ereignis aber als nicht minder bedeutend. Fedoseev schreibt: „Ende 1931 begann eine neue Etappe in meinem Leben."48 Bogdan schildert ihren Studieneinstieg als vollkommene Verwandlung. Ihre Freundin Tanja rief ihrer Mutter zu: „Nina Ivanovna, schauen Sie uns gut an! Wir sehen jetzt anders aus. Wir sind Studentinnen!"49 Bogdan berichtet weiteri „Ich begann, mich auf mein selbständiges Leben in der Stadt vorzubereiten. Am nächsten Tag ging ich zum Friseur und ließ mir meine langen Haare abschneiden."50 Es war die Ironie des Schicksals, daß einerseits den Bürgertöchtern in den Jahren 1928-31 ein Studium meist verwehrt wurde, während sie es andererseits den Bolschewiki zu verdanken hatten, prinzipiell Zugang zu jedem technischen Institut zu haben und als Frau ganz selbstverständlich 44

GARF, f. 8060, VK VTO, op. 3, d. 357 und d. 358.

45Vanj'at, S.

1.

46

Van'jat, S. 2. 47 Van'jat, S. 2. 48 49

50

Fedoseev, S. 48.

Bogdan, Studenty, S. Bogdan, Studenty, S.

14. 18.

152

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

einen technischen Beruf zu ergreifen. Das betont Ivanenko: „Es war ganz normal, daß Frauen Ingenieurinnen wurden."51 Diese Berufswahl war so selbstverständlich, daß weder Fedorova noch Kozevnikova, weder Ivanenko noch Van'jat oder Bogdan sich bemüßigt fühlten, diese Wahl zu erklären oder zu rechtfertigen. Auch die Schwestern Ivanenkos, Van'jats und Bogdans wurden Ingenieurinnen.52 Eine weitere Ironie der Geschichte ist, daß die Kinder der alten Intelligenz nicht weniger als ihre proletarischen Kollegen von der Technik begeistert waren. Sie wären bereit gewesen, beim Aufbau des Sozialismus genau den gleichen Weg wie ihre Altergenossen aus der Arbeiterschaft einzuschlagen. Fedoseev erklärt: „Die Jugend damals war entweder unpolitisch oder unterstützte aktiv die vorhandene Ordnung. Gegner, dazu noch aktive, gab es kaum."53 Dennoch wurden sie zunächst erfolgreich daran gehindert, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Schließlich war trotz Studieneinschränkung gerade für Kinder aus bürgerlichen Kreise ein Studium der einzige Weg, der ihnen blieb, nachdem Privatgewerbe, selbständige Handwerkerbetriebe und kaufmännische Berufe verboten worden waren. „Die gesamte Intelligenzija wollte studieren (stremilas' ucit'sja)",54 so Vanj'at. Bogdan pflichtet bei: „Eine Hochschulbildung ist jetzt der einzige Weg, der ins Leben führt."55

c) „Ingenieur neuen Typs" Die hier vorgestellten Ingenieure und Ingenieurinnen studierten zum Großteil während der ersten Fünfjahrplans, als Institute, Studienpläne und das Anforderungsprofil an den Ingenieur stark umstritten waren und sich permanent änderten. Daß der erste Fünfjahrplan gut ausgebildete Ingenieure forderte, war Konsens, aber welchen „Typs" der neue Ingenieur sein sollte, war Gegenstand nicht enden wollender öffentlicher Debatten. Dabei wurde v.a. die Frage diskutiert, ob „enge" oder „breite" Ingenieure, d.h. Spezialisten mit umfassenden Kenntnissen oder hoch spezialisierte Fachleute, die weniger vielseitig einsetzbar waren, gebraucht würden. Hier stritt in erster Linie das Volkskommissariat für Aufklärung, das sich unter Anatolij Vasil'evic Lunacarskij (1875-1933) für eine breite Ausbildung der Ingenieure einsetzte, mit dem VSNCh, der möglichst schnell für die anliegenden Aufgaben beim Wirtschaftsaufbau gut zugeschnittene 51

Ivanenko, S. 1. Ivanenko, S. 1; Van'jat, S. 1, Bogdan, Mimikrija, S. 100. 53 Fedoseev, S. 43. 52

54 55

Van'jat, S. 4. Bogdan, Studenty, S.

17.

Ausbildung

153

Ingenieure benötigte. Es stritten die Vertreter einer humanistischen Bildungstradition, die an einem Globalwissen festhalten wollten, mit den Vertreten einer rein funktionalen Ausbildung, die Ingenieure nicht als Gelehrte, sondern als reine Techniker verstanden wissen wollten.56 Die gesamte Diskussion zwischen den Institutionen, Parteiführern,

Inund in der Presse kann hier nicht wiedergegeben werden. Es soll nur verdeutlicht werden, daß während des ersten Fünfjahrplans leidenschaftlich über Sinn und Zweck, Art und Dauer der Ingenieursausbildung gestritten wurde. Das ist um so bemerkenswerter, als die massenhafte Ausbildung von ITR bereits lief, während immer noch über die Modalitäten Uneinigkeit herrschte bzw. sich die Lehrpläne und Hochschultypen ständig veränderten. Das Ziel hatte die Parteiführung auf ihrem Juliplenum 1928 festgelegt: Gefordert wurde ein Ingenieur „neuen Typs", der aus der Arbeiterschaft stammte, zehn Monate Praktikum machte und in drei bis vier Jahren mittels neuester Lehrmittel in neuen Labors, unterrichtet von ausländischen oder praxiserfahrenen Lehrenden, ausgebildet werden sollte.57 Außerdem sollten 1928 250 und 1929 weitere 600 junge Ingenieure zur Fortbildung ins Ausland geschickt werden.58 Um zu erreichen, daß am Ende des ersten Fünfjahrplan wirklich jeder zweite ITR ein Ingenieur neuen Typs war,59 sollten neue Hochschulen errichtet, alte Hochschulen in mehrere Institute zerschlagen, 1928 sechs Hochschulen und 1929 weitere Institute aus Lunacarskijs Obhut in die des VSNCh und des Volkskommissariats für Schwerindustrie übergeben, neue Lehrpläne entworfen und Lehrbücher überarbeitet werden.60 Die bisherigen Ingenieursstudenten wurden als notorische Langzeitstudenten verunglimpft, die zwischen sechs und neun Jahren für ihre Ausbildung gebraucht hätten.61 Die gesamte bisherige Ausbildung wurde als veraltet gebrandmarkt. Als Beispiel wurde die Moskauer Technikerhochschule (MVTU) genannt, in der die Werkbänke noch aus dem Jahr 1847 und die Lehrmittel aus dem Jahr 1895 stammten. Es wurde angeprangert, daß der Lehrplan bislang nicht vorschrieb, neue Materialien und Konstruktionen durchzunehmen; Baustoffe, die seit Jahren auf sowjetischen Baustellen eingesetzt würden, seien den Studenten unbekannt. Molotov zürnte: „Die Diplomprojekte der Studenten zeichnen sich durch hohe Abstraktheit aus; der Stand der ausländischen Technik wird kaum reflektiert."62

genieuren

56

Vgl. Molotov, O podgotovke, S. 23. KPSS v rezoljucijach i resenijach, S. 400f. KPSS v rezoljucijach i resenijach, S. 401 und 517. 59 Plan obespecenija narodnogo chozjajstva SSSR kadrami specialistov (1929/30-1932/33),

57 58

Moskau 1930, S. 48f. 60 KPSS v rezoljucijach i resenijach, S. 61 Molotov, O podgotovke, S. 20. 62 Molotov, O podgotovke, S. 25.

400f, 516f.

154

Die Genese des neuen

Ingenieurs

Lehrpersonal geriet in die Kritik; Forderungen wurden laut, möglichst zügig durch junge Kräfte zu ersetzen.63 In dieser Zeit der Schauprozesse wurden viele Professoren verhaftet.64 Entsprechend der Vorwürfe gegen die alten Ingenieure (s.o.) waren auch Lehrende den

Auch das alte es

Vorwürfen ausgesetzt, sie hätten die Zeichen der Zeit nicht verstanden und den Anschluß an die Gegenwart verloren. Sie wurden beschuldigt, oft weniger als die Studenten über die neuesten Errungenschaften der Baustellen zu wissen.65 Die Jahre des ersten Fünfjahrplans waren für die Hochschulen voller Umbrüche. Die ständige Reorganisation des Studiums kostete einen hohen Preis an Kraft, Zeit und Material. Anfang 1930 stellte die Inzenernyj trud fest, daß bis dato nicht klar sei, worin sich die vierjährige Ingenieursausbildung von der dreijährigen unterscheiden solle. Weiter wies sie daraufhin, daß die Frage, welchen generellen Anforderungen ein Ingenieur genügen müsse, immer noch unbeantwortet sei.66 Die Za industrializaciju meldete 1931: „Fünf technische Hochschulen fünf Ausbildungssysteme" und schloß die ketzerische Frage an, welches denn nun das „richtigere" sei.67 Es wurde festgestellt: „Das Profil des Spezialisten gleicht immer mehr einem Ball, den sich die

-

Hochschule und die Wirtschaftsbranche hin- und herwerfen: Der eine sucht dem anderen die Ausarbeitung des Profils aufzuzwingen."68

ver-

In einem Char'kover Institut war es soweit gekommen, daß die Studierenden schließlich abgestimmt hatten, welcher Absolvent mit welcher Spezialisierung die Hochschule verlasse, obwohl alle das Gleiche studiert hatten. Auch im Chemischen Institut in Dnepropetrovsk wußten die Studenten im vierten Studienjahr immer noch nicht, als welche Fachleute sie das Institut verlassen würden.69 Das ,AHunionskomitee für technische Hochschulbildung" hielt 1933 fest, daß v.a. die Abendhochschulen kein ausreichendes Profil hätten. Allgemein habe sich die ständige Änderung der Lehrpläne auf das Studium negativ ausgewirkt.70 Zu dem Problem der Strukturierung der Hochschulen und der Festlegung von Fachrichtungen, von denen es zeitweilig 388 verschiedene gab,71 gesellten sich andere, v.a. materielle Probleme. 1934 meldete sich der Professor A. Pinkevic zu Wort, der ein umfassendes Bild zeichnete: Die Vorbereitung zum neuen Studienjahr sei unbefriedigend, der Mangel an Wohnheimen groß, die Situation der Versorgung mit Hörsälen 63

KPSS v rezotjucijach i resenijach, S. 517. Za industrializaciju, 14.4.1931. 65 Front nauki i techniki, Nr. 1, 1934, S. 96. 66 Inzenernyj trud, Nr. 3, 1930, S. 65. 6 Za industrializaciju, 2.4.1931. 68 Za industrializaciju, 14.4.1931. 69 Za industrializaciju, 14.4.1931. 70 GARF, f. 8060, VK VTO, op. 1, d. 3,1. 6f. 71 Bailes, Technology and Society, S. 226. 64

Ausbildung

155

schlecht, da einigen Hochschulen Gebäude weggenommen wurden. Zum Teil seien die Lehrpläne nicht bestätigt, die Qualifikation des Lehrkörpers lasse zu wünschen übrig, und der Papiermangel sei enorm.72 Die staatliche Inspektion stellte 1934 fest, daß das renommierte Bauman-Institut in Moskau so schlecht mit Strom versorgt wurde, daß energieintensive Versuche nicht durchgeführt werden konnten. Für die Entwicklung neuer Zweige des Maschinenbaus brauche das Institut zudem eine vollkommen neue

Ausstattung.73

Bei solchen unübersichtlichen Zuständen, angesichts der unzureichenden Versorgung mit Unterrichtsmaterial, Laborgeräten und v.a. Papier und nicht zuletzt durch die sehr unterschiedliche Vorbildung der Studierenden, von denen die wenigsten ein Abitur hatten, die meisten über andere Bildungsinstitute wie die Arbeiterfakultät, Technika oder eine Arbeiterschule an die Hochschule gelangt waren, konnte es nicht ausbleiben, daß es beim Studium zu Schwierigkeiten kam. Der Professor Ja. Spil'rejn beklagte 1934, daß es Ingenieuren v.a. an Mathematikkenntnisse fehle. Während eine Zeit lang die Ansicht geherrscht habe, man dürfe Ingenieure nicht mit überflüssigen mathematischen Kenntnissen überladen, sei es inzwischen wieder Konsens, daß die Mathematik zum A und O der Ingenieursausbildung gehöre. Trotzdem sei sie noch nicht entsprechend reformiert worden.74 Im Sommer 1935 bestätigten mehrere Ingenieure, daß ihre ungenügenden Mathematikkenntnisse ein großes Problem darstelle.75 Als weiteres Manko galt die fehlende Selbständigkeit der Ingenieursstudenten.76 Der Professor L. Povol'ckij forderte von seinen Kollegen, sie müßten ihren Schülern besser beibringen, wie sie selbständig mit Büchern arbeiten sowie Exzerpte und Mitschriften anfertigen.77 Die Folgen eines ungenügenden Studiums machten bald den Doktoranden zu schaffen. Der Professor A. Duchovicnyj beklagte: „Das Fehlen elementarer Lese- und Schreibfertigkeiten sogar in der russischen Sprache ist fast schon eine normale Erscheinung."78 Zudem konstatierte er bei Aspiranten schlechte Kenntnisse in allgemeiner Theorie sowie in Fremdsprachen. Ein weiteres Problem sei, daß für eine Promotion im Bereich Materialwiderstand am Eisenbahninstitut auch Absolventen des Pädagogischen Instituts zugelassen würden.79

Front nauki i techniki, Nr. 9, 1934, S. 9Iff. GARF, f.8060, VK VTO, op. 1, d. 76,1. 24. Front nauki i techniki, Nr. 5-6, 1934, S. 79ff. Za industrializaciju, 10.8.1935. Za industrializaciju, 1.9.1935. Front nauki i techniki, Nr. 5-6, 1934, S. 92ff. Front nauki i techniki, Nr. 1, 1934. Front nauki i techniki, Nr. 1, 1934.

156

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

In diesen Debatten schlagen sich die Resultate nieder, die die Kampagne gegen Wissenschaftlichkeit, grundlegendes Basiswissen und Theoriekenntnis (s.o.) zeitigte. Die Idee, einen Ingenieur neuen Typs auszubilden, der nicht Ingenieur, sondern ITR, nicht Gelehrter, sondern Facharbeiter, nicht Bildungsbürger, sondern Proletarier war, scheiterte in der Praxis. Der „Schock" war groß, so Sheila Fitzpatrick, als im Sommer 1931 die ersten im neuen Schnellverfahren ausgebildeten Ingenieure aus den Hochschulen in die Wirtschaft entlassen wurden. Partei und Wirtschaftsorganisationen mußten feststellen, daß es den frisch gebackenen ITR an grundlegendem Wissen in Mechanik, Physik und Mathematik sowie an Produktionsfertigkeiten mangelte.80 Nur 30 Prozent der Studierenden des ersten Fünfjahrplans schafften überhaupt einen Studienabschluß.81 Aus den Beschwörungen einiger Parteiführer ist zu entnehmen, daß die Ergebnisse der Hochschulen nicht den Erwartungen ersprachen. M.M. Kaganovic (1888-1941), stellvertretender Vorsitzender des VSNCh, appellierte im Januar 1931 an die kommunistische Jugend: „Es ist nötig, daß der Ingenieur, der die Hochschule verläßt, ein wirklicher Ingenieur und kein ,Mensch mit Diplom' ist. Wir brauchen keine diplomierten Ingenieure ohne Wissen. Wir wollen keine Mama- und Papa-Söhnchen, die sich durchkämpfen, um ein Diplom zu erhalten, wir brauchen den Ingenieur, der die Fähigkeit hat, die Produktion zu organisieren."82 Die Pravda predigte am 30. März 1934 in einem Leitartikel „Über den

Sowjetischen Ingenieur":

„Vor allem muß der Ingenieur seine Produktion bis ins Detail kennen. Das ist

nichts Außergewöhnliches, aber viele junge Ingenieure haben diese Binsenweisheit noch nicht begriffen. Ein junger Mensch, der die Lehreinrichtung mit hervorragendem Ergebnis abgeschlossen und das Ingenieursdiplom bekommen hat, ist noch kein Ingenieur. Das muß hart erarbeitet werden. Erst nach langen Jahren praktischer Erfahrung ist er ein wirklicher Ingenieur. Viele sind deshalb gescheitert, weil sie direkt von der Hochschule auf eine leitende Stelle gelangt sind, ohne wirklich Ahnung zu haben. Viele haben sich auch in den Kanzleien zu Bürokraten umqualifiziert."83

Als Ergebnis der schlechten Ausbildung wurden viele junge Ingenieure auf dem Arbeitsmarkt trotz Kadermangels nicht akzeptiert. Der Bauleiter von Magnitostroj, dem Metallkombinat in Magnitogorsk, Jakov Semenovic Gugel' (1895-1937), berichtete: „Wir hatten mehr Leute, als wir brauchten, aber in punkto Qualität stellten sie uns nicht zufrieden."84 Aus dem Donbass wurde gemeldet, 15 Diplomanden hätten während ihres 80

Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S. 210. Lehmann, Reinhard: Der Stalinmythos. Studien zur Sozialgeschichte des Personenkults in der Sowjetunion (1929-1935), Münster 1990, S. 227. 82 Nam nuzen inzener-organizator, iz doklada tov. Koganovica na IX. s"ezde VLKSM, Inze81

nernyj trud, Nr. 1-2, Januar 1931, S. 5. O sovetskom inzenere, in: Pravda, 30.3.1934. 84 Gugel', Jakov Semenovic: Vospominanija o Magnitke, S. 329, (1935)6, S. 318-349. 83

in: God

vosemnadcatyj

Ausbildung

157

Praktikums nicht einmal als Vorarbeiter eingesetzt werden können, weil sie von der praktischen Arbeit keine Ahnung gehabt hätten.85 Auf die schlechten Ergebnisse von 70 Prozent Drop-Out und einem wenig befriedigenden Rest von „Menschen mit Diplom" reagierte die Regierung mit einer erneuten Reorganisation des Bildungssystems. Die technischen Hochschulen wurden rezentralisiert, ausgegliederte Institute wieder zu einer Einrichtung zusammengeschlossen und sämtliche technischen Hochschulen dem unter Krzizanovskij neugegründeten Komitee für technische Hochschulbildung unter dem Zentralen Exekutivkomitee unterstellt, das die Kontrolle über die Curricula übernahm.86 Krzizanovskij setzte u.a. durch, daß Hochschulplätze seit 1932 wieder nach Leistungskriterien und nicht mehr nach sozialer Herkunft vergeben wurden.87 Durch die „Re-Reorganisation" blieben die Hochschulen bis in die Mitte der dreißiger Jahre einem ständigen Umbruch unterworfen. Erst nach der allmählichen Konsolidierung der Lehrpläne, dem Zusammenstreichen der Gesellschaftsarbeit und des Marxismus-Leninismus-Unterrichts, der sogar als überflüssiger „kommunistischer Gottesdienst" gebrandmarkt wurde,88 und nachdem die Anzahl der Abiturienten an den Studierenden wieder 50 Prozent erreichte,89 erschienen erste Berichte in der Presse, die Qualität der Studierenden nehme merklich zu. Im Januar 1936 meldete Za industrializaciju, die Studenten seien immer gebildeter, läsen immer mehr und lebten nach der Losung: „Von der technischen Hochschule soviel wie möglich mitnehmen."90 Angesichts fehlender Produktionskenntnisse wurde außerdem das Projekt entwickelt, Ingenieure vor Ort zu unterrichten. Um dem festgestellten Mangel an Praxiskenntnissen entgegenzuwirken, aber auch um möglichst schnell junge Techniker vor Ort im Einsatz zu haben, wurde das Studium „ohne Abriß" (bez otryvd), gemeint war „ohne die Fabrik zu verlassen" eingeführt. Dafür wurden Studenten aus den Instituten in die Fabriken geschickt, um hier vor Ort in der Praxis ihr Studium zu beenden.91 Gleichzeitig machte das Wort von der Fabrik als technischer Hochschule (zavod-vtuz) die Runde. Dieses Konzept sah vor, daß die bereits fertig ausgebildeten Ingenieure vor Ort nachgeschult würden.92

Za industrializaciju, 17.6.1936. Bailes, Technology and Society, S. 223; Fitzpatrick, Education and Social 87 GARF, f. 8060, VK VTO, op. 1, d. 1. 88 Bailes, Technology and Society, S. 186. 89 Kadry tjazeloj promyslennosti, S. 35. Za industrializaciju, 6.1.1936. 91 Za industrializaciju, 3.1.1933. 92 Inzenernyj trud, Nr. 7, 19.4.1931, S. 168f. 86

Mobility, S. 219.

158

Die Genese des neuen

Ingenieurs

d) Eroberung einer neuen Welt Erstaunlich ist, daß das Bild

von

Chaos, Mangel und Qualitätsvertust, das

in der Presse so präsent ist, sich in den Memoiren kaum wiederfinden läßt. Dabei berichten die künftigen Ingenieure und Ingenieurinnen entsprechend der großen Bedeutung, die das Studium für sie besaß, ausführlich über diese Zeit: Pozdnjak widmete 300 seiner 480 Seiten langen Memoiren der Zeit am Institut; Bogdan schrieb den gesamten ersten Band ihrer Autobiographie über diese Periode und nannte ihn entsprechend: „Die Studenten des ersten Fünfjahrplans". Nur Loginov, Fedorova und Jakovlev berichten fast nichts über ihre Ausbildungszeit. Nahezu alle Ingenieure und Ingenieurinnen sowohl aus der Arbeiterschaft als auch aus der Intelligenzija geben ein uneingeschränkt positives Bild von der Qualität ihres Studiums. Niemand ist der Ansicht, er oder sie hätte eine mangelhafte Ausbildung bekommen oder wegen schlechter Vorbereitung nicht den Anforderungen im Beruf genügt. Selbst Bogdan übt keine Kritik an den Studieninhalten und der Art der Vorbereitung auf den Beruf. Ein ganz anderer Diskurs hat sich über das Studium durchgesetzt: Mit Begeisterung erzählen die Autoren und Autorinnen von einer enthusiastischen, aufregenden Studienzeit, loben ihre Professoren in den höchsten Tönen und halten die an sie gestellten Anforderungen für sehr hoch. Dieser Befund weist v.a. daraufhin, daß die Studierenden nur sahen, was sie sehen wollten, viele Umbrüche mit Tabus belegt sind und aus der Rückschau einiges verklärt wurde. Es ist bemerkenswert, daß alle Studierenden angeben, noch von den erfahrenen Professoren alten Schlags unterrichtet worden zu sein, die sie einhellig bewunderten. Keiner der proletarischen Studenten kritisiert diese alten Gelehrten auch nur mit einem Wort. Es ist, als wollten sie die damaligen Säuberungen ungeschehen machen oder als hätten sie sie tatsächlich verdrängt. Sie bewunderten diese alt-ehrwürdigen Herren als Repräsentanten einer neuen Welt, die ihnen Ehrfurcht einflößte und deren Weihen auch sie empfangen wollten. Pozdnjak schreibt: „Wenn ich heute über den Erfolg der Ausbildung der ersten sowjetischen Ingenieure und Enthusiasten nachdenke, dann komme ich v.a. auf eine Ursache: die ausgezeichnete Auswahl des Lehrpersonals (...)." Gajlit schließt sich diesem Urteil an: Sie hätten ausgezeichnete Professoren gehabt, die ihnen eine gute theoretische Bildung gaben.94 Lavrenenko bewunderte seinen Professor für sein „enzyklopädisches Wissen" und seine Strenge, mit der er die Studierenden vor Übermut warnte: „Wir haben Ihnen nur eine Andeutung von dem gegeben, was das Wissen und die Arbeit eines Ingenieurs ausmacht, wir haben Sie gelehrt, wie man sich in Pozdnjak, 1. 247. Gajlit, 1. 5.

Ausbildung Lehrbüchern und Nachschlagewerken zurechtfindet, aber etwas wirklich Ingenieurhaftes beherrschen Sie noch nicht. Sie beginnen erst, praktisch zu lernen lernen Sie, nach Ingenieursart zu arbeiten!"95

159

Auch Kozevnikova sah zu ihren Lehrern wegen ihrer „Talente, ihres hohen kulturellen Niveaus, ihres Edelmuts, ihrer Menschlichkeit und Feinfühligkeit" auf. Sie war beeindruckt von dem „hohen ideellen Niveau des Lehrkörpers", der „Verliebtheit in die Wissenschaft" und dem „hohen Bildungsgrad".96 Daß ihr Lieblingsprofessor, der Mathematiker V.V. Golubev, immer wieder daraufhinwies, daß das Leben nicht nur aus Technik bestand, sondern ein Mensch umfassend gebildet sein mußte, erfüllte sie mit Achtung. Einen Studenten, der durch seine Prüfung gefallen war, habe er aufgefordert: „Lesen Sie mehr schöne Literatur, besonders Klassiker, ,Anna Karenina' oder ,Krieg und Frieden'." Auf die Frage, welche Beziehung zwischen „Anna Karenina" und Integralen bestehe, habe Golubev geantwortet: „Bei Ihnen reicht die Gedankenfreiheit nicht, junger Mann."97 So, wie sich Kozevnikova für die geistigen Werte und humanistischen Ideale der Professorenschaft alter Provenienz begeisterte, so war auch Bogdan mit ihren Professoren zufrieden. Allerdings war es bei ihr nicht der Enthusiasmus, an einer ihr bisher verschlossenen Welt teilhaben zu können, als vielmehr die Überzeugung, Seelenverwandte gefunden zu haben, die ihr Urteil über die Bolschewiki teilten. Wenn sie zu einem ihrer Professoren nach Hause eingeladen wurde, freute sie sich, wenn dieser F.M. Dostoevskij dem sowjetischen Schriftsteller A.I. Bezymenskij vorzog und statt auf das Wohl der ganzen Menschheit nur auf das seiner Nächsten anstieß.98 So wenig sich die öffentliche Kritik am Lehrpersonal in den Memoiren wiederfinden läßt, so spiegelt sich auch nichts von den angeblichen Vorbehalten der Betriebe gegenüber den Praktika suchenden Studierenden wider. Pozdnjak berichtet, daß sie als Studenten „in den Augen der einfachen Arbeiter große Leute" gewesen seien.99 Er wurde als Student als Gießer, Walzer, Fertiger von Draht und bei der Beschickung der Metallschmelze-Öfen eingesetzt, bevor er schließlich als Schichtbrigadier und Ingenieursassistent arbeitete.100 Maliovanov durchlief die Stufen vom Hilfsarbeiter zum Assistenten des Sprengmeisters, Vorarbeiter und schließlich zum Assistenten des Grubenleiters.'01 Calych war Praktikant in -

95

Lavrenenko, 1. 2. Kozevnikova, S. 39, 51. 97 Kozevnikova, S. 36, 38. 98 Bogdan, Studenty, S. 58, 61. 96

99

100

101

Pozdnjak, 1. 267. Pozdnjak, 1. 261, 266, 279, 304, 418, 441. Maliovanov, S. If.

160

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

einer Fabrik im Südural, in der es nur einen Ingenieur gab, so daß er sofort als dringend benötigte Ingenieurskraft zum Einsatz kam. Zusammen mit einem anderen Praktikanten arbeiteten sie in Eigenregie neue Konstruktionsprojekte für Öfen aus.102 Gajlit unterstreicht, die Sommerpraktika seien für die Industrie eine große Hilfe gewesen; auch er bekam gleich die Planung von neuen Fabriken übertragen.103 Selbst Bogdan weiß nichts Schlechtes über ihre Praktika in einer Butterfabrik, einer Käserei und einer Maschinenbaufabrik zu berichten. Sie berechnete zum Studienabschluß eine Speiseölfabrik, für die sie die Daten während ihres „Diplompraktikums" in einem Konstruktionsbüro sammelte.104 Warum die meisten Ingenieure und Ingenieurinnen ihre Studienzeit verklären und die Mißstände nicht thematisieren, erklärt der Ingenieur Fedoseev sehr eindrucksvoll. Er schreibt, daß er während seines Studiums die Welt um sich nicht habe wahrnehmen wollen. Er hatte so lange auf diesen Studienplatz hingearbeitet, daß er jetzt in Ruhe studieren und sich um nichts anderes mehr kümmern wollte. Fedoseev betont, daß er außerdem damals gehofft habe, die Sowjetunion möge sich als passabler Staat erweisen, so daß er vor allen negativen Seiten die Augen verschlossen habe: „Nach all den Schwierigkeiten, ins Institut zu gelangen, dachte ich an nichts anderes mehr."105 Einzig die Ereignisse in Folge der Ermordung des Leningrader Parteivorsitzenden, Sergej Mironovic Kirovs (1886— 1934), hätten ihn kurzzeitig aus seiner Versenkung gerissen. Er berichtet, daß nach dem 1. Dezember 1934 viele Studenten „verschwanden": „Die Ermordung Kirovs und die damit zusammenhängenden Ereignisse rüttelten unsere Geister für einen Moment auf und zwangen uns, das uns umgebende Leben wahrzunehmen. Wir erfuhren, daß es angeblich auch in unserem Institut Studenten gab (...), die an der Verschwörung gegen Kirov teilgenommen hatten. Einige verschwanden aus unserem Institut, aber die Ereignisse wurden nicht aufgebauscht, und bald war wieder alles beim alten."106

Fedoseev führt damit vor, wie erfolgreich Menschen verdrängen konnten, dies in ihrem eigenen Interesse war. Wenn er als Sohn eines alten Ingenieurs halbwegs in der Lage war, sich gegen alle negativen Vorgänge abzuschotten, wie gut mußten diese Mechanismen dann bei Kommunisten wirken, deren Motiv, die Sowjetmacht als Wohltäterin zu sehen, noch viel stärker war. Während derart die meisten der Ingenieure und Ingenieurinnen das Schicksal ihrer in den Memoiren so verehrten Professoren ausblenden, weisen allein Bogdan, Pozdnjak und Rozanov daraufhin, daß sich die Säuberungen keineswegs nur in den Zeitungen abspielten. V.a. Bogdan zeichnet eine Atmosphäre allgegenwärtiger Repressionen. Im wenn

102Calych, S.

17f.

103

Gajlit, 1. 7f. 104 Bogdan, Studenty, S. 49, 53, 102, 167, 235. 105 106

Fedoseev, S. 49. Fedoseev, S. 49.

Ausbildung

161

Frühjahr 1929 wurden zwei Studenten aus ihrem Institut wegen „antisowjetischen Verhaltens" erschossen. Immer wieder wurden Studierende aus dem Institut ausgeschlossen, so wie ihre Freundin Olga, die zu einem einjährigen Erziehungsarbeitsdienst verurteilt wurde.107 Schließlich kam es auch zu Verhaftungen unter der Professorenschaft: Bogdan berichtet, daß eines Morgens die Veranstaltung in Wärmetechnik ausfiel und bald durchsickerte, daß in der vorangegangenen Nacht viele Wissenschaftler als Mitglieder der Prompartija verhaftet worden waren.108 Sie schreibt über diese Zeit:

„Es ist befremdlich, aber dieses Ereignis, das

uns alle betraf, da doch auch Professoren verhaftet worden waren, wurde überhaupt nicht diskutiert. Ich denke, v.a. deshalb nicht, weil die Gefahr furchtbar nah war und die geringste Sympathiebekundung schon den Verdacht hervorgerufen hätte, selbst

unsere

der Industriepartei anzugehören."109 Bogdan gesteht, daß sie sogar Angst hatte, über den Fall der Prompartija mit ihren beiden besten Freundinnen zu sprechen. Die Bedrohung schien so groß, daß sich niemand widersetzte, als auf einer Versammlung ein

Student die Todesstrafe für die Verschwörer forderte: „Die Resolution wurde einstimmig angenommen; niemand traute sich, seine Hand zur Gegenstimme zu erheben."'10 Bogdan gibt damit gleichzeitig eine Erklärung, warum die meisten kommunistischen Kollegen über diese Ereignisse schweigen. Wenn bereits in den dreißiger Jahren die Prozesse mit einem Tabu belegt waren, ist es nicht erstaunlich, wenn dies auch Jahrzehnte später noch wirkte. Auch Pozdnjak berichtet über die Auswirkungen der Schauprozesse auf die Atmosphäre am Institut: 1929/30 seien, bedingt durch die „angespannte Situation im Land", die Studienabgänger, die ein Praktikum in den USA absolviert hatten, auf einer öffentlichen Versammlung verhört worden, aufweiche Art und Weise sie ihrer Heimat gedient hätten. Jedem mußten sie Rede und Antwort stehen: „Auch ich stellte Fragen, was mir nicht zum Ruhm gereicht","1 gesteht Pozdnjak. Nur wenig später, im November des Jahres 1930, berichtet Pozdnjak, hätten Zeitungsmeldungen über die Industriepartei die Lage am Institut entscheidend zugespitzt: „Diese Situation verursachte damals eine gewisse Reservierung der Studenten

gegenüber den alten Lehrern. Die Studenten fingen sogar an, sich ihre Lehrer selbst auszuwählen, das Lernpensum und die Studiendauer festzulegen.""2 Das Institut schien gleichsam aus den Fugen zu geraten: Einige Parteitausender stellten einen „Gegenplan" (vstrecnyj) auf, in dem sie sich ver107

Bogdan, Studenty, S. 40, 145. Bogdan, Studenty, S. 84. Bogdan, Studenty, S. 99. 110 Bogdan, Studenty, S. 100. 108

""

1.251,244, 258. "'Pozdnjak, 112

Pozdnjak, 1. 294.

162

Die Genese des neuen

Ingenieurs

pflichteten, ihr Studium statt in fünf in drei Jahren abzuschließen. Sie begannen, zwölf Stunden am Tag zu lernen und keine Feiertage mehr zu

nehmen; andere Studenten kamen nicht hinterher, Professoren wurden

gezwungen, von Studenten für unnütz befundene Veranstaltungen ausfallen zu lassen, und die, die sich wehrten, wurden als reaktionär beschimpft. Ein Teil der Professorenschaft sei seinen Lehrverpflichtungen nicht mehr nachgekommen und habe sich überhaupt nicht mehr um die Zöglinge gekümmert."3 Studierende schlössen Verträge über ihr Schnellstudium ab, die keiner kontrollierte, das Gewerkschaftskomitee wurde mehrfach wegen Unfähigkeit, die „Bewegung zu leiten", aufgelöst und neu besetzt, und immer mehr Studenten fielen durch die Prüfungen oder schwänzten. Schließlich sei es zum Eklat gekommen, als zu einer feierlichen Abendveranstaltung mit der Roten Armee nur die Soldaten, aber kein einziger Institutsstudent erschienen sei."4 Die Parteiorganisation des Instituts wurde ausgewechselt, der Direktor mußte gehen, und in kurzer Zeit seien neue Studienpläne, neue Profile der Studiengänge und die La-

bor-Brigade-Methode eingeführt worden."5 Pozdnjak ist neben Rozanov der einzige,

der nicht nur von Säuberunsondern auch der berichtet. Die Bergvon Institutsumstrukturierung gen, bau-Akademie in Moskau, an der so große Persönlichkeiten wie A.P. Zavenjagin, S.M. Lur'e und B.G. Livsic studiert hatten, wurde dreimal mit großem Verlust umstrukturiert. Im Mai 1930 hatte der VSNCh beschlossen, zum akademischen Jahr 1930/31 die Bergbauakademie auf der Basis ihrer einzelnen Fakultäten in sechs selbständige Institute für Bergbau, Stahl, Buntmetalle und Gold, Öl, Geologie sowie Torf zu überführen."6 „Keiner konnte fassen, daß eine so erfolgreiche, erstklassige Einrichtung jetzt zerschlagen werden sollte. Wir hatten erstklassige Professoren, die erstklassige Lehrbücher schrieben. Der Rektor Gubkin weinte. (...) Die einzige Erklärung war, daß das Land Spezialisten brauchte und nur unsere Akademie es schaffen konnte, auf der Basis der Fakultäten neue Hochschulen zu organisieren.""7 Mit dem letzten Satz verdeutlicht Pozdnjak, daß er versuchte, der unverständlichen Entscheidung einen Sinn zu geben und die negative Nachricht ins Positive zu wenden. „Wir alle begriffen, was wir verloren, und zweifelten an der erfolgreichen Reorganisation. Viele litten, aber keiner sagte seine Meinung laut. Alle meinten offenbar, es müsse so sein.""8

13

Pozdnjak, 1. 295. Pozdnjak, 1. 294ff. 15 Pozdnjak, 1. 298f. 16 Pozdnjak, 1. 282. 17 Pozdnjak, 1. 284f. 18 Pozdnjak, 1. 285. 14

163

Ausbildung

Bemerkung wirft Licht darauf, warum so viele andere zu den Institutsumstrukturierungen schwiegen: Auch sie waren ein Tabu, gegen Diese letzte

das man sich besser nicht wehrte. Der Leiter der Akademie, der sich öffentlich gegen die Zerschlagung ausgesprochen hatte, wurde gesäubert, obwohl er sofort beteuert hatte, er stände der Partei für jede neue Aufgabe zu Verfügung. Daß es nicht klug war, sich dem Willen der Partei zu widersetzen, merkte Pozdnjak bald am eigenen Leib. Infolge der Neuorganisation des Instituts wurde er 1930 vom Parteizellensekretär gezwungen, sich für die neu eingerichtete Fakultät für Buntmetalle einzuschreiben, und seinen Wunsch, Hochofenbauer in seiner Heimatstadt zu werden,

aufzugeben:

„Dein Streben, wieder in der Heimat zu arbeiten, werden wir als nationalistischen Hang bewerten. Du sollst dahin gehen, wohin die Partei Dich schickt. Die Parteiorganisation schlägt Dir vor, auf die Fakultät für Buntmetallurgie zu wechseln. (...) Im schlimmsten Fall wirst Du Dich von Deinem Parteibuch trennen müssen. Das sind die Fakten!"

Nach einem „langen und heftigen" Gespräch fügte Pozdnjak sich in sein Schicksal: „Wenn die Partei mir das nahelegt ich bin bereit.""9 Er studierte fortan am Moskauer Institut für Buntmetallurgie und Gold (MICMiZ). Die Bemerkung, ein Institut für Buntmetalle habe es noch nie gegeben, quittierten die Studenten lakonisch: „Nun wird es eins geben."120 Nur ein Jahr später richtete das Institut drei neue Fachrichtungen ein: eine metallurgische Abteilung, eine für die Anreicherung und eine für die Verarbeitung von Metallen. Kurz darauf wurden die Fachrichtungen „Bergbau" und die Spezialisierung „Wirtschaftsingenieur" institutionalisiert, die aber schon bald nach Metallen umbenannt wurden, so daß es Abteilungen für Kupfer, Blei, Zink und Sekundärmetalle gab. „Die vielen verschiedenen Spezialisierungen wirkten sich schlecht auf die Ausbildung aus, so daß das Institut beantragte, wieder Fakultäten eröffnen zu -

dürfen, was 1932 geschah."121

Nachdem das Studienjahr 1932/33 mit der Neueröffnung von drei Fakultäten für Metallurgie, Erze und Technologie begonnen hatte, war die „endgültige Struktur", wie Pozdnjak es erhofft hatte, aber immer noch nicht erreicht. In der Mitte seines letzten Studienjahres 1933 wurde das Institut ein letztes Mal auf Beschluß des ZK und der Zentralen Kontrollkommission umstruktieriert. Pozdnjak studierte nun nicht mehr „Buntmetallurgie", sondern sein Profil hieß „Ingenieur für Bergbaumetallurgie".122 Ähnlich oft, wie das Institut reorganisiert wurde, wechselten die Direktoren: Lapidar bemerkt Pozdnjak, daß das Institut mit der Leitung 119

Pozdnjak, 1. 262f. Pozdnjak, 1. 282. 121 1.319. Pozdnjak, 122 Pozdnjak, 1. 443. 120

164

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

„kein Glück" hatte: In seinen fünf Studienjahren erlebte

er sieben verschiedene Direktoren.123 Pozdnjak geriet in dieser Zeit selbst in das Kreuzfeuer der Kritik, teils, weil er alte Professoren in Schutz nahm, teils, weil er ein ehrgeiziger Student war:

„So entstanden mir

aus Neid die ersten Feinde, die das ganze Leben meine Feinde blieben und (...) mir ein großes moralisches Trauma verursachten. Diese jungen Leute, die von Arbeitern abstammten, versteckten ihre Aggressivität hinter ihrer Arbeiterherkunft. Solch ein Verhalten wurde wenig später von unserer Partei als kommunistische Wichtigtuerei (komcvanstvo) verur-

teilt."124

Gegner war das sogenannte „Dreieck" aus Direktor, Partei- und Gewerkschaftsführer, die inmitten der „stürmischen Lage" am Institut das Gerücht verbreiteten, Pozdnjak sei kein Knecht, sondern ein KulakenSein

sohn. Als Begründung gaben sie an, ein Knecht sei ungebildet, verschlossen, beschränkt und sehe ungepflegt aus: ein Bild, dem der ehrgeizige, engagierte und gepflegt gekleidete Pozdnjak nicht entsprach. Der Fall wurde mehrfach öffentlich von einer Untersuchungskommission verhandelt und Pozdnjak schließlich freigesprochen: „Aber ich trug ein weiteres moralisches Trauma davon. Ich machte in dieser Zeit viel durch, und viele meiner Kameraden wandten sich von mir ab."125

Pozdnjak schildert,

daß das „Dreieck" immer wieder versucht habe, ihn diskreditieren. Besonders seine enge Freundschaft zu dem alten Professor Vanjukov wurde ihm geneidet und angelastet. Die Komsomolvorsitzende Poljakova beschuldigte aus „Neid und dem Willen, sich ein Opfer zu suchen, um sich selbst hervorzutun," Vanjukov und Pozdnjak, sie hätten absichtlich einen wichtigen Vortrag so angesetzt, daß alle anderen Institutsmitglieder nicht kommen konnten. Beide wurden in der Institutszeitung von dem Vorwurf freigesprochen.126 Im Sommer 1933 mußte Pozdnjak alles in eine Waagschale werfen, als Vanjukov plötzlich aus dem Institut ausgeschlossen wurde, was bedeutete, daß er zur Zeit der Hungersnot sein Anrecht auf Lebensmittelzuteilungen verlor: „Mein junges Gewissen grämte sich und gab mir keine Ruhe. Wie konnte so etwas geschehen. Das ganze Leben hatte er gearbeitet. Wo war unsere Sorge zu

um

die alte Schule? Wir hatten ihn ohne

Lebensmittelkarte, also ohne Brot,

hinausgeworfen, obwohl er bei uns und im Ausland bekannt war." Pozdnjak erreichte durch einen in der Za industrializaciju veröffentlich-

Protestbrief, daß Vanjukov ins Institut zurückgeholt und die beiden Verleumder, zwei seiner Schüler, vom Institut entfernt wurden.128 Noch ten

123

Pozdnjak, 1. 299. Pozdnjak, 1.26Iff. 125 Pozdnjak, 1. 298. 126 1. 322ff. Pozdnjak, 127 1. 432. Pozdnjak, 128 Pozdnjak, 1. 433f. 124

165

Ausbildung

zwei weitere Fälle beschreibt Pozdnjak: Weil er dem Sohn eines alten Ingenieurs eine Empfehlung fürs Institut geschrieben hatte, erreichten seine „Feinde" im Sommer 1931, daß ihm auf einer Komsomolsitzung ein Tadel ausgesprochen wurde.129 Im Herbst 1931 bewahrte Pozdnjak eine junge Studentin vor dem Institutsausschluß und zog sich selbst herbe Kritik zu, weil er eine Frau verteidigte, die in ihr Tagebuch geschrieben hatte: „Ich habe genug von diesen wilden Leuten. Wohin man guckt, überall Brigaden und Stoßarbeiter. Ist denn dieser Kaukasus schon verloren, Mama immer erzählte?!"130

von

dem mir

Sämtliche Versuche, Pozdnjak als „Feind des Komsomol" zu brandmarken, ihn als „Deserteur" zu beschuldigen oder seine Prüfungsergebnissen zu fälschen, schlugen letztlich fehl.131 Die regelmäßigen Bedrohungen fanden ein Ende, als im Frühjahr 1933 der Parteiorganisator Petrov als „kulakischer Agent", so Pozdnjaks Worte, enttarnt wurde.132

Pozdnjak schildert diese Welt der Säuberungen, Drohungen und Verdächtigungen ohne Beschönigung, ist aber letztlich gewillt, der Interpretation der Partei zu folgen: Der Terror der Kulturrevolution war die Schuld „kulakischer sten":

Agenten", „rechter Abweichler" und

zu

schleichen,

gewinnen so

daß

„Trotzki-

fremden Elementen, das Vertrauen der Leitung der Parteiorganisation einzuVerdrehungen und ungerechtfertigten Opfern

„In dieser stürmischen Zeit gelang Massen

von

es

und sich in die

es zu neuen

kam."133 Anders als Bogdan, die strukturelle Gewalt erkennt, personalisiert Pozdnjak die Verbrechen. Er sah nicht, daß die Partei und Regierung die Stimmung gegen die alten Kader anheizte, sondern nur, wie sich junge Kommunisten diese Parolen zu eigen machten, um damit ihre persönlichen Ziele zu verfolgen. Pozdnjak und Bogdan stimmen allerdings darin überein, daß sie beide die Säuberung ihrer Kontrahenten für gerechtfertigt hielten, die sie im Parteijargon als „Karrieristen" bezeichneten.134 Die Erfahrung, daß es unschuldige Opfer gab, führte nicht einmal bei Bogdan zu der Einsicht, daß jede Opfergruppe willkürlich gewählt sein könnte. Die Urheberschaft für erlittenes Leid bei Personen und nicht bei Organisationen zu suchen, ist auch der von Rozanov gewählte Weg, seine Institutsausschlüsse zu erklären: Es waren immer persönliche Feinde. Rozanov war wie Pozdnjak zunächst von Umstrukturierungsmaßnahmen betroffen: 1932 mußte er sein Studium in Moskau fortsetzen, weil sein Institut in Saratov infolge der Re-Reorganisation, der „Stärkung der 129

Pozdnjak, 1. 313f. Pozdnjak, 1. 330ff. 131 Pozdnjak, 1. 332ff., 342ff. 132 Pozdnjak, 1. 413ff. 133 Pozdnjak, 1. 300. 134 Bogdan, Studenty, S. 40. 130

166

Die Genese des

Hochschulen", wie

es

neuen

Ingenieurs

genannt wurde, geschlossen und dem Moskauer

Kalinin-Institut für die Mechanisierung der Landwirtschaft angeschlossen wurde. Rozanov ist der einzige, der zugibt, einen „furchtbaren Pädagogen" als Professor gehabt zu haben, der seine Vorlesung so langweilig gestaltete, daß die Studierenden anfingen, Karikaturen von diesem Mann anzufertigen. Als sie entdeckt wurden, wertete die kommunistische Institutsöffentlichkeit sie als „antisowjetisches Untergrundjournal". Er und fünf Zeichner wurden nicht nur aus dem Institut ausgeschlossen, sondern auch nachts vom NKVD verhört: „Man sagte mir, man würde mich einsperren. Ich fragte, ob ich meine Lehrbücher mitnehmen dürfe, woraufhin die Ermittler offenbar entschieden, daß ich ein Depp sei, denn sie ließen mich laufen, nachdem ich schriftlich versichert hatte, nicht rückfällig zu werden."135

Nach diesem Institutsausschluß setzte Rozanov das Studienjahr 1933/34 an der Moskauer Universität fort, geriet aber nach der Ermordung Kirovs im Zuge der neuen Verhaftungs- und Säuberungswelle abermals in die Schußlinie der Parteiaktivisten. Der Sprecher von Rozanovs Studiengruppe brachte ihn vor ein „proletarisches Gericht", das ihn Anfang 1935 aus der Universität ausschloß. „Ich fand nirgends Arbeit. Ich wollte mich als Laborant verdingen, aber auch der Brief meiner Eltern, in dem sie sich für mich verbürgten, zeigte keine Wirkung. Bis zum Frühjahr war meine Lage furchtbar: Meine früheren Studienkollegen wollten nichts mehr mit mir zu' 6tun haben, nur drei Kommilitoninnen hielten zu mir. Ich war verzweifelt."

Als

wiederholten Mal wegen seines

politischen Makels bei einer sich Rozanov als letzte Hoffnung an die Vorsitzende des Beschwerdebüros der Sowjetischen Kontrollkommission unter Marija Il'icnicna Ul'janova (1878-1937), der Schwester Lenins, die ihm zu einer Anstellung verhalf, damit er sich bewähren könne. Nach einem halben Jahr als Laborant in der Lebensmittelkontrolle konnte Rozanov mit entsprechenden Empfehlungen zum Herbst 1935 sein Studium an der Universität fortsetzen. Ähnlich wie Pozdnjak, der an seinem Elend das „Dreieck" schuldig sieht, gibt Rozanov einer Komsomolzin, die die Karikaturen verriet, und dem Gruppenältesten, der ein „schlechter Student" war, die Schuld an seinem Schicksal.137 er zum

Bewerbung abgelehnt worden war, wandte

Neben der Fachausbildung war im ersten Fünfjahrplan die Gesellschaftsarbeit das zweite Standbein der Ingenieursausbildung bzw. sollten die angehenden Ingenieure neuen Typs durch gesellschaftliches Engagement nachhaltig geprägt werden. Während Bogdan diese Verpflichtung als Behinderung und Last empfand, beschreiben alle anderen nahezu ausRozanov, S. 2. Rozanov, S. 2. Rozanov, S. 2f.

Ausbildung

167

nahmslos diese Nebentätigkeiten als Gaudi oder auch Abenteuer. Sie nahmen keinen Zwang wahr, sondern schildern ihre Studienzeit als Zeit der Freiheit und Unbeschwertheit, in der sie sich mit viel Elan sowohl politisch engagierten als auch kulturell weiterbildeten. Auch Gajlit und Lavrenenko, die nicht aus dem Arbeitermilieu kamen, kamen mit Eifer ihren Verpflichtungen nach. Gajlit, der das „freie Studentenleben" liebte, beteiligte sich aktiv an der Gesellschaftsarbeit, wurde Gruppenältester für Produktionsfragen und Mitglied der Komsomolzelle sowie des Studienrates. Außerdem nahm er 1926 am Gouvernementkongreß der Gewerkschaft der chemischen Industrie als Delegierter des Instituts teil.138 Lavrenenko schwelgt von den vielseitigen Möglichkeiten und den heißen Streitgesprächen, die sie über die neue sowjetische Literatur und die NÉP-Zeit führten. Er engagierte sich als Sprecher seiner Studiengruppe.139 Maliovanov arbeitete während seines Studiums beim Komsomol und im Gewerkschaftskomitee mit.140 Kozevnikova brachte im Rahmen der Alphabetisierungskampagne (likbez) Arbeitern aus der Ölindustrie Lesen und Schreiben bei.141 Calych organisierte zusammen mit anderen musikbegeisterten Studenten Ballett- und Opernaufführungen, trat 1922 in die Studentenorganisation ein und wurde Vorsitzender einer Gewerkschaftszelle.142 Auch Fedoseev assimilierte sich weitgehend und ließ sich zum Mitglied des Komsomolbüros seiner Fakultät wählen.143 Vanj'at studierte erst Ende der dreißiger Jahre und damit in einer Zeit, als politische Aktivität nicht mehr so stark gefragt war. Sie nutzte ihre Studienzeit v.a., um sich in einer Volkstanzgruppe zu engagieren.144 Am ausführlichsten beschreibt Pozdnjak, daß Studium für ihn nicht nur das Erwerben technischer Kenntnisse, sondern v.a. die Ausbildung einer neuen Persönlichkeit bedeutete. Sein Verständnis vom neuen Menschen war, daß dieser grundlegend kulturell gebildet sein müsse. Parallel zu seinem Ingenieursstudium absolvierte er einen zweijährigen Abendkurs an der Journalistenschule der Pravda, bei der er fast vier Jahre arbeitete, und half dem Professor Vanjukov, einen Wissenschaftlichen-technischen Kreis (NTK) zu organisieren, der im Rahmen von Stalins Losung „Die Technik entscheidet alles" technisches Wissen verbreiten sollte. Darüber hinaus investierte er all seine freie Zeit und all sein Geld in den Besuch von Literaturabenden und Theaterveranstaltungen: 138 139

Gajlit, 1. 5.

Lavrenenko, 1. 2. Maliovanov, S. 2. 141 Kozevnikova, S. 26. 142 S. 13, 17. Calych, 143 Fedoseev, S. 49. 144 140

Van'jat, S. 3.

168

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

„Wir spürten in den

ersten Wochen, daß hier neue sowjetische Traditionen und Bräuche entstanden. Wir studierten genau das Theaterprogramm und hielten es für unsere kulturelle Pflicht, in die Premieren zu gehen, alle neuen Filme anzusehen und die neueste sowjetische Literatur zu lesen."I45

Er erlebte Auftritte Majakovskijs, Bezymenskijs und anderer gefeierter Poeten der Zeit. Er nahm an Diskussionen über die „bourgeoise Ideolo-

teil und verurteilte die Theorien Ju.N. Tynjanovs und B. Ejchenbaums. Sein Ziel war es, alle Neuerscheinungen zu lesen, um dann mit seinen Kommilitonen heftig darüber zu streiten.146 Er versuchte nicht nur, sich jede Form von Kultur zu erschließen, sondern unternahm auch während seines Studiums auf der ausführliche Reisen in den Kaukasus, nach Char'kov, Moskau und Leningrad.147 Pozdnjak versuchte, in alle Bereiche der ihm neu eröffneten Welt vorzustoßen und sich als Teil von ihr zu etablieren. Allein Bogdan weigerte sich, das Studium als ganzheitliches Bildungsprogramm anzuerkennen. Als sie für die Alphabetisierungskampagne eingeteilt wurde, fand sie es skandalös, daß man Menschen zwang, sich alphabetisieren zu lassen, während diese all ihre Zeit brauchten, um ihr Überleben zu organisieren. Verhaßt waren ihr die Arbeitseinsätze in Fabriken oder Kolchosen an Samstagen (subbotniki), bei denen sie sich eine chronische Rippenfellentzündung zuzog.148 Auch die obligatorischen Studentenversammlungen waren ihr ein Graus. Sie nutzte sie, um Freunde zu treffen, Bücher zu lesen oder Hausaufgaben zu machen. Aufmerksam verfolgte sie nur die „Säuberungen" des Instituts: „Es gab auch Versammlungen, die großes Interesse bei den Studenten hervorriefen. Das waren die öffentlichen Parteiversammlungen, auf denen die städtische „Säuberungs"-Kommission Studenten und Professoren unseres Instituts ausschloß. Interessant waren sie nicht nur, weil sich solche Versammlungen

gie"

einem Gericht verwandelten, sondern auch deshalb, weil man hier erfahren konnte, welches Verhalten und welche Lebensweisen gerade in den Augen zu

der Partei als Sünde galten, und

man

für sich die

ergreifen konnte."149 Als hervorragende Studentin bekam

entsprechenden Maßnahmen

Bogdan schließlich die Aufgabe übertragen, weniger leistungsstarken Arbeiterkindern Hilfe zu geben. Während Kozevnikova, Pozdnjak und Rozanov die „Brigadenlernmethode", bei der eine Gruppe von drei bis fünf Studenten gemeinsam lernte und Prüfungen ablegte, mit Begeisterung aufnahmen, lehnte Bogdan diese Einrichtung als „kostenlosen Nachhilfeunterricht" für minderbemittelte Studenten ab.150 Die ihr überantworteten Parteitausender 145

Pozdnjak, 1.32Iff. Pozdnjak, 1. 260, 160, 174, 180. 147 Pozdnjak, 1. 190ff., 204ff. 148 Bogdan, Studenty, S. 35ff„ 46, 96, 149 Bogdan, Studenty, S. 40. 150 Bogdan, Studenty, S. 77f. 146

149.

waren

ihr zuwi-

169

Ausbildung

der. Bogdan erlebte diese „Lieblingskinder" der Partei mit ihrem Dorfschulabschluß nicht nur als besonders ungebildet, sondern auch als Tyrannen, die von Intelligenzijakindern uneingeschränkte Nachhilfe verlangten und sie dabei politisch zu erziehen versuchten. Ihr Schüler habe ihr zudem indirekt gedroht, wenn er erst mal Direktor sei, werde er seinen Ingenieuren nichts glauben.151 Bogdans Genugtuung war groß, als mit Beginn des Studienjahres 1932/33 die Brigadenlernmethode abgeschafft und die Höhe des Stipendiums wieder an die erbrachten Leistungen gekoppelt wurde. Als eine von vier Institutsstudent/innen bekam sie den Höchstsatz von 120 Rubel: „Jetzt zeigte sich, daß diejenigen, die sich wie ich immer der Gesellschaftsarbeit entzogen und all ihre Zeit dem Studium gewidmet hatten, darin bestärkt wurden und ein höheres Stipendium bekamen."152 Schließlich unterscheiden sich Bogdan einerseits und die übrigen Ingenieur/innen andererseits auch fundamental in der Einschätzung der Lebensumstände während ihres Studiums. So wie die meisten Ingenieure und Ingenieurinnen ihre Professoren idealisieren und damit Säuberungen und Institutsumstrukturierungen ausblenden, so übergehen sie auch Hungersnot und Wohnraumknappheit und beschreiben ein Leben voll lustiger Askese: „In den dreieinhalb Jahren meines Studiums war ich kein einziges Mal im Theater, habe ich kein einziges Glas Wodka getrunken. Kommt ein Freund, stellt man ihm ein Glas hin, schneidet eine Gurke auf und sieht zu. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, wieder ans Buch. Die Ohren hält man sich mit den Händen zu, um den Lärm von Sohn und Tochter nicht zu hören, und schon ist man wieder ganz in der Welt der Festigkeitskehre",153

schreibt der Ingenieur Bockin. Den gleichen selbst verordneten Verzicht schildert Kozevnikova: Sie habe tagelang über ihren Aufgaben in theoretischer Mechanik verbracht und nicht gemerkt, wie Tag und Nacht wechselten.154 Ganz und gar in den Bann des Lernens geschlagen, zeigt sich auch Pozdnjak, der von den Lehrveranstaltungen schreibt: „Wir hörten genau zu. Wer sich erlaubte, in der Vorlesung zu reden, wurde in Stücke gerissen. Im Hörsaal herrschte immer Totenstille, obwohl er chronisch überfüllt war und man nur mit Schwierigkeiten einen Platz bekam. Ich versuchte immer, einen Platz in der Mitte zu ergattern, aber nicht in die erste Reihe zu müssen."1

um

gut sehen

zu

können,

Den Geist des Fünfjahrplans, alles effizienter, schneller und besser zu machen, nahmen sie auf und übertrugen ihn auf ihr Studium: Um die Zeit

151

Bogdan, Studenty, S. 79, 81. Bogdan, Studenty, S. 200. 153 152

Botschkin, Mein ganzes Leben, S. 7. Kozevnikova, S. 39. 155 154

Pozdnjak, 1. 252.

170

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

optimal zu nutzen, begannen sie, Nachtschichten in den Laboren einzulegen und nur wenige Stunden auf den Arbeitstischen zu schlafen: „Bald begannen andere Studenten,

unsere Lerngruppe nachzuahmen. (...) Die Chemielabore arbeiteten jetzt auf Initiative der Studenten im Dreischichtsystem. Die ausführlichen Laborpraktika waren eine Art Taufe für die Studen-

ten.

Diesen Enthusiasmus bestätigt sogar Fedoseev. Er zeigt, daß die Begeisterung für und die Hingabe an das Studium keine Attitüde der Kommunisten war, sondern eine weitverbreitete Haltung zu Beginn der dreißiger Jahre, von der sich viele junge Menschen anstecken ließen: „Mein Studium verlief ohne besondere Vorfälle und zeigte ausgezeichnete Resultate. (...) Ich studierte asketisch und lebte von Tee und Brötchen."157 Angesichts dieses Enthusiasmus gerieten die Schilderungen über verzweifelte Wohnheimsuche und die schlechte Versorgungslage eher zu aufregenden Abenteuern. Dabei betrug der durchschnittliche Wohnraum im Dezember 1932 zwei Quadratmeter pro Kopf; Studierende schliefen nicht nur auf Korridoren und in sanitären Räumen, sondern auch in Seminarräumen und Bibliotheken.158 Kozevnikova fand nach ihrer Ankunft in Moskau überhaupt keine Bleibe. Ihren einzigen Koffer verwahrte sie in einem Schließfach auf dem Bahnhof, sie selbst verbrachte die Nächte auf einer Bank auf dem Bahnsteig und in der Straßenbahn, bevor sie sich ein Bett mit einer Studienkollegin teilte.159 Sie erhielt schließlich ein eigenes Bett in einem Raum mit 18 anderen jungen Frauen: „Wir lebten friedlich und teilten alles untereinander auf. Die Abende und Feiwaren in unserem Zimmer besonders belebt: Irgend jemand kam mit einer Gitarre, eine andere sang, zu einer dritten kamen Gäste. Herzlichkeit, Lachen und Spaße waren unsere ständigen Begleiter. Seit der Zeit bin ich so an Lärm gewöhnt, daß er mich nie stört."160

ertage

Neben Kozevnikova fand auch Calych zunächst keinen Wohnheimplatz. Ihm und seinem Freund gelang es aber, bei einer Familie unterzukommen, die sie bei einer Zugfahrt kennengelernt hatten.161 Gajlit berichtet, ihr Wohnheim sei das „Haus der fröhlichen Bettler" genannt worden, weil sie mit 20 Rubeln ein sehr geringes Stipendium erhielten, aber trotzdem aus den Fenstern immer Gesang und Musik zu hören war.162 Pozdnjak richtete zusammen mit Kollegen eine Kommune mit einer gemeinsamen Kasse ein, aus der das Essen, die Wäsche- und die Putzfrau bezahlt wurden, so daß sie sich um nichts zu kümmern brauchten.163 156 157

Pozdnjak, 1.253.

Fedoseev, S. 49. Löhmann, S. 128; GARF, f. 8060, VK VTO, op. 1, d. 1. 159 Kozevnikova, S. 29. 160 Kozevnikova, S. 31.

158

161

Calych, S. 14. Gajlit, 1. 5. 163 Pozdnjak, 1. 283. 162

Ausbildung

171

Ingenieure stellen nicht in den Vordergrund, daß ihr Stipendium gering war, sondern berichten mit Stolz, daß sie neben dem Studium arbeiteten. Loginov erhielt für sich, seine Frau und sein Kind 35 Rubel und stockte ihr Einkommen als Lehrer in der Erwachsenenbildung auf.164 Pozdnjak verdiente sich in den Sommerferien in einer Hochofenzeche mit z.T. lebensgefährlicher Knochenarbeit sein Geld.165 Der Ingenieur Bockin besserte nachts sein Stipendium in den Stollen der Metro auf.166 Maliovanov ergänzte sein Stipendium von 15 Rubeln, indem er an den Wochenenden als Dreher in der Fabrik arbeitete, wofür er 75 Rubel bekam. Später Diese

zu

arbeitete er zusätzlich in Gruben, um genug Geld zu haben: „Die Zeit damals war hungrig, aber ich verdiente gut."167 Maliovanov deutet nur an, was die meisten Ingenieur verschweigen: die Hungersnot 1932/33. Auch Kozevnikova läßt die Katastrophe anklingen, aber ebenfalls, ohne das Wort „Hungersnot" zu benutzen. Sie teilte sich anfangs eine Lebensmittelkarte mit einer Kommilitonin: „Einen Tag fasteten wir, dafür begaben wir uns jeden zweiten Tag nach den Veranstaltungen sofort feierlich zum Bäcker. Unsere Vorfreude aufs Essen ließ uns wohl sehr komisch aussehen. Wir bekamen immer Brot für zwei Tage. Dazu kauften wir Salzgurken und vernichteten beim Hinausgehen auf der Stelle alles."

In der Mensa aßen sie nur, wenn sie Prüfung hatten oder im Ministerium für Schwerindustrie vorsprachen, um mehr Wohnheimplätze zu verlangen. Sie leisteten sich nur eine Fischsuppe: „Der Geruch, der von ihr aufstieg, verpestete die gesamte Mensa; sich über den Teller zu beugen, war unmöglich. Senf und Paprika erstickten diesen Geruch, und erst dann stillte diese Suppe irgendwie den Hunger."168 Bei ihren Besuchen im Ministerium hatten sie sich angewöhnt, aus der dortigen Kantine das Brot von den Tischen zu stehlen: „Es lohnte sich, den Wachmann einen Augenblick lang abzulenken, und schon waren wir an den Tischen, auf denen Teller mit Brot standen. Wir aßen uns satt, und ich steckte noch Brot für Anja ein."169 In Kozevnikovas Erinnerungen tritt sehr deutlich zu Tage, welche Not damals herrschte, obwohl sie die Dramatik hinter ihrer Abenteuererzählung verschwinden läßt. Ganz anders schreibt Bogdan über Wohnheimmangel und Hungersnot. Während sich Kozevnikova glücklich schätzte, überhaupt ein Bett zu erhalten, hielt Bogdan den ihr zugewiesenen Platz in einem Raum mit 18 Mädchen für eine Zumutung: „Die eine steht früh auf, die andere liest bis spät in die Nacht, die dritte schnarcht..."170 Sie 164

Loginov, 1. 34. Pozdnjak, 1. 187. 166 165

Botschkin, Mein ganzes Leben, S. 7. Maliovanov, S. 1. 168 Kozevnikova, S. 29. 169 Kozevnikova, S. 30. 167

170

Bogdan, Studenty, S. 20f.

172

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

entschied sich, mit ihren beiden Freundinnen zusammen bei einer Wirtin ein Zimmer zu mieten, und zog erst im letzten Studienjahr ins Wohnheim, als sie als Diplomandin das Recht auf ein Doppelzimmer hatte. Anders als die oben genannten Ingenieure empfand sie es nicht als Herausforderung, arbeiten zu gehen, als sie kein Stipendium erhielt, sondern als bedrohlich.171 Schließlich verdeutlicht Bogdan das Ausmaß der Hungersnot von 1932/33. Die Lebensmittel waren so knapp, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie Studenten ohne Pakete von daheim überhaupt überlebten. Sie und ihre Freundinnen ernährten sich von der Erbsensuppe, die sie sich abends auf ihrem Zimmer kochten. In der Mensa gab es als Hauptgericht „Schrot", die Überreste der Sonnenblumenkerne aus der benachbarten Speiseölfabrik, denen mit Benzin das Öl entzogen worden war und die normalerweise an Schweine verfüttert wurden. Das Benzin, so Bogdan, war in allen Institutsräumen zu riechen: „Die Studenten scherzten, daß es für sie jetzt gefahrlich sei zu rauchen."172 Vor der Mensa saßen Hungernde, darunter Frauen mit Kindern, die aus den „entkulakisierten" Kosakensiedlungen stammten und die Studenten um Brot anbettelten. Der Chefingenieur des Betriebs, in dem Bogdan 1933 Praktikum machte, vermißte seine Katze und war überzeugt, daß sie jemand aufgegessen hatte.173 Pozdnjak ist der einzige, der darüber spricht, daß die katastrophale Versorgungslage auch zu schlechten Studienergebnissen führte. Teilweise habe es Durchfallquoten von bis zu 50 Prozent gegeben.174 Der im Sommer 1932 neu eingesetzte Direktion schickte sämtliche Studienanfänger sowie die Hälfte der Studierenden des zweiten Studienjahres wieder nach Hause, weil es für sie weder Wohnheimplätze noch ausreichend Kantinenessen gab.175 Er wurde ein Jahr später entlassen, weil auch er es nicht geschafft hatte, die Wohnraumversorgung in den Griff zu bekommen.176 Der Studienabschluß gestaltete sich für die Ingenieur/innen des ersten Fünfjahrplans sehr unterschiedlich. Wegen des großen Ingenieurmangels wurden einige gezwungen, das Institut vorzeitig zu verlassen und ihr Studium „ohne Abriß" von der Produktionsarbeit zu beenden. Calych ver-

ein Jahr damit, Material für seine Abschlußarbeit zu sammeln, kam aber nicht mehr zur Ausführung. Statt 1929 seine Diplomarbeit zu schreiben, wurde er als Techniker bei der Projektierung des Aluminium-Kombinats in Dneprovsk eingesetzt, um Gießmaschinen

brachte

171

zwar

Bogdan, Studenty, S. 28, 67. Bogdan, Studenty, S. 206ff. 173 Bogdan, Studenty, S. 247. 174 Pozdnjak, 1. 296. 175 Pozdnjak, 1. 350ff. 176 Pozdnjak, 1. 350ff„ 391. 172

173

Ausbildung

zeichnen. Nach dem Abschluß dieser Arbeit war es für einen regulären Studienabschluß zu spät: „Ich wollte so schnell wie möglich nach Leningrad zurück, um mein Studium abzuschließen. Aber auch dieses Mal hatte ich kein Glück: Der Fünfjahrplan hatte begonnen und es gab einen großen Mangel an Ingenieuren. Die Regierung beschloß, alle Studenten des letzten Studienjahrs zu entlassen und ihnen den Ingenieursgrad ohne Diplomarbeit zu geben."177 Calych erhielt kein Diplom, wurde aber als Ingenieur anerkannt und eingesetzt. Während er als diplomloser Ingenieur einen besonderen Fall darstellt, beendeten Gajlit und Pozdnjak ihr Studium nach dem neuen Konzept „ohne Abriß". Gajlit nahm im Sommer 1929 eine Arbeit beim Bau der Leningrader Aluminium-Experimentalfabrik an und avancierte bald zum Mitarbeiter der Abteilung für Buntmetallurgie des Staatlichen Leningrader Instituts zur Planung von Metallfabriken (Lengipromez), die an der Entwicklung von halbindustriellen Elektrolyseuren arbeitete und in der er auch das Material für seine Diplomarbeit sammelte. Bereits im November 1929 stieg er, noch immer ohne Studienabschluß, zum Schichtingenieur der Versuchsfabrik auf, bevor er im September des Jahres 1930 Assistent des Chefingenieurs beim Bau der Aluminiumfabrik am Volchov (Aljuminstroj) wurde. Erst 1931 bekam er den Ingenieurstitel als Spezialist für Elektrolyse von flüssigen Salzen verliehen.178 Pozdnjak mußte gegen seinen Willen 1932 auf ein Studium „ohne Abriß" umstellen und arbeitete ähnlich wie Calych in der Planungsabteilung von Buntmetallfabriken (Giprocvetmet) in Moskau. Als Diplomarbeit verteidigte er 1934 das Projekt einer Zinkfabrik, die er hier entworfen hatte.179 Maliovanos Studium war von vornherein als „ununterbrochenes Produktionsstudium" (nepreryvnoe proizvodstvennoe obucenie) angelegt, bei dem die Studierenden im Jahr sechs Monate lernten, vier Monate im institutseigenen Bergwerk arbeiteten und zwei Monate Ferien hatten. Zum Studienabschluß arbeitete Maliovanov ein ganzes Jahr in einem nach seinen amerikanischen Erbauern Amerikanka benannten Bergwerk, in dem er auch das Material für seine Diplomarbeit sammelte, mit der er 1935 abschloß.180 Bogdan schloß ihr Studium 1934 ab und wurde angesichts ihrer hervorragenden Leistung für die Promotion (Aspirantur) vorgeschlagen eine Auszeichnung, die kurz zuvor nur Kommunisten zugestanden hatte.181 Loginov beendete sein Studium im Dezember 1929 als DiplomIngenieur.182 Lavrenenko und Jakovlev schlössen 1931 diesen Lebensabzu

-

177

Calych, S. 14, 18ff.,21. Gajlit, 1. 7ff. 179 Pozdnjak, 1. 338ff, 441. 180 178

Maliovanov, S. If. Bogdan, Studenty, S. 204, 235, 266. 182 Loginov, 1. 34. 181

174

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

schnitt zur gleichen Zeit ab, als auch Ivanenko ihre Ausbildung beendete.183 Fedoseev verließ sein Institut 1936;184 Rozanov wurde 1938 als bester Chemiker seines Jahrgangs ausgezeichnet. Obwohl die Universität keine Ingenieursdiplome verlieh, arbeitete er sein Leben lang als Ingenieur.'85 Kozevnikova und Fedorova bekamen im Winter 1939/40 bzw. im Jahr 1941 ihre Zeugnisse ausgehändigt.186 Van'jat ist die einzige der hier vorgestellten Personen, die nicht Ingenieurin wurde. Gegen ihre ursprüngliche Absicht in diesem Studienzweig eingeschrieben, gefiel ihr das Ingenieursstudium so lange, wie Theorie und Mathematik das Studium beherrschten. Als aber nach den ersten zwei Studienjahren die Unterrichtsfächer zunehmend Technik und Mechanik beinhalteten, konnte sie sich nicht mehr für das Studium begeistern: „Ich fand es langweilig und uninteressant."187 Ihre Heirat 1940 nahm sie als willkommenen Vorwand, um das Studium abzubrechen. Während sich Ivanenko als Ingenieurstochter ganz an die neuen Berufschancen anpaßte, gelang es Van'jat nicht, den Ingenieursberuf als ihr Aufgabenfeld zu ak-

zeptieren.

Die Studienzeit zeigt in besonderer Weise, wie unterschiedlich Mißstände und Mangel interpretiert und wahrgenommen wurden. Hatten Intelligenzijatöchter und Arbeitersöhne bis zu diesem Punkt unterschiedliche Wege beschritten, wurden sie während des Studiums mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert, die aber je nach bisheriger Lebenserfahrung, Erwartung an das Studium und innerer Einstellung als Katastrophe, Abenteuer oder Gaudi bewertet wurden. Sie alle beschreiben letztlich die gleichen Phänomene, aber aus diametral entgegengesetzten Positionen. Das Studium hatte für die Arbeiterkinder deshalb eine besondere Bedeutung, weil es als Schleuse zwischen der alten provinziellen Welt, die von Armut und Unwissen geprägt gewesen war, zur neuen Welt, die schlechthin für Aufklärung, politische Reife und Wissen stand, funktionierte. Dabei war es wichtig, daß die neu Eintretenden diesen Kosmos nicht nur passiv bestaunten, sondern sich durch die Gesellschaftsarbeit aktiv als Mittler der neuen Kultur etablierten. Als Teile des Initiationsritus gehörten neben den eigentlichen Vorlesungen die Streitgespräche über die Kultur und das gesellschaftliche Engagement in gleicher Weise zum Studium dazu. Es scheint nicht erstaunlich, wenn allein Bogdan ihr Studium nicht als Transformationsmaschinerie verstand, die sie zum neuen Men183 184 185

Lavrenenko, 1. 1; Jakowljew, S. 67. Fedoseev, S. 56.

Rozanov, S. 2. Fedorova, Telefonat in Moskau 10.3.1994, Manuskript S. 1; Kozevnikova, S. 53. 187 186

Van'jat, S. 3.

Ausbildung

175

sehen machen sollte, sondern sich mit allen Mitteln dagegen wehrte, in diesen Prozeß zu geraten. Dennoch markiert das Studium die Annäherung, wenn nicht bereits Verschmelzung der Nachfahren der alten Intelligenz mit den Arbeitersprößlingen: Die Studienqualität, das Lehrpersonal und die Praktika befanden sie einmütig als gut, Fedoseev, Lavrenenko und Gajlit engagierten sich bei der Gesellschaftsarbeit genauso selbstverständlich wie Pozdnjak oder Kozevnikova, und in den Lerngruppen und Studienklassen verschmolzen sie nahezu unterschiedslos zu einer Generation künftiger Ingenieure und Ingenieurinnen. Schließlich ist deutlich geworden, daß wie bereits in den zwanziger Jahren die künftigen Ingenieure auch während ihres Studiums nicht immer den Weg beschreiten konnten, den sie nehmen wollten, sondern sich auch hier den Vorgaben und Richtlinien der Partei und Regierung anpassen mußten. Das trifft in besonderem Maße auf Pozdnjak zu, der nicht nur gezwungen wurde, sein Studienfach zu wechseln, sondern auch sein Studium in der Produktion zu beenden. Doch diese negativen Momente beeinträchtigten weder seine Loyalität gegenüber der Partei noch seine grundsätzliche Begeisterung, studieren zu dürfen: „Wahrscheinlich hat jeder Mensch große Ziele, für deren Erreichen er manchmal viele Jahre investiert. So ein Ziel war das Beenden meines Studies war ein großes Ziel, daß ich nur durch viel Arbeit erreichte, und als es dann plötzlich soweit war, schien es mir zu schnell vorbei zu sein. (...) Ich erinnere mich, daß wir oft von der Feier träumten, die es nach unserem Institutsabschluß geben würde, auf der unsere Professoren Reden halten und uns die besten Wünsche mit auf den Weg geben würden. Dann würden wir Dankesreden halten, denn wir hätten auch etwas zu sagen, den einen viel und Rührendes, zu den anderen trocken und reserviert. Und auch den Mitarbeitern aus der Verwaltung und den Laboranten würden wir die Hand drücken, sie umarmen, dann noch einmal alle Räume abgehen, dem Zeichensaal ein wehmütiges Lebewohl zurufen, noch einmal in den Lesesaal gehen, ob dort nicht gerade der Professor vorträgt, und sich vor seinem Wissen verneigen."188 ums;

e) „Bewährungsprobe" Bevor die jungen Männer und Frauen jedoch endgültig ins Berufsleben entlassen wurden, bekamen sie während der Kollektivierung der Landwirtschaft eine weitere Prüfung auferlegt.189 Die Partei sandte zu Beginn der dreißiger Jahre alle verfügbaren Kräfte, darunter auch Studenten, auf 188

Pozdnjak, 1. 477f. Zur Kollektivierung und Entkulakisierung siehe Fitzpatrick, Sheila: Stalin's Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, Oxford 1994; Viola, Lynne: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York, Oxford 1996; Graziosi, Andrea: The Great Soviet Peasant War, Cambridge 1996; Koenen, Gerd: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus, Berlin 1998, S. 169. 189

176

Die Genese des neuen

Ingenieurs

die „Entkulakisierung" durchzusetzen. Als „Fünfundzwanzigtausender" tatsächlich waren es am Ende über 100.000 Rekrutierte wurden sie auf dem Land eingesetzt, um dort an der Unterdrückung von widerständigen Bauern teilzunehmen.190 Dieser Einsatz hatte nicht nur den Zweck, die Bauernproteste niederzuschlagen, sondern auch die eingesetzten Parteisoldaten noch einmal auf die Parteilinie einzuschwören. Die Kollektivierung war wie ein zweiter Bürgerkrieg, in dem die Kommunisten erneut gezwungen wurden, Farbe zu bekennen. Wer zusammen mit den Bolschewiki gegen die Bauern vorging, hatte sich nicht nur bewährt, sondern auch schuldig gemacht. Die meisten Ingenieure schweigen sich über diese Zeit aus oder machen nur Andeutungen. Zu heikel erscheint die Kollektivierung. Weder ist sie geeignet, sich mit Heldentaten zu schmücken, noch genügend enttabuisiert, um von Greuel und Gewalt erzählen zu können. Anders als die Repressionen 1937/38 und der Personenkult ist die Kollektivierung nicht zum Verbrechen erklärt worden, sondern galt bis zum Ende der Sowjetunion als notwendige Grundlage für das sowjetische Wirtschaftssystem. Unter dem Gesichtspunkt der erzwungenen Gewaltanwendung müssen noch einmal Loginovs und Pozdnjaks Aussagen betrachtet werden, nach denen der eine nicht Staatsanwalt werden wollte und den anderen nicht die „Romantik" der kriminalistischen Ermittlung überzeugen konnte (s.o.). Loginov verrät nicht, ob ihm der Umstand nicht behagte, als Ermittler von einem Ort zum anderen ziehen zu müssen, oder ob ihn nicht vielmehr die Aussicht schreckte, der Landbevölkerung als anklagender Staatsanwalt den Prozeß machen zu müssen. Auch Pozdnjak geht nicht näher darauf ein, welcher Art seine „kriminalistischen Ermittlungen" waren, so daß dahin gestellt bleiben muß, ob nicht beide Männer nicht weiter an Repressionen beteiligt sein wollten und deshalb ihr Studienfach bzw. ihren Aufgabenbereich wechselten. Ähnlich wie diese beiden Ingenieure vermeiden es die meisten, auf ihre Tätigkeit bei der Durchsetzung der Interessen der Sowjetmacht gegen Bevölkerungsgruppen einzugehen. das Land,

um

-

-

ersten Jahre der Kollektivierung waren nicht leicht. Die Partei schickte ihre Funktionärskader dem Dorf zur Hilfe. Wieder war ich dabei",191

„Die

ist alles,

der Ingenieur Bockin über seinen Einsatz bei der Kollektischreiben vermochte. Der Ingenieur Leonid Pavlovic Gracev vierung (*1908) schreibt als einer der ganz wenigen ausführlicher über diese heikle Aufgabe. Er tut dies nur deshalb, weil er sich selbst nicht belasten muß und vorgibt, verständnisvoll mit den Bauern umgegangen zu sein. 1928 habe er beim Einsatz zur Kollektivierung und Unterdrückung von was

zu

190

Vgl. Conquest,

Robert: The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror

Famine, New York 1986, S. 146. 191 Botschkin, Mein ganzes Leben, S.

7.

177

Ausbildung

Kulakenaufständen versucht, die Bauern in langen Diskussionen davon überzeugen, daß eine Kolchose für sie nur Vorteile bringe. Obwohl Gracev an seine eigenen Argumente glaubte, kamen ihm Zweifel an der Richtigkeit der Maßnahmen, als eine Bäuerin ihm entgegenhielt, daß nur sie wisse, wie ihre Kuh zu melken sei. Auf dem Gemeinschaftshof, auf dem sie ihre Kuh bereits abgegeben hatte, sei diese gar nicht gemolken worden. „Ich dachte an meine Mutter: Hätte sie ihre Kuh, dank der wir überlebt hatten, hergegeben?"192 Gracev deutet im folgenden nur an, daß seine Mission scheiterte. Daß die Bauern sich schließlich nur unter Zwang in die Kolchosen fügten, beschreibt er beschönigend mit folgenzu

den Worten: „Letztlich stand, der

nicht meine Reden, sondern der nüchterne Bauernverihnen sagte: Ob Du willst oder nicht, man muß sich vereinigen, wenn es die Macht so fordert. Sie hofften auf Kredite und Hilfe vom Staat."193 waren es

Angesichts der Gewaltandrohung und -anwendung, die Gracev nicht offen zugibt, die aber deutlich zwischen den Zeilen zu Tage tritt, versucht Gracev, die Kollektivierung zu rechtfertigen: „Aber hatten wir denn einen anderen Weg? Wir mußten unser Land aus der Armut führen."194 Detailreichere und v.a. negative Berichte über die Vorgänge bei den Einsätzen der „Funktionärskader" finden sich in den Memoiren von Ingenieurinnen und Ingenieuren, die der Sowjetmacht skeptisch gegenüber standen. Die Ingenieurin Natal'ja Sergeevna Gorjanova (*1900) berichtet

denen bewußt gewesen sei, daß sie in einen Sie hätten im Suff gerufen: „Morgen erschießen uns die Bauern," und seien tatsächlich bei ihrem nächsten Einsatz ermordet worden.195 Auch Bogdan geht auf die Kollektivierung ein, an der sie selbst nicht teilnehmen mußte, zu der aber einige ihrer Kommilitonen abgeordnet wurden und die allgegenwärtig war: „Die zum Studienjahrbeginn zurückkehrenden Studenten waren erbost und aufgebracht. Die Mehrheit von ihnen kam aus Kosakenfamilien, und die allgegenwärtige Kollektivierung sowie die mit ihr verbundenen Repressionen von

Getreideeintreibern,

Krieg geschickt wurden.

betrafen fast alle. Auf der anderen Seite hatten viele unserer Kommunisten bei der Organisation der Kolchosen und bei der Unterdrückung des Widerstands gegen die Kollektivierung mitgemacht. Jedes Gespräch führte automatisch zu den Verhaftungen und Repressionen."196

Sie schildert den Fall eines Studienkameraden, eines „glühenden" Kommunisten, der der Kollektivierung nicht gewachsen war: „Ich erinnere die Reden Fedjas bei dem Professor: ,die Romantik der Revolution!' Romantik ist

es

nur,

wenn man von

außen

guckt,

aber

wenn man

ihn

192

Gracev, Doroga ot Volchova, S. 57ff. Gracev, Doroga ot Volchova, S. 61. 194 Gracev, Doroga ot Volchova, S. 60. 193

195

Gorjanowa, Natascha: Russische Leipzig 1935, S. 253. 196 Bogdan, Studenty, S. 133.

Berlin

-

Passion.

Studentin, Ingenieurin,

Frau im Roten

Aufbau,

178

Die Genese des neuen

Ingenieurs

selbst dazu zwingt, die Ideen der Partei mit dem Revolver in der Hand umzusetzen, dann ist alle Romantik dahin. Fedja hatte eine zu zarte Seele für einen Kommunisten!"

Als er gezwungen wurde, mit dem Revolver in der Hand eine Bauernfamilie aus ihrem Haus zu treiben, weil sie Korn versteckt hatte, war er dazu nicht imstande und erschoß sich selbst.197 Auch Lavrenenko ist einer der wenigen, der sich über den Einsatz bei der Kollektivierung äußert. Er, der bis dahin sein Komsomolzenleben genoß, äußert, daß dies der Moment war, an dem er das erste Mal an der Richtigkeit des Handelns der Sowjetmacht zweifelte. Er ähnelt damit dem Studiengenossen Bogdans, der in der Theorie den Bolschewiki folgte, aber seine Naivität in dem Moment verlor, als er mit der Praxis konfrontiert wurde. Lavrenenko wurde aus seiner heilen Welt gerissen, als ihm seine Mutter erzählte, daß sein guter Freund, der eine schnelle Parteikarriere gemacht und es zum zweiten Sekretär des ländlichen Regionskomitees der Partei gebracht hatte, verhaftet worden sei. Er reagierte mit Unverständnis: „Was—? Das kann nicht sein! So ein kluger Mann voller Tatendrang, der von den ärmsten der Armen abstammt. Das glaube ich niemals!"198 Er erfuhr, daß sein Freund Vasja sich geweigert hatte, die Kollektivierung eines Dorfes innerhalb von nur zwei Wochen mit Gewalt durchzusetzen. Vasja hatte wie Gracev gehofft, die Bauern in Gesprächen überzeugen zu können, während die örtliche Parteiorganisation darauf bestanden hatte, widerständige Bauern sofort zu verhaften und deren Vieh zu konfiszieren. Er wurde beschuldigt, gemeinsame Sache mit den Kulaken zu machen, aus der Partei ausgeschlossen und zusammen mit den Kulaken nach Sibirien verbannt.199 So wenig, wie Lavrenenko glaubte, sein Freund sei ein Verbrecher, so wenig war er bereit der Presse Glauben zu schenken, die Hungersnot 1932/33 sei von „antisowjetischen Kräften" organisiert worden. Er begriff, daß die Bauern nicht Täter sondern Opfer waren.200 Lavrenenko verließ schließlich seinen Studienort Kiew 1932, weil auch er fürchtete, zur Gewaltanwendung gegen Bauern gezwungen zu werden: „Und noch etwas zog mich hier weg: Die Partei und Komsomolleitung des Instituts wurden oft herangezogen, um die Kolchosen zu stärken, die häufig zerfielen, und, obwohl nach dem Artikel Stalins ,Vor Erfolgen von Schwindel befallen'201 der Druck auf die Bauern niedriger wurde, wendete man immer 197 198

Bogdan, Studenty, S. 153ff.

Lavrenenko, 1. 4. Lavrenenko, 1. 5. 200 Lavrenenko, 1. 8. 201 In diesem Artikel, der 199

am 2. März 1930 in der Pravda erschien, proklamierte Stalin, daß die Kollektivierung bisher sehr erfolgreich verlaufen sei, die erzielten Ergebnisse aber einigen Getreideeintreibern zu Kopfe gestiegen seien, so daß sie das „richtige Maß" und die Fähigkeit, „die Wirklichkeit zu verstehen" verloren hätten und über das Ziel hinaus schössen. Stalin

179

Ausbildung noch die Einschüchterungs- und Zwangsmethoden an. (...) Das derart meinem Charakter, daß mir oft mein ,sanftes Vorgehen'

wurde."202

Der Einsatz der

widersprach vorgehalten

Ingenieursstudenten erscheint wie eine letzte „Mutpro-

be", die die Partei ihrer künftigen Elite abverlangte, ein letzter Beweis

ihrer treuen Ergebenheit, bevor ihnen die Leitung eines Baustellenabschnitts, einer Fabrikabteilung oder eines Labors übertragen wurde. Sheila Fitzpatrick hat betont, daß es ein wichtiges Moment für das System war, daß junge Ingenieure sich mitschuldig machten, indem sie nach den Säuberungen 1937/38 die Posten ihrer verfolgten Vorgänger einnahmen.203 Offenbar verlangte die Partei aber schon zu Beginn der dreißiger Jahre von ihren Gefolgsleuten, daß sie ihre „Unschuld" verloren. Außerdem wird deutlich, daß die Kollektivierung eines der ersten Ereignisse war, durch die prosowjetische Ingenieure Zweifel an der Linie der Partei bekamen. Sie wurden wie Lavrenenko aus der Welt der freundschaftlichen Komsomolgemeinschaft, des Abenteuers und des sozialen Aufstiegs herauskatapultiert und gezwungen, die Partei plötzlich mit ganz anderen Augen zu betrachten. War ihnen die Darstellung des alten Ingenieurs als Klassenfeind vertraut und eingängig, fühlten sie sich den Bauern durch ihre eigene Herkunft zu eng verbunden, als daß sie an deren „Verbrechen" glauben konnten. Aus den Memoiren ist zu entnehmen, daß sie diese Episode alsbald verdrängten und zu ihrer alten Einstellung gegenüber der Partei zurückkehrten. Nach diesem letzten Einsatz war der „Stahl" endgültig „gehärtet", hatten die jungen Männer und Frauen das Ausbildungsprogramm zum Ingenieur bzw. zur Ingenieurin abgeschlossen. Mehr als das waren sie zum neuen Menschen geformt worden, war der Einsatz bei der Kollektivierung der letzte Hammerschlag auf das noch formbare Eisen gewesen. Die Medien präsentierten 1931 die erste Generation von Sowjetmenschen stolz als neue Elite. Idealbiographien wurden überall als das Produkt eines langen Prozesses vorgestellt: „Genosse A. Alfeev, Arbeiter und Schlosser, arbeitete zehn Jahre in der Produktion, diente sechs Jahre in der Roten Armee. Von 1926 bis 1928 auf leitenden Posten in der Wirtschaft. 1928 wurde er mit dem ersten Schwung „Tausender" an das Institut für Elektro-Mechanik (GÈMIKS) kommandiert. Im Institut war er Mitglied des Büros des Parteikollektivs, Vorsitzender des Gewerkschaftskomitees. Er studierte das Fachgebiet der Elektro-Montage. (...)

betonte die „Freiwilligkeit" der „kollektivwirtschaftlichen Bewegung" und: „Man kann nicht mit Gewalt Kollektivwirtschaft schaffen. Das wäre dumm und reaktionär." Stalin, J.W.: Werke, Bd. 12, Berlin 1954, S. 168-175. 202 Lavrenenko, 1. 7f. 203

Fitzpatrick, Education, S. 240.

180

Die Genese des

neuen

Ingenieurs

Genosse I. Zadoroznyj, Mitglied des Komsomol seit 1923, der VKP(b) seit 1926. Von 1920 bis 1922 diente er als Freiwilliger in der Roten Armee. Im Institut war er Propagandist, Mitglied des Gewerkschaftskomitees. Ingenieur für

Elektromaschinenbau."204

Das

(Aus)Bildungsprogramm war damit abgeschlossen:

„Ihre Biographien das sind die Biographien von proletarischen Revolutionädie, von der Partei in den aller schwersten Tagen des Oktobers und des wirtschaftlichen Aufbaus erprobt, heute zu Ingenieuren geworden sind."205 Vom Revolutionär direkt zum Ingenieur so verlief der ideale Lebensweg. Je nach Situation war diese Sorte Mensch universal einsetzbar: beim Sturz des Zaren, beim Kampf gegen die Weißen, beim Aufbau des sowjetischen Systems, bei der Kollektivierung der Landwirtschaft und nun bei der Industrialisierung. Um den Erfolg und den Unterschied zwischen dem alten Ingenieur und dem neuen Menschen noch besser hervorzuheben, wurden Frauenbiographien präsentiert. Zwar war der Idealtyp des Ingenieurs ein Mann, aber am Beispiel der Ingenieurin als doppelt unterdrücktem Wesen unter dem Zaren wirkten die Erfolge der Partei bei der Befreiung und Ausbildung der Arbeiterklasse doppelt so beeindruckend. Die Ingenieurin wurde zum Symbol für die neuen Chancen, das neue Leben und den neuen Menschen: „Die Biographie der Ljubov' Viktorovna das ist die Biographie unseres Landes, unserer Partei, widergespiegelt im Objektiv eines menschlichen Lebens. Wo es heute für die Partei, für die Arbeiterklasse am wichtigsten ist, dorthin geht Jablonskaja. Deshalb machte sie sich an die Front auf, nachdem ren,

-

-

-

sie als junges Mädchen 1919 in die Partei eingetreten war. In Gefangenschaft der Weißen geraten und von dort geflohen, stürzte sie sich erneut mit Feuereifer in die Parteiarbeit und Verteidigung des Landes. Das Ende des Bürgerkrieges kam, und die Partei reorganisierte ihre Reihen für die Arbeit an der Wirtschaftsfront. Jablonskaja arbeitet im Sowjet für Arbeit und Verteidigung. Die Partei schickt die besten Kommunisten zum Studieren Jablonskaja geht zum Studium an die MVTU und verläßt sie 1926 als Ingenieur."206 -

Za Za

industrializaciju, 24.6.1931. industrializaciju, 13.7.1931.

Inzenernyj trud, Nr. 3, 1934, S. 74.

IV.

Krisenmanager und Improvisationskünstler 1) Verteilung der Kader a)



In die Praxis!

"

Entsprechend der Zielsetzung, die Studenten möglichst direkt in den Produktionsstätten auszubilden, lautete auch für die Studienabgänger die Parole: „In die Praxis!" Der alte Ingenieur hatte vermeintlich in Ämtern ge-

ein „Schreibtischtäter" und Bürokrat gewesen. Der Ort des Ingenieurs war die Fabrik oder die Großbaustelle,1 fernab der alten Zivilisation, wie sie in Zeitschriften wie „Die USSR im Bau" in Bildreportagen beschrieben wurde: sessen,

war

neuen

„Magnitogorsk: Vetgebens wetdet ihr den Namen auch auf der detailliertesten Landkarte suchen. 617 Meter über dem Meeresspiegel werdet ihr dort nur den Berg Magnitnaja finden und am rechten Ufer eines Flüßchens das alte Kosakendorf Magnitnyj: Die Landkarten sind veraltet, die sozialistische Welt wächst sehr schnell."2 Ein weiteres Zentrum des ersten Fünfjahrplans und der Ingenieurstätigkeit lag am Dnjepr: ,JJneprostroj das ist der Mikrokosmus unseres gesamten Landes mit all seinen Besonderheiten und Widersprüchen. Das ist ein Tropfen, in dem sich die gesamten vielschichtigen Lebensprozesse der Union widerspiegeln."3 Daß die neuen Zentren des Landes nicht mehr Moskau oder Leningrad, sondern Dneprostroj, Kuzneckstroj oder Magnitostroj hießen, unterstreicht auch der Film „Enthusiasmus. Symphonie des Donbass" (Èntuzlazm. Simfonija Donbassa, 1930), der die Formung der Industrieregion im Donez-Becken zeigt. An die Stelle von Kirchen, Orgelmusik und betenden Frauen treten Eisenhütten, Kohlebergwerke und Komsomolclubs. Die Funken sprühen, das Feuer lodert, die Fabrik leuchtet in der finsteren Nacht, glühende Eisenbarren werden aus dem Martinsofen geholt, ge-

walzt und geformt.4 Dies war die neue Welt, in die der sowjetische Ingenieur gelockt werden sollte. Die wissenschaftliche Tätigkeit oder der Dienst in einer Verwaltung waren für ihn grundsätzlich tabu. Dieser neue 1 Vgl. auch Schlögel, Karl: Magnitogorsk die Pyramiden des 20. Jahrhunderts, in: ders.: Go East, oder Die zweite Entdeckung des Ostens, Berlin 1995, S. 169-184. 2 Die USSR im Bau, Moskau 1932, Nr. 1, ohne Seitenzahlen. 1 Gladkov, FedorV.: Pis'mo o Dneprostroe. Oéerki, Moskau 1931, S. 104. 4 Entuziasm. Simfonija Donbassa, Kiev 1930, Nachweis: Gosfil'mofond, Krasnogorsk. -

182

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Ingenieur wurde in der Öffentlichkeit wie z.B. besungen: „Er glaubt heiß und innig

an

das,

was er tut.

Er ist

der aus

Ingenieur Goncarenko den Tiefen der Erde

hervorgekommen und hat den Berg erklommen; in seiner Vergangenheit war er Untertagearbeiter. Während er langsam die Stufen der Leitung des Baus er-

klomm, hat er sich das Gefühl für das harte Gestein bewahrt, das man zerkleinem muß. (...) Goncarenko spricht über den Stillstand der Maschinen wie über eine Ohrfeige, er spürt die Magnitka wie sein eigenes Leben. (...) Solche Goncarenkos, die Magnitogorsk fühlen, die Magnitogorsk denken, die Magnitogorsk schaffen, öffnen den Sinn Magnitogorsks allen anderen, die sie umgeben, zu jeder Stunde und jeden Tag. Er ist Tag und Nacht auf dem Berg, weiß, wo sich was befindet, wer wie arbeitet und wozu fähig ist, wo man wen einsetzen muß, wie man aus der Maschine alles herausholt, was sie kann."5 Fedor Vasil'evic Gladkov (1883-1958) präsentierte den neuen Ingenieur

wie

folgt:

„An der Schwelle trafen wir den Bauleiter. Ich kenne ihn seit letztem Jahr.

(...) Er riecht nach Felsen, Erde sowie unablässiger Arbeit, und es scheint, daß er nicht weiß, was ein warmes, gemütliches Zimmer, ruhiger Schlaf und Er-

holung sind. Damals leitete er die Erdarbeiten bei der Aushebung des Kanals für die Schleuse, jetzt ist ihm die Sprengung der Felsen anvertraut. Über seine Arbeit redet er mit großem Genuß, wie ein Vielfraß übers Essen."6

Als arbeitssüchtig skizzierte M. Il'in (1895-1953) die planenden nieure: „Von früh bis spät brodelt die Arbeit im Projektierungsbüro. Tausende Ingenieure rechnen, zeichnen, rechnen. Architekten, Schiffsbauer, Bergwerkingenieure, Eisen- und Kohlenspezialisten, Ingenieure für Wasserwerke, Flugzeugkonstrukteure. 1929 machten sie die Berechnungen für 107 Betriebe, 1930 bereits für 170. (...) Ein Teil dieser Betriebe erzeugt Eisen. (...) Andere Betriebe liefern uns Traktoren, Autos, Eisenbahnwagen, Kombiner, Turbinen, Elektromotoren. (...) Alle Hauptgesetze der Physik und Chemie kann man in einem kleinen Notizbuch unterbringen. Aber mit Hilfe der Kenntnisse dieser Gesetze errichtet der Mensch riesige Bauten, zertrümmert er Felsen, stampft er

Inge-

Städte aus dem Boden."

Im Gegensatz zum alten Ingenieur, von dem angenommen wurde, er kümmere sich nur um sein privates Wohl, war der neue ITR ein Mann, der für die Arbeit lebte und für den Komfort ein Fremdwort sein sollte. Der Produktionsingenieur (proizvodstvennik) war das neue Leitbild für die Techniker, das überall propagiert wurde. Es wurde diskutiert, Ingenieure, die in einem Betrieb arbeiteten, durch eine bessere Bezahlung, eine bevorzugte Aufnahme ihrer Kinder an den Hochschulen und eine bessere Wohnraumversorgung zu privilegieren:8

Za 6

industrializaciju,

1.10.1930.

Gladkov, Pis'mo o Dneprostroe, S. 14. 7 Il'in, M.: Erzählung über den Großen Plan, Moskau 1930, S. 96f. 8 Inzenernyj trud, Nr. 4, 1930, S. 117.

Verteilung der Kader

183

„Jeder Ingenieur, jeder Techniker soll sehen, daß ihm nicht das Schreiben von Papieren, sondern die Produktion ein Maximum an Lebensfreude und moralischer Befriedigung gibt."9 Um die nach Fachleuten hungernden Baustellen und Fabriken mit Personal versorgen zu können, wurden Hochschulabgänger nicht nur umworben, sondern auch zwangsverschickt. Auf ihrem Juliplenum 1928 hatte die Partei beschlossen, neu ausgebildeten Ingenieuren ihre Arbeitsplatzwahl nicht mehr selbst zu überlassen, sondern sie streng nach Plan auf die Fabriken und Bauplätze über das ganze Land zu verteilen. Gleichzeitig verpflichteten die Bolschewiki die jungen Ingenieure und Ingenieurinnen: „(...) 2.) Jeder Absolvent ist für drei Jahre zu einer Arbeit in der Produktion entsprechend der Instruktion der Wirtschaftsorgane verpflichtet."10 Mit dem Erlaß Nr. 246 des Volkskommissariats für Arbeit vom 1. August 1929 wurde dem Obersten Volkswirtschaftsrat das Recht gegeben, die Verteilung der jungen Ingenieure und Ingenieurinnen zu übernehmen." Für diese Aufgabe wurden Verteilungsämter eingerichtet, die die technischen Fachkräfte „gerecht" den Betrieben, Fabriken und Baustellen zuweisen sollten, die einen nahezu unstillbaren Bedarf an Ingenieuren hatten.

Trotz der neuen Kampagne arbeiteten viele Ingenieure aber nicht dort, die Partei sie sehen wollte und die Wirtschaft sie brauchte. Im Herbst 1929 waren in Moskau nur 52 Prozent der ingenieur-technischen Kräfte in der Produktion beschäftigt, während die übrigen in Verwaltungen angestellt waren.12 „Warum sitzen die Ingenieure hinter den Schreibpulten? Der Platz des Ingewo

nieurs sind die vordersten Positionen in der Produktion!"

titelte Za industrializaciju im Mai 1931 und befand über die jungen Spezialisten: „Es ist ein Verbrechen, sie in den Schreibkontoren festzuhalten."13 Unter „Die Verantwortungslosigkeit triumphiert" meldete sie, daß einige Unternehmen sich einen „Vorrat" an Ingenieuren anlegten, die sie zwängen, im Archiv oder im Büro zu arbeiten. 200 Ingenieure vegetierten in solchen Parkpositionen.'" „Die Leute wurden für den Magnitostroj ausgebildet, aber sie landen in fertigen Fabriken!", zeterte das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie. Dramatisch wurde die Lage im Kusbass eingeschätzt, wo nur 25 bis 30 Prozent der benötigten Kräfte zur Verfügung stünden.15 Organisationen eigneten sich Kader an, die ihnen -

9

Inzenernyj trud, Nr. 12, 1929, S. 353f KPSS v rezoljuciach i resenijach, S. 404. 11 10

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 8, d. 67,1. 6. trud, Nr. 17, 1929, S. 497. Inzenernyj 13 Za industrializaciju, 8.5.1931; 29.6.1931. 14 Za industrializaciju, 17.7.1931. 15 Za industrializaciju, 29.11.1931. 12

184

Krisenmanager und Improvisationskünstler

gar nicht zustanden; Hochschulabsolventen, die vom Volkswirtschaftsrat auf die Magnitka verfügt wurden, weigerten sich, dorthin zu fahren. Studenten des Leningrader Bautechnikums, die dorthin entsandt worden waren, seien plötzlich „krank" geworden und in Leningrad geblieben.16 Viele frisch gebackene Ingenieure versuchten, ihrer Verschickung zu entgehen, da sie nicht an das „Abenteuer Baustelle" glaubten und die Aufbauarbeit sie nicht begeisterte. Sie wollten sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Tausende von Kilometern von ihren Freunden, einem Theater und einem warmen Bett entfernt arbeiten zu müssen. Nach fünf Jahren Studium fiel es vielen jungen Spezialisten schwer, die Metropolen, die Symbol für ihr neues Leben geworden waren, wieder zu verlassen und in die Provinz, aus der sie gekommen waren, zurückzukehren. Um durchzusetzen, daß die Hochschulabsolventen ihre Stellen im Ural oder in Sibirien tatsächlich antraten, griff die zentrale Verteilungsstelle für Kader in Zusammenarbeit mit den Instituten zu drastischen Mitteln: Den jungen Ingenieuren und Ingenieurinnen wurden die Diplomurkunden nicht mehr ausgehändigt, sondern an den künftigen Arbeitsplatz vorausgeschickt. Wer seine Stelle nicht antrat, blieb folglich ohne Diplom.17 Auch die „mobilisierten" älteren Ingenieure, die verpflichtet wurden, auf einem der Hauptschauplätze der ersten Fünfjahrpläne beim Aufbau eines neuen Kombinats oder der Inbetriebnahme einer neuen Fabrik zu helfen, empfanden ihre Abkommandierung oft als Verbannung. Der Direktor von Kuzneckstroj, Sergej Mironovic Frankfurt, berichtet über die auf seine Baustelle verschickten Ingenieure: „In Moskau, Leningrad und Char'kov bewerteten sie ihre .freiwillig erzwungene' Abreise nach Sibirien auf den Kuzneckstroj fast wie eine Verban-

nung."18

Der Ingenieur Boris Osipovic Losak (* 1900) berichtet, Krzizanovskij habe ihm anvertraut: „Da draußen gibt es eine Menge mobilisierter Ingenieure, die aus den verschiedensten Gründen alle nicht ins Donbass fahren wollen, aber ich sage allen, daß sie fahren müssen."19 N.M. Vlasenko, der selbst auf die Magnitka fuhr, erzählt von seinen Eindrücken in der Personalabteilung: „Interessante Bilder konnte man bei Oststahl beobachten, wo die abkommandierten, meist alten Ingenieure, manchmal mit ihren Frauen, mit Tränen in den Augen flehten, sie nicht auf den Magnitostroj oder Kuzneckstroj tm schicken, wobei sie sich auf Hunderte von Bescheinigungen und objektive Gründe beriefen. Einige wurden befreit, aber die Mehrzahl fuhr nach einem tränenrei16

industrializaciju, 2.4.1931. Bogdan, Studenty, S. 225. 18 Za

17

Frankfurt, Rozdenie, S. 28. RGAÈ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej ènergetiki, op. 1, d. 387: Losak, Boris Osipovic: .: Vospominanija o rabote na Dubrovskoj GRÉS. Moi vospominanija, 1. 2f. 19

185

Verteilung der Kader chen Abschied von der Familie und dem Komfort zitternden Herzens in die Verbannung, wie es einige laut aussprachen."

Tatsächlich war die Situation in der Provinz oft so menschenunwürdig, daß selbst Enthusiasten ihre Zweifel bekamen. Auf einer Großbaustelle, die weit entfernt von der bisherigen Zivilisation entstand, die aus der Steppe, dem Schlamm oder Eis gestampft wurde, mußten Ingenieure froh sein, wenn sie in einer Sammelunterkunft ein Bett fanden. Die hygienischen Umstände waren oft verheerend, eine ausreichende Ernährung gab es selten, an kulturelle Einrichtungen war gar nicht zu denken. Es gab den Bauplatz, ringsherum Wildnis, und sonst nichts. Vlasenko schreibt, daß er sehr „ungenaue Vorstellungen" vom Magnitostroj hatte, er aber angenommen hatte, daß ,J\4agnitka eine große, alte Stadt" sei. Dementsprechend groß war sein Entsetzen, als er bei seiner Ankunft feststellen mußte, daß als Bahnhof ein ausrangierter Waggon diente und die „Stadt" aus einigen Baracken, sonst aber hauptsächlich aus Zelten und Erdhöhlen bestand: „Vier Monate lang waren die Lebensbedingungen unerträglich. Besonders verärgert waren alle über die Wanzen. (...) Es fehlten Matratzen und Laken, Kissenbezüge und Bettdecken; es gab fast kein Stroh, nur faules Heu. In der Nähe der Baracken gab es keine Toiletten, wenn es welche gab, dann mußte man mindestens einen Kilometet dorthin laufen."21 Der Ingenieur I.V. Komzin, der voller romantischer Vorstellungen mit seiner jungen Frau auf die Magnitka gefahren war, berichtet von seiner ernüchternden Ankunft dort: „Ich wußte, daß diese Minute nicht süß sein würde. Nach der gemütlichen Moskauer Wohnung sich in einem Zelt wiederzufinden, wo sich an Stelle des Parketts nur Erde ausbreitet und es statt der großen sonnendurchfluteten Fenda kommt keine allzu große Freude ster nur ein trübes Plastikfenster gibt auf."22 In den Medien waren solche negativen Berichte über die Baustellen tabu. Allein in einer der wenigen Notizen über die Zustände auf den Baustellen bestätigte Za industrializaciju im Dezember 1930, daß das Leben in der Provinz z.T. unzumutbar sei. Die Verhältnisse im Kusbass setzte sie mit dem Leben auf dem Planeten Mars gleich: -

„Der Mars ist ein unwirtlicher Ort. Die meisten leben in Erdhöhlen, die

unter

Wasser stehen. Dort leben auch Frauen und Kinder. Sauberes Trinkwasser und Brennholz gibt es nicht, weil dafür keine Transportmittel bereit gestellt

werden."23

Auch die Inzenernyj trud geißelte 1929, in der Provinz sei die Bezahlung schlechter als in den Hauptstädten, die Versorgung mit adäquatem Wohnraum ein ständiges Problem, und die Pflichten, Rechte und Zuständig20

GARF, f. 7952, Istorija fabrik i zavodov, op. 5, d. 315,1. 41. GARF, f. 7952, Istorija fabrik i zavodov, op. 5, d. 315,1. 41. 22 Komzin, I.V.: Ja verju v mectu, Moskau 1973, S. 16. 21

23

Za

industrializaciju, 27.12.1930.

186

Krisenmanager und Improvisationskünstler

keiten der ITR meist nicht geregelt, was dazu führe, daß die Spezialisten schnell vors Gericht gezerrt würden; man überlade sie mit Aufgaben, gewähre ihnen aber keinen Urlaub und sorge sich nicht um die Ausbildung ihrer Kinder.24 Trotz dieser Erkenntnis wurden allgemein keine Gründe anerkannt, die Hochschulabgänger anführten, um nicht in die Provinz fahren zu müssen.25 Ingenieure, die sich weigerten, auf eine Baustelle zu fahren, wurden in der Presse attackiert und wegen ihres angeblichen Hochmuts verhöhnt. Sie seien sich für die Baustellen zu schade und meinten wohl, nur im Obersten Volkswirtschaftsrat arbeiten sowie ohne eigenen Lehrstuhl und ausländisches Automobil nicht leben zu können.26 Diese Kritik unterschied nicht mehr zwischen „alten" und Jungen" Ingenieuren, sondern griff beide Gruppen gleichermaßen an. Die Inzenernyj trud betonte, daß man die Augen nicht davor verschließen dürfe, daß sich unter den Kräften, die sich den „grandiosen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus" verweigerten, bereits einige der von der Kommunistischen Partei ausgewählten Arbeiterkinder befanden: „Das sind junge Beamte mit Schirmmützen (...), die ihre sechseinhalb Stunden absitzen und nicht wünschen, in die Produktion zu schnuppem." Man müsse nur durch Leningrad oder Moskau spazieren, schon sähe man „in all den unzähligen .technischen', ,Konstruktions-', .Architektur-', Flämings-' und .Budgetierungs-'Büros und Abteilungen Hunderte von jungen Gecken, die wichtigtuerisch vor ihren Zeichentischen thronen und im besten Fall mit unnützen Rechnungen und Kostenvoranschlägen, im schlechtesten Fall mit dem Kopieren von Zeichnungen beschäftigt sind. Das sind keine Zeichner. Das sind junge Ingenieure, denen es gelungen ist, in der Hauptstadt einen .Arbeitsplatz' zu finden."27 Im Oktober 1929 kündigte das Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrat dem Gewerkschaftsbüro der Ingenieurssektionen an, daß die Verweigerungshaltung unter den jungen Ingenieuren in Leningrad und Moskau nicht mehr hingenommen werden könne und ein Schauprozeß zur Abschreckung durchgeführt werden müsse. Der „heftige Widerstand" gegen die Verschickung in die Provinz sei zu einer „Massenerscheinung" geworden, die die Industrialisierungspläne für die Regionen außerhalb der Zentren gefährde.28 Im Rahmen dieser Debatte und

Kampagne über die Bestimmung des Ingenieurs entwickelten sich zwei parallele Diskurse, von denen der eine den Ingenieur zum Opfer, der andere ihn zum Täter machte. Ersterer wurde u.a. unter der Parole „Den Ingenieur richtig einsetzen" (Pravil 'no is24

Inzenernyj trud, Nr. Inzenernyj trud, Nr. 26 Inzenernyj trud, Nr. 27 Inzenernyj trud, Nr.

19, 15.10.1929, S. 573. 14, 30.7.1929, S. 41 lf. 16, 30.8.1929, S. 488. 14, 30.7.1929, S. 411. 28 RGAÉ, f. 5548, VMBIT, op. 8, d. 67,1. 6. 25

187

Verteilung der Kader

polzovat Inzenera) geführt und machte der Industrie zum Vorwurf, sich nicht genügend um das Wohl der jungen Ingenieure zu kümmern bzw. diese zu Arbeiten zu zwingen, für die sie nicht ausgebildet worden seien. Letzterer wurde unter dem Stichwort „Raffgier" (rvacestvo) und „Fahnenflucht" (dezertirstvo) geführt. Als „Deserteur" und „Produktionsdesorganisator" galt, wer einen Betrieb eigenmächtig verließ; ein Raffke war, wer mehr Lohn, Sonder-Essensrationen, mehr Wohnraum, weniger Arbeitszeit oder Entbindung von der Gesellschaftsarbeit forderte bzw. solche materiellen Faktoren als Kündigungsgrund nannten. Zu diesen Paralleldiskursen gehörte auch das Begriffspaar „Selbstrekrutierung" (samotek) „Fluktuation" (tekucest'): Ersterer beschrieb die in der Planwirtschaft unerwünschte selbständige Arbeitssuche von Ingenieuren und prangerte damit die Spezialisten an. Letzterer richtete sich gegen die Betriebe, in denen Ingenieure Arbeits- und Lebensverhältnisse vorfanden, die ihnen keine '

-

andere Wahl ließen, als einen Betrieb wieder zu verlassen. Die Fluktuation blieb in den gesamten dreißiger Jahren ein permanentes Problem: Sie lag 1929 in der Ukraine und im Ural zwischen 25 und 70 Prozent, in Moskau zwischen 18 und 40 Prozent.29 1935 verließen das Kombinat „Zaporozstahl" 58 Prozent der Kader; im Durchschnitt blieben nur die Hälfte der neu angeworbenen Kräfte länger als drei Monaten im Betrieb.30 Die Hauptverwaltung der Fischindustrie in Primor'e bekam 1937 keine neuen Kader, weil dort niemand bereit war, ihnen annehmbare Arbeitsverhältnisse zu schaffen,31 und auch im Donbass war die Fluktuation nach wie vor groß, weil Ingenieure keine Wohnungen bekamen.32 Alle Meldungen stimmten überein, daß sich die Fabrikleitungen und Ingenieursorganisationen vor Ort zu wenig um das Wohlergehen der Ingenieure kümmerten.33 Die Presse klagte die örtlichen Fabrik-, Partei- und Gewerkschaftsleitungen an, sie hätten durch ihre Untätigkeit die immense Fluktuation zu verantworten. Daß die Kramatorskij-Fabrik 1933 157 Fachkräfte verließen, war die „Folge der vollkommen unzureichenden Arbeit der Organisationen vor Ort hinsichtlich der Verbesserung der materiellen Lebens- und Wohnungsbedingungen der ITR."34 Neben der Anklage, Betriebe kümmerten sich nicht um ihr Personal, gab es einen weiteren Vorwurf gegen die Firmen: Fabriken und Baustellen hielten Ingenieure widerrechtlich fest.35 Ein Ingenieur für Wärmetechnik

berichtete, während Spezialisten seiner Fachrichtung

29Inzenernyjtrud,Nr. 30

19, 15.10.1929, S. 573. Za industrializaciju, 29.6.1935. Vestnik inzenerov i technikov, August 1937, S. 506. 32 Za industrializaciju, 10.3.1937. 33 Za industrializaciju, 29.6.1935. 34 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 3,1. 44ff. 35 Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1933, S. 250. 31

im Land

gerade

188

Krisenmanager und Improvisationskünstler

dringend gebraucht würden, sei er für Büroarbeit und Statistik abgeordnet worden und warte seit sieben Monaten vergeblich auf eine Antwort aus dem Obersten Volkswirtschaftsrat:

„Ich erkläre, daß ich nach Wladiwostok, auf den Magnitostroj oder in ein anderes Unternehmen am Rande des Landes fahren möchte, dorthin, wo sich die Front befindet, wo jeder Ingenieur mit voller Auslastung arbeitet."36 Die Za industrializaciju veröffentlichte 1931 das Tagebuch eines jungen Architekten, der durch die ganze Union von Fabrik zu Fabrik geschickt worden war, ohne daß eine für ihn Verwendung gehabt hätte. Drei Monate lang dauerte seine Irrfahrt, die in Chabarovsk in einer Schreibstube endete, in der er Tabellen zusammenstellte und einen Hilferuf nach Moskau sandte, man möge ihm endlich eine Arbeit als Architekt geben.37 „Es reicht nicht, die Ingenieure auszubilden, man muß sie auch auf ihrem

Fachgebiet arbeiten lassen!"38 polterte die Presse. Schließlich gab es eine dritte Art, den Betrieben Vorhaltungen zu machen: Sie würden die Ingenieurinnen nicht richtig einsetzen. Frauen wurden typischerweise den Labors und der Verwaltung zugewiesen, weil man sie für die Produktionsarbeit für ungeeignet hielt. 39 Die Arbeit in den Werk- und Maschinenhallen blieb Männern vorbehalten. Die Moskauer Fabrik „Hammer und Sichel" beschäftigte von 17 Ingenieurinnen nur vier in der Produktion.40 1930 waren zwar über 45 Prozent aller leitenden Positionen in Labors und wissenschaftlichen Einrichtungen von Frauen besetzt gewesen, ihr Anteil in der direkten Produktion war dagegen nur von 1,9 Prozent 1930 auf 4,2 Prozent 1933 gestiegen.41 Die Inzenernyj trud klagte, entsprechend dem alten Sprichwort, „Das Huhn ist kein Vogel, und die Frau ist kein Mensch", würden Ingenieurinnen immer noch als schwaches Geschlecht, aber nicht als technische Fachleute angesehen.42 Die Gewerkschaft bestand aber darauf: „Die Frau in der Produktion ist eine enorme Kraft, deren Licht Scheffel zu stellen, ein Verbrechen wäre."43

unter

den

Um diesen „verbrecherischen Akt" zu ahnden, erwog sie, einen Prozeß zu inszenieren, der vielen „den Kopf an die richtige Stelle rücken" und die Frauen „moralisch und psychologisch" stärken würde.44 Die Presse for-

36

38

Za Za Za Za

industrializaciju, 8.5.1931. industrializaciju, 29.6.1931. industrializaciju, 14.5.1931. industrializaciju, 8.3.1935.

40Inzenernyjtrud,Nr. 10, 10.5.1931, S. 241. 41

Inzenernyj trud, Nr. 3, März 1934, S. 72. Inzenernyj trud, Nr. 2, 31.1.1930, S. 36. 43 Inzenernyj trud, Nr. 3, März 1933, S. 77. 42

44Inzenernyjtrud,Nr.

1, 15.1.1930, S. 36.

189

Verteilung der Kader

derte immer wieder: „Frauen auf die Kommandoposten".45 Trotzdem nahm die Diskriminierung nicht ab. „Solange ich lebe, kommen Sie mir nicht in die Produktion",46 mußten sich Ingenieurinnen immer wieder von Direktoren sagen lassen. Sie blieben in der Minderzahl, wurden immer von ihren männlichen Kollegen beargwöhnt und von den Vorgesetzen strenger gemaßregelt. Es gab Fälle, in denen sich Bergleute weigerten, mit Frauen in die Grube einzufahren, weil sie glaubten, Frauen im Schacht würden Unglück bringen.47 Die Baustellenspezialistin Ivanova berichtete, auf den Moskauer Baustellen gebe es insgesamt nur zwei Frauen, den Metrostroj ausgenommen.48 Die Ingenieurin Fipokova wurde zweieinhalb Jahre lang daran gehindert, in ihrem Beruf zu arbeiten, obwohl Kräfte ihrer Fachrichtung im gleichen Betrieb gebraucht wurden.49 Die Bauleitung von Kuzneckstroj verbot der Hochofeningenieurin Aleksandra Sidorenko ausdrücklich, die Hochofenzeche auch nur zu betreten. Anderthalb Jahre lang mußte sie als Hilfsarbeiterin und Fremdenführerin auf dem Bauplatz arbeiten, bis Frankfurt als neuer Chef der jungen Ingenieurin endlich den ihren Fähigkeiten entsprechenden Posten am Hochofen zuwies.50 Entsprechend der Diskriminierung am Arbeitsplatz erhielten Ingenieurinnen auch weiterhin weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen.51 Angesichts der zahlreichen Benachteiligungen, konstatierte die Inzenernyj trud, würden nur die „ausdauerndsten und in ihr Metier vernarrten" Frauen die Arbeit in der Produktion aushalten.52 Erst im März 1934 erließ das Präsidium des VMBIT schließlich einen frauenfördernden

Maßnahmenkatalog.53

Obwohl all diese Mißstände immer wieder öffentlich angeprangert es für Ingenieure und Ingenieurinnen ein Risiko, sich auf die schlechte Situation am Arbeitsplatz zu berufen, um diesen zu verlassen. Ingenieure, die ihre Arbeit zu wechseln wünschten, wandelten auf einem schmalen Grat zwischen der Gefahr, als Deserteur angeklagt, aus allen Organisationen ausgeschlossen zu werden und ihr Diplom zu verlieren, und der Chance, daß ihre Klagen hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsumstände anerkannt würden. Es war reine Willkür, ob ihr Fall als Versagen der Fabrik oder unter der Kategorie „Fahnenflucht" und „Raff-

wurden, blieb

45

Inzenernyj trud, Nr. 4, 28.2.1931, S. 79; Nr. 3, März 1935, S. 68; Za 8.3.1935. 46 Za industrializaciju, 8.3.1935. 47 Inzenernyj trud, Nr. 2, 31.1.1930, S. 36. 48 Za industrializaciju, 8.3.1935. 49 Inzenernyj trud, Nr. 27, 30.9.1932, S. 620. 50 Smolenskij, M.: Aleksandra Sidorenko, S. 41 ff., in: Zensciny na frontach sbornik, Leningrad Moskau 1932, S. 41-45. turno-chudozestvennyj 51 Za industrializaciju, 8.3.1935; 2.4.1936. 52 Inzenernyj trud, Nr. 2, 31.1.1930, S. 37. 53 Inzenernyj trud, Nr. 3, März 1934, S. 73. -

industrializaciju,

pjatiletki.

Litera-

190

Krisenmanager und Improvisationskünstler

behandelt wurde. Im Zweifelsfall entschieden die Büros der Ingenieurssektionen darüber, ob der Ingenieur ein „Deserteur" war oder aus gutem Grund die Fabrik verlassen hatte. Im September 1932 wurde der Fall der Ingenieure Krasinskij, Rozenblat und Gaaze verhandelt und entschieden, daß sie sich beim Verlassen der Baustelle keineswegs zu Recht auf die von ihnen angeführten Wohnungsprobleme hätten berufen können. Tatsächlich würde der Ingenieur Rozenblat eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad bewohnen. Krasinskij sei „abgehauen", weil er „Schwierigkeiten" auf der Arbeit befürchtet habe, Rozenblat habe die Fabrik verlassen, weil er nicht acht Stunden am Tag arbeiten wollte, und Gaaze sei als „raffgierig" bekannt. Der betroffene Baustellenabschnitt stehe nun ganz ohne Fachleute dar. Alle drei wurden wegen „Raffgier" und „Desorganisation" der Arbeit aus der Gewerkschaft ausgeschlossen und ihre Fälle zur Veröffentlichung an die Presse weitergeleitet.54 Tatsächlich wurden „Deserteure" namentlich in der Öffentlichkeit angeprangert. Unter der Losung „Säubern wir die ITS von den Egoisten und Ewiggestrigen" stellte das Organ des VMBIT „Das Gesicht der KohleDeserteure Mezencev und Gavriljuk" vor. Die Weigerung Mezencevs, als stellvertretender Chefingenieur zu arbeiten, und das unerlaubte Verlassen des Ceremechovo-Gebiets durch Gavriljuk wurden als „direkte Sabotage" gewertet. Beide waren junge Ingenieure, die „Extra-Rationen" und kostenlose Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und Wärme gefordert hätten bzw. nicht bereit gewesen seien, sich in der Gesellschaftsarbeit zu engagieren oder Staatsanleihen für den Fünfjahrplan zu zeichnen. Sie wurden als „Produktionsdeserteure" entlassen, aus der Gewerkschaft ausgeschlossen und zusätzlich mit der Annullierung ihrer Ingenieursdiplome bestraft.55 Die Ingenieure paßten sich an die neuen Konditionen langsam an und lernten, welche Kündigungsgründe akzeptiert wurden. Das veranlaßte Direktoren zu schimpfen, in den Papieren dieser Ingenieure stände, entlassen „auf eigenen Wunsch", „aus familiären Gründen", „wegen der Reorganisation der Produktion" oder „wegen dringend benötigtem Klimawechsels". Tatsächlich aber seien sie nicht wegen „familiärer Umstände", sondern aufgrund mangelnder Planerfüllung freigesetzt worden, der „eigene Wunsch" entpuppe sich als Parteisäuberung, der eines „Klimawech-

gier"

sels

Bedürftige" sei ein Trinker, usw.:

„So bekommen wir lauter Nichtsnutze, die degradiert, fernt oder vor ein Gericht gestellt gehörten."56

54

55 56

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 12, d. 28,1. Iff. Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1933, S. 250.

Za

industrializaciju, 26.6.1935.

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Abb. 11:

Stellenanzeigen ßr Ingenieure aus der Inzenernyj trud, wie sie regelmäßig bis sich das Gewerkschaftsblatt im Oktober 1930 im Kampf gegen die hohe Fluktuation selbst verpflichtete, keine offenen Stellen mehr zu annoncieren. abgedruckt wurden,

Obwohl die begehrten Kräfte seit 1928 zentral vom VSNCh verteilt werden sollten, existierte bis zu Beginn der dreißiger Jahre mit diesen Stellenanzeigen eine Art „freier

Arbeitsmarkt". Oben links: „Das Tasau-Kreisexekutivkomitee der Turkmenischen Sozialistischen Sowjetrepublik sucht: zwei Bau-Ingenieure für den Posten des Kreisingenieurs und den des Arbeitsleiters sowie sieben Bau-Techniker. Wir zahlen Umzugs- und Reisegelder. Arbeitsbedingungen gemäß Vereinbarung. (...)" Oben rechts: „Die Bauabteilung der Nord-Eisenbahnen sucht: erfahrene Ingenieure und Techniker ßr die Projektie-

Ausführung von Bauarbeiten, außerdem Ingenieure ßr die Projektierung und Ausführung von Maschinenanlagen. (...)" Unten links: „Das Forschungs- und Versuchslabor von GLAVDORTRANS (Hauptverwaltung ßr Straßenverkehr) der RSFSR bietet feste Stellen für Ingenieure (...). Unten rechts: „Der Trust der SilikatIndustrie MOSNCh „MOSSIL'TREST" sucht: einen Ingenieur ßr Mechanik, einen Technologen, einen Ingenieur ßr Wärmetechnik. Bezahlung gemäß Vereinbarung. (...)" Quelle: Inzenernyj trud, Nr. 1, ¡5.1.1930. rung und

"

192

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Um das unkontrollierte Verlassen von Arbeitsstellen und Eigenbewerbungen zu unterbinden, wurde schließlich die Praxis verteufelt, daß viele sowjetische Truste und Unternehmen in der Inzenernyj trud und Za industrializaciju ihre offenen Stellen inserierten, so daß es lange Zeit neben dem zentralisierten Arbeitsmarkt weiterhin noch eine Art freien Arbeitsmarkt gab. Im Oktober 1930 mahnte das Gewerkschaftsblatt: „Beenden wir die Unterstützung für Deserteure und Habgierige!" Gemeinsam mit der Za industrializaciju und dem Vestnik inzenerov i technikov verpflichtete sich das Organ des VMBIT, künftig keine Stellenanzeigen mehr abzudrucken, „weil solche Anzeigen den Kampf für den richtigen Einsatz der technischen Kräfte zunichte machen, sogenannte „Dauerwechsler" hervorbringen, die ihre Arbeitsstellen auf der Suche nach mehr Lohn verlassen, weil sie die Raffgier fordern und zum häufigen Arbeitswechsel verleiten."57 Trotz dieser Selbstverpflichtung und obwohl die Inzenernyj trud sich selbst der „Desorganisation der Planung bei der Verteilung eines solch defizitären Menschenmaterials" bezichtigte, druckte sie noch bis 1931, wenn auch nur noch vereinzelt, Stellenanzeigen ab. Der neue Ingenieur war der Produktionsingenieur, der auf einer der Großbaustellen eingesetzt war, keine Ansprüche an die Lebensverhältnisse stellte, ganz für die Arbeit lebte und in ihr aufging. Aber mit dem Helden des jungen Produktionsingenieurs wurde gleichzeitig als neues Feindbild der „Produktionsdesorganisator" installiert und so ein Doppeldiskurs etabliert. Dabei wurde das alte Klischee des nur auf sein eigenes Wohl bedachten kapitalistischen Ingenieurs auf den neuen übertragen. Der junge Ingenieur befand sich nun in dem Dilemma, daß ihm einerseits die besten Arbeitsumstände versprochen waren, er andererseits aber keine Möglichkeit hatte, diese einzufordern. Er balancierte auf der schmalen Linie zwischen Heldentum und Ausstoß aus der Gemeinschaft. Die Ambivalenz des Diskurses bewirkte, daß eine eindeutige Interpretation der Verhältnisse nahezu unmöglich war. Das barg für Ingenieure eine permanente Unsicherheit sowie für die Parteiführung die Möglichkeit, sich immer auf den Standpunkt zu berufen, sie tue alles für ihre Ingenieure. Das Thema des Dabeiseins oder Ausgeschlossen-Werdens, des Enthusiasmus' versus Fahnenflucht wurde auch in dem Film „Komsomol'sk"

dargestellt. Regisseur Sergej Gerasimov zeigte plakativ, daß es massenhaft „Deserteure" gab: Das Schiff an der Landestelle birst fast vor Leuten, die die Baustelle verlassen wollen. Protagonist ist der junge Ingenieur Volodja Solov'ev, der auf dem Bauplatz mitten in der Wildnis in einer feuchten Erdhöhle haust und mit sich und dem Leben hadert:

57

Inzenernyj trud, Nr. 19-20, Oktober 1930, S. 613.

Verteilung der Kader

193

„Ich will eine richtige Arbeit und ein menschliches Leben. Ich will nicht weiter

in der Erde leben. Alle denken so."58

und bleibt. Die Partei belohnt ihn, indem sie ihn zum neuen Technischen Direktor der Baustelle ernennt. Am Ende des Films finden sich Volodja, seine junge Frau Natasa und ihr Neugeborenes in einem sonnendurchfluteten Haus in der prächtigen Hafenstadt Komsomol'sk wieder. Volodja wird als Identifikationsfigur angeboten: Zusammen mit ihm leidet der Zuschauer in der Höhle, bekämpft schließlich seine Zweifel und schämt sich für die Gedankenverirrung. „Komsomol'sk" propagierte und rechtfertigte, daß der Weg zu einem kultivierten Leben im Sozialismus nur durch die Strapazen und Entbehrungen einer Provinzbaustelle führen konnte, daß der wahre sowjetische Ingenieur durch diese „Feuertaufe" gehen mußte, um am Ende im neuen sowjetischen Leben anzukommen.

Volodja kämpft mit sich

-

b) Produktionsingenieurrinnen Die in dieser Arbeit vorgestellten Ingenieure und Ingenieurinnen ließen sich fast ausnahmslos von der Begeisterung für die praktische Arbeit anstecken. Niemand beklagt die Umstände, unter denen er seine Arbeit beginnen mußte, oder gibt sich als „Deserteur" zu erkennen. Vielmehr waren sich die Ingenieure aus der alten Intelligenzija mit denen aus der Arbeiterschaft einig, daß sie keine Kathedergelehrten sein wollten. Das Ideal vom Produktionsingenieur hatten sie längst verinnerlicht; es war zum gesellschaftlichen Konsens geworden. Die kommunistische Ingenieurin Elena Alekseevna Dzaparidze (*1907), die auf Magnitogorsk arbeitete, schrieb: „Unmittelbar auf eine Baustelle fahren und mit den eigenen Händen eine Fabrik bauen davon träumte die Jugend."59 Und die bürgerliche Ingenieurin und Lebensgefährtin Isaak Babel's, Antonina Piraskova (* 1909), bestätigte: „Alle dachten natürlich, daß ich einmal auf die Universität gehen und Mathe-

matik studieren würde. Aber mich hat eine solch reine Schreibtischarbeit abgeschreckt. Irgendwie war mein Charakter dafür zu lebendig. Ja, und dann gab es damals im Lande auch so eine Welle der Begeisterung, alle redeten von den Großbaustellen, es galt sozusagen als etwas Erhabenes, zu den ,Erbauern' zu

58

gehören."60

Komsomol'sk, Lenfil'm Leningrad 1938, Regie: S. Gerasimov, Nachweis: als Video in mei-

nem

Besitz.

59

Dzaparidze, E.: Etich let nel'zja zabyt', S. 82, in: Govorjat stroiteli socializma. Vospominaucastnikov socialisticeskogo stroitel'stva v SSSR, Moskau 1959, S. 81-93. nija 60 Kemeck, Barbara: Antonina Piroschkowa, Erbauerin der Sowjetunion: „Ich liebe Farben und fürchte mich nicht vor

Grellem", S. 148, in: dies., Die starke Seite Rußlands, S. 140-158.

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Krisenmanager und Improvisationskünstler

Genau das drücken auch die Ingenieure Loginov, Pozdnjak und Jakovlev aus. Alle drei entschieden sich dezidiert gegen Verwaltung und Wissenschaft bzw. für die praktische Arbeit. Loginov war bitter enttäuscht, als ihn das Parteikomitee des Instituts für einen Posten in der Zentralen Kontrollkommission der Arbeiter- und Bauerninspektion (CKK RKI) vorschlug: „Mich bekümmerte der Gedanke, daß ich gleich in einem Apparat und nicht in der Industrie arbeiten sollte."61 Über einen Freund nahm er Kontakt zu dem Leiter des Trusts für Meßinstrumentenbau „Staatslaborausstattung",62 A.S. Nemov, auf, der ihn einstellte und damit dem Zugriff der RKI entzog. Im November 1929 begann Loginov in Moskau seine Ingenieurslaufbahn mit der Ausarbeitung der Kontrollzahlen für die Laborgeräteproduktion für den ersten Fünfjahrplan als Oberingenieur. Er arbeitete damit keineswegs direkt in der Praxis oder Produktion, zeigte sich aber sehr zufrieden damit, bei der Organisation und Entwicklung eines ganzen Industriezweiges mitzuwirken.63 Pozdnjak drückt noch deutlicher als Loginov aus, daß er die Vorstellung, Wissenschaft sei etwas Überflüssiges und Negatives, verinnerlicht hatte. Bereits nach Abschluß der Arbeiterfakultät war ihm bei der Institutswahl klar geworden: „Ich mußte mein Schicksal entscheiden. Die Leningrader Staatsuniversität war für mich abgehakt. Dort ging es in die Wissenschaft, das spürte ich. Aber ich wollte in die Produktion."64 Nach seinem Studienabschluß 1934 arbeitete er weiter als Ingenieur in der Moskauer Abteilung des Projektierungsbüros für Buntmetallfabriken (Giprocvetmet). Damit saß er zwar auch in einer Planungsbehörde, arbeitete aber direkt an neuen Fabrikprojekten, deren Baustellen er besuchte und kontrollierte. Auch Jakovlev konnte sich seine Ingenieurstätigkeit nur direkt bei den Flugzeugen vorstellen. Er war nicht einmal mit der ihm zugewiesenen Stelle im Konstruktionsbüro des Mensinskij-Flugzeugwerks in Moskau zufrieden, sondern kämpfte dafür, direkt in der Montage zu arbeiten: 61

Loginov, 1. 36. Die sowjetische Wirtschaft war in den zwanziger und dreißiger Jahren in staatlichen Trusten organisiert, die als Verwaltungseinheit mehrere Fabriken und Betriebe einer Branche zusammenfaßten. Die Truste unterstanden den glavki Hauptverwaltungen, die wiederum den Volkskommissariaten zugeordnet waren. Goslaborsnabzenie, der Trust zur Versorgung von Laboren mit Gerätschaften, war dem Volkskommissariat für Schwerindustrie angegliedert und verwaltete mehrere Firmen, die Tiegel, Meßgeräte u.a. herstellten. Nach einer Umstrukturierung 1931 Jahre hieß er „Allunionsvereinigung der Präzisionsindustrie" (Vsesojuznoe ob"edinenie tocnoj industrii, VOTI). Gleichzeitig wurden ihm auch Fabriken unterstellt, die Instrumente zur Ausstattung von Cockpits wie z.B. Autopiloten herstellten. Nach der Reorganisation der Wirtschaft 1938 wurde Loginovs Sparte dem Volkskommissariat für Rüstungsindustrie zugeordnet. 63 Loginov, 1. 37. 62

-

"Pozdnjak, 1.221.

Verteilung der Kader

195

„Ich wollte die Arbeit in den einzelnen Werkhallen, ihre Planung und Technologie kennenlernen, was für einen Konstrukteur unerläßlich ist."6

Jakovlev setzte schließlich durch, daß ihm ein Produktionsabschnitt unterstellt wurde. Er hatte seit seinem Abitur Flugzeuge gebaut und empfand das als seine eigentliche Bestimmung. Neben der regulären Tätigkeit im Werk begann er, eine eigene kleine, unabhängige Konstruktionsgruppe aufzubauen, die auch in ihrer Freizeit an Flugzeugen tüftelte und werkte.66 Während diese drei Ingenieure in Moskau blieben und die Arbeitsumstände einer Provinzbaustelle nicht kennenlernen mußten, sind Calych, Gajlit und Lavrenenko Techniker, die die „Feuertaufe" absolvierten und sich begeistert zeigten. Dabei ist Calych derjenige, der am kritischsten über diese Erfahrung berichtet, während der sonst eher zu distanzierten Urteilen neigende Lavrenenko sich ausschließlich enthusiastisch äußert. Calych ist einer der wenigen, der von der Zwangsverschickung erzählt und zunächst von den Verhältnissen entsetzt war. Er hatte anstatt des Diplom-Zeugnisses eine Bescheinigung darüber bekommen, daß er die Urkunde frühestens nach drei Jahre erhalten werde, damit er möglichst lange an seinem Arbeitsort bliebe.6' Nach seinem Institutsabschluß war er im Januar 1930 der Fabrik „Elektrokohle" in Kudinovo zugewiesen worden: „Außer einem Bett im Wohnheim hatte man mir dort nichts zu bieten."68 Die ersten vier Monate wurde er als Arbeiter im Kohlenwerk und Gehilfe eines Ingenieurs eingesetzt. Die Arbeit selbst war nicht schwer, die hygienischen Verhältnisse aber unerträglich: „Wir mußten mit Ruß arbeiten, der in alle Poren drang und sich nur schwer abwaschen ließ, so daß ich schon von weitem zu riechen war, so oft kam ich mit Teer in Berührung. (...) Ich arbeitete dort vier Monate und gebe zu, daß ich nur schwer ertrug, daß meine Professionalität so wenig gewürdigt wur-

de."69 Doch schon bald wurde er zum Werkhallenleiter ernannt. Rückblickend beteuert er, daß es für ihn als unerfahrenen Ingenieur, der zuvor nie in einer Fabrik gearbeitet hatte, gut gewesen sei, alle Arbeitsprozesse und die Atmosphäre unter den Arbeitern kennenzulernen. Grundsätzlich beurteilt er seine erste Arbeitszeit als Erfolg und gute Zeit: „Nirgends habe ich später mit einer solchen Hingabe und Leichtigkeit gearbeitet."70 Auch Gajlit begann seine Tätigkeit 1929 beim Bau der ersten sowjetischen Aluminiumfabriken am Volchov mit einfachen Aufgaben: Er und seine Studienfreunde mußten zunächst den Bauplatz vorbereiten und aus 65

Jakowljew, S. Jakowljew, S. 67 66

68

Calych, S. 24.

Calych, S. 25. Calych, S. 25. 70

69

Calych, S. 28.

70. 71.

196

Krisenmanager und Improvisationskünstler

den alten Fabrikgebäuden alte Werkbänke entfernen u.a. Diese Knochenarbeit beschreibt er mit viel Enthusiasmus. Wie Calych bekam auch er bald Ingenieursaufgaben übertragen. Gajlit war voll von Begeisterung: „Ich hatte das Glück, das erste sowjetische industrielle Aluminium gießen zu dürfen."71 Ein besonders überzeugter Praktiker war schließlich Lavrenenko, der ganz die Aversion gegen die verstaubte Wissenschaft verinnerlicht hatte. Als er für eine Promotion vorgeschlagen wurde, lehnte er entschieden ab: „Nein! Ein unwissender Mittler der in Hunderten von Büchern, in vielen Jah-

zusammengetragenen Vergangenheit sein? Das ist nicht meine Bestimmung. Für das Neue und Eigene! Man muß die modernste, vollkommenste, führende Technik kennenlernen."72 ren

Er erklärte sich

zwar

einverstanden, in einem seinem Institut angeschlos-

Forschungsinstitut

über die Stromversorgung der Industrie zu aranderem: Während seines Studiums hatte er ein Praktikum auf Dneprostroj absolviert und war so von diesem Ort der Ingenieurskunst in den Bann geschlagen, daß er danach am liebsten sein Studienfach gewechselt hätte, um wie der Chefingenieur Boris Evgen'evic Vedeneev und der Bauleiter Vinter Wasserbauer zu werden: „Wir waren begeistert von der Technik und dem Mut Vinters und Vedeneevs. Wir wollten alle so sein wie sie!"73 Sein Institut in Kiew beschäftigte sich dagegen mit dem Energiehaushalt Ukrainischer Zucker- und Lederfabriken, was ihm als zu unbedeutend und nicht als wirkliche Ingenieursherausforderung erschien. Als Mitte des Jahres 1932 eine Gruppe von Gesandten des Volkskommissariats für Schwerindustrie in ihr Institut kam, um Ingenieure für die Ural-Betriebe zu werben, „sagte ich, selbst etwas überrascht darüber: ,Ich bin ihr erster Kandidat!'"74 Ihn zog es mit aller Macht auf das Wärmekraftwerk des Chemiekombinats nach Berezniki ins Gebiet Perm' (auf dem Fedoseev und sein Vater gearbeitet hatten), dessen Montage gerade abgeschlossen wurde. Auf die Frage, ob er den Frost nicht fürchte, antwortete er: „Ich liebe ihn!"75 Lavrenenko liebte die Stadt Kiew, und der Abschied fiel ihm schwer, aber in dem Moment, wo in Berezniki die größten Dampfdruckbehälter Europas montiert wurden, mußte er dabei sein. Wenn er am Dnjepr keine Pioniertaten mehr leisten konnte, dann wollte er wenigstens hier einer der ersten sein. Gerade der eher kritisch berichtende Lavrenenko macht durch seine Schilderung deutlich, daß die Begeisterung für den Aufbau, das enthusiastische „Wir gehen! Schreiben Sie uns auf!" kein Klischee ist. senen

beiten, träumte aber von

71 72

Gajlit, 1. 8f.

Lavrenenko, 1. 3. Lavrenenko, 1. 6. 74 Lavrenenko, 1. 8. 75 Lavrenenko, 1. 9. 73

etwas

Verteilung der Kader

197

Auch Maliovanov folgte dem Ruf des Anwerbers, setze aber zunächst nach Studienabschluß 1935 seine Prioritäten anders und nahm eine Promotionsstelle an, um in der Nähe seiner Frau bleiben zu können, die ihm 1934 endlich das Ja-Wort gegeben hatte und noch studierte. Doch 1937 habe der Volkskommissar für Schwerindustrie, L.M. Kaganovic (18931991), sein Institut besucht und die angehenden Wissenschaftler aufgefordert, in die Praxis zu gehen: „Alle Kräfte müssen jetzt dafür eingesetzt werden, den Aufbau weiterzuführen. Das Land braucht Kohle und Ingenieure. Ihr seid jung; ich verstehe, daß es für Euch einfacher ist, Dozent zu werden, aber Ihr müßt verstehen und wie Patrioten handeln. Ich fordere Euch auf, in die Kohleindustrie zu gehen und 6 dort leitende Posten einzunehmen."

Maliovanov bewies einmal mehr seinen Pragmatismus. Es bereitete ihm ganz offenbar Freude, von der Partei gebraucht zu werden. Während einige seiner Kollegen ihre Abordnung in die Kohlengruben als „Verbannung" betrachteten, übernahm er gern die neuen verantwortungsvollen Aufgaben.77 Ähnlich wie Gajlit oder Calych fühlte auch er sich geehrt, an leitender Stelle eingesetzt zu werden. Er arbeitete zunächst im Trust „Donbasskohle" als Leiter der Produktions- und Verteilungsabteilung für die Zentralregion des Donbass und später als Manager des Kohlenkombinats „Rostowkohle" in der Belokalitijnskij Region. Rozanov ist der einzige von den hier vorgestellten Ingenieuren, der sich gar nicht für die Arbeit in der Praxis entflammen ließ. Als er 1938 die Universität abschloß und sich als Jahrgangsbester eins von mehreren Stellenangeboten aussuchen durfte, wählte er die Labortätigkeit und wurde Leiter des Zentrallabors für Korosionsschutz in der Saratower Mähdrescherfabrik, die zu diesem Zeitpunkt zum Flugzeugwerk umgebaut wurde.78 Wie die Männer waren auch die Ingenieurinnen von der Arbeit in der Praxis begeistert, hatten aber ganz andere Probleme, ihr Ziel durchzusetzen. Sie schildern die frauenspezifischen Probleme, über die auch die Zeitungen berichteten. Als Kozevnikova im Winter 1939/40 das Studium an der Luftwaffen-Akademie abschloß, bekam sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Moskauer Forschungsinstitut zugeteilt: „Die Abordnung verärgerte mich: Unbedingt wollte ich auf einen Flugplatz, zu den Flugzeugen. Während die Stellen verteilt wurden, fragte ich nach. .Frauen in den Flugzeugbetrieb? Ja, das ist unmöglich!', hörte ich in einem fort als Antwort. ,Warum?' fragte ich voll Schmerz. .Unmöglich!' sagten alle."79

Maliovanov, S. 2. Maliovanov, S. 3. Rozanov, S. 2. Kozevnikova, S. 54.

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Kozevnikova ließ nicht locker und erreichte schließlich, daß sie als Wartungs-Ingenieurin bei einer Jagdstaffel des 45. Regiments eingesetzt wurde. Ihre Arbeit in der Praxis verteidigte sie auch gegen einen Kollegen, der ihr vorhielt: „Du hättest doch ins Forschungsinstitut gehen können! Denk doch, was Du hier machst! Man sagt nicht umsonst, daß die Arbeit der Technikerbrigaden auf Flugplätzen darin besteht, Ersatzteile und ölige Lappen zu suchen."80 Doch für Kozevnikova war ihre Arbeit „vom Hauch der Poesie" umgeben.81 Auch Fedorova arbeitete mit Begeisterung und größter Selbstverständlichkeit in den Schächten des Metrobaus, in die sie auch nach Abschluß ihres Studium 1941 als Ingenieurin zurückkehrte. Sie erklärt dazu: „Frauen arbeiteten überall. Sie erkämpften sich das in dem Glauben, verpflichtet zu sein, alle Schwierigkeiten gleichermaßen mit den Männern zu teilen."82 Pionierin der Untertagearbeit im Caisson war die Metrobauingenieurin Son'ja Aleksandrovna Kienja (1912-1982), die sich wie Kozevnikova ihren Arbeitsplatz hart hatte erkämpfen müssen: „Unwohl ist mir in der Seele. Junge Frauen werden nicht in das Ort gelassen. Was soll ich tun? Stellen Sie sich meine Lage vor: Meine Arbeiter befinden sich unten, im Ort, und

ich, ihre Technikerin, bin oben. Ich leite die Arbeit per

Telephon. Das ist komisch und traurig zugleich. Und ich bin fest entschlossen, runter in das Ort zu gehen, zu den Caissonarbeitern. Die Ärzte haben gesagt, in der ganzen Welt gab es und wird es keine Frauen geben, die in der Druckkammer arbeiten. Nein, habe ich gesagt, es wird sie geben! Ganz egal, was bis jetzt auf der Erde war. (...) Ich habe mich durchgesetzt. Mit bangen Herzen haben mir die Ärzte eine Erlaubnis für zwei Wochen erteilt. Aber ich

geblieben."83 Bogdan gelagert. Sie wäre gern in der Wissenschaft geblieben, beanspruchte aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie diese drei kommunistischen Frauen ihren Platz als Ingenieurin in der Praxis und war aufgebracht, als sie merkte, daß sie von einem Professor nicht in dessen Werkstätten eingestellt wurde, weil dieser keine Frauen beschäftigen wollte. Nachdem Bogdan ein Jahr lang in Saratow am Institut gearbeitet hatte, war sie 1935 mit ihrem Mann und ihrer 1934 gebin dort bis

zum

Ende der Bauarbeiten

Etwas anders ist der Fall

borenen Tochter nach Rostow am Don gezogen, wo ihr Mann eine Stelle als Dozent bekommen hatte. Sie fand schließlich eine Anstellung als Leiterin der Abteilung für Ausschuß in einem Mähdrescher-Werk und wechselte 1936 in ein Mehl- und Nudelkombinat, in dem sie als Kon-

Kozevnikova, S. 61. Kozevnikova, S. 60. 2 Fedorova, Naverchu, S. 35. 3 Metrostroevec, 22.7.79.

"

Verteilung der Kader

199

strukteurin arbeitete und feststellte: „Ich liebte meine Konstruktionsarbeit."84 Auch Ivanenko bestand nicht auf einer praxisnahen Tätigkeit, ging aber selbstverständlich davon aus, daß Frauen jede Ingenieurstätigkeit ausüben konnten. Wie Bogdan arbeitete sie zeit ihres Lebens als Konstrukteurin. Sie fand 1931 über die Arbeitsbörse in Leningrad eine Anstellung bei dem Konstruktionsbüro für Lack- und Farbfabriken (Lakokrasproekt) und wechselte 1935 in das Leningrader Institut für Mathematik und Mechanik, in dem sie ebenfalls in der Konstruktionsabteilung tätig war. Ivanenko mußte um ihre Stellen nicht kämpfen, erhielt aber wesentlich weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen.85 Daß die praktische technische Arbeit sie nicht nur in ihren Bann schlug, sondern v.a. für regimekritische Ingenieure noch eine weitere Funktion hatte, findet sich am eindrücklichsten bei Fedoseev. Die Produktionsstätte war der Ort, an den er sich zurückzog, um von der Politik ungestört zu bleiben. Die Fabrik war das einzige, mit dem er sich identifizieren konnte; hier fand er Sinn und eine Aufgabe. Als er 1936 sein Studium beendete, begann er in der Leningrader Glühbirnenfabrik „Svetlana" zu arbeiten. Er stürzte sich mit Elan auf die ihm übertragenen Arbeiten und ließ sich ganz davon „verschlucken". „(...) meine Arbeit fesselte mich über alle Maßen."86 Diese Begeisterung half ihm, über vieles andere hin-

wegzusehen:

„Ganz gleich,

passierte, war ich damals mit meiner Arbeit vollkommen obwohl das Leben sehr schwer war, aber dieser Zustand setzte sich so bis zur Mitte des Jahres 1937 fort."87 was

zufriedengestellt, Die Technik

war das Refugium, in das sich Ingenieure wie Fedoseev und Bogdan zurückzogen; sie „emigrierten" quasi in die Technik. Der Vorteil dieser „Emigration" war, daß diese Art des „Rückzugs" nach außen wie eine besonders enthusiastische Unterstützung des sozialistischen Aufbaus und damit der Ziele der Sowjetmacht aussah. Die große Gefahr bestand darin, daß die engagierte und vorbildliche Arbeit durch zusätzliche Aufgaben „belohnt" wurde, die die Ingenieure zwang, sich in der Fabriköffentlichkeit zu präsentieren und Farbe zu bekennen. Bogdan galt in dem Mehl- und Nudelkombinat als vorbildliche Ingenieurin und wurde deshalb mit immer neuen Aufgaben betraut. Sie mußte Gesellschaftsarbeit leisten, die Kampagne zur Wahl für den Stadtsowjet von Rostow unter-

stützen und den Arbeiterinnen und Arbeitern ihres Werks die Stalinsche

Verfassung 84 85

erklären und

Bogdan, Mimikrija, S. 8f., 16, 47.

Ivanenko, S. 2. S. 57. Fedoseev, 87 Fedoseev, S. 58. 86

88

anpreisen.88

Bogdan, Mimikrija, S. 61 f.

Sie wurde 1939 stellvertretende

200

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Vorsitzende des Fabrikkomitees (FZK) der Gewerkschaft, 1941 Beauftragte für Sicherheitstechnik und nach Ausbruch des Krieges Chefingenieurin.89 Diese Karriere erscheint absurd, wenn man bedenkt, wie sehr Bogdan die Sowjetregierung und alle Kommunisten haßte. Aber als erstklassige Ingenieurin wurde sie für eine verläßliche und vertrauenswürdige Kommunistin gehalten.90 Ihre Beförderungen liefen Bogdans Interessen zuwider, denn ihre Leidenschaft war ihre Konstruktionsarbeit, und ihr Wunsch war es, diese ohne andere Verpflichtungen in Ruhe ausführen zu können. Ähnlich erging es Fedoseev, der Mitte 1937 zum Assistenten des Leiters des Zentrallabors für Radiotechnik ernannt wurde. Er hatte nun mehrere hundert Mitarbeiter unter sich und die Aufgabe, die Arbeit der verschiedenen Labore zu koordinieren, technische Berichte zu überprüfen und ähnliche Organisations- und Verwaltungsangelegenheiten zu erledigen. „Schon nach einem Monat verspürte ich die furchtbare Last und Leere meiner Beschäftigung. All meine Begeisterung war verschwunden, und ich fing an, auf die Arbeit wie ins

Straflager zu gehen."

'

Fedoseev sah sich wie Bogdan gezwungen, den Ort seiner Emigration zu verlassen und die Verpflichtungen höherer Verwaltungsaufgaben zu übernehmen, die ihm überhaupt nicht behagten. Diese neutralen oder antibolschewistischen Ingenieure hatten, auch wenn sie das nicht wahrhaben wollten, einen gemeinsamen Nenner mit der Sowjetregierung, der Technikbegeisterung hieß. Während kommunistische Ingenieure ihre Arbeit als Aufbauarbeit für die Sowjetunion empfanden, funktionierte die Produktionsarbeit für sie wie ein Refugium vor der Auseinandersetzung mit der politischen Umwelt. Die in den Medien verbreitete Begeisterung für die praktische Ingestieß bei der Großzahl der jungen Ingenieure und Ingenieurinnen auf große Resonanz und wurde zum Teil ihres Selbstverständnisses. Es gehörte fortan zur Berufsehre des sowjetischen Ingenieurs, ein Mann oder eine Frau der Praxis zu sein und sein bzw. ihr Metier von der Pike auf gelernt zu haben. An dieser Stelle verschmolzen die Arbeiterund Bürgerkinder zu einer einzigen sowjetischen technischen Intelligenz mit dem gleichen Ziel, Pionierarbeit zu leisten, ganz gleich, ob der eine es machte, um den Sozialismus aufzubauen, und die andere, um den Bolschewiki auszuweichen. Für sie hatte das Zeitalter der Technik und des

nieurstätigkeit

Ingenieurs begonnen.

89 90 91

Bogdan, Mimikrija, S. 197, 202, 271, 290. Bogdan, Mimikrija, S. 231 f. Fedoseev, S. 59.

Verteilung der Kader

201

c) Generationenkonflikt Diese Berufsanfánger strömten als neue technische Elite in die Fabriken. Sie hatten in Romanen gelesen und der Presse entnommen, daß alte Ingenieure im besten Fall inkompetent, im schlechtesten „Schädlinge" waren, und wurden nun am Arbeitsplatz mit Vertretern dieser älteren Generation konfrontiert. Dies geschah oft zu einem Zeitpunkt, als die alte Intelligenzija gerade rehabilitiert wurde. In seiner berühmten Rede „Neue Verhältnisse neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus" vom 23. Juni 1931 kündigte Stalin das Ende der Kulturrevolution und die Rehabilitierung der alten und parteilosen Ingenieure an. Er befand, daß es „dumm und unvernünftig" sei, „heute in beinahe jedem Spezialisten und Ingenieur der alten Schule einen noch nicht ertappten Schädling zu sehen" und machte allen zur Pflicht: „Das Verhalten zu den Ingenieuren und Technikern der alten Schule ändern, sie mit mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge umgeben, sie kühner zur Arbeit -

das ist die

heranziehen

Aufgabe."92

Stimmung in der Presse schlug in der Mitte des Jahres 1931 merklich zugunsten der Ingenieure um.93 Im Vordergrund standen nun Berichte, wie Ingenieure freigesprochen und „mit Adleraugen die Rechte der ehrenhaften Spezialisten behütet und verteidigt" wurden."94 Neue Anklagen gegen technisches Personal wurde nun als „deutliches Beispiel für die unglaubliche Mißachtung der Anweisungen des Genossen Stalin", „absolute politische Kurzsichtigkeit" und Untergrabung der „Autorität der ITR" verurteilt.95 Die alten Ingenieure wurden zu Beginn der dreißiger Jahre gebraucht, als sich viele neue sowjetische Ingenieure als schlecht ausgebildet erwiesen und gleichzeitig der Bedarf an gutem technischen Personal immer größer wurde, weil zunehmend mehr Fabriken in Betrieb genommen wurden. Molotov hob hervor: „Ohne diese alten hochqualifizierten Kadet kann bei uns momentan kein einziger Wirtschaftszweig auskommen."96 Damit wurde den alten Kadern wieder mehr Gewicht verliehen, und die jungen, von denen viele mit dem Feindbild des alten Ingenieurs groß geworden waren, sahen sich plötzlich aufgefordert, bei eben dieser älteren Generation zu lernen. Diese Konstellation barg ein großes Konfliktpotential in sich. Die Inzenernyj trud konstatierte, daß sich die beiden Gruppen oft „kühl" zueinander verhielten. Die alten sähen in den jungen sofort ihre Die

92 93

-

Stalin, Werke, Bd. 13, Berlin 1955, S. 65.

industrializaciju, 15.7.1931. industrializaciju, 10.8.1931. industrializaciju, 26.4.1932. 96 Inzenernyj trud, Nr. 34-36, 31.12.1932, S. Za 94 Za Za

796.

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Krisenmanager und Improvisationskünstler

Konkurrenz, während die jungen sehr „verschlossen" seien. Angeführt

wurde der Fall von elf jungen Ingenieuren, die die ihnen zugewiesene Fabrik verlassen hatten, nachdem die älteren Ingenieure sie nicht hatten arbeiten lassen. Einerseits hätten die alten Spezialisten ihre Autorität zerstört, so klagte ein junger Techniker, andererseits hätte ihnen niemand geholfen, wenn sie Hilfe gebraucht hätten.97 Weitere Hochschulabsolventen beschwerten sich, die alten Spezialisten würden den jungen nichts zutrauen, sie von verantwortungsvollen Aufgaben fernhalten und nicht mit ihnen kooperieren.98 Das Problem griff auch der Roman von Jakov Naumovic Il'in (1905-1932) „Das große Fließband" (Bol'soj konvejer, 1932) auf, in dem der junge Ingenieur Silov dem alten Ingenieur und ehemaligen „Schädling", Aleksandr Sergeevic Stavrovskij, nicht traut und argwöhnt, der alte könnte ihn, den jungen Bolschewiken, mit seinen Handlungen diskreditieren.99 Der Volkskommissar Ordjonikidze bestätigte, daß das Verhältnis zwischen den beiden Generationen schwierig sei. Er warnte die jungen Ingenieure davor, mit „erhobener Nase" herumzulaufen; sie hätten noch viel bei den alten Spezialisten zu lernen.100 Die Priorität lag weiterhin bei der Aus- und Fortbildung der jungen Generation, wie der Volkskommissar unterstrich: „Unter ihnen gibt es einige Eigensinnige, aus denen wohl möglich nichts wird, aber im großen ganzen ist das UNSERE Generation, ist das UNSERE technische Intelligenzija, sie müssen wir unterstützen, ihnen müssen wir helfen, sich zu entwickeln, sie müssen wir unterrichten."101 Die Konflikte, die derart zwischen jungen und alten, erfahrenen und ungeübten, Bewahrern und Erneuerern entstanden, finden sich in den meisten Memoiren wieder, allerdings oft zwischen den Zeilen oder nur in einem Nebensatz. Loginov war eindeutig einer der jungen Enthusiasten, die sich als neue Herren im Hause fühlten und sich als Ablösung der alten Generation verstanden. Bei der Berechnung der Jahres-Kontrollziffern kam er zu dem Schluß, daß das Produktionstempo „unbegründet langsam" war. Daraufhin griff er auf der nächsten offenen Parteiversammlung des Trusts, auf der der stellvertretende Trustleiter sein Projekt vorstellte, dessen Plan scharf an und forderte Produktionssteigerungen von 20 bis 30 Prozent. Den Eindruck, den Loginov auf dieser Versammlung hinterließ, beschreibt der Ingenieur V.D. Sevljagin (*1897), der lange Zeit unter Loginov arbeitete: „Schritt für Schritt, überzeugt, mit jugendlichem Eifer, basierend auf Berechnungen und konkreten Vorschlägen, unterwarf Leonid Ignat'evic den Planentwurf einer gnadenlosen Kritik. (...) Der Auftritt Leonod Ignat'evids 97

Inzenernyj trud, Nr. 2, 31.1.1930, S. 47. Za industrializaciju, 3.3.1933. 99 Il'in, Jakov: Bol'soj konvejer, Moskau 1960, S. 42. 100 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1933, S. 4; Nr. 2, Februar 1934, S. 42. 101 Inzenernyj trud, Nr. 2, Februar 1934, S. 42, Hervorhebungen im Original.

Verteilung der Kader

203

wirkte wie der Einschlag einer Bombe von revolutionärem Selbstbewußtsein gepaart mit mit Wissenschaftlichkeit, Tollkühnheit der Jugend sowie dem Talent, in die Feme zu blicken und deutlich die Umrisse der Zukunft zu se-

hen."102

berichtet mit Stolz, daß seine Kritik eine wesentliche Erweiterung der Produktion bewirkte. Bald darauf wurde er zu einem der drei stellvertretenden Trustleiter ernannt. Obwohl er sich über die genaueren Umstände seiner Beförderung ausschweigt, ist anzunehmen, daß er durch seine rücksichtslose Kritik dafür sorgte, daß der Stellvertreter, der den alten Plan entworfen hatte, entlassen oder degradiert wurde und für ihn Platz machen mußte. Offenbar löste Loginov als junger, enthusiastischer und auch skrupelloser Ingenieur einen alten Spezialisten ab, der noch an alten Maßstäben festhielt. Noch einen zweiten solchen Fall schildert Loginov. Zu Beginn des Jahres 1933 wurde er nach Kiew in die Fabrik „Präzisionsinstrument" geschickt, um den dortigen Direktor Kalinovskij abzulösen, der eine „passive Haltung" zeigte, denn die Fabrik erfüllte nur zu 40 Prozent ihren Plan bei der Produktion von Ersatzteilen für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge. Loginov setzte, wie er schreibt, den Direktor ab, erteilte ihm Fabrikverbot und übernahm selbst für vier Monate die Leitung, bis der Betrieb wieder sein Soll erfüllte und ein neuer Direktor gefunden war.103 Auch in diesem Fall verliert er kein weiteres Wort über den alten Direktor. Loginov selbst erlebte einen rasanten Aufstieg in dem Trust. Er wurde Mitbegründer und verantwortlicher Redakteur der trusteigenen Zeitschrift sowie der „Enzyklopädie der technischen Messungen", arbeitete die Zahlen für den zweiten Fünfjahrplan aus und erhielt als zusätzlichen Aufgabenbereich die Weiterentwicklung der Meßgeräteindustrie für den Flugzeugbau.104 Ein ähnliches Verhalten und eine ähnliche Selbsteinschätzung zeigt auch Gajlit, der seine Karriere als Leiter des Elektrolyse-Werks des Aluminiumkombinats am Volchov begann. Seine Berufserfahrung bestand zu diesem Zeitpunkt aus einem halben Jahr Arbeit als Assistent des Chefingenieurs auf dem Bau der Aluminiumfabrik und fünf Monaten Studium von Aluminiumwerken in Frankreich. Wie Loginov fühlte er sich als Vertreter der neuen Generation berufen, die Wirtschaft zu leiten. Als die Tonerdefabrik im Januar 1933 schlecht arbeitete, löste er selbst den Leiter ab. Als der technische Direktor geschaßt wurde, übernahm er zusätzlich auch dessen Aufgabenbereich.105 Gajlit verdrängte damit zwei Männer aus dem Kombinat, ohne auch nur mit einem Wort auf diese zwei Kollegen

Loginov

102

RGAÉ, f. 255, Kollekcija dokumental'ych materialov dejatelej priborostroenija, op. 1, d. 5:

V.D.: U istokov Sovetskogo priborostroenija (Vospominanija), 1966/67,1. 24. Sevljagin, 103 104 105

Loginov, 1. 61ff. Loginov, 1. 40ff. Gajlit,!. 13, 19.

204

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einzugehen. Ganz ähnlich wie Loginov spricht er nicht über das Schicksal der Menschen, sondern handelt die Entlassungen als reine Verwaltungsvorgänge ab, die sich aus den Anforderungen der Technik und Produktion ergaben. Wesentlich ausführlicher spricht Pozdnjak über seine Irritation ange-

sichts der Vertreter der älteren Generation, der unterschiedlichen Arbeitsvorstellung und ihrer unterschiedlichen Kultur. Als er 1932 seine Tätigkeit im Ministerium für Buntmetallurgie in der Projektierungsabteilung begann, stieß er auf eine ihm vollkommen fremde, alte, ihm unverständliche Ingenieurswelt: „Die Atmosphäre dort war steif, von äußerlichem Glanz und Pomp."106 Seine Kollegen ließen seiner Meinung nach die „nötige Eile und Geschäftigkeit" vermissen. Statt dessen redeten sie gemächlich und aufgeblasen: „Die Arbeit begann mit einer halben Stunde Begrüßungen, Kratzfüßen, die die specy vor den Vorzimmerdamen vollführten, dem Austausch von Neuigkeiten und dem Auslachen der jungen Spezialisten proletarischer Herkunft."107 Pozdnjak fühlte sich ausgegrenzt und verachtet. Er hob sich von diesen Spezialisten nicht nur durch seine Herkunft und eine andere Prioritätensetzung ab, sondern auch durch seine Kleidung. Daß diese Herren mit gestärktem Kragen und in Anzug auf der Arbeit erschienen, war ihm ein Dorn im Auge und eine ungehörige Betonung des Unterschieds zwischen der alten und der neuen Intelligenzija. Er arbeitete mit solcher Geschwindigkeit und solchem Engagement, daß er bald Vorsitzender des Gewerkschaftsbüros seines Sektors wurde und in dieser Eigenschaft in das Führungsdreieck der Abteilung aufstieg. Pozdnjak besetzte so Funktionen, die von den neutralen, sich wenig für Gewerkschafts- und Parteiangelegenheiten interessierenden alten Kollegen nicht angestrebt wurden. Er kam in eine Position, die ihn über viele seiner älteren Kollegen stellte, indem er die Zeitpläne kontrollierte, Versammlungen einberief sowie Informationsgespräche mit den alten Ingenieuren führte. Pozdnjak schwankt zwischen Abneigung und dem Streben, von diesen alten Herren anerkannt zu werden. Anders als Loginov betont er, daß er sich rücksichtsvoll gegenüber seinen Kollegen verhielt und von diesen bald wegen seiner „skrupulösen Objektivität" geachtet wurde. Auch kaufte er sich von seinem ersten Gehalt einen Anzug, den er fortan auf der Arbeit trug, um sich nicht mehr von den alten Ingenieuren zu unterscheiden.108 Dennoch behielt Pozdnjak während seiner knapp zweijährigen Tätigkeit in der Planungsabteilung eine Außenseiterstellung. Einerseits übernahm er die Posten, an denen den alten Ingenieuren nichts gelegen war, anderer106

Pozdnjak, 1. 340. Pozdnjak, 1. 340. 108 Pozdnjak, 1. 355ÍT. 107

Verteilung det Kader

205

seits war er immer derjenige, der von seinen Kollegen für die Ausführung unangenehmer Aufträge ausgewählt wurde.109 Pozdnjak zeigt hier einmal mehr seine zwiespältige Haltung gegenüber der sowjetischen Realität.

Einerseits fühlte er sich als Revolutionär und im Recht, andererseits mußte er mit diesen Kollegen auskommen; ihr schickes Äußeres lockte ihn. Während Loginov und Gajlit den Sieg über die alte Generation davontrugen, wählte Pozdnjak letztlich den Weg, sich ihnen anzupassen und um ihre Gunst zu heischen. Pozdnjak reflektierte immerhin, was damals geschah. Er erlaubte sich aber kein abschließendes Urteil, sondern ließ seine Schilderungen in ihrer Zweigeteiltheit stehen. Ähnlich verhält sich auch Lavrenenko, der in seinen Memoiren offenläßt, ob er letztlich an „Schädlingstum" glaubte oder nicht. Er geriet in einen inneren Konflikt, als Ramzin, weltberühmter Ingenieur für Energietechnik und zum Tode verurteilter Hochverräter, in Begleitung eines NKVD-Offiziers als Experte zu ihnen auf die Baustelle des Wärmekraftwerks nach Berezniki kam, die in großen Schwierigkeiten steckte. Die Ankündigung seiner Ankunft sorgte für Verwirrung: „,Ist das der Ramzin, der laut Prozeß nach dem Sturz der Sowjetmacht, wie der Staatsanwalt sagt, Premierminister werden wollte?' fragte mein Fteund Topol'skij. ,Ja, genau der.' ,Aber sie haben ihn doch zur Höchststrafe verurteilt...' Ramzin, den größten Wissenschaftler unseres Landes, einen Mann mit Weltruf, den Erschaffer des Druckdurchlaufkessels, einer Erfindung, die in der ganzen Welt beachtet wurde, zu erschießen, wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen. Mir ist bis jetzt unklar, wie ein Mensch, der in diesem Maße der Wissenschaft etgeben ist, seine Wissenschaft gegen eine Verschwörung vertauschen konnte und sogar einen Posten anstrebte, auf dem er sich nicht mehr der Wissenschaft hätte widmen können.'"110 -

,

-

Derart rätselten Ingenieure, die an die Sowjetmacht glaubten, aber doch noch in alten Maßstäben dachten. Das gesamte Baustellenpersonal versammelte sich am Bahnhof, um die Legende Ramzin, den „Schädling" und Wissenschaftler von Weltruhm, zu sehen. Lavrenenko war von der Erscheinung dieses Menschen stark beeindruckt, der ruhig und selbstsicher auftrat, das Werk analysierte, als hätte er nie etwas anderes getan, und mit großer Klarheit seine Ergebnisse und Maßnahmen vortrug. Er war so fasziniert und verwirrt zugleich, daß er Ramzin ansprach, der aber abweisend reagierte und sofort von einem NKVD-Beamten abgeschirmt wurde. „In mir bohrte die Frage, wie ein solcher Gelehrter von der Technik auf den Weg einer zweifelhaften, gegen das Volk gerichteten Politik hatte geraten können. (...) Hier stimmte etwas nicht. War Krylenko etwa in der Anklage zu weit gegangen?"1"

Lavrenenko läßt die 109

Pozdnjak, 1. 453ff.

""Lavrenenko, 1. '"Lavrenenko,!.

10. 11 f.

Frage unbeantwortet.

206

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Jakovlev geht noch einen anderen Weg. Er stellt sich ähnlich wie Loginov und Gajlit als den jungen, enthusiastischen Ingenieur dar, der keinen Respekt vor seinen Vorgängern bei grenzenlosem Selbstvertrauen in seine eigene Arbeit hatte. Gleichzeitig wehrt er sich implizit gegen den (unausgesprochenen) Vorwurf, sein Aufstieg sei kausal mit dem Untergang der alten Konstrukteure um Andrej Nikolaevic Tupolev (1888-

1972) verbunden.

So führt Jakovlev auf der einen Seite aus, wie schwer für ihn als unbekannten Konstrukteur war, sich gegen die arrivierten Kollegen durchzusetzen. Auf der anderen Seite legt er Wert darauf zu betonen, wie unangenehm es ihm gewesen sei, wenn er auf Posten befördert wurde, die ihn über seine dienstälteren Kollegen stellten. Der erste Konflikt entspann sich, weil ältere Kollegen sein junges Konstrukteursteam als Konkurrenz betrachtete: „(...) die Leiter des Werks (...) waren über das Wachstum einer vom Zentralen Konstruktionsbüro unabhängigen jungen Konstruktionsgruppe beunruhigt. Sie ließen uns keine Ruhe und wollten uns los sein. Innerhalb von knapp zwei Monaten (September und Oktober 1933) erhielt ich drei Verfügungen der Werksverwaltung, das Gelände zu räumen.""2 Jakovlev triumphierte schließlich: Er erreichte durch Beschwerden bei der Regierung, daß ihnen eine kleine separate Werkstatt zur Verfügung gestellt wurde und die Fabrik ihnen Werkzeug überlassen mußte."3 Ab 1938 wurde Jakovlev mehrfach von Stalin in den Wettkampf mit gestandenen Konstrukteuren geschickt, die er ebenfalls alle für sich entscheiden konnte. Sowohl der Bomber, den er entwarf, als auch sein Jagdflugzeug zog Stalin den Projekten von V. Klimov, A. Mikulin, A. Svecov, S. IIjusin, N. Polikarpov, A. Archangelskij und M. Sulsenko vor. „Offenbar setzte sich die Meinung durch, man müsse die jungen Kader mehr einbeziehen, da die alten womöglich ihre Grenzen erreicht hatten. Das Zues

sammentreffen von Umständen wollte es, daß ich neben den anderen „noch nicht anerkannten" Konstrukteuren die jungen Kräfte unserer Luftflotte repräsentieren sollte."' '"

er den Diskurs, daß die jungen Kräfte die besseren seien, verinnerlicht, fühlte sich in der Rückschau aber doch bemüßigt, sich für sei-

Zwar hatte

Sonderrolle zu rechtfertigen. Der Generationenkonflikt der Bürgerkinder verlief entlang einer anderen Konfrontationslinie. Fedoseev und Bogdan waren junge Ingenieure, die sich mit aller Kraft in ihre Arbeit stürzen wollten, so daß sie durch ihr Engagement für den „sozialistischen Aufbau" in Konflikt mit ihren Eltern bzw. älteren Kollegen gerieten, die ein distanzierteres Verhältnis zur Sowjetmacht hatten als diese jungen Menschen, die in diesem System groß geworden waren. Fedoseev hatte heftige Auseinandersetzungen mit seine

1,2

Jakowljew, S. 76. Jakowljew, S. 85. 114 Jakowljew, S. 165ff., 113

170ff.

Verteilung der Kader

207

Vater. Während sich letzterer keine Illusionen über die neue Regierung machte, hoffte der Sohn, sich integrieren, etablieren und profitieren zu können. Er glaubte an eine bessere Zukunft und war gewillt, die Sowjetunion in einem bestmöglichen Licht zu betrachten. „Ich war jung, begann gerade mein Leben und wollte nicht glauben, daß die Zukunft nichts Gutes verhieß. Ich war überzeugt davon, daß es künftig besser sein würde.""5 Die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater waren zeitweilig so groß, daß er den Kontakt abbrach."6 Den gleichen Willen, über die politischen Umstände hinwegzusehen, besaß auch Bogdan. Sie geriet deshalb mit ihrem Chefingenieur, Serb, einem alten Spezialisten, aneinander. Bogdan fand in der Rostower Nudelfabrik ein harmonisches Ingenieurskollektiv vor, in der sich alle in ihrer Ablehnung der Sowjetmacht einig waren. Doch während sie und andere junge Techniker und Ingenieure deshalb trotzdem bereit waren, neue Konstruktionen zu entwickeln und die Produktion zu steigern, lehnte der alte Chefingenieur jede in diese Richtung gehende Maßnahme als Unterstützung der ihm verhaßten Stoßarbeit ab. Mehrfach stritten sie sich über den Sinn und Zweck technischer Neuerungen, so daß Bogdan und ihr Kollege teilweise heimlich und in der Abwesenheit des Chefingenieurs ihre Konstruktionen umsetzten."7 Ihr Integrationswille entfremdete sie von den alten, kritischen Ingenieuren und ließ sie einmal mehr zum Teil der neuen, sowjetischen technischen Intelligenz werden. Diesen grundlegenden Unterschied zwischen der alten und der jungen Generation sah auch der Chefingenieur Serb, der Bogdan attestierte: „Teuerste, Sie sind nem

unsere

eigene sowjetische Intelligenzija.""8

Die Diffamierung und Verfolgung der alten Ingenieure hatte einen solchen Graben zwischen den beiden Generationen aufgerissen, daß er auch durch ihre Rehabilitierung und die Beschwörungen in der Presse, die jungen sollten bei den alten Spezialisten lernen und sich nicht „hochnäsig" verhalten, kaum überbrückt werden konnte. Loginov, Gajlit, Pozdnjak und Jakovlev hatten das Mißtrauen gegenüber den alten Spezialisten verinnerlicht, fühlten sich selbst als die neuen Herren und waren nicht mehr in der Lage, ihren älteren Kollegen vorurteilsfrei zu begegnen. Die Konflikte sind ein Tabuthema, das von den Ingenieuren in unterschiedlichem Maße verdrängt, verschwiegen oder nur am Rande erwähnt wird. Typisch für die Haltung der sowjetischen Ingenieure, die lieber den Konflikt mit ihrer Vorgängergeneration verdrängten, ist die Äußerung Roza115 116 117 118

Fedoseev, S. 42. Fedoseev, S. 45.

Bogdan, Mimikrija, S. 164. Bogdan, Mimikrija, S. 209

208

Krisenmanager und Improvisationskünstler

„Es gab keine Konflikte zwischen den alten und neuen Ingenieuren.""9 Den inneren Kampf zwischen den neuen Diskursen und alten Wertvorstellungen fuhrt am eindrücklichsten Pozdnjak vor: Es scheint, als wohnten zwei Seelen in seiner Brust: eine „neue", die ihn diese feinen Herren als seine Feinde begreifen ließ, und eine „alte", die nach gepflegten Kleidern, einem höflichen Umgangston und Aufnahme in die Welt der Gelehrten strebte. novs:

119

Rozanov, S. 4.

209

In der Produktion

2) In der Produktion a) Industrialisierung als Krieg Die

jungen Ingenieure,

die

Anfang

der

dreißiger

Jahre in die Fabriken

strömten, um direkt in der Produktion zu arbeiten und die alte Generation abzulösen, sahen sich von der Regierung vor eine große Aufgabe gestellt:

Sie sollten in kürzester Frist aus dem rückständigen Rußland ein Industrieland machen, das mit Nationen wie den USA und Deutschland konkurrieren konnte. Laut Stalin waren „50 bis 100 Jahre Rückstand" in zehn Jahren aufzuholen. Kaum war der erste Fünfjahrplan beschlossen, wurde festgesetzt, daß die Arbeiter und Ingenieure ihn in vier Jahren bewerkstelligen sollten. Staudämme, Metallkombinate, Chemiewerke und Traktorenfabriken waren in so knappen Zeiträumen zu bauen, wie es selbst in entwickelten westlichen Ländern kaum machbar gewesen wäre. Die Metallgiganten in Magnitogorsk und Kuzneck sollten in sagenhaften 1 000 Tagen fertiggestellt werden und begannen einen „sozialistischen Wettkampf darum, wer zuerst den Hochofen anblasen würde. Auf Dneprostroj konkurrierten das linke mit dem rechten Ufer darum, wer schneller seine Bauten errichte. Zentrales Mittel der beschleunigten Arbeit wurden Gegenpläne (vstrecnyj), mit denen sich Arbeiter und Ingenieure verpflichteten, den von der Regierung vorgegebenen Plan noch zu übertrumpfen, um in noch kürzerer Zeit die ihnen aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen. Überall beworben wurde das „bolschwistische Tempo", das bedeutete, Fristen zu verkürzen, mehrere Schichten hintereinander durchzuarbeiten und Arbeitsprozesse abzukürzen. Die Presse präsentierte die neuen Ingenieure als Zeitkünstler: '

„Die Erbauer der Brücke haben die Zeit verdichtet. Sie haben in ihre Arbeitstage unglaubliche viele Taten gepreßt. Das, was normalerweise Wochen dauerte, brauchte bei ihnen nur Tage. Der Beton, dessen Herstellung einen Monat dauerte, gössen sie in nur zehn bis zwölf Tagen. Der erste Brückenbogen war 18 Tage früher fertig als geplant. Der dritte und neunte Caisson wurden in noch nie dagewesen kurzer Zeit eingelassen. Die Tage des Baus waren, sozusagen, Tage kondensierter Kompaktheit."'

Als „Oktobergeneration" feierte man die Ingenieure, die alte Baufristen für ungültig erklärten und neue Rekorde aufstellten: „Der Ingenieur Seit (...) wußte auch, daß das Land das große Tempo braucht und daß jeder Tag, den die Baustelle aufgehalten wird, ein Schlag gegen die gesamte Wirtschaft des Landes ist, (...). Seit zog den einzig richtigen Schluß.

'

Inzenernyj trud, Nr. 5, Mai 1934, S.

157.

210

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Infolge dessen wurde der Kran nicht innerhalb eines Monats, sondern ohne jede Hilfe (...) in 15 Tagen montiert." Auch Dramen und Erzählungen machten das neue Tempo zu ihrem Plot und trugen Titel wie „Im Sturmschritt vorwärts" (Vremja, vpered!) oder „Tempo" (Temp). Valentin Kataev beschrieb, was „bolschewistisches

Tempo" hieß:

„Unser Kombinat, das wir unter normalen Umständen in acht Jahren bauen würden, errichten wir in drei!"3

Zeit definierte sich für den gänge und -einheiten:

Romaningenieur

nur

noch über Arbeitsvor-

„Die Zeit war für ihn die Zahl der Umdrehungen der Mischtrommel und der Antriebsscheibe; die Hebung der Trommelpfanne, das Ende oder der Beginn einer Schicht, die Festigkeit des Betons, das Pfeifen der Türangel, wenn sich die Tür zur Kantine öffnete, die konzentrierte Stirn der die Zeitstudie durchführenden Frau, der Schatten des Wärmehauses, der von Westen nach Osten

gewandert war und schon den Eisenbahndamm erreicht hatte. und der Zeit gab es keinen grundlegenden Unterschied."4

Zwischen ihm

Tempo der ersten Fünfjahrpläne gehörte genauso zum Plan wie der wirtschaftliche Aufbau selbst. Es war keine Folgeerscheinung, die unter dem Zwang der Umstände in Kauf genommen wurde, sondern elementarer Bestandteil des Industrialisierungsprogramms. Stalin hatte erklärt: „Zuweilen wird die Frage gestellt, ob man nicht das Tempo etwas verlangsamen, die Bewegung zurückhalten könnte. Nein, das kann man nicht, Genossen! Das Tempo darf nicht herabgesetzt werden! Im Gegenteil, es muß nach Kräften und Möglichkeiten gesteigert werden. (...) Das Tempo verlangsamen, das bedeutet zurückbleiben. Und Rückständige werden geschlagen."5 Es war ein wesentlicher Bestandteil des ersten Fünfjahrplans, ihn als Überlebensplan einzuführen, als Maßnahme, bei der es um Leben und Tod ging. Die Industrialisierung und das rasante Tempo wurden als VerDas

teidigungsprogramm legitimiert und gerechtfertigt:

unter anderem darin, daß es wegen seiner Rückständigkeit fortwährend geschlagen wurde. Es wurde geschlagen von den mongolischen Khans. Es wurde geschlagen von den türkischen Begs. Es wurde geschlagen von den schwedischen Feudalen. Es wurde geschlagen von den polnisch-litauischen Pans. Es wurde geschlagen von den japanischen Baronen. Es wurde von allen geschlagen wegen seiner Rückständigkeit. (...) Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt."

„Die Geschichte des alten Rußland bestand

Die Menschen standen noch unter dem Eindruck des ersten Weltkriegs, des Bürgerkriegs und der Intervention, und die Furcht, die Sowjetunion befände sich permanent am Rande eines Krieges, an ihren Grenzen lauere überall der Feind, der nur darauf warte, das Land in einem passenden Au2

Inzenernyj trud, Nr. 11, November 1933, S. Kataev, Vremja, S. 296. 4 Kataev, Vremja, S. 274. 5 3

6

Stalin, Werke, Bd. 13, Berlin 1955, S. 35. Stalin, Werke, Bd. 13, Berlin 1955, S. 35f.

334.

In der Produktion

211

genblick zu überfallen, wurde

in der Presse ständig genährt. Fast täglich erschienen Berichte über die aggressiven Absichten und Verhaltensweisen der kapitalistischen Länder England, Frankreich, Deutschland und Japan. Die Industrialisierung des Landes, so wurde suggeriert, diene nicht in erster Linie einer Steigerung des Lebensstandards, sondern der Sicherheit und dem Überleben der Sowjetunion. Insofern war die Bezeichnung der Baustellen als „Front" eine direkte Übersetzung des mit Waffen geführten Kriegs in einen mit Spaten und Hacken bewerkstelligten Kampf. Für die Umsetzung der gewaltigen Vorhaben in kürzester Zeit war es elementar, daß die Menschen die ersten Fünfjahrpläne als Kriegsfall verstanden, damit sie nach diesen Maßstäben handelten, Verzicht übten und sich einsetzten. Das Verständnis der Industrialisierung als Krieg prägte auch das Bild vom Ingenieur. Der sowjetische Ingenieur hatte seine Arbeit als Kampf zu begreifen; wer „Dienst nach Vorschrift" leistete und ein formales Verhältnis zu einer Arbeit hatte, konnte als Bürokrat diffamiert werden. In „Im Sturmschritt vorwärts" führte Kataev vor, daß der Unterschied zwischen dem sowjetischen Ingenieur und dem Saboteur darin lag, daß der eine seinen Arbeitsabschnitt als Front verstand, während der andere seine Tätigkeit auf eine rein technische Angelegenheit reduzierte. Die Geschichte spielt auf der Magnitka beim Bau eines Koks- und Chemiekombinats und führt die Entwicklung des jungen Betonspezialist David L'vovic Margulies vom Zweifler und Skeptiker, der nichts von „Rekordlertum" hält, zum Enthusiasten und Befürworter des bolschewistischen Tempos vor. Sein Widerpart ist der alte Ingenieur Georgij Nikolaevic Nalbandov, der die Absicht Margulies', einen neuen Rekord beim Betongießen aufzustellen, mit folgender Begründung strikt ablehnt: „Wir befinden uns auf einer Baustelle und nicht im Kampf gegen die Franzosen!"7 Während Nalbandov auf den alten, gewohnten Trott besteht, sorgt der junge Ingenieur dafür, daß sich die Baustelle in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Am Ende der Schlacht hat die Brigade einen neuen Rekord aufgestellt; sie tritt den Rückzug an, während der nächste Vorarbeiter seine Brigade vom „Hinterland an die Front" führt, um in einem neuen Kampf einen weiteren Rekord aufzustellen. Nalbandov aber gibt sich als Saboteur und Denunziant zu erkennen, der versucht, mit allen Mitteln den Rekord zu verhindern.8 Kataevs Erzählung zeigt, daß die

Industrialisierung nicht nur einer auund außerordentlicher Arbeitsmethoden bedurfte, sondern auch eine besondere Sprachregelung erforderte. Diese Kriegsterminologie findet sich überall. Fedor Gladkov ließ 1933 in ßergewöhnlichen Kraftanstrengung

7 8

Kataev, Vremja, S. 79, 109, 121. Kataev, Vremja, S. 364.

212

Krisenmanager und Improvisationskünstler

seinem Roman „Energie" (Ènergija), der auf dem Dneprostroj spielte, seinen Helden sagen: „Eine Baustelle bedeutet schließlich Krieg."9 „Hier ist Krieg",10 beteuerte auch der Direktor des Klingenstahlwerks in „Poem über ein Beil" (Poema o topore) 1931. Die Begriffe und Kategorien einer normalen Arbeitswelt versagten angesichts des Vorhabens des Fünfjahrplans. Der Bauherr von Magnitostroj, Jakov Semenovic Gugel' (18951937), beschrieb 1935 die Magnitka als „Kriegsgebiet" und „ersten Vorposten" der sozialistischen Industrialisierungsfront, an dem die Arbeiter und Ingenieure einen „selbsthärtenden Kampf führten;" der Leiter von Kuzneckstroj, Frankfurt, beschrieb Arbeitseinsätze, die wie Schlachten geschlagen wurden: „Die Sprengmeister, Ingenieure, Arbeiter, Angestellte warfen sich unter Lebensgefahr in die Attacke gegen das Eis. (...) Am Morgen zog das Eis ab. Die Brücke hinterließ den Eindruck eines

Organismus."12

schwerverletzten, aber noch lebenden

Die Arbeiter und Ingenieure verschmolzen zu einem Heer. Große Ingenieure wie Vinter, Bauherr von Dneprostroj, wurden als „General einer großen Armee" gepriesen.13 Bardin verglich sich als Chefingenieur von Kuzneckstroj selbst mit dem Feldherren Kutuzov im Großen Vaterländischen Krieg gegen Napoleon: „Der Prozeß der Vorbereitung zum Anblasen des Hochofens lief etwa so wie die Vorbereitung auf die Schlacht bei Austerlitz in Tolstojs .Krieg und Frie14 den'."

Den Volkskommissar für Schwerindustrie, Ordjonikidze, bezeichnete Bardin als „unseren Oberbefehlshaber" (nas komandarm) und „Durch-

bruchspanzer" (tankproryva) bezeichnet.15 Der Ingenieur sollte nicht nur in neuem, noch nie dagewesenem, bolschewistischem Tempo in der Praxis arbeiten, sondern gleich einem General oder Heerführer eine Schlacht schlagen. Das bedeutete nicht nur, daß auf ihm eine hohe Verantwortung lastete, sondern „Kriegszustand" hieß immer auch, daß für den Sieg Opfer erbracht werden mußten. Insofern diente die Kriegssprache sowohl zur Mobilisierung aller Kräfte als auch als Rechtfertigung für menschenunwürdige Zustände auf den Baustellen und die zum Teil sehr unkonventionellen, häufig riskanten oder dilettantischen Vorgehensweise beim Aufbau. 9

Gladkov, Fedor:

10

Ènergija, Moskau 1933, S.

Pogodin, Nikolaj:

S. 160. 11 12

Poema

o

v

4ch

tomach, Moskau 1972,

Gugel', Vospominanija, S. 320, 339. Frankfurt, S.M.: Der Gigant in der Taiga. Aufzeichnungen des Direktors von Kuznezkstroj,

Moskau 1936, S. 44. 13

Vinogradskaja, Inzener, S. 27. Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 114, 15 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 194,

14

120.

topore (1931), Sobranija socinenij

116. 195.

In der Produktion

213

Von den hier vorgestellten Ingenieuren benutzten v.a. Gajlit und Loginov die Kriegsterminologie in ihren Memoiren. Gajlit charakterisiert seine Arbeit beim Aufbau der Aluminiumfabrik am Volchov als Kriegs-

manöver: „Gleich einer breiten Front wurden die Maßnahmen zur Schaffung des Erstlings der Aluminiumindustrie umgesetzt."16 Loginov bewertet seine doppelte Arbeit für ein größeres Fachwissen unter den ITR und für eine höhere Produktivität der Zulieferfirmen der Flugzeugindustrie als Arbeit an „zwei Fronten".17 Aber auch die Ingenieure, die keine militärischen Vergleiche ziehen, berichten implizit von diesem

Kriegszustand.

b) Kampfgegen die Natur Der

„Krieg" war ein allgemeiner, der im Speziellen gegen die Natur geführt wurde. Die gesamte Industrialisierung in den dreißiger Jahren und der Enthusiasmus bei dem Aufbau einer neuen Wirtschaft sind nur schwer ohne die „Philosophie" der Kriegführung und des Kampfes gegen die Natur zu verstehen. „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzes Landes", hatte Lenin gesagt, und in Erweiterung galt diese Formel auch für die dreißiger Jahre: Kommunismus wurde den Menschen als Industrialisierung und Fortschritt präsentiert. „Technik ist die Kunst, über die Elemente der Natur zu gebieten; das Arbeitswerkzeug so bauen zu können, daß es dem Menschen bessere Dienste leistet. Wir streben danach, daß die Wirtschaft den Menschen helfe, das Leben auf neue Art einzurichten."18

Die Menschen sollten sich einen sozialistischen Staat als ein Land vorstellen, in dem es keine unbesiedelten Gegenden mehr gab, in dem überall sozialistische Städte und Fabriken florierten, in dem niemand mehr in schäbigen Hütten wohnte, jeder über Elektrizität, Fernwärme und fließend Wasser verfügte, in dem sich nicht mehr im Frühjahr und Herbst die Wege in Morast verwandelten, sondern alle Straßen asphaltiert waren, in dem man sich statt mit Pferden mit Straßenbahnen, Autos und Flugzeugen fortbewegte. In diesem Konzept wurden Natur versus Kultur bzw. Technik dichotomisch gegenüber gestellt. Technik bedeutete Fortschritt, ein komfortables Leben und Sozialismus, während Natur für Rückständigkeit, ein mühsames Leben und das zarische Rußland stand. Die Natur wurde zum Feind erklärt, der überall bekämpft, unterworfen und dem

16

Gajlit, 1. 10. Loginov, 1. 54. 18 Krzizanovskij, G.M.: Izbrannoe, Moskau 1957, S. 17

37f.

Krisenmanager und Improvisationskünstler

214

Menschen Untertan gemacht werden mußte.19 Wer sich an dem Schauspiel der Natur weiterhin erfreute, geriet in den Verdacht, ein Sympathisant der alten Welt zu sein. Als „sentimentale Intelligenzler" galten diejenigen, die von den Stromschnellen des Dnjeprs bei Nenasytec begeistert waren, anstatt diese sinnlose Energieverschwendung und Laune des Flusses als Hindernis für die Schiffahrt zu verdammen.20 Wer sich in den Bann der Natur schlagen ließ, der war nicht mehr fähig, seine Gedanken und Kräfte dem Aufbau des Sozialismus zu widmen, so stellt es auch Gladkov in „Energie" dar. Schon die Gerüche der Natur waren gefahrlich für den Menschen: von Brennesseln, dem bitteren Rausch der Gräser, der heißen Glut der überhitzten Erde. Ja, die Gerüche der Vorzeit, die veralteten Gerüche der Naturkräfte."21

„Es roch nach der Fäulnis

Die Natur war destruktiv, irrational und übte einen schlechten Einfluß auf den Menschen aus: „Und er, KoPca, sah und spürte zum ersten Mal, daß die Natur die schwachen Menschen, die an nackte Muskelarbeit gewöhnt waren, gefangen nahm."22 Frankfurt war überzeugt, daß die Natur zwei Seiten hatte: eine äußere, visuelle, romantische, die nur „oberflächliche Betrachter" und in „ihrem Denken zurückgebliebene Menschen" sahen, und eine innere, unsichtbare, nutzbringende, die der Ingenieur sofort wahrnahm, während er für etwas anderes kein Auge hatte. Seine Aufgaben in Sibirien sah er darin, „das Antlitz dieses riesigen Gebietes von Grund auf [zu] verändern

f...)."23

Doch die Natur konnte man nicht einfach benutzen und manipulieren; sie mußte herausgefordert, bekämpft und besiegt werden. Sie geriet dabei zu einem Subjekt mit eigenem Willen, einem widerborstigen, heimtückischen und hinterhältigen Urwesen, das der Mensch im Kampf bezwingen mußte. Entsprechend lautete der Auftrag an die Staudammbauer am Dnjepr „dem Wasser den Weg zu versperren". Mit Inbetriebnahme des Wasserkraftwerks wurde verkündet: „Der Dnjepr arbeitet für den Sozialismus."24 Auch der Bau des Moskau-Wolga-Kanals (1932-37) wurde als Triumph des Menschen über das Wasser gefeiert: „Die Bolschewiki (...) zwangen das Wasser des gewaltigen Stromes Wolga, seinen Weg zu ändern."25 Der Abbau des Eisenerz in Magnitogorsk wurde als Kampf zwischen Mensch und Berg dramatisiert: 19

Vgl. auch: Clark, The Soviet Novel, S. 100. Budancev, Sergej: Dneprovskoe Stroitel'stvo, S.213, in: Novyj mir, Juli 1928, S. 213-223. 21

20

Gladkov, Ènergija, S. 73. Gladkov, Ènergija, S. 42. Frankfurt, Gigant, S. 7f. 24 Za industrializaciju, 7.1.1930; 10.10.1932. 25 Vèstnik inzenerov i technikov, Nr. 8, August 1937, S. 462.

22

23

215

In der Produktion

„(...) die Gesteinsschicht wehrt sich stumpf, wild, unberechenbar und leistet den Menschen mit aller Kraft Widerstand. Aber wer hat wohl mehr Kraft, er, Goncarenko, Leiter der Bergarbeiten, die Bergleute, die sich von oben in die Tiefen der Magnetschichten durchbeißen, wer hat mehr Kraft, sie oder der alte Berg Atac, der Tausende Jahre die Vorräte an Martit bewahrt hat?"26

Die Za industrializaciju titelte über eine Expedition von Geologen: „Die Menschen besiegen die Berge."27 Als Sieg der Technik über die Natur wurde auch die erfolgreiche Rettung der Passagiere des Schiffes „Celjuskin" inszeniert, das im Nordpolarmeer am 13. Februar 1934 von Eisbergen zerdrückt wurde. Die Menschen, die sich auf eine Eisscholle retten konnten, wurden in einem waghalsigen, zwei Monate dauernden Unternehmen mit Flugzeugen geborgen. In Moskau gab es einen triumphalen Empfang für die Celjuskincy, wie sie genannt wurden. Die Parteiführer Stalin, Molotov, Vorosilov, Kujbysev und Zdanov schrieben ein Grußtelegramm an die Piloten: „Wir (...) sind stolz auf Ihren Sieg über die Na-

turgewalten."28

In Literatur und Film wurde dieses Bild von der Natur verstärkt: Pogodin brachte die Funktionalität der Natur in seinem Stück „Tempo" auf den Punkt: „Für Dich ist Wasser Feuchtigkeit, Sonne Energie und Gras Futter fürs Vieh."29 Der Film „Drei Kameraden" macht deutlich, daß die endlosen Wälder und der sprudelnde Fluß, die in langen Einstellungen gezeigt werden, keinen Wert an sich haben, sondern paradiesische Bauholzlager für das neue Kombinat, unbegrenzte Rohstoffmengen für die Papierfabrik und der Fluß einen optimalen Transportweg für das Holz vorstellen.30 Den Kampf mit der Natur inszeniert der künstlerischdokumentarische Film „Turksib" von 1929 über den Bau der TurkestanSibirien-Eisenbahn (Turksib) durch die Wüste Kasachstans. Nicht nur die Bilder führen vor, daß hier der Mensch der Wüste den Krieg erklärt hat, auch die zwischen die Bilder montierten Texte drücken explizit aus: „Zum Angriff auf die trotzige Erde"; „Die Natur ist hartnäckig, aber noch hartnäckiger ist der Mensch"; „Und die besiegte Erde liefert ihre Schätze ab".31 Die Natur ist nicht nur der Gegner, sie wird auch zum Ort des Volksfeindes und Spions. So bietet in dem Film „Komsomol'sk" die Taiga den Saboteuren und Volksfeinden Unterschlupf, und in „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" (Osibka inzenera Kocina) wird die Geliebte des Ingenieurs von den Verschwörern in freier Natur gestellt und umge-

26

-

industrializaciju, 1.10.1930. industrializaciju, 8.3.1937. 28 S. 111; Pravda, 14.4.1934. Jakowljew, 29 S. 56. Pogodin, Temp, 30 Tri tovarisca, Lenfil'm Leningrad 1935, Regie: S. Timosenko, Nachweis:

27

-

Za Za

Besitz. Turksib, Vostok-Kino 1929,

als Video in mei-

nem 31

Regie: V. Turin, Nachweis:

als Video in meinem Besitz.

216

Krisenmanager und Improvisationskünstler

bracht.32 Auch die Ingenieure beschreiben die Natur als Rohstofflager und Feind gleichermaßen: Der Ingenieur Bockin berichtet über Karelien: „Eine wunderbare Gegend. Vierzig Meter hohe Schiffsmastenkiefern. Nackte Granitfelsen, Seen, von der Natur in die Höhe gehobene Seen! (Einem Wassertechniker sticht das sofort ins Auge: Energievorräte!) Und Sümpfe, nicht weniger gefährlicher als der Gegner."33 Über seinen Kampf mit dem Wasser beim Bau von Staudamm am Kutuluk schreibt er: „Es schoß durch die Fugen, als wollte es die Rinne zerbrechen und zugleich mich von meiner Seilbrücke reißen. In rasender Wut bäumte sich das Wasser auf (...). Es war schon klar, daß wir diesen tosenden Strom bereits im Griff hatten, doch ich wußte auch, daß Wasser hinterhältig, unnachgiebig ist, daß man noch auf alles gefaßt sein konnte. (...) Später hatte ich Gefechte mit Flüssen durchzustehen, neben denen der niemandem bekannte Kutuluk als Bach bezeichnet wetden könnte." 4

So wie Bockin mit Flüssen mit dem Frost" aus:

„kämpfte", trug

Frankfurt einen

„Wettkampf

„Entweder schweißt er die Erde zusammen und friert sie ein, oder wir heben sie aus. Genosse Ordjonikidze gefiel das sehr. Später erzählte er in meiner Anwesenheit im VSNCh, wie auf Kuzneckstroj die sibirische Erde „überlistet" wurde."35

Vinter wurde

von

seiner Biographin

Vinogradskaja zitiert:

„Der Feind ist überall. Sogar die Natur ist in diesem Jahr feindlich: Hitze und

Dürre dauerten das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer hindurch: Es gab Feuer, mal hier, mal da. Die Sonne hängt wie eine rote Scheibe am Himmel, man kann sie ungeschützten Auges zu jeder Tageszeit betrachten. Dann war die Reihe an uns. War es böser Wille, Unvorsichtigkeit, ein Zufall? Das Feuer loderte drei bis viet Tage, dann wat die Arbeit eines ganzen Jahres vieler Tausend Menschen spurlos verschwunden."36

Die Natur wurde zu einem Subjekt mit eigenem Willen stilisiert, das für den Menschen unberechenbar war und eine ständige Gefahr bedeutete. In der offiziellen Rhetorik konnte so von Planungsversäumnissen, fehlerhaften Berechnungen und der schlechten Vorbereitungen von Baustellen abgelenkt werden, indem der Natur die Schuld für Unfälle oder Fehlschläge gegeben wurde. Erdrutsche, Wassereinbrüche, Überschwemmungen und Brände, denen man hätte vorbeugen oder auf die man hätte vorbereitet sein können, wurden der „hinterhältigen" Natur angelastet. Kritik, Skepsis und Anschuldigungen wurden von der Regierung abgelenkt und auf die Natur umgeleitet. Mit der Annahme einer dritten, höheren Macht erübrigte sich die Diskussion, ob ein Unfall hätte vermieden 32

Komsomol'sk, Lenfil'm Leningrad 1938, Regie: Sergej Gerasimov, Nachweis: als Video in meinem Besitz; Osibka inzenera Kocina, Moskau Mosfil'm 1939, Regie: A. Maceret, Nachweis: als Video in meinem Besitz. 33 Botschkin, Mein ganzes Leben, S. 11. 34 Botschkin, Mein ganzes Leben, S. lOf. 35 Frankfurt, Rozdenie, S. 261. 36 Vinter, Moja zizn', S. 17.

In der Produktion

217

werden können, wenn man anders vorgegangen wäre. Das Aufrufen der Natur war einerseits ein Weg, noch mehr Kräfte im Kampf für die Industrialisierung zu mobilisieren und andererseits die Möglichkeit, die Verantwortung für Fehlschläge abzuleiten. Um so triumphaler fiel der Sieg über die Natur und die Errichtung der Zivilisation aus. Typisch sind Zeitungsberichte, die mit den Worten „Früher gab es hier nur..." beginnen, um voller Stolz daraufhinzuweisen, daß dort, wo jetzt ein gewaltiger Staudamm, ein gigantisches Kombinat oder eine neue sozialistische Stadt stand, vor kurzem noch Taiga, Steppe und Öde existiert hatten.37 Die Ingenieurin Dzaparidze schreibt über den Ort der Magnitka: „Wir kamen im Jahr 1930 auf den Platz des zukünftigen Giganten und erstarrten. Steppe vom Boden bis zum Himmel! Unberührt, unangetastet. (...) Kein Haus, kein Weg. Und kein bißchen Zweifel daran, daß es hier Häuser und Straßen und ein Kombinat und Metall geben werde, das sich bisher noch im Berg versteckte. Wir kamen, um die neue Welt zu bauen."38 Gladkov entwarf den Wandel am Dnjepr: „Früher schlummerte hier die kahle Steppe, es roch nach Gräsern, es sangen Lerchen und der trockene Steppenwind. Jetzt verteilen sich über viele Quadratkilometer Fabrikhallen, Baumaterial, weiße Reihen von Wohnkasernen, Blöcken und Einzelhäusern, davor große, gerade Straßen, weite Plätze und ein Bahnhof, der in die Siedlung hineinwächst, immer vor Dampfwolken blüht und von donnernden Waggons und den Schreien der Lastenträger dröhnt."39 In Monographien, wie Frankfurts Bericht über Kuzneckstroj, wurden eindrucksvolle „Vorher-Nachher"-Bilder abgedruckt. Über die ganze Breite des Buches erstreckte sich je ein Panoramafoto des Bauplatzes von Kuzneck vor Baubeginn und nach Errichtung des Werks und der Stadt: Einer unberührten Steppenlandschaft wurde ein einziger Industriekomplex gegenüber gestellt.40 Der Triumph der Technik war auch der Triumph des neuen Menschen, wie Ilja Erenburg es in „Der Zweite Tag" einen Arbeiter sagen läßt: „Ich habe in der Direktion ein Plakat gesehen. Kuzneck vor drei Jahren und Kuzneck heute. Wunderbar! Zuerst kahles Feld. Dann all diese Cowpers,41 Batterien und Martinöfen. Schön wäre es, wenn man auch ein Plakat malen könnte: Kolja Rzanov vor drei Jahren und heute. Du meine Güte, war ich damals dumm!"42

Die Natur entsprach dem „dummen" Kolja, dem ungebildeten, stumpfsinnigen Bauern (muzik), während das Metallwerk Bewußtsein, Willenskraft, Ausdauer, Beherrschung, Intelligenz, Kühnheit und Mut verkörperte. Insofern war die Flucht vom Land in eine Großstadt oder auf eine 37

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9, September 1937, S. 528. E.A.: Vospominanija o minuvsem, Moskau 1994, S. 123. Dzaparidze, 39 Gladkov, Pis'mo, S. 21; vgl. auch Gugel', Vospominanija, S. 318. 40 Frankfurt, Gigant, ohne Seitenangabe. 41 Cowper: Winderhitzer zur Vorwärmung der Verbrennungsluft bei Hochöfen. 42 Ehrenburg, Der zweite Tag, S. 118. 38

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Krisenmanager und Improvisationskünstler

Großbaustelle immer auch die Flucht vor der Unwissenheit, Unaufgeklärtheit und Willensschwäche.43 Ländliche, unentwickelte Gegenden wurden in Opposition zu industriellen Zonen gebracht. Filme wie „Der Torhüter" (1936) zeigten, daß unberührte Landstriche ein Reservoir menschlicher, brachliegender Talente war, die nur in der Metropole ihre Entfaltung finden konnten.44 Den Fortschritt und die strahlende Zukunft verkörperten aber in besonderem Autos und Flugzeuge, die sich in den dreißiger Jahren großer Popularität erfreuten.45 Sie waren in besonderem Maße Symbole der Überwindung der Natur: Das Auto und der Traktor erlösten den Menschen von dem Pferdefuhrwerk und dem handgezogenen Pflug; das Flugzeug sorgte dafür, daß der Mensch sich ganz von der Erde lösen und in den Himmel schwingen konnte. Die Öffentlichkeit feierte 1930 die Ankunft des Zeppelins in Moskau und den Bau eines eigenen Luftschiffes.46 Jeder neue Langstreckenflug wurde frenetisch beklatscht und die Piloten zu Volkshelden erklärt.47 Fallschirmspringen wurde zum Volkssport, der auch im Gor'kij-Kultur- und Erholungspark in Moskau von einem Turm aus betrieben werden konnte. Den großartigen, dem Ausland überlegenen Flugzeugkonstrukteuren wurden gleich drei Filme gewidmet.48 Die Presse schwärmte anläßlich des Baubeginns des Automobilwerks Avtostroj in Niznij Novgorod: „Setzen wir die UdSSR ins Auto und den Bauern auf den Traktor."49 Das propagierte auch der fiktive Leiter dieser Baustelle, Dynnikov, im Roman „Ingenieure" gegenüber seinen Arbeitern: Sie sollten sich von ihrem Lohn kein Pferd kaufen, um in ihrem Dorf wieder die Scholle zu bestellen, sondern ein Auto, Ingenieur werden und durch die neuen Städte fahren.50 Das Auto als Symbol für das neue Leben zeigen auch die Filme „Der lichte Weg" (Svetlyj put ') und „Lärme, kleine Stadt" (Sumi gorodok): Ingenieur und Ingenieurin fahren im Auto; in „Der lichte Weg" erhebt sich die junge Ingenieurin mit ihrem neuen Auto sogar in die 43

Vgl. auch: Weiner, Douglas R.: Models of Nature. Ecology, Conservation, and Cultural Revolution in Soviet Russias, Bloomington 1988, S. 104. 44 Vgl. auch Geldern, James van: The Centre and the Periphery: Cultutal and Social Geography in the Mass of the 1930s, in: White, Stephen (Hg.): New Directions in Soviet History, 1992, S. 62-80. Cambridge 45 Siehe auch Schultz, Building the „Soviet Detroit". ,

46

47

Inzenernyj trud, Nr. 18, 30.9.1930, S. 532, Nr. 8, August 1935, S. 207.

Vgl. auch Kluge, Robert: Der sowjetische Traum vom Fliegen. Analyseversuch eines gesellschaftlichen Phänomens, München 1997; Higham, Robin et al. (Hg.): Russian Aviation and Air Power in the Twentieth Century, Portland 1998. 48 Bol'sie kryl'ja, LenfiPm Leningrad 1937, Regie: M. Dubson, Nachweis: Maceret, Sovestkie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, Film ist nicht erhalten; Vysokaja nagrada, Sojuzdetfil'm Moskau 1939, Regie: E. Snejder, Nachweis: Gosfil'mofond; Osibka inzenera Kocina. 49

50

Inzenernyj trud, Nr. 6, 31.3.1931, S. Patreev, Inzenery, Bd. 1, S. 157f.

138.

In der Produktion

219

Lüfte und fliegt über den Dächern von Moskau.51 Diese Begeisterung ergriff viele junge Ingenieure, wie der Ingenieur Vladimir Michajlovic Sestoval (1907-1981) schreibt: Er und seine Kollegen bei Avtostroj seien „leidenschaftliche Automobilisten" gewesen: „Mein Lieblingsaufenthaltsort war ein Ford des Modells T, ein Krokodil der zwanziger Jahre, das irgendwie in die Werkstatt des Instituts geraten war und ständiger Reparaturen bedurfte, bei denen ich unbedingt dabei sein mußte." Wie Sestoval hier schon andeutet, wurde die Industrie zum Ort der Erbauung, während die Natur ihrer Rolle als Ort der Inspiration und Erholung verlustig ging. Die Natur gab ihre vielen sekundären Bedeutungen an die Technik ab und übernahm deren „eindimensionalen" Charakter. Die Romantik der Sonnenauf- und -Untergänge wurde von einer „Ingenieursromantik" abgelöst, bei der sich der Mensch an dem Anblick der funkelnden Lichter einer Baustelle ergötzte. „Schau, Metallist, was für eine unglaublich wunderschöne Nacht! Was sagst Du

ist das keine

Schönheit?",53

fragt der Ingenieur Kuzninskij in Patreevs „Ingenieure" seinen Kollegen Avdentov angesichts der in der Nacht glitzernden Lichter der Hafen- und Gleisanlagen. Sogar die Betonproduktion wurde zur romantischen Ange-

legenheit:

stundenlang zusehen. Fokin kam auch hierher, rein aus Vergnügen, um zuzusehen, sowie manche „verrückte" Menschen es lieben, den Sonnenuntergang zu betrachten."54 „Man konnte dem Vorgang der Betonherstellung

Der Ingenieur Smirnov sah in den nagelneuen Maschinen, die in der Fabrikshalle standen, „Bräute vor der Hochzeit".55 Eine feierliche Stimmung ergriff den Ingenieur Losak angesichts des Maschinenparks: „Das Panorama der Baustelle übte auf mich einen starken Eindruck

aus. Die für die drei Turbogeneratoren mit den Fundamenten für die Maschinen war fast fertiggestellt, die Montage der ersten Turbine und der ersten Kessel hatte man bereits begonnen, der Damm am Fluß Krynka war schon errichtet und darunter die Wasserbecken existierten bereits; der zweite Damm am Fluß Ol'chovka für den Bau des oberen Stausees befand sich im Bau. (...) Nachts war der Hauptkorpus des Kraftwerks hell erleuchtet, und auf allen Er6 hebungen flackerten elektrische Lichter und Gasschweißgeräte."

Haupthalle

Die Maschinen und ihr perfektes Zusammenspiel wurden schließlich immer wieder mit einem Symphonieorchester und Musik verglichen. Der Filmtitel „Symphonie des Donbass" sagt bereits aus, daß die Industriali51

Svetlyjput', Mosfil'm Moskau 1940, Regie: G. Aleksandrov, Nachweis: als Video in meiBesitz; Sumi gorodok, Kievskaja Kinostudija Kiev 1939, Regie: N. Sadkovic, Nachweis: Kinozentrum, Moskau. 52 RGAÈ, f. 623, Sestoval, V.M., op. 1, d. 40: Vospominanija o trudovoj dejatel'nosti v „Avstroitel'stvo avtomobil'nogo zavoda v g. Gor'kom, 1. 1. tostroe", 53 Patreev, Inienery, Bd. 2, S. 359. 54 Marietta Sergeevna: Das Wasserkraftwerk, Berlin 1952, S. 221. Saginjan, 55 nem

56

Smirnov, 1. 57. Losak, 1. 4.

220

Krisenmanager und Improvisationskünstler

sierung des Donbass als große Komposition verstanden wurde. Im harmonischen Zusammenspiel entlockten die Maschinen, dirigiert von virtuosen Ingenieuren, der Landschaft endlich die Töne des Fortschritts und des Sozialismus: „Die Schwenkkräne sind gleich riesigen Kontrabässen, die langen Ausleger sind die Bögen, die Dampfkräne die Klarinetten, ihr Kupfer hupt so harmonisch und fröhlich, die Abbauhämmer sind moderne Kastagnetten, die übermütig den Takt schlagen, die Eisenbahn ist wie die Klaviatur eines riesigen Instruments: Die Räder singen auf den Brücken oder werden vom Beton gedämpft, der erste Dirigent ist Vinter, der zweite Vedeneev."57 Gladkov ging soweit, die „herkömmliche" Musik als unnütz und schädlich zu bezeichnen: Wirkliche Musik bestand aus dem Klang des Metall, dem Surren der Elektrizität und den täglichen Explosionen, mit denen Gestein und Erdreich weggesprengt wurden.58 -

Die Begeisterung für die Technik und das Neue bei gleichzeitiger Kriegserklärung an die Natur findet sich am stärksten bei Fedorova wieder. Als einzige von den hier vorgestellten Ingenieur/innen gibt sie tatsächlich der Natur die Schuld an Unglücken: „Die

ersten Tunnelarbeiter mußten einen schweren und heftigen Kampf mit den Kräften der Natur fechten. (...) Die Leute mußten nur den Moskauer Grund öffnen, der sich unter der Last der Stadt festgefügt hatte, als die Erde im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben erweckt wurde. In Rohren gefangene Flüsse wurden aufgewühlt, Erdrutsche bahnten sich ihren

Weg."59

Sie begeisterte sich für den Aufbau, war leidenschaftliche Segelfliegerin und Fallschirmspringerin und empfand die Baustellenromantik: „Stellen Sie sich den Kalinin-Prospekt in den dreißiger Jahren vor. Eine dunkle, frostige Nacht. Rundum lodern die Feuer so tauten wir den gefrorenen Boden auf."60 Besondere Genugtuung bereitete es ihr, die kleinen, schiefen Häuser, die für das alte Moskau standen, darunter auch ihr Geburtshaus, mit eigenen Händen abzureißen.61 Jakovlev stimmt weitestgehend mit Fedorova überein: Sie einte die Flugbegeisterung und die Freude darüber, daß das alte Moskau, das Jakovlev als stinkend, lärmend und rückständig beschreibt, einem neuen wich, das auch neue Menschen hervorbrachte: -

„Heute sieht Moskau ganz anders aus, schon rein äußerlich ist es nicht wiederzuerkennen, aber auch das geistige Leben der Einwohner hat sich verän-

dert."62 Auf die gleiche Weise war Kozevnikova von der der sie eine neue Welt zu erschließen hoffte: 57

Filimonov, Po novomu ruslu, S. 112. Gladkov, Ènergija, S. 65, 68; ders., Pis'mo, S. 39. 59 Fedorova, Naverchu, S. 45. 60 Fedorova, Dni i gody, S. 144f. 61 Fedorova, Naverchu, S. 5; dies., Dni i gody, S. 145. 62 58

Jakowljew, S.

16f.

Fliegerei fasziniert, mit

In der Produktion

221

„Aviation... Flüge

zu den Sternen... Eine neue Welt, unbekannt und rätselhaft... Was ist dort in der Unendlichkeit des Weltalls?"63

Technikbegeisterung erfaßte auch die Ingenieure, die sich nicht der Fliegerei verschrieben hatten: Pozdnjak war sehr beeindruckt von der Die

Größe und

Komplexität der hoch modernen Buntmetall-Fabrik in in Kal'cugino, der er 1930 sein Praktikum begann: „Wir gingen alle Zechen ab und unser Staunen angesichts der überwältigenden Sauberkeit und Schönheit wurde immer größer."64

Lavrenenko schafft den Spagat, sich sowohl zu seiner Naturliebe zu bekennen, als auch Respekt vor dem Urwesen Natur auszudrücken, mit dem der Mensch ringt. Er schreibt, daß ihn Jedes Mal die unfaßbare Weite und Schönheit der Natur in ihren Bann schlug."65 As er 1929 als Praktikant auf den Dneprostroj kam, war er von dieser gigantischen Baustelle und den hier ausgefochtenen Kampf mit der Natur überwältigt:

„Über das Wehr des Staudammes stürzten in Sekundenabständen fast 30.000

Kubikmeter Wasser. Zum ersten Mal sahen wir so etwas... Viel Unheil richWassers an. Uns kam es zu, beim Kampf gegen das bedrohliche Wasser dabeizusein, das sich seinen Weg ins Schwarze Meer frei sprengte. Die Menschen besiegten die Naturkraft, aber der Eindruck von dem reißenden Strom und dem Kampf mit ihm blieb für das ganze Leben in meiner tete die Narurkraft des

Erinnerung."66

Die Darstellung der Natur als Feind barg den Vorteil, daß sich Regierung und Behörden ihrer Verantwortung entledigen konnten. Dabei waren sie es, die von den Ingenieuren verlangten, die Bedingungen der Natur, sei es den Winter, das Frühjahrshochwasser oder die Sommerhitze zu ignorieren. Es wurde sowohl verneint, daß die Natur berechenbar im wahrsten Sinne des Wortes war, als auch negiert, daß der Mensch die Möglichkeit hatte, sich auf die Natur einzustellen, präventive Maßnahmen zu ergreifen und Dürre, Eisgang oder Frühjahrshochwasser entgegenzuwirken. Mit den alten Axiomen, technischen Grundregeln und Normen war auch das alte Naturbild verbannt worden. Nicht nur die Technik war politisch, auch jede Aussage über die Natur glich nun einer politischen Stellungnahme. Der Verzicht auf gesicherte Erkenntnisse über die natürlichen Verhältnisse erscheint als Rückschritt, wurde aber als Fortschritt dargestellt: Die Sowjetmenschen paßten sich nicht der Natur an, sie erklärten ihr den Krieg. Jeder in Eiseskälte angeblasene Hochofen, jedes bei Frost gegossene Fundament, jede in reißenden Fluten errichtete Brücke konnte so als Sieg über die Natur verbucht werden. Umgekehrt

Kozevnikova, S. 25.

Pozdnjak, 1. 266.

Lavrenenko, 1. 23. Lavrenenko, 1.6.

222

Krisenmanager und Improvisationskünstler

wurden Fehlschläge als Niederlagen im Kampf gegen die Gezeiten deklariert. Die hier vorgestellten Ingenieure übernahmen den Diskurs über den Erbfeind Natur nur teilweise, ließen sich aber vollkommen von der Begeisterung für die Technik vereinnahmen. Ihr Verhältnis zu den Maschinen war fast schon ein sinnliches; sie waren ausnahmslos bereit, sich dieser Leidenschaft mit Leib und Seele hinzugeben. Das Gros ließ sich von den Träumen, die sie mit der Industrialisierung verbanden, gefangen nehmen und waren für die Teilhabe an diesem Projekt bereit, einiges an Widrigkeiten zu ertragen bzw. über Mißstände hinwegzusehen: „In der Phantasie (...) erstand das Wasserkraftwerk als ersehntes und verlokkendes

Wunschbild, wie

es

für manche Provinzler Paris oder London dar-

stellt."67

c) Trial and Error" „

Auch wenn Ingenieure die Industrialisierung nicht unbedingt als Kampf gegen die Natur begriffen, waren sie willens, in unermüdlichem Einsatz für die Fortentwicklung ihrer Flugzeuge, Maschinen und Produktionsabläufe zu kämpfen. Von Fedorova bis Bogdan, von Fedoseev bis Pozdnjak findet sich kein Ingenieur und keine Ingenieurin, die nicht angibt, freiwillig und aus Begeisterung für die Sache auch Abendstunden, Nachtschichten und Wochenenden über ihrer Arbeit verbracht zu haben. Die Bellifizierung des Industrialisierungsprozesses und seine zentrale Bedeutung für ihr eigenes Weltbild brachten die jungen Ingenieure und Ingenieurinnen dazu, sich mit den neuen Herausforderung zu identifizieren und sich entsprechend der Anforderungen vollkommen neue Arbeitsmethoden anzueignen. Sie fanden Wege und Methoden, um das „bolschewistische Tempo" umzusetzen und dem „Kampfauftrag" gerecht zu werden. Das bewirkte, daß sie in einem viel höheren Ausmaß, als es normalerweise in der Ingenieurskunst der Fall ist, ausprobierten, wagten und auf dünner Erfahrungsbasis Entscheidungen trafen, denn altes Wissen war oftmals vor 1917 aus dem Ausland importiert gewesen oder jetzt mit den alten Ingenieuren verschwunden: „Alle unsere Züge und Straßenbahnen fuhren mit amerikanischen Bremsen der Firma Westinghouse, wir benutzten holländische Telefone, nähten mit Nähmaschinen det Firma Singer, führten in unseren Labors die Messungen mit Apparaten von Siemens-Schuckert durch, und die Studenten zeichneten ihre Diplomprojekte mit Reißfedern und Zirkeln der Firma Richter."68

Schaginian, Wasserkraftwerk, S. 459. Emel'janov, O vremeni, S. 9.

In der Produktion

223

Nun standen die sowjetischen Ingenieure vor der Aufgabe, aus eigener Kraft eine gigantische Industrie zu entwickeln, wie der Ingenieur Komzin

schreibt:

„Ich gebe zu, daß das, was wir am Magnitnaja-Berg in zwei Jahren vollbringen sollten, mir am Anfang phantastisch vorkam. Hier, auf einem wüsten Platz, mußten Gruben, Koks- und Hochöfen, ein Walzwerk und mechanische Zechen, Elektrizitätswerke und ein vielgleisiges Eisenbahnnetz aufgebaut

Die

werden. Und eine Stadt mußten wir auch noch bauen!"69 denen sowjetische Ingenieure arbeiteten, unter Umstände,

erforderten besondere Maßnahmen, so der Ingenieur Sestoval: „Die Meisterung der Produktion forderte von uns jeden Tag neue Entscheidungen, v.a. auch Mut. Die Methoden der Entscheidungsfindung waren zum Teil etwas erstaunlich."70 Angesichts des großen Zeitdrucks und des fehlenden Wissens waren Ingenieure gezwungen, selbst Experimente durchzuführen und sich von den Ergebnissen überraschen zu lassen. Wenn der Versuch klappte, wurde das Verfahren etabliert, ging das Experiment schief, wurde solange weitergesucht und probiert, bis sich ein zufriedenstellendes Ergebnis einstellte. In den Schilderungen der Ingenieure ist deutlich zu erkennen, daß sie ihre Entwicklung zum Ingenieur als dialektischen Prozeß verstanden. Der Bildungsweg verlangte von ihnen, sich Stufe um Stufe zu erkämpfen. So wurde die „Methode des Probierens und Irrens" bzw. das Trial and Error-Prinzip (sposob prob i osibok) als gängiges Verfahren etabliert. Calych berichtet: „Nachdem ich bei ,Elektrokohle' angefangen hatte, spürte ich bald meinen großen Bedarf an theoretischen Darstellungen der Elektrokohletechnologie, für die man eine theoretische Basis braucht, um auf die praktischen Fragen —

zu können: in erster Linie, welche Rohstoffe für die Produktion welche Erzeugnisse am geeignetsten sind, wie der technologische Prozeß aufzubauen ist usw. Leider gab es eine solche Basis der Elektrokohlentechnologie noch nicht, und ich mußte die einzige Methode wählen, die in unseren Umständen möglich war: die sposob prob i osibok."11

antworten

Calychs Aufgabe als Zechenleiter war es, einen Produktionszweig aufzubauen, der für Rußland vollkommen neu war und in dem russische Ingenieure noch kaum hatten Erfahrung sammeln können.72 Angesichts fehlender Fachliteratur blieb ihm nichts anderes übrig, als in langwährigen Versuchsreihen und Experimenten selbst den Eigenschaften des Kohlenstoffes auf den Grund zu gehen. Der Ingenieur V.S. Emel'janov (*1900), der wie Calych in der Elektrodenproduktion arbeitete, bestätigt die ungewöhnliche Situation. Waren bislang Elektroden immer in den USA oder in Deutschland bei Siemens eingekauft worden, mußten sie plötzlich 69

Komzin, Ja verju, S.18. Sestoval, 1. 8. 71 Calych, S. 34. 72 Calych, S. 22. 70

224

Krisenmanager und Improvisationskünstler

selbst Elektroden herstellen, ohne sich darin auszukennen. Sie wußten, daß man Koks, Anthrazit und Teer dafür benötigte, kannten aber nicht die genaue Zusammensetzung bzw. den präzisen Produktionsablauf.73 Calych ersetzte mit seiner Arbeit letztlich ein ganzes Forschungsinstitut, das sie dringend gebraucht hätten.74 Während er einerseits die Dramatik der Situation schildert und im Rückblick selbst erstaunt ist, unter welchen Umständen sie damals arbeiteten, ist er unverkennbar stolz, in diesem Abenteuer triumphiert zu haben. Er genoß es, Tag und Nacht im Betrieb zu verbringen, Experimente zu machen und Urheber vieler neuer Produktionsverfahren und Produkte wie eines besonderen Kohlenstoffes für Scheinwerfer, dünner Kohleröhrchen oder elektrographitisierender Bürsten zu sein.75 Ihn ärgerte, daß 1946 eine Gruppe von Spezialisten mit dem Stalinpreis für die Entwicklung einer Scheinwerfertechnik geehrt wurde, für die er und seine Kollegen die Grundlagen gelegt hatten.76 Auch Loginov begeisterte sich für jede neue Herausforderung als neue Entwicklungsstufe auf seinem Bildungswegs als Ingenieur. Auch sein Arbeitsbereich war Neuland für die sowjetische Produktion. Er hatte als Mitarbeiter und bald stellvertretender Leiter des Trusts für Meßinstrumentenbau die Aufgabe, Labore aller Art mit Geräten, Flugzeuge mit Apparaten und die Konsumgüterindustrie mit neuen Produkten zu versorgen.77 Das bedeutete für ihn und seine Leute, ständig neues Terrain zu beschreiten und auszuprobieren, bis ein geeignetes Gerät entwickelt war und in Produktion gegeben werden konnte. Ihr gängiges Verfahren war, Autopiloten, Heizgeräte, Grammophone, Patefonen usw. im Ausland einzukaufen, in den Konstruktionsbüros zu zerlegen und nachzubauen.78 1933 bekamen Loginovs Ingenieure einen Auftrag der Ölindustrie, Meßinstrumente zu bauen, die bis dahin für 200 bis 300 Dollar im Ausland eingekauft worden waren. Obwohl diese Devisen Loginovs Team zur Verfügung gestellt wurden, schafften sie es nicht, innerhalb eines Jahres ein einsatzfähiges Produkt zu entwickeln. Es dauerte weitere Monate, bis die Auftraggeber zufrieden gestellt waren. Loginov rechtfertigt sich: „Wir konnten nicht mit amerikanischen Firmen konkurrieren. der das Wissen, noch die Erfahrung (...)."

Uns reichte

we-

Doch für Loginov war dieser Mißerfolg keineswegs ein Scheitern, sondern eine der notwendigen Lektionen und Vorstufen, die er und seine Kollegen auf dem Weg zur Beherrschung der Technik lernen bzw. über73

Emel'janov, O vremeni, S. 274.

Calych, S. 35. Calych, S. 28, 29, 33. 76

74 75

Calych, S. 29, 33. Loginov, 1. 40ff. 78 Loginov, 1. 57f. 79 Loginov, 1. 65f. 77

In der Produktion

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winden mußten. Seine Ingenieursarbeit war für ihn ein ständiger Prozeß der Technikaneignung und Vervollkommnung; das Trial and ErrorVerfahren war der gesetzmäßige wie garantierte Weg zum Erfolg. Auch Pozdnjak beschreibt den Zwang zum Ausprobieren als lineare Aufwärtsentwicklung und nicht ohne Stolz und Erstaunen über die eigenen Arbeitspraktiken: Bei seiner Arbeit in der Projektierungsabteilung für Buntmetallfabriken wurde er immer wieder mit Produktionsmethoden konfrontiert, mit denen es noch keine Erfahrung gab, so daß sie ausgetestet werden mußten. 1934 wurde er auf die Baustelle eines Quecksilberwerks ins Donbass geschickt, um dort in Versuchsreihen festzustellen, wie ein Ofen beschaffen sein und befeuert werden mußte, um eine ideale Quecksilberausbeute zu erhalten. Pozdnjak betreute diese Versuchsreihe und mußte in den überaus schädlichen Quecksilberdämpfen Nachtwache halten. Er berichtet, daß die russische Fachliteratur zu diesem Problem aus einem einzigen Buch bestand, so daß er selbst ein Standardwerk aus dem Englischen ins Russische übersetzte, als seine Fachkollegen begannen, seine Testergebnisse anzuzweifeln.80 Schließlich erwies sich auch Fedoseev als begeisterter sowjetischer Ingenieur, der vom Erfolg seines Tuns überzeugt war und sich mit Hingabe seinen Versuchsreihen widmete: „Es kam vor, daß ich drei Tage hintereinander nicht nach Hause kam und mir meine Frau deshalb furchtbar zürnte."81 In der Glühlampenfabrik „Svetlana" arbeitete er Tag und Nacht an dem Projekt eine 100-Kilowatt-Generatorenlampe für eine Rundfünksendestation zu entwickeln, die auf einer Kurzwelle von 13 Metern Propaganda Richtung Westen senden sollte. Er war stolz, als es ihm relativ schnell gelang, eine solche Lampe zu entwerfen, die unter der Bezeichnung G433 bis in die sechziger Jahre benutzt wurde.82 Fedoseev genoß es nicht minder als Calych, ein sowjetischer Erfinder zu sein und als Pionier Glühbirnen einer neuen Generation entwickeln zu können. Trial and Error wird nicht nur von den Ingenieuren als gängige Arbeitsmethode bezeugt, sie wurde auch in Literatur und Film als die den sowjetischen Umständen entsprechende Verfahrensweise gepriesen. Pogodins Komödie „Poem über ein Beil" erzählt von dem Arbeiter Stepan, dem es gelungen ist, säurebeständigen Stahl herzustellen, das Rezept aber nicht notiert hat und nun unermüdlich weiterkocht, bis ihm am Ende natürlich abermals die Weltsensation gelingt.83 Der Film „Die vier Visiten des Samuel Wulfs" (Cetyre vizita Samuèlja Vul'fa, 1934) zeigt ein ITRKollektiv, das geduldig drei Jahre und 120 Versuche lang an einer Ma80 81 82 83

Pozdnjak, 1. 455ff. Fedoseev, S. 57. Fedoseev, S.57.

Pogodin, Poèma o topore.

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schine tüftelt, bis sie funktioniert.84 Sowohl der Film als auch das Theaterstück drücken aus, daß in der Sowjetunion zwar mit unkonventionellen, teils abenteuerlichen Methoden gearbeitet wurde, das Resultat aber immer Weltniveau hatte und das Ausland übertraf. Die sowjetische Dialektik programmierte den Erfolg vor, der sich gesetzmäßig als Resultat vieler Fehlversuche einstellen würde.

d) Produktionsrisiko

Junge Ingenieure wurden nicht nur vor das Problem gestellt, daß sie Wissen schaffen mußten, das es bisher nicht gab; es wurde von ihnen auch verlangt, altes Wissen zu ignorieren oder für falsch und überholt zu erklären. Die Vorstellung, eine noch nie dagewesene Industrie zu schaffen, war in den dreißiger Jahren mit dem Glauben verbunden, daß diese neue

Technik auch auf neuen technischen Gesetzen beruhe bzw. alle alten Normen außer Kraft setzen könne.85 Scheinbar neutrales technisches Wissen wurde ideologisiert und in kapitalistische und bolschewistische Methoden getrennt. Als kapitalistisch und veraltet galt grundsätzlich alles, was auf eine Beschränkung und Begrenzung des Bauens oder der Produktion hinauslief. Die Konsequenz war, daß vielfach alle bisherigen technischen Richtlinien und Grundregeln in Frage gestellt wurden.86 Für

das

neue

Arbeiten mußte das Alte überwunden werden: von allen Bedingtheiten, Tra-

„Der sowjetische Konstrukteursgedanke ist frei ditionen und dem bereits Bestehenden."

Von Ingenieuren wurde gefordert, sie sollten alles Alte „über Bord" werfen und in diesem Sinne beim Ausprobieren des Neuen ein gewisses Produktionsrisiko nicht scheuen. Die VARNITSO beklagte: „Unterdessen muß man mit aller Offenheit bekennen, daß die ITR sich weiterhin bei jedem Schritt, bei jeder neuen technischen Idee nach allen Seiten ängstlich umgucken. Als Folge bleibt statt Wagemut, der für diese Epoche der großartigen Arbeiten und des entfesselten sozialistischen Vormarsches so nötig ist, teilweise nur Feigheit übrig."88 Auch die Presse forderte Wagemut von Ingenieuren: „Wenn wir jedesmal anfangen würden zu warten, bis wir abschließende geologische Forschungsergebnisse vorliegen haben, (...) dann hätten wir heute wahrscheinlich noch nicht mit dem Bau des Magnitostroj begonnen."89 84

Cetyre vizita Samuelja Vul'fa, Mezrabpromfil'm Moskau 1934, Regie: A. Stolper, Nachweis: Videothek im Kinozentrum, Moskau. 85 Vgl. dazu auch: Clark, Katerina: The Changing Image of Science in Soviet Literature, S. 261, in: Graham: Science and the Soviet Social Order, S. 259-298. 86 Vgl. auch: Clark, The Soviet Novel, S. 152. 87 Za industrializaciju, 12.1.1933. 88 RGAÉ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 62, I. 23. 89 Za industrializaciju, 10.8.1931.

In der Produktion

227

Ein sozialistischer Wettkampfstil könne sich nur dann entwickeln, wenn man ein gewisses Produktionsrisiko eingehe. Ingenieure, die der Meinung waren, Risiko sei eine „gefährliche Sache", wurden öffentlich verspottet.90 Das Eingehen eines Risikos wurde auch in Literatur und Film propagiert, die Existenz einer neutralen, allgemeingültigen Technik verneint. Die Regisseure F. Érmler und S. Jutkevic stellten in ihrem Film „Der Gegenplan" 1932 dar, daß jedes vermeintlich rein fachtechnische Argument immer auch eine politische Stellungnahme enthielt.91 Als die Ingenieure einer Leningrader Fabrik eine Werkbank zur Reparatur zwei Monate aus dem Betrieb nehmen wollen, erklärt der Parteisekretär Vasja ein solches Vorgehen zur mutwilligen Hintertreibung des Plans. Während der junge Ingenieur Pavel auf das Recht der Technik pocht und den Parteisekretär angreift: „Er will uns in Technik unterrichten, Vasja und Technik!", läßt jener den Arbeitern und Technikern genau 24 Stunden Zeit, um Abhilfe zu schaffen, und mahnt: „Es gibt Fälle, in denen die Technik politisch und gefährlich wird. Wir dürfen uns

der Technik nicht etgeben."92

Daß die Technik ein Politikum war, unterstrich auch Kataev in „Im Sturmschritt vorwärts!". Der Ingenieur Margulies besteht darauf, daß ein Maschinenpaß kein Dokument sei, das die Grenzen der Maschine unumstößlich festlege, sondern nur die subjektive Einstellung der ausländischen Erbauer wiedergebe. Während es für den alten Ingenieur ein ehernes Gesetz ist, den Beton nach den Lehrbüchern und alt bewährter Methode genau zwei Minuten lang anzurühren, hält Margulies diese Norm für ein Vorurteil aus vergangenen Zeiten. Durch Überlastung der teuren Import-Maschine kommt er statt auf 90 Betonmischungen auf 409 in einer Acht-Stunden-Schicht.93 Der alte Ingenieur läßt sich dennoch nicht beirren: „Diese Experimente sind eine absolute Dummheit und zeugen von technischem Unwissen."94 Aber der junge sowjetische Ingenieur weiß, daß man durch die Überlastung der Maschine das Werk in drei statt in acht Jahren errichten wird, um dann eigene, sowjetische Betonmischmaschinen herzustellen.95 Neben Za industrializaciju, 5.7.1929. Vgl. auch Youngblood, Denise J.: Soviet Cinema in the Silent Era, 1918-1935, Austin 31991, S. 228. Vstrecnyj war ein Auftragswerk des ZK zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution und wurde 1933 als Leitmodell für den Unterhaltungsfilm festgelegt. Vgl. auch Turovskaja, Maja: The 1930s and 1940s: Cinema in Context, S. 44, in: Taylor / Spring, Stalinism and Soviet Cinema, S. 34-53. 92 Vstrecnyj, Rosfil'm Leningrad 1932, Regie: F. Èrmler, S. Jutkevic, Nachweis: Bundesarchiv Filmarchiv, Berlin. 93 Kataev, Vremja, S. 174, 294. 94 Kataev, Vremja, S. 79, 109, 121. 95 Kataev, Vremja, S. 295f. 91

-

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Krisenmanager und Improvisationskünstler

dem Ingenieur Margulies stellte auch der junge Ingenieur Zachar' Semenovic Lacis aus dem Film „Drei Kameraden" (Tri tovarisca, 1935) den neuen Vorbildingenieur dar. Auch er hat verinnerlicht, daß man für die Planerfüllung das Risiko nicht scheuen darf. Als sich das Bauholz für seine Fabrik vor einer Brücke verbarrikadiert, zaudert er nicht lang, sondern läßt die Brücke sprengen. Das Holz kommt frei, und die Brücke wird sofort danach in Rekordtempo unter Begleitung eines Blasorchesters wieder aufgebaut.96 Daß Ingenieure der Aufforderung, auf dem Gebiet des Ingenieurwissens tabula rasa zu schaffen und im Namen der Planerfüllung zu ungewöhnlichen Maßnahmen zu greifen, nachkamen und verinnerlichten, zeigt der Ingenieur Nikolaj Aleksandrovic Filimonov (*1894). Er war stolz darauf, als ein amerikanischer Konsultant sowjetische Ingenieure wie folgt charakterisierte: „Sowjetische Ingenieure sind gute Spezialisten, sie haben nur einen Nachteil: Sie suchen immer etwas Neues und vergeuden viel Zeit damit, indem sie sich den Kopf zerbrechen, während es doch bereits bewährte Methoden und erprobte Verfahren gibt. Ihr seid zu unruhig, das stört die Sache." Genau die Eigenschaften, die der Amerikaner als störend empfand, machten für Filimonov den Vorzug des sowjetischen Ingenieurs aus. Dem Amerikaner warf er seinerseits vor: „Er war eben für den gesunden amerikanischen technischen Konservatismus."97 Der Roman „Das große Fließband" zeigte die große Bereitschaft sowjetischer Arbeiter und Ingenieure, alles neu zu machen und selbst auszuprobieren als Problem, angesichts dessen die Amerikaner auf der Baustelle des Traktorenwerks in Stalingrad kapitulieren wollen: „Wenn ein Arbeiter oder Brigadier meint, daß er eine gute Idee hat, die er in einem Buch ausgegraben hat oder von irgend jemandem gehört hat, dann verändert er sofort seine Arbeitsmethoden, die Zusammensetzung der Erde und des Sandes."98 Ähnlich wie der Amerikaner gegenüber Filimonov beschwert sich auch der fiktive Amerikaner über den Willen der sowjetischen Menschen, das Rad neu zu erfinden: „Warum muß man den Senf zweimal essen, um sich zu überzeugen, daß er bitter schmeckt?"99 Der Amerikaner schimpft, daß er Dollar für Ratschläge bekomme, die von den sowjetischen Ingenieuren dann ignoriert würden. Tatsächlich unterließen sowjetische Ingenieure eine Reihe von Maßnahmen, weil sie sie für veraltet, überflüssig oder zeitraubend hielten. Die Ingenieure Filimonov und V.A. Zachar'evskij (*1893) berichten übereinstimmend vom Bau des Staudamms am Dnjepr, daß sie sich zunächst 96 97

Tri tovarisca.

Filimonov, Po novomu ruslu, S. 132. 98 Il'in, Bol'soj konvejer, S. 38. 99 Il'in, Bol'soj konvejer, S. 39, 64.

229

In der Produktion

den Beton, den die amerikanischen Konsultanten für unbrauchbar hielten, wegzugießen. Später mußten sie eingestehen, daß die amerikanische Qualitätskontrolle sinnvoll gewesen sei, denn eine solche Betonqualität wie am Dnjepr hätten sie nie wieder erreicht.100 Über Kuzneckstroj erzählt Bardin, daß sie oft auf Qualitätskontrollen verzichteten, weil deren Notwendigkeit ihnen nicht einsichtig war bzw. ihnen das nötige Wissen z.B. zur Überprüfung von Schweißnähten fehlte.101 Von Kuzneckstroj und Magnitostroj berichteten Ingenieure übereinstimmend, daß sie sich nicht mehr an die Vorschrift hielten, Beton nicht bei Frost zu gießen, und daß sie bei Minus 30 Grad den Hochofen anbliesen, was von den ausländischen Konsultanten einhellig als Leichtsinn abgelehnt wurde.102 Die Presse unterstützte diese „Pioniertaten" und beschuldigte die Ingenieure, die vor rissigen Betonfundamenten warnten, sie hintertrieben willentlich den Plan: „Wenn dem Ingenieur Archipov nicht noch eine neue Methode einfallt, um

weigerten,

die Arbeiten zu bremsen, dann wird der Bau trotz allem

fertig."103

Besonders Calych und Gajlit waren bereit, ein gewisses Risiko einzugehen und mit alten Regeln zu brechen. Die Idee, alles neu zu machen, ging ihnen in Fleisch und Blut über. Calych wies als unerfahrener, aber enthusiastischer und von sich selbst überzeugter Ingenieur 1930 in der Fabrik „Elektrokohle" einen alten Arbeiter, „Onkel Prochor", an, 180 Grad heißen Teer weiterzuverarbeiten, obwohl vorgeschrieben war, den Teer auf 120 Grad herunterkühlen zu lassen. „Prochor gab mir die Handschuhe und die Schlüssel und sagte: ,Hier, ich habe 30 Jahre nicht die Instruktion mißachtet, tu es selbst.'"

Calych beteuert, daß ihm dieser Fall eine Lehre war, „die ich mein ganzes Leben erinnerte."104 Er mußte erst lernen, daß es technische Regeln gab, die es zu respektieren sich lohnte. Auf ähnliche Weise verhielt sich auch Gajlit, der 1931 im Aluminiumkombinat

am Volchov von dem französischen Konsultanten, Monsieur Mauri, aufgefordert wurde, die Qualität der Ausfütterung der Elektrolyse-

zellen regelmäßig zu überprüfen. Gajlit empfand dieses Verfahren nicht nur als vollkommen überflüssig, sondern auch als Schikane: ein NichtVerstehen des bolschewistischen Tempos. Erst einige Jahre später begriff er die Richtigkeit einer solchen Qualitätskontrolle:

Filimonov, Po novomu ruslu, S. 133ff; Zachar'evskij, op. 1, d. 18: „Vospominanija o Dneprovskoj GRÉS", 1961-77,1. 229f. 101 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 110. 102 Gugel', Vospominanija, S. 340; Dzaparidze, Ètich let nel'zja zabyt', S. 89; Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 94, 100. 103 Inzenernyj trud, Nr. 6, 31.3.1931, S. 152. 104

Calych, 1. 27.

230

Krisenmanager und Improvisationskünstler als die Elektrolyseure der Volchov-Aluminiumfabrik vier, fünf, manche sogar sechs Jahre lang arbeiteten, wurde uns der Sinn der Einhaltung strenger Regeln während des Montageprozesses klar."105 anderen Worten war er erst später in der Lage, diese Maßnahme neu-

„Später erst,

Mit tral zu bewerten und als objektive technische Notwendigkeit anzuerkennen. In dem Moment des Bauens, im Eifer des „Gefechts" der Baustelle entschied er dagegen nach dem Muster bolschewistisch kapitalistisch,

unabdingbar zeitverzögernd. Während Calych und Gajlit sich später eines Besseren belehren ließen, -

-

berichtet Fedorova in ihren veröffentlichten Memoiren mit unverändertem Enthusiasmus, wie sie die ehemals heiligen Regeln brachen. Beim Metrobau trieben sie den englischen Vortriebsschild, der laut Dokumenten am Tag nur einen drei Viertel Meter vorwärts bewegt werden konnte, einen Meter 19 voran. Für sie war es kein Risiko, sondern ein Erfolg, die Maschine stärker zu belasten, als es vorgesehen war. Sie führten den Beweis, daß die Maschinenpässe willkürliche Angaben enthielten, die man getrost mißachten durfte. Der englische Schild war in ihren Augen ohnehin nur eine Übergangslösung und durfte schnell ruiniert werden, um dann von einem sowjetischen Schild abgelöst zu werden, mit dem sie am Tag den Tunnel um einen Meter 25 vorantreiben konnten.'06 Am kritischsten betrachten Loginov und Maliovanov die Risikoproduktion. Wegen der „sehr schlechten Ernte" des Jahres 1932 (Loginov umschreibt damit die Hungersnot 1932/33 mit fünf Millionen Toten infolge der Kollektivierung) hatte sein Trust beschlossen, die Herstellung von Ersatzteilen für landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren auf ein Plansoll zu erhöhen, für das die Loginov unterstellte Fabrik „Präzisionsinstrument" schlicht nicht ausgelegt war. Loginov wurde von dem stellvertretenden Volkskommissar für Schwerindustrie, M.M. Kaganovic, persönlich angewiesen, die Planerfüllung zu überwachen. Er unterstreicht, daß die Umstände und die angespannte Situation ihn dazu zwangen, die Maschinen „vorsichtig" zu überlasten. Er empfand es in diesem Fall nicht als heroische Tat, sondern als heikle und schwierige Gratwanderung, die geforderte Stückzahl zu produzieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß die Maschine nicht gleich ruiniert wurde.107 Maliovanov schildert die Situation 1937 im Donbass, wo er seine praktische Ingenieursarbeit in den Kohlekombinaten begann. Wegen der hohen Normen hatten die Ingenieure und Arbeiter keinen anderen Weg gesehen, als die Sicherheitszonen, in denen aus Sicherheitsgründen keine Kohle abgebaut werden durfte, zu ignorieren und auch diese Bereiche auszubeuten: Gajlit, 1.

13.

Fedorova, Naverchu, S. 34.

Loginov, 1. 61.

231

In der Produktion

„Die Gruben befanden sich in einem desolaten Zustand. Alles war so eingerichtet, daß man Kohle fordert, ganz gleich was der Preis dafür ist. Die Leute

gingen aufs Risiko."108

Das in den Medien eingeforderte Produktionsrisiko blieb keine leere Propagandaformel, sondern gehörte zum Alltag der Ingenieure. Während Loginov und die Ingenieure im Donbass die Überlastung der Maschine bzw. den bedingungslosen Kohleabbau aufgrund äußerer Zwänge praktizierten, handelten andere Ingenieure durchaus aus Eigeninitiative teils aus Übermut, teils in dem Vertrauen, bald wesentlich bessere, sowjetische Maschinen zur Verfügung zu haben. Gerade Fedorova macht deutlich, daß der Glaube an eine bessere, alles andere übertrumpfende, bolschewistische Technik vorhanden war. Daß im Sozialismus ein Betonmischer mehr Beton mischen konnte als im Kapitalismus, war für viele sowjetische Ingenieure keine Spinnerei, sondern Realität. Der Autobauer Sestoval bezeugt das Selbstvertrauen und die Risikobereitschaft seiner Kollegen: „(...) es gab einen unbegrenzten Glauben an die Richtigkeit dessen, was wir machten, einen einzigartigen Enthusiasmus und Wagemut."109 -

e) Ausschußproduktion Die Folge der neuen Arbeitsweisen des Trial and Error und des in Kauf genommenen Produktionsrisikos war die tonnenweise Ruinierung von Rohstoffen sowie die Herstellung von Unmengen von Ausschuß (brak). Unwissen und die Ignoranz bestehender Erfahrung führte unweigerlich zu Verschleiß und Verschwendung. In „Das große Fließband" schildert Il'in, der in der Traktorenfabrik in Stalingrad recherchiert hatte, daß das Werk über Monate hinweg nur Ausschuß produzierte, weil sich niemand mit den Produktionsabläufen auskannte."0 Auch Patreev beschreibt in „Inzenery" eindrücklich, daß in den ersten Monaten in der Autofabrik in Niznij Novgorod die Ingenieure alle Hände damit zu tun hatten, den nahezu hundertprozentigen Verschleiß von Material in der Gießerei und auf dem Fließband abzustellen.1" Typisch sind die Fälle, über die der Ingenieur Emel'janov berichtet: Bei der Abschreckung von Automatenstahl erhielten sie ausschließlich Ausschuß, bis ein deutscher Ingenieur sie belehrte: „Wenn Sie hundert Prozent Abfall erhalten wollen, dann schrecken Sie ihn ab. Automatenstahl darf auf gar keinen Fall abgeschreckt werden!""2

108

Maliovanov, S. 2. Sestoval, 1.8,31. 110 Il'in, Bol'soj konvejer, S. 43, 131, 111 Patreev, Inzenery, Bd. 2, S. 644ff 112 Emel'janov, O vremeni, S. 146. 109

161.

232

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Auch Molybdän-Stahl oxidierten sie, bis ihnen ein Deutscher verriet, aß diese Stahlart unter keinen Umständen oxidiert werden dürfe."3 Die Ausschußproduktion zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten dreißiger Jahre. Obwohl in der Öffentlichkeit Risikobereitschaft und neue Techniken von den Ingenieuren gefordert wurden, wurde Ausschuß als Folge der neuen Praktiken nicht toleriert, sondern scharf angegriffen und den Ingenieuren als Versagen vorgeworfen. Ingenieure wurden für den Verlust von Hunderten von Tonnen Metall bei der mangelhaften Betreibung der Hochöfen,"4 für die schlechte Qualität von Maschinen oder für die Mangelhaftigkeit von Gebrauchsgütern verantwortlich gemacht:"5 „Nur mit einer schlechten technischen Leitung, mit dem Fehlen jeglichen Verantwortungsgefühls, mit der schwachen Verbreitung von Selbstkritik läßt sich der Fakt erklären, daß die bestens ausgestattete Fabrik „Elektrostahl" einen unzulässig hohen Anteil an Ausschußware produziert. Nur durch eine schlechte technische Führung läßt sich erklären, daß die Fabrik für Mechanik in Podol'sk solche Nähmaschinen ausstößt, deren Qualität den werktätigen Abnehmern berichtigten Anlaß zur Klage gibt."116 Die Ingenieure wurden verwarnt und ermahnt: „Die Moskauer Bolschewiki und die Moskauer Arbeiter erwarten von ihren

und Technikern einen neuen Aufschwung bei ihrer Arbeit, und nicht in Form allgemeiner Resolutionen, sondern konkreter alltäglicher Handlungen. Urteilen werden wir über die Ergebnisse Eurer Konferenz nicht anhand der Resolutionen, sondern anhand der Resultate der Arbeit unserer Unternehmen in jedem Monat, jedem Quartal und am Jahresende.""7

Ingenieuren zwar

Seit 1929 konnten Personen nach den Artikeln 111 und 112 des Strafgesetzbuches für Ausschuß vor Gericht gestellt werden; seit 1933 sah das Gesetz für die Produktion von Mangelware eine Mindeststrafe von fünf Jahren Haft vor."8 Die Ingenieure wurden so in eine Zwickmühle gebracht: Gingen sie nicht mit unkonventionellen Methoden vor, galten sie als Planzersetzer bzw. konnten die Fristen nicht erfüllen. Ließen sie sich auf das Risiko ein, wurden sie für das Resultat haftbar gemacht. Vinter brachte die Haltung gegenüber den Ingenieuren folgender Maßen auf den Punkt: „Wenn Sie Fehler machen, werden wir schimpfen und die Fehler beheben. Aber wenn Sie die Arbeit verweigern, werden wir Sie absetzen.""9

113

Emel'janov, O vremeni, S. 77. Za industrializaciju, 3.3.1933. 115

Inzenernyj trud, Nr. 7, Juli 1933, S. 198. Inzenernyj trud, Nr. 7, Juli 1933, S. 198. 1,7 Inzenernyj trud, Nr. 7, Juli 1933, S. 198. 118 Solomon, Peter (Jr.): Criminal Justice and the Industrial Front, S. 225f., in: Rosenberg, W.G. / Siegelbaum, L.H. (Hg.): Social Dimensions of Soviet Industrialization, Bloomington, 1993, S. 223-247. Indianapolis 119 RGAÈ, f. 271, Baskov, Boris Sokratovic, op. 1, d. 6: Vospominanija: Nacalo èlektrifikacii sovetskogo sojuza, 1959/60,1. 17. 116

In der Produktion

233

Ingenieure waren gezwungen zu handeln, und im Zweifelsfall war es besser, Fehler zu machen, als sich den Anweisungen zu widersetzen. Über das Problem der Ausschußproduktion berichten v.a. Calych, Pozdnjak und Bogdan, die alle drei eine unterschiedliche Meinung einnehmen. Calych schildert, daß der hohe Anteil an Ausschuß eine unausweichliche Folge seiner Versuchsreihen war. Er verhunzte dabei so viel Material, daß er von seinen Kollegen scherzhaft den Titel „großer Ausschußproduzent" (veliklj brakodel ') verliehen bekam. Er wurde nicht dafür belangt, da er eine Porzellanfabrik finden konnte, die für seinen Abfall Verwendung hatte.120 Pozdnjak nahm dagegen die Position der anklagenden Presse ein. In seinem Bestreben, stets ein korrekter sowjetischer Ingenieur zu sein, fühlte er sich verpflichtet, die Mißstände in der Gießerei in der RüstungsDie

fabrik, in der er 1933 ein Praktikum absolvierte und die sehr viel unbrauchbares Metall produzierte, publik zu machen. Er veröffentlichte innerhalb von zwei Monaten 50 kleine Artikel über Ausschußproduktion in der örtlichen Zeitung „Für den zweiten Fünfjahrplan" (Za vtoruju pjatiletku). Die Folge war, daß der betroffene Ingenieur auf ihn wütend war, die Verwaltung sich um eine bessere Produktion bemühte und er die Unterstützung des Parteiorganisators erhielt.121 Pozdnjak betont, sein Motiv beim Schreiben von Artikeln sei immer nur gewesen, „Fakten ausschließlich über das Schlechte zu sammeln, um es dann auszurotten".122 Pozdnjak führt damit besonders deutlich vor, wie sehr er die in der Presse verbreiteten Wahrheiten verinnerlichte und zum Leitfaden seiner eigenen Handlungen machte. In seiner naiven Art empfand er es als seine Pflicht, gegen „das Schlechte" vorzugehen, ohne zu argwöhnen, man könne ihn als Teil einer Kampagne instrumentalisieren. Während derart Loginov und Pozdnjak die Ausschußproduktion im Rahmen ihres sowjetischen Wahmehmungshorizonts interpretierten, legte Bogdan an dieses Problem ganz andere Maßstäbe an. Sie war résistent gegenüber der Werbung für neue Arbeitsweisen wie das „Trial and Error"-Verfahren oder das bewußte Eingehen eines Risikos. Das bolschewistische Tempo nannte sie verächtlich „Hastigkeit" (speska). Von anderen kritischen Ingenieurinnen wurde es auch „Schweinsgalopp" genannt.123 In ihren Augen gab es Qualitätsarbeit, die ihre Zeit brauchte, und „Hastigkeit", deren Resultat nur minderwertige bzw. unbrauchbare Ware sein konnte. Ausschuß war weder ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Er-

folg 120 121 122

123

noch ein

Calych, S. 35.

Einzelfall, sondern ein systemimmanentes Problem, das

Pozdnjak, 1. 418ff. Pozdnjak, 1. 267f. Gorjanova, Russische Passion, S. 232.

234

Krisenmanager und Improvisationskünstler

in den Griff bekommen konnte, wenn man radikal die Produktiveränderte. Bogdan begann 1935 ihre Arbeit in dem Mähdrescherwerk in Rostow am Don in der Ausschußsammelstelle (ploscadka braka), in der die Gründe für Fehlproduktion untersucht und die demolierten Teile ausgebessert wurden. Innerhalb kürzester Zeit kam Bogdan zu dem Schluß, daß die Hauptursache für die mangelhafte Produktion die Akkordarbeit war. Die Arbeiter produzierten unachtsam und in einem hohen Tempo, um die Norm zu erfüllen bzw. neue Rekorde aufzustellen. Die Qualität litt darunter erheblich. Da die Arbeiter bei Fehlproduktion mit Lohnabzug rechnen mußten, brachten sie die mißlungenen Teile zur Sammelstelle, wenn Bogdan abwesend war. Ihre Tätigkeit wandelte sich daher zunehmend von der technischen Arbeit einer Ingenieurin zu der ermittelnden Tätigkeit einer Staatsanwältin, wie sie selbst schreibt. Wenn sie morgens auf die Arbeit kam, erwartete sie ein Berg anonym abgeladenen Ausschusses, dessen Herkunft und Verursacher sie ermitteln mußte. Diese Detektivarbeit empfand Bogdan zunehmend als belastend. Sie kündigte schließlich, weil sie weder eine Verbesserung der Produktion durch ihre Arbeit feststellen konnte, noch gewillt war, Arbeiter zu denunzieren.124

man nur

onsbedingungen

Entscheidend für die Beurteilung und Einordnung der Ausschußproduktion war das Weltbild des jeweiligen Ingenieurs bzw. der jeweiligen Ingenieurin. Für die kommunistischen Ingenieure war es ein peinlicher bis ärgerlicher Zwischenschritt auf dem Weg zur Perfektion. Nur die Ingenieurinnen, die ihre Wahrnehmung von den sowjetischen Weltentwürfen vollkommen frei halten konnten, sahen hier die unausweichliche Folge eines Systemfehlers.

f) Mangel an allem mußten infolge der ehrgeizigen Pläne und der knapp geFristen nicht nur sich Wissen selbst erarbeiten und auf grundlegende Studien verzichten, sie waren auch gezwungen, ohne abgeschlossene Planung, ohne ausreichenden Maschinenpark oder adäquate materielle Ausstattung den Aufbau zu vollbringen.125 Dabei entwickelten sich wie im Fall der geforderten Risikoproduktion einerseits und der Die

Ingenieure

setzten

124

Bogdan, Mimikrija, S. 16, 20ff. Zur Mangellage vgl. auch Shearer, Industry, State and Society; Kirstein, Tatjana: Die Bedeutung von Durchführungsentscheidungen in dem zentralistisch verfaßten Entscheidungssystem der Sowjetunion. Eine Analyse des stalinschen Entscheidungssystems am Beispiel des Aufbaus von Magnitogorsk (1928-1932), Berlin 1984; Frankfurt, Rozdenie, S. 17, 24. 125

In der Produktion

235

Kriminalisierung

von Ausschußverursachung andererseits zwei parallele Diskurse: Der eine verklärte und glorifizierte die Taten der Menschen, die ohne schwere Maschinen, nur mit Spaten bewaffnet, ganze Metallkombinate aus der Steppe stampften.126 Er feierte den „Enthusiasmus" als sowjetische Wunderwaffe, die Bagger, Kräne und Motoren ersetzte. Der andere Diskurs attackierte all jene an, die genau für diese Mangelsituationen scheinbar die Verantwortung trugen. Der Enthusiasmus und die Heldentaten der sowjetischen Menschen, die Wunder vollbrachten und ihre „eigenen" Hochöfen mit bloßen Händen bauten, wurden permanent in den Medien demonstriert. Die Zeitschrift „USSR im Bau" präsentierte Bildreportagen von den riesigen Baugruben von Magnitogorsk und Kuzneck, in der Hunderte von Menschen nur mit Spaten und Hacken ohne einen einzigen Bagger arbeiteten. Der Kommentar lautete, es habe an allem, an Holz, Armaturen, Rammen und Beton, gefehlt, doch der sowjetische Ingenieur Dmitriev habe ein ausgezeichnetes Projekt entworfen, das nur 50 000 Rubel kostete und nach nur einem Monat umgesetzt war. Die französischen Ingenieure dagegen hätten Material, Maschinen und Fachleute aus Frankreich herbeischaffen wollen, was fünf Monate gedauert und eine halbe Million Goldrubel gekostet hätte: „Aber wir wollten das Sowjetgold sparen, und fünf Monate warten konnten wir auch nicht: Es hätte den Tod der Anlagen, den Hungertod der Hochöfen bedeutet."127 Der Schriftsteller lija Érenburg ließ in seinem reportageartigen Roman von Kuzneckstroj „Der zweite Tag" (Den vtoroj) den Bauleiter Sor einem deutschen Ingenieur erklären, warum hier alles mit Menschenkraft erledigt und keine Maschinen geordert würden: '

„In Deutschland müssen wir mit Valuta bezahlen. Wir haben eine andere

Wirtschaft. Und auch andere Nerven. Und die Hauptsache, außer der Wirtschaftlichkeit gibt es bei uns... wie soll ich ihnen das erklären? Offiziell heißt das Enthusiasmus. Kurzum, ein vortreffliches Land. Wenn Sie noch ein paar Jahre hier sind, werden Sie es verstehen."128 Diesen Enthusiasmus, man habe sparen und beweisen wollen, daß

die Arbeiten mit den bloßen Händen und einem eisernen Willen zu erledigen seien, bestätigen auch die großen Ingenieure wie Zachar'evskij und Jastrebova. Sie hätten am Dnjepr nicht ein halbes Jahr lang auf Kräne und Bagger aus dem Ausland warten können. Also habe man zu „unseren alten russisch-ukrainischen Methoden" gegriffen und sich mit Pferd, Schaufel und Hacke an die Arbeit gemacht. Als keine Kräne zur Verfügung standen, um die Steinkästen für die Fundamente im Wasser zu versenken, ersann Zachar'evskij selbst eine mechanische Methode, deren 126 127 128

Vgl. auch Schlögel, Go East, S.

179. Die USSR im Bau, Nr. 4, 1932. Ehrenburg, Der zweite Tag, S. 233.

236

Krisenmanager und Improvisationskünstler

sowohl ihn als auch die Amerikaner verblüffte.'29 Auch der Bauleiter von Magnitostroj, Gugel', und die Ingenieurin Dzaparidze berichten mit Stolz, zu welch außerordentlichen Leistungen es die Menschen brachten, als sie keinen Kran hatten, um eine Brücke zu errichten. 260 Tonnen habe man in einem Stück ohne mechanische Hilfe aufgestellt. Gugel' schreibt: „Die .amerikanische Erfahrung' wurde von der Erfahrung des .bolschewisti-

Erfolg

schen Willens'

geschlagen."130

Während die Handarbeit verklärt wurde, begann die Presse mit Beginn des zweiten Fünfjahrplans, Fabriken und Werke zu beschuldigen, sie weigerten sich, die Mechanisierung ihrer Produktion durchzuführen. Das Leitungspersonal wolle lieber weiter mit Menschenkraft anstatt mit Maschinen arbeiten. Die Za industrializaciju titelte im März 1933: „Da sind sie, die Wurzeln der niedrigen Produktivität und der hohen Produktionskosten. Die Hochofenzechen sabotieren die Mechanisierung der arbeitsaufwendigen Arbeiten. Ziehen wir die Totengräber der wettvollen Mechanismen

und die heldenhaften Vertreter der

Meinung:

.nur mit der Schubkarre'

Verantwortung. Zwei Jahre Sabotage. Die Hochofenarbeiter der Dzerzinka-Hütte wollen die Beladung und Rohstoffzufuhr nicht mechanisieren."131 Die Inzenernyj trud stellte eine ,Antimechanisierungsstimmung" in den Kohlegruben bei Baku fest. Dort gebe es Kommunisten, die sich vehement gegen den Einsatz von Maschinen und Preßlufthämmern wehrten.132 Öffentlich wurden auch Schuldige für die mangelnde Versorgung mit Materialien und Maschinen gesucht und in den Verwaltungen und versorgenden Betrieben gefunden: „Die Moskauer Fabriken sind SabotageKandidaten (...). Von 34 Versorgungsverträgen ist kaum einer abgeschlossen."133 „Ein für alle Mal das Problem der Holzversorgung lösen."134 „Bei sieben Hauptverwaltungen findet sich mindestens ein Kombinat ohne Mittel und ohne Versorgung."135 L.M. Kaganovic schrieb später in seinen Memoiren, wen er für die Verantwortlichen hielt: „Die Leute wollten immer nur nehmen, aber ich wußte, daß ihr Mangel an ihrer unwirtschaftlichen Arbeitsorganisation lag." Tatsächlich existierte kein geordnetes Bestell- und Liefersystem z.B. für Ersatzteile. Weder gab es eine zentrale Verteilungsstelle, die geregelt hätte, welches Unternehmen welcher Ersatzteilfabrik Aufträge erteilte, zur

129

Zachar'evskij, d. 18,1. 6ff., 37, 147; Jastrebova, V.D.: Ot Volchova k Dneprogèsu, S. 328, Rossiju, S. 325-333. 130 Gugel', Vospominanija, S. 338ff.; Dzaparidze, Étich let, S. 87. Za industrializaciju, 20.3.1933. 132 Inzenernyj trud, Juli 1933, Nr. 7, S. 218. 133 Za industrializaciju, 18.4.1931. 134 Za industrializaciju, 3.6.1934. 135 Za industrializaciju, 8.6.1934. 136 Kaganovic, Lazar': Pamjatnye zapiski raboSego, kommunista-bol'sevika, profsojuznogo partijnogo i sovetsko-gosudarstvennogo rabotnika, Moskau 1996, S. 458. in: Sdelaem

In der Produktion

237

waren die Betriebe in der Lage, dieses Problem selbständig zu löWährend die einen Posten doppelt und dreifach geliefert wurden, gingen andere Betriebe leer aus. Oft führten die Fabriken über die angenommenen Aufträge nicht einmal Buch. Als typisches Beispiel wurde die Verwaltung der Fabrik für Traktorenersatzteile Vatozapcastl genannt, die behauptete, ihr Auftraggeber habe drei Bestellungen für 374 000 Rubel abgegeben, während der Kunde beanspruchte, 21 Positionen im Wert von über einer Millionen Rubel geordert zu haben. Die Direktoren von vier Traktorenersatzteilwerken, denen zur Last gelegt wurde, durch die mangelnde Erfüllung des Auftrags die Aussaat beeinträchtigt zu haben, wurden in der Presse namentlich und mit Foto bloßgestellt.137 In Literatur und Film wurde dargestellt, daß diejenigen, die die Produktion störten und immer wieder das eigentlich funktionierende System sabotierten, die Ingenieure waren. Der Film „Drei Kameraden" demonstriert, wie der Ingenieur Michail Zajcev vom rechten Weg abkommt, sich mehrere Waggons Holz einer anderen Fabrik stiehlt und sich grundsätzlich sein Material auf illegalem Weg durch eine Horde von „Schakalen", Dieben und Spekulanten, besorgen läßt. Er wird dafür entlassen und aus der Partei ausgeschlossen.138 In Patreevs Roman „Ingenieure" wird dem jungen Ingenieur Dynnikov eine Lehre erteilt, der sich auf illegalem Weg einen dringend für die Baustelle benötigten Motor organisiert und dabei auf einen Betrüger hereinfällt.139 Diese beiden Diskurse über die Glorifizierung des besonderen sowjetischen Arbeitsstils und den Enthusiasmus der Menschen einerseits sowie die Anschuldigungen gegenüber Ingenieuren anderseits geben den Rahmen der Erfahrung und Wahrnehmung der Ingenieure und Ingenieurinnen. Dabei wird ein drittes Element deutlich: Die Ingenieure schildern, daß die Versorgung der Baustellen und Fabriken nur dann reibungslos funktionierte, wenn sie gute Verbindungen zu Staats- und Parteiführern oder sonstige Beziehungen herstellen konnten. Fedorova gibt ganz den Enthusiasmus über die sowjetischen Baumethoden wieder. Als sie 1932 zum Metrobau kam, fehlten hier nicht nur schwere Maschinen, sondern auch das einfachste Werkzeug. Die Brigaden stritten sich um die „Ziege", die einzige Schubkarre die es für den Transport von Bauholz gab. Mit den bloßen Händen und einfachstem Werkzeug räumten sie das Baugelände: hackten das Pflaster auf, rissen kleine Häuser ab, leiteten ein Abflußrohr um und entfernten Straßenbahngleise. Als im Herbst 1933 das Bauholz ausging, wurden kurzerhand Brigaden in den Hohen Norden nach

noch sen.

Za industrializaciju, 10.2.1933. Tri tovarisca. Patreev, Inzenery, Bd. 1, S. 369, 564.

238

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Tatjana Viktorovna Fedorova (*1915) als Arbeiterin beim Metrobau mit Preßlufthammer Mitte der 1930er Jahre. Quelle: Fedorova, T. V.: Naverchu Moskva, Moskau 31986.

Abb. 12:

-

In der Produktion

239

Archangel'sk geschickt, um bei 40 Grad Frost Bäume zu fallen. Wieder gab es pro Brigade nur ein Beil.140 All das beschreibt Fedorova mit ungetrübtem Enthusiasmus: Ihre Begeisterung sei so groß gewesen, daß ihnen die Umstände nichts ausmachten. Angesichts der großen Kälte hätten sie einfach schneller gearbeitet. Ein ähnliches Verhältnis zu den Umständen und einen ähnlichen Stolz auf die Improvisationsleistungen hatte auch Jakovlev. Mit primitivsten Mitteln betrieb er zusammen mit 20 weiteren „Enthusiasten" seine eigene Flugzeugwerkstatt in einer Ecke des Geländes des Men'sinskij-Werks, bis sie zu einem ungewöhnlichen Mittel griffen, um das Anrecht auf ein eigenes Gebäude durchzusetzen: Mit dem von ihm konstruierten Kleinflugzeug „Luftauto" landeten sie auf der Wiese vor Gor'kijs Datscha und überzeugten so den Vorsitzenden der Zentralen Kontrollkommission, Ja.E. Rudzutak (1887-1938).141 Sie bekamen die Hälfte des Gebäudes einer Bettenfabrik zugesprochen, das sie zunächst sanieren und dann gegen die Fabrik verteidigen mußten: Nur durch erneuten öffentlichen Protest in der Pravda verhinderte Jakovlev, daß die fertiggestellten Räume beschlagnahmt wurden. Auch ihr Werkzeug war improvisiert: Für die Herstellung mechanischer Teile setzten sie eine uralte, beschädigte Drehbank wieder instand, auf der nun statt Betten Flugzeugteile angefertigt wurden, bis schließlich der Leiter von Metrostroj, P.P. Rotert, ihnen eine neue Drehmaschine schenkte.142 Jakovlev erklärt: „Nur die Arbeitsbegeisterung und der Wunsch, um jeden Preis einen auch noch so bescheidenen, aber eigenen Raum zu haben, beseitigten unsere Zweifel. Wir

waren jung, voller Tatendrang und stellten unser Flugwesen über alles."143 Jakovlev und Fedorova übernahmen die Rede vom heroischen Aufbau als eine ihren Erfahrungen angemessene Einschätzung. So wie Pozdnjak und Calych Ausschußproduktion als Phänomen des ersten Fünfjahrplans akzeptierten, waren auch Jakovlev und Fedorova bereit, den Mangel an Maschinen als vorübergehende Erscheinung zu betrachten, der ihre Arbeit noch viel abenteuerlicher erscheinen ließ. Calych, Maliovanov und Lavrenenko heroisieren diese Arbeitserfahrung nicht, beschreiben aber beide Aspekte: einerseits den Zwang, Lösungen zu finden, andererseits zumindest einen gewissen Stolz, die Lage gemeistert zu haben. Calych berichtet: „Dem heutigen Menschen fällt es schwer, sich die Umstände vorzustellen, unter denen damals Fabriken gebaut wurden. Damals gab es keine Bagger, keine Kipplaster, keine einzige Quelle mechanischer Energie. Mit von Pfer-

140

""

Fedorova, Naverchu, S. 17, 37.

Jakowljew, S. 84. 142 Jakowljew, S. 85ff. 143 Jakowljew, S. 86f.

240

Krisenmanager und Improvisationskünstler den gezogenen Seilzügen, die Stämme bewegt."

so

moderne Maschinen ersetzten, wurden die

Das Fundament für den Brennofen der Celjabinsker Fabrik, das 2 400 Kubikmeter umfaßte, hoben sie von Hand aus. Der Beruf der Erdarbeiter (zemljaniki), der später ausstarb, hatte damals Hochkonjunktur. Gearbeitet wurde rund um die Uhr.144 1934 wurde er Leiter des Baus des Celjabinsker Elektrodenwerk (CÉZ), für das weder eine ausgereifte Planung, noch die nötigen Mittel existierten. Obwohl die örtlichen Fabriken keinen Bedarf an Elektroden hatten, der eine solche Fabrik vor Ort gerechtfertigt hätte, war der Bau 1931 beschlossen worden: „Dieses falsche Prinzip wurde bei der Organisation der ersten Kombinate, die Elektroden benötigten, angewandt. Eine solche Lage verfließ der Elektrodenfabrik eine bemitleidenswerte Existenz. Das Schicksal der CÉZ brachte nichts Gutes, 1937 lehnten die anderen Fabriken es schließlich ab, überhaupt noch Elektroden abzunehmen, die die CÉZ herstellte."14 Calychs Aufgabe war es nun, den Plan, der in Moskau ohne Rücksichtnahme auf die örtlichen Gegebenheiten ausgearbeitet worden war, den aktuellen Anforderungen anzupassen, was sich als sehr schwer erwies, da sie mit den bereits vorhandenen Fabriken um die sehr knappen Wasserund Elektrizitätsressourcen konkurrieren mußten. „Man hatte mich ins Wasset geworfen, und ich mußte schwimmen. (...) Ich sah keinen Ausweg aus der schwierigen Lage. Wir hatten noch ein Jahr bis zur Inbetriebnahme und mußten die Zeit nutzen, um das Projekt zu korrigie«'HT10 B 1

npiiBauuoB

in der

Inzenernyj trud,

XOSItHeTB»

wie sie bis 1933 in

jedem Heft abgedruckt war. Gab es 1928 pro Heft bis zu 14 Seiten ausländischer Reklame, nahm deren Verbreitung kontinuierlich ab, bis 1933 nur noch selten mehr als eine ausländische Anzeige pro Nummer zu finden war. Die Werbung zeigt, wie eng die Kooperation zwischen ausländischen Firmen und der sowjetischen Wirtschaft war bzw. welch großes Interesse gerade deutsche Firmen, deren Anzeigen deutlich über 90 Prozent aller Werbung ausmachten, an Aufträgen aus der Sowjetunion hatten. Oben: C.H. Jaeger & Co., Leipzig-Plagwitz (W.31). Pumpen, Gebläse und Saugzugventilatoren für Gas. (...) Unten links: Idenreich & Harbeck, Werkbankbaufabrik, Hamburg 33. Hobelbank für Kegelzahnräder Modell 75 KN. (...) Unten rechts: Ein Stützwerkzeug? Nur von der Marke „Original Todt". Spezialanfertigung höchster Präzision! Robert Todt G.m.b.H. /Gera (Deutschland). Quelle: Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1928.

264

Krisenmanager und Improvisationskünstler

am 24. Februar 1933, Waggons, Lokomotiven, Kräne, Kraftfahrzeuge, Sauerstoffanlagen, Motoren, Generatoren, Transformatoren und vieles mehr im Ausland einzukaufen.48 Die Sowjetregierung forderte die eigenen Fabriken auf, sich für die neuen Aufträge bereit zu halten und sie zur Zufriedenheit auszuführen.49 Gleichzeitig verschwand die

Schwerindustrie

1934 weitverbreitete Reklame ausländischer Firmen für Maschinen den Zeitungen und Zeitschriften und damit die öffentliche Präsenz v.a. deutscher Firmen wie „Werkzeugmaschinenfabrik UNION, Chemnitz", „Bosch, Berlin-Charlottenburg" oder „Dampfmaschine R. Wolf Magdeburg".50 Parallel nahm die Zahl der Werbungen, in denen sowjetische Truste und Unternehmen ihre Dienste anboten, Bestellfristen bekanntgaben und ihre Maschinen anpriesen, zu. Mit der Notwendigkeit, ohne ausländische Technik auskommen zu müssen und der Vorstellung, keine fremde Hilfe mehr zu brauchen, wurde auch der offizielle Ton den ausländischen Gästen gegenüber arroganter. Das Bild der ausländischen Ingenieure wandelte sich von dem großen Vorbild, dem Repräsentanten einer großartigen Technikkultur und eines neuen Arbeitsstils hin zum Vertreter des Kapitalismus, der für das bolschewistische Tempo kein Verständnis hatte, nicht an den Erfolg des sowjetischen Aufbaus glaubte und der gut daran tat, von den sowjetischen Arbeitern und Wirtschaftsführern zu lernen. Der vorher so gepriesene Ausländer galt plötzlich als engstirniger Bürokrat. Die „USSR im Bau" schrieb 1932 über die ausländischen Ingenieure auf Kuzneckstroj: „Sie hielten es für kaum möglich, einen Hüttenwerkriesen in diesem halbwilden Sibirien erbauen zu können, in diesem Sibirien, wo das Schneegestöber in einer Nacht ihr eigenes Haus unter Schnee begraben kann. Aber das bolschewistische Tempo und der Arbeitsheroismus riefen schließlich auch bei ihnen eine Stimmungswandel hervor. Fragen sie Mr. Everhard, den Oberingenieur der Firma ,Freyn Engineering', und er wird ihnen antworten: ,Wir sind stolz im Bewußtsein, Teilnehmer dieser gewaltigen Arbeit zu sein.'"51 Ausländer wurden diskreditiert und ihre fachliche Kompetenz angezweifelt. Vinter erklärte, die Ausländer hätten die Fristen noch nie richtig einschätzen und planen können.52 Die Presse feierte das Anblasen des ersten Hochofens auf der Magnitka auch als Triumph der sowjetischen Ingenieure über die Amerikaner: vor aus

„Am Hochofen erschien der Vize-Präsident der amerikanischen Firma Mister Haven. Gugel' lenkte seine Aufmerksamkeit auf das für das Anblasen des Hochofens wunderbare Wetter. ,Ich gebe zu', antwortete Mister Haven mit eisigem Gesicht, ,daß ich bis heute nicht geglaubt habe, daß das

McKey,

industrializaciju, 26.2.1933. industrializaciju, 27.2.1933; 1.3.1933. 50 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1928. 51 49

Za Za

52

Die USSR im Bau, Nr. 4, 1932. Za industrializaciju, 24.11.1935.

265

„Amerika einholen und überholen"

System

der Planwirtschaft der Bolschewiki sich sogar auf das Wetter

aus-

wirkt.'"

Der Amerikaner war nicht nur ungläubig und unfreundlich, sondern gab selbst zu, daß die Sowjetunion die westliche Welt überholt hatte: „Ich halte den Magnitogorsker Hochofen für den Stolz der Weltmetallurgie. Auf der ganzen Welt gibt es nur wenige solcher Hochöfen wie den, der heute angeblasen wird. Das letzte Wort der Welttechnik das System det Bunker, der Beladung und der Elektroausrüstung, die bisher noch nirgends eingesetzt wurden, finden sich hier konzentriert." Von dem Bild des Zweiflers und Bremsers war es nicht weit bis zum Feind und Saboteur. Zu Beginn des Jahres 1933 verhaftete die OGPU englische Ingenieure der Firma „Metrowickers" und beschuldigte sie der Spionage und des „Schädlingstums".54 Spätestens dieses Vorgehen gegen ausländische Ingenieure, die beim Aufbau des Landes geholfen hatten, war das Signal für viele Ausländer, die Sowjetunion zu verlassen. Zum gleichen Zeitpunkt erschien in der Za industrializaciju ein Beitrag, der -

amerikanische

Ingenieure pauschal verunglimpfte:

„Menschen, die vom Weg abgekommen sind und in der Finsternis der Nacht herumirren, scheinen auch die Lichter im Moor eine Rettung zu sein: nur so kann erklärt werden, daß in den USA die Idee der Technokratie soviel An-

hänger hat."

Das Feindbild des Ausländers transportierten auch Autoren und Regisseure in ihren Werken. Pogodin entwarf in dem Drama „Poem über ein Beil" mit dem Ingenieur Gips den Ausländer als Spion und Saboteur. Er versucht, die Frau des russischen Ingenieurs zu bestechen, damit ihr Mann seine Forschungsarbeit einstellt, und das Rezept für unzerbrechlichen Stahl des Arbeiters Stepan zu stehlen. Als Repräsentant des ausländischen Stahlkonzerns DVM verpflichtet er die sowjetische Fabrik für Klingenstahl, statt Beilen nur noch Bratpfannen herzustellen, damit sie Beile aus dem Ausland beziehen müssen und vom Import abhängig bleiben.56 Die Ausländer werden in „Poem über ein Beil" als nur noch störend und schädlich dargestellt: sowohl die Touristen, die die Baustellen bereisen, weil sie Anekdoten über „la Russie" hören wollen,57 als auch Gips', der die Sowjetunion übervorteilen will. Pogodin dreht in seinem Drama die Fakten um: Nicht das Ausland, sondern die Sowjetunion besitzt die führende Technik; nicht die sowjetische Industrie hat durch den Import gewonnen, sondern allein das Ausland hat Profit gemacht. Neben diesen zwei Bildern des ausländischen Ingenieurs als Konsultanten, der von seinen eigenen Schülern überholt worden ist, und dem 53 54

Za

industrializaciju,

1.2.1932.

Inzenernyj trud, Nr. 4, April 1933, S. lOIff. 55 Za industrializaciju, 17.1.1933. Pogodin, Poèma, S. 120, 124ff, 139, 158. 57 Pogodin, Poèma, S. 132. 56

266

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Ratgeber als Spion und Saboteur, wurde parallel in den Medien der ausländische Ingenieur schließlich auch als Opfer des Kapitalismus und dankbarer Emigrant entworfen. Diese Darstellung enthielt eine Botschaft

sowohl für die Ausländer als auch für die Inländer: Ersteren wurde vor Augen geführt, wie schlecht sie es in ihrer Heimat hätten, wo Arbeitslosigkeit, Armut und Aussichtslosigkeit grassierten; letzteren wurde suggeriert, daß sie in dem gelobten Land der Ingenieure lebten: „In den kapitalistischen Ländern ist Arbeitslosigkeit und Qualifikationsverlust das Schicksal vieler Tausender Spezialisten. Im Land des im Aufbau befindlichen Sozialismus gibt es einen unendlichen Bedarf an ITR und ein unendliches Feld für ihre schöpferische Initiative."58 Die Medien priesen angesichts der Weltwirtschaftskrise das Sowjetreich als die einzige Oase, die dem Ingenieur noch Betätigungsfelder bieten könne, während er ringsum in der kapitalistischen Wüste weder Aufträge bekäme noch sich ernähren könne. Die Zeitungen titelten: „Tausenden von ausländischen Ingenieuren können wir Arbeit geben", „Die ausländischen Spezialisten haben in der UdSSR die uneingeschränkte Möglichkeit, ihr Wissen einzusetzen",59 „Arbeitslosigkeit in der Intelligenzija Finnlands, Frankreichs, Rumäniens, Schweden"60, „Die Konjunktur in den USA und die Arbeitslosigkeit".61 Die Sowjetunion wurde in den Medien als das Land gepriesen, das sich um seine Spezialisten kümmere, ihnen Spezial-Kantinen und -Geschäfte einrichte, ihnen gute Posten verschaffe und sie zum politischen Engagement ermutige.62 Der Vorsitzende des VMBIT, V.V. Prokof ev, ermahnte die einheimischen Ingenieure, sie läsen ja die in- und ausländischen Zeitungen und wüßten daher, wie es der technischen Intelligenzija im Ausland, besonders in Deutschland und den USA, erginge: In Deutschland fanden 80 Prozent der Hochschulabgänger keine ihrer Ausbildung angemessene Stelle, 50 Prozent blieben ganz ohne Arbeit: „Hunger und Betteln, Verlust der Qualifikation und der menschlichen Würde so sieht heute und morgen das Schicksal der technischen Intelligenz in den kapitalistischen Ländern aus."6 Die Sowjetunion präsentierte sich als Retterin dieser betrogenen Ingenieure und lud sie ein, nicht mehr als Konsultant der Sowjetunion zu kommen, sondern sich als sowjetische ITR in das sozialistische Leben und Bauen zu integrieren. Dazu gehörte der Eintritt in die Gewerkschaft, Politunterricht und Arbeit zu sowjetischen Konditionen, d.h. für Rubel -

59 60 61

62 63

Za industrializaciju, 29.11.1931. Za industrializaciju, 29.11.1931. Front nauki i techniki, Nr. 8, 1934, S. 91. Za industrializaciju, 24.11.1935. Inzenernyj trud, Nr. 1, 10.1.1932, S. 4ff; Nr. 34-36, Inzenernyj trud, Nr. 31-32, 20.11.1931, S. 738.

31.12.1932, S. 791.

„Amerika einholen und überholen"

267

für Devisen.64 Mit Vorliebe veröffentlichte die Inzenernyj trud Erklärungen wie die einer Gruppe amerikanischer, deutscher und österreichischer Ingenieure aus einer Kiewer Fabrik: „Wir, ehemalige Sozialfaschisten, treten der Gewerkschaft bei, um zusammen mit den sowjetischen Arbeitern die sozialistische Gesellschaft aufzubauen."65 Die Figur des im Ausland ausgebeuteten, betrogenen und desillusionierten Ingenieurs, der zum sowjetischen ITR wird, fand sich auch in der Belletristik sowie im Film. In Kataevs „Im Sturmschritt vorwärts!" ist der amerikanische Spezialist Thomas George Bixby schon so weit russifiziert, daß er von allen „Foma Egorovic" genannt wird. Er erscheint nicht als Berater, sondern als Freund und wahrer Enthusiast des sozialistischen Aufbaus. Seine Träume lösen sich in Luft auf, als durch den Bankenkrach sein gesamtes in der Sowjetunion erarbeitetes und im Ausland deponiertes Geld verloren geht.66 Wie aus dem stolzen Amerikaner, der immer noch an Individualismus und Geld glaubt, ein ins sowjetische Kollektiv eingepaßter ITR wird, zeigt auch sehr eindrücklich der Film „Die vier Visiten des Samuel Wulfs" von 1934. Dick Aerosmith ist ein junger, gutaussehender, lebenslustiger und von sich selbst überzeugter Konstrukteur, der mit seiner Flotationsmaschine in den USA eine sensationelle Erfindung gemacht hat. Schon hält er sich für den gemachten Mann, feiert eine ausgelassene Party und träumt zusammen mit seiner Frau von einem Fernsehgerät und neuen Möbeln, als Samuel' Vul'f bei ihm erscheint. Vul'f ist die Verkörperung des bösen, widerwärtigen, dicken deutschen Kapitalisten,67 der das Patent nur kaufen will, um es in der Schublade verschwinden zu lassen. Nachdem Dick sich überzeugen mußte, daß in der momentanen wirtschaftlichen Lage in den USA keine Chance besteht, seine Erfindung umzusetzen, geht er in die Sowjetunion, kann sich aber nicht dazu durchringen, seine Konstruktion dem Kollektiv des Ingenieurs Nikitin zu übergeben, das ebenfalls an einer Flotationsmaschine arbeitet. Als er endlich seine Skizzen überreichen will, hat das sowjetische Team inzwischen selbst eine noch bessere Maschine entwickelt. Der Film demonstriert, daß der amerikanische Wohlstand nie von Bestand sein kann und früher oder später in eine Depression stürzt, in der der gute Ingenieur an Menschen wie Samuel' Vul'f gerät. Sehr deutlich wird herausgestrichen, was einen sowjetischen Ingenieur von einem amerikanischen unterstatt

64

Inzenernyj trud, Nr. 31-32, 20.11.1931,

S. 106.

65

S.

804, Front nauki i techniki, Nr. 8, August 1934,

Inzenernyj trud, Nr. 23-24, 31.8.1932, S. 571. Kataev, Vremja, vpered, S. 154ff., 406. 67 Gleichzeitig ist, wie der Name verrät, Samuel' Vul'f ein Jude. Diese Figur zeigt die unterschwellig judenfeindliche Haltung, die es in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion gab, obwohl sich die Sowjetregierung gern als die Befreierin und Wohltäterin aller Juden feierte. So wie die Figur Vul'fs angelegt ist, könnte sie im Nationalsozialismus als typische Vertreterin des „Weitfinanzjudentum" fungieren. 66

268

Krisenmanager und Improvisationskünstler

scheidet: Während der Amerikaner als Individualist nach persönlichem Ruhm und Geld strebt, arbeitet der Sowjetmensch im Kollektiv an einer Maschine, die den Werktätigen eine Arbeitserleichterung und dem Land Fortschritt bringen soll. Erst als Dick Aerosmith das versteht, kann er sich mit Nikitin und seinen Leuten über deren Erfindung freuen und endlich Samuel' Vul'f als Inkarnation des Kapitalismus die Tür weisen.68 Die Politik der Abgrenzung, die die Sowjetregierung in den Jahren 1931 bis 1933 verfolgte, war aber nicht dauerhaft und bedeutete keineswegs, daß damit das Ausland jede Bedeutung für die Sowjetunion verlor. Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Technikimport und Abkommen mit ausländischen Firmen gab es weiterhin. Die Attacken gegen Ausländer hatten v.a. die Aufgabe, ein sowjetisches Selbstbewußtsein herzustellen und die eigene Führungsrolle zu unterstreichen. Der Diskurs über die Ausländer bekam andere Vorzeichen, die eigenen Ingenieure wurden aufgewertet, aber bei weitem nicht alle technischen Abkommen gekündigt. Einen erneuten Aufschwung erlebte der Amerikanismus in den Jahren 1935/1936. Die Losung „Amerika einholen und überholen" wurde reaktiviert und war wieder allgegenwärtig. Während Jeffrey Brooks behauptet, daß Mitte der dreißiger Jahre die Bewunderung für die USA verflogen war, wie überhaupt das Ziel verfehlt worden sei, eine Sprache zu finden, die die Begeisterung für die USA wirksam in die Bevölkerung übertragen hätte,69 trifft das zumindest für die Ingenieure nicht zu. Das zeigt eine wahre Flut von Artikeln, die Ingenieure in den Jahren 1935 und 1936 in der Za Industrializaciju unter der Rubrik „Im amerikanischen Tempo bauen" (Stroit' amerikansklmi tempami) veröffentlichten. Während in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre die Promotoren des Amerikanismus die Parteiführer waren, griffen ihn Mitte der dreißiger Jahre die Ingenieure selbst auf. In sehr ausführlichen Berichten erzählen die großen Wirtschaftsleiter und Chefingenieure von ihren Reisen und Erfahrungen in die USA und lassen keinen Zweifel daran, daß sie dort das gelobte Land des Ingenieurs und der Technik gefunden hatten. Sie funktionierten hier nicht als Sprachrohr der Partei, Regierung oder Gewerkschaft, sondern schwärmten als Ingenieure von einem Land, dessen Technik und Fabriken sie sich für die Sowjetunion ersehnten. Ihre verzückten Berichte schlössen sie meist mit dem hastig angefügten Satz, daß sie keineswegs Amerika verherrlichen wollten, in diesen wunderbaren Fabriken natürlich die Ausbeutung ganz enorm und die Arbeitslosigkeit im Land immens sei. Diese Phrasen, die die offizielle Sicht wiedergaben, unterschieden sich im Stil extrem von den vorher getroffenen Aussagen und verrieten 68

Cetyre visita Samuèlja Vul'fa, Mezrabpromfil'm Moskau weis: Videothek im Kinozentrum, Moskau. 69 Brooks, The Press, S. 243, 247f.

1934, Regie: A. Stolper, Nach-

Amerika einholen und überholen"

269

den Autor als wahren Bewunderer der amerikanischen Wirtschaft. Ganz gleich aus welcher Industriesparte sie kamen, den amerikanischen, englischen, schwedischen, französischen oder deutschen Fabriken gaben sie immer den Vorzug. Ihr größtes Vorbild war nach wie vor die amerikanische Autoindustrie mit „Ford", „Chrysler" und „General Motors". Voll Bewunderung schrieben sie über die Automobilausstellung in New York und forderten, daß auch die sowjetische Automobilindustrie endlich lernen müsse, neue Modelle zu entwickeln.70 Der Ingenieur Rabinovic schwärmte von den glänzenden und strahlenden PKWs, die in den USA vom Band rollten, während die Kraftwagen aus Gor'kij schlecht verarbeitet seien, unansehnlich aussähen und schnell rosteten.71 Nicht weniger beeindruckt äußerten sich Tupolev und andere Flugzeugkonstrukteure von der amerikanischen, englischen und französischen Flugzeugindustrie und -technik.72 War der Flugzeugbau nach Meinung sowjetischer Ingenieure der Bereich, in dem die Sowjetunion am ehesten mit dem Ausland konkurrieren konnte, fiel ihr Urteil über andere heimische Branchen wie die Werkbankproduktion vernichtend aus: Die sowjetischen Werkbänke seien zwar leistungsstärker, arbeiteten aber wesentlich schlechter als die ausländischen.73 Kein Wort über Magnitogorsk oder Kuzneckstroj verlor Z. Taner-Tannenbaum, als er die international hochrenommierte Stahlproduktion Schwedens lobte und darauf hinwies, daß Schweden über die weltweit größten Hochfrequenzöfen mit einem Fassungsvermögen von fünf Tonnen verfüge.74 Der Ingenieur N. Mirosnicenko warf der sowjetischen Ölindustrie vor, für den Bau einer Krackanlage immer noch drei bis vier Jahre zu benötigen, während die Amerikaner eine solche Anlage in vier bis fünf Monaten aufstellten.75 „Die Ölverarbeitung auf amerikanisches Niveau heben!", war denn auch die einhellige Meinung mehrerer Fachleute nach ihrem Besuch in der amerikanischen RaffinerieIndustrie.76 Selbst die Fabriken des Unternehmens „Metrowickers" in England, aus dem die 1933 für Sabotage und Spionage verurteilten Ingenieure stammten, lobte der Ingenieur F. Snezko in den höchsten Tönen für die ausgezeichnete Organisations- und Produktionskultur bei der Turbinen- und Generatorenherstellung und nannte das Management beispielhaft: Hier könnten sowjetische Wirtschaftsleiter lernen, wie durch die Vereinfachung der Produktionsgänge sowie die Verwendung billiger 70

Za industrializaciju, Za industrializaciju, Za industrializaciju, 73 Za industrializaciju, 74 Za industrializaciju. 75 Za industrializaciju, 76 Za industrializaciju,

18.4.1935; 26.11.1935; 27.11.1935; 29.7.1936.

71

8.8.1936.

72

6.7.1935; 11.7.1935; 21.11.1936; 26.12.1936. 26.7.1935; 6.8.1936. 29.5.1935. 21.6.1935.

27.5.1935; 23.6.1935.

270

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Rohstoffe die Produktionskosten gesenkt werden könnten.77 Auch die Ingenieure M. Zil'berstejn und I. Tron', Leiter des Baus der Elektromaschinenfabrik „Uralelektromaschine", bewunderten die rationale und arbeitsteilige Produktionsorganisation der Firmen „General Electrics" und „Westinghouse" (USA), die sich von anderen Firmen beliefern ließen.78 Die sowjetischen Ingenieure waren sich einig: Die eigene Wirtschaft hinkte dem Ausland meilenweit hinterher und hatte in Produktionsorganisation, Effizienz, Präzision und optimaler Ressourcennutzung noch viel zu lernen. Zu ihrem Erstaunen mußten die sowjetischen Spezialisten immer wieder feststellen, daß die ausländischen Firmen nicht unbedingt über die neusten und stärksten Maschinen verfügten, es aber schafften, durch optimale Ausnutzung und Wartung der vorhandenen Geräte bessere Resultate zu erzielen, als sowjetische Fabriken es mit neuster ausländischer Technik schafften.79 Bei der Suche nach Antworten, warum die heimische Wirtschaft stagniere und keine neuen Ideen produziere, kamen die sowjetischen Ingenieure zu erstaunlichen Antworten. Die Konkurrenz, die im kapitalistischen Ausland für eine ständige Optimierung der Produkte sorge, fehle, befand der Ingenieur I. Peskin. Er beeilte sich anzufügen, daß er das Fehlen einer Konkurrenz nicht bedaure, aber die Arbeit des Konstrukteurs müsse so stimuliert werden, daß ein Ingenieur der Autofabrik in Gor'kij mit der gleichen Motivation wie sein Kollegen bei „Ford" an der Weiterentwicklung von Dieselmotoren und Automodellen arbeite. Außerdem müsse der Staat dafür sorgen, daß die Anstrengungen der Konstrukteure nicht von der Bürokratie immer wieder zunichte gemacht würden.80 Der Ingenieur A. Zolotarev, der von einer Reise aus Deutschland zurückgekehrt war, schloß sich in dem Urteil über den positiven Effekt der Konkurrenz für die industrielle Entwicklung an.81 Neben der Konkurrenz empfanden sowjetische Ingenieure auch andere ausländische Einrichtungen wie die großen Labors als nachahmenswert. Diese Labore, die auch während Wirtschaftskrisen nicht geschlossen würden, seien „das Gehirn des Betriebs", das allein dafür da sei, die Produktion weiterzuentwickeln.82 Ein Moskauer Ingenieur berichtete, wie erstaunt er gewesen sei, als er bei Ford auf ein Büro stieß, in dem Ingenieure in bequemen Sesseln saßen, die Beine auf die Tische gelegt hatten, Zigarren rauchten und nichts zu tun schienen. Tatsächlich aber waren das

„thinking engineers", deren einzige Aufgabe darin bestand, die Konstruktionen zu optimieren und die Produktion mit neuen Ideen zu versorZa industrializaciju, 27.6.1935. 1%Za industrializaciju, 3.7.1935; 18.4.1936. 79 Za industrializaciju, 29.9.1936; 5.11.1936. 80 Za industrializaciju, 30.6.1935. 81 Za industrializaciju, 10.9.1935. 82 Za industrializaciju, 14.7.1935.

Amerika einholen und überholen'

271

gen. Sie erhielten den vierfachen Lohn eines normalen Ingenieurs und bekamen besondere Arbeitskonditionen.83 Die sowjetischen Ingenieure zeigten sich fasziniert von solchen Institutionen und urteilten, daß deren Fehlen in der Sowjetunion zu der momentanen Stagnation geführt habe. Schließlich neideten sie den amerikanischen Ingenieuren, daß diese ganz andere Fähigkeiten und Voraussetzungen als sowjetische ITR mitbrächten. Sie könnten sich auf eine enorme Erfahrung stützen, die nicht nur sie selbst, sondern Generationen von Ingenieuren vor ihnen angesammelt hatten, stellte der Ingenieur P.A. Bogdanov fest. Wenn der sowjetische Ingenieur aus Mangel an Erfahrung beginne, im Lehrbuch zu blättern, greife der Amerikaner auf die Erfahrung der vorherigen Generation zurück. Die Auskunft: „Das sagt meine Erfahrung und die Erfahrung meiner Firma",84 die die Ausländer den sowjetischen Kollegen auf die Frage nach der Herkunft ihres Wissens gäben und die viele Russen für ein Anzeichen von mangelnder Theoriekenntnis hielten, zeuge in Wahrheit von einem fundamentalen Wissen der Amerikaner um die optimalen Lösungen für etliche Probleme der Technik. Implizit sprachen diese Ingenieure aus, daß die Überzeugung, die sowjetische Industrie könne auf die russische Ingenieurstradition verzichten, ein großer Fehler gewesen sei. Gleichzeitig begannen Fachleute wieder intensiv die Ausbildung der eigenen Kader zu thematisieren und sie im Vergleich zu der amerikanischen zu kritisieren. Die Anforderungen an den amerikanischen Technikstudenten hielt Bogdanov für beispielhaft: solide Grundlagenkenntnisse in der Theorie, außerordentliche Präzision und Genauigkeit bei den Zeichnungen und Berechnungen, exzellente Rechtschreibkenntnisse und Sauberkeit bei der Diplomarbeit. Diese Eckpfeiler der amerikanischen Hochschulbildung befremdeten russische Studenten, so Bogdanov, seien aber die Grundlage für die einzigartige amerikanische Arbeitsdisziplin und Akkuratheit, an der es den Russen mangele. Im Gegensatz zu sowjetischen Studenten arbeiteten die Amerikaner außergewöhnlich schnell, seien daran gewöhnt, Hilfsmittel wie Tabellen und Lexika zu benutzen, handelten selbständig und blieben in den Universitätslaboren nicht nur passive Beobachter, sondern aktive Versuchsgestalter. Ihre Arbeitsorganisation sei phänomenal, in den Vorlesungen würde diskutiert und gestritten, auf den Kongressen ginge es nicht um Resolutionen und lange Referate, sondern um den tatsächlichen Austausch über den neusten Stand der Technik. Nach dieser Hommage an die amerikanische Ingenieursausbildung fühlte sich Bogdanov

Za Za

bemüßigt anzufügen:

industrializaciju, 14.8.1935. industrializaciju, 21.7.1935.

272

Krisenmanager und Improvisationskünstler „Der Leser soll bitte nicht denken, daß ich hier aus der amerikanischen Technik eine ,Ikone' mache, der man blind folgen sollte."85

Aber er war nicht der einzige, der solche Desiderate für die sowjetischen Hochschulen aufstellte, andere wie Professor A. Berkengejm schlössen sich ihm an und forderten mehr Selbständigkeit, Verantwortungsbewußtsein und weniger Reglementierung der Ingenieurstudenten.86 Der Ingenieur A. Cukkerman, tätig in der Autofabrik in Gor'kij, konnte seine Begeisterung für das amerikanische Ausbildungssystem nicht verbergen, als er schrieb, während der sowjetische Ingenieur ohne jede praktische Erfahrung von der Hochschule entlassen würde und in der Regel zwei Jahre brauche, bis er die Produktion überschaue und bewältige, habe der junge amerikanische Ingenieur tatsächliche Praxiserfahrung. Der sowjetische Student sei oft verdammt, auf dem Praktikumplatz im Archiv technische Daten abzuschreiben, während der Amerikaner alle zwei Wochen über seine Praktikumtätigkeit einen Bericht an seine Hochschule schicken müsse, in dem er auch aufgefordert sei, Kritik an den Arbeitsvorgängen sowie Optimierungsvorschläge vorzubringen. Beeindruckt zeigte sich Cukerman v.a. von seiner Erfahrung als Student an einem New Yorker College, wo sie die Aufgabe bekommen hatten, Papierbogen in Briefumschläge zu verpacken. Ziel und Zweck dieser ungewöhnlichen Unterrichtseinheit für Ingenieursstudenten war es gewesen, die Bedeutung von optimaler Produktionsorganisation zu lernen, denn die zu verrichtende Arbeit sollte unter minimalem Arbeits- und Zeitaufwand erledigt werden.87 Während derart die USA in den höchsten Tönen gepriesen wurden, stellten führende Ingenieure der eigenen Wirtschaft im zweiten Fünfjahrplan ein negatives Zeugnis aus. Nur noch wenige Prestigeobjekte wie die Moskauer Metro wurden eingeweiht. Gugel', der ehemalige Bauleiter der Magnitka und 1935 Direktor des Stahlkonzerns „Asowstahl", äußerte öffentlich, ihm sei es heute unverständlich, wie sie im ersten Fünfjahrplan die Werke von Magnitogorsk und Kuzneck so schnell hätten bauen können. Heute, 1935, funktioniere das nicht mehr. Die Baupläne seien nicht mehr mit den Zeitplänen der Regierung und des Volkskommissariats abzustimmen, der Maschinenbau sei zwar weiterentwickelt, aber es sei schwerer als je zuvor, die nötigen Ausrüstungen zu bekommen. Auch das Anwerben von Arbeitskräften werde immer schwieriger, und tragfähige Finanzpläne zu entwickeln und bestätigt zu bekommen, sei kaum noch möglich.88 In die gleiche Kerbe schlug der in der Za industrializaciju veröffentlichte „Brief eines amerikanischen Ingenieurs", in dem R. Vale be85

Za industrializaciju, 21.7.1935; 14.5.1935. Za industrializaciju, 1.9.1935. 87 Za industrializaciju, 28.3.1936. 88 Za industrializaciju, 2.7.1935.

86

„Amerika einholen und überholen'

273

richtete, in den USA habe er allen Menschen von seiner Erfahrung in der

Sowjetunion vorgeschwärmt und dieses Land als das der fortschrittlichsten Technik gepriesen. Aber bei seiner Rückkehr in die UdSSR habe er nicht den erwarteten modernen Industriestaat vorgefunden, sondern fest-

stellen müssen, daß in „seiner" Fabrik ein Großteil der neusten technischen Geräte nicht installiert worden war, andere Maschinen unbenutzt herumstanden und von elf vorhandenen Öfen nur einer mit einem modernen Gasmeßgerät ausgestattet worden sei. Das alles habe ihn an konservative amerikanische Ingenieure erinnert, die sich neuen Arbeitsmethoden verweigern.89 Derart blieb das Bild vom Ausland zwiespältig, wechselhaft und immer changierend: Vor- und Feindbild zugleich, gelobtes Land und Ort des Untergangs der alten Welt, bewundert, umworben, geschmäht und verteufelt. Die Sowjetunion präsentierte sich ihrerseits als fleißige Schülerin, die fest entschlossen war, ihre Lehrmeisterin mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Bald gab sie sich gönnerhaft und großzügig, bald gefiel sie sich in der Rolle der Betrogenen und Rächerin. Was Rußland in seiner langen Geschichte nicht gelungen war, gelang auch der Sowjetunion weder in zehn Jahren noch später: sich von der Wirkungsmacht und Anziehungskraft des Auslandes freizumachen, um sich als souveränes Land zu präsentieren, das sein Selbstwertgefühl aus sich selbst speist, ohne sich ständig mit den Nachbarn vergleichen zu müssen.

b) Auslandskontakte Dieser vielschichtige Diskurs über das Ausland und ausländische Ingenieure steckt den Rahmen ab, in dem sich die Berichte der hier vorgestellten Ingenieure und Ingenieurinnen bewegen: Mal bewundern sie die ausländische Technik, mal geben sie sich überlegen gegenüber ihren ausländischen Kollegen, aber immer arbeiten sie sich an diesem Vorbild ab, versuchen, ihre Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren oder zu kaschieren und sind nicht in der Lage, mit Ausländern unbefangen umzugehen. Die Ausländer waren ihr Maßstab, von dem sie sich nicht frei machen konnten. Gleichzeitig muß bedacht werden, daß in den sechziger Jahren zum Zeitpunkt der Niederschrift der Memoiren in der Sowjetunion ein extremer Chauvinismus herrschte, im Rahmen dessen sowjetische Ingenieure und Gelehrte sämtliche technische Erfindungen, die die Welt je gesehen hatte, zum Verdienst ihrer russischen Vorfahren erklärten.90 In dieser Zeit klagten Ingenieure das Ausland an, es habe die Rückständigindustrializaciju, 26.2.1935. Vgl. dazu Satelen, Russkie Élektrotechniki; Ocerki

Za 90

istorii techniki.

274

Krisenmanager und Improvisationskünstler

keit Rußlands vor 1917 ausgenutzt und Erfindungen, die in Rußland gemacht wurden, ohne daß sie dort eine Chance auf Veröffentlichung hatten, für sich selbst deklariert. Vor einem solchen Hintergrund erstaunt es nicht, wenn in den Memoiren die Tendenz, sich selbst über die Ausländer zu stellen, stark ausgeprägt ist. Gajlit arbeitete ausschließlich in der Phase mit Ausländern zusammen, als diese in der Sowjetunion noch wohlgelitten waren, und ist daher zusammen mit Pozdnjak der einzige, der sich nicht bemüßigt fühlt, seine eigene Überlegenheit vorzuführen. Die Zusammenarbeit mit den französischen Konsultanten bereitete ihm keine Schwierigkeiten bzw. rüttelte nicht an seiner Ehre als Ingenieur. Er war 1931 fünf Monate lang in Frankreich gewesen, um dort in Sabart und St. Jean de Maurienne die Aluminiumproduktion der Firma „Cie de Produits Chimiques et Electrométalliques Alais, Troques et Camargues" (Lyon) kennenzulernen.91 Nach seiner Rückkehr nach Leningrad im Oktober 1931 arbeitete er beim Aufbau der Aluminiumfabrik am Volchov weiterhin mit den Franzosen zusammen.92 Die Zusammenarbeit verlief ohne größere Konflikte; Gajlit berichtet stolz, daß die Franzosen mit ihnen zufrieden waren, als sie im April 1932 erfolgreich das erste sowjetische Aluminium gössen.93 Auch für Pozdnjak war es mit seiner Ingenieursehre vereinbar, die amerikanische Technik der eigenen für weit überlegen zu halten. Die Katastrophe am Balchassee verglich er mit dem Bau des Panamakanals, und erinnerte in seinem veröffentlichten Bericht daran, daß die Franzosen in Panama gescheitert seien, weil sie mit dem Bau des Kanals begonnen hätten, ohne sich um die Bedingungen vor Ort zu kümmern. Die Arbeiter erkrankten, starben oder liefen weg, so daß die Franzosen das Projekt aufgeben mußten. Als die Amerikaner das Vorhaben wieder aufgriffen, hätten sie dagegen als erstes die Gegend bewohnbar gemacht, alle Krankheitserreger ausgerottet und erst dann mit dem eigentlichen Bau begonnen.94 Er forderte die sowjetischen Verantwortlichen auf, sich ein Beispiel an der Kultur der Amerikaner zu nehmen. Auch für den Aufbau der Quecksilberproduktion waren für Pozdnjak die USA das Beispiel, nach dem man sich zu richten hatte. Er ließ sich amerikanische Fachliteratur übersetzen und schrieb darüber seine Diplomarbeit.95 Wesentlich zurückhaltender zeigen sich dagegen Lavrenenko, Kozevnikova und Fedorova. Lavrenenko, der über die vielen Mängel der 91

Zur Zusammenarbeit mit den Franzosen in der Aluminiumindustrie vergleiche auch Sutton, Antony C: Western Technology and Soviet Economy Development 1930-1945, Bd. 2, Stanford 1971, S. 57. 92

Gajlit, 1. 13f. Gajlit, 1. 15. 94 Pozdnjak, 1. 379. 95 Pozdnjak, 1. 459ff 93

Amerika einholen und überholen'

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sowjetischen Industrie erbost war, hielt deshalb keineswegs das Ausland für den segenbringenden Technikspender. Daß die importierten Maschinen nicht auf russischen Brennstoff eingestellt waren und deshalb regelmäßig ausfielen, lastete er der englischen Firma „Babcock & Vilcox" sowie der deutschen „Hanomag" an.96 Anläßlich des Einkaufs einer Turbine

1941 bei einem deutschen Vertreter der schweizerischen Firma „BrownBoverie" warf Lavrenenko den Deutschen vor, daß auf sie kein Verlaß mehr sei, weil sie spät und unvollständig lieferten.97 Gleichzeitig demonstrierte er die eigene Überlegenheit: Aus der von „General Electrics" erworbenen Lizenz für eine 50 000 Kilowatt Turbine entwickelten sie die „Hunderterin".98 In dieser Haltung besteht kein Unterschied zwischen den unveröffentlichten Erinnerungen Lavrenenkos und der publizierten Memoiren Fedorovas und Kozevnikovas: In Fedorovas Augen, die mit dem englischen Vortriebsschild arbeitete, war das Ausland ein reiner Katalysator für die sowjetische Industrialisierung; die ausländische Technik war nichts als ein Implantat, das, in die sowjetische Wirtschaft eingepflanzt, sich wesentlich besser entwickelte, als es das in seinem „Spenderkörper" je gekonnt hätte.99 Kozevnikova war der gleichen Überzeugung wie Lavrenenko, daß Probleme mit importierten Geräten die Schuld der Ausländer sein mußte. Als ein Flugzeug, das sie gewartet hatte, abstürzte, bestand für sie kein Zweifel daran und die Untersuchungskommission habe bestätigt, daß der Grund für den Absturz die „schlechte amerikanische Konstruktion" gewesen sei.100 Von Kozevnikova, Fedorova und Lavrenenko unterscheiden sich Jakovlev, Calych, Loginov und Fedoseev insofern, als daß sie alle mehrere Monate, teilweise bis zu zwei Jahren im Ausland arbeiteten und dadurch zu einer wesentlich intensiveren Auseinandersetzung mit dem Ausland gezwungen waren. Das hinderte sie allerdings nicht daran, ihre Erfahrungen vor diesen ausgedehnten Auslandsaufenthalten nach dem gleichen Muster zu bewerten, wie es Kozevnikova, Fedorova und Lavrenenko taten. Sie nahmen die Konsultanten eher als Eindringlinge und Hochstapler wahr und glaubten, auf Auslandsreisen von den dortigen Unternehmen und Ingenieuren ständig hinters Licht geführt zu werden. Damit bestätigen sie einerseits die Zeitungsberichte der dreißiger Jahre, daß sowjetische Ingenieure nur ungern mit Ausländern zusammenarbeiteten, und lassen andererseits erkennen, daß die ebenfalls in der Presse verbreiteten Schmähungen und Diffamierungen der Ausländer ihren eigenen Empfin96

Lavrenenko, 1. 10. Lavrenenko, 1. 55. 98 Lavrenenko, 1. 38. 99 Fedorova, Naverchu, S. 34. 100 Kozevnikova, S. 126. 97

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düngen und Erfahrungen entsprachen bzw. sie bereit waren, dies negative Bild vom Ausländer zu akzeptieren. Die fremde Kultur, auf die sie im Ausland und bei ausländischen Beratern trafen, funktionierte nach anderen, ihnen unbekannten Regeln und irritierte sie. Sie konnten viele Zeichen nicht lesen und neigten daher dazu, sie als Feindseligkeiten zu inter-

pretieren. Loginov war am ehesten bereit,

sich auf die Ausländer einzulassen. Er daß seine Branche auf das Ausland und seine Erfindungen angewiesen war, und verhielt sich daher zu ihm eher wie zu einem widerspenstigen Nutztier, das es möglichst geschickt zu melken galt. Mit der neuen Parole von der Befreiung vom Import war es zu Loginovs Hauptaufgabe geworden, die Allunionsvereinigung der Meßgeräteindustrie vom Nabel des Auslands zu lösen, was aber zunächst bedeutete, noch einmal besonders intensiv im Ausland Geräte und Lizenzen einzukaufen.101 Obwohl die Produktion des Trusts laut Loginov zwischen 1927/28 und 1932 um 2 300 Prozent wuchs, habe auch der Import weiter zugenommen.102 Um für die Flugzeugindustrie neue Konstruktionen einzukaufen, bereiste Loginov 1933 Italien, England und Frankreich.103 In diesem Zusammenhang nennt Loginov einen der Hauptvorwürfe, die sowjetische Ingenieure immer wieder den Ausländern machten: Sie hätten ständig versucht, ihnen veraltete Technik als den neusten Schrei zu verkaufen. Stolz berichtet Loginov, daß er sich von keiner der besuchten Firmen hereinlegen ließ. In der englischen Firma „Smith" in Coventry habe ein Ingenieur offenbar testen wollen, ob sie fachkundige Käufer seien, denn Loginov entdeckte plötzlich, daß auf der als neuste Technik ausgegebenen Konstruktionszeichnung das Damm „1927" vermerkt war. Der englische Ingenieur sei daraufhin kreidebleich geworden, habe sich in seinen Erklärungen verheddert und schließlich bekannt, daß es eine neuewar

re

sich dessen

bewußt,

Entwicklung gebe.104

Gerade Jakovlev verstand jede Geste der ausländischen Gastgeber als Bestechung und suchte hinter jeder Gepflogenheit die böse Absicht. Als er 1934 und 1935 Italien bereiste, empfand er die hier veranstalteten großen Empfange, kulturellen Programme und Probefahrten im Fiat als Manöver der Gastgeber, mit dem diese sie beeindrucken und darüber hinwegtäuschen wollten, daß Italien gar keine hochentwickelte Luftwaffe besaß. Obwohl Mussolini Anhänger der Douhet-Doktrin gewesen sei, nach der der nächste Krieg allein von der Luftwaffe entschieden werden würde, hätten seine Programme zur Entwicklung der Kampfflieger keine 101

Loginov, 1. 47. Loginov, 1.41,48. 103 Loginov, 1. 54ff. 104 Loginov, 1. 56f. 102

277

Amerika einholen und überholen'

entscheidenden Fortschritte gezeigt, stellte Jakovlev befriedigt fest.105 Anläßlich der internationalen Luftfahrtausstellung in Mailand drei Jahre später meinte Jakovlev festzustellen, daß viele der ausländischen Firmen keineswegs ihre neusten Entwicklungen zeigten, während die Sowjetunion ihre besten Konstruktionen vorgestellt habe, von denen das internationale Publikum so begeistert gewesen sei, daß manche nicht geglaubt hätten, daß der M 34-Motor tatsächlich sowjetischer Herkunft sei.106 Selbstsicher konstatierte Jakovlev nach seiner Reise durch Frankreich und England im Jahr 1936, daß die französische Flugzeugindustrie ein jämmerliches Bild abgebe, das in ihm Mitleid hervorrufe. Das hohe Niveau der britischen Luftfahrt erkannte er an, jedoch nicht ohne befriedigt festzustellen, daß die sowjetische Industrie problemlos mithalten könne.107 Obwohl er zugeben mußte, daß sowohl die Italiener als auch die Engländer eine besser Produktionskultur hatten, änderte das nichts an Jakovlevs Gesamturteil, daß die eigene Industrie internationale Spitze sei.108 Nicht weniger mißtrauisch und argwöhnisch zeigt sich Calych. Er arbeitete 1929 und 1933 mit der französischen Firma „AFK" beim Bau des DnjeprAluminiumkombinats bzw. der Elektrodenfabrik in Zaporoz'e zusammen und kooperierte dazwischen mit „Siemens-Prania" bei der Inbetriebnahme des Graphitisierungswerks der Fabrik „Elektrokohle" in Kudinovo. Calych war zwar zunächst von der Kompetenz und Kooperationsbereitschaft der Vertreter der französischen Firma „AFK" angetan und gestand ihnen zu, daß sie „wohlwollend und interessiert an unseren Erfolgen" waren. Er warf den Ausländern aber bald vor, sie hätten nur ihre eigenen Interessen verfolgt, indem sie die in der Sowjetunion getesteten Verfahren in Frankreich nutzten. Bei ihrer Abreise habe die AFK keine technischen Unterlagen zurückgelassen, was fatale Folgen gehabt habe, da die von den Franzosen geplante Vollautomatisierung der Fabrik nicht funktionierte.109 Ein weiteres typisches Beispiel solcher kapitalistischer Verhaltensweisen fand Calych 1932 in dem Deutschen Herrn Jäger von den SiemensPrania-Werken. Herr Jäger weigerte sich, eine für sowjetische Verhältnisse luxuriöse Zweizimmerwohnung zu beziehen, weil ihm die Wandfarbe nicht gefiel und er eine Motte entdeckt hatte, so daß er einen Neuanstrich und die Desinfizierung der Wohnung verlangt habe. An die Arbeit machte er sich „ohne Enthusiasmus": gab keine Konsultationen, kümmerte sich kaum

um

die

Erledigung

seiner

Aufgaben

und

ging

seinen

sowjetischen

105 Jakowljew, S. 120, 129. Giulio Douhet (1869-1930), italienischer General, wurde durch sein Werk „Il domino dell aria" „Die Luftherrschaft" 1921 bekannt, in dem er seine nach der Luftangriffe kriegsentscheidend seien. vertrat, Kriegslehre 106 Jakowljew, S. 127f. 107 Jakowljew, S. 133, 142. 108 Jakowljew, S. 129, 142. 109 Calych, S. 21,39f. -

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Krisenmanager und Improvisationskünstler

aus dem Weg. Als er auf die Aussage der sowjetischen Ingesie hörten beim Herabfallen eines Telefondrahts keinen Ton, äunieure, ßerte: „Die Russen sind alle Hammel. Ich höre einen Achtel Ton",110 wurde Herr Jäger entlassen. Angesichts seiner Reisen durch Deutschland zu den Werken von „Siemens-Prania" erhob Calych den gleichen Vorwurf gegen die Deutschen wie Jakovlev: Man habe ihn nur selten in die Fertigungsstätten vorgelassen. Oft habe er nur das Labor, nie alle Bereiche einer Fabrik gesehen, nicht selten habe man ihm nur veraltete Technik gezeigt.1" Wie Lavrenenko beschuldigte auch Calych die deutsche Firma „Ridhammer", die das Projekt der Elektrodenfabrik in Celjabinsk erstellt hatte, schlechte Arbeit abgeliefert zu haben, so daß er dort 1934 mit Mühe wieder in Ordnung bringen mußte, was die Deutschen angerichtet hätten."2 Für Calych waren die Ausländer lästige Usurpatoren, die ihm „die deutsche Weisheit" hätten beibringen wollen."3 Was für Calych ein Herr Jäger war, war für Loginov der Ingenieur der Firma „Smith" und für Lavrenenko die Firma „Babcock & Wilcox": Sie fanden immer wieder Anlässe, ausländische Firmen zu diskreditieren, die Eignung der Berater anzuzweifeln und die präsentierte Technik schlecht zu reden. Obwohl sie an vielen Stellen zugeben müssen, daß die ausländische Technik objektiv der ihren überlegen war, beteuern sie, daß subjektiv ihre eigenen Wirtschaftsverhältnisse die besseren seien und langfristig die ausländische Industrie von ihnen übertrumpft werden würde. Den zeitweiligen Rückstand erklären sie damit, daß sie sich noch in einer Lehrphase befanden, unter den Lasten der Zarenzeit litten und temporäre wirtschaftliche Schwierigkeiten einen schnelleren Aufschwung verhinderten. V.a. zeigen sie sich aber moralisch überlegen: Während es den Ausländern nur um Geld oder ein billiges Experimentierfeld ging, sie ihre wahren Errungenschaften verheimlichten und die Verantwortung für die einmal gelieferten Maschinen ablehnten, spielten sie, die sowjetischen Ingenieure und Ingenieurinnen, mit offenen Karten, arbeiteten mit Enthusiasmus und lebten ausschließlich für die Sache. Dieser unerschütterbare Glaube an die Überlegenheit des eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, an die Zukunft des eigenen Landes und den Sinn der eigenen Arbeit wurde einer harten Prüfung unterzogen, als diese Ingenieure für längere Zeit ins Ausland geschickt wurden. Im Unterschied

Kollegen

der zuvor demonstrierten Überheblichkeit entstand an dieser Stelle ein Bruch in den Memoiren, den als einziger Jakovlev thematisiert. Der Anlaß, die ausländische Kompetenz anzuerkennen und die eigenen Schwä-

zu

Calych, S. 31 f. S.35f '"Calych, 112 Calych, S. 48f. Calych, S. 31. 110

113

Amerika einholen und überholen"

279

chen zuzugeben, war der spanische Bürgerkrieg, in dem sich die deutschen Flugzeuge den sowjetischen überlegen zeigten: „Als die Deutschen Ende 1938 in Spanien ihre neuen Messerschmitt- und Junkers-Maschinen einsetzten, wurde unser Zurückbleiben überraschend, aber mit aller Deutlichkeit klar.""4 In die selbst geschaffene Illusion brach die Realität ein. Jakovlev gibt die eigenen Versäumnisse auch deshalb unumwunden zu, weil nicht er, sondern die Konstrukteure um Tupolev von Stalin für das Desaster der sowjetischen Luftwaffe verantwortlich gemacht und verhaftet wurden, während er, Jakovlev, aufstieg und die Aufgabe bekam, den Rückstand bei der Flugzeugtechnik aufzuholen."5 Stalin schickte Jakovlev 1939 und 1940 im Rahmen des zugleich mit dem Nichtangriffspakt vereinbarten Abkommens über wirtschaftliche Zusammenarbeit nach Deutschland, um die deutsche Flugzeugtechnik zu erforschen und Prototypen einzukaufen. Seine Schilderungen sind eine heimliche Hommage an die Deutschen, die seinem eigenen Konstrukteursstolz nicht widersprach, weil ihn die Deutschen ihrerseits lobten und anerkennend über ihn munkelten, er könne ein Flugzeug mit seiner Handspanne vermessen. Obwohl er Deutschland ähnlich wie das faschistische Italien als „finster" und „unruhig" schilderte und es immer wieder zu entlarven suchte, konnte er sich den dargebotenen Reizen nicht entziehen. Mal im Hotel „Adlon" am Pariser Platz, mal in einer Suite im Schloß Bellevue zu residieren, einen Empfang von Ribbentrop im „Luxushotel Kaiserhof' ausgerichtet zu bekommen und von Hitler zum Dinner in die Reichskanzlei in die Wilhelmstraße gebeten zu werden, verfehlten ihre Wirkung nicht."6 Während seine Kollegen weiterhin Argwohn hegten und auch diesmal glaubten, die Deutschen zeigten ihnen nur veraltete Technik, war Jakovlev sich sicher, hier die Weltklasse vorgeführt zu bekommen: den zweimotorigen Bomber Junkers 88 und die Dornier215, den einmotorigen Jäger Heinkel 100, die Messerschmitt 109, den Aufklärer Focke-Wulf 187 und viele andere Maschinen mehr. Göring schenkte ihnen schließlich sogar einen „Fieseier Storch", ein damals neuartiges Verbindungsflugzeug. Jakovlev war „sehr beeindruckt"."7 Eine Million Rubel hatte Stalin ihnen zur Verfügung gestellt, um deutsche Flugzeuge einzukaufen und ein Jahr vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion trafen in Moskau fünf Jagdflugzeuge der Messerschmitt 109, je zwei Bomber Junkers 88 und Dornier215 sowie auch die neuste Entwicklung, der Jäger Heinkel 100, ein."8

114

Jakowljew, S. 155. Jakowljew, S. 158. 116 Jakowljew, S. 183f.,225ff. "7 Jakowljew, S. 185f. 118 Jakowljew, S. 213, 232. 115

280

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Während Jakovlev sein heimliches

Flugzeugparadies

in Deutschland

entdeckte, fanden Loginov, Calych und Fedoseev ihr gelobtes Land in

den USA. Rechtfertigt Jakovlev seine plötzliche Bewunderung für die Deutschen mit dem Desaster des Bürgerkriegs, motivieren Calych und Loginov ihre Aufgeschlossenheit damit, daß sich ihre Erfahrung mit Amerika grundsätzlich von der mit Europa unterschied. Sie schließen sich damit der in den dreißiger Jahren verbreiteten Meinung an, Europa tauge nicht als Vorbild, weil es die alte, kleinkarierte und rückständige Welt repräsentiere. Ouvertüre zu ihren Amerikaaufenthalten waren die Überfahrten, die im Zeitalter der Eisenbahn- und Schiffsreisen für sich bereits ein großes Ereignis waren. Loginov reiste 1936 über Polen, Deutschland und Belgien nach Le Havre, wo er an Bord der „Normandie" ging, die das modernste Passagierschiff ihrer Zeit war."9 Über die Jungfernfahrt dieser neuesten technischen Errungenschaft hatte auch die sowjetische Presse begeistert berichtet,120 und Il'f und Petrov hatten geurteilt:

„Überhaupt ähnelt die .Normandie' nur bei Sturm einem Schiff- dann schaukelt sie wenigstens ein bißchen. Aber bei stillem Wetter ist sie ein kolossales Hotel mit einem luxuriösen Blick auf das Meer, das sich unerwartet vom Ufet eines modernen Kurorts losgerissen hat und mit einer Geschwindigkeit von 30 Meilen in der Stunde nach Amerika schwimmt."121

Die fünftägige Reise in diesem schwimmenden Hotel nach New York fand auch Loginov „wunderbar".122 Fedoseev nahm den Weg über England, wo er in Southampton die „Aquitania" bestieg. Zurück reiste er auf der „Conte di Savoia", einem italienischen Schiff, das ihn und seine Familie durchs Mittelmeer bis nach Genua brachte, um dort den Zug weiter nach Berlin und über das Baltikum nach Leningrad zu nehmen.123 Calych war bereits in Leningrad an Bord der „Kooperacija" gegangen und auf dem Seewege durch den „Kieler Kanal" via Hamburg nach London gefahren, wo er an Bord der „lies de France" ging, die ihn in sechs Tagen nach New York brachte. Der Rückweg führte ihn auf der „Aquitania" nach Cherbourg, von wo er über Paris und Köln nach Moskau weiterfuhr.124 Aber es waren nicht nur diese langen Seereisen, die die Ingenieure beeindruckten, sondern auch die Mobilität in den USA selbst. Während in der Sowjetunion Automobilismus nur propagiert wurde, erlebten die In119

Die „Normandie" war die Konstruktion des in den zwanziger Jahren emigrierten russischen Schiffsbauingenieurs Vladimir Ivanovic Jurkevic (1885-1964), der in Paris und Brüssel lebte und als Ingenieur Anstellung bei einer französischen Werft gefunden hatte. RGAÉ, f. 341, Jurkevic, V.l., op. 3, d. 6, Ol'ga Jurkevii: Vospominanija: Parizskie dni, New York 1969, 1. Iff. 120 Za industrializaciju, 4.6.1935. 121 Il'f/ Petrov, Odnoétaznaja Amerika, S. 7f. 122 Loginov, 1. 69, 80. 123 Fedoseev, S. 66, 70ff 124 S. 61 f., 68.

Calych,

Amerika einholen und überholen"

genieure hier, was es hieß,

281

sich einfach in ein Auto zu setzen und unbeschränkt durchs Land fahren zu können. Loginov stellte nach der Ankunft in den USA begeistert fest, daß er besuchen durfte, was immer er wollte, und so nicht nur Gelegenheit bekam, die unterschiedlichsten Fabriken zu besichtigen, sondern sich auch frei im Land umzuschauen und Kontakte zu den Einheimischen zu knüpfen.'25 Fedoseev besuchte San Francisco, Seattle, den Yellowstone Park, den Colorado, den Gran Canyon, den Mississippi und viele andere Sehenswürdigkeiten, die jeder vom Namen her kannte, aber er jetzt sehen durfte.126 Calych fuhr mit dem Auto von der Ostküste an die Westküste, über die gerade eingeweihte Golden GateBridge, die ihn sehr beeindruckte, nach Arizona, Tucson und wieder zurück nach New York.'27 Er fühlte sich ständig an II'f und Petrov erinnert, die nur ein Jahr vor ihm mit einem Ford durch die USA gereist waren.128 Tatsächlich gerieten diese Ingenieure in eine ähnliche Lage wie II'f und Petrov, in der ihnen soviel Neues, Unerwartetes und Schönes begegnete, daß ihre alten Bewertungsskalen zu versagen begannen und sie anfingen, auf neue Weise über die USA zu denken. Sie hörten auf, ständig und überall die Fratze des Kapitalismus zu enttarnen und machten Erfahrungen, deren Einordnung ihnen schwer fiel und sie beunruhigte. Selbst aus einer sehr beschränkt lebenden Gesellschaft kommend, war der Wohlstand und Überfluß dieses kapitalistischen Landes nicht unerheblich für ihr Erleben der USA. Auch wenn sie diese materiellen Werte für unwichtig erklärten, konnten sie doch nicht die Augen davor verschließen, daß das Leben hier insgesamt einen höheren Standard hatte. Das begann bereits damit, daß die ins Ausland abgeordneten Ingenieure in einem „geschlossenen" Geschäft eingekleidet wurden, weil ihre gewöhnliche Kleidung nicht dem ausländischen Standard entsprach. Boris Sokratovic Baskov (1884-1965), der 1927 als Vertreter Dneprostrojs nach Berlin kam, wurde von dem dortigen Leiter der Handelsvertretung, N.N. Krestinskij, als erstes zum Schneider geschickt, um sich dem „Berliner Maßstab" anzupassen.129 Fedoseev hatte den Vertreter von Amtorg gefragt, wie er ihn denn am Hafen in New York erkennen wolle, und zur Antwort erhalten, daß jeder Russe durch sein Äußeres sofort auffalle, da alle gleich aussähen.130 Aber nicht nur die Kleidung entsprach einem anderen Standard, auch Gebrauchsgüter waren in hoher Qualität in Hülle und Fülle vorhanden. Calych kaufte sich in den USA neben vielen anderen Dingen eine Schreibmaschine der Firma „Underwood", auf der er 125 126

127

Loginov, 1.

70.

Fedoseev, S. 70.

Calych, S. 67. S. 66. Calych, 129 128

130

Baskov, 1. lOf. Fedoseev, S. 67.

282

Krisenmanager und Improvisationskünstler

Memoiren schrieb.'31 Apartments mieten und Möbel kaufen eine vollkommen neue Erfahrung. Fedoseev erschrak können, nach zwei Jahren bunten Lebens in den USA angesichts der „grauen" und „müden" Menschen in seiner Heimat.132 Loginov war von der Offenheit und Arglosigkeit seiner Geschäftspartner beeindruckt. Sein Trust hatte 1934 einen Vertrag über technische Hilfe mit der amerikanischen Firma „Brown Instrument Company" auf vier Jahre abgeschlossen, mit dem sich die sowjetische Seite verpflichtete hatte, Geräte im Wert von rund 400 000 US-Dollar einzukaufen, während die amerikanische Seite zugesagt hatte, für jedes Gerät die technischen Unterlagen kostenlos mitzuliefern. In diesem Rahmen schickte das ZK Loginov 1936 für zwei Jahre in die USA nach Philadelphia, dem Stammsitz von „Brown".133 Loginov vermittelte sowjetische ITR in ein zweimonatiges Ausbildungsprogramm zum Service-Ingenieur in die USA, erkundete im Auftrag der Stadt Moskau für den Bau des Moskau-WolgaKanals die Überwachung von Kanalsystemen in den USA, führte Kaufverhandlungen für Maschinen zur Herstellung von Fluggeräten und erkundete, wie weit die Firma Brown die Entwicklung eines Potenziometers vorangetrieben hatte.134 Loginov beschreibt belustigt und distanziert wie ein Ethnologe die amerikanischen Gepflogenheiten im Geschäftsleben, das Pflegen enger persönlicher Kontakte, die Geschäftsessen, das Verhandeln und Unterbreiten von Angeboten. Gleichzeitig kann er nicht verbergen, daß er dieses Spiel, das er als sowjetischer Geschäftspartner mitspielte, nicht unsympathisch fand. Ihm gefiel ganz offensichtlich das amerikanische Leben, der freie und ungezwungene Umgang mit den amerikanischen Arbeitern und Ingenieuren, die Einladungen des Präsidenten der Firma, Mister Richard Brown, zu dem er einen sehr guten Kontakt pflegte, sowie die kleine Wette mit seinem Partner, Mister Hadjack, darüber, wer zuerst die Sprache des anderen beherrsche, von dem er Saljapin-Platten erhielt, während er russischen Cognac überreichte.135 Dennoch geriet er nicht in Versuchung, die amerikanische Erfahrung über das sowjetische Experiment zu stellen. Calych hatte bereits größere Schwierigkeiten, sich nicht von seinem USA-Erlebnis überwältigen zu lassen. Er schwärmt: „Ich spürte die Überlegenheit der amerikanischen Technik (...)."136 1936 schickten ihn die Behörden in die USA, um die amerikani-

später seine

zu

war

sche Elektrodenproduktion auszukundschaften. Er besuchte das „Mekka der amerikanischen Elektrodenindustrie", die Firma „National Carbon" an 131 132 133

Calych, S. 68.

Fedoseev, S. 75f.

Loginov, 1. 68f. Loginov, 1. 70ff. 135 1. 70, 72. Loginov, 136 134

Calych, S. 51.

Amerika einholen und überholen"

283

den Niagarafällen, Fabriken in Cleveland, in Pennsylvania, in Michigan, San Francisco und die Firma „Westinghouse" in Pittsburgh. Obwohl er auch in den USA ähnlich wie in Deutschland den Eindruck hatte, daß ihn die Angestellten der jeweiligen Firma mehr ablenkten, als ihm die Produktion zu zeigen, und ihm ein Amerikaner sogar bestätigte, Ausländer brauchten Strategien wie die Japaner, die zu sechst kämen, damit einer den Begleiter ablenke, während die anderen alles fotografierten, hatte Calych hier den Eindruck, genug zu sehen. Die vorgeführte Technik unterschied sich von allem, was er aus Europa kannte: Die Schmelzöfen, die in den USA 80 Tonnen Elektrostahl im Jahr bewältigten, schafften in der Sowjetunion nur 30 Tonnen, die hier praktizierte kohlenstofffreie Ferromolybdän-Produktion war in der Heimat unbekannt; die Fabriken unterhielten keine eigenen Reparaturwerkstätten, sondern erhielten ihre Ersatzteile zuverlässig von anderen Firmen geliefert.137 Ein solcher Service in der Industrie war für ihn, der gewohnt war, um jedes Ersatzteil und jede Schraube zu kämpfen, eine Sensation. Dies Land war wie ein großes Ideenarsenal, wie ein Techniklexikon und eine riesige Messe zugleich, wo sie, die sowjetischen ITR, herzlich eingeladen waren, sich frei umzuschauen und zu bedienen; Calych nahm Technikkataloge und Broschüren mit, so viel er tragen konnte. Er ließ sich inspirieren, holte sich Anregungen und erkannte Probleme, die ihm in der Heimat noch nicht als solche bewußt geworden waren: Die „unerträgliche sanitäre und hygienische Lage" in seinem Werk beseitigte er, nachdem er in den USA gelernt hatte, daß die Produktion auch weniger gesundheitsgefährdend organisiert werden konnte. Nach vier Monaten Forschung hatten Calychs Kollegen einen Ersatz für den Steinkohleteer gefunden, der als „revolutionäre Errungenschaft" gefeiert wurde und in die Lehrbücher einging.138 Calych erlebte hier eine persönliche Freiheit, die ihn an die Grenze zu einem Loyalitätskonflikt mit seiner Heimat brachte und ihn dazu zwang, sich selbst an seine Pflichten zu erinnern: „So unendlich auch die hier gewonnene Freiheit war, vergaß ich doch nicht meine Verantwortung als sowjetischer Ingenieur und Staatsbürger. Diese Haltung bestimmte mein Handeln im fremden Land."139 Noch größere Schwierigkeiten, sich gegen dies Land abzugrenzen und seine alten Überzeugungen aufrecht zu erhalten, hatte Fedoseev. Er wurde im Mai 1938, zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern der Elektrovakuum-Industrie zu der Firma „RCA" nach Garrison, New Jersey, abkommandiert, um für seine Branche die Technik der USA auszukundschaften. Außerdem ernannte man ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission Glavéksprom und betraute ihn mit der Aufgabe, BeCalych, S. 62ff. Calych, S. 51. Calych, S. 63.

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richte zu schreiben, die seiner Kollegen zu kontrollieren sowie den Erhalt und die Überprüfung von technischen Unterlagen zu organisieren. Fedoseev reiste über Riga und Deutschland nach England und war in allen drei Ländern vom Wohlstand, von der Vielzahl der Waren und den überfüllten Schaufenstern überrascht. Weder fand er in Deutschland den Hunger, von dem ihm in der Sowjetunion berichtet worden war, noch in England die Armut, die er sich nach Berichten über dieses Land vorgestellt hatte. Der Anblick New Yorks überwältigte ihn schließlich: „Diese riesige Stadt erfüllte mich mit Ehrfurcht vor dieser kolossalen und intelligenten Arbeit, die sich in jedem Stein ihrer Gebäude widerspiegelte. In den Wolkenkratzern sah ich die Großartigkeit des menschlichen Gedankens und Handwerks; sowohl von fern als auch von nah sah ich in der Polierung des Granits, in den Rahmen und den Verzierungen der Fenster, Türen und Treppen das grenzenlose Können, spürte ich die Arbeitsliebe. Leider war bei uns im Land alles andersherum. Schlampigkeit bei der Arbeit, die Jrgendwieerei' (koekakerstvo) waren schon deutlich zu sehen."140 Während Calych und Loginov es als Kommunisten schafften, sich vorzuhalten, daß in den USA ein Ingenieur, der seine Patente verkauft hatte, ein trostloses Leben fristete, oder es ein Scheidungsverbot gab, gelang es Fedoseev nicht, eine solch schützende Wand vor sich aufzubauen, obwohl er sich mit aller Kraft dagegen wehrte, den USA zu verfallen: „Ich war streng loyal zu meinem Land und wollte nicht unter den Einfluß der neuen

geraten."141

Welt

Seine Strategien zum Selbstschutz funktionierten nicht. Er versuchte nach den schlechten Seiten der USA zu suchen, um sich zu überzeugen, daß ein Leben hier auch nicht besser als in der Sowjetunion wäre, und versagte sich, das Land genauer kennenzulernen. Trotzdem blieb in ihm die Furcht, er könne angesichts des Lebensniveaus und der amerikanischen Arbeitskultur „den Sinn des Lebens in der Sowjetunion verlieren".142 Fedoseev konzentrierte sich daraufhin ganz darauf, sein in den USA angesammeltes Wissen über Technik und Arbeitsorganisation gewinnbringend in die UdSSR zu transferieren, indem er in Berichten und Briefen Verbesserungsvorschläge unterbreitete. Aber auch diese Tätigkeit frustrierte ihn nur, denn er mußte feststellen, daß seine Briefe überhaupt keine Konsequenzen zeitigten. Fedoseev zerstritt sich schließlich mit seinem Vorgesetzten, Valerian Michajlovic Kalinin, dem Sohn von Michajl Ivanovic Kalinin, über Sinn und Zweck seiner Tätigkeit, weil er sich in den USA wie auf einem Abstellgleis" fühlte. Er kehrte, entmutigt und enttäuscht, auf eigenen Wunsch in die Sowjetunion zurück, um nicht länger mit diesem Wunderland USA konfrontiert zu sein.143 ,

140

Fedoseev, S. 68. Fedoseev, S. 69. 142 Fedoseev, S. 65f. 143 Fedoseev, S. 69f. 141

„Amerika einholen und überholen"

285

Propagierten die Medien zu Beginn des ersten Fünfjahrplans, daß der ideale Ingenieur wie ein Amerikaner handelte, dachte und aussah, wurde seit 1931 diese Vorstellung von dem Bild vom Ausländer als nicht sowjetkompatiblem Störfaktor abgelöst. In die Haltung der Ingenieure hat sich v.a. letztere Perspektive eingeschliffen. Dabei zeigen sich kommunistische und eher kritische Ingenieure in gleicher Weise patriotisch bzw. feindselig gegenüber den ausländischen Kollegen. Es widersprach ihrem Selbstverständnis als Pionieren und Begründern einer sowjetischen Industrie, sich dabei von Fremden anleiten, gängeln und bevormunden zu lassen. Ihr Anspruch, selbst mit jeder Krise fertig zu werden und neue Lösungen zu finden, widersprach der Situation, ständig einen besserwisserischen Aufpasser an der Seite zu haben. Die Ingenieure karikieren auf die gleiche abfällige Weise die Ausländer, wie es damals die Zeitungen taten: Sie zeichnen unfähige, hochnäsige Gecken, die nach Komfort und Wohlstand strebten. Damit bekam der ausländische Ingenieur die Attribute verliehen, mit denen zuvor die alte Intelligenzija geschmäht worden war. Der Ausländer war jetzt nicht mehr der hemdsärmlige, arbeiterfreundliche Amerikaner, sondern der kaltschnäuzige Kapitalist. Ausländische Ingenieure machten Profit, Dienst nach Vorschrift und enthielten den Russen ihre neuste Technik vor; sowjetische ITR kämpften für die Idee, waren mit Enthusiasmus bei der Sache und spielten mit offenen Karten. In Abgrenzung zu den Ausländern schärften die sowjetischen Ingenieure noch einmal ihr eigenes Profil und identifizierten sich dabei tatsächlich in hohem Maße mit den von der Propaganda verbreiteten Idealen. Die eigenen permanenten Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem Ausland trieb sie einerseits in die Überheblichkeit und den Chauvinismus gegenüber den Ausländern und erzeugte damit andererseits eine Festigung ihres Glaubens an die sowjetischen Ideale und Ziele. Allerdings wurde genau dieser erschüttert, wenn Ingenieure für längere Zeit in den USA einer ganz anderen Kultur, Mobilität und Freiheit ausgesetzt waren. In so einer Situation kostete es sie große Anstrengungen, die einmal gewonnenen Gewißheiten nicht gegen den Glauben an den American Way of Life einzutauschen. Dabei ist bemerkenswert, daß alle drei Ingenieure, Loginov, Calych und Fedoseev, in die UdSSR zurückkehrten: Selbst Fedoseev war zu diesem Zeitpunkt derart fest in das sowjetische Gebäude eingebunden, daß es bis zu einem Bruch noch weit war. Die Erzählungen dieser drei Amerikareisenden ähneln stark den Berichten der Ingenieure in der Za industrializaciju in den Jahren 1935/36. Sie griffen, inspiriert durch ihre Auslandsreisen, das Bild vom Amerikaner als idealem Ingenieur wieder auf. In diesen Zeitungsberichten schien

286

Krisenmanager und Improvisationskünstler

das Auslandsbild nicht mehr von der Sowjetregierung kontrolliert zu werden, sondern sich verselbständigt zu haben bzw. sich nun in der Macht der Ingenieure zu befinden. Auch wenn Partei und Regierung die Losung „Mit amerikanischem Tempo bauen" selbst ausgegeben hatten und die positiven Berichte über das Ausland als legitime „Kritik und Selbstkritik" an der eigenen Wirtschaft zuließen, fand hier in gewissem Sinne ein Kontrollverlust statt. Der Umstand, daß Ingenieure einen Teil der Definitionsmacht an sich rissen, erwies sich als äußerst gefährlich für sie; letztlich schrieben sich diese Ingenieure um Kopf und Kragen: Die Situation vor dem Großen Terror erinnert an den Vorabend der Kulturrevolution. Beide Male schienen sich Ingenieure zu emanzipieren bzw. eine zu selbständige, von der Meinung der Partei und Regierung abweichende Meinung zu formulieren und publik zu machen. Der Amerikanismus, dem Ingenieure in den Jahren 1935 und 1936 huldigten, stand nur noch oberflächlich in Verbindung mit der offiziell propagierten Amerikanisierung der sowjetischen Wirtschaft. Das, was Wirtschaftsführer und Spezialisten hier formulierten, ohne das es ihnen unbedingt bewußt war oder sie solches beabsichtigten, war eine Bankrotterklärung der eigenen Wirtschaftsmechanismen und Ingenieursausbildung und eben doch die Erhebung des amerikanischen Systems zur unerreichbaren „Ikone".

V.

Versorgung und Vergnügen

1) Privilegien für die Elite Zur gleichen Zeit, als die zweite Welle des Amerikanismus aufwogte und die Ingenieure in den Zeitungen ihre Begeisterung für dieses Land kaum noch verbergen konnten, stellten Partei und Regierung die materiellen und kulturellen Bedürfnisse ihrer Ingenieure und Ingenieurinnen in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit.1 Die Jahre 1934 bis 1936 waren die sogenannten „goldenen Jahre", in denen vielen Menschen schien, Terror und Hungersnot seien ein für alle Mal in die Vergangenheit entschwunden, nun könne man sich wieder freier äußern und besser leben. Indizien dafür waren die Auflösung der OGPU 1934 bzw. ihre Überführung in den NKVD, die Abschaffung der Lebensmittelkarten im Herbst 1935 und die neue Verfassung des Jahres 1936, die den Sowjetbürgern Rechte und Freiheiten versprach. Stalin gab dazu die Losung aus: „Das Leben ist besser, das Leben ist lustiger geworden."2 Die Entwicklung hin zum Individuum und seinen Bedürfnissen und weg von den Großbauten und nationalen Interessen hatte ihren Ausgangspunkt in der Rehabilitierung der (alten) Ingenieure 1931, denen Stalin fortan nicht nur Rechte geben, sondern gegenüber denen er auch „ein Höchstmaß an Fürsorge an den Tag legen" wollte.3 Im Dezember 1934 unterstrich er vor den versammelten Metallurgen erneut: „Jeder fähige und verständig arbeitende Mensch muß gehegt werden, gehegt und gepflegt, wie ein Gärtner seinen früchtetragenden Lieblingsbaum pflegt."4 Offiziell erklärte Stalin die neue Politik am 4. Mai 1935 mit der Losung „Die Kader entscheiden alles" zum Programm der Regierung:

„Früher haben wir gesagt, ,Die Technik entscheidet alles.' (...) Aber das ist

lange, lange noch nicht ausreichend.

Um die Technik in Bewegung zu setzen letzten auszunutzen, brauchen wir Menschen, die die Technik gelernt haben, (...). Ohne Menschen, die die Technik beherrschen, ist die Technik tot. (...) Deshalb müssen die Menschen, die Kader, die Arbeiter, die

und sie bis

zum

1 Vgl. auch: Hessler, Julie: Cultured Trade: The Stalinist Turn Towards Consumerism, in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New Directions, London, New York 2000, S. 182-209; Volkov, Vadim: The Concept of kul'turnost': Notes on the Stalinist Civilizing Process, in:

ebd., S. 210-230. Stalin, J.: Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 604. 3 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 422. 4 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1935, S. 12. 2

288

Versorgung und Vergnügen beherrschen, jetzt besonders hervorgehoben werden. Deshalb Losung ,Die Technik entscheidet alles', (...) jetzt durch die neue Losung ersetzt werden: ,Die Kader entscheiden alles.' Das ist jetzt das wich-

die Technik muß die alte

tigste."5

Damit begann die Partei, zunehmend unverhohlen die besondere Rolle der Ingenieure beim Aufbau der Industrie und Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen sowie deren Anspruch auf eine ihren Leistungen entsprechende Entlohnung für legitim zu erklären.6 Das Ende des ersten Fünfjahrplans und der Beginn des zweiten Fünfjahrplans brachten einen Wechsel in der Politik vom Primat der Industrie und Technik hin zum Primat des menschlichen Wohlergehens und eine Akzentverschiebung vom Arbeiter als Fundament der Sowjetunion hin zum Ingenieur als Grundsäule des sozialistischen Aufbaus.7 Um dem Ingenieur zu huldigen und an den neuen Staat zu binden, wurde ein ganzes System von Auszeichnungen und Ehrerbietungen für Ingenieure entwickelt. Das Volkskommissariat für Schwerindustrie schuf ein sowjetunionweites Ehrenbrett (doska poceta), auf dem die verdienten Ingenieure wie etwa Vedeneev und Vinter gewürdigt wurden. Die Zeitungen und Zeitschriften richteten Rubriken wie „Die ITR sollen ihre herausragenden Kollegen kennen",8 „Die sowjetischen ITR müssen die besten der Welt werden"9 oder „Das Land soll seine besten Kommandeure kennen"10 ein, unter denen die Helden des sozialistischen Aufbaus samt Lebenslauf und Foto präsentiert wurden, unter ihnen z.B. auch Jakovlev." Den Höhepunkt erreichte diese öffentliche Glorifizierung der Ingenieure 1935, als die Za industrializaciju auf jeder Titelseite den Volkskommissar Ordjonikidze mit einer Gruppe von als „besten Ingenieuren der Schwerindustrie" ausgezeichneten Spezialisten abdruckte.'2 Neben dieser ideellen Aufwertung und Anerkennung der Ingenieursarbeit, bemühte sich der Staat nun auch, die Ingenieure materiell zu belohnen. „Ein Maximum an Sorge und Aufmerksamkeit" mahnte die Partei für das ingenieur-technische Personal „sowohl der alten Schule als auch der neuen Generation" an. Sie machte es sich offiziell zum Ziel, Anreize für 5

Stalin, J.W.: Werke. Bd. 15, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (BolKurzer Lehrgang, Hamburg 1971, S. 420. schewiki), 6 Vgl. auch Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times:

Soviet Russia in the 1930s, Oxford 1999, S. 96. 7 Vgl. Davis, Robert / Chlevnjuk, O.V.: Vtoraja pjatiletka: Mechanizm smeny ekonomiceskoj in: Otecestvennaja istorija 2 (1994) 3, S. 92-107. politiki, 8 Inzenernyj trud, Nr. 17, 15.9.1929, S.500; Nr. 22, 10.8.1932, S. 534; Nr. 5, Mai 1935, S. 146f. 9 Inzenernyj trud, Nr. 11, 1933, S. 331. 10 Za industrializaciju, 16.10.1930. " Za industrializaciju, 14.9.1935. 12 Za industrializaciju, 8.4.1935 und folgende Nummern.

Privilegien fur die Elite

289

zu schaffen, die neue Produktionsmethoden einführten, Rationalisierungsmaßnahmen durchsetzten und die Produktionsqualität verbesserten.13 Die Politik der Gleichheit aller Arbeiter und Ingenieure wurde von dem Prinzip: „Leistung muß sich wieder lohnen" abgelöst:

die ITR

„Es wäre unmenschlich, Opfer im Namen des ,Allgemein'-Wohls zu fordern, das auch Philister und Nichtsnutze einschließt. (...) Wir, die Avantgarde des kämpfenden Proletariates, rufen Dich zum Kampf fur eine bessere Zukunft, aber die Früchte der Anstrengungen, des Risikos, der Opfer gehören in erster Linie dem, der am meisten und besten geschafft hat. Dem Erfinder, dem Stoßarbeiter das beste Stück. Dem Helden eine Auszeichnung und einen Preis. (...) Den Sozialismus nur für das Versprechen einer besseren Zukunft für die Enkel zu bauen, ist Unsinn. Ohne ,Interesse' wird nichts herauskommen", -

-

verkündete das Blatt des Volkskommissariats im April des Jahres 1931. Erstmals wurde auf Mißstände und Diskriminierungen des technischen Personals hingewiesen. Das ganze Desaster der Versorgungslage der Ingenieure brachte die Za Industrializaciju auf den Punkt: „Kantinen? Funktionieren wie Privatmärkte! Kurortplätze? Sollen sie sich selbst beschaffen! Wohnraum? Sie leben nun mal schlechter!"14 Es wurde erstmals publik, daß es in manchen Gegenden als Zeichen des „schlechten Tons" galt, einem Ingenieur eine Wohnung zuzuweisen oder ein Pferd für seine Arbeit zur Verfügung zu stellen. Diese Benachteiligung sollte nun ein Ende haben: „Soll er doch im Auto fahren, wenn der Spezialist mit seiner Arbeit diese Ausgabe wettmacht, und hinsichtlich der Versorgung müssen dem Spezialisten alle Vergünstigungen, die auch der qualifizierte Proletarier erhält, zugestanden werden."15 Laut wurde jetzt unter der Rubrik: „Mit Fürsorge und Aufmerksamkeit die Kommandeure der Industrie umgeben" gefordert: „Für die ITR Wohnraum, Kurorte und Gebrauchsgüter im gleichen Maße wie für die Industrie-Arbeiter! Die Organe der Justiz, die ziellos und eigenmächtig die Ingenieure belästigen, zur Ordnung rufen!"16 Am 1. August 1931 verabschiedete die Regierung einen umfassenden Katalog von Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lage der Ingenieure beitragen sollten. Dazu gehörten neben dem Recht auf erleichterten Zugang zu den Hochschulen für Spezialistenkinder und dem besseren Schutz vor Strafverfolgung v.a. auch Bestimmungen zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Die Ingenieure hatten fortan nicht nur Anspruch auf die gleiche Lebensmittelkartenkategorie wie Industriearbeiter, sondern ihnen standen nun auch Sonderkantinen und geschlossene Verkaufsstellen für Lebensmittel und Defizitwaren (zakrytye raspredelltell, ZK) -

-

-

13

KPSS v rezoljuciajach i resenijach, S. 687f. Za industrializaciju, 23.7.1931. 15 Za industrializaciju, 2.4.1931. 16 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 26. 14

290

Versorgung und Vergnügen

Verfügung.17 Auch bei der Versorgung mit Wohnraum, Kurortplätzen Erholungsreisen wurden die Ingenieure mit den Industriearbeitern gleichgestellt.18 Die noch aus Zeiten der NÈP bestehende „Zentralkommission zur Verbesserung des Lebensstandards der Gelehrten" (CEKUBU) wurde in die „Kommission zur Hilfe der Gelehrten" (KSU) überführt,19 die verdiente Mitglieder der Intelligenzija mit Sonderessensrationen versorgte.20 Die Berücksichtigten waren damit nicht nur den Industriearbeitern gleichgestellt; die Elite wurde bewußt bevorzugt. zur

und

a) Leistungslöhne

Entlohnung der Ingenieure radikal auf das Leistungsprinnach dem nur noch ein geringer Grundlohn, dafür aber hohe Prämien für Planerfüllung und Fristenwahrung gezahlt wurden. Mit dieser Regelung sollten die Ingenieure zu Stoßarbeit, Überstunden und Enthusiasmus motiviert werden.21 Die Presse predigte, jeder Ingenieur müsse so viel verdienen, wie viel er Nutzen bringe.22 Als ,„linkslerische' Gleichmacherei" (uravnilovkd) beschimpfte Stalin die zuvor propagierte Gleichheit beim Lohnbezug: „Die Gleichmacherei führt dazu, daß der qualifizierte Arbeiter gezwungen ¡st, 1931 wurde die

zip umgestellt,

von man

Betrieb zu Betrieb zu wandern, bis er schließlich einen Betrieb findet, die qualifizierte Arbeit genügend zu schätzen weiß." 23

wo

Sie verwische „die Grenze zwischen guter und schlechter Arbeit" und endgültig „liquidiert" werden. Der 17. Parteikongreß beschloß 1934, „die Arbeitslohnstufen" so zu gestalten, „daß unmittelbar die Arbeit in den Werken, auf den Baustellen und in der Fabrik stimuliert wird."24 Das beste Gehalt sollten die ITR verdienen, die in den Schwerindustriezweigen Metallurgie, Kohlenabbau und Maschinenbau tätig waren.25 Trotz der Tendenz, alles gesetzlich zu regeln, war die Bezahlung der Ingenieure nicht kodifiziert. Die Entlohnungsmodalitäten wurden in Kollektivverträgen (koldogovory) von den ITS und den Unternehmensvermüsse jetzt

17

Vgl. Osokina, Elena: Za fasadom „stalinskogo izobiüja". Raspredelenie i rynok v snabzenii v gody industrializacii, 1927-1941, Moskau 1999, S. 104f. naselenija 18 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 567ff. Zur Einrichtung der geschlossenen Geschäfte auch: Osokina, Ierarchija potreblenija. vergleiche 19 Front nauki i techniki, Nr. 3, März 1933, S. 41, 44. Osokina, Za fasadom, S. 105. 21 Za industrializaciju, 3.2.1933; 18.2.1933; Inzenernyj nerov, Nr. 12, Dezember 1937, S. 709. 22 Za industrializaciju, 7.7.1931. 23 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 406. 24 KPSS v rezoljucijach i resenijach, S. 773. 25 KPSS v rezoljucijach i resenijach, S. 687f. 20

trud, Nr. 2, 1934, S. 91; Vestnik inze-

291

Privilegien für die Elite

waltungen festgelegt.26 Der Verdienst war damit nicht zentral geregelt und

konnte von Trust zu Trust variieren. Das durchschnittliche Monatseinkommen von einem in der Großindustrie beschäftigten ITR wuchs von 303 Rubel 1932 auf 542 Rubel 1937 (siehe Tabelle). Vor 1932 waren die Ingenieure und Techniker nicht als eigene Gruppe ausgewiesen, sondern zu den „Angestellten" gerechnet worden. Der Vestnik inzenerov i technikov verkündete dennoch, daß das Durchschnittsgehalt eines ITR von 1928 bis 1932 um 47 Prozent gestiegen sei, das der Kohleförderer sei sogar um 96 Prozent, das der Metallurgen um 82 Prozent und das der Maschinenbauer um 75 Prozent gewachsen.27

Durchschnittsverdienst eines ITR in der Großindustrie in Rubel2" 1932 1933 1934 1935 1936 1937 303 R.

379 R.

341 R.

Der Verdienst eines ITR

stungen, sondern auch 1933 ein

Ingenieur

von

in der

hing dem

443 R.

518 R.

542 R.

nicht nur von seinen persönlichen LeiPrestige seiner Branche ab. So verdiente

Steinkohleförderung,

die oberste Priorität ge-

noß, durchschnittlich rund 640 Rubel, während ein Spezialist in der Konditorindustrie zur gleichen Zeit rund 280 Rubel monatlich, also weniger als die Hälfte, erhielt.29

Die leistungsgekoppelte Bezahlung hatte zur Folge, daß sich Ingenieure immer wieder beim VMBIT beschwerten, ihnen seien zu Unrecht Abzüge vom Gehalt gemacht worden. Die Unternehmen besaßen grundsätzlich das Recht, für die Planuntererfüllung weniger Gehalt auszuzahlen, aber die ITR konnten dann Anspruch auf die volle Höhe ihres Gehalts gelten machen, wenn sie den Schaden nicht zu verantworten hatten. Dementsprechend entstanden Kontroversen zwischen dem technischen Personal, unterstützt durch die Rechtsabteilung der Gewerkschaften, und den Arbeitgebern, die die auslegungsfähige Regel dazu nutzten, den Lohn der Ingenieure auch unter das gesetzliche Minimum zu drücken. Immer wieder mußte der Leiter der Rechtsabteilung, Gil'debrandt, intervenieren und den Verwaltungen vorrechnen, daß zwar seit 1936 für jede Havarie fünf Prozent vom Lohn einbehalten werden könnten, dieser Abzug aber nur die Prämie und nicht das Grundgehalt betreffen dürfe.30 So geriet, was als Leistungsanreiz konzipiert war, zum Instrument in der Hand der Betriebe, mit dem sie ihre Ingenieure schikanieren konnten. 26

RGAÉ, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 10, !.

10. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 12, Dezember 1937, S. 710. Vestnik Inzenerov i technikov, Nr. 1, Januar 1938, S. 13. 29 trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 20. Inzenernyj 30 RGAÉ, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 10,1. 25, 39. 27

28

292

Versorgung und Vergnügen

b) Versorgungsmisere Auch die bessere Versorgung der Ingenieure war keine eindeutige, einfach durchzusetzende Maßnahme. Bereits am 13. Mai 1930 hatten das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare beschlossen, das Versorgungsniveau der Ingenieure dem der Arbeiter anzugleichen, am 13. November 1930 hatten die Volkskommissare erneut erklärt, daß die ITR das Recht auf die gleiche Lebensmittelkategorie hätten, und am 13. Januar 1931 hatte die Regierung einen entsprechenden Erlaß verabschiedet.31 Bereits an den vielen Erklärungen ist zu sehen, daß die Durchsetzung des Arbeiterstandards für Ingenieure auf massiven Widerstand traf. In einigen Gegenden mußten die Vorsitzenden der örtlichen Versorgungsstellen erst vor Gericht gestellt werden, bevor sie die bessere Einstufung der Techniker vollzogen. Aber auch die formale Anerkennung der höheren Lebensmittelkategorie bedeutete noch lange nicht, daß die Spezialisten tatsächlich in deren Genuß kamen. Arbeitervertretungen oder Verwaltungen weigerten sich, die ohnehin sehr knappen Lebensmittel in größeren Mengen als bisher den Ingenieuren zukommen zu lassen.32 Das Moskauer Büro für die Ausgabe von Lebensmittelkarten lehnte es auch zwei Monate nach den Beschlüssen des ZK immer noch ab, den Ingenieuren neue Lebensmittelkarten auszuhändigen. Aus verschiedenen Städten und Fabriken wurde gemeldet, daß sich die zuständigen Stellen immer neue Bedingungen für den Umtausch der Lebensmittelkarten ausdachten, die mit der Anweisung der Regierung nicht vereinbar waren.33 Die Bezirksversorgungseinrichtungen, die von den Gebietsversorgern keine zusätzlichen Mittel für die neuen Zuteilungen bekamen, strichen z.T. daraufhin die Spezialisten ganz von ihren Versorgungslisten.,4 In der Makeevskij-Metallfabrik mußte sich jeder Ingenieur selbst eine bessere Versorgungskategorie erkämpfen. Die Arbeiterkooperativen verhöhnten die Ingenieure und nahmen sich das Recht, ihnen unliebe Spezialisten von den Versorgungslisten zu tilgen.35 Rudzutak bestätigte 1934 auf dem 17. Parteikongreß, daß es immer wieder vorkomme, daß ITR und ihren Familien die Lebensmittelkarten entzogen würden. In Krasnodar habe der Versorgungsbevollmächtigte den Ehefrauen der Ingenieure erklärt: „Eure Männer sind Idioten, wenn sie an mich Beschwerden schreiben. Ich bin hier der Hausherr und weiß, was ich tue. Ich schließe den Verkauf, und fertig.

31

Za industrializaciju, 2.4.1931; Zur Versorgungssituation vlast' v uslovijach krizisa snabzenija 1939-1941 gody, in: S. 16-32. Za industrializaciju, 1.1.1935. 33 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 568. 34 Inzenernyj trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 532. 35 Za industrializaciju, 27.7.1931.

vgl. auch: Osokina, E.A.: Ljudi i Oteiestvennaja istorija 3 (1995),

Privilegien für die Elite Ich habe für die Kinder einen halben Liter Milch ich nicht geben."36

293

ausgegeben, und mehr werde

Aus anderen Gegenden wurde gemeldet, daß die zusätzlichen Mittel für die Besserstellung der ITR in allgemeine Töpfe umgeleitet wurden, ohne daß die Ingenieure in irgendeiner Form besonders berücksichtigt wurden.37 In Stalinsk dauerte es ein halbes Jahr, bis die Versorgung von 100 Spezialisten auf das Niveau der Arbeiter angehoben wurde. Die Einrichtung einer Spezialkantine wurde mit dem Hinweis verweigert, es gäbe „wichtigere Dinge".38 Nicht selten bedeuteten die Versorgungseinrichtungen den ITS, sie sollten sich selbst um die Organisation von Kantinen kümmern, dann würden sie, die Versorger, sie verwalten.39 Die Meinung, die Spezialisten verdienten so viel, daß sie keiner besonderen Versorgung bedürften, bewirkte ein übriges. Das Kombinat für landwirtschaftliche Maschinen in Kadievo gab kein Gemüse aus der eigenen Sowchose an die Ingenieure ab, weil man der Ansicht war, die ITR könnten auch die Preise auf dem freien Markt bezahlen.40 Die Verwaltung der Baustelle der Fabrik „Metallist" in Kanavino lehnte die Aufnahme der Ingenieure in die Listen für den Bezug von Gemüse aus der Gartenwirtschaft ab und überließ sie den Spekulanten. Auf dieser Baustelle waren auch im Frühjahr, als man bis zu den Knien im Morast versank, die Ingenieure unter Androhung von Lohnentzug gezwungen worden, ihre Arbeitsstiefel den Arbeitern zu überlassen.41 In Kercensk waren die Spezialisten innerhalb von fünf Monaten fünfmal in die Versorgungslisten der Kategorie „eins" ein- und genauso oft wieder ausgetragen worden. In vielen Unternehmen war es nach wie vor üblich, die ITR nach der Kategorie „drei" zu versorgen, obwohl ihnen mindestens Kategorie „zwei" zustand. Auch gab es Fälle, in denen Ingenieuren Mäntel für 180 Rubel verkauft wurden, die maximal mit 86 Rubel berechnet werden durften. In diesem Fall waren die verantwortlichen Versorger zu einem halben Jahr Zwangsarbeit verurteilt worden. Triumphierend berichtete die Inzenernyj trud, daß die Staatsanwaltschaft dazu übergegangen sei, die Einhaltung des Dekrets vom 1. August 1931 zu überwachen und allerorten verdächtige Versorger anzuklagen. In Leningrad sei die Prokuratur 200 Beschwerden von Spezialisten nachgegangen und habe in 90 Prozent der Fälle eingegriffen.42 Über die grundsätzliche Versorgung der Ingenieure hinaus bot auch die Qualität des Angebots immer wieder Anlaß zu Beanstandungen, Schelten 36

Inzenernyj trud, Nr. 2, Februar 1934, S. 43. Inzenernyj trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 532. 38 Za industrializaciju, 23.7.1931. 39 trud,tir. 25, 10.10. 1931, S. 568. Inzenernyj 40 trud, Nr. 25, 10.10. 1931, S. 568. Inzenernyj 41 trud, Nr. 12, 31.5.1931, S. 300. Inzenernyj 42 Inzenernyj trud, Nr. 13-14, 20.5.1932, S. 340f. 37

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Versorgung und Vergnügen

und Kampagnen. Das betraf besonders den Zustand der ITR-Kantinen. In den Kantinen der Kramatorskij-Fabrik gab es weder Stühle noch Besteck, die Speisen waren immer die gleichen und von schlechter Qualität. Das Frühstück stand statt um elf Uhr oft erst um 14 Uhr bereit.43 Unter dem Titel „Freie Tage für die Mägen" prangerte die Inzenernyj trud den Zustand an, daß die Ingenieure am Wochenende arbeiteten, die Kantinen aber samstags und sonntags geschlossen blieben.44 Aus Brjansk wurde berichtet, daß sich die ITR-Kantine in viel zu beengten Räumlichkeiten befinde und von der Versorgung mit rationierten Lebensmitteln systematisch ausgeschlossen sei, so daß das Essen teuer und schlecht sei. Die Ingenieure müßten eine Stunde und länger anstehen; zudem hätten nur 60 von 400 ITR das Recht, dort zu speisen, während gleichzeitig Pädagogen, Ärzte und Schauspieler zu den Stammgästen zählten. Da diese Kantine statt der angesetzten zwei Prozent sieben Prozent Gewinn mache, wurde der Staatsanwalt eingeschaltet.45 Aus der Stalingrader Traktorenfabrik hieß es, daß die ITR-Kantine Nr. 9, in der Dreck, Kakerlaken und ein „gesundheitsschädlicher Zustand" geherrscht hatten, einen neuen Anstrich und eine Garderobe bekommen habe.46 Positiv fiel die Kantine der Großbaustelle von Krivoj Rog (Krivorozstroj) auf, in der das Essen appetitlich, reichlich und hygienisch einwandfrei sei.47 Zusätzlich zu der Grundversorgung der Ingenieure hatte die KSU die Aufgabe, geschlossene Geschäfte und Kolchosen, die nur für Wissenschaftler produzierten, zu organisieren. 1932 wurden elf solcher Wirtschaften eingerichtet, mit deren Produkten die Gelehrtenhilfe die geschlossenen Geschäfte beschickte.48 In Simferopol' umfaßte ein solcher Landwirtschaftsbetrieb 1934 1 200 Hektar Land, 50 Kühe, zwei Stiere, 60 Kälber, 280 Zuchtsäue, 260 Ferkel, 23 Pferde, 23 Ochsen, einen Traktor, einen fünf Hektar großen Obstgarten, etliche Hühner, Gänse und Enten.49 Dennoch beklagte der VMBIT, daß Ingenieursläden, anstatt sich zu vermehren, immer wieder geschlossen würden. So war in der Kramatorskij-Fabrik innerhalb eines Quartals die Anzahl der Verteilungsstellen von sechs auf drei geschrumpft.50 Wütende Ingenieure wandten sich an ihre Gewerkschaft, weil sie vor Ort keine Einkaufsmöglichkeiten fanden. Der Leiter des 54. Abschnitts des Trusts „Sverdlovkohle" im Donbass, Genosse und Stoßarbeiter Mogil'nov, schimpfte, daß sich der nächste La43

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 3, 1. 47. Inzenernyj trud, Nr. 5, Mai 1933, S. 153. 45 Inzenernyj trud, Nr. 13-14, 1932, S. 339. 46 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1935, S. 29. 44

47

Za industrializaciju, 10.5.1936. Front nauki i techniki, Nr. 3, März 1933, S. 43. 49 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 26. 50 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 3,1. 47. 48

Privilegien fur die Elite

295

den zwölf Kilometer weit entfernt befände, was bedeutete, daß er sich Tage vorher um Pferde kümmern oder die Strecke schwer bepackt zu Fuß laufen müsse.51

Trotz der mühseligen Umsetzung und der zahlreichen Mißstände verkündete die Inzenernyj trud zum Jahrestag der Verabschiedung der Beschlüsse zur Verbesserung der Lage der ITR, daß es große Erfolge gebe und die Beschlüsse im wesentlichen umgesetzt seien. In Moskau gebe es 14 geschlossene Lebensmittelgeschäfte, die 60 000 Ingenieure und ihre Familien versorgten, sowie zwei geschlossene Geschäfte für Gebrauchsgüter mit fünf Filialen. Sechs städtische Kantinen versorgten 17 000 ITR und 18 Firmenkantinen weitere 5 000 ITR. Im Donbass existierten 33 geschlossene Geschäfte.52 Im Januar lautete die Erfolgsmeldung, daß in Moskau inzwischen 32 Behörden, Volkskommissariate und Unternehmen geschlossene Geschäfte für ITR eingerichtet hätten. Als erste Adresse am Platz galt das Geschäft Nr. 2 in der Jägerreihe (Ochotnyj rjad), das für sein erstklassiges Warensortiment mit dem „Roten Wappen" ausgezeichnet worden war.53 Die Privilegierung der Ingenieure rief zunächst einen Verteilungskampf zwischen Arbeitern und Lokalgrößen einerseits sowie Ingenieuren andererseits hervor. Da für eine Besserstellung schlicht die Mittel und Produkte fehlten, profitierten die Ingenieure erst mittel- und langfristig von den neuen Maßnahmen.

c) Wohnungsnot

Ähnlich wie mit den Lebensmitteln und Gebrauchsgütern verhielt es sich auch mit dem Wohnraum: Er war ein knappes Gut, um das gefeilscht und getrickst wurde. 1929 meldete die Inzenernyj trud, daß es die Wohnungsnot den Ingenieuren kaum möglich mache, sich angemessen auf ihre Arbeit zu konzentrieren. 85 Prozent der ITR hätten weniger als neun Qua-

dratmeter pro Kopf zur Verfügung. Zwei Zimmer für drei bis vier Personen zu haben, war bereits Luxus.54 Zwei Jahre später, 1931, bezifferte die Regierung die Zahl der wohnungslosen bzw. wohnungsbedürftigen ITR auf 72 000. Betroffen waren 25 bis 30 Prozent aller Ingenieure im westlichen Teil der Sowjetunion, 50 Prozent in Mittelasien und mehr

51

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1, 1. 190. trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 519. Inzenernyj 53 trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 26. Inzenernyj 54 Inzenernyj trud, Nr. 21-22, 30.11.1929, S. 646. 52

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Versorgung und Vergnügen

W''Ä

Abb. 15: ITR-Haus in Saratow, gebaut in den dreißiger Jahren, aufgenommen 1997. Wegen der großen Wohnungsnot stellten das ZK und der Rat der Volkskommissare im März 1932 ein Bauprogramm vor, das vorsah, innerhalb von zwei Jahren in 67 Städten insgesamt 102 Häuser mit 11 500 Wohnungen speziell für Ingenieure und Techniker zu errichten. Parallel dazu schlössen sich seit den 1920er Jahren Ingenieure zu Baukooperativen zusammen, die gemeinsam Häuser erwarben, renovierten oder neu bauten. Foto: J. Breuninger

Privilegien fur die Elite

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als die Hälfte der ITR in Ostsibirien, der Artemovskij-Region und andeabgelegenen Gebieten.55 Als Befreiungsschlag und Projekt des Jahrzehnts stellten das ZK und der Rat der Volkskommissare im März 1932 ein Bauprogramm vor, das vorsah, in den Jahren 1932 und 1933 in 67 Städten insgesamt 102 Häuser mit 11 500 Wohnungen für ITR zu errichten.56 Der Plan wurde später auf 106 Häuser mit 11 700 Wohnungen aufgestockt. Eine Ingenieurswohnung sollte drei bis vier Zimmer von etwa 47 bis 65 Quadratmeter umfassen und mit allem Komfort ausgestattet sein: Zentralheizung, fließend Wasser, Kanalisation, Elektrizität, Badezimmer, Parkettböden, Fahrstuhl, Telefon, Radio usw.57 Die Presse suggerierte, daß bald alle Ingenieure in solch komfortablen Wohnungen leben würden. Das Präsidium des VMBIT ermahnte, daß bei der Wohnungsvergabe auch die Ingenieurinnen ausreichend zu berücksichtigen seien.58 Ausführlich schilderte die Inzenernyj trud 1935 in einer „Reportage" vom Einzugsfest des verdienten Ingenieurs Knerel', durch dessen Rationalisierungsvorschläge der Staat 600 000 Rubeln im Jahr spare, wie man sich das Ingenieursleben in den sowjetischen Wohnungen vorzustellen hatte: Das neue Gebäude war für verdiente Sowjetbürger reserviert und hieß auch so: „Haus der verdienten Spezialisten" (Dom zasluzennych specialistov). Hier wohnten der Kapitän der „Celjuskin", Voronin, der Direktor der Stalin-Fabrik, Genosse Peskin, der Ingenieur und Ordensträger Byckov, die besten Ingenieure der Fabrik „Nordkabel", Starkovskij und Drejzen, die den Allunionswettbewerb gewonnen hatten, die Professoren Pozdjunin und Medovikov. Kurz: hier lebte die Elite des neuen Staates in großen, sonnendurchfluteten Räumen. Die Zimmer waren nach allen Regeln der Kunst tapeziert und mit Zierleisten umsäumt sowie mit Zentralheizung, Badezimmer, Telefon, Küche, Einbauschränken und einem Müllschlucker ausgestattet. In dieses Gebäude kam man nicht zu Fuß, sondern man fuhr mit dem Wagen vor, denn die meisten der Bewohner hatten als Prämie einen PKW bekommen.59 Ähnlich enthusiastisch wurde in der Presse die Fertigstellung des repräsentativen achtstöckigen Hauses für Spezialisten der Leichtindustrie in Moskau an der Uferstraße in der Nähe der Ust'in-Brücke gefeiert, das Marmor, Säulen und schwere Eichenportale schmückten. Für die Ingenieure des Zentralinstituts für Flugzeugbau (CAGI) entstand ein Repräsentativbau an der Bakunin-Straße, ren

55

Inzenernyj trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 519. Inzenernyj trud, Nr. 8-9, 31.3.1932, S. 205. 57 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 22. Zum Ideal der neuen Wohnung vergleiche auch Brumfield, W.C.: Building for Comfort and Profit. The New Apartment House Ruble, in: ders. / Blair, A. (Hg.): Russian Housing in the Modem Age. Design and Social History, Cam1993, S. 55-84. bridge 58 trud, Nr. 3, März 1934, S. 72f. Inzenernyj 59 Inzenernyj trud, Nr. 5, Mai 1935, S. 143. 56

298

Versorgung und Vergnügen

für die Mitarbeiter der Stalin-Autofabrik wurde ein ganzes Dorf errichtet, und das größte „Wohnkombinat" wuchs am Dorogomilov-Ufer. Für die Ingenieure und ihr Wohlbefinden werde alles getan, vermittelten die Zeitungsberichte und wiesen daraufhin, daß sich L.M. Kaganovic als Sekretär des Moskauer Parteikomitees persönlich bei dem Architekten Vajnstejn dafür eingesetzt habe, daß alle Wohnungen mit Baikonen ausgestattet würden, während letzterer zugunsten der Ästhetik auf diese habe verzichten wollen.60 Die große Kunst der Berichterstattung war es, die wenigen Erfolge und Prestigeprojekte als Sieg auf ganzer Linie darzustellen. Die Inzenernyj trud berichtete 1934 stolz, 1932 seien in 35, 1933 in 47 und 1934 in 69 Städten Häuser für ITR gebaut worden, ohne diese Zahlen in Relation zum Bedarf zu setzen.61 1934 verkündete der Gebietsleiter der Ingenieurssektionen in Leningrad, Fridljandskij, in Leningrad seien bislang mehr als 300 Zimmer mit 4 500 Quadratmetern und 115 Wohnungen mit 5 500 Quadratmetern an ITR verteilt worden.62 Selbst wenn solche Zahlen stimmten, waren für eine Stadt wie Leningrad, in der jeder zweite Ingenieur nicht adäquat untergebracht war, 300 Zimmer und 115 Wohnungen sehr wenig. 1938 verkündete schließlich der Vestnik inzenerov i technikov, der Plan, 102 Häuser mit 11 500 Wohnungen in 70 Städten zu bauen, sei erfüllt worden. 1937 seien zudem 4 000 zusätzliche Wohnungen fertiggestellt worden.63 Daß die Ergebnisse des Wohnungsbaus keineswegs befriedigend waren, zeigen die Zahlen des VMBIT, der angab, das 1933 nach der Hälfte der Frist von zwei Jahren das Programm erst zu acht Prozent erfüllt war, aber bereits 44 Prozent der Kredite über 21 Millionen Rubel ausgegeben waren. 1933 wurden für 71 Prozent des Budgets (39 Millionen Rubel) nur 40,3 Prozent des Programms erfüllt. Gleichzeitig konnten nur 129 neue Wohnungen bezogen werden. Etwas besser sah es für das Jahr 1934 aus, in dem der Plan zu 66,1 Prozent erfüllt wurde, was 86,5 Prozent des Budgets oder 61,8 Millionen Rubel verschlang.64 Außer für die „verdienten Ingenieure" änderte sich an der Wohnungsnot kaum etwas, das mußte sogar Rudzutak 1934 auf dem 17. Parteikongreß zugeben.65 Die Fabrik ChÈMZ baute 1931/32 keinen neuen Wohnraum für Ingenieure, obwohl der Staat Geld dafür bereitgestellt hatte.66 Auf der Baustelle von Magnitogorsk wurden mehr als 65 Prozent der neuankommenden Ingenieure länger als einen Monat in 60

Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1935, S. 205f. Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 21f. 62 Inzenernyj trud, Nr. 5, Mai 1935, S. 143. 63 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 1, Januar 1938, S. 64 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 61,1. 1 f. 65 Inzenernyj trud, Nr. 2, Februar 1934, S. 43. 66 Inzenernyj trud, Nr. 31-32, 20.11.1932, S. 803. 61

14.

Privilegien für die Elite

299

irgendwelchen Räumlichkeiten untergebracht; nur 61 Prozent wohnten in winterfesten Unterkünften. Im Donbass verfügte sogar leitendes Personal nicht über eigene Wohnungen. Die Spezialisten wohnten dort teilweise zu

vier Familien in einem Zimmer.67 Aus der Zlatousovskij-Fabrik wurde bekannt, daß der Ingenieur Ceremisin fünf Mal hatte umziehen müssen und noch immer kein eigenes Zimmer besitze; der Genosse Spyrev hauste zweieinhalb Monate in einem vollkommen überfüllten Durchgangszimmer in der Unterkunft für Zugereiste; der Genosse Apolonov hatte seine Familie in einer Abstellkammer neben den Toiletten unterbringen müssen.68 In Bezice waren von 400 ITR bisher nur 80 mit Wohnraum versorgt, in Brjansk lebten 25 Ingenieure ohne Wohnung, in Vjaz'ma gab es 35, in Smolensk 50 Spezialisten ohne eigene vier Wände. Wie so oft bei Versorgungsengpässen wurde auch in diesen Fällen die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.69 Extrem war die Lage im Stalino-MakeevskijElektrowerk, wo die Ingenieure auf Tischen schlafen mußten, weil die Verwaltung es nicht einmal zustande brachte, Betten zur Verfügung zu stellen.70 Entsprechend dieser Zustände sammelten sich die Klagen von Betroffenen. Der Ingenieur A.Ch. Kudisov berichtete, daß sich der Verwaltungsleiter der Grube auch noch lustig über ihn gemacht habe, als er für sich und seine hochschwangere Frau bei seinem Arbeitsantritt eine Wohnung verlangt hatte: „Seien Sie kein Aristokrat. Ich trage bezugsfertige Wohnungen nicht in mei71 ner

Tasche mit mir herum."

Nachdem sie das ihnen zugewiesene Wohnheimzimmer, in dem es „Myriaden von Kakerlaken" gegeben hatte, gegen eine Wohnung hatten tauschen können, hatte der Ärger aber erst richtig begonnen: Da die Parteiorganisation und das Grubenkomitee sich bei der Vergabe der Wohnung durch den Trust übergangen fühlten, machten sie Kudisov die Arbeit zur Hölle und schlössen ihn schließlich aus der Gewerkschaft aus. Viele Ingenieure sahen als Ausweg aus dieser Misere nur die Selbsthilfe: Bereits seit Ende der zwanziger Jahre schlössen sie sich zu Genossenschaften (inzkoopstroi) zusammen, die gemeinsam Häuser bauten, erwarben und renovierten. In Kiew gründeten 60 Eisenbahner 1927 eine solche Kooperative, um innerhalb von ein bis zwei Jahren ein vierstöckiges Haus mit 40 Wohnungen à drei bis vier Zimmern zu bauen. Auch in Rostow am Don hatte sich eine Kooperative gebildet, die ein vierstöckiges Haus mit 26 Wohnungen errichtete, eine zweite Genossenschaft erwarb ein Stück Land, auf der die 57 Mitglieder ein ebenfalls viergeschossiges 25, 10.10.1931, S. 569. "Inzenernyjtmd,tir. 68 Za

69

industrializaciju, 23.7.1931.

Inzenernyj trud, Nr. 13-14, 20.5.1932, S. 340. 70 Inzenernyj trud, Nr. 26-27, 31.10.1931, S. 629. 71 Za industrializaciju, 2.6.1935.

300

Versorgung und Vergnügen

Wohnhaus planten.72 Mit den neuen Direktiven für die Politik gegenüber den Ingenieuren wurden die Kooperativen aufgewertet und auch mit Staatsgeldern unterstützt. 1931 bekamen sie zehn und 1932 20 Millionen Rubel für Baumaterial zur Verfügung gestellt. Während es 1931 erst fünf solcher Kooperativen mit 2 500 Mitgliedern gab, stieg ihre Zahl bereits 1932 auf 71 mit über 35 000 ITR, denen insgesamt ein Kapital von 30 Millionen Rubel zur Verfügung stand.73 In Char'kov erfaßte die Kooperative, die 1932 ein Haus baute, 2 000 ITR.74 In Sverdlovsk beschloß der Stadtsowjet, 1932 fünf Wohnhäuser mit je 50 Wohnungen für ITR errichten zu lassen, an deren Finanzierung sich die Kooperativen beteiligten.75 Die ITR der Fabrik „Roter Bagger" erwarben den Rohbau eines Wohnhauses, das seit drei Jahren eine Bauruine war, und stellten es fertig.76 Allerdings mußten diese Bauprojekte mit den gleichen Schwierigkeiten wie jede andere Baustelle fertig werden: Mangel, Diebstahl und Übergriffe durch die Behörden vor Ort. Das Material, das für den Bau des ITR-Hauses in Groznyj geschickt wurde, kam dort nie an, sondern verschwand regelmäßig in Rostow. Das Grundstück, das der Stadtsowjet ihnen zur Verfügung gestellt hatte, wurde von den bislang noch darauf wohnenden Menschen nicht geräumt.77 Trotz der offiziellen Anerkennung dieser Genossenschaften versuchten örtliche Behörden immer wieder diese Häuser zu beschlagnahmen. Das „Privateigentum" der Ingenieure, das sich meist in bestem Zustand befand, da die Ingenieure hier selbst bauten und arbeiteten, weckte Begehrlichkeiten und schien mancher Stadtverwaltung leichte Beute zu sein. 1934 wandten sich 26 ITR des ORGÈNERGO in ihrer Verzweiflung mit einem Brief an Stalin, weil das von ihrem Kollektiv erworbene Haus vom Gebietsexekutivkomitee beschlagnahmt und der Militärverwaltung zugesprochen worden war. Die Ingenieure hatten vor dem Kauf dieses Hauses in beengten Zimmern gehaust und sich nicht selten zu zweit ein Bett geteilt, so daß sie den Erwerb des Hauses mit 25 Wohnungen als „großes Ereignis" gefeiert hatten, das sie „grenzenlos" gefreut hatte. 104 000 Rubel hatten sie bezahlt und weitere 75 000 Rubel in die Renovierung investiert. Als die Arbeiten abgeschlossen waren, schlug die Stadt zu und sprach 19 Wohnungen dem Militär zu. Aber auch die verbliebenen Wohnungen waren inzwischen mit Hilfe von Miliz und Militär geräumt worden, ohne daß den Ingenieuren eine neue Bleibe zur Verfügung gestellt wurde. In ihrer Abwesenheit wurden die Wohnungen gestürmt, alles Hab und Gut auf die Straße getragen und die 72

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 7, d. 72,1. 14, 22. Inzenernyj trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 519. 74 Inzenernyj trud, Nr. 8-9, 31.3.1932, S. 229. 75 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 577. 76 Inzenernyj trud, Nr. 31-32, 20.11.1932, S. 803. 77 Inzenernyj trud, Nr. 23-24, 31.8.1932, S. 569. 73

Privilegien für die Elite

301

Räume sofort von Militärs belegt. Die Betroffenen klagten Stalin, daß sich bisher weder der Stadtsowjet, noch die Staatsanwaltschaft, noch das Volkskommissariat oder die Za industrializaciju ihres Falles angenommen hätten.78 In einem ähnlichen Anliegen wandten sich 612 Ingenieure der Kooperative „ITR-Stoßarbeiter" aus Moskau an den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, Cubar', man drohe, ihnen ihr Haus aufgrund eines Schiedsrichterspruches wegzunehmen, weil es angeblich mit Staatsmitteln finanziert worden sei. Sie beteuerten, daß sie über fünf Jahre lang all ihre verfügbare Zeit und all ihr Vermögen in dieses Projekt gesteckt hätten, das ihnen nun streitig gemacht wurde.79 Die Vereinigung „Lokomotive" klagte dem Vorsitzenden des VMBIT 1936, daß ein Gericht sie dazu verurteilt hatte, die acht 1931 gekauften Holzhäuser zu räumen und sie der seit 1932 darum kämpfenden Verwaltung zur Verfügung zu stellen, ohne daß ihnen Ersatz zugesichert wurde.80 Trotz der anderslautenden Vorschriften und Parolen kam es immer wieder vor, daß Ingenieure nicht nur aus Genossenschafts-, sondern auch aus Staatswohnungen ausgewiesen wurden. Aus Erivan meldeten Ingenieure, daß sich ihre Wohnsituation ständig verschlechtere, weil mehr Häuser abgerissen als neu gebaut würden, so daß sie umgesiedelt oder zusammengelegt würden. Für den ITR, Aktivisten und Stoßarbeiter Abagjan hatte der Zwangsumzug bedeutet, drei Viertel seiner vorherigen Wohnfläche zu verlieren. Die neue Behausung war aber nicht nur eng, sondern auch baufällig, so daß er angewiesen wurde, zur Entlastung der Statik die Hälfte seines Besitzes an einem anderen Ort zu deponieren. Demnächst erfolge vielleicht die Anweisung, er solle keine Freunde mehr empfangen, weil sie einstürzen könnten, empörten sich die Betroffenen.81 Besondere Aufmerksamkeit erregte der Fall eines Wohnheims für Eisenbahningenieure, das geräumt worden war, um aus den Zimmern Büros zu machen. Die ITR waren in ein Haus umgesiedelt worden, das dringend renovierungsbedürftig, nicht an die Kanalisation angeschlossen, unbeheizbar und dessen Dach undicht war. Erst nach Protesten in der Pravda wurde den Spezialisten ihr Wohnheim zurückgegeben.82 Ingenieure konnten sich nicht sicher sein, daß sie nach einer Dienstreise ihr Zimmer noch vorfanden. Es kam vor, daß ihnen Nachbarn oder Behörden einzelne Räume, aber auch eine Küche oder ähnliches wegnahmen.83 Dem VMBIT wurde neben vielen solcher Verstöße der Fall des Ingenieurs Kolesnikov akten78

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 111,1. 1. GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1, 1. 7f. 80 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1,1. 186. 81 trud, Nr. 19, 10.7.1932, S. 469. Inzenernyj 82 trud, Nr. 1, Januar 1935, S. 30. Inzenernyj 83 Inzenernyj trud, Nr. 26-27, 31.10.1931, S. 629; GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1, 79

1. 153.

302

Versorgung und Vergnügen

dessen Nachbarn während seiner Abwesenheit die Wand zu seidrittem Zimmer eingerissen, es zu seiner Wohnung hin zugemauert nem und dort Fremde angesiedelt hatten.84 Die inzenernyj trud berichtete, daß

kundig,

die Wohnungsverwaltung in Dnepropetrovsk in Abwesenheit des Ingenieurs Rubinovic dessen Frau aus der Wohnung geworfen habe. Auch das Zimmer des Ingenieurs Trosin, in dem er mit Frau und zwei Kindern wohnte, war in ihrer Abwesenheit beschlagnahmt worden.85 Oft wurde Ingenieuren, die als Wissenschaftler das Anrecht auf ein zusätzliches Arbeits- oder Bibliothekszimmer hatten, dieser Raum streitig gemacht.86 Der Ingenieur Bojko, dem extra Wohnfläche zustand, fand sich mit der Anklage, er habe sich widerrechtlich Räume angeeignet, vor Gericht wieder.87 Ein enormes Problem stellte nicht nur die Bereitstellung von Wohnraum, sondern auch dessen Qualität dar.88 Der VMBIT konstatierte, daß sich die Wohnungen, in denen die ITR der Kramatorskij-Fabrik lebten, in unhaltbarem Zustand befanden: Weder die Wasserleitungen noch die Kanalisation noch das Gemeinschaftsklo auf dem Hof funktionierten. Da es keine Kohle zum Heizen gab, herrschten in den Wohnungen Temperaturen von unter null Grad.89 Gerade die Neubauten boten immer wieder ein trauriges Bild, weil sie oft nur unzureichend fertig gestellt wurden und Pfusch am Bau zum Alltag gehörte.90 In der Makeevskij-Metallfabrik lebte der Spezialist Nelepov in einem nur halb fertigen Haus, in dem die Böden sich wellten, die Fenster nicht schlössen, die Wände sich schälten, das Dach undicht war, es nur Gemeinschaftstoiletten auf dem Hof gab und Müllcontainer fehlten. Die Umstände waren dort so schlecht, daß das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie nicht einmal den Genossen Bazipevic schalt, der nach einem sechsmonatigen Martyrium in solchen Umständen für sechs Tage in den Streik getreten war.91 Das ITRHaus der Kalinin-Fabrik mit 180 Zimmern für 500 Leute war schon bei der Abnahme mangelhaft gewesen, und ein Jahr nach der offiziellen Fertigstellung war immer noch keine Heizung eingebaut worden.92 Angesichts einer solchen Situation appellierte der Sekretär des MBIT aus Brjansk, Sajko, an die Zentralkommission zur Förderung des Wohnungsbaus für Spezialisten, den Vorsitzenden des VMBIT, Prokof ev, und das Volkskommissariat, Häuser dürften auf keinen Fall vor der Fertigstellung 84

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1,1. 166. trud, Nr. 23-24, 30.9.1931, S. 547. Inzenernyj 86 trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 569. Inzenernyj 87 f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1,1. 33. GARF, 88 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 569. 85

89

90 91

92

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 3, 1. 47. GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 61,1. 7.

Za industrializaciju, 27.7.1931. Za industrializaciju, 8.1.1933.

Privilegien für die Elite

303

abgenommen und bezogen werden. Denn das führe zu der jetzt schon üblichen Praxis, daß die zur Zeit der Übergabe noch bestehenden Mängel nicht mehr beseitigt würden. Er verwies auf ein Haus in Brjansk, in dem bislang keine Wasserboiler eingebaut worden waren und die Bewohner

voraussichtlich für immer ohne warmes Wasser bleiben würden.93 Daß aber auch die Nichtabnahme eines Hauses durch die Regierungskommission nicht die gewünschten Erfolge brachte, zeigte der Fall eines Spezialistenhauses in Ivanovo. Obwohl das Haus nicht abgenommen worden war, waren angesichts der großen Wohnungsnot die ITR trotzdem eingezogen, die nun unter den gravierenden Mängeln litten, Beschwerden schrieben und weder Geld noch Baumaterial von den Behörden bekamen, weil das Haus als „fertiggestellt" galt. Vornehmlich die mangelhaften Malerarbeiten reizten die Presse zur Satire: In Ivanovo seien wundersame Menschen in weißgekalkten Anzügen aufgetaucht. Wenn man sie frage, wer sie seien, stelle sich heraus, daß sie „ausgewählte Vertreter der Wissenschaft und Technik" seien, die in das neue Spezialistenbaus eingezogen waren, in denen der Kalk von den Wänden rieselte. Außerdem qualmten die Öfen, und die Lüftung funktionierte nicht. Von 100 Wohnungen waren erst 30 mit einer Badewanne ausgestattet, und nur in 22 Wohnungen war Parkett verlegt worden.94 Nicht besser stand es mit der Möblierung: In den Wohnungen fehlte oft das Nötigste, und die Arbeitgeber weigerten sich, Geld zur Verfügung zu stellen, damit sich ihre Ingenieure wenigstens mit Bett, Tisch und Stuhl ausstatten konnten.95 Schließlich war ein weit verbreitetes und immer wieder diskutiertes Problem, daß die Ingenieure weit weg von ihren Arbeitsplätzen wohnten und oft die kilometerlangen Strecken zu Fuß zurücklegen mußten, weil es keine Verkehrsanbindung gab.96 Die Wohnungsmisere war ein Dauerproblem der dreißiger Jahre; das bestätigen die unzähligen Klagen und Beschwerden von Ingenieuren, die beim VMBIT eingingen.97 In den Genuß von Luxuswohnungen kam nur eine kleine Schicht hochverdienter Ingenieure.

d)

Urlaubsreisen

Im Rahmen der

dürfhisse 1931 93 94

Rehabilitierung der Ingenieure und ihrer materiellen Beging es schließlich nicht nur um deren Primärbedürfhisse,

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 61,1. 7.

Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1935, S. 223. 95 Inzenernyj trud, Nr. 6, Juni 1933, S. 185. 96 Za industrializaciju, 8.1.1933. 97

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 16, d. 1, 1. 38, 49f., 153.

304

Versorgung und Vergnügen

Extras wie Urlaubsreisen. Gästehäuser und Erholungsverwaltete bis 1931 hauptsächlich die Zentrale Kurortvereinrichtungen die bevorzugt Industriearbeiter mit Reisen (puwaltung (Centrkurupr), 1931 rund 16 000 Ingenieure bzw. bekamen beglückte. tevki) 14,5 Prozent des gesamten technischen Personals der UdSSR eine Urlaubsreise gewährt. Die ITS selbst verfügten nur über eine äußerst geringe Zahl an Ferienwohnheimen: Die Metaller und die Eisenbahner besaßen je drei und die Sektion der Ingenieure der Landwirtschaft nur ein einziges Haus.98 Nachdem der Bann gegen die materiellen Bedürfnisse der Ingenieure gebrochen worden war, gelang es der Gewerkschaft, einen eigenen Fonds mit Urlaubsreisen nur für ITR aus der Zentralverwaltung herauszulösen, so daß 1932 insgesamt 107 000 und 1933 135 000 Reisen verteilt werden konnten.99 Die KSU übernahm 1932 aus dem Bestand der CEKUBU sechs Heime mit 500 Plätzen in Kislovodsk, Petershof und anderen Städten; außerdem wurden von der Gelehrtenhilfe sechs Sanatorien mit 645 Plätzen in Essentuki, Sotschi und in anderen Urlaubsorten organisiert, so daß sie insgesamt 1 145 Plätze vergeben konnte. Zusätzlich wurden für Ingenieure Touristenstationen und Zeltplätze im Kaukasus, im Polarkreis und an der Oka geschaffen.100 Das Volkskommissariat für Verkehr versprach, fünf Millionen Rubel für drei weitere Sanatorien für die Eisenbahner bereitzustellen, und auch die Zentralverwaltung der Versicherungskassen (Custrach) wurde aufgefordert, fünf Millionen Rubel für zusätzliche Einrichtungen zu geben.101 Für die Versorgung der ITR mit Urlaubsreisen wurden auch die Selbsthilfekassen der Ingenieure, die 1931 gleichgeschaltet und den Gewerkschaften angegliedert worden waren, in die Pflicht genommen.102 Doch zunächst kam es hier wie im Bereich der Lebensmittel- und Wohnraumversorgung zu Verteilungskämpfen. Viele Versicherungskassen, die für die Verteilung und Bezahlung der Kurortplätze zuständig waren, weigerten sich, die ITR auf eine Stufe mit den Arbeitern zu stellen. 1931 bekam in einer Fabrik im Westteil des Landes von 700 ITR nur ein Ingenieur eine Reise zugeteilt, für die er auch noch selbst bezahlen mußte.103 In Stalinsk weigerte sich das Fabrikkomitee, der Ingenieurssektion Kurortplätze zuzuteilen, und selbst von 70 Ingenieuren, die laut Attest dringend einen Urlaub benötigten, bekamen nur 14 einen Voucher ausge-

sondern auch

um

98

Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 569f Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 23. 100 Front nauki i techniki, Nr. 3, März 1933, S. 41 f. 101 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 569f. 102 Inzenernyj trud, Nr. 21, 31.8.1931, S. 486f; Nr. 1, technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 316. 103 Inzenernyj trud, Nr. 25, 10.10.1931, S. 569f 99

Januar 1935, S.

28; Vestnik inzenerov

i

305

Privilegien für die Elite

händigt.104 Die Karl-Liebknecht-Fabrik gab von ihren 577 zu verteilenden

Reisen nur zwei an ihre 329 ITR ab. Die Fabrik „Roter Stern" in Zinov'ev hielt keinen ihrer 335 Ingenieure und Techniker eines Platzes im Sanatorium oder Erholungsheim bedürftig, von denen immerhin 979 zur Verfügung standen. Die Praxis, die ITR bei der Urlaubsvergabe ganz zu übergehen, wurde auch aus der Brückenbaufabrik in Dnepropetrovsk, der Pybnickij-Zuckerfabrik und einer Moldawischen Bleigießerei gemeldet.105 Auch nach den einschneidenden Änderungen von 1931/32 blieb es weiterhin schwer für Ingenieure, einen Urlaubsgutschein zu ergattern.106 Das galt besonders für Ingenieurinnen. 1934 fühlte sich das VMBIT wie schon im Fall der Wohnungsvergabe auch hinsichtlich der Verteilung von Urlaubsreisen bemüßigt festzuschreiben, daß Frauen gleichberechtigt zu berücksichtigen bzw. für sie 15 bis 20 Prozent der Plätze zu reservieren seien.107 Publik wurde der Fall der stoßarbeitenden Ingenieurin Ol'ga Afinogenovna Barabanova, deren Genossen aus dem Ortskomitee und dem MBIT sie nicht nur aus dem Zug nach Sevastopol' geholt, sondern ihr auch die Reisedokumente abgenommen hatten.108 Mangelhaft war nicht nur die Verteilung der raren Plätze, sondern auch der Zustand vieler Gästehäuser. Aus Kislovodsk wurde berichtet, daß die „keineswegs kapriziösen Gäste" immer wieder Anlaß zur Klage hätten. Jeden Tag gebe es dort Börse, gedörrten, übelschmeckenden Stör und bitteres Kompott. Die ärztliche Versorgung lasse zu wünschen übrig; ein Patient habe bis Mitternacht auf sein verordnetes Bad warten müssen. In dem Ruheraum herrsche permanenter Lärm, weil sich hier die Ingenieure dem Billard hingäben, so daß es weder möglich sei, die Pravda zu lesen noch Schach zu spielen. Abends werde kein Programm angeboten. Erst sehr spät sei die Leitung auf die Idee gekommen, Ausflüge und Volley-

ballspiele zu organisieren.109

Urlaubsreisen blieben genau wie komfortable Rarität.

Wohnungen weiterhin ei-

ne

104

industrializaciju, 23.7.1931. trud, Nr. 26-27, 31.10.1931, S.629. Inzenernyj 106 Za industrializaciju, 6.6.1935. 107 Inzenernyj trud, Nr. 3, März 1934, S.73. 108 Inzenernyj trud, Nr. 19-20, 20.8.1931, S. 441; Nr. 23-24, 30.9.1931, S. 109 Inzenernyj trud, Nr. 28-29, 20.11.1931, S. 695. Za

105

547.

306

Versorgung und Vergnügen

2) Kul 'turnost

'

Der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde seit Mitte 1931 langsam, aber kontinuierlich immer weiter in Richtung „Privatleben" verschoben.1 Mitte der dreißiger Jahre stand nicht mehr allein im Mittelpunkt, wie der neue Mensch arbeitete Stoßarbeit wurde vorausgesetzt -, sondern wie er sich kleidete, ob er ein Gentleman war und welche Freizeitangebote er wahrnahm. Vorgeführt wurde das neue sowjetische Leben mit dem Ingenieur in der Hauptrolle: der Ingenieur in der neuen Wohnung, der Ingenieur im Urlaub, der Ingenieur beim Tennisspiel, der Inge-

nieur im Kreise seiner Familie, der Ingenieur unter der Neujahrstanne. Das, was in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre als Philistertum (mescanstvo) beschimpft worden war, wurde jetzt als Kultiviertheit (kul'turnost') gepriesen. „Big Deal" nennen es Vera Dunham und Sheila Fitzpatrick, wenn der neuen Elite Zugang zu Wohlstand und Luxus, zu Wohnungen und Datschen im Austausch für politische Loyalität gewährt wurde.2 Es war dies aber keine bloße Rehabilitierung bürgerlicher Welten. Partei und Regierung versuchten vielmehr eine Umkodierung ehemals verpönter Werte vorzunehmen. „Culturization is a way of translating ideology into the everyday", hat Svetlana Boym festgestellt.3 Tatsächlich wurde die Ideologie der Partei mit „kleinbürgerlichen" Verhaltensvorstellungen in der Hoffnung vermischt, mit der Akzeptanz eines „kultivierten" Lebensstils werde auch die daran gekoppelte politische Botschaft absorbiert und internalisiert werden. Für dieses Junktim steht kul'turnost', das sich kaum übersetzen läßt. Kul'turnost' war allumfassend und meinte sowohl einen sauberen Fabrikhof als auch Körperpflege als auch den Genuß eines Klassischen Konzerts. Dies neue Konzept vermengte das Entwicklungsniveau der Industrie einerseits mit guten Manieren andererseits und der Hochkultur als drittem Bestandteil. Die kul 'turnost '-Kampagne Mitte der dreißiger Jahre ist als stalinistischer Zivilisierungsprozeß zu verstehen, der darauf basierte, daß die Partei die marxistisch-leninistische Ideologie mit Tischmanieren in eine Symbiose zwang und es ihr gelang, Stalin mit Puschkin erfolgreich zu verkoppeln.4 Durch solch einen Griff wurde nicht nur der Sozialismus mundgerechter für das Volk, sondern auch das „Private" ins Licht der Öffentlichkeit ge1

2

Vgl. auch Fitzpatrick, Everyday Stalinism, S. 80f. Dunham, In Stalin's Time; Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S. 249. Boym, Svetlana: Common Places Mythologies of Everyday Life in Russia, Cambridge,

Mass., 1994, S. 105. 4

Vgl. Boym,

Common

-

Places, S. 105.

Kul 'turnost

'

307

zerrt.5 Laut Ervin Sinkó, der von Mai 1935 bis April 1937 in Moskau lebte, hatten Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, daß die Bevölkerung propagandamüde waren. Eine Meinungserhebung unter Jugendlichen hatte gezeigt, daß diese sich am meisten von amerikanischen Detektivgestalten und Gruselgeschichten angesprochen fühlten.6 Partei und Staat gaben dem Bedürfnis der Bevölkerung nach im wahrsten Sinne des Wortes Ent-Spannung nach. Allerdings verschwand die „Propaganda" keineswegs, sie suchte sich jetzt nur andere Schauplätze und Formen. Die Partei entdeckte das Vergnügen und die Freizeit als noch brachliegendes Feld und begann, es zu bestellen. Die Jahre 1934 bis 1936 waren die Zeit, in der dem neuen Menschen gleichsam der letzte Schliff gegeben wurde. Daß er arbeiten konnte und ein Kommunist war, hatte er bewiesen. Jetzt sollte er auch die Spielregeln auf anderem Terrain lernen. Die beiden Moskaureisenden Sinkó und Mehnert berichten von Ereignissen, die für die kul 'turnost '-Kampagne wie Katalysatoren wirkten. Klaus Mehnert erinnert sich: „Eines Tages, es wird 1934 gewesen sein, las ich in einer der Moskauer Zeitungen eine Notiz. Aus ihr ging hervor, daß beim Genossen Volkskommissar für Schwerindustrie Ordjonikidze eine Sitzung stattgefunden hatte, zu der die Direktoren und Chefingenieure aus dem ganzen Land zusammengeholt worden waren. Der Beginn der Sitzung, so hieß es weiter, habe sich etwas verzögert, da der Genosse Volkskommissar einen der teilnehmenden Ingenieure auffordern mußte, erst noch einmal ins Hotel zu gehen, um sich zu rasieren und ein sauberes Hemd mit Krawatte anzuziehen. Diese Notiz brachte eine Revolution des Lebensstils zustande."

Fortan sei es erlaubt gewesen zu zeigen, wozu man es gebracht hatte. Der Frack kam wieder in Mode, und ausländische Journalisten, so erlebte es Mehnert, kamen in Schwierigkeiten, wenn sie zu einem Empfang „nur" im Smoking erschienen. Diese „Kleiderkonterrevolution" vollzog sich im Winter 1934/35: „Das war die Zeit, in der unsere russischen Freunde verstohlen darum baten, sie einmal einen Blick in ein ausländisches Modejournal tun zu lassen."8 Sinkó erinnert sich eines anderen Falls, der als Katalysator der kul 'turnost '-Bewegung wirkte. Eine Delegation sowjetischer Offiziere blamierte sich in Ankara, als sie als einzige Gäste einer Gesellschaft nicht tanzen konnten. Daraufhin habe Stalin angeordnet, in der Sowjetunion sofort mit Tanzunterricht zu beginnen.9 Ganz gleich, ob diese Anekdoten stimmen, geben beide Autoren einen Eindruck davon, welche Themen 5 6

Vgl. auch Dunham, Stalin's Time, S. 22.

Sinkó, Ervin: Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch. Mit einem Vorwort von Alfred Kantorowicz, Köln 21969, S. 271. 7 Mehnert, Klaus: Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach 13 Reisen in die Sowjetunion, 1929-1959, Stuttgart 1967, S. 73. 8 Mehnert, Der Sowjetmensch, S. 74. 9 Sinkó, Roman, S. 140.

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Versorgung und Vergnügen

in der Öffentlichkeit auftauchten und andere verdrängten. Tatsächlich wurden Jazzmusik und westliche Tänze wie Foxtrott in der Sowjetunion wieder zugelassen und begannen sofort, sich großer Beliebtheit zu erfreuen.10 Wie zur Zeit der Kulturrevolution geriet die Kleidung wieder zu einer politischen Aussage. Als „sowjetisch" bzw. „sozialistisch" galt jetzt ein gepflegtes Äußeres. Der neue, sowjetische Ingenieur sollte immer frisch rasiert sein und ein frisches weißes Hemd tragen. Schmuddeligkeit und schwarze Ränder unter den Fingernägeln, früher ein wichtiges Bekenntnis zum Proletariat, waren nicht mehr gesellschaftsfähig." In den Schaufenstern waren Spazierstöcke und gestärkte weiße Kragen zu sehen; sogar Juwelierläden, wenn auch mit armseliger Auslage, öffneten.12 Wohlstand wurde in diesen Jahren zum Indikator für den Erfolg der Sowjetunion erkoren. Je besser es den Menschen ging, desto weiter war die Entwicklung Richtung Kommunismus fortgeschritten. In seiner Rede vor den Stachanovisten am 17. November 1935 verkündete Stalin, das Ziel aller Anstrengungen sei es, „unsere Sowjetgesellschaft zur wohlhabendsten Gesellschaft" der Welt zu machen. Sozialismus übersetzte er als das Stadium, in der jeder soviel konsumieren dürfe, wie er durch seine Arbeit für die Gesellschaft verdiene, während Kommunismus bedeute, daß es Konsumgüter für alle in Hülle und Fülle gebe.13 Das Credo lautete nun: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung".14 Stalin sanktionierte nicht nur die neue Orientierung an den privaten Lebensverhältnissen, sondern begründete gleichzeitig den Kult der Auserwählten. Mit dieser neuen Logik, daß das Leben in der Sowjetunion insgesamt besser geworden sei, aber nicht jeder das gleiche Recht auf Genuß und Konsum habe, wurde eine klare Hierarchie etabliert und gerechtfertigt. Wer nicht in den Genuß des angeblichen neuen Wohlstands kam, sollte sich fragen, ob er denn genug für den Aufbau der Sowjetunion geleistet habe. Der Kult um die „Hochverdienten" und „glücklichen Privilegierten" schockierte Sinkó, der kaum glauben konnte, daß die einst proletarische Pravda nun die Reichen rühmte und diejenigen feierte, die ein neues Kleid oder einen neuen Wintermantel, eine neue Nähmaschine oder Ottomane erhalten hatten.15

plötzlich

10

Vgl. auch Starr, Frederick: Red and Hot. The Fate of Jazz in the Soviet Union 1917-1980, Oxford 1983, S. 107; Stites, Richard: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900, Cambridge 21994, S. 74. 11 Vgl. auch Rittersporn, Gábor Tamas: Stalinist Simplifications and Soviet Complications. Social Tensions and Political Conflicts in the USSR, 1933-1953, Chur u.a. 1991, S. 323. 12 Sinkó, Roman, S. 305. 13 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 599. 14 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 604. 15

Sinkó, Roman, S. 305.

Kul 'turnost

'

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a) Freizeitgestaltung war eins der neuen Schlüsselthemen, die die Öffentlichkeit beherrschten. Gerechtfertigt wurde das Interesse an der Erholung des Ingenieurs damit, daß er auf der Arbeit Höchstform zeigen solle, die er nur in seiner Freizeit regenerieren könne. Die neue Anforderung an den Ingenieur hieß deshalb, seine Entspannungsphasen ,Jcul'turno11 zu verbringen: Er sollte sich auf kultivierte und sinnvolle Weise erholen und unterhalten. Das beinhaltete, daß der ITR nicht mehr nur als technische Kraft, sondern als ganzheitlicher Mensch betrachtet wurde, der sich außer in der Technik auch in Kunst, Literatur und Musik auskennen sollte. Theaterbesuche und Konzertgänge gehörten jetzt zu seinem Pflichtprogramm. Diese Aufforderung richtete sich nur an Männer: Frauen kamen in diesem Diskurs nur noch als begleitende Ehefrauen vor. Der rundum, im humanistischen Sinne gebildete männliche Ingenieur war der neue Idealtypus. Die entscheidende Institution, die dem Ingenieur als Ort der Entspannung und kulturellen Weiterbildung dienen sollte, war das „Haus des Ingenieurs und Technikers" (Dom inzerno-techniceskogo rabotnika, DITR).'6 Diese Einrichtungen waren 1929 von Ingenieuren als ein Ort, an dem sie sich versammeln, austauschen und weiterbilden konnten, gegründet und im Oktober 1931 vom VMBIT als offizielle Institution übernommen worden.17 Die DITR waren nicht zuletzt auch ein Refugium für Ingenieure, deren Wohnsituation sie aus der eigenen Behausung trieb. Im Unterschied zu den Ingenieursquartieren befanden sich die DITR meist in repräsentativen Gebäuden und zählten zu den schönsten der Stadt. Sie umfaßten durchschnittlich 25 Säle und Zimmer und eine Fläche von 1 000 Quadratmetern.18 Hier, so war die Idee, sollte sich der Ingenieur wie in einem feinen Club entspannen, erholen und inspirieren lassen. Wesentlicher Bestandteil des Hauses war eine gut sortierte Bibliothek mit inund ausländischen Fachzeitschriften; fehlen durfte aber auch nicht der obligatorische Billardtisch, denn das Billardspiel war eine der Lieblingsbeschäftigungen der Ingenieure in den dreißiger Jahren. Auch ein Restaurant und ein Friseur gehörten zur Ausstattung des Hauses. Der ITR konnte Vorlesungen über Marx, Engels, Lenin, Stalin und die internationale Lage der Sowjetunion besuchen, aber auch Vorträge zur Kunst- und Architekturgeschichte hören. Er konnte sich mit Kollegen „über die Erfahrung mit der Stachanovarbeit" austauschen oder Fremdsprachenkurse belegen. Er konnte sich Ausflügen ins Museum oder ins Observatorium anschließen oder vor Ort Kinofilme sehen. Der Ingenieur und seine Fa-

Freizeitgestaltung

16Inzenernyjtrud,~Nr. 28-29,20.11.1931, S. 700f.

17 18

Inzenernyj trud, Nr. 22, 10.8.1932, S. 533.

Vestnik inzenerov i technikov,~Nr. 5, Mai 1937, S. 315.

310

Versorgung und Vergnügen

milie hatten die Möglichkeit, in einem Chor zu singen, im Orchester oder in einem Laientheater zu spielen. Selbstverständlich wurden die Ingenieure im DITR in „westeuropäischen Tänzen" unterwiesen, und das Saratower DITR war für seine Frauen-Jazzband bekannt.19 Zum Angebot gehörten weiter Bergsteigen, Tennis und Rudern genauso wie Schießübungen und Jagdveranstaltungen.20 1934 gab es 73 solcher Einrichtungen; das Leningrader DITR zählte 14 000 Mitglieder und erreichte täglich mit Vorträgen und anderen Angeboten 2 000 Ingenieure.21 Zusätzlich wurden 1934 Kulturuniversitäten (Universitety kul'tury) eingerichtet. Sie entstanden zunächst an technischen Hochschulen in Leningrad, wurden aber von dem VARNITSO auch außerhalb der Lehranstalten für Ingenieure und auch Arbeiter angeboten. Die Kulturuniversität bot begleitend zum Technikstudium eine Ausbildung in Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei sowie Exkursionen ins Museum, Theater oder an andere „Kulturorte" an. Zum Programm gehörten auch Seminare zum Thema „Kultur der Rede", „Organisation der intellektuellen Arbeit" und Schreibkurse.22 Die kulturelle Bildung für Ingenieure außerhalb der Hochschulen war ähnlich angelegt: Sie konnten zwischen Vorlesungsreihen zu Geschichte, Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft und Landeskunde wählen.23 Kulturuniversitäten wurden außerdem in Fabriken eröffnet, um Arbeitern und ITR über Puskin und Gogol', die Antike und die Erschließung der Arktis zu unterrichten. Das Programm der „Kulturuniversität" konnte auch über Radio empfangen werden.24 Im Rahmen einer „kultivierten" Freizeitgestaltung war aber auch die pure Entspannung erlaubt. Die Inzenernyj trud schilderte 1936 in einer Reportage den idealen freien Tag eines Ingenieurs. Das Erholungsheim für Tagesgäste (dorn otdycha) vor den Toren Moskaus an der Straße nach Kaluga am Ufer der Moskva gelegen, wo früher der Adel und die Zaren residierten, war jetzt das Reich der besonders verdienten und auserwählten ITR:

„Als

erstes kam (...) eine Gruppe junger Ingenieure und Techniker der Autofabrik. Der Gelbe Sand knirschte leicht unter den Füßen. Unter den hellen Sonnenschirmen bogen stille Liegestühle ihre dienstbaren straffen Rücken. Auf dem Wasser schaukelten wartend, mit den Ruderdollen ächzend, weiße

Boote."25

19

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 314, 386. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 313ff; 1934, S. 29. 21 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 25. 22 Front nauki i techniki, Nr. 3, März 1934, S. 60, 64, 67f. 23 Front nauki i techniki, Nr. 9, September 1934, S. 118. 24 RGAÉ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 124,1. 3,8. 25 Inzenernyj trud, Nr. 7, Juli 1935, S. 193f. 20

Inzenernyj trud,

Nr.

1, Januar

Kul 'turnost

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Hier wurde das Frühstück den verdienten Ingenieuren auf dem Oberdeck der hauseigenen Yacht gereicht, wo sie sich wie in Sotschi oder am heimatlichen Don fühlten. Außer Ruderbooten und Liegestühlen standen ihnen Tennis- und Volleyballplätze zur Verfügung, und auch Krocket wurde angeboten. Nach dem Mittagessen durfte jeder einen Mittagsschlaf halten oder die Bibliothek nutzen, und nach dem Tee wurden Schachturniere ausgetragen. Dieses Haus, so suggerierte die Inzenernyj trud, bestand allein dafür, daß der Ingenieur hier tun und lassen konnte, was er wollte, und das alles auf kultivierte" Art. Daß Ingenieursstudenten hier trotzdem wenige Stunden für eine Prüfung lernten, wurde als „Agententätigkeit" verurteilt. Aber nur wenige Ingenieure kamen in den Genuß einer solchen Erholung; die einmaligen Zutrittsberechtigungen verteilten Gewerkschaft und Fabrikleitung streng nach Leistung. Eine Umfrage unter 100 Moskauer Ingenieuren des Elektrokombinats und der Fabrik Dinamo im Mai 1936 ergab, daß Ingenieure tatsächlich eine solche Erholung für attraktiv hielten. Das Gros der Befragten hielt die Erholungsheime für den Inbegriff des „wirklichen Ausruhens" und wünschten sich, einmal eine solche Einrichtung nutzen zu dürfen. Ihre Freizeitrealität sah anders aus. Viele opferten ihre freien Tage für lästige Arbeiten: Der Konstrukteur Sidorkin mußte im Winter an freien Tagen Eis zerhacken, den Hof vom Schnee kehren und die Müllgrube leeren. Andere Ingenieure beschäftigten sich mit der mühsamen Suche nach einer Datscha. Dritte jagten an ihrem freien Tag Defizitwaren wie Nägeln, Dachschindeln oder Galoschen hinterher. Wieder andere renovierten feiertags ihre Wohnungen. Der einhellige Wunsch dieser geplagten Ingenieure für ihren nächsten freien Tag war, „nicht gezwungen zu sein, durch die Geschäfte zu hetzen oder sich mit Haushaltsdingen zu beschäftigen. Die Zeit an einem ruhigen Ort zu verbringen, ohne Schlangen, ohne Geschrei und Lärm, zu lesen, wirklich auszuruhen." Auch die Za industrializaciju erforschte das Freizeitverhalten der Ingenieure und stellte das des Genossen Ivanov als positives Beispiel vor: „An meinem freien Tag war ich bei der Eröffnung der Fußballsaison, wo ein interessantes Zusammentreffen zwischen den stärksten Gegnern der Hauptstadt stattfand. Abends war ich im Club und spielte ein paar ,leichte' Partien Schach. Abschließend besuchte ich noch ein Konzert."

Auch der Genosse Anikanov erholte sich zur Zufriedenheit der Za industrializaciju: ,Am besten entspanne ich mich in der Natur. An freien Tagen arbeite ich im Garten, pflege die Obstbäume und den Gemüsegarten." Nur die Auskunft des „Genossen N." tadelte das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie: „Ich verbrachte mehrere Stunden in einer Kneipe bei einem Krug Bier und ging dann ins Bett."26 Za

industrializaciju, 30.5.1936.

312

Versorgung und Vergnügen

Obwohl sich die Presse insgesamt zufrieden gab, forderte sie doch weitere Angebote für Ingenieure in der Metropole Moskau zu schaffen. Als Vorzeigeadresse wurde am Roten Platz ein Café mit Club gefordert, „in dem der ITR nicht einem

Gespräch

unter

Abend essen kann, sondern auch seine Zeit bei Freunden, bei einem Schachspiel, beim Lesen eines

nur zu

Buches, einer Zeitschrift oder ähnlichem verbringen kann." 27

In den Räumlichkeiten der hier bereits existierenden ITR-Kantine sollten eine Bühne und ein Leseraum eingerichtet, Vitrinen mit den Errungenschaften der Technik aufgestellt und die Küche erweitert und modernisiert werden. Gab es selbst in Moskau noch Handlungsbedarf, hatten es Ingenieure in der Provinz erst recht schwer, sich Abwechslung zu verschaffen. Nachdem Techniker des Stalingrader Wasserkraftwerks im Suff randaliert hatten, wurden dort 30 Spezialisten befragt, wie sie ihre Lebensbedingungen beurteilten. Das Ergebnis war vernichtend: Nur fünf waren zufrieden, während alle anderen bemängelten, keine Freizeitangebote oder Fortbildungsmöglichkeiten zu haben. Vor Ort gab es nur ein Kino und einen Club, aber weder ein Café noch ein Theater.28 In einer solchen Situation fanden sich meist Ingenieure, die in abgelegenen Fabriken arbeiteten, die oft nicht mit Bus oder Bahn an die Städte angebunden waren.29 Selbst in der gefeierten Stalingrader Traktorenfabrik gab es weder einen Ingenieursclub noch irgendein kulturelles Angebot für die ITR, und auch in der Hochofenzeche Nr. 2 im Donbass warteten die Ingenieure lang, bis für sie 1934 endlich ein Club eingerichtet wurde.30

b) Ingenieure als Sportler Jahre sollte der Ingenieur seine Freizeit nicht nur sondern auch sportlich aktiv verbringen. „Warum treibt der „kulturell", keinen Ingenieur Sport?" fragte das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie im Mai 1935 und beklagte, daß sich bislang niemand um den Ingenieurssport gekümmert habe. In Sachen Sport seien für die Fabriken und die örtlichen Sportbüros (bjuro fizkul Jury) die Ingenieure nicht existent, und in der Statistik der Sporttreibenden gebe es keine Kategorie „ITR". Das Vorurteil, Ingenieure hätten weder Lust noch Zeit, Sport zu treiben, sei falsch; die Bereitschaft der Ingenieure, Sport zu treiben, sei groß. Als beispielhaft wurden der Ingenieur der Moskauer Autofabrik und Träger des Arbeitsordens zweiter Klasse, Sabarov, sein Kollege Michajlov und der Ingenieur Surakov aus der Fabrik Nr. 22

Mitte der

27

dreißiger

Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 26. Za industrializaciju, 3.4.1935. Za industrializaciju, 8.1.1933. 30 Inzenernyj trud, Nr. 1, Januar 1934, S. 29. 28

Kul 'turnost

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vorgestellt, die Meister der Leichathletik, Schwimmeister bzw. Champion im Eisschnellauf waren. Damit diese Ingenieure nicht die einzigen blieben, die nach der Arbeit ihren Anzug gegen das Sporttrikot tauschten, wurde eine Spartakiade nur für Ingenieure angeregt. Ingenieurssport bedeutete zunächst Tennis, die bevorzugte Sportart vieler Ingenieure.31 Es scheint nicht erstaunlich, daß sich die Ingenieure als neue Elite gerade den „weißen Sport", der schon immer Privileg einer kleinen Oberschicht gewesen war, zu ihrer Lieblingsertüchtigung erkoren. Der Ingenieur wurde außerdem ermutigt, zur Erholung am Wochenende in den Leninbergen Ski zu fahren oder Mitglied eines Automobilclubs zu werden.32 Aber über die individuelle Erholung hinaus hatte der Sport auch die Funktion, Spezialisten und Arbeiter zu einen, wenn sie gemeinsam als Fabrikteam gegen einen anderen Betrieb antraten. Auf dem Sportplatz sollten im Kampf um die Ehre des Betriebes Unterschiede und Konflikte vergessen werden. Als Vorbild galt der Direktor des Elektrokombinats in Kujbysev, F.F. Rjabov, der nicht nur Tennisspieler und Skifahrer war, sondern auch zusammen mit der Fabrikjugend andere Betriebe auf dem Fußballfeld, auf den Skipisten, im Schwimmbecken und auf dem Schießplatz auf die hinteren Plätze verwiesen hatte. Seine Mitarbeiter trainierten zusammen, fuhren gemeinsam ins Ausland und waren eine echte Gemeinschaft, pries die Za industrializaciju die Erfolge des gemeinsamen Sports.33 Nicht weniger beispielhaft war der Sportverein der Moskauer Fabrik „Hammer und Sichel", der selbst die professionellen Vereine „Dinamo" und „Spartak" von Zeit zu Zeit besiegte und dessen Leiter und Fabrikdirektor bereits von Stalin zum Empfang gebeten worden war. An diesen Erfolgen waren alle beteiligt gewesen: die Fabrikjugend, die Fabrikleitung und die Zechenleiter: der stellvertretende Leiter des Walzwerkes, Pogoncenko, der sommers Fußball und winters Hockey spielte, der Leiter der Martinsofenzeche, der ein Vorosilov-Schütze war, der Leiter der technischen Abteilung, Genosse Sipanov, der Schwimmen und Leichathletik trainierte, und viele mehr. Die Fabrik besaß ein eigenes Stadion, das regelmäßig 20 000 Zuschauer besuchten, um die Fußballspiele zu sehen.34 Auch an den Hochschulen sollte der Sport Lehrkräfte mit Studierenden verbinden, wenn sie z.B. zusammen Volleyball spielten oder an den Spartakiaden der technischen Hochschulen teilnahmen.35 Gemäß dem Wahlspruch der dreißiger Jahre „Höher, schneller, weiter" wurden auch im Sport extreme Langstreckentouren organisiert, die Inge31

Za industrializaciju, 26.5.1935. Za industrializaciju, 26.12.1935; 18.1.1936; 10.5.1936. 33 Za industrializaciju, 10.5.1935. 34 Za industrializaciju, 22.6.1935. 35 Za industrializaciju, 29.6.1935; 15.7.1934; 6.7.1935. 32

314

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nieure, Techniker und Arbeiter mit dem Fahrrad oder mit Skiern bewäl-

tigten. Im Sommer 1935 startete eine Fahrradtour auf der Strecke Leningrad Moskau Tiflis Moskau, und ein Jahr darauf organisierte die Gewerkschaft der Ölarbeiter eine Fahrt, die rund um die Gebirgskette des Kaukasus führte.36 Zwischen Moskau Tjumen' Tobol'sk wurde ein Skilangstreckenlauf durchgeführt, auf dem die „mutigen Mädchen" eines Elektrokombinats den höchsten von der Regierung ausgesetzten Preis errangen.37 Mit Ausnahme dieser Erwähnung blieb Sport ein Männerthema. Es wurde keine Ingenieurin vorgestellt, die schwamm, lief oder Mannschaftssport betrieb. Das einzige Sportfeld, das den Frauen zugewiesen wurde, war die Gymnastik.38 -

-

-

-

-

c) „Die Dinge sollen das Auge erfreuen

"

Die für den Ingenieur angepriesenen Sportarten verlangten nach ausreichenden Geräten, sei es Skier, Tennisschläger, Schlittschuhe, Fahrräder oder ähnliches. Dementsprechend wurde das Augenmerk auch darauf gerichtet, daß all diese Artikel nebst Sportkleidung und Sportschuhen in ansprechender Qualität zur Verfügung standen. Aber nicht nur Produkte für den Sport- und Freizeitbereich gerieten in das Blickfeld der Öffentlichkeit, sondern insgesamt Gegenstände des Alltags. Das Ziel des zweiten Fünfjahrplans lautete schließlich, die Leicht- und Gebrauchsgüterindustrie auszubauen. Die Menschen sollten ihre neuen Wohnungen mit modernen technischen Geräten und Gegenständen ausstatten können, die sowohl funktional als auch ästhetisch gestaltet waren. Begleitend initiierte das Volkskommissariat für Schwerindustrie die Kampagne „Die Dinge sollen das Auge erfreuen" (Vesci dolzny radovat'glaz).™ Die Ingenieure waren mit diesem Slogan gleich doppelt angesprochen, denn sie waren sowohl die Produzenten, die für die hergestellten Güter verantwortlich zeichneten, als auch die Konsumenten, denen diese Dinge den Alltag verschönern und erleichtern sollten. Der Volkskommissar erklärte: „Kostet eine schöne Gestaltung etwa viel Geld? Nein! Wir haben uns nur schon daran gewöhnt, daß man bei sich zu Hause nur zerrissene und schmutzige Kleidung trägt. Hier kommt schon wieder die Psychologie der zurückgebliebenen Ländlichkeit zutage."40

es weder gleichgültig sein, wie sie sich daheim kleideten, noch wie sie sich einrichteten. Eine Lampe sollte nicht nur

Den Menschen sollte

36

Za industrializaciju, Za industrializaciju, 38 Za industrializaciju, 39 Za industrializaciju, 40 Za industrializaciju, 37

2.6.1935; 29.5.1936. 10.5.1935. 8.6.1936. 24.6.1935. 29.6.1935.

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Licht spenden, sondern den Tisch schmücken, und ein Radio sollte zwar in erster Linie Musik übertragen, durfte deshalb aber nicht „wie ein Sarg aussehen". Zu der Kampagne gehörte nicht nur, formschöne Gebrauchsgegenstände, sondern auch deren millionenfache Fertigung zu fordern. „Das Leben diktiert neue Ziffern",41 verkündete die Za industrializaciju. Vor kurzem habe ein Fabrikdirektor den Volkskommissar gebeten, 5 000 Kinderfahrräder produzieren zu dürfen. „5 000? Das ist Unsinn. Können Sie 50 000 geben?",42 sei ihm geantwortet worden. Früher seien 5 000 Fahrräder „etwas" gewesen, heute sei das nur noch ein „Tropfen in den Ozean". Die Kaufkraft der Stoßarbeiter wachse, und entsprechend seien die Produktionsziffern der Gebrauchsartikel verdoppelt und verdreifacht, teils auch um das Fünf- und Sechsfache erhöht worden. 1936 sollten 800 000 Patefone, ebenso viele Fahrräder, 460 000 Radioempfänger und 50 Millionen Schallplatten hergestellt werden. Die Podol'skij-Fabrik hatte ein Programm von 400 000 Nähmaschinen zu erfüllen; von der Fabrik „Roter Recke" wurden 20 Millionen Galoschen verlangt. Außerdem wurde die Produktion von mehr als 100 für den sowjetischen Markt neuen Massenbedarfsartikeln angekündigt, darunter Elektrorasierer, elektrische Bohrmaschinen, elektrische Kühlschränke, Campinggeschirr und selbstlenkende Spielzeugautos. Das Volkskommissariat diagnostizierte, daß die sowjetische Gebrauchsgüterindustrie so unterentwickelt sei, daß sowjetische Ingenieure angesichts der aus dem Ausland exportierten Gegenstände immer wieder erstaunt und sprachlos reagierten. Die Konstrukteure wurden verpflichtet, die einheimische Produktion umgehend dem ausländischen Standard anzupassen. Daß dieses Programm utopisch war, stellte sich spätestens im Juni 1936 heraus, als die Industrie mit der Produktion weit hinter den Plänen zurückgeblieben war. Statt 400 000 Fahrrädern hatten noch keine 200 000 die Fabriken verlassen, und auch an Patefonen und Schallplatten waren weniger als die Hälfte der erforderlichen Menge produziert worden.

Gebrauchsgütern im Jahr 1936 in Stück4 Gegenstand Plan für 1936 bis Juni produziert noch zu produzieren

Produktion

von

Fahrräder Patefone

Schallplatten Taschenuhren

41 42

43

Za Za Za

800 000 750 000 50 Mio. 500 000

industrializaciju, 11.12.1935. industrializaciju, 11.12.1935. industrializaciju, 9.6.1936.

197 500 143 900 9,5 Mio 128 800

602 500 606 100 40,5 Mio. 371 200

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abzulesen, daß nur eine geringe Zahl von Menschen in der Sowjetunion in den Besitz eines Fahrrads kommen konnte und daß Radfahren, anders als es in den Berichten über die sportlichen Aktivitäten der Ingenieure den Anschein hatte, keine Chance hatte, ein Massensport zu werden. Der Direktor der Moskauer Fahrradfabrik, I. Maslennikov, versprach zwar, 1936 „Millionen von Fahrrädern" zu bauen, und präsentierte neue Modelle: ein Fahrrad mit großem Einkaufskorb für die Hausfrau, ein Tandem und einen Fahrradanhänger. Gleichzeitig hatte die Fabrik aber Probleme, auch nur ein gebrauchsfähiges Fahrrad auszuliefern.44 Unterdessen wurde die Za industrializaciju nicht müde, unter der Rubrik „Die Dinge sollen das Auge erfreuen" das Fahrrad immer wieder als einen wichtigen Gebrauchsgegenstand für Freizeit und Alltag zu propagieren und die Firmen für die geringe Quantität und mangelnde Qualität anzuprangern. Im Vergleich zu den formschönen, farbenfrohen englischen und amerikanischen Modellen wirkten die einheimischen Räder alle „grau-schmutzig". Die Fabrikate der drei sowjetischen Fahrradfabriken in Penza, Char'kov und Moskau seien unterschiedslos unförmig, wuchtig und trotz ihrer Massivität sehr störungsanfällig. Die Klingel funktioniere entweder gar nicht oder lärme unentwegt, die Lichtanlage sei schlecht durchdacht, und die Entwicklung von Kinderrädern brauche mehr Zeit als die Entwicklung einer Turbine, schimpfte das Organ des Volkskommissariats.45 Der Redakteur M. Nikolajcuk stellte das typische Martyrium mit einem sowjetischen Fahrrad vor: Der Dynamo sei wohl nur für Rennfahrer konzipiert worden, denn bei durchschnittlicher Geschwindigkeit leuchte die Lampe nicht. Wechsele man die Birne aus, brenne sie durch, sobald man doch etwas schneller fahre. Das Problem erledige sich allerdings von selbst, wenn die Schrauben weder Lampe noch Dynamo hielten, so daß diese abfielen.46 Neben dem Fahrrad wurden in erster Linie Gegenstände für den häuslichen Gebrauch kritisch beleuchtet: Ventilatoren, Tischlampen, Reisewekker, Töpfe und Pfannen, Bügeleisen, Elektroofen und ähnliches. Dabei erweckte das Sprachrohr des Volkskommissars den Eindruck, daß die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tue, um den Alltag der Menschen zu erleichtern und zu verschönern, allein es an der Umsetzung in den Betrieben und Fabriken mangele. Die permanente Unterversorgung An diesen Zahlen ist

mit

Gebrauchsgütern erschien als Zustand, den ausschließlich die Direkund Ingenieure zu verantworten hatten, wie z.B. die Fehlfunktion

toren

sowjetischen Tischventilators. Der Ventilator Nr. 5706 mit seidenbespannten Flügeln der Jaroslavler Elektrogerätefabrik, der gerade recht zu

des

Za Za 46 Za

industrializaciju, 26.4.1936. industrializaciju, 20.7.1935. industrializaciju, 27.6.1935.

Kul 'turnost

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den heißen Sommertagen im Juni 1935 erschien, war für den Autor „B.I." der Za industrializaciju ein einziges Ärgernis: Beim ersten Testlauf lief er so heiß, daß er den Raum zusätzlich heizte, beim zweiten Versuch blieb er stehen und drohte zu explodieren, beim dritten Mal versagte er endgültig. „B.I." machte den Direktor der Fabrik für diese Fehlentwicklung persönlich verantwortlich und fragte, wie es sein könne, daß sich diese Fabrik zwei Jahre lang die Technik „angeeignet" habe, ohne einen Erfolg vorweisen zu können: „Woher kommt eine solche Mißachtung der Verbraucher, Genosse Siper, und haben Sie vor, noch lange mit verhunzten, die Marke ihrer Fabrik kompromittierenden Ventilatoren zu handeln?"47 Ein Jahr später testete das Blatt das mit Metallflügeln ausgestattete Nachfolgemodell. „Jazzventilator" war der Bericht überschrieben und drückte damit aus, daß der Ventilator die unterschiedlichsten, nervtötenden Geräusche von sich gab. Erst pfiff er, als ob ein Zug durch das Zimmer fuhr, dann schrie er, als ob jemand erstochen würde, und schließlich ließ der Nachbar wissen, wenn man nicht sofort aufhöre, das Kind zu quälen, würde er die Miliz holen. Die Za industrializaciju tobte, dies sei „Produktionsrowdytum" (proizvodstvennoe chuliganstvo) und beschuldigte den Direktor erneut, er verhöhne die Verbraucher und verschleudere enorme Mittel.48 Auf ähnliche Art und Weise präsentierte Ordzonikidzes Hausblatt andere Gebrauchsgegenstände: Jedes Mal stellte es die anklagende, rhetorische Frage, wie es kommen könne, daß die sowjetische Industrie so minderwertige Waren produziere. Die Standard-Tischlampe mit grünem Schirm wurde als vollkommene Fehlkonstruktion entlarvt: Das Äußere sei unansehnlich, der Lampenschirm sitze nicht richtig, der Sockel sei grob gearbeitet, der Holzfüß unsauber gestrichen. Auch ihre Funktion erfülle sie nur eingeschränkt: 75 Prozent der Leuchtkraft verschlucke der Schirm. Zwei bis drei Jahre Arbeit bei so einem Licht verdürben dem Menschen die Augen. Warum, fragte die Zeitung, arbeiteten an der Beleuchtung der Metro die besten Architekten und Künstler, während für die Lampe, die die Wohnung von Millionen von Arbeitern schmücken sollte, nur zwei Menschen abgestellt wurden.49 Glühbirnen, schimpfte die Za industrializaciju, hielten nur einen Tag, und verlange man im Laden einen Fleischwolf, dann sage die Verkäuferin, es gebe keine, weil ihr peinlich sei, das vollkommen unbrauchbare sowjetische Produkt anzubieten.50 Maßstab war und blieb die ausländische Produktion: die dunklen, stumpfen sowjetischen Aluminiumtöpfe standen im Schatten glänZa Za 49 Za 50 Za

industrializaciju, 26.6.1935. industrializaciju, 29.7.1936. industrializaciju, 24.6.1935. industrializaciju, 10.9.1936.

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Versorgung und Vergnügen

zender ausländischer Edelstahltöpfe.51 Der sowjetische Wecker war altmodisch und bieder, der importierte in der Form modern und raffiniert mit phosphoreszierenden Zeigern ausgestattet.52 Nur selten erkannte die Za industrializaciju Lichtblicke. Dann berichtete sie unter der Rubrik „Es erscheinen schöne Dinge" (Pojavljajutsja krasivye vesci) von einem Elektromotor für Kinder oder dem vorbildhaften Warensortiment der Char'kover Fabrik für Elektrogeräte.53 Positiv hervorgehoben wurden auch die Geschäfte „Gastronom 1 und 2" in Moskau, die Kindergeschenke, Schokolade und Marzipanfiguren, Lebkuchen und andere Konditorerzeugnisse verkauften. In der Petrovskij-Passage und in den Oberen Handelsreihen gab es Spielzeug, Tannenbaumschmuck aus Gold- und Silberpapier, Lametta, Papierfähnchen, Papierschlangen, Konfetti, elektrische Lämpchen, künstlichen Schnee und anderes zu kaufen. Denn im Rahmen der Enttabuisierung des privaten Glücks bzw. der Erhebung eines angenehmen häuslichen Lebens zum Indikator für den Erfolg im Arbeitsleben wurde 1935 auch der Tannenbaum als Neujahrstanne (und nicht als Weihnachtstanne) rehabilitiert und in Restaurants, Cafés, Fabrikküchen und -kantinen aufgestellt.54 Das Zurückbleiben der Ingenieure bei der Produktion von Gebrauchsgütern wurde immer stärker in Kontrast zu den vermeintlichen Wundertaten bei der Schwerindustrialisierung im vorangegangenen Fünfjahrplan gesetzt. Die in den Medien verbreitete Stimmung wurde zunehmend pessimistischer und der gegenüber den Ingenieuren angeschlagene Ton entsprechend aggressiver. Wie konnte es sein, so insistierte die Presse, daß der Metallgigant von Magnitogorsk in 1 000 Tagen aus der Steppe gestampft worden war, aber es nicht gelang, das ganze Land mit Fahrrädern, Fleischwölfen und Ventilatoren auszustatten.

d) Hausfrauenbewegung Im Rahmen der kul 'turnost '-Kampagne wurden nicht nur persönliche Bedürfnisse nach Freizeit, Erholung und Konsumgütern, sondern auch die Kleinfamilie rehabilitiert. Wie das Private allgemein entdeckte die Partei die Familie im besonderen als neues Gestaltungsfeld und die erwerbslose Ehefrau als neue Protagonistin. Das Land brauchte jemanden, der all die neuen Werte umsetzte und dafür sorgte, daß der Ingenieur ein weißes Hemd trug, der Fabrikhof gefegt wurde und die Manieren bei Tisch or51

Za Za 53 Za 54 Za 52

industrializaciju, 10.9.1936; 28.7.1935. industrializaciju, 5.7.1935. industrializaciju, 29.6.1935; 6.9.1935 industrializaciju, 31.12.1935.

Kul 'turnost

'

319

dentlich waren. Die ideale Person, die dafür prädestiniert schien, Kultiviertheit im privaten und öffentlichen Raum durchzusetzen, war die Hausfrau. Ihr bürdete die Partei alle erzieherischen Aufgaben auf, bei deren Erfüllung sie selbst oder andere Einrichtungen versagten: die Kindererziehung und Fortbildung, die Organisation von ITR-Clubs und Kulturprogrammen, die Schaffung von schönen und gemütlichen Orten. Die Institution der Familie wurde 1936 in der Verfassung festgeschrieben, die Scheidung mit hohen Gebühren belegt, ein Familienschutzgesetz erlassen und Abtreibungen verboten.55 Noch bevor die Regierung 1936 die Kleinfamilie unter den Schutz des Staates stellte, initiierte sie 1935 die „Bewegung der Gesellschaftsarbeiterinnen" bzw. „Hausfrauenbewegung" (dvizenle obscestvennic).56 Die Idee war dem Volkskommissar Ordjonikidze gekommen, als er bei einem seiner Fabrikbesuche auf die Ehefrau des Direktors gestoßen war, die sich in der Wirtschaft der Fabrik engagierte. Er habe, so wurde kolportiert, daraufhin beschlossen, die Ehefrauen der ITR systematisch in die Arbeit an der Verbesserung der Lebensumstände einzubeziehen. Einmal präsentierte man als „UrGesellschaftsarbeiterin" Evgenija Vesnik, die Frau des Leiters der Baustelle in Krivyj Rog, die für den Betrieb Hühner züchtete,57 dann war es die Frau des Direktors der Fabrik „Roter Ural", Surovcev, gewesen, die auf dem Fabrikgelände Blumenbeete angelegt hatte.58 Ganz gleich, ob dies nur ein Ursprungsmythos war, die Botschaft war deutlich: An den unwirtlichen, weit von der Zivilisation entfernten Orten, wo die Männer hart arbeiteten, packten die Frauen mit an, um ihnen das Leben einfacher und schöner zu gestalten: „Im Namen der Heimat, im Namen ihres Wohls, im Namen der Schaffung der stärksten, mächtigsten Schwerindustrie der Welt machte sich der beste Teil der Ingenieursschaft auf, die wüsten, öden Weiten zu erobern, machte sie sich auf, um auf diesen Plätzen riesige Industriezentren zu bauen und rund um diese Zentren glückliche sozialistische Städte zu errichten."59 Das Engagement der Frauen vor Ort sollte bewirken, daß die Ingenieure in ihren Fabriken heimisch wurden und nicht bei der erstbesten Gelegenheit versuchten, das Werk wieder zu verlassen. Wenn ihre Frauen ihnen 55

Das Familienschutzgesetz der Sowjetunion vom 27. Juni 1936 findet sich in: Zeitschrift für Recht 3 (1936/37), S. 104ff.; Za industrializaciju, 9.6.1936. osteuropäisches 56 Vgl. auch Maier, Robert: Die Hausfrau als kul'turtreger im Sozialismus, in: Gorzka, Gabriele (Hg.): Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre, Bremen 1994, S. 39-45; ders.: „Die Frauen stellen die Hälfte det Bevölkerung unseres Landes." Stalins Besinnung auf das weibliche Geschlecht, in: Plaggenborg, Stefan (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 243-265; Fitzpatrick, Everyday

Stalinism, S. 156ff. 57

Za industrializaciju, 1.11.1935; 1.2.1936. Za industrializaciju, 23.5.1935. 59 Za industrializaciju, 1.11.1935.

320

Versorgung und Vergnügen

ein gemütliches Heim schufen, so war die Hoffnung, würde die enorm hohe Fluktuation bzw. „Kofferstimmung" (cemodannye nastroenija) unter den Ingenieuren nachlassen.60 Eine Vorreiterin dieser Bewegung war Valentina Chetagurova (*1914), die seit 1932 in der Bucht DeKastri am Pazifik die Rote Armee beim Festungsbau unterstützte und 1937 im Rahmen der Hausfrauenbewegung die jungen Frauen des Landes in der Komsomol 'skaja Pravda aufrief, ihr in den Fernen Osten zu folgen, um für die Soldaten ein angenehmeres Ambiente zu schaffen: „Unseren Frauen ist nie langweilig. Sie arbeiten Hand in Hand mit ihren Männern."61 Mit der neuen Politik machte die Ingenieurs(ehe)frau (zena inzenera) der Ingenieurin (zenscina-inzener) die öffentliche Aufmerksamkeit streitig. Hatte es nie eine Organisation der Ingenieurinnen gegeben, bildete sich jetzt eine Vereinigung der Ingenieursfrauen (zeny ITR).62 Der Ingenieur, der all seine Kraft für den sozialistischen Aufbau hergab, bekam das Recht, (s)eine Frau von der Erwerbsarbeit fernzuhalten. 400 Aktivistinnen gab es 1936 in Krivoj Rog,63 im Werk Zaporozstal' meldeten sich auf Anhieb 23 Freiwillige,64 im Schleifwerk der Kugellagerfabrik wurden 1936 1 000 Hausfrauen aktiviert,65 und für den Fernen Osten gab es 70 000 Meldungen, von denen nur 12 000 ausgewählt wurden.66 Am 8. März stellte Ordjonikidze nun nicht mehr die Ingenieurin in den Vordergrund, sondern pries das neue Modell der Ingenieurshausfrauenehe. Während der Ingenieur „unsere Fabriken errichtet, (...) die Ölbohrtürme aufstellt, (...) das Bergwerk baut, (...) dem Aufbau des Sozialismus all seine Kraft, all sein Wissen zur Verfügung stellt", erzog seine Gattin die Kinder zu zukünftigen Kommunisten, arbeitete mit ihrem Mann zusammen für die Heimat und kam selbst erst spät von der Gesellschaftsarbeit nach Hause, anstatt ihrem Mann jammernd in den Ohren zu liegen, er möge früher heimkehren.67 Die neue Hausfrauenbewegung war ein Privileg für die neue Oberschicht und rekrutierte sich nach Sparten aus den Ehefrauen der Ingenieure und Wirtschaftsführer, den Offiziersfrauen, der künstlerischen Elite, den Frauen der Stachanovarbeiter usw. Die Hausfrauenbewegung sollte die Frauen erreichen und organisieren, die sich bisher der Produktion entzogen hatten und von Staat und Partei 60 61

industrializaciju, 24.5.1935. Chetagurova, Valentina: Na Dal'nij Vostok, S. 200f,

Za

in: Novyj Mir, Nr. 3, März 1938, S. 189-204. 62 Siehe auch das Tagebuch der Galina Vladimirovna Shtange, die Gesellschaftsarbeiterin war, in: Garros / Korenevskaya / Lahusen, Intimacy and Terror, S. 167-217. Za industrializaciju, 1.2.1936 64 Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1935, S. 222. 65 Pravda, 8.3.1937. 66 Chetagurova, Dal'nij Vostok, S. 201 f. 67 Rastet i äirit'sja dvizenie zen inzenerov i technikov, izreci tov. Ordjonikidze 1.2.1937g., in: Pravda, 8. März 1937. '

321

Kul'turnost'

unkontrolliert zu Hause arbeiteten. Ihre Stellung wurde sanktioniert und gleichzeitig in die Politik der Partei miteingebunden. Von ihrem Potential sollten mehr Menschen als nur ihre Ehemänner und Kinder profitieren. „Die ITR-Ehefrauen im Kampf für Kohle" titelte die Za industrializaciju, und Nadezda Konstantinovna Krupskaja erklärte, daß die Frau, auch wenn sie nicht direkt in den Kohlegruben arbeite, doch für eine höhere Produktivität sorgen könne, indem sie ihrem Mann ein schönes Heim gestalte: „Wenn er die Fürsorge um ihn, das Interesse an seiner Arbeit spürt, wenn er sieht, dann stellt sich bei ihm wird fröhlicher arbeiten. Wenn dann soll sich seine Ehefrau fragen, ob das

in seiner Ehefrau einen Genossen und Freund

gute Laune ein, dann wird ihm leichter und der Mann ein Blaumacher ist, nicht auch ihre Schuld ist."68

er

Genauso wichtig sei ihr gutes Vorbild für ihre Kinder, die zwar in der Schule zu neuen Menschen erzogen würden, für die es aber genauso wichtig sei, was sie zu Hause sähen: „Die Meinung der Mutter, ihre Hilfe, die sie dem Vater dabei erweist, ein Stoßarbeiter zu werden, kann nicht ohne Einfluß auf das Kind bleiben."69 Die Hausfrauen pflanzten Blumen auf öffentlichen Plätzen und Fabrikhöfen, nähten Tischdecken und Gardinen für Kantinen, Arbeiter-, ITR- und Soldatenwohnheime, häkelten Untersetzer und stellten Blumenvasen darauf, strichen Wände und kochten Zahnpasta, legten Gemüsegärten an, versorgten Schweine, Hühner und Kühe und richteten Schulen und Kindergärten ein.70 Die Frau hatte für die „Kleinigkeiten" des Lebens das

richtige Auge:71

„Die Ehefrauen der Ingenieure und Wirtschaftsführer bildeten die Einheiten, die aktiv halfen, das Fabrikgelände, die Straßen der neuen Städte, die Plätze und Parkanlagen in Ordnung zu bringen. (...) Und Tausende Gesellschaftsarbeiterinnen gingen (...) in die Fabriken und Werke, in die Arbeiterwohnheime und deren Wohnungen, halfen ihren Männern in ihrem 72 Produktionskultur."

Kampf um eine hohe

Die Ehefrauen der ITR des Kombinats „Krivorogstahl" organisierten im DITR eine Sektion für Kunst, richteten eine Ballettschule für Kinder, ein Puppentheater und einen Sportplatz für Jugendliche ein. Außerdem übernahmen sie die Schirmherrschaft über den Arbeiterclub, die örtlichen Bibliotheken, das Arbeiterwohnheim und die Kantinen.73 Die Ehefrauen 68

Krupskaja, N.K.: Zenam sachterov, 1933, S. 86, in: dies.: Zenscina strany sovetov ravnograzdanin, Moskau 1938, S. 86-87. pravnyj 69 Zenam sachterov, S. 87. Krupskaja, 70 Chetagurova, Dal'nij Vostok, S. 195ff; Krupskaja, N.K.: „Orvet na pis'mo zen sachterov", -

12.9.1933, S. 88f, in: dies., Zenäcina strany sovetov, S. 87-89. Krupskaja, N.K.: Obscestvennica socialisticeskoj strojki, 1937, S. 155, in: dies., Zenscina

71

sovetov, S. 154-155. strany 72

Zeny inzenerov, obsösvennicy tjazeloj promyslennosti, Seitenangabe. 73 Inzenernyj trud, Nr. 8, August 1935, S. 222.

Moskau 1937,

Kapitel III,

ohne

322

Versorgung und Vergnügen

sorgten nicht nur für Ordnung und Sauberkeit und das

so oft von den Invermißte kulturelle sie übernahmen auch die Kindergenieuren Angebot, und andere soziale Funktionen wie die grundlegende medizibetreuung nische Versorgung.74 Schließlich dienten ihre Zusammenschlüsse auch der eigenen Weiterbildung und Vorbereitung auf das Erwerbsleben. Chetagurova und ihre Mitstreiterinnen absolvierten im Rahmen der Hausfrauenbewegung Kurse für Postangestellte, Telefonistinnen, Näherinnen usw.75 Polina Valentinovna Berman, Ehefrau des Leiters eines Gaswerks, unterrichtete Politik, Stenographie und Deutsch, Theaterspiel, Singen, Kinderballett, moderne Tänze und Jazz. Bella Leont'evna Tonezer, Ehefrau des Ingenieurs des Elektrowerks der JuTMZ, machte eine Schneiderei auf und bot Nähkurse an.76 Die Publikationen der Hausfrauenbewegung unterstrichen, daß Frauen ihren Platz in der Produktion und Gesellschaft als „Ingenieurinnen, Traktoristinnen, Schlosserinnen, Direktorinnen, Politarbeiterinnen, Fallschirmspringerinnen, Kolchosleiterinnen, Schauspielerinnen, Pilotinnen und Schriftstellerinnen" hatten.77 Insofern wurde die Berufstätigkeit der Frau nicht diskreditiert; die Pravda forderte die Frauen gleichermaßen auf, sich sowohl der Produktionsarbeit als auch der Hausfrauenbewegung anzuschließen.78 Aber gefeiert wurden in den Jahren 1935 bis 1938 die Ingenieursehefrauen, die Unionskongresse veranstalteten und für ihre Tätigkeit in Broschüren und zum Teil sehr aufwendig gestalteten Bildbänden warben.79 Das neue-alte Familien- und Arbeitsteilungsmodell unterstützte auch die Za industrializaciju, die in den Jahren 1935 und 1936 die neue Kleinfamilie auf Fotos präsentierte. Im Mittelpunkt stand bzw. saß der Ingenieur, um ihn herum seine Frau und Kinder gruppiert: der unionsweit gefeierte Stoßarbeiter und Abschnittsleiter der Grube Kacegarka, Nikita Izotov, der „im Kreise seiner Familie zu Mittag ißt. Links sitzt seine Frau, rechts das Kindermädchen",80 der Bohrmeister Malgobeka von „GrozÖl", Sohn Kolja und Tochter Nina ein neues Buch vorlesend.81 So wurde die Familie als Keimzelle des Sozialismus und mit ihr das neue Lei-

74

Zeny

ITR

na

strojke, Dneprodzerzinsk 1936; Bol'saja sila. Opyt rabot zen

ITR sacht Don-

bassa, Stalino Donbass 1936. 75

Chetagurova, Dal'nij Vostok, S. 195, 197. Otcety dejatel'nosti zenaktiva JuTMZ i stroitel'stvo, Nikopol' 1936, S. 15, 77 inzenerov, Kapitel VIII, ohne Seitenangabe. Zeny 78 76

79

Nase nacalo.

19.

Pravda, 8.3.1937.

Za industrializaciju, 10.5.1936. Schriften und Bildbände über die Hausfrauenbewegung siehe v.a. Zeny inzenerov, aber auch Nase na£alo; Bol'saja sila; Vo nogu s muz'jami, Char'kov 1936. 80 Za industrializaciju, 28.5.1935. 81 Za industrializaciju, 27.4.1936.

Kul 'turnost

'

323

stungsprinzip, die neue Wohnung, die neuen Möbel und Konsumgüter in Szene gesetzt.82 Die Sowjetregierung kam mit der Rehabilitierung der Hausfrauenehe ihrer neuen männlichen Elite entgegen und entsprach mit der Rehabilitierung der Familie gleichzeitig dem allgemeinen Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, einem Ort der Geborgenheit und dem Wunsch, ein bürgerliches Leben zu führen. Das bislang brachliegende Potential oft noch humanistisch rundum gebildeter Ehefrauen erkannte die Regierung als wertvolles Kapital, wenn es um die Kultivierung der Gesellschaft ging. Angesichts der Verwahrlosung von öffentlichen Plätzen, der Verschmutzung von Fabrikgeländen und einer Verrohung der Sitten erkannte die Partei in der bürgerlichen Hausfrau eine Ordnungsmacht, deren Autorität sie sich zunutze machen gedachte. Die Vorstellung, daß Kultiviertheit in erster Linie eine weibliche Domäne sei, sorgte dafür, daß Ingenieursehefrauen eine Hochzeit erlebten, während Ingenieurinnen nur noch an zweiter Stelle standen.

e) Kino in der kul'turnost'-Ze/f des Schwerpunkts der öffentlichen Aufmerksamkeit von der Industrie und „politischen" Themen hin zum Privaten spiegelt sich auch in den Filmen dieser „glücklichen drei Jahre", wie sie genannt werden, wieder. Bereits 1927 war gefordert worden: „Our films must be hundred percent ideologically correct and hundred percent commercially viable! (...) It can only be an instrument of communist enlightenment if it is accepted by the audience with pleasure."83 Diese Haltung verstärkte sich Mitte der dreißiger Jahre, als sich Ervin Sinkó von der Filmproduktionsfirma Mezrabpromfil'm sagen lassen mußte, daß die Leute nichts „von Filmen wissen wollen, die Bauern, Massen und gesellschaftliche Kämpfe zum Thema haben, sie wollten von nichts wissen, was auch nur entfernt an Propaganda erinnert." Apolitische Kunst lautete die neue Devise: „Sie wollen individuelle Komplikationen, Familien, Liebe, Abenteuer, alles lustig aufgemacht; sie wollen nach Möglichkeit lustige, erheiternde und Die

Verschiebung

leichte Sachen."

In dieser Zeit entstanden die drei berühmtesten

sowjetischen Unterhaldie sich auch heute noch und Musikfilme, großer Beliebtheit ertungsfreuen und alle preisgekrönt sind: „Lustige Burschen" (Veselye Rebjata, 1934), „Zirkus" (Cirk, 1936) und „Wolga, Wolga" (Volga, Volga, 1938). 82

Za industrializaciju, 2.12.1935. Zitat nach Turovskaja, The 1930s and 1940s, S. 43. "Sinkó, Roman, S. 271. 83

324

Versorgung und Vergnügen

Auch wenn „Wolga, Wolga" zeitlich aus der Reihe fällt, griffen alle drei Filme des Regisseurs Grigorij Aleksandrov kul 'turnost '-Themen auf: „Lustige Burschen" spielt in einem Kurort und zeigt einen Hirten, der musikalisch so begabt ist, daß er am Ende im Bol'soj-Theater in Moskau auftritt.85 „Zirkus" zeigt das neue sowjetische Leben als einziges Freizeitvergnügen: Spaß in der Manege und Tanztee auf dem Dach des neuen Hotels „Moskau".86 „Wolga, Wolga" zeigt ähnlich wie „Lustige Burschen" das musikalische Talent einer Briefträgerin und spielt in weiten Teilen auf einem Dampfer auf der Wolga.87 In diese Reihe der komödiantischen, mit Slapstick- und Gesangseinlagen gespickten Unterhaltungsfilme gehört auch der Film „Der Torwart" (Vratar', 1936), der weniger bekannt, aber genauso amüsant ist. Dieser Film greift das Thema Sport als Freizeitbeschäftigung und verbindendes Element zwischen Ingenieur und Arbeitern in diesem Fall der Moskauer Fabrik „Propellerschiff' (Gidraèr) auf. Im Mittelpunkt steht der Ingenieur Karasik, gespielt von dem äußerst populären Schauspieler A. Gorjunov. Karasik ist als Ingenieur ein ganz normaler Mensch, ein Sowjetbürger, Freund und Genosse, der nicht ständig beweisen muß, daß er dem Proletariat wohlgesonnen ist. Karasik verschwindet anders als Nikitin in „Die vier Visiten des Samuel Wulf nicht in der Masse seines Kollektivs, ist kein Technokrat wie Pavel aus „Der Gegenplan" und muß weder von den Arbeitern wie Lazarev in „Der Gegenplan" noch von den Amerikanern wie Zacharov in „Aufgaben und Menschen" seine Lektionen lernen. Er ist weder ein Schädling wie Skvorcov in „Der Gegenplan", noch ein Drükkeberger wie Petrov aus „Menschen und Aufgaben" oder jemand, der noch schwankt, welcher Seite er angehört, wie Dick Aerosmith aus „Die vier Besuche des Saumèl' Wul'f. Weder ist er ein besonderer Held noch ein potentiell verdächtiges Element. Auch Schiebereien und Bestechung nach Art eines Misa aus „Drei Kameraden" sind ihm fremd. Karasik ist das Endprodukt des sowjetischen Ingenieurs: Es muß nicht mehr an ihm 85

Veselye Rebjata, Moskinokombinat Moskau 1934, Regie: G. Aleksandrov, Nachweis: Video in meinem Besitz. Zum Genre sowjetisches Musical vgl. auch Anderson, T.: Why Stalinist Musicals?, in: Discourse 17 (1995), S. 38-48; Taylor, Richard: Singing on the Steppes for Stalin: Ivan Pyr'ev and the Kolkhoz Musical in Soviet Cinema, in: Slavic Review 58 (1999), S. 143-159. 86 Cirk, Mosfil'm Moskau 1936, Regie: G. Aleksandrov, Nachweis: Video in meinem Besitz. Vgl. auch Ratchford, Moira: Circus of 1936: Ideology and Entertainment under the Big Top, in: Horton, Andrew (Hg.): Inside Soviet Film Satire. Laughter with a Lash, Cambridge 1993, S. 83-93; Taylor, Richard: The Illusion of Happiness and the Happiness of Illusion: Grigorij Aleksandrov's The Circus, in: Slavic and East European Review 74 (1996), S. 601-620. 87 Volga, Volga, Mosfil'm Moskau 1938, Regie: G. Aleksandrov, Nachweis: Video in meinem Besitz. Vgl. auch Turovskaja, Maja: The Strange Case of the Making of Volga, Volga, in: Horton, Inside Soviet Film Satire, S. 77-93; dies.: Volga, Volga i ego vremja, in: Iskusstvo kino (1998) 3, S. 59-64.

Kul 'turnost

'

325

gefeilt werden, und er wird als Mitglied der neuen Gesellschaft nicht mehr in Frage gestellt. Er ist eine unbestrittene Autorität unter den Arbeitern und gleichzeitig ihr Kamerad und Mannschaftsgenosse beim Fußball. Der Film hänselt Karasik, ohne daß dieser Spott boshaft wäre: Karasik wirkt durch seinen kleinen Wuchs und seine rundliche Form drollig, linkisch und unbeholfen. Immer wieder äußert er den gleichen gestelzten Satz, wenn andere über ihn lachen:

„Ich persönlich kann am Horizont nichts Witziges entdecken." (Ja licno nicego smesnogo na gorizonte ne nabljudaju.)

Karasik ist der liebenswert-ulkige Ingenieur, der das Publikum zum Lachen bringt, wenn er allein gegen die gegnerische Mannschaft antritt, mit dem Hinterteil einen Ball abwehrt oder unter ihm die Trage zusammenbricht, auf der er bewußtlos vom Spielfeld getragen wird. Wie schon „Lustige Burschen" und „Zirkus" rückt „Der Torwart" mit einem Thema aus dem Freizeitbereich auch eine Liebesgeschichte in den Vordergrund. Karasik ist unglücklich in die hübsche blonde Nastja verliebt, die wiederum den neuen Fußballstar Anton Kandidov verehrt, den das Fabrik- und Fußballkollektiv von einem ihrer Ausflüge auf der Wolga mitgebracht hat. Der stattliche blonde Jüngling aus der Provinz erweist sich als der beste Torhüter der Sowjetunion, doch als er über seinem Erfolg seine Arbeit vernachlässigt, wirft ihn die Mannschaft raus. Seinen Platz als Torwart nimmt nun Karasik ein, der damit hofft, auch in Nastjas Gunst zu steigen. Doch am Ende muß er erkennen, daß er gegen Kandidov keine Chance hat: Er führt die beiden Liebenden zusammen und gewinnt selbst die anmutige, dunkelhaarige Grusa, die ihm schon lange schöne Augen macht.88 Der Regisseur S. Timosenko hat es darüber hinaus verstanden, in seinem Film viele Symbole für das prächtige Leben Mitte der dreißiger Jahre unterzubringen. Karasik und seine Arbeiter verwirklichen den Traum von der schnellen Fortbewegung zu Wasser und in der Luft: Sie bauen propellergetriebene Gleitboote, und wenn ihnen das Benzin ausgeht, steigen sie ins Flugzeug um und springen mit Fallschirmen ab. Auch die Metro, 1935 eingeweiht, wird in Form des leuchtenden „M" als Zeichen für das neue Leben aufgerufen. Moskau ist als Traum aller Russen sehr präsent, in das die Menschen, hier Kandidov und Grusa, aus der Provinz kommen, um ihr Glück zu finden. Gleichzeitig demonstriert der Film, daß die Pro-

vinz voller talentierter Menschen und letztlich in jedem Sowjetbürger ein Kandidov steckt. „Der Torhüter" präsentiert den neuen Menschen in der neuen Metropole, der sich auf neue Art und Weise fortbewegt. Karasik ist nicht nur der neue sowjetische Ingenieur, er hat auch im wahrsten Sinne des Wortes einen neuen Menschen geschaffen: einen Roboter. Dieser 88

Vratar', Lenfil'm Leningrad 1936, Regie: S. Timosenko, Nachweis: als Video in meinem

Besitz.

326

Versorgung und Vergnügen

„mechanische Mensch" (mechaniceskij celovek) ist noch unvollkommen und wirkt komisch und bedrohlich zugleich. Sein einziger Satz, den er spricht, ließe sich auch auf ihn selbst beziehen: „Niemand ist zuhause"

ich bin noch leer und ohne Leben. Ausgefüllt wird er schließlich von Karasik, der in den Roboter schlüpft, um Anton und Nastja zusammenzuführen. Der neue Mensch, wird hier gezeigt, kann nicht der konstruierte, in seinen Handlungen und Werten mechanisch funktionierende Automat sein, der zur hohlen Maschine gerät. Der neue Mensch ist vielmehr der „menschliche" Ingenieur, der perfekt und gewissenhaft arbeitet, aber erst durch seine persönlichen Schwächen zum liebenswerten Kollegen wird. Der Film illustriert damit nicht nur, daß Mitte der dreißiger Jahre Fußballspielen und Liebeskummer zu wichtigen Themen wurden, sondern macht auch deutlich, daß in dieser Zeit der Ingenieur endlich als Mitglied der Gesellschaft und des Fabrikkollektivs akzeptiert wurde.

-

Wohnungskarrieren

327

3) Wohnungskarrieren dreißiger Jahre in der Öfpräsentiert und diskutiert wurden, findet sich in den Ingenieurserinnerungen kaum etwas. So viel sowjetische Ingenieure über ihre Arbeit schreiben, so wenig berichten sie über ihre privaten Lebensumstände, ihre persönlichen Sorgen und das, was sie außerhalb der Fabrik beschäftigte.' Allenfalls in Nebensätzen erwähnen sie, wo sie wohnten, ob sie verheiratet waren und wann ihre Kinder geboren wurden. Ein Bericht über das Privatleben gehörte nicht in die Erzählung über ihr Leben als Ingenieur; ihre Erfahrungen jenseits der Arbeit waren irrelevant, unbedeutend und nicht heroisch genug. Diese Selektion nach biographiewürdigen und unwürdigen Daten demonstrierte Maliovanov eindrucksVon den kul 'turnost '-Themen, die Mitte der

fentlichkeit

voll, der im Interview immer wieder darauf bestand, daß,

wenn er über seine Frau sprach, das Aufnahmegerät abgeschaltet würde: Diese Geschichte gehöre nicht aufs Band. Dies Verhalten spricht für Svetlana Boyms These, daß die im Westen zelebrierte Privatsphäre im Russischen in dieser Form kein Äquivalent hatte und anstelle von Privatheit, Selbst, Mentalität und Identität die Gemeinschaft (sobornost'), das Mitgefühl (sostrodanie), die Schwermut (toska) und die Heldentat (podvig) überwogen. Der Alltag sei von den Menschen in Rußland und in der Sowjetunion im Rahmen dieser vier Kategorien erlebt und wahrgenommen worden. Erzählungen über das tägliche Leben sei mehr von der Heldentat als von dem Banalen bestimmt gewesen, denn eine Beschäftigung mit dem Alltäglichen habe als unpatriotisch, subversiv, unrussisch und antisowjetisch gegolten.2 Das vorhandene Kulturmuster, die Gemeinschaft über das Individuum zu stellen, wurde durch die Slogans des ersten Fünfjahrplans verstärkt. Die Aufforderung, sich nicht um Lebensbedingungen zu kümmern, sondern sich ganz dem Aufbau zu widmen, stieß auf fruchtbaren Boden, wie Emel'janov eindrucksvoll bezeugt:

„Mein ganzes Eheleben bis zur Abreise ins Ausland verbrachte ich in Moskau in einer ehemaligen Banja. Niedrige gewölbte Decken und feuchte Wände, als seien sie für die Ewigkeit mit Wasser getränkt. (...) Wir legten Lappen auf die Wände, und wenn sie vollgesogen waren, wrangen wir sie (...) aus und legten sie erneut auf. Aber wenn damals jemand vorgeschlagen hätte, das Projekt der luxuriösen, mit Marmor verzierten Metrostationen zu vereinfachen, um die eingesparten Gelder in einen erweiterten Wohnungsbau zu stecken, dann hätte ich, wie die meisten, die in solch beengten Verhältnissen lebten, dagegen ge-

' 2

Vgl. dazu auch Brooks, Revolutionary Lives, S. Boym, Common Places, S. 2ff.

32.

328

Vetsorgung und Vergnügen stimmt. Ja, wir me umsetzen.""

waren

Träumer, und wir wollten

um

jeden Preis unsere Träu-

Ingenieure waren in besonderem Maße darauf geeicht, kein Wort über private und häusliche Umstände zu verlieren, denn das Idealbild vom Ingenieur, das vor und nach den Jahren des gefeierten Privatlebens herrschte, zeigte ihn als wortkargen und verschlossenen Mann. Er lebte für seine Arbeit und haßte es, Fragen zu beantworten, v.a. wenn sich diese nicht auf seine unmittelbare Berufstätigkeit bezogen. Die Biographin Vinters stellte den Bauleiter von Dneprostroj als Mann vor, der im Interview „schweigt und raucht, raucht und schweigt": ihn für seine äußerliche Grobheit, seine unglaublich die Arbeiten, für seine Machtfulle als Leiter des Dneaber man wußte nichts Persönliches von ihm."4

„Am Dnjepr kannte hohen

Ansprüche

prostrojs,

man

an

Als genau so einen wortkargen, verschlossenen Menschen präsentierte auch Frankfurt Bardin: „Schweigsam, mürrisch, verdrießlich das war der Eindruck, den Bardin auf Menschen bei ihrer ersten Begegnung mit ihm ausübte."5 Er habe wenig von sich erzählt, v.a. nichts von seinem Privatleben, so daß er, Frankfurt, sehr erstaunt gewesen sei, als er nach zwei Jahren gemeinsamer Arbeit von Bardin erfuhr, daß dieser das Theater liebte, mit Leidenschaft klassische Musik hörte und gern einmal wieder für zehn Tage in Moskau wäre, um dort die Kultur zu genießen.6 Auch in der Literatur wurde der sowjetische Ingenieur als wortkarger Einzelgänger entworfen, der ignorierte, daß er dringend den Arzt konsultieren sollte, es kein Wasser zum Waschen gab oder die Schlange vor der Kantine so lang war, daß er mehrere Mahlzeiten hintereinander ausfallen lassen mußte.7 Die Mentalität der Arbeiter und Ingenieure in den ersten Aufbaujahren brachte Gugel' auf den Punkt: „Wenn wir den Hochofen gebaut haben, dann vernichten wir die Wanzen, -

dann werden wir

uns

waschen und rasieren. Erst der

Hochofen, dann die

Wanzen."8 Daß sich das Bild vom wortkargen Ingenieur bis ans Ende der dreißiger Jahre hielt, zeigt der Vestnik inzenerov i technikov, der 1938 den idealen Ingenieur vorstellte: „Stoman ist außergewöhnlich geizig mit Worten. Er liebt es weder von sich, noch von seinem Leben, noch von seinen Angelegenheiten zu sprechen."9 Die Parolen des ersten und dritten Fünfjahrplans rahmten die Epoche der kul 'turnost ein und überlagerten die Ideale der „goldenen Zeit". Das '

3

Emel'janov, O vremeni, S. 242. Vinogradskaja, Inzener nasej èpochi, S. 52, 55. 5 Frankfurt, Gigant, S. 249. 6 Frankfurt, Gigant, S. 253. 7 4

8 9

Gladkov,

Ènergija, S. 72; àaginjan, Wasserkraftwetk, S. 305; Kataev, Vremja, S. 9, 82, 429.

Gugel', Vospominanija, S. 320.

Vestnik Inzenerov i technikov. Nr. 10, Oktober 1938, S. 600.

Wohnungskarrieren

329

all dieser lancierten Eigenschaften war der Ingenieur, der sich der Arbeit verschrieb, sich nicht um seine Lebensumstände scherte, ganz aber ein heimlicher Genießer der hohen Kunst und Kultur war. Die Ingenieure präsentieren sich bezüglich ihres Privatlebens als verschwiegen und verschlossen, haben ihre Erinnerungen nach dem Schema heroisch banal, öffentlich privat, kollektiv individuell aussortiert und lassen gleichzeitig in Halbsätzen erkennen, daß sie durchaus Kultur und Komfort nicht abgeneigt waren. Auch lassen einige dieser Männer keinen Zweifel daran, daß sie von ihren Frauen Unterordnung verlangten. Fedoseev und Lavrenenko sind die einzigen Ingenieure, die sich entgegen der Gepflogenheiten zumindest ansatzweise über ihre Lebensumstände beschweren. Fedoseev heiratete 1936 und zog zunächst zu der Familie seiner Frau, wo sie sich zu siebt drei Zimmer teilten. Die Wohnung lag weit von der Fabrik entfernt, so daß er mit der Straßenbahn quer durch die Stadt fahren mußte. Sein Verdienst reichte kaum, und auch seine Frau, Nina Fedorovna Grudinina, habe als Technikerin in einem Chemieinstitut „miserabel" verdient. Mangel und Enge führten immer wieder zu Streitigkeiten zwischen seiner Frau und deren Mutter, so daß sie schließlich in die Kommunalwohnung seiner Eltern übersiedelten, deren Zimmer sie halbierten. Obwohl sie außer einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und zwei Hockern keine Möbel besaßen, sei es schwer gewesen, sich überhaupt in der acht Quadratmeter großen Kammer umzudrehen, in der sie mit ihrer neugeborenen Tochter zu dritt lebten.10 Nach ihrer Rückkehr aus den USA im Sommer 1940 zog die Familie zunächst in ein Herrenhaus vor den Toren Leningrads, bevor sie zum Winter ein 18 Quadratmeter großes Zimmer in einer Zweizimmerwohnung in einem neuen fünfstöckigen Haus in einem Leningrader Vorort an der Malaja Ochta zugewiesen bekam. Das zweite Zimmer bewohnte eine vierköpfige Familie, die überall Dreck verteilte und deren Familienoberhaupt trank und permanent „Skandale" provozierte. Trotzdem, so Fedoseev, lebten sie besser als zuvor und als 60 Prozent der Bevölkerung. Nur als Mitglied der „Partei- oder Gewerkschaftsaristokratie" hätte er Chancen auf eine besse-

Ergebnis

-

-

re

-

Wohnung gehabt."

Für Lavrenenko und seine jungen Kollegen in Berezniki bedeutete kul'turnost', sich von den 30 Strafgefangenen Schauspielerinnen unterhalten zu lassen,12 die eine „unwiderstehliche Anziehungskraft auf die technische Jugend" ausübten.13 Er verliebte sich in eine junge Lehrerin, die wegen ihrer adligen Abstammung in das Gebiet Perm' verbannt wor10

Fedoseev, S. 55ff. Fedoseev, S. 75ff. 12 Vgl. auch Korallov, M.M. (Hg.): Teatr GULAGa, vospominanija, ocerki, Moskau 1995. 13 Lavrenenko, 1. 15f. 11

330

den

Versorgung und Vergnügen

Doch als er 1935 zum Militärdienst eingezogen wurde, schickte sie weiter in den Norden, wo sie erkrankte und starb. man „So endete meine große Liebe. Wenn nicht jeden Tag die Militärübungen gewar.

wesen wären, ich weiß nicht, was ich gemacht hätte..."1 1938 heiratete er die Technikerin Serafima Egorovna, die ihn an seine verstorbene Verlobte erinnerte und die für ihn und den 1938 geborenen Sohn „als echte russische Frau" ihren Beruf aufgab.15 Ab 1940 lebten sie zusammen mit dem Direktor des Kurachov-Wasserkraftwerks auf einem alten Gut, wo sich seine Familie an Sommertagen am See vergnügte und er sich abends den Badenden anschloß.16 Ähnlich wie Lavrenenko begann Gajlit in bescheidenen Verhältnissen, um Ende der dreißiger Jahre bevorzugt mit Wohnraum versorgt zu werden. 1928 lebte er mit seiner Frau am Volchov im Haus der Zugereisten, das im Winter so kalt war, daß sich an den Wänden Rauhreif bildete. Zur Geburt ihres Kindes schickte er seine Frau nach Leningrad und war doppelt froh über diesen Entschluß, als das aus Holz gebaute Haus kurz darauf abbrannte.17 Die Familie lebte danach an verschiedenen Orten, weil sie keine adäquaten Räume fand. Derweil wurde Gajlit mehrfach für die erfolgreiche Inbetriebnahme von Aluminiumfabriken mit Prämien in Höhe von mehreren Monatslöhnen ausgezeichnet.18 Die Anerkennung als „Bestarbeiter" sorgte dafür, daß er im Herbst 1939 zum Chefingenieur der Zentralverwaltung der Aluminiumindustrie (Glavaljumiri) ernannt wurde und eine Neubauwohnung erhielt. Nachdem er zehn Monate in Moskau im Hotel gewohnt hatte, wurde ihm eine von fünf Wohnungen zugeteilt, die das Volkskommissariat aus dem Pool der neu fertiggestellten Spezialistenhäuser zugewiesen bekommen hatte.19 Einen vergleichbaren Aufstieg beschreibt auch Calych. 1930 konnte ihm die Fabrik „Elektrokohle" nur ein Bett im Ingenieurswohnheim bieten.20 Doch von hier aus ging es Schritt für Schritt aufwärts: Als Calych 1933 nach Zaparoz'e kam, gab es hier zwar noch keine Stadt, aber der Wohnungsbau ging zügig voran; es gab kleine Läden und die medizinische Versorgung funktionierte. Vornehmlich aber war die Lebensmittelversorgung besser als bei „Elektrokohle" in Kudinovo. Auf dem Markt konnte man Gemüse, Obst, Fleisch, Geflügel und sogar lebende Fische kaufen, die im Dnjepr vor dem Staudamm gefangen wurden. Die Fabrik hatte erfolgreich eine eigene Kolchose organisiert, die die Mitarbeiter mit

14

Lavrenenko, 1. 19, 25. Lavrenenko, 1. 33f. 16 Lavrenenko, 1. 48, 52. 17 Gajlit, 1. 6, 13f. 18 Gajlit, 1. 16, 33. 15

19

20

Gajlit, 1. 53ff. Calych, S. 24, 34.

Wohnungskarrieren

331

Milch und saurer Sahne belieferte. Schließlich gab es eine ausgezeichnete Kantine in einem großzügigen hellen Gebäude, in der die Essensauswahl groß und die Preise niedrig waren.21 Als Calych nach Celjabinsk versetzt

wurde, wollten sie Zaporoz'e nicht verlassen:

„Wie meine Frau sagte, war Zaporoz'e ein paradiesischer Fleck, und uns trieb

der Teufel in das kalte und hungernde Land."22 Aber Celjabinsk war für die Familie Calych keineswegs ein Abstieg, sondern hier begann ein Bilderbuchleben: Sie zogen in ein komfortables Haus, das mit Zimmern für Personal und fließend Warmwasser ausgestattet war. Zwar konnte sich Calych von seinem Gehalt kein Personal leisten, wie er bedauernd anmerkt, aber er hatte einen persönlichen Kutscher, der ihn im Sommer mit dem Wagen und im Winter mit dem Schlitten chauffierte. Seine Kollegen witzelten: „Das Verkehrsmittel unseres Calychs unterscheidet sich von einem Lincoln der Firma Ford dadurch, daß dem Lincoln als Emblem ein Hund, Calych ein Pferd voraus läuft."23 Seine Familie lebte sechs Jahre lang hochherrschaftlich in Celjabinsk, wo sie diverse Freizeitbetätigungen entwickelten und Calychs Frau sich als aktives Mitglied der Hausfrauenbewegung engagierte. Sie gingen ins Kino und Theater und waren Stammgäste des Club des „Metallurg", dessen Programm die Gesellschaftsarbeiterinnen zusammenstellten. Sie organisierten Darbietungen bekannter Musiker und Artisten, Lesungen zu Puskin und Tolstoj sowie Abende, an denen die Ingenieure musizierten. Darüber hinaus hatten die Calychs einen festen Freundeskreis von sechs bis sieben Familien seiner Arbeitskollegen, die reihum Ausflüge und Festlichkeiten im privaten Rahmen organisierten. Zu einem selbstarrangierten Konzert luden sie sogar den Sekretär des Gebietskomitees und die gesamte städtische Parteiführung ein: Calych und ein Kollege geigten im Duett, seine Frau sang eine Arie aus der Oper „Faust" und dem „Rigoletto", begleitet von dem Mechaniker A.L. Gitgarc, und der Leiter der Eisengießerei organisierte eine Jazzband.24 1940 übersiedelte die Familie nach Moskau, wo sie zunächst große Schwierigkeiten hatte, eine Bleibe zu finden, aber nach neun Monaten Wartezeit für Moskauer Verhältnisse privilegiert zwei Zimmer von insgesamt 47 Quadratmetern in einer Kommunalwohnung beziehen konnte. Calych lebte dort 26 Jahre lang.25 Ähnlich wie Lavrenenko, Gajlit und Calych erwartete auch Pozdnjak von seiner Frau, Anja Isaakovna Lipskaja, daß sie sich seinen Zielen

21

Calych, S. 38. Calych, S. 45. 23 Calych, S. 46. 24 Calych, S. 70. 25 Calych, S. 71 f. 22

332

Versorgung und Vergnügen

Bf**

Abb. 16: Nikita Zacharovic 1930er Jahre. Quelle: privat

Pozdnjak

mit seiner Frau Anna Isaakovna Mitte der

Wohnungskarrieren

333

unterordnete bzw. sich auf das häusliche Leben beschränkte. Er lernte sie in der Redaktion der Werkszeitung einer Rüstungsfabrik, in der er 1933 Praktikum machte, kennen. Sein Traum vom privaten Glück war, als Ingenieur in eine Fabrik ins Landesinnere geschickt zu werden, wo er mit seiner Frau das Leben genießen würde.26 Tatsächlich folgte ihm Anja in die Bleifabrik, tippte ihm seine Diplomarbeit, schenkte ihm eine Tochter und stellte ihre eigene Karriere zurück, obwohl sie eine gefeierte Brigadierin war und sich auf ein Studium vorbereitete.27 Das Paar wohnte zunächst in einem Studentenwohnheimzimmer, bekam aber 1936 eine Wohnung zugewiesen, als Pozdnjak in der Fabrik Manometr zum stellvertretenden Leiter der Bleigießerei aufstieg.28 Wohl keiner der anderen Ingenieure nahm sich das Programm der kul'turnost' so sehr zu Herzen wie Pozdnjak (s.o.). Noch während seines Studiums gewährte ihm die Gewerkschaft eine Reise in das Gästehaus der Moskauer Universität in Gelendzik: „Als ich im Zug dorthin saß, dankte ich noch einmal dem Schicksal dafür, daß ich unter der Sowjetmacht lebte und nicht nur lernen, sondern auch noch Urlaub machen durfte. Wie wichtig ist es, sich von dieser schweren Arbeit loszureißen und ans Meer zu fahren."29 Wie Pozdnjak nahm auch Loginov das Gebot, sich rundum zu bilden, ernst. Ordjonikidze persönlich forderte ihn bei einem Zusammentreffen auf, als junger Ingenieur mehr zu lesen, sich fachlich fortzubilden und ins Theater zu gehen. „(...) immer noch denke ich oft an den klugen Rat des Genossen Ordjonikidze und folge ihm bis heute. Tatsächlich ist es sehr wichtig für den jungen Ingenieur, sein technisches und kulturelles Niveau systematisch zu erhöhen, damit

er nicht, wie man sagt, hinter dem Leben zurückbleibt." Darüber hinaus war er der Ansicht, daß er als Mitglied der neuen Elite Anspruch auf einen gewissen Komfort hatte. Als er 1930 die Stelle beim Trust „Staatslaborausstattung" antreten wollte, machte er für seine Übersiedlung nach Moskau zur Bedingung, daß ihm der Trust eine Wohnung mit mindestens zwei Zimmern zur Verfügung stellte. Auch als sein künftiger Vorgesetzter, Nemov, ihm bedeutete, daß das eine maßlose Forderung sei, die ein bedeutender Professor, nicht aber ein junger Ingenieur stellen könne, beharrte Loginov darauf, und erhielt tatsächlich eine Wohnung, in die er mit seiner Frau, die Ärztin war, und seinem Kind zog und in der er noch 1966 zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Memoiren

26

27

Pozdnjak, 1. 432.

Pozdnjak am 8.10.1997 in Moskau. Pozdnjak, 1.459, 463; RGAÉ, f. 372, op. 1, d. 106: Pozdnjak, N.Z.: Licnye dokumenty, 1. 3. avtobiografija, 29 1. 409. Pozdnjak, 30 Loginov, 1. 51 f. 28

Interview mit Anna Isaakovna

334

Versorgung und Vergnügen

lebte.31 Ein letztes Detail, das Loginov aus seinem Leben preisgibt und das Einblick in eine Welt des Überflusses gewährt, ist schließlich, daß er auf Anweisung von M.M. Kaganovic 1938 einen Empfang für den Präsi-

denten der Firma „Brown" im Hotel Astorija, der feinsten Adresse in Leningrad, organisierte. 4 000 Rubel standen ihm zur Verfügung, um für Mr. Brown eine Suite mit fünf Zimmern zu mieten und ein Bankett auszurichten, an dem alle ITR der Instrumentenbauvereinigung samt Familien

teilnahmen.32 In den Genuß eines ähnlichen Luxus kam auch Jakovlev. Er wohnte bei seinen Eltern, bis er 1939 als stellvertretender Volkskommissar eine Wohnung in dem neuerbauten, mit allem Komfort ausgestatteten, sehr soliden und repräsentativen Spezialistenhaus des Volkskommissariats an den Patriarchenteichen zugewiesen bekam, in dem neben Iljusin und Polikarpov die Elite des sowjetischen Flugwesens wohnte. Seine Wohnung wurde auf Anweisung Stalins hin nicht nur mit einem Telefon, sondern auch mit einer Direktleitung in den Kreml ausgestattet.33 Für seine Flugzeugkonstruktion erhielt er 1939 den Leninorden, einen PKW der Moskauer Autofabrik ZIS und eine Geldprämie von 100 000 Rubel.34 Er war Nutznießer der Erholungseinrichtung für Mitarbeiter der Flugzeugindustrie, und den ganzen Sommer 1941 verbrachte er in dem Datschenort Podlipki bei Moskau, wo sich die Flugzeugkonstrukteure nach erledigter Arbeit in angenehmer Atmosphäre erholten. Die Ingenieure mußten nicht einmal selbst ihre Limousinen lenken, sondern ließen sich auch beim Sonntagsausflug von ihren Fahrern chauffleren.35 Von all diesen Männern hebt sich Maliovanov insofern ab, als er zugibt, besonderen Wert auf materiellen Wohlstand gelegt zu haben. Verschämt, aber doch unverhohlen äußert er: „Die Jugend braucht Geld."36 Für ihn war es ein wichtiger Faktor, sich gut kleiden zu können und über genügend Mittel zu verfügen, um seiner Verlobten Geschenke zu machen. Nach ihrer Heirat 1934 und der Geburt ihrer Tochter 1936 lebten sie in einem Wohnheimzimmer, bevor sie 1938, als Maliovanov stellvertretender Chefingenieur bei „Rostowkohle" wurde, eine Drei-ZimmerWohnung zugewiesen bekamen.37 Maliovanov liebte nicht nur selbst das gute Leben, sondern fühlte sich als leitender Ingenieur auch verpflichtet, dafür zu sorgen, daß andere ein „kultiviertes" Leben führen konnten. Als er 1940 als Leiter in das Kokskombinat in die Belokalitijnskij-Region 31

Loginov, 1. 37. Loginov, 1. lOlf. 33 S. 196f. Jakowljew, 34 S. 168. Jakowljew, 35 S. 234. Jakowljew, 36 32

37

Maliovanov, S. 1. Maliovanov, S. 3.

Wohnungskarrieren

geschickt wurde, gab

335

es hier weder eine medizinische Versorgung noch modernen Wohnraum. Maliovnov holte acht ihm bekannte Ingenieure und ebensoviele Ärzte hierher, ließ acht Cottages mit je zwei Wohnungen bauen und richtete ein DITR ein, an dessen Tür er schreiben ließ: „Wir machen aus dem Paradies für Gott ein Paradies für Menschen."38 Für seine Frau, die als Technikerin in den Gruben arbeitete und an offener Tuberkulose litt, erhielt er eine Kur in Sotschi. Die Ingenieurinnen zeigen sich bezüglich ihres Privatlebens noch wortkarger als ihre männlichen Kollegen. Fedorova heiratete 1940 einen Ingenieur und bekam zwei Töchter, schreibt darüber aber nichts in ihren Memoiren.39 Ivanenko heiratete 1933 ebenfalls einen Ingenieur und gebar 1939 eine Tochter.40 Kozevnikova heiratete im Krieg einen Militär und bekam erst nach dem Krieg Kinder.41 Über ihre Lebensumstände geben sie keine Auskünfte. Nur Van'jat berichtet, daß sie 1936 zu Beginn ihres Studiums als Tochter eines verdienten Spezialisten eine Wohnung in Moskau angeboten bekam.42 Die einzige, die das Tabu bricht und ausführlich ihre Lebensumstände thematisiert, ist Bogdan. Ihre im Exil geschriebenen Memoiren sind ein Hybrid: zur Hälfte folgen sie der russisch-sowjetischen Struktur und stellen das Arbeitsleben in den Mittelpunkt, die andere Hälfte erhebt das Private zum Hauptthema und lehnt sich damit an westliche Autobiographiemuster an. Anders als Fedoseev zeichnet Bogdan kein negatives Bild von der Versorgungslage in der Sowjetunion, sondern schildert eindrücklich, daß nach Stalins neuer Parole, das Leben sei besser, das Leben sei lustiger geworden, sich die Lebensumstände tatsächlich erheblich verbessert hätten.43 Bogdan zog 1935 mit Mann und Tochter in ein neu fertiggestelltes, fünfstöckiges Spezialisten-Haus mit 136 Wohnungen.44 Ihre geräumige Zwei-Zimmer-Wohnung hatte einen Vorraum, eine kleine Küche und war ganz modern mit fließend Wasser und einer Dusche ausgestattet. Da Bogdans Mann als Wissenschaftler ein zusätzliches Arbeitszimmer zustand, Drei-Zimmer-Wohnungen aber nicht zur Verfügung standen, hatten sie eine besonders geräumige Zwei-Zimmerwohnung erhalten.45 Für die Ausstattung der Wohnung hatten Bogdans sparen können und kauften nun drei Betten, einen Schrank, neues Geschirr, das in Rostow in sehr guter Qualität hergestellt wurde, und Gardinen aus teurem Stoff. 38 39

Maliovanov, S. 4.

Telefonat mit T.V. Fedorova am 10.3.1994 in Moskau. Ivanenko, S. 2. Kozevnikova, S. 101. 42 S. 2. Van'jat, 43 Bogdan, Mimikrija, S. 26. 44 Weiter unten spricht Bogdan nur noch von 132 Wohnungen. 45 Bogdan, Mimikrija, S. 14f, 18. 40 41

336

Versorgung und Vergnügen

Auch für ein Kindermädchen reichte das Geld, denn Bogdan weigerte sich, ihre 1934 geborene Tochter in eine staatliche Erziehungseinrichtung zu geben. Sie beschäftigte eine Frau, Davydovna, die früher bei „reichen Leute" gelebt hatte und wußte, „wie man sich um ein Kind kümmern muß." Davydovna übernahm auch den Haushalt und das Heizen, das Bogdan „zu dreckig" war.46 Ihr Mann beteiligte sich zumindest insofern an den Hausarbeiten, als er die täglichen Einkäufe besorgte, während Bogdan einmal in der Woche auf den Basar ging. Hier gab es alles an Lebensmitteln, „was man wollte, wenn man nur Geld hatte."47 Bogdan hatte Geld: Mitunter kaufte sie eine ganze Kiste Apfelsinen aus Spanien oder ein Kilogramm Schokolade für 700 Rubel. Ihr Grundgehalt betrug 500 Rubel im Monat, aber für besondere Projektierungsarbeiten bekam sie Sonderprämien ausgezahlt, so daß ihr oft 900 Rubel im Monat zur Verfügung standen, das Gehalt ihres Mannes nicht mitgerechnet.48 Viel Geld gab sie für gute Kleidung aus: „Ich brauchte schon lange einen neuen Mantel, abet einen Mantel zu kaufen das war eine sehr schwere Angelegenheit. Die Geschäfte bekamen manchmal warme Sachen, aber meist aus rauher Wolle, schlecht gearbeitet, von langweiliger Farbe schwarz oder grau."49 Schließlich kaufte sie einen Pelz. „Pelze waren teuer, und deshalb waren sie nicht gleich vergriffen, und es gab keine Schlangen."50 Doch als ihr Mann fand, daß sie im neuen Mantel „schwanger" aussehe, verschenkte sie ihn und kaufte sich einen englischen Stoff bei einem „Spekulanten", erstand dazu einen passenden Pelzkragen und ließ sich das Kleidungsstück maßschneidern. Allein das Material kostete 1 200 Rubel; dafür war sie jetzt „schrecklich zufrieden". Auch ihre sonstige Kleidung aus feinen Webstoffen, Batist, mit Handstickerei verziert, kaufte sie bei Spekulanten. Durch die einwandfreie und geschmackvolle Kleidung hob sie sich von in sowjetische Fabrikware gekleideten Menschen ab. Das ging soweit, daß eine stoßarbeitende Weberin der Trechgornaja-Manufaktur Bogdan fragte, woher sie so wunderbare Kleidung habe. Sie bediene sechs Webstühle, aber eine solche Qualität sei ihr bisher nicht gelungen.51 Bogdans kamen nicht nur der Aufforderung nach, ihren Wohlstand zu zeigen, sie genossen auch in höchstem Maße die neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung: Bogdans Mann Sergej nahm Deutschstunden und spielte Tennis, wofür er sich teure Tennisschuhe zulegte. Valentina konnte, nachdem Foxtrott und Tango erlaubt worden waren, endlich ihrer -

-

46

Bogdan, Mimikrija, S. 17ff. Bogdan, Mimikrija, S. 23. 48 Bogdan, Mimikrija, S. 52, 237, 296. 49 Bogdan, Mimikrija, S. 30. 50 Bogdan, Mimikrija, S. 30. 51 Bogdan, Mimikrija, S. 260f. 47

Wohnungskarrieren

337

Tanzleidenschaft frönen. Der Tanzkreis, den sie besuchte, „war unter den jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern und den Professorenkindern sehr beliebt."52 Abends gingen die Bogdans mit Vorliebe in das 1935 in Rostow eröffnete Theater. Restaurants mieden sie, weil sie sich dort nicht ungestört unterhalten konnte, luden aber regelmäßig ein befreundetes Ehepaar zu sich zum Essen ein: „Anton beschäftigte sich genau wie Sergej mit wissenschaftlicher Arbeit und sie hatten gemeinsame Interessen, und ich und Katja redeten immer gern über die Streiche unserer Töchter, und etwas zu erzählen, besonders über Natalja, gab es immer."53 Bogdans kamen außerdem in den Genuß mehrerer Reisen, die ihnen teils die Fabrik zur Verfügung stellte, die sie teils aber auch kauften. 1937 fuhr die Familie ans Meer, 1938 machten sie eine Wolgareise und besuchten Leningrad. Valentina Bogdan fuhr zweimal zur Kur und reiste grundsätzlich nur erster Klasse.54 Bogdan berichtet als einzige von der Wiedereinführung des Tannenbaums und wie sehr darauf geachtet worden sei, daß der Baum tatsächlich nur zum Neujahrsfest und nicht auch noch zum Orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar stände.55 Während sie die kul'turnost' in vollen Zügen genoß, lehnte sie die Hausfrauenkampagne und die Aktion „Wir verschönern unsere Heimatstadt mit Blumen" rigoros ab. Überall, auch an den unpassendsten Stellen, seien Beete angelegt worden, um die sich bald niemand mehr gekümmert habe, so daß die Blumen vertrocknet seien und alles nur noch trostloser ausgesehen habe.56 Bogdan ist ein Paradebeispiel dafür, wie privilegiert Ingenieure und Ingenieurinnen Mitte der dreißiger Jahre leben konnten. Ihr Bericht wirkt um so überzeugender, als sie frei von dem Verdacht ist, durch die Betonung eines hohen Lebensstandards die Sowjetunion positiv hervorheben zu wollen. Sie ist ein Beleg dafür, daß durchaus auch Ingenieure, die keine hohen Leitungspositionen innehatten, bevorzugt versorgt wurden. Während andere berichten, wie schwer es war, in Moskau akzeptablen Wohnraum zu finden, scheint es in kleineren Städten leichter gewesen zu sein, auch als Nichtparteimitglied eine Spezialistenwohnung zu ergattern oder gar ein altes Gutshaus zu finden. An Bogdan und Maliovanov wird schließlich deutlich, wie entscheidend sich eine gute materielle Versorgung auf die Loyalität von Ingenieuren und Ingenieurinnen auswirken

konnte. Beide geben zu verstehen, daß ihre privilegierte Lage ein entscheidendes Moment dafür war, dem Staat zu dienen und zu folgen. Der 52

Bogdan, Mimikrija, S. 67. Bogdan, Mimikrija, S. 48, 78, 91 ff., 267ff. 54 Bogdan, Mimikrija, S. 38ff., 59, 122, 152, 156, 258f. 55 Bogdan, Mimikrija, S. 53. 56 Bogdan, Mimikrija, S. 122. 53

338

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Deal" funktionierte. Das läßt sich auch für Lavrenenko behaupten, der desto seltener die Zustände kritisch hinterfragte, je mehr er in den Genuß von Privilegien kam. Auch für die anderen Ingenieure wie Loginov, Calych, Pozdnjak, Jakovlev und Gajlit waren Leistungsbereitschaft und Belohnung eng miteinander gekoppelt. Sie lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie sich als Mitglieder einer Elite verstanden, die ein Recht auf ein gutes Leben hatte und selbstverständlich ihre Frauen in den häuslichen Bereich verwies. Sie alle machten Wohnungskarriere: Ende der dreißiger wohnten ausnahmslos alle 14 Ingenieure und Ingenieurinnen privilegiert. Obwohl sie das Thema Wohnen und Freizeit fast ganz aus ihren Memoiren ausgespart haben, wird in ihren wenigen Bemerkungen deutlich, daß sie hohe Ansprüche stellten und das neue Leistungsprinzip verinnerlicht hatten. Insofern kehrten sie nur äußerlich zur asketischen Selbstentsagung des ersten Fünfjahrplans zurück und bewahrten die Ideen der kul'turnost'Kampagne. Sie zelebrieren in ihren Memoiren noch einmal den „Kult der Auserwählten".

„Big

VI. Terror

1) Stachanovismus Im Rückblick sind heute in den „goldenen Jahren" einige Vorboten für den folgenden Terror zu erkennen. Letztlich war es leichtsinnig von den Ingenieuren, so unverhohlen die USA zu preisen und damit die sowjetischen Erfolgsmeldungen Lügen zu strafen. Bedrohlich waren auch die öffentlich gegen Ingenieure vorgetragenen Anschuldigungen, sie schafften es nicht, die Vorgaben des zweiten Fünfjahrplans umzusetzen und das Land mit genügend Gebrauchsgütern zu versorgen. Zum entscheidenden Vorspiel zur nahenden Verfolgung der Ingenieure wurde aber die Stachanovbewegung (1935-1938).' A.G. Stachanov (1906-1977) war ein Grubenarbeiter im Donbass, der in der Nachtschicht zum 31. August 1935 1 457 Prozent der Norm erfüllte, und dessen Beispiel fortan allen Arbeitern und Arbeiterinnen als Aufforderung diente, ebenfalls ihre Normen systematisch überzuerfüllen. Die Stachanovbewegung war nicht nur ein „verschärfendes Element" der Stalinisierung der Gesellschaft allgemein,2 sondern bedeutete auch im besonderen eine Zuspitzung der Situation der Ingenieure. Wie zur Kulturrevolution wurde erneut der Antagonismus zwischen Arbeitern und Ingenieuren heraufbeschworen, soziale Konflikte in den Fabriken provoziert und der „Klassenhaß" instrumentalisiert.3 Die Stachanovmethoden beinhalteten eine Verkehrung der Welt und verlangten, daß sich der Ingenieur dem Arbeiter und seinen Wünschen unterordne:

„Der Stachanov-Ingenieur ist der Ingenieur, der Arbeiter nicht

nur

unterrich-

tet, sondern seinerseits von ihnen lernt."4

Das

gesamte technische Personal wurde verpflichtet, den Arbeitern

zu

dienen und alle Vorarbeiten für die Stachanovarbeit zu verrichten:5 1

auch Thurston, Robert: The Stakhanovite Movement: Background to the Great Terror the Factories, 1935-1938, in: Getty, A. / Manning, R. (Hg.): Stalinist Terror, Cambridge 1993, S. 142-160. 2 Vgl. Maier, Die Stachanov-Bewegung. 3 Etstaunlicherweise geht Sarah Davies in ihrem Buch: Popular Opinion in Stalin's Russia. Terror, Propaganda, and Dissent, 1934-1941, Cambridge 1997, kaum auf die Konflikte zwischen Arbeitern und Ingenieuren ein und konzentriert sich mehr auf die skeptische Haltung von Arbeitern gegenüber den Stachanovmethoden, siehe S. 32f. 4 Vestnik inienerov i technikov, Nr. 7, Juli 1938, S. 441 f.

Vgl.

on

340

Terror etwa nicht klar, daß der Ingenieur und der Techniker mit größter Bereitschaft und Liebe dem Atbeiter bei diesen Rationalisierungsbemühungen helfen müssen?"6

„Ist

Die Presse postulierte, daß der Ingenieur nicht mehr Leiter und Planer, sondern Handlanger der Stachanovisten sei. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Maschinen umzustellen, Hilfsvorrichtungen anzubringen und die Arbeiter besser einzusetzen. Der Ingenieur müsse sich daran gewöhnen, daß diese organisatorische und produktionsvorbereitende Arbeit seine erste Aufgabe sei, die er nicht zu scheuen habe, auch wenn sie äußerlich „nicht imposant" erscheine und „wenig effektiv" aussehe: „Die hochnäsige Mißachtung der Details, der Wunsch, sich nur mit der ,hohen Politik', nur mit der ,großen' Technik, nur mit der generellen Rekonstruktion zu beschäftigen all das ist charakteristisch für nicht wenige Ingenieure. Es ist an der Zeit zu begreifen, daß es in der Produktion keine Kleinigkeiten gibt: In der Produktion ist alles wichtig. Vom Ingenieur wird gefordert, daß er rechtzeitig zum Arbeiter geht, rechtzeitig dessen Vorschläge anhört und Formen und Methoden für ihre Umsetzung findet."7 Damit wurde in den Medien erneut der Ingenieur als potentieller Feind und Widersacher des Arbeiters entworfen; der alte Antagonismus zwischen Arbeiter und Ingenieur, der bereits während der Kulturrevolution benutzt worden war, um gegen Ingenieure zu mobilisieren, wurde wiederbelebt. Erneut verbreiteten die Medien ein Bild vom Ingenieur, der die Verbindung zu den Arbeitern verloren hatte, mit einer nur ihm verständlichen Technik befaßt war und der es für unter seiner Würde hielt, sich um die Wünsche der Arbeiter zu kümmern. Die Arbeiter waren abermals implizit aufgefordert, sich als eigentliche Herren der Fabriken zu betrachten und ihre Rechte gegenüber den Ingenieuren einzufordern. Den Ingenieuren wurde gedroht, nur wer selbst ein Stachanovist sei, könne von den Arbeitern Respekt verlangen.8 Auf einer Sitzung des Präsidiums des Allrussischen Komitees für technische Hochschulbildung am 26. Januar 1936 erklärte der Vorsitzende Krzizanovskij: „Der Stachanovist ist ein Mensch mit einem eigenen Willen. Er wird Ihnen nicht gehorchen, wenn Sie versuchen werden, ihn zu überzeugen, daß der Hammer so gehalten werden muß, er wird ihn auf seine Art halten. Er ist ein sehr einfacher Mensch. Genosse Stalin hat sehr richtig gesagt, daß diese Menschen keine Führer sind, sondern Menschen, die den direkten Weg kennen."9 Auch der Chefingenieur von „Sibirienmetallbau" und Mitglied des VMBIT, B.A. Mosickij, hielt seinen Kollegen vor, daß es die Schuld der Ingenieure sei, wenn sie mit der Stachanovbewegung nicht zurecht kä-

5

Vgl. Maier, Stachanov-Bewegung, S. Za industrializaciju, 16.19.1935. Za industrializaciju, 16.19.1935. 8

61 ff.

6

9

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 2, Februar 1938, S. 75f.

RGAÉ, f. 8060, VK VTO, op. 1, d. 70, I. 47.

341

Stachanovismus

men.10 Im Umkehrschluß hieß das auch, daß das Versagen des Arbeiters bei der Stachanovarbeit die Schuld des ITR sein mußte, der sich ungenügend gekümmert oder seinen Arbeiter ganz vernachlässigt hatte." Der Vorwurf, die Ingenieure würden die ihnen gestellten Aufgaben weder verstehen noch erfüllen, wurde durchgängig vom Herbst 1935 bis zum Ende des Jahres 1938 aufrechterhalten.12 Der Vestnik inzenerov i technikov ging noch einen Schritt weiter und erklärte, daß viele Posten besser mit Arbeitern als mit ITR besetzt wären. Aus der KolomenskijMaschinenbaufabrik in Kujbysev wurde berichtet, daß eine Normerfüllung von 200 bis 300 Prozent erreicht worden sei, nachdem „gewöhnliche Stachanovarbeiter zu Meistern und Brigadieren, Meister zu Ingenieuren und Ingenieure zu Werksleitern aufgestiegen waren und diejenigen ersetzten, die früher unersetzbar schienen und doch beamtenhaft und beschränkt arbeiteten."13

Entsprechend der Überzeugung, die großen Ingenieure und etablierten Erfinder hätten versagt und seien nicht mehr fähig, die Technik und Wissenschaft zu erneuern, wurde die Gesellschaft der Erfinder aufgelöst und deren Nachlaß den Gewerkschaften übertragen. Das „Massenerfindertum" sollte eine elitäre Erfindergruppe ersetzen, die von „Schädlingen" durchsetzt war und sich von den Massen entfremdet hatte. Die Presse proklamierte, in einer Fabrik, in der es 1 500 Arbeiter und ITR gebe, gebe es folglich 1 500 Erfinder.14 Das bisherige Handeln der Ingenieure wurde als bürokratisch verleumdet und die ITR erneut in die Ecke der unfähigen Theoretiker gestellt. Während dem Ingenieur ein mathematisches, wenig flexibles, in bekannten Formen verharrendes Denken attestiert wurde, galt der Arbeiter ohne den Ballast der Wissenschaft als fähig, die Produktion intuitiv richtig zu regeln.

„Wit Ingenieure und Techniker sind gewohnt, in konkreten Formen und realen Fakten zu denken, die auf Rechnungen und Formeln gegründet sind. Des-

halb kamen wir in eine Sackgasse, als wir mit den Stachanovmethoden konfrontiert wurden. Unsere Gedanken blieben stehen, sie waren auf Widerstand gestoßen und suchten nach einer Formel dafür."15

Charakterisierung der Starrheit der Ingenieure durch Mosickij entsprach dem Bild des Ingenieurs, wie es in der Presse entworfen wurde. Die Za industrializaciju proklamierte, daß die Stachanovbewegung ein Protest gegen die Routine, die geistige Trägheit und die technische StaDiese

10 11

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 18,1.

Vgl. auch Siegelbaum, Lewis

11. H.: Stakhanovism and the Politics of

Productivity

in the

USSR, 1935-1941, Cambridge21990. 12 Za industrializaciju, 16.9.1935; Vestnik inzenerov i technikov. Nr. 4, April 1938, S. 195. 13 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 7, Juli 1938, S. 44If. 14 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 6, Juni 1938, S. 325; Nr. 7, Juli 1938, S. 389ff. 15 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 13, d. 18,1. 10.

342

Terror

gnation sei.16 Der Ingenieur Cukkerman aus der Automobilfabrik in Gor'kij gab zu Protokoll, daß die Stachanovarbeiter die „konservative Psychologie zerschlagen" und neue „Reserven" erschlossen hätten, während sich die Ingenieure früher unter einer niedrigen „Decke" bewegt hätten, die ihr Denken begrenzt habe.17 Diese Meinung äußerte auch der Professor Razdobreev auf der Präsidiumssitzung des Komitees für technische Hochschulbildung: „Ich muß sagen, daß die Stachanovbewegung die Zerschlagung der alten,

zu

niedrigen Normen und der veralteten Kapazitätsgrenzen bedeutet (...)•"" Die Stachanovbewegung habe sich dem Kampf gegen die „Theorie der Grenzen" verschrieben. Wenn sich die Ingenieure in diesen Kampf gegen begrenzende Normen und Vorschriften nicht einschalteten, dann sei das die Schuld der Hochschulen, die sich von der Produktion entfremdet hätten und ihre Zöglinge nicht genügend auf ihre Arbeit als StachanovIngenieure vorbereiteten. Abermals wurde Ingenieuren vorgeworfen, „Rückversicherer" zu sein, die Verantwortung weder für die Stachanovbewegung noch für das Produktionsrisiko übernehmen wollten.19 Wie schon zur Zeit der Verfolgung der alten technischen Intelligenzija wurde auch jetzt wieder die Wissenschaft als schädlich und die alten Formeln und Wissensbestände als veraltet deklariert. Laut wurde gefordert: „Alle Lehrbücher prüfen und neu zusammenstellen", um „übertriebene Wissenschaftlichkeit (akademicnost') und überflüssige Theoretisierung (teoretizirovanie)" zu tilgen.20 Bei einem Empfang im Kreml am 17. Mai 1937 rief Stalin erneut das Primat der Praxis vor der Wissenschaft aus. Die Praktiker seien es, die neue Wege der wissenschaftlichen Technik etablierten. Ihnen folge die Wissenschaft und nicht umgekehrt. Alle „engen Lügentheorien", die „veraltete traditionelle Normen zu absoluten Grenzen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung" erklärten, müßten zerschlagen werden.2I Die Presse pries die Stachanovmethoden als Allheilmittel: Ingenieuren wurde der Weg versperrt, sich bei Produktionsproblemen auf objektive Schwierigkeiten zu berufen, denn alle Instanzen predigten, mit Stachanovarbeit könnte jede Maschine ersetzt, jeder Plan erfüllt und jede Frist eingehalten werden. Ingenieure, die die Einführung der Stachanovarbeit mit dem Hinweis ablehnten, sie würden bisher nicht einmal die Norm erfüllen, belehrte der VMBIT, daß gerade die Stachanovarbeit das Mittel sei, 16 17

18 19 20 21

16.10.1935. 1.5.1936. RGAÈ, f. 8060, VK VTO, op. 1, d. 70,1. 3ff. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 7, Juli 1938, S. 441f. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 2, Februar 1937, S. 123f. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 6, Juni 1938, S. 324.

Za Za

industrializaciju, industrializaciju,

Stachanovismus

343

den Produktionsrückstand zu überwinden.22 Die Za industrializaciju warf den Ingenieuren vor, sie klagten immer noch über fehlende Arbeitskräfte, anstatt auf Stachanovarbeit umzustellen, die zusätzliches Personal erübri-

ge.23

Das Organ des Volkskommissariats für Schwerindustrie forderte die ITR auf, ihr „technisches Gepäck zu überprüfen" und präsentierte 90 Ingenieure, die erfolgreich ihre „Starrheit" überwunden hatten und die

Stachanovbewegung als Geburtshelferin einer neuen Entwicklungsstufe der sowjetischen Ingenieursschaft priesen. Damit wurde der Stachanovismus als neue Stufe im dialektischen Bildungsprozeß des Ingenieurs neuen Typs präsentiert: Der Ingenieur mußte seine Starrheit überwinden, sich die neuen Arbeitsmethoden aneignen und damit eine höhere Arbeitsund Seinsebene erreichen. Scheiterte er an dieser Hürde, wurde er zum Feind der Arbeiterklasse. Die Medien ließen keinen Zweifel daran, daß die ITR nur die Möglichkeit hatten, sich der Bewegung anzuschließen und sie anzuführen oder zu ihrem Feind zu werden: „Das gesamte Kommandopersonal der Industrie, ein jeder Ingenieur und Techniker legt jetzt ein Examen ab. Jedem Ingenieur wird diese Frage gestellt: Entweder er ergreift das Wappen der neuen Bewegung, oder er ist gegen die Bewegung. Einen dritten Weg gibt es nicht. Über die Saboteure und Feinde der Bewegung ist schon genug gesagt worden."24 Die Stachanovarbeit war die neue Meßlatte für die sowjetischen Ingenieure: „Ein Ingenieur, der den Stachanovarbeitem nicht hilft, ist kein sowjetischer Ingenieur."25 Auf diese Weise wurde die Frage der Stachanovarbeit zu einem Kriterium der Unterscheidung zwischen dem „sowjetischen Ingenieur" und dem „Saboteur". Die Überschriften der Za industrializaciju machten den Stimmungsumschwung deutlich: „Gnadenlos die Saboteure vernichten", „Die Stachanovbewegung anführen. Keine Gnade den Saboteuren und Widerständigen", „Die Bürokraten und Saboteure vom heldenhaften stachanovistisch-busyginschen Weg hinwegfegen", „Sabotage in ihren verschiedenen Variationen", „Gnadenlos die Feinde der Stachanovbewegung entlarven. Die Klassenfeinde terrorisieren die Stachanovisten".26 Berichtet wurde von Grubenleitern, die ihren Arbeitern nicht genügend Holz für eine Stachanovschicht zur Verfügung stellten, von Schlossern, die nicht sofort Reparaturen erledigten und so die Stachanovarbeit verhinderten, von Vorgesetzten, die den Arbeitern untersagten, mehr als 175 Tonnen Kohle am Tag abzubauen, wenn diese 300 geben wollten,27 22 23

GARF, f. 5548, VMBIT, op. 14, d. 5,1. 12f

Za Za 25 Za 26 Za 27 Za

industrializaciju, 11.10.1935. industrializaciju, 16.10.1935. industrializaciju, 20.10.1935. industrializaciju, 3., 10., 11., 15. und industrializaciju, 3.10.1935.

18. Oktober 1935.

344

Terror

und von Stachanovarbeitern, die mit Lohnsenkungen bestraft wurden, um sie von neuen Rekorden abzuhalten.28 Ganze ITR-Kollektive inklusive der Partei- und Gewerkschaftsleitung wurden der Sabotage beschuldigt, weil sie nicht die technischen Voraussetzungen für die Stachanovarbeiter geschaffen hätten. Die Strafen waren drakonisch: Abmahnungen, Degradierungen, Entlassungen, Arbeitsverbot und Ausschluß aus der Partei.29 Unter diesem (Ein-)Druck legten mehrere Ingenieure bereits im Oktober 1935 ihr Glaubensbekenntnis ab und bekannten sich demonstrativ und öffentlich zur Stachanovarbeit.30 Daß die Stachanovbewegung den geistigen Stillstand und diejenigen entlarvte, die mit der Bewegung nicht mithalten konnten, wurde auch in Belletristik und Film unterstrichen. In der Erzählung „Ingenieur" (Inzener, 1941) zeigt Jurij Salomonovic Krymov (1908-1941), daß sich die junge Generation der Ingenieure mit der Stachanovbewegung in zwei Gruppen teilt, von denen die größere konservativ ist und ihren ehemals revolutionären Elan verloren hat.31 Während das Gros der Ingenieure überall nur noch „Grenzen" sieht, verteidigt die junge Ingenieurin Anja Mel'nikova den (Stachanov-) Arbeiter, der beim Test einer neuen Produktionsmethode 1 500 Tonnen Rohöl verdorben hat.32 Über das Thema Stachanovbewegung und Stoßarbeit im Bergbau sind gleich drei Filme gedreht worden. Alle drei demonstrieren die der industriellen Entwicklung innewohnende Dialektik: Die gute Idee des Arbeiters stößt auf den Widerstand des in seiner Entwicklung stehengebliebenen Ingenieurs und treibt diesen zur Sabotage. Erst mit der Aufklärung des Verbrechens und der Verhaftung des „Schädlings" wird der Weg für den Triumph der Arbeiter und zu einer neuen Entwicklungsstufe der Wirtschaft freigemacht. Als Klassiker dieses Stachanovgenres gilt B. Barnets Film „Eine Nacht im September" (Noc' v sentjabre, 1939), dessen Titel auf Stachanovs legendäre Nachtschicht anspielt. In diesem Film treten gleich drei Saboteure auf: der Grubenleiter Poplavskij und seine zwei Assistenten Kavun und Vavilov, die zur Verhinderung neuer Rekorde „das ganze Arsenal ihrer schmutzigen Waffen zum Einsatz [bringen]: Verleumdung, Diversion, Betrug, Mord": Sie schalten die Frischluftzufuhr für die Gruben ab, ersetzen die Stützbalken durch morsches Holz und planen, den Schacht zu sprengen, doch der NKVD greift rechtzeitig

28

29 30 31

industrializaciju, 20.10.1935; 18.12.1935. industrializaciju, 10.10.1935. industrializaciju, 21. und 22.10. 1935. Krymov, Jurij Salomonovic: Inzener, S. 270,

Za Za Za

1957, S. 215-347. 32 Krymov, Inzener, S. 273, 310.

in: ders.: Tanker

„Derbent". Inzener, Moskau

Stachanovismus

345

ein und verhaftet die drei Ingenieure zum Schutz der Arbeiter.33 Auch in S. Jutkevics Film „Bergleute" (Sachtery, 1937) wehrt sich der Grubenleiter Cub gegen jede Veränderung in „seinem" Schacht und lehnt die Rationalisierungsvorschläge der Arbeiter einen nach dem anderen ab. Seine mangelnde Anpassungsbereitschaft macht ihn zu einem willigen Werkzeug von Trotzkisten: Er wird zum Saboteur und schließlich vom NKVD verhaftet.34 In L. Lukovs Film „Ein großes Leben" (Bol 'saja zizn ', 1940) ist es ebenfalls der alte Chefingenieur, der den neuen Methoden nicht mehr folgen kann und schließlich zusammen mit zwei Kulaken die Abstützungen der Stollen wegschlägt, um die Stachanovarbeit als gefährlich und riskant zu desavouieren. Sie werden enttarnt und verhaftet.35 Aber nicht nur bezogen auf Bergarbeiter wurden solche Szenarien präsentiert: E. Cerjakovs Film „Eine Sache der Ehre" (Cest', 1938) überträgt die gleiche Figur auf die Lokführer, die für schnellere Transportgeschwindigkeiten kämpfen und dabei ebenfalls von alten Ingenieuren sabotiert werden: Der Depotleiter, Spion und Feind Klycko plant einen Zusammenstoß zweier Züge, um einen neuen Rekord zu verhindern; das Unglück kann nur durch die Wachsamkeit des Maschinisten in letzter Minute verhindert werden. Auch hier muß der NKVD eingreifen.36 Diese Filme verbreiteten im ganzen Land die Vorstellung, die Ingenieure würden angesichts der Stachanovarbeit zu Saboteuren mutieren; das Gros der älteren, aber auch ein Gutteil aus der jüngeren Generation sei nicht in der Lage, den nächsten Schritt der Revolution der Industrie und des Menschen nachzuvollziehen und müsse als Hindernis und Gefahr für die Stachanovbewegung vom NKVD aus dem Weg geräumt werden. Von den Ingenieuren und Ingenieurinnen berichten nur wenige in ihren Erinnerungen über die Stachanovbewegung. Dabei muß bedacht werden, daß die arrivierten Ingenieure wie Loginov oder Pozdnjak in den Verwaltungen kaum noch Kontakt zu Arbeitern hatten. Abgesehen davon war es ein ungebrochenes Tabu unter sowjetischen Ingenieuren, sich über Arbeiter zu beschweren oder Stoßarbeit zu verurteilen. Eine große Seltenheit stellen die Aussagen des Ingenieurs Gracev, Direktor einer Papierfabrik (geb. um 1908), dar, der in seinen publizierten Memoiren zwar 33

Barnet, Boris Vasil'evii (1902-1965): Materialy k retrospektive fil'mov, hg. vom Muzej Kino Moskau, Moskau 1992, S. 12-13; Noc' v sentjabre, Mosfil'm Moskau 1939, Regie: B. Barnet, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 203-204. 34 Sachtery, Lenfi'lm Leningrad 1937, Regie: S. Jutkevic, Nachweis: als Video in eigenem Besitz. 35 Bol'saja zizn', 1. Teil, Kievskaja Kinostudija Kiev 1939, Regie: L. Lukov, Nachweis: als Video in meinem Besitz. 36 Cest', Mosfil'm Moskau 1938, Regie: E. Cervjakov, Nachweis: Videothek im Kinozentrum, Moskau.

346

Terror

vorsichtig,

aber eindeutig die Zwickmühle und Gefahr skizziert, die Stachanovarbeit für Ingenieure bedeuten konnte. Nachdem seine Fabrik von Stalin persönlich aufgefordert worden war, mehr Papier herzustellen, hatten die Arbeiter von den Ingenieuren verlangt, die Maschinen so umzurüsten, daß 200 Meter Papier pro Minute produziert werden könnten. Doch das technische Personal warnte: „Der Enthusiasmus hält das aus, aber die Riemen nicht."37 Stalin habe angesichts dieser Lage gefordert, daß „die Wissenschaft" von „der Praxis und Erfahrung" bestätigt werden müsse und entsprechend die Ingenieure den Arbeitern nachzugeben hätten. Gracev löste diese brenzlige Situation, indem er eine dritte Gruppe anerkannte Fachleute heranzog, denen es gelang, die Maschinen so anzupassen, daß mehr Papier produziert werden konnte, ohne daß die technische Ausrüstung darunter zusammenbrach. Von den hier vorgestellten Ingenieuren und Ingenieurinnen thematisieren einzig Fedorova, Bogdan und Calych die Stachanovarbeit. Fedorova war zur Zeit der Bewegung noch Arbeiterin und selbst Stachanovistin, die von den Auszeichnungen und materiellen Privilegien profitierte.38 Ihr Bericht über den sozialistischen Wettbewerb ist von Enthusiasmus geprägt. Gleich im Herbst 1935 übernahm sie die neue Arbeitsmethode bei der Abdichtung der Tunnel. Ihre Brigade arbeitete mit dem Preßlufthammer über dem Kopf, während das Wasser in Strömen auf sie floß. Die Röhre wurde abgeschliffen und mit Zement und Blei abgedichtet. Die jungen Frauen machten diese Arbeit, für die sie Sonderrationen Milch bekamen, im Akkordtempo und erfüllten die Norm laut Fedorova erst zu 250, dann zu 300 und schließlich zu 400 Prozent. Als Belohnung wurden ihr und ihren Kolleginnen nicht nur das Ehrenzeichen vom Volkskommissar persönlich überreicht, sondern sie wurde auch als Kandidatin für den Obersten Sowjet aufgestellt und zum Studium an das MUT abgeordnet.39 Bogdan gibt einen ambivalenten Eindruck von der Stachanovarbeit, denn obwohl sie die neuen Methoden haßte, wurde sie selbst als stoßarbeitende Ingenieurin mit dem gleichen Orden wie Fedorova ausgezeichnet. In ihrer Verachtung für die Stachanovisten witzelten Bogdan und ihre Kollegen sogar darüber, wie man einen „Hastigen" (spesascij) erkennen könne: „Ganz einfach. Man geht zu ihm und spuckt ihn an, wenn es zischt, ist es ein -

-

echter Stachanovist: Er brennt vor Enthusiasmus, wenn nicht, dann tut er nur so, dann ist er kalt, ein Scharlatan und führt Partei und Regierung in die Ir-

Gracev, Doroga, S. 108ff. Fedorova, Naverchu, S. 36. Fedorova, Naverchu, S. 67ff., 95; Dni i gody, S. 149.

Bogdan, Mimikrija, S.

183.

Stachanovismus

347

Bogdan war die Stachanovarbeit die institutionalisierte Katastrophe, durch die Havarien und Ausschuß nicht mehr nur ab und an, sondern systematisch verursacht wurden, der sich Ingenieure nicht mehr entziehen konnten, weil sie sonst als Saboteure der Bewegung angezeigt worden wären. Der Mann ihrer Freundin, Oleg, Leiter einer Raffinerieabteilung, war ums Leben gekommen, weil er sich nicht getraut hatte, einer Stachanovarbeiterin die unsachgemäße Benutzung einer Maschine zu verbieten. Sie hatte für die Produktivitätssteigerung einen Arbeitsvorgang abgekürzt, siedendes Öl auf Wasser gegossen und so eine Explosion verursacht, in deren Folge Arbeiterin und Ingenieur starben. Oleg lag noch mehrere Tage im Krankenhaus unter Bewachung des NKVD, der einen Fall von „Schädlingstum" vermutete und Bogdans Freundin keinen unbewachten Zutritt zu ihrem Mann gewährte.41 Auch bei ihrer eigenen Arbeit war Bogdan immer wieder damit konfrontiert, daß sich Stachanovarbeiter und -arbeiterinnen über Vorschriften hinwegsetzten und in ihrem Bestreben, schneller zu arbeiten, Unfälle verursachten und Maschinen ruinierten. Ein Arbeiter beschädigte die Nudelpresse, als er für eine Produktionssteigerung die Sicherheitsvorrichtung ausschaltete. Der Druck auf die Form wurde so groß, daß sie zerbarst. Da der Arbeiter aussagte, die Schutzvorrichtung sei ohne sein Zutun ausgefallen, erhielt der Chefingenieur Serb die Abmahnung.42 In einem anderen Fall schnitt sich eine Arbeiterin eine Fingerkuppe ab, als der Teigzufluß zur Nudelschneidemaschine verstopfte. Um die Produktion nicht zu stoppen und ihre Normerfüllung nicht zu gefährden, griff sie bei laufendem Betrieb in die Maschine und verletzte sich prompt. Auch anläßlich dieses Unfalls wurde nicht die Arbeiterin gerügt, sondern die Ingenieure bekamen die Anweisung, die Sicherheitsvorkehrungen der gesamten Fabrik zu überprüfen.43 Besonders verhaßt waren Bogdan die „Rationalisierungsvorschläge", die die Arbeiter und Arbeiterinnen im Zuge der stachanovistischen Produktionsbeschleunigung dem technischen Personal vorlegten. Beseelt von dem Geist, sie seien die wahren Erfinder und Kenner der Technik, traten sie oft dreist und herrisch auf, so Bogdan. Die Vorschlagenden hatten ein großes Interesse an der Umsetzung ihrer Ideen, weil sie dafür Prämien bekamen. Bogdan beschreibt einen ständigen Konfliktherd; sie war im Kombinat dafür zuständig, die Vorschläge zu prüfen und über sie zu entscheiden, und es kostete sie viel Kraft und Nerven, den von sich selbst eingenommenen Erfindern klar zu machen, daß es ihre Kreationen längst gab bzw. sie zur Routine gehörten. So hatte Bogdan Schwierigkeiten, eine Arbeiterin davon zu überzeugen, daß eine automatische SchneidemaFür

41

Bogdan, Mimikrija, S. 28f. Bogdan, Mimikrija, S. 208. 43 Bogdan, Mimikrija, S. 270. 42

348

Terror

schine schon

längst entwickelt sei, und mußte Buch über Buch vor der Frau ausbreiten, bis sie ihr glaubte, daß eine solche Automatisierung in ihrer Fabrik nicht durchzuführen sei. Eine andere Arbeiterin mußte sie darauf hinweisen, daß ihr Vorhaben, die Maschine bei voller Auslastung funktionstüchtig zu halten, keine Optimierung, sondern Mindestanforderung an ihre Tätigkeit sei. Die Arbeiterin drohte daraufhin, Bogdan beim NKVD anzuzeigen.44 Besonders entsetzt war Bogdan darüber, daß sich ihr eigener Bruder als überzeugter Stachanovarbeiter entpuppte, der die gleichen riskanten Arbeitsmethoden wie Bogdans Arbeiter/innen in der Fabrik praktizierte: Um eine Lok zu schweißen, wartete er nicht, bis der Heizkessel abgekühlt war, sondern kroch in Lappen gewickelt in den heißen Innenraum, wo er „wie ein Hund in der Hölle" arbeitete und so mehrere Stunden einsparte. Bogdan war empört und hielt ihm vor, daß seinetwegen die Normen erhöht oder künftig auch ältere Arbeiter in die heißen Loks geschickt würden, die nicht das gleiche Geschick bei der Arbeit wie er hätten und sich verletzen würden.45 Doch letztlich war sie selbst Stachanovistin, ohne allerdings ihren Prinzipien als Ingenieurin untreu zu werden. In einer Zeit, in der vorbildliche Arbeit als Stachanovarbeit gefeiert wurde, konnte oder wollte Bogdan nichts dagegen ausrichten, daß auch ihre Tätigkeit als Stachanovarbeit ausgezeichnet wurde. Als 1938 der Chefingenieur des Trusts, Peckin, Bogdan aufforderte, für ihr Kombinat neue Nudelpressen zu konstruieren, um mehr als nur zwei Tonnen Makkaroni am Tag herstellen zu können, willigte Bogdan mit Freude ein, während der Chefingenieur Serb ihr entsetzt vorhielt: „Teuerste Valentina Alekseevna, das ist doch keine Lösung des Problems. Für die neuen Pressen werden wir einen neuen Plan bekommen, den man wieder wird übererfüllen müssen. Wir installieren neue Pressen, dann reichen die Trockengeräte nicht, wir installieren stärkere Trockengeräte, dann reicht die Verpackungsabteilung nicht mehr, und man wird sagen: Bau eine Brücke in den Himmel!"46

Doch Bogdan und ihr Techniker Ja.P. Strjuckov ließen sich davon nicht beirren und nahmen auch den Auftrag an, neue Siebe zu bauen, damit die Mühle statt 100 Tonnen Mehl 150 mahlen könne. Diese Konstruktionsarbeit wurde zur Stoßarbeit erklärt: Die übliche Frist wurde erheblich verkürzt und Bogdan und ihr Kollege nach erfolgreichem Abschluß mit einer Prämie belohnt.47 Für die erste erfolgreich installierte hydraulische Presse, die die dreifache Leistung der alten erbrachte, wurden beide mit dem Abzeichen für Stachanovisten ausgezeichnet.48 Bogdan war damit unwillent44

Bogdan, Mimikrija, S. 139ff. Bogdan, Mimikrija, S. 213f. 46 Bogdan, Mimikrija, S. 164. 47 Bogdan, Mimikrija, S. 107f, 117. 48 Bogdan, Mimikrija, S. 191f. 45

Stachanovismus

349

lieh zur Stachanov-Ingenieurin avanciert. Ihre Arbeitshaltung, die sie selbst als antistachanovistisch betrachtete, integrierte sie in die Bewegung und damit in die Gesellschaft. Während die Stachanovarbeit derart für Bogdan bemerkenswerterweise positive wie negative Momente enthielt, ist es Calych, der nur die bedrohlichen Seiten dieser Bewegung sah. Konnte er alle anderen Maßnahmen wie das Ausprobieren und die Mangelsituation nicht nur verstehen, sondern auch als Teil seiner Erfolgsgeschichte erzählen, ist die Stachanovzeit für ihn eine Phase, die sich nicht in seine sonstige Erzählung integrieren läßt und sichtbar den Charakter einer Ausnahmesituation hat, da ihn die verschärften Arbeitsbedingungen an den Rande der Verhaftung brachten. Obwohl sein Werk, die Celjabinsker Elektrodenfabrik, damals gerade erst „geboren" wurde und die Produktion noch in den „Kinderschuhen" steckte, nahmen die Behörden zur Zeit der Stachanovarbeit keine Rücksicht und verlangten vollkommen unrealistische Produktionser-

gebnisse:

„Es wurden Zusammenkünfte, Versammlungen, Sitzungen veranstaltet. Die

der Rekord-Manie begünstigte vielfältige Regelverstöße in der Produktion. Auf einer Versammlung der führenden Fabriken in Moskau wurde im Protokoll die Empfehlung festgehalten, den Vorgang des Brennens der Elektroden zu beschleunigen, um die Produktivität zu steigern. Dies war eine verhängnisvolle Vorgabe, der sich die Planungsorganisationen bedienten. Niemals werde ich diese schwersten Prüfungen vergessen, die durch die katastrophale Lage, in der sich die Fabrik befand, hervorgerufen wurde. Sie bekam ein so hohes Plansoll aufgetragen, daß die Erfüllung unmöglich war. Wir lehnten dies kategorisch mit dem Hinweis ab, daß wir für eine so hohe Produktivität die Dauer des Brennens so drastisch verkürzen müßten, daß wir Gefahr laufen würden, nur Ausschuß zu erhalten. Unsere Proteste verhallten wie ,die Stimme in dei Wüste'. Man weigerte sich, unseren Protest zur Kenntnis zu nehmen. Die Folgen waren sehr schwer: Wir erhielten hundertprozentigen

Atmosphäre

Ausschuß."49

Calych ist damit neben Gracev einer der wenigen Ingenieure, die die Bedrohlichkeit der Situation zum Ausdruck bringen. Außer Fedorova begriff keiner der Ingenieure oder Ingenieurinnen, die ihr Leben als dialektischen Reifungsprozeß schildern, den Stachanovismus als weitere Stufe ihrer Reifung. Obwohl als solche öffentlich dargestellt, war hier der Punkt erreicht, an dem viele Techniker und Technikerinnen nicht mehr folgen konnten, weil sie die Stachanovbewegung ausschließlich als Bedrohung wahrnahmen. Das angebotene Interpretationsmuster war nicht mehr mit ihrer Erfahrung in Übereinstimmung zu bringen. Die Stachanovbewegung war eine Zuspitzung und Verschärfung besonders der Lage der Ingenieure, die gezwungen waren, va banque zu spielen: Weigerten sie sich, den riskanten „Methoden" der Arbeiter nachzugeben, konnten sie als „SaboCalych, S. 60.

350

Terror

Stachanovbewegung" angeklagt werden. Ließen sie die Stachagewähren, wurden sie für die eintretende Katastrophe zur Verantwortung gezogen. Darüber hinaus baute die Stachanovbewegung die alten Fronten zwischen Arbeitern und Ingenieuren neu auf. Der nette, lustige Ingenieurskollege, wie er mit dem Ingenieur Karasik in „Der Torhüter" gezeigt worden war, wurde in Presse und Kino erneut von finsteren, verschlagenen Ingenieursgestalten abgelöst, die die gleiche Fratze wie die vorrevolutionären Ingenieure zeigten: in alten Theorien verharrend, innovations- und arbeiterfeindlich, vor Sabotage und Mord nicht

teure der

novisten

zurückschreckend.

Sergo Ordjonikidze

351

2) Sergo Ordjonikidze Schutzpatron der Ingenieure -

Aber die Ingenieure waren den Anfeindungen, Anschuldigungen und Anklagen nicht schutzlos ausgeliefert. Das wollen jedenfalls die kommunistischen Ingenieure Glauben machen. Ihren Berichten nach gab es eine Instanz, die die dreißiger Jahre hindurch schützend ihre Hand über sie hielt: Georgij Konstantinovic Ordjonikidze (1886-1937), von den Ingenieuren bei seinem Spitznamen liebevoll „Sergo" genannt, der Volkskommissar für Schwerindustrie (1930-1937).' Die Figur Sergo war schon zu Lebzeiten ein Mythos, der sich nach seinem tragischen Tod am 17. Februar 1937 noch verfestigte. Offiziell starb der Volkskommissar im Alter von 50 Jahren an den Folgen einer Herzschwäche. Tatsächlich beging er Selbstmord, nachdem er hilflos hatte ansehen müssen, wie sein Stellvertreter Georgij Leonidovic Pjatakov (1890-1937) neben einer Reihe weiterer enger Mitarbeiter im zweiten Moskauer Schauprozeß im Januar 1937 als Volksfeind zum Tode verurteilt worden war.2 Bis heute gibt es allerdings immer wieder Behauptungen, Ordjonikidze sei im Auftrag Stalins ermordet worden.3 Sein früher Tod rief aber nicht nur Spekulationen hervor, sondern eignete sich auch, Ordjonikidze als Märtyrer erscheinen zu lassen, der für seine Ingenieure gestorben sei. Einer solchen Verklärung ist die Annahme eines hinterhältigen Mordes dienlicher als die eines Selbstmords. Bis heute ist der Mythos Ordjonikidze als Beschützer der Ingenieure, größter Industrialisierer und gerechter Übervater ungebrochen. Dabei ist die Figur des Volkskommissars für Schwerindustrie Ordjonikidze doppelt besetzt und vereinnahmt: Partei und Regie'

Vgl.

auch

Fitzpatrick,

Sheila:

Intelligentsia

and Power. Client-Patron Relations in Stalin's

Russia, S. 38, in: Hildermeier, Manfred (Hg.): Stalinismus vor dem zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 43, München 1998, S. 35-54. 2

Vgl. Chlevnjuk, Stalin i Ordjonikidze, S. 89; Rogovin, Vadim: 1937, Moskau 1996, S. 181. So berichtet Tocinskij: „Ich muß Ihnen sagen, daß ich 1937 verhaftet wurde, und als man mir sagte, daß Sergo seinem Leben ein Ende gesetzt habe, konnte ich das nicht glauben, denn 3

ich

in seinem Büro in dem Moment, als er die Nachricht über den Selbstmord Gamarniks aus seinem Mund hörte ich, wie er einen Menschen beurteilte, der nicht ertrug, was er auf sich zukommen sah, und deshalb seinem Leben ein Ende setzte." (Allerdings starb Jan B. Gamarnik nach Ordjonikidze; evtl. handelt es sich hier also um V.V. Lominadze.) Tocinskij berichtet, die Frau Ordzonikidzes, Zinaida Gavrilovna, habe ihm 1952 anvertraut, daß sie sofort, nach dem sie ihren Mann tot aufgefunden hatte, Stalin anrief, der sie beschuldigte, sie habe ihn in den Selbstmord getrieben, RGAÉ, f. 501, Luk'janov, Pavel Mitrofanoviö, op. 1, d. 63: Tocinskij, Antonij Severinovií: O Sergo, I. 5f. Nach der (fiktiven) Darstellung Anatolij Rybakovs in seinem Roman „Stadt der Angst" wurde der Volkskommissar Ordzonikidze von einem Boten Stalins erschossen. Rybakov, Anatolij: Stadt der Angst, München 1994 (Originalausgabe unter dem Titel „Strach" 1991), S. 159f. war

erhielt, und

352

Terror

rung verherrlichten ihn zu Lebzeiten wie nach seinem Tod als größten Förderer der sowjetischen Industrie, da Ordzonikidze offiziell nie in Ungnade fiel. Dieser Lobpreisung schlössen sich sowjetische Ingenieure nicht nur an, sondern entwickelten parallel eine eigene Huldigungspraxis für ihren Sergo. Im Gegensatz zu den offiziellen Verehrungen Ordzonikidzes erscheinen die Einlassungen der Ingenieure mitunter als ein Mittel, um implizit Kritik an oder Distanz zu anderen Parteiführern, allen voran

Stalin, zu transportieren. In der Öffentlichkeit wurde Ordzonikidze besonders für die Durchsetneuen Ingenieurs- und Arbeitsstils gelobt: „Planmäßig, Schritt für Schritt, hat er die Wirtschaftsführer und Ingenieure zu bolschewistischen Kadern geformt, die Routine und Trägheit vieler Menschen gebrochen; er hat gelehrt, den bolschewistischen Schwung mit der amerikanischen Tüchtigkeit zu verbinden und hat den Wirtschaftsführern den lenin-

zung des

schen, stalinschen Arbeitsstil beigebracht."4

Ordzonikidze wurde als der „großartige Ingenieur des Sozialismus" gefeiert, als der „Liebling der Arbeiterklasse" und der „Inspirator der Hausfrauenbewegung", als der Mann, mit einem „erstaunlichen Verstand", dessen „Wort wie ein Gesetz" galt und der den Ingenieuren beibrachte, von den Stachanovisten zu lernen.5 Auch in Film und Literatur trat der Volkskommissar auf: Der Schriftsteller Krymov ließ Ordzonikidze in ,Jnzener" als Mann, der große Auftritte nicht liebt, dafür aber genau weiß, wo er eingreifen muß, in eine Fabrik spazieren und ihn dort Recht sprechen.6 Der Regisseur Barnet, der Ordzonikidze in seinem Film „Eine Nacht im September" auftreten ließ,7 beabsichtigte den Volkskommissar wie folgt darzustellen: „Ein herzlicher und warmer Mensch, Vater und Freund, der so selbstlos das sowjetische Volk liebte, ein unvetsöhnlicher und unerschütterlicher Bolschewik, ein flammender Tribun, der zu immer neuen Siegen des Sozialismus rief,

und ein unerschrockener Kämpfer gegen die Volksfeinde das ist das Bild Sergos. Wir wollten deutlich und wahrheitsgemäß zeigen, (...) wie liebevoll er die ersten Triebe der neuen echten sozialistischen Einstellung zur Arbeit in Schutz nahm."8 -

Schließlich

huldigten viele der großen Ingenieure „ihrem" Volkskommis-

sar:

„Et zeigte uns den witklichen Stalinschen Arbeitsstil: hohe Anforderungen stellen, hart in der Sache sein und gleichzeitig Einfühlsamkeit, Weichheit und Hetzlichkeit den Menschen, ihren Bedürfnissen und ihren Familien gegenüber

zeigen."9

Wie 4

Serebrovskij hielt auch Frankfurt große Stücke auf Ordzonikidze:

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 2, 1938, S. 74. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 4, 1937, S. 213. 6 Inzener, S. 306. Krymov, 7 Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 204. Maceret, 8 S. 13. Barnet, Materialy, 9 Serebrovskij, A.P.: Na zolotom fronte, Moskau, Leningrad 1936, S. 374. 5

353

Sergo Ordjonikidze an, und am nächsten Tag wußten die Kommissioschon Bescheid und unterbreiteten ihre Vorschläge, wie zu helfen sei."

„Er hörte sich alles genau nen

Gugel' reihte sich in den Chor ein: Der Volkskommissar sei immer für sie und ihre Sorgen auf Magnitostroj dagewesen und habe für Abhilfe gesorgt." Jede Nacht sei er von ihm angerufen und nach den Fortschritten von Magnitostroj befragt worden.12 Diese besondere Rolle Ordzonikidzes unterstreichen nicht nur die bereits in den dreißiger Jahren publizierten Memoiren, sondern auch Berichte von Ingenieuren, die in der Tauwetterphase ihre Erinnerungen festhielten, wie Bardin und Antonij Severinovic Tocinskij (1888-1969), der Stellvertreter Ordzonikidzes war und 1937 selbst verhaftet wurde. Sie beschreiben Ordjonikidze nicht nur als Helfer und Freund der Ingenieure, sondern implizit auch als Gegenbild zu Stalin oder anderen Parteiführern. Anders als letztere habe Ordjonikidze nicht willkürlich gehandelt, sei den Leuten nicht in den Rücken gefallen, habe Ideale besessen und sich bei anderen entschuldigt, wenn er sich geirrt hatte.13 Gerade Tocinskij beschrieb in seiner Rede zum 75. Geburtstag Ordzonikdzes 1961 den Volkskommissar als verläßliche und vertrauenswürdige Instanz: „Sergo konnte alle Fehler verzeihen, aber keine Lügen. (...) Er war keiner der Volkskommissare, der zu den Direktoren sagte, alles in Ordnung, alles wird gut, und, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatten, einen Knopf drückte und sagte: Entlassen!"14 Bardin berichtet, wie Ordjonikidze die Ruhe bewahrte, selbst wenn Ingenieure unter Druck gerieten, weil die von ihnen errichteten Fabriken stillstanden: „Winter 1933. Kuzneck und die Magnitka arbeiteten entsetzlich. Die Ungläubigen bekamen den Eindruck, daß wir jeden Winter ausfallen und nur sommers würden arbeiten können. Es wurde geflüstert, seht, dort haben sie nun Fabriken hingesetzt, die aber nur eine unbedeutende Zeit lang arbeiten können, deren Technik angeblich amerikanisch ist, aber das Klima ist eben russisch, sibirisch. Von diesen Reden wußte auch Sergo. (...) Er war ganz ruhig; es war zu merken, daß ihm all das sehr schwer Leute arbeiteten, und er machte uns Mut."15

fiel, aber

er

wußte, daß die

Als „Seele und Stütze" der Baustellen schildern die Ingenieure den Volkskommissar.16 Als typisches Merkmal Ordzonikidzes nennt Tocinskij, daß der Volkskommissar sich uneingeschränkt Zeit nahm, um 10 "

Frankfurt, Gigant, S. 261.

Gugel', Vospominanija, S. 347f. Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 145; Gugel', Vorspominanija, S. 346. Serebrovskij, Na zolotom fronte, S. 373; RGAÈ, f. 137, Tocinskij, A.S., op. 1, d. 25: „Vospominanija o Sergo Ordjonikidze, 1966-67", 1. 16, 28; Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O 1. 6. Sergo, 14 op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 8. Luk'janov, 15 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 145. 16 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 194. 12

13

354

Terror

seine

Ingenieure und ihre Probleme anzuhören.17 Er bestätigt damit Serebrovskijs Bericht, die Ingenieure seien so daran gewöhnt gewesen, Sergo ihr Leid klagen zu können und von ihm nicht nur Trost, sondern auch Material, Kader und

was immer sie brauchten zu erhalten, daß sein Sekretär Semuskin gezwungen gewesen sei, viele einfach nicht vorzulassen, damit der Volkskommissar auch noch zu anderen Dingen käme. Aber die Wirtschaftsführer und Spezialisten hätten sich nicht abweisen lassen und statt dessen den Volkskommissar auf dem Flur abgefangen.18 Ordzonikidze wird als ein Mann dargestellt, der bei den Fabrikbesichtigungen sich nicht an die Rundgänge der Gastgeber hielt, sondern instinktiv den Weg in die problematischen Ecken fand.19 Tocinskij berichtet als ständiger Begleiter des Volkskommissars von vielen solchen Fällen, in denen letzterer auf eigene Faust über das Fabrikgelände streifte, unmenschliche Zustände fand und dann die verantwortlichen Direktoren und Ingenieure seinen Zorn spüren ließ: „Normalerweise fragte er abends um 11.00 Uhr: .Genosse Tocinskij, sind Sie noch nicht müde?' ,Nein.' .Gehen wir in die Fabrik!' Und er ging nicht dahin, wohin ihn morgens die Leitung geführt hatte, sondern dahin, wo Unordnung herrschte, um sich anhand der Fakten von der Lage der Produktion, der Menschen und der Betriebskultur ein Bild zu machen."20 Ordzonikidze habe sich immer auch bei den Arbeitern erkundigt, ob sie mit der Versorgung zufrieden seien, sie in ihren Behausungen besucht, die Kantinen und die Selbstversorgungseinrichtungen geprüft. Dabei habe er sowohl dem einfachen Arbeiter als auch dem alten Ingenieur geholfen.21 Wenn er Schlamperei und Gleichgültigkeit entdeckte, dann war er so wütend und enttäuscht, daß er auch vor Entlassungen und Versetzungen nicht zurückschreckte.22 Gugel' und sein Team nannte er „Betrüger", als sie das Kombinat in Magnitogorsk nicht rechtzeitig fertig stellen konnten.23 Es scheint, als gestanden ihm die Ingenieure zu, solche Beschuldigungen zu erheben, weil sie an die Aufrichtigkeit seiner Enttäuschung und seiner Industrialisierungsleidenschaft glaubten. Er entließ nur Leute, die nicht den gleichen Enthusiasmus für die Industrialisierung wie er zeigten, so Tocinskij, und Bardin pflichtet bei, er habe Deserteure und diejenigen, die ihm eine direkte Anwort verweigerten, gehaßt.24 Ordzonikidze war in den Augen dieser Ingenieure schließlich nicht nur ihre Anlaufstation und letzte Rettung bei der Industrialisierung, sondern -

17

-

Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 3. Na zolotom fronte, S. 371. Serebrovskij, 19 Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 147. 20 Luk'janov, op. I, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 6. 21 1. 8; Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 196. Tocinskij, 22 1. 4ff; Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 6ff. Tocinskij, 23 O vremeni, S. 274; Gugel', Vospominanija, S. 349. Emel'janov, 24 Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 8; Bardin, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 200. 18

Sergo Ordjonikidze

355

derjenige, der die Ingenieure vor der Verfolgung durch die Geheimpolizei schützte. Tocinskij behauptet, es sei Ordjonikidze gewsesen, der 1931 die Wende in der Politik gegenüber den alten Ingenieuren herbeigeführt habe.25 Der Volkskommissar sei überzeugt gewesen, daß die Metallfabriken in Folge der Sachty-Affäre „entsetzlich gelitten" hätten,26 und habe sich daher nach Kräften bemüht, geschehenes Unrecht rückgängig zu machen. Immer wieder hätte er sich beim Chefankläger Andrej Januar'evic Vysinskij (1883-1954) für verhaftete Ingenieure eingesetzt: auch

„Genosse Vysinskij, hör

Metallurgie-Branche.

Organe verfolgen die Angestellten der Enakievskij-Fabrik ist der und der Leiter des Ei-

zu, Deine

In der

senbahnwerks ohne ausreichende Begründung zu fünf Jahren verurteilt worden. Ich bitte Dich, gib eine Anordnung, laß die Fakten überprüfen und halte meine Leute nicht umsonst gefangen."27

In den meisten Fällen seien die Betroffenen freigekommen, so Tocinskij, und Ordjonikidze habe sich auch nach deren Freilassung um sie gekümmert, ihnen Arbeit verschafft, sie bei Bedarf zur Kur geschickt oder ihnen Geld gegeben. Die neu einsetzende Verfolgung von Ingenieuren sei schließlich dafür verantwortlich gewesen, daß Ordjonikidze schließlich das Vertrauen und den „Glauben" an Stalin verloren habe: „Ich hörte oft, wie das Telefon klingelte, Tag und Nacht, und aus der Art der Begrüßung hörte ich, daß es Stalin war. Bis 1936 merkte ich, wie Sergo sich dann freute, wie seine Augen strahlten; die Liebe war zu sehen. Aber nach seiner Rückkehr aus dem Süden 1936 merkte ich eine spürbare Veränderung: Dieses Glühen, mit dem er früher Fragen besprochen hatte, war verloren gegangen. Als wir den dritten Fünfjahrplan besprachen, war klar: Das war nur noch Pflicht für ihn."28 Ordjonikidze habe kurz vor seinem Tod gesagt, daß er nicht glauben könne, daß die Industrie, die zwei Fünfjahrpläne lang die Pläne erfüllt habe, von „Schädlingen" durchsetzt sei. Er habe es nicht über sich gebracht, diejenigen zu verleumden, die alles für die Industrialisierung des Landes gegeben hatten. Dennoch habe Stalin ihn zwingen wollen, auf dem bevorstehenden Februar-März-Plenum des Politbüros ein Referat über das „Schädlingstum" zu halten.29 Dieser Entwurf des Schutzengels der Ingenieure ist keine reine Fiktion oder das Produkt reinen Wunschdenkens. Der Politbüro-Spezialist Oleg Chlevnjuk ist zu dem Schluß gekommen, daß Ordjonikidze tatsächlich „seine" Ingenieure und Wirtschaftsführer „aktiv und aggressiv" vertei-

Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 4. Luk'janov, op. I, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 3. 27 1. 20ff. Tocinskij, 28 Luk'janov, op. 1, d. 63: Tocinskij, O Sergo, 1. 5. 29 Luk'janov, op. I, d. 63: Toíinskij, O Sergo, 1. 6. Vgl. dazu auch Chlevnjuk, Oleg: Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998, 26

S. 237.

356

Terror

digte und im August 1933 deshalb erstmals mit Stalin in Konflikt geriet.30 Das Volkskommissariat für Schwerindustrie habe immer wieder in Prozesse, die gegen Ingenieure geführt wurden, eingegriffen und versucht, seine Mitarbeiter aus der Schußlinie zu nehmen. Aber ab 1936 habe er nicht mehr den gleichen Erfolg darin gehabt, seine Hand schützend über die ITR zu halten, so daß er z.B. machtlos zusehen mußte, als von seinen 823 Mitarbeitern 56 ihrer Posten enthoben wurden.31 Auch die vielen Maßnahmen, die Ordzonikidze anordnete, um in Bedrängnis geratenen oder verhafteten Ingenieuren zu helfen, zeigen, daß er sich für seine Ingenieure einsetzte.32 Allerdings rekonstruierten die Ingenieure die Taten Ordzonikidzes nicht kritisch, sondern ließen einen Menschen entstehen, der für sie die Sowjetunion vor ihrem „Sündenfall" verkörperte. Indem sie sich ganz auf den Volkskommissar konzentrierten und ihn als tragende Gestalt der dreißiger Jahre begriffen, konnten sie weiter an diese Epoche als große Zeit glauben, an eine Zeit, in der die Ideale Gerechtigkeit, Engagement und Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit und Herzlichkeit hießen, die sie alle in Ordzonikidze verkörpert sahen. Insofern war der Volkskommissar die optimale Projektionsfläche für ihre Wünsche und Sichtweisen der Zeit der ersten zwei Fünfjahrpläne. Die Ingenieure benutzten das offizielle Bild vom „stalinschen" Ordzonikidze und implantierten ihr eigenes Ideal vom an den Säuberungen nicht beteiligten Sergo. Von den hier vorgestellten Ingenieuren berichten Gajlit, Calych und Loginov von Zusammentreffen mit dem Volkskommissar und lassen das oben geschilderte Bild entstehen. Alle drei waren fasziniert von Ordzonikidze und zeigen ihn als Schutzengel und strengen Vater, unerreichbares Vorbild und guten Freund. Zudem erwecken sie den Eindruck, es habe in den dreißiger Jahren mit Ausnahme Kirovs, der durch seinen gewaltsamen Tod 1934 ebenfalls zum Märtyrer wurde, außer Ordzonikidze keinen anderen bedeutenden Parteiführer gegeben. Einzig Jakovlev, der regelmäßig mit Stalin zusammentraf, nennt auch den Generalsekretär, dessen Existenz und Namen alle anderen verschweigen. Über den Liebling der Ingenieure, Ordzonikidze, schreibt Gajlit, der mit einem Kollegen als Vertreter des Instituts für Aluminium vom Volkskommissar empfangen wurde: „Er fragte nach allem ganz genau, welche Probleme von unseren Wissenschaftlern gelöst wurden, wie unsere Verbindungen zu den Fabriken waren, was wir für die Vorbereitung der Technik der im Bau befindlichen Betriebe 30

Chlevnjuk, Stalin i Ordzonikidze, S. 34, 36. Chlevnjuk, Stalin i Ordzonikidze, S. 38, 86f. 32 RCChiDNI, f. 85, Ordzonikidze, G.K, op. 28, d. 30, 1. 1; d. 78,1. 1; d. 374,1. 1; d. 402,1. 1; d. 404, 1. 1; d. 471, 1. 1; d. 710, 1. 1; d. 724, 1. Iff; d. 738, 1. Iff; d. 746, 1. 1; d. 747, 1. 1; d. 761,1. lff.;d. 765,1. Iff. 31

357

Sergo Ordjonikidze taten, welche Bedürfnisse unser Institut hatte und wie die Einstellung von lief. Das Gespräch war ausgesprochen warm, wohlwollend und ungezwungen. Er unterschrieb eine Reihe von Anforderungen an Material, das wir erhalten sollten."33

jungen Ingenieuren

Entsprechend schildert auch Calych den Volkskommissar, als Retter in letzter Not, der ihm half, den Plan zu erfüllen, und damit davor bewahrte, als Saboteur verdächtigt zu werden.34 Loginov schwärmt in besonderer Weise von seinem „Sergo", der den Ingenieuren alles gab, was sie brauchten: Material, persönliche Sicherheit und kluge Ratschläge. Als er 1933 nach Kiew geschickt wurde, um dort den Direktor abzusetzen und die Fabrik aus den roten Zahlen zu holen, beruhigte ihn Ordzonikidzes Stellvertreter, M.M. Kaganovic:

„Mach Dir keine Sorgen, alle Deine Maßnahmen werden wir unterstützen, und vor den ungerechtfertigten Angriffen der Genossen vor Ort wird Dich Genosse Ordjonikidze verteidigen."35

Loginov berichtet,

daß der Volkskommissar oft unangemeldet eine der Fabriken seines Trusts besichtigte, um den tatsächlichen Zustand zu erkunden. Statt den Haupteingang habe er einmal den Nebeneingang gewählt und dort prompt Kisten mit teuren Importmaschinen gefunden, die unter freiem Himmel standen und verrotteten.36 Der Volkskommissar war aber auch das Mensch gewordene schlechte Gewissen der Ingenieure. Loginov schildert, wie unangenehm es ihm und seinen Kollegen war, seinem obersten Dienstherrn gegenübertreten zu müssen, nachdem sie den Auftrag der Ölindustrie nicht hatten erfüllen können: „Nach der Versammlung warteten wir auf Sergo. Der sah uns, las, was in unseren Gesichtern stand, und fing an zu lachen: Nun, diese Sitzung werden Sie nicht so schnell vergessen. Sie denken, auch ich werde schimpfen, das werde ich aber nicht. Ich bin überzeugt, daß Sie begriffen haben und die Lage ändern werden."37 Loginov präsentiert den Volkskommissar als eine übergeordnete Autorität, voller Weisheit, deren Blick nichts entging. Als er einmal bis zwei Uhr nachts vor dessen Büro auf ihn gewartete hatte, um ihm eine neue Konstruktion vorzustellen, habe Ordjonikidze ihm gesagt, statt auf seinen Vorgesetzten zu warten, sollte er lieber die Zeit sinnvoll nutzen und ins Theater gehen.38 Für Loginov war Ordjonikidze der Schutzheilige der Ingenieure. Sein Tod markierte für ihn denn auch den Startschuß für den Terror:

„Während meines Aufenthalts in den USA geschah in meiner Heimat ein großes

33

Unglück: Anfang

Gajlit, 1. 36. Calych, S. 49f. 35 Loginov, 1. 62. 36 Loginov, 1. 92f. 37 Loginov, 1. 66. 38 Loginov, 1. 50f. 34

1937 starb

Sergo

auf

tragische

Weise. Die Nachricht

358

Terror

über seinen Tod erschütterte mich zutiefst. Auf der Trauerfeier von Amtorg, auf der ich über meine Begegnungen mit Ordzonikidze sprechen sollte, brach ich in Tränen aus. Die Liebe aller Mitarbeiter des Volkskommissariats für Schwerindustrie zum Genossen G.K. Ordzonikidze war unermeßlich, und es fiel uns sehr, sehr schwer, den Tod dieses Menschen, der er im wahrsten Sinne des Wortes gewesen war, zu begreifen."39

Loginov wird deutlich, daß Ingenieure die Figur des Volkskommisbrauchten, um die dreißiger Jahre für sich in zwei klar voneinander getrennte Perioden zu trennen: die Zeit vor dem Tod „Sergos", als noch Recht und Gesetz herrschten, der Sozialismus und die Industrie gediehen An

sars

und die Welt so war, wie sie sein sollte, und die Zeit nach seinem Tod als Zeit des Sündenfalls des Sozialismus, als Willkür und Gesetzlosigkeit herrschten und Hunderttausende verhaftet und erschossen wurden. Der Volkskommissar dient in den Darstellungen der Ingenieure als Zeichen oder Symbol für ihre hehren Ideale, ihre unschuldigen Industrialisierungsabsichten und den Glauben an die sozialistische Zukunft. Der Tod des Volkskommissar gerät zu einer Zäsur für Ingenieure, die sich weigerten zu sehen, daß es auch vor 1937 unrechtmäßige Verfolgung, Verhaftungen und Erschießungen gegeben hatte.

Loginov, 1. 79.

Sündenböcke

359

3) Sündenböcke a) Verhaftungskonjunktur Genau wie der Dachdecker von der Leiter fallen oder der Zimmermann sich auf den Daumen hauen konnte, gehörte die Gefahr, verhaftet zu werden, in den dreißiger Jahren immer zum Berufsrisiko der Ingenieure, so Nicholas Lamperts zynische Feststellung.1 In der Produktion Fehler zu machen, ohne daß sie gleich als mutwillige Zerstörung angesehen wurden, war eins der größten Probleme der Ingenieure in den dreißiger Jahren. Im wesentlichen hing von der Beurteilung der alltäglichen Pannen, die zum Geschäft eines Ingenieurs gehören, ab, ob die ITR einigermaßen unbehelligt leben konnten oder Willkür und Terror ausgesetzt waren. In diesem Punkt waren sie größtenteils der Definitionsgewalt der Partei und Regierung ausgeliefert. Der Startschuß, unerfüllte Pläne und mangelhafte Produkte wieder als absichtsvolle Sabotage einzuschätzen und nicht mehr als „ehrlichen Irrtum" zu tolerieren, fiel 1936. Im November 1936 wies Vysinskij die Staatsanwaltschaft an, jeden Unfall, jeden Produktionsausfall und jede Ausschußproduktion als konterrevolutionär und Sabotage einzustufen.2 Die Rhetorik, die Ingenieure würden sich nicht genügend in der Stachanovarbeit engagieren, steigerte sich im Jahr 1936 zu einem Schädlingsdiskurs, in dem alle Ingenieure gleichermaßen als „Scharlatane", „Schmarotzer" und „Schädlinge" dargestellt wurden.3 Im Vordergrund stand immer wieder der Vorwurf, Ingenieure hätten sich nicht um die Sicherheitstechnik bemüht bzw. diese bewußt sabotiert. Als Resultat der Stachanovarbeit, die auf der Mißachtung der Sicherheitsvorschriften basierte, aber auch durch schlampige Arbeit infolge des starken Termindrucks war es zu unzähligen Unfällen gekommen, für die jetzt die ITR verantwortlich gemacht wurden: „Weil sie die Unzufriedenheit der Massen hervorrufen wollten, haben sich die Volksfeinde besonders auf die Sicherheitstechnik konzentriert."4

Rechtfertigung der Ingenieure, die Arbeiter seien an den Havarien schuld, wurden grundsätzlich als „schädlich" und „Verleumdung der Arbeiter" eingestuft.5 Ingenieuren wurde vorgeworfen, sie hätten die „großen Summen", die der Staat für die Sicherheitstechnik bereitgestellt habe, verschwinden lassen, so daß die Zahl der Unfälle ständig gestiegen sei, Die

1

Lampert, Technical Intelligentsia, S. 103. Chlevnjuk, Stalin i Ordzonikidze, S. 86. 3 Za industrializaciju, 24.2.1936. 4 2

5

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 309. industrializaciju, 26.8.1938.

Za

360

Terror

obwohl der Staat alles getan und an alles gedacht habe.6 Zunehmend scharf wurden die großen Wirtschaftsführer angegriffen. In der Presse wurde ein Bild entworfen, nach dem die gesamte Industrie rückständig, desorganisiert und weit hinter den Plänen zurückgeblieben sei. Die Ingenieure mußten als Sündenböcke dafür herhalten, daß es nicht genügend Elektrizität und Kohle gab, daß Mangel an Maschinen und Werkbänken herrschte, daß nicht genügend Autos und Gebrauchsgüter zur Verfügung standen und noch nicht jedem Sowjetbürger eine Wohnung gebaut worden war. Die Nichterfüllung der Versprechen des zweiten Fünfjahrplans wurden den Leitern der Hauptverwaltungen der Industriezweige, den Direktoren und Chefingenieuren sowie den ITR allgemein zur Last gelegt.7 Eine erste Attacke führte die Za industrializaciju gegen den Leiter der Hauptverwaltung der Energieversorger (Glavénergo), Kazimir Petrovic Lovin, am 8. August 1936 aus. In scharfen Worten wurde ihm Konservatismus, Rückständigkeit, Bequemlichkeit und Widerstand gegen eine Anordnung Ordzonikidzes vorgeworfen. Lovin habe die Einführung neuer Kessel, die Ramzin entwickelt hatte, verhindert. „Der Leiter von Glavénergo, der, beiläufig gesagt, keinen Finger rührte, um den Kampf für Stromeinsparungen zu organisieren, der, beiläufig gesagt, nachlässig und schlecht den Bau neuer E-Werke betreibt, ist vom Volkskommissar gerecht bestraft worden. Der Leiter von Glavénergo hat ein schweres Verbrechen begangen. Er hat Gleichgültigkeit und Konservatismus im Bereich der Einführung der neusten Technik gezeigt. (...) Man kann nicht Leiter der Energiewirtschaft sein, wenn man technisch besser entwickelte Kessel ablehnt."8 Ordjonikidze sprach einen Tadel gegen Lovin aus, der aber nur der Anfang dessen Untergangs war: Er wurde 1937 verhaftet und kam 1938 im Lager um.9 Scharf angegriffen wurde im März 1937 auch der Leiter der Hauptbauverwaltung (Glavstrojprom), S.Z. Ginzburg: „Augenwischer und Verbrecher. Genosse Ginzburg, wer trägt die Verantwortung dafür?" Er sollte dafür haften, daß der Direktor von „Asowstahl", Gugel', und der Leiter von „Südwohnungsbau", Poznanskij, vollkommen falsche Angaben über ihre Arbeit gemacht hätten. Ihnen wurde die Praxis zum Verhängnis, Erfolge zu verkünden, obwohl die Pläne nicht erfüllt worden waren, um nicht als Saboteur dazustehen.10 Gugel' und Poznanskij hatten deklariert, 1936 20 Prozent billiger gebaut zu haben als im Vorjahr. Tat6

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 308. Vgl. auch Maier, Robert: Die forcierte Industrialisierung, S. 83, in: ders. / Peter, Antonio (Hg.): Die Sowjetunion im Zeichen des Stalinismus, Köln 1991, S. 75-84; Manning, Roberta: The Soviet Economic Crisis of 1936-1940 and the Great Purges, in: dies. / Getty, Stalinist Terror, S. 116-141. 8 Za industrializaciju, 8.8.1936. 9 Rjazanov, 1. 51. 10 Vgl. dazu auch: Harris, James R.: The Purging of Local Cliques in the Ural Regions, 19361937, in: Fitzpatrick, Stalinism, S. 262-285. 7

Sündenböcke

361

sächlich waren 771 000 Rubel mehr ausgegeben worden. Auch der mit 637 000 Rubeln angegebene Reingewinn sei frei erfunden, so die Presse. Statt dessen seien großzügige Prämien an die Leitungskräfte ausgezahlt worden. Poznanskij selbst habe 27 500 Rubel eingestrichen." Ginzburg sah sich ein zweites Mal im April 1937 attackiert, als die Za industrializaciju erneut von ihm eine Erklärung forderte, wie er sich vorstelle, die Arbeiten in Ordnung zu bringen.12 Eine Entlarvung und Überführung reihte sich an die nächste. „Warum schweigen Sie, Genosse Maksimov?",13 attackierte die Za industrializaciju den Leiter einer Fabrik für Textilmaschinenbau, die auch im Februar nicht den Plan würde erfüllen können. Einer Reihe von Ingenieuren der Moskauer Transformatorenfabrik wurde vorgeworfen, sie hätten für viel Geld Technik in den USA studiert, und anstatt dem Staat diese Investition durch eine gute Produktion zurückzuzahlen, zeigten sie jetzt nur Routine und Konservatismus.14 Der Genosse G.V. Gvacharij, zuständig für die Finanzen in der Makeevka, wurde als „trotzkistischer Schädling" der Schwarzmetallurgie entlarvt, die insgesamt von den „Trotzkisten-Zinov'evisten" heimgesucht worden sei.15 In der Fabrik Dinamo sei es der technische Direktor Tolcinskij gewesen, der jahrelang seine „verderbliche zersetzende Arbeit" habe betreiben, den technischen Fortschritt bremsen und die Beseitigung von Defekten erfolgreich verhindern können.16 Der Leiter der Hauptverwaltung der Elektroindustrie (Glavènergoprom), Nikolaj Aleksandrovic Filimonov, sei nicht imstande gewesen, seine Korrespondenz zu erledigen und habe pro Tag 100 bis 150 Schriftstücke unbeachtet liegenlassen. Anstatt sich um dringliche Angelegenheiten zu kümmern, sei er in Urlaub gefahren.17 Die Za Industrializaciju richtete im Frühjahr 1937 die Rubrik „Leserbriefe" (Pis 'ma v redakciju) ein, um hier mit der Legitimation der Stimme des Volkes die Ingenieure anzuklagen und anzugreifen.18 Die Überschriften allein einer Nummer der Za industrializaciju geben einen Eindruck von der angespannten, aufgeheizten Atmosphäre, in der jeder verdächtigt wurde: „In der Fabrik ,Rotes Dreieck' stehen die Dinge schlecht", „Die Zulieferer des Werkbankbaus arbeiten schlecht", „Die skandalöse Geschichte von Makstroj", „Die Hauptverwaltung für MasZa

industrializaciju, 1.3.1937. industrializaciju, 1.4.1937. 13 industrializaciju, 1.3.1937. industrializaciju, 9.3.1937. 15 industrializaciju, 21.5.1937. 16 Za industrializaciju, 28.5.1937. 17 Za industrializaciju, 5.7.1937. Filimonov gibt in seinen Memoiren nicht an, ob er repressiert wurde. Es liegt aber nahe, da er über seine Tätigkeit Ende der dreißiger Jahre schweigt und erst wieder über die Zeit nach dem Krieg berichtet, siehe: Filimonov, Po novomu ruslu, Za Za Za Za

S. 18

234, 238.

Za

industrializaciju, 5.4.1937.

362

Terror

senverbrauchsgüter bleibt den alten Traditionen treu."19 Von Entlassungen und Absetzungen von „Saboteuren" und „Parteifeinden" war späte-

lesen.20 Die VerhaftunStil Ende 1936 auf der Baustelle der u.a. großen begannen in einer der es ersten größeren ProWaggonbaufabrik Niznij Tagil; folgte zesse im Januar 1937 gegen die Leiter der Baustelle des Chemiekombinats in Kemerovo:21 stens seit Mitte des Jahres 1936 in der Presse zu

gen im

„Der Prozeß in Kemerovo und der Prozeß gegen das antisowjetische Trotzki-

stische Zentrum haben mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß der Arbeitsschutz und die Sicherheitstechnik ein Feld des verschärften Klassenkampfes gewesen sind. Verbrennungen, Explosionen, Havarien, Vergiftungen usw. benutzten die bestialischen Volksfeinde im großen Stil für ihre verbrecherischen Zie-

le."22 Ebenfalls im Januar 1937 fand der zweite Moskauer Schauprozeß gegen das „Antisowjetische Trotzkistische Zentrum" statt, in dem als Hauptangeklagter Ordzonikidzes Stellvertreter, Georgij Leonidovic Pjatakov (1890-1937), vor Gericht stand. Während in der Forschung zuweilen behauptet wurde, der Zweite Moskauer Prozeß sei uninteressant, weil hier keine hohen Parteimitglieder angeklagt wurden, und manche Historiker meinten, nach 1931 sei die Ingenieurszunft nie mehr als solche angegriffen worden, ist das Gegenteil der Fall: Der Prozeß im Januar 1937 ist deshalb von großem Interesse, weil er das Signal zu Massenverhaftungen unter der technischen Intelligenz gab.23 Azrael beurteilte diesen Prozeß als „a trial of the entire communist managerial elite", und Chlevnjuk spitzt diese Ansicht dahin zu, hier sei dem Volkskommissariat für Schwerindustrie der Prozeß gemacht worden.24 Unter den 17 Angeklagten befanden sich elf prominente Direktoren und Chefingenieure von großen Industrieorganisationen und Trusten. Ihnen wurde neben den „üblichen" Vorwürfen wie Beteiligung an der Ermordung Kirovs, Spionage und antisowjetischer Verschwörung v.a. Sabotage zur Last gelegt. Dazu Robert

Conquest:

„It was in the old Shakhty Trial tradition and, indeed, it was expressly stated in evidence that the old saboteurs had linked up with the -

new."25

Za industrializaciju, 1.4.1937. Za industrializaciju, 24.4.1936; 14.6.1936. 21 Chlevnjuk, Politbüro, S. 236. 22 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 309. 23 Vgl. auch Fitzpatrick, Stalin and the Making, S. 393; Lampert, Technical Intelligentsia, S. 58. Balzer geht noch heute davon aus, daß die Ingenieure nicht als Gruppe während des Großen Terrors von Verhaftungen betroffen waren, vgl. Balzer, Harley: Engineers: The Rise and Decline of a Social Myth, S. 157, in: Graham, Science and the Soviet Social Order, S. 141-167. 24 Azrael, Managerial Power, S. 100; Chlevnjuk, Stalin i Ordjonikidze, S. 89. 25 Conquest, Robert: The Great Terror. A Reassessment, New York, Oxford 1990, S. 150. 20

363

Sündenböcke

Am Ende dieses acht Tage währenden Prozesses stand das Todesurteil für alle Angeklagten. 19 Tage später, am 18. Februar 1937, beging Ordzonikidze Selbstmord.26

b) Primat des Bolschewismus Die

Verhaftungen der Ingenieure erfolgten in erster Linie aufgrund von Sabotagevorwürfen.27 Darüber hinaus verhaftete der NKVD Ingenieure auch unter anderen Gesichtspunkten: Gesäubert wurde nach Listen, die Personen aufführten, die meist im Auftrag der Sowjetregierung im

Ausland gewesen

und wegen dieser Auslandskontakte nun als Feinde oder Spione galten,28 oder nach weiteren Listen, in denen Kader verzeichnet waren, welche einen „Fleck" in ihrer Vergangenheit hatten: Mitgliedschaft in einer anderen Partei, Zugehörigkeit zur „rechten" oder „linken" Opposition, Dienst in der zarischen Armee, Kampf auf Seiten der Weißen im Bürgerkrieg u.a. Auf dieser Liste befand sich z.B. der Spezialist Nikolaj Aleksandrovic Radionov, Direktor des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Magnetismus in Leningrad, dessen „Verbrechen" es war, aus dem Kleinbürgertum zu stammen und Mitglied der Linken Sozialrevolutionäre gewesen zu sein,29 oder Michail Vasil'evic Kudrjasov (*1893), Direktor des Dzerzinskij-Allunions-Instituts für Wärmetechnik und Mitarbeiter des GOÉLRO, inkriminiert wegen eines 1931 durch die Partei ausgesprochenen Tadels, weil man ihm vorgeworfen hatte, Zement unterschlagen und schwarz weiterverkauft zu haben.30 Schließlich waren Ingenieure genau wie andere Menschen von den Verhaftungen betroffen, die rein nach Kontingent ausgeführt wurden, ohne daß den Verhafteten ein konkreter Vorwurf gemacht wurde. Speziell den Ingenieuren wurde der Verlust der „politischen Wachsamkeit" vorgeworfen. Der Ingenieur war in den Augen der Parteiführung in ein vorrevolutionäres Stadium zurückgefallen, in dem er sich nur mit Technik beschäftigte, ohne sie mit der Politik zu verbinden. Aber ohne das richtige Bewußtsein war der Ingenieur kein neuer Mensch mehr, sondern die Wiederkehr des alten Spezialisten. Wie schon zur Zeit des ersten Fünfjahrplans wurde auch jetzt die Existenz von drei Entwicklungsstadien unter den ITR konstatiert: Die ersten ständen fest auf der Seite der 26

27

-

-

waren

Chlevnjuk, Stalin i Ordzonikidze, S. 118. Siehe auch Benvenuti, Francesco: Industry and Purge in the Donbass 1936-37,

in: EuropeAsia Studies 45 (1993) 1, S. 57-78. 28 RCChlDNI, f. 17, Kollekcija dokumentärnych materialov ob oppozicii, op. 71, d. 62, 51. 29 RCChlDNI, f. 17, Ob opozicii, op. 71, d. 46,1. 18. 30 RCChlDNI, f. 17, Ob opozicii, op. 71, 1. 10; RGAÈ, f. 9592, Kollekcija dokumentov vidnych dejatelej énergetiki, op. 1, d. 354: Kudrjasov, M.V.: Razvitie velikogo pocina, 1. 32.

364

Terror

Sowjetmacht, die zweiten seien eindeutig feindlich eingestellt, und die dritten würden noch schwanken.3' Auf dem Februar-März-Plenum des ZK der VKP(b) holte Stalin zur Generalabrechnung mit den Ingenieuren aus. Er warf ihnen vor, in den vergangenen Jahren „Sorglosigkeit", „Selbstzufriedenheit", „Prahlerei" und eine „liberale Haltung gegenüber Mängeln" entwickelt zu haben. Ihre „politischen Gefühle seien abgestumpft" und von einem „dogmatischen Pragmatismus" abgelöst worden. Nur weil sich die Ingenieure „vom Parteileben losgelöst", „in sich selbst verschlossen", von „den Massen entfernt" und „Kritik und Selbstkritik vergessen" hätten, habe der Feind, die Agenten der trotzkistisch-faschistischen Banditen, zuschlagen können. „Das ist der Grund, weshalb die alte Losung über die Beherrschung der Technik durch die neue Losung über die Beherrschung des Bolschewismus, über die politische Erziehung der Kader und Liquidierung unserer politischen Unwissenheit ergänzt werden muß."32 Die Verbindung von Technik mit kommunistischer Ideologie wurde wiederhergestellt und als unumstößlich proklamiert. Stalin erklärte, es sei falsch gewesen, nicht bereits 1935 und 1936 ein Ende der „opportunistischen Gutmütigkeit" und „echte bolschewistische revolutionäre Überzeugung" gefordert zu haben.33 Die Medien proklamierten, die Epoche des zweiten Fünfjahrplans mit ihrem Primat des privaten Glücks sei ein großer Fehler gewesen und habe der Sowjetunion Verderben gebracht. Der Ingenieur sei in dieser Zeit, in der Staat und Partei keine Anforderungen an ihn gestellt hätten, degeneriert.34 Der Zeit des Amüsements und Konsums wurde damit eine klare Absage erteilt. Ein Ingenieur ohne kommunistische Wachsamkeit, so verkündete die Partei, würde hinter der Technik zurückbleiben und dem Feind zum Opfer fallen. Den „Kurzen Lehrgang der Geschichte der VKP(b)" von 1938 deklarierte der VMBIT als Lehrmittel, mit dem die technische Intelligenzija „marxistischleninistisch" erzogen und auf die richtige Bahn zurückgebracht werden sollte.35 Der VMBIT als „Interessenvertretung" der Ingenieure nahm seine Mitglieder keineswegs in Schutz, sondern beeilte sich seinerseits, Verdächtigungen auszusprechen, das eigene Versagen bei der Bekämpfung des „Schädlingstums" zu bekennen und sich mit Selbstbezichtigungen selbst zu zerfleischen. Daß der VMBIT von „Schädlingen" durchsetzt sei, war ein Diktum. Wer es anzweifelte, machte sich verdächtig, selbst ein 31 32 33

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9.

Pravda, 7.4.1937.

September 1938, S. 525.

O nedostatkach partijnoj raboty i merach likvidacii trockistskich i inych dvurusnikov, doklad tov. Stalina na Plenume CK VKP(b) 3 marta 1937 g., in: Za industrializaciju, 29.3.1937. 34 Sorokin, M.: „O bditel'nosti inzenera", Pravda, 8.3.1937; „Inzenery Bol'seviki", Pravda, 7.4.1937. 35 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 12, Dezember 1938, S. 712f. -

Sündenböcke

365

„Schädling" zu sein. Nur wer Feinde entlarvte, konnte für sich beanspruchen, ein sowjetischer Ingenieur zu sein, dem die kommunistische Wachsamkeit nicht abhanden gekommen war.36 Der Ton, der zu dieser Zeit im Organ des VMBIT, dem Vestnik inzenerov i technikov, dem Nachfolger der 1935 eingestellten Inzenernyj trud, herrschte, war noch aggressiver als in der Pravda oder der Za industrializaciju. Einerseits bezichtigte sich der VMBIT selbst, nicht genügend für die Versorgung der ITR mit Wohnraum und Urlaubsplätzen getan zu haben. Andererseits gestand er

reuevoll ein, sich nur auf die materielle Situation der ITR konzentriert zu haben, anstatt die Stachanovarbeit zu fördern oder die ITR politisch zu schulen. Weil man nicht intensiver Marx, Engels, Lenin und Stalin gelesen habe, sei es zu diesem Desaster gekommen. Der VMBIT richtete sich an Stalin und versprach, alle Mängel in seiner Arbeit zu beseitigen, alle Feinde aufzudecken und sie aus den eigenen Reihen zu vertreiben. Die ITS hätten die „Zeichen der Zeit" nicht erkannt, und der VMBIT trage die Verantwortung dafür, daß die ITR ihre „revolutionäre Wachsamkeit" verloren hätten. Pjatakov habe seine Leute überall postieren können, ohne daß die ITS die „Schädlinge" rechtzeitig bemerkt hätten. Das gesamte Leitungspersonal des Zentralbüros der ITS sei auf den falschen Weg geraten.37 Die Führer der Gewerkschaften seien politisch blind, langsam und unbedarft gewesen. Als Konsequenz wurden sämtliche Gremien und ITS neu gewählt.38 Die eigenen Reihen wurden schonungslos gesäubert und die Führungsmitglieder als unfähige „Schädlinge", die jahrelang untätig gewesen seien, entlarvt. In dem Plenum des VMBIT gab es eine Prozedur der Säuberung, bei dem jedes Mitglied mit seiner Unterschrift bekunden mußte, ob er sich für oder gegen den Ausschluß des entsprechenden Mitglieds als Volksfeind aussprach. Auf diese Art und Weise wurden elf Mitglieder, darunter Bucharin, aus dem Plenum des VMBIT ausgeschlossen.39 Als „Feind" entlarvt wurde auch der bisherige Vorsitzende des VMBIT, Prokof ev40 sowie andere Leitungsmitglieder aus dem Apparat der ITS wie der Ingenieur Levin, der als „unentbehrlich" gegolten, tatsächlich aber „planlos" und „bürokratisch" gehandelt und sich nur durch seine „philisterhafte Unpolitischheit", „Speichelleckerei" und „Schmeichelei" ausgezeichnet habe.41 Dem Druck und der drohenden Verhaftung entzogen sich manche Ingenieure durch Selbstmord: Die Za industrializaciju meldete am 17. August 1937 den Tod von Stepan Pavlovic Birman, der „nach kurzer schwerer Krankheit" im Alter von 46 Jahren gestorben 36

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9, September 1937, S. 521. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9, September 1937, S. 514, 519ff. 38 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 5, Mai 1937, S. 260f; Nr. 1, Januar 1938, S. 10. 39 GARF, f. 5548, VMBIT, op. 17, d. 19,1. 1, 12, 97. 40 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9, September 1937, S. 525. 41 Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 3, März 1937, S. 132. 37

366

Terror

sei. Der ungarische Revolutionär, der die Hauptverwaltung für Metall (Glavmetalî) geleitet hatte und seit 1932 die Petrovskij-Metallfabrik führte, hatte wie sein Volkskommissar den Freitod gewählt.42 Von den hier vorgestellten großen Ingenieuren der ersten Fünfjahrpläne wurden Gugel', Serebrovskij, Frankfurt, Radcenko und Vedeneev sowie auch Boris Ugrimov und Boris Stjunkel' repressiert: Sie wurden erschossen oder kamen im Lager um. Bardin, Vinter und Krzizanovskij überlebten unbehelligt.

42

Za

industrializaciju,

17.8.1937.

367

Schädlingsdiskurs

4) Schädlingsdiskurs Für eine Atmosphäre, in der jeder jederzeit als „Schädling" überführt werden konnte und es alltäglich war, andere als „Volksfeinde" und „Trotzkisten" zu bezeichnen, sorgte auch das Kino. Zwischen 1935 und 1939 wurden elf Filme gedreht, die den Ingenieur als „Schädling" darstellten. Im Vergleich zu den rund zehn Filmen zwischen 1932 und 1936, die den sowjetischen Ingenieur in einem kritischen bis positiven Licht zeigten, überwog die Zahl der Filme, die den Ingenieur als Feind präsentierten. Die Zeit der „Schädlings"-Filme läßt sich in zwei Phasen unterteilen: In der ersten Phase 1935 wurde das Feindbild vom alten, vorrevolutionären Ingenieur reaktiviert. In der zweiten Phase zeigte das Kino den zeitgenössischen Ingenieur als „Schädling". Hier wurden v.a. drei Thesen illustriert: Erstens wurde demonstriert, daß alle diejenigen zu „Schädlingen" werden würden, die einen „Fleck" in ihrer Biographie hatten und einmal Menschewik oder Trotzkist gewesen waren. Zweitens stellten sie die Stachanovbewegung in kausale Beziehung zum Aufflammen neuer Sabotagetätigkeit (s.o.). Drittens wurde im Kino ausgeführt, daß die Stachanovarbeit und die Sabotage der alten Ingenieure den nötigen Generationenwechsel forciere. Das Bild vom Ingenieur als Feind wurde durch drei Filme in Erinnerung gerufen, die sich wieder den Ingenieuren alter Provenienz zuwandten und deren perfide Ausbeutung von Arbeitern zeigten. Wie schon zur Zeit der Kulturrevolution wurde auch Mitte der dreißiger Jahre die Figur des vorrevolutionären Ingenieurs bemüht, um den Antagonismus zwischen Arbeitern und Intelligenz zu demonstrieren. Im April 1935 kam der phantastische Film „Tod einer Sensation" (Gibel sensacii) in die Kinos, der vorführte, wie der Ingenieur Jim Ripple seine Erfindung, einen Roboter, den Fabrikherren zur Unterdrückung von Streiks und Arbeiteraufständen zur Verfügung stellt und am Ende von seiner eigenen Kreatur erschlagen wird.' Ein Jahr später, im Mai 1936, thematisierte der Film „Ich liebe" (Ja ljubiju), wie Meister und Grubenherren vor 1917 die Arbeiter unterdrückten.2 Nur einen Monat später zeigte der Regisseur N. Ekk in seinem Film „Grunja Kornakova" einen die Arbeiterinnen verfolgenden und drangsalierenden boshaften Meister einer Porzellanfabrik im vorrevolutionären Rußland sowie einen Fabrikbesitzer, der die '

' Gibel' sensacii, Mezrabpromfil'm Moskau 1935, Regie: M. Doller, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fi'lmy, Bd. 2, S. 61. 2 Ja ljubiju, Ukrainfil'm Kiev 1936, Regie: L. Lukov, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 113f.

368

Terror

Werksgebäude anzündet und den Tod von 38 Arbeitern in Kauf nimmt, um die Versicherungssumme zu kassieren.3 „Tod einer Sensation", „Ich liebe" und „Grunja Kornakova" können als Erinnerungshilfe für die sowjetische Arbeiterschaft gelesen werden, wer ihnen in Gestalt von Ingenieuren gegenüberstand. Diese Phase des „Präludiums" schloß im Dezember 1936 „Die Gefangenen" (Zakljucennye) wie ein Schlußakkord ab. „Die Gefangenen" erzählt die erfolgreiche Umerziehung zweier alter „Schädlings"-Ingenieure zu Sowjetbürgern, die für den sozialistischen Aufbau arbeiten. Obwohl die Grundstimmung sehr positiv erscheint, wird hier gleichzeitig daran erinnert, daß die alten Ingenieure Saboteure waren, die früher ihr Unwesen trieben, sich jetzt aber als normale Sowjetbürger unter alle anderen gemischt hatten. Mit dem Thema der alten Ingenieure und der Sabotage wurde gleichzeitig der Topos Lager und NKVD aufge-

rufen. Die Offiziere des NKVD erscheinen in dem Film als die wahren Helden, die zwischen Feind und Freund unterscheiden können und dafür sorgen, daß jeder die Strafe und die Chance bekommt, die er verdient. Dieser Film, der startete, als die Massenverhaftungen unter Ingenieuren begannen, scheint geradezu den Terror vorwegzunehmen bzw. mit Bezug auf die erste Verhaftungswelle von Ingenieuren von 1928 bis 1931 darauf hinweisen zu wollen, daß solche Maßnahmen im Sinne aller Betroffenen nur gut seien.4 Schon einmal hatte man die schlechten herausgefiltert und umerzogen; so würde man es wieder machen. Die Ingenieure, die in „Die Gefangenen" als „geheilt" aus dem Lager entlassen wurden, gehörten zu denen, die als stigmatisiert 1937 erneut in die Mühlen des NKVD gerieten. Daß die Partei zu großzügig gewesen sei, indem sie die einmal entlarvten Konterrevolutionäre laufen ließ, postulierte der erste Teil des Films „Ein großer Staatsbürger" (Velikij Grazdanin) 1937. In ihm wird vorgeführt, daß es ein Fehler war, Verschwörer und Trotzkisten (Kartasov und Barovskij, stellvertretend für Kamenev und Zinov'ev) und parteilose alte Ingenieure (Avdeev) 1925 laufen zu lassen, die schon damals versucht hatten, den sozialistischen Aufbau in der Fabrik „Roter Metallist" zu sabotieren.5

Grunja Kornakova, Mezrabpromfil'm Moskau 1936, Regie: N. Èkk, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 87f. 4 Zakljucennye, Mosfil'm Moskau 1936, Regie: E. Cervjakov, Nachweis: Videothek im Kinozentrum, Moskau. Drehbuch nach dem Stück von Pogodin, N.F.: Aristokraty (1934), in: ders.: Sobranije socinenij v 4ch tomach, Moskau 1972, Bd. 1. 5 Velikij grazdanin, 1. Teil, Lenfil'm Leningrad 1937, Regie: F. Érmler, Nachweis: als Video in eigenem Besitz. Siehe auch: Blejman, M. / Bol'sincov, M. / Érmler, F.: Velikij grazdanin (I i II serii), in: Kozevnikov, V. et al. (Hg.): Izbrannye scenarii sovetskogo kino v sesti tomach, Moskau 1951, Bd. 2, S. 367-480; Lary, N.M.: Ermler's Pure Art of the Party Line, in: ders.: Dostoevsky and Soviet Film, Ithaca 1986, S. 59-77. 3

Schädlingsdiskurs

369

Die nun folgenden Werke deklinierten die verschiedenen Verschwörungs- und Feindtheorien durch. Zunächst boten zwei Filme Anschauungsunterricht darin, daß Ingenieure mit einer kritischen Vergangenheit leichte Beute von Diversanten und Provokateuren würden, und nahmen die beiden Daten 1925 und 1934 als Ursprung aller Verschwörung wieder auf. In „Bergarbeiter" (Sachtery, 1937) haben die Diversanten leichtes Spiel mit dem Grubenleiter Cub, weil sie ihm vor Augen führen können, wie erniedrigend die Enteignung für ihn gewesen sein müsse. Mit Cub wird ein Spezialist gezeigt, der seine kommunistische Wachsamkeit verloren hat, sich nur noch um wirtschaftliche Fragen kümmert und nicht mehr sieht, wie er von Feinden eingekreist wird. Am Ende des Films sprechen sich die Arbeiter gemeinsam dafür aus, Cub dem NKVD zu übergeben: „Solche müssen gnadenlos vernichtet werden", sagt ein Arbeiter, und der Parteisekretär ergänzt: „Stalin sagt, daß wir uns nicht besänftigen lassen dürfen."6 So wie „Bergarbeiter" unterstrich auch „Eine Frage der Ehre" im Dezember 1938, daß diejenigen, deren Biographien nicht rein waren, sich zu „Schädlingen" entwickeln würden. Hier ist es der Eisenbahndepotleiter Klycko, der bereits 1925 wegen Opposition aus der Partei ausgeschlossen wurde. Nun verübt er Sabotageakte zusammen mit dem alten Ingenieur Arsenij Jul'evic, den er 1934 für die „trotzkistisch-bucharinsche Bande von Schädlingen und Diversanten" anwarb.7 Die vier nächsten Filme präsentierten die These, daß die Bequemlichkeit der Ingenieure und ihre Unfähigkeit, sich neuen Arbeitsmethoden anzupassen, sie zu Saboteuren werden ließ. Neben „Bergleute" (August 1937), „Eine Nacht im September" (Oktober 1939) und „Ein großes Leben" (Februar 1940) zeigte der Film „Komsomol'sk" im April 1938, wie der alte Technische Direktor, der nicht an den Erfolg der Baustelle glaubt, zum Saboteur und durch den jungen Ingenieur Volodja abgelöst wird.8 In allen Filmen werden die zurückgebliebenen Ingenieure bzw. Gewerkschaftsführer von dicken, behäbigen Männern mit lichtem Haar oder Glatze verkörpert. Ihr Äußeres und ihr Verhalten sind eindeutig widerwärtig und verdächtig: Klycko trägt eine Glatze, über die drei fettige Haarsträhnen gelegt sind. Arsenij Jul'evic ist dick, hinkt und trägt eine Brille. Bogorukov trägt einen ausladenden Schnauzer zu seiner braunen Haarpracht und einen altmodischen Morgenrock, der ihn wie Oblomov bzw. einen aus der Mode gekommenen Gutsbesitzer des 19. Jahrhunderts erscheinen läßt. Ihre physische Behäbigkeit symbolisiert ihre innere Erstarrung. Ihre Glatzen stehen für das Fehlen von Ideen, Rationalisie6

8

Sachtery.

Cest '. Komsomol 'sk.

370

Terror

und für mangelnde Anpassungsfähigkeit. Sie haben keine Masse mehr, die frisiert und entsprechend den Bedürfnissen des sozialistischen Staates zugeschnitten werden können. Auch ihre Namen sprechen bereits für sich: cub bedeutet Haarsträhne und läßt den Kahlköpfigen noch lächerlicher erscheinen, Klycko stammt von klyk Stoßzahn und weist auf die Aggressivität der Feinde hin, Bogorukov ist die Hand Gottes und damit unvereinbar mit den Bolschewiki. Nachdem v.a. mit „Bergleute" und „Komsomol'sk" der Vollzug des Generationenwechsels verkündet worden war, schloß vorläufig der Zyklus der „Schädlings"-Filme mit dem zweiten Teil von „Ein großer Staatsbürger" im November 1939, der als Film gilt, der im Nachhinein den Terror rechtfertigen sollte.9 In diesem zweiten Teil wird gezeigt, daß diejenigen, die sich gegen Stoßarbeit aussprechen, die Maschinen nicht überbelasten wollen, an alte Normen glauben und sich vor dem Fortschritt der Technik fürchten, auch nicht davor zurückschrecken, mit Explosionen 19 Arbeiter in den Tod zu schicken oder den geliebten Parteiführer Sachov (stellvertretend für Kirov) zu ermorden.10 „Ein großer Staatsbürger" behauptet noch einmal, daß all die Katastrophen und Produktionsausfalle von denen verursacht wurden, die sich bereits 1925 als Oppositionelle und Zweifler gezeigt hatten, unter dem Einfluß Trotzkijs standen und 1934 an der Ermordung Kirovs beteiligt waren. Er veranschaulicht, daß die Partei immer zu nachsichtig gewesen sei, immer auch denen eine Chance gegeben habe, die unverbesserlich nur der Sowjetunion hätten schaden wollen. Daher seien die Verhaftungen in den Jahren 1937/38 eine angemessene Reaktion auf eine außer Rand und Band geratene Gruppe von Feinden gewesen. Die Filme waren ein Mosaikstein im Gesamtbild des Ingenieurs, das in den Medien präsentiert wurde. Die permanenten Vorwürfe gegenüber Ingenieuren, die mal stärker, mal schwächer in der Öffentlichkeit via Reden, Presse, Film und Literatur verbreitet wurden, währten im Jahr 1937 bereits 20 Jahre lang. Angesichts einer solchen Dauer scheint es nicht verwunderlich, daß die Vorstellung von „Schädlingen" und Volksfeinden langsam in das Bewußtsein von Menschen eindrang und hier sedimentierte." Hiroaki Kuromiya hat daraufhingewiesen, daß Stachanov in seinen Memoiren in den siebziger Jahren immer noch mit großer Selbstver-

rungsvorschlägen

-

-

9

Vgl. auch Leyda, KINO, S. 344. Velikij grazdanin, 2. Teil, Lenfil'm Leningrad 1939, Regie:

10

F.

Érmler, Nachweis: als Video

in meinem Besitz. "

Vgl. Rittersporn, Gabor T.: The Omnipresent Conspiracy: On Soviet Imagery of Politics and Social Relations in the 1930s, S. 108, in: ders. / Lampert, Nick (Hg.): Stalinism: Its Nature and Aftermath. Essays in Honour of Moshe Lewin, Armonk, New York 1992, S. 101120.

Schädlingsdiskurs

371

ständlichkeit von „Volksfeinden" sprach.12 Selbst im Vokabular von alten, dem Regime abgeneigten Ingenieuren finden sich die Begriffe „Schädling", „Scharlatan" und „Pseudoingenieur".13 Auch die inkriminierten Personen benutzten diese Klischees: Ihre einzige Chance, sich selbst von dem Vorwurf, ein „Schädling" zu sein, freizumachen, lag darin, die eigenen Denunzianten als die wahren „Schädlinge" zu präsentieren. In dieser Frage gab es keinen moralischen Standpunkt, der es den Betroffenen verboten hätte, andere zu beschuldigen. Die sprachlichen Konventionen ließen ihnen nur die Chance, den anderen als Feind zu konstruieren und mit einer Gegendenunziation zu antworten, wollten sie selbst entkommen.14 Dabei wiesen die Ingenieure die sie selbst betreffende Beschuldigung nicht generell als absurd zurück, sondern konzedierten in Briefen an den VMBIT oder den Volkskommissar ihre früheren Vergehen.15 Sie legten Beichten ab, in denen sie sich selbst geißelten. Es bleibt unergründbar, ob diese Ingenieure tatsächlich ihre ehemalige Anhängerschaft für Trotzkij oder ähnliches als Verbrechen betrachteten. Um sich zu verteidigen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als diese Vorwürfe ernst zu nehmen und den Ritualen der Selbstkasteiung zu folgen. Der Direktor eines Fischtrusts, T.S. Nikitin, schrieb im Juni 1937 an Kalinin, er sei im November 1936 aus der Partei ausgeschlossen und daraufhin seiner Arbeit enthoben worden, weil er 1927 drei Tage lang als Trotzkist gegolten habe.16 Gegenüber Ordjonikidze erklärte im August 1936 der Ingenieur M.Ja. Gorlov, er sei seines Postens als stellvertretender Zechenleiter von „ZaporozStahl" enthoben und aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er zum einen 1935 nicht auf Anhieb seinen Kollegen Vol'fson zum konterrevolutionären Trotzkisten und Zinov'evisten erklärt und dessen Parteiausschluß gefordert habe und zum anderen seine Frau Gluzman 1931 fünf Monate lang mit heute verhafteten Menschen zusammengewohnt habe, so daß ihr bei der Parteiüberprüfung kein neues Parteibuch ausgehändigt worden sei.'7 Der Leiter des Personalsektors des Volkskommissariats für Schwerindu12

Vgl. auch Kuromiya, Hiroaki: Soviet Memoirs as a Historical Source, S. 24Iff., in: Fitzpatrick, Sheila / Viola, Lynne (Hg.): A Researcher's Guide to Sources on Soviet Social History in the 1930s, Armonk u.a. 1990, S. 233-254; Chlevnjuk, Oleg V.: 1937j: Stalin, NKVD i sovetskoe obscetvo, Moskau 1992, S. 209. Der Historiker B.A. Starkov spricht noch 1995 von „Kulaken", „Diversanten" und vertritt unhinterfragt die Meinung, daß Ingenieure tatsächlich „Schädlingstum" betrieben hätten. Starkov, B.A.: Déla i ljudi stalinskogo vremeni, St. Peters1995, S. 33f. burg 13 Subin, 1. 332; Bondarevskij, 1. lOOf. Vgl. 14 Vgl. zu dieser Frage auch: Halfin, From Darkness to Light. Class, Consciousness, S. 294. 15 Vgl. auch Fitzpatrick, Sheila: Signals From below: Soviet Letters of Denunciation of the 1930s, in: dies. / Gellately, Robert (Hg.): Accusatory Practices. Denunciation in Modern European History, 1789-1989, Chicago 1996, S. 85-120. 16 17

RCChlDNI, f. 78, Kalinin, MX, op. 1, d. 592,1. 30. RCChlDNI, f. 85, Ordzonikidze, op. 29, d. 710,1. 6f.

372

Terror

strie, Raskin, wandte sich im November 1936 an Ordzonikidize und erklärte, es sei sein Fehler gewesen, diesen nicht rechtzeitig über die Wie-

dereinstellung des 1932 als aktiven Trotzkisten vom Obersten Volkswirtschaftsrat entlassenen Drejcer informiert zu haben. Raskin legte mehrere Dokumente bei, die bezeugen sollten, daß nicht er, sondern drei andere Personen die Einstellung dieses „gefährlichen Elements" zu verantworten hätten.18 Der Ingenieur Kejf, der aus der Münze in Leningrad entlassen worden war und sich seit neun Monaten gejagt fühlte, beschuldigte deren Leitung nicht nur der Unterschlagung und Bestechung, sondern bezeugte auch, daß seine Kollegen ebenfalls der Meinung seien, daß der Direktor sich des „Schädlingstums" und der „Verschwörung" schuldig gemacht habe.19 Ein anderer Ingenieur, R.S. Patkovskij, der 1931 verhaftet und 1935 erneut aus Leningrad verbannt worden war, denunzierte seine Peiniger als „Karrieristen", „Intriganten", „Diebe" und „Schädlinge". Er führte sämtliche Namen seiner früheren Kollegen auf, die seiner Meinung nach „Trotzkisten", „Zinov'evisten", „Verräter" und „Lügner" waren.20 Die Technikerin N.I. Kopylova und ihr Mann, der Ingenieur und Chemiker V.A. Trosanov, die von der Baustelle bei Sinan Ca (Slnancaolovostroj) nahe des Japanischen Meers vertrieben worden waren, wandten sich an den VMBIT, um die eigene Unschuld zu beweisen, indem sie den Abschnittsleiter Sokolov und andere führende ITR beschuldigten, den Bau „barbarisch und verbrecherisch" zu führen; sie seien nur deshalb entlassen worden, weil sie aufgedeckt hätten, „wie schlecht und verbrecherisch" hier die Arbeiten geführt wurden. Sie vermuteten, daß der Vorgesetzte Kopylovas einfach nicht mit einer Frau hätte zusammenarbeiten

wollen.21

Denunziationen und Gegendenunziationen waren in den dreißiger Jahder Tagesordnung. Diese Art der Anklage und „Verteidigung" gehörte zur Alltagskultur. Viele Ingenieure benutzten dieses Instrument, um sich mißliebiger Kollegen zu entledigen oder sich den weiteren Aufstieg „frei zu denunzieren". ren an

Von den hier vorgestellten Ingenieuren und Ingenieurinnen gesteht bezeichnenderweise keiner bzw. keine, selbst denunziatorisch tätig gewesen zu sein. Calych und Bogdan berichten allerdings davon, daß das NKVD Menschen zu Denunziationen aufforderte. Calych war mit der Ingenieurin Nina Vasil'evna Cistjakova eng befreundet, als sie ihn 1938 plötzlich bat, sie umgehend von ihrem Posten zu entbinden. Erst Jahre später erklärte 18

19 20 21

RCChlDNI, f. 85, Ordzonikidze, op. 29, d. 743,1. 1. GARF, f. 5548, VMBIT, op. 17, d. 52,1. 276f. RCChlDNI, f. 85, Ordzonikidze, op. 29, d. 738,1. 9f. GARF, f. 5548, VMBIT, op. 17, d. 53,1. 1-125.

Schädlingsdiskurs

373

sie ihm, daß sie nach Moskau gezogen sei, um dem Auftrag des NKVD zu entgehen, kompromittierendes Material über Calych zu liefern.22 Der Mechaniker Jusupov eröffnete eines Tages Bogdan, er sei vom Rostower NKVD aufgefordert worden, eine Liste seiner Freunde und Kollegen aufzustellen. Jusupov weigerte sich, wurde nach zwei Wochen ermahnt und hörte dann nie wieder etwas von seinem Kontaktmann, der offenbar der Säuberung des Rostower NKVD zum Opfer gefallen war.23 Bogdan entließ schließlich ihr Kindermädchen, das auf einer Hausarbeiterinnenversammlung aufgefordert worden war, ihre Arbeitgeber zu belauschen und deren Briefe zu lesen. Bogdans Angestellte Davydovna machte keinen Hehl daraus, daß sie auch wie das Dienstmädchen der Nachbarn handeln würde, das aufgedeckt hatte, daß ihre Arbeitgeber „Trotzkisten" seien und jetzt in deren Wohnung wohnte.24 Einzig Pozdnjak gibt zu, sich an Institutssäuberungen zur Zeit der Kulturrevolution beteiligt zu haben (s.o.). Ob sich die anderen Männer und Frauen an diesem Ritual tatsächlich nicht beteiligten, muß hier als offene Frage stehenbleiben. John Greenwood behauptet, Jakovlev habe gegen Tupolev gehetzt und sei an dessen Verhaftung mitschuldig.25 Jakovlev versucht dagegen, seinen Aufstieg in Stalins Gunst als Vorgang zu beschreiben, auf den er selbst keinen Einfluß hatte. Nicht er drängte sich Stalin auf und die alten Ingenieure zurück, sondern der Zufall wollte es, daß gerade er der Auserwählte war. Er betont, daß es ihm äußerst unangenehm gewesen sei, als ihn der Volkskommissar M.M. Kaganovic im Werk vor all den anderen Ingenieuren als einen Vertreter der jungen Generation der sowjetischen Konstrukteure vorstellte: „Dadurch brachte er mich gegenüber A. Archangel'skij, dem Stellvertreter Tupolevs und einem von allen geachteten Konstrukteur, der ihn begleitete, in eine unmögliche Lage."26 Den Posten des stellvertretenden Volkskommissars hätte er am liebsten ausgeschlagen, schreibt Jakovlev. Stalin habe ihn 1940 quasi zur Annahme gezwungen, indem er ihn drohend an die nötige Parteidisziplin erinnert habe. „Viele unruhige Gedanken gingen mir damals durch den Kopf. Wie würden die Konstrukteure und andere Vertreter unserer Branche meine Ernennung aufnehmen? Ich war ja der jüngste von ihnen. Wie würde ich die Menschen anleiten, deren Namen allein mir Ehrfurcht eingeflößt hatten, schon als ich in

22

Calych, S. 59. Bogdan, Mimikrija, S. 188f. Bogdan, Mimikrija, S. 108ff. 25 Vgl. Greenwood, John T.: The Designers: Their Design Bureaux and Aircraft, S. 181, in: Higham, Robin et al. (Hg.): Russian Aviation and Air Power in the 20th Century, London 23

24

Portland 1998, S. 162-190. 26 Jakowljew, S. 172.

374

Terror

Flugzeugmodelle bastelte? Würden Sie auf mich hören, meine Anweisungen erfüllen?"27 Jakovlev verschweigt in diesem Zusammenhang, daß 1937 die „ganze Welt der russischen vaterländischen Flugidee", allen voran Tupolev und fast sämtliche Mitarbeiter des Zentralinstituts für Flugzeugbau (CAG1), verhaftet worden war.28 Er betont statt dessen, er sei sehr erleichtert gewesen, als ihm die großen Männer wie Polikarpov, der Professor Sergej Siskin und sein Lehrer Iljusin genauso wie seine jungen „Konkurrenten" Lavockin, Gorbunov und Gudkov gratuliert und sich kooperativfreundschaftlich verhalten hätten.29 Der Wissenschaftler Georgij Aleksandrovic Ozerov, der zusammen mit Tupolev im Lager saß, legt dagegen Jakovlev zur Last, er habe sich gegenüber Tupolev mehrfach feindselig verhalten und u.a. dafür gesorgt, daß 1943 die Tu-2 aus der Produktion genommen und durch die Jak-3 ersetzt wurde. Jakovlev sei in den Kreisen der Flugzeugbauer unbeliebt gewesen, weil man ihm als Referenten Stalins vorgeworfen habe, sich von seinen moralischen Grundsätzen verabschiedet zu haben.30 Welche Rolle Jakovlev tatsächlich spielte und was in seinen Memoiren durch die Veröffentlichung ungesagt blieb, kann hier nicht geklärt werden. Statt über Verleumdungen zu sprechen, schildern einige Ingenieure, daß sie in den Jahren 1937/38 die Orientierung verloren und angesichts der Massendenunziationen nicht mehr wußten, wer tatsächlich ein „Schädling" war und wer zu Unrecht beschuldigt wurde. Emel'janov gesteht in seinen Memoiren, daß er in dieser Zeit nicht mehr wußte, was „Schädlingstum" und was ein normaler Unfall sei. Einerseits habe es ungerechtfertigte Beschuldigungen gegeben, andererseits seien Maschinen kollabiert, deren Ausfall er sich nur als Sabotage erklären konnte.31 An solchen Aussagen ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen wird deutlich, daß die Existenz von „Schädlingstum" und Sabotage nicht angezweifelt wurde; sie war als Faktum akzeptiert worden. Zum anderen zeigen die Ingenieure hier erstmals, daß sie dem Staat in seiner Beurteilung der Ereignisse und Personen nicht mehr hundertprozentig vertrauten, sondern in ihren Urteilen abwichen. Schließlich war der Glaube vieler Ingenieure an „Schädlinge" auch ein Schutz vor der Einsicht, es könne auch Unschuldige und damit sie selbst treffen. Das Festhalten an der offiziellen Darstellung von dem sich ausbreitenden „Schädlingstum" sicherte die konstruierte heile Welt, in der nur die „Bösen" verhaftet wurden. Der Ingenieur der Schule

27 28

Jakowljew, S. 200. Saragin, A. [Pseudonym für G.A. Ozerov): Tupolevskaja Saraga,

S. 14,23.

29

Jakowljew, S. 202f. Saragin, Tupolevskaja Saraga, S. 54, 59. 31 Emel'janov, O vremeni, S. 333ff. 30

Frankfurt

am

Main 1971,

Schädlingsdiskurs

375

Smirnov, der in der Torfenergiewirtschaft an leitender Stelle wirkte, berichtet, daß er zu Beginn der Verhaftungswelle noch fest überzeugt gewesen sei, allen, die immer „ehrlich und korrekt" gearbeitet hätten, könne nichts passieren. Seine Frau versuchte, ihn wach zu rütteln:

„Und was war mit dem Chefingenieur der Hauptverwaltung, den sie verhaftet haben, war der etwa ein Betrüger?" Erst als immer mehr Kollegen und Bekannte verhaftet wurden, begriff

auch

er:

„Das NKVD greift jeden beliebigen Fehler auf (...) und versucht, ¡hm einen politischen Charakter zu geben. (...) Es gibt Schwierigkeiten mit dem Maschinenpark: Der Leiter verbringt die ganze Nacht in der Fabrik, während seine

Verhaftung schon vorbereitet wird."32 Auch der Vater

Van'jats, Sergej Kric, gab sich der Illusion hin, nur die „wirklichen Schädlinge" würden verhaftet; als ein der Sowjetmacht ehrlich ergebener Spezialist habe er nichts zu fürchten: „Wenn ich verhaftet werde, dann bedeutet das den Sturz der Sowjetmacht."33

32

Smirnov, 1. 73f.

"Van'jat, S. 3.

376

Terror

5) Verfolgung und Verhaftung a)

Terror als Tabuthema

So voll die Zeitungen und Kinos mit „Schädlings"-Klischees waren, so sehr blieben die Verhaftungen in späteren Darstellungen eine Leerstelle. Der Terror war ein Tabu, das in Veröffentlichungen nur bedingt angerührt werden konnte. Der Ingenieur Baskov ließ 1961 in dem Sammelband „Elektrifizieren wir Rußland" (Sdelaem Rosslju èlektriceskoj) und 1966 in den Voprosi Istorii einen Teil seiner Erinnerungen über seine Arbeit bei Dneprostroj abdrucken. Doch nur aus seinem Nachlaß im Archiv ist zu entnehmen, daß er 1945 infolge seiner Arbeit für GOÈLRO in den dreißiger Jahren verhaftet wurde.1 Genauso verhält es sich mit Ugrimov, der in dem gleichen Sammelband berichtet, wie er und sein Bruder in den zwanziger Jahren bei GOÉLRO mitarbeiteten, ohne daß er erwähnt, daß letzterer 1941 im Lager umkam. Auch diese Information findet sich nur im Archiv.2 Der Sammelband „Elektrifizieren wir Rußland", in dem 1961 sämtliche großen Ingenieure enthusiastisch über ihre Erfahrung und Arbeit im Rahmen des Plans GOÈLRO schrieben, ist ein Paradebeispiel für gesäuberte Memoiren. Gerade unter diesen Ingenieuren befand sich kaum einer, der nicht in die Mühlen des NKVD geraten war. Aber so wie Ugrimov und Baskov verloren auch andere Ingenieure wie Kudrjasov, der 1931 der Sabotage verdächtigt wurde, oder Radcenko, der 1937 verhaftet wurde, über dieses Leid kein Wort.3 Zum Redaktionskollegium dieses Jubiläumsbandes gehörte auch der Ingenieur Vladimir Jur'evic Steklov, Sohn des 1933 wegen „schwerer politischer Fehler" gemaßregelten Chefredakteurs der Izvestija, Jurij Michajlovic Steklov, der nur ein Jahr zuvor in seinen „Erinnerungen", die heute im Archiv lagern, niedergeschrieben hatte: „Die schwere Zeit des sogenannten Personenkults mit all seinen Folgen zog herauf. Im ganzen Land begannen die Verhaftungen, die immer mehr zunahmen

und auch die Mitatbeitet der Energiewirtschaft trafen. Es starb Antjuchin

(Lenénergo [Enetgievetsorgung Leningrad]) und Matlin (Mosénergo [Energieversorgung Moskau]), Tanpeter (Gorénergo [Energieversorgung Gor'kij]) und Riza-Zade (Azerbajdzan) und viele andere. Dutzende von Direktoren und Chefingenieuren der E-Werke erwiesen sich als schlimmste Volksfeinde. Auch im Apparat des Glavènergo [Hauptverwaltung der Energieversorger] 1 Memuary B.S. Baskova, in: Vorposy istorii 41 (1966) 3, S. 94-108; Baskov, B.S.: Ogladyvajas' na pobedonosnyj put', in: Sedlaem Rossiju èlektriceskoj, S. 140-151; RGAÉ, f. 271, Baskov, B.S., op. 1, d. 31: Perepiska, 1. 20. 2 Ugrimov, Moj put'; Ugrimov, 1. 66. Sdelaem Rossiju èlektriceskoj.

Verfolgung und Verhaftung

377

selbst begannen die Verhaftungen. (...) Die Lawine wuchs immer mehr an. Es verschwanden G.A. Dmitriev und C.I. Almazov. Nach einiger Zeit folgte auch Ju.N. Flakserman. Fast alle Abteilungsleiter des Glavénergo wurden ebenfalls verhaftet. Dann kam die Reihe an die Stellvertreter und die gewöhnlichen Ingenieure. Morgens, wenn wir auf die Arbeit kamen, erfuhren wir voneinander, wer von den Genossen diesmal nicht zur Arbeit erschienen war."4

Diese

Analyse findet sich nur im Archiv; in der Publikation zur Feier des

GOÈLRO war sie fehl am Platz.

publizierten Memoiren über Repressionen zu berichten, war nur bedingt zur Zeit des Tauwetters und dann wieder in der glasnost '-Periode möglich. Fedorova, deren Memoiren erstmals 1975 erschienen, und In

Kozevnikova, die ihre Memoiren 1978 veröffentlichte, deuten nicht ein-

mal an, daß Ingenieure verdächtigt, verfolgt und verhaftet wurden. Jakovlev, der seine Erinnerungen 1966 publizierte, äußerte sich dagegen durchaus über die angespannte Zeit des Terrors, das Verschwinden von Kollegen und die eigene Angst. Allerdings ist die Zeit der Veröffentlichung keineswegs allein dafür verantwortlich, ob sich ein Ingenieur zu den Verhaftungen äußerte oder nicht. Die Memoiren des Ingenieurs Gracev erschienen z.B. 1983, als von glasnost' noch keine Rede sein konnte, und enthalten trotzdem zumindest eindeutige Hinweise darauf, daß den Ingenieuren „Schädlingstum" vorgeworfen wurde.5 Im Gegensatz dazu hat Fedorova, die 1986 ihre Erinnerungen zum dritten Mal auflegen ließ, auch zu dieser Zeit kein Wort über Repressionen und Terror hinzugefügt. Es liegt also nicht nur an der Zeit und den Umständen, sondern in den Ingenieuren und Ingenieurinnen selbst, ob sie bereit waren, den Terror wahrzunehmen, zu memorieren und sich im Alter noch einmal damit auseinanderzusetzen. Fedorova war und ist bis heute eine so überzeugte Kommunistin, daß sie den Terror verdrängt hat. Wenn die Menschen nicht selbst später an irgendeinem Ort Zeugnis von ihrer Verfolgung ablegten, ist kaum festzustellen, wie weit sie betroffen waren. Die Metrobauingenieurin Kienja, deren Biographie immer nur von anderen aufgeschrieben wurde, erscheint in eben diesen Texten wie Fedorova als die ideale Sowjetingenieurin, die weit davon entfernt war, Erfahrungen mit dem Terror zu machen. Tatsächlich aber wurden 1938 sowohl ihr Mann, ein großer Brückenbauspezialist, als auch ihr Bruder, der ebenfalls Ingenieur war, verhaftet. Das ist nur bekannt, weil Kienjas Nichte darüber berichtet hat. Da sich Kienja von beiden Menschen lossagte und sich auch in der Tauwetterzeit nicht um ihre Rehabilitierung bemühte, ist anzunehmen, daß, auch wenn sie ihre Memoiren geschrieben hätte, ihr kein Wort über Terror und Repression aufs Papier gekommen wäre. 6 Das Phäno4

5 6

Steklov, 1. 5Iff. Gracev, Doroga, S. 119ff. Interview mit Irina

Kienja am

15.3.1994 in Moskau.

378

Terror

men, daß Menschen bis heute den Terror

ignorieren, ist keine Seltenheit. Rozanov sagte 1996 im Interview, er habe den Terror 1937 und 1938 nicht wahrgenommen. Diese Aussage macht er, obwohl er in den dreißiger und vierziger Jahren selbst von Instituts- und Parteiausschluß betroffen war.7 Offenbar sah er sein eigenes Leid nur als individuelles Schicksal und blendete alle darüber hinausgehenden politischen Ereignisse aus. Auch der Ingenieur S.S. Kisel'ev (*1919), der von 1937 bis 1942 am Tomsker Polytechnischen Institut Bergbau studierte, beteuerte im Interview 1997, zu seiner Zeit nichts von den Repressionen erfahren zu haben.8 Selbst Fedoseev vertritt, daß die Verhaftungen „leise und geheim" erfolgt seien, so daß man kaum etwas mitbekommen habe. Das mag teilweise daran liegen, daß er 1938 im Ausland weilte und dadurch nicht die ganze Hochphase der Massenverhaftungen erlebte. Ungeachtet dessen versucht Fedoseev sich in seinen Memoiren immer wieder selbst zu erklären, warum er nicht schon viel früher erkannte, daß die Sowjetunion ein Unrechtssystem war. Obwohl aus dem Allgemeinen Vakuum-Labor seiner Fabrik „Svetlana" mehrere Leiter sowie große Ingenieure wie S.A. Veksinskij (1896-1974) und A.L. Mine (*1894) „verschwanden" und auch zwei seiner Schulkameraden Opfer des Terrors wurden, habe er sich über die Gründe keine Gedanken gemacht, so Fedoseev.9 Er stundet dies seinem damaligen unbedingten Willen, sich in die Sowjetunion einzupassen und hier dauerhaft Fuß zu fassen. Dieser Assimilierungswunsch machte ihn betriebsblind. Darüber hinaus gibt es auch das Phänomen, daß Betroffene den Terror nicht wahrhaben wollten bzw. er so schmerzhaft erfahren wurde, daß sie darüber nicht sprechen können. Als ich Taissja Aleksandrovna Ivanenko 1993 das erste Mal interviewte, gab sie an, ihr Vater sei 1937 „rechtzeitig" gestorben. Bei einem späteren Zusammentreffen 1999 erzählte sie gequält und gegen ihren inneren Widerstand ankämpfend, ihr Vater sei 1937 verhaftet und erschossen worden.10 Derart war und blieb der Terror für viele Ingenieure und Ingenieurinnen ein Nicht-Ereignis, eine Randerscheinung, eine Leerstelle oder ein traumatisches, verdrängtes Kapitel des eigenen Lebens. Die Tabuisierung des Terrors wirkt bis heute nach. Gerade Kommunisten und Kommunistinnen, die nicht unmittelbar vom Terror betroffen waren oder denen es kein unmittelbares persönliches Bedürfnis war, sich mit dem Terror bzw. mit der Sowjetunion und der eigenen Geschichte kritisch auseinander zu setzen, pflegen auch heute noch die Praxis des Schweigens. Während die 7 8

Rozanov, S. 4.

Interview mit Sergej Semenovic Kisel'ev am 8.9.1997 in Moskau, Manuskript, S. 2. Fedoseev, S. 60f. 10 Ivanenko, zweites Interview am 17.4.2000 in St. Petersburg.

9

Verfolgung und Verhaftung

379

v£>

Abb. 17: Aleksandr G. Vasil'ev (1885-1937; rechts), Vater von Taisija Aleksandrovna Ivanenko, mit seinem Buchhalter (links) im Juni 1936, aufgenommen für die Presse anläßlich der Auszeichnung des von ihm geführten Elektrizitätswerks in Gateina bei Leningrad mit dem „Roten Wappen". Vasil'ev selbst bekam für seine vorbildliche Leistung eine silberne Uhr. Ein Jahr darauf wurde er verhaftet und erschossen. Foto: aus dem Privatarchiv T.A. Ivanenkos.

380

Terror

einen sich nach dem Tag sehnten, an dem sie die ganze Wahrheit erzählen dürften, wie Loginov es schreibt, verspürten andere wie Fedorova oder auch Rozanov keinen Bedarf, aus den alten, eingeschliffenen und vielfach wiederholten Narrationen auszubrechen.

b) Kriminalisierte Produktionsstörungen Die Aufzeichnungen, die im Archiv liegen, zeugen fast alle vom Terror. Es ist frappierend zu sehen, daß es nahezu niemanden gab, der nicht fürchtete, bei technischem Versagen sofort als Saboteur und Volksfeind

angeklagt zu werden.

„Man darf nicht vergessen, daß wir das Jahr 1937 schrieben. Damals konnte ein Mißgeschick bei der Arbeit, ein Irrtum als vorsätzliche Schädlingsarbeit ausgelegt werden. Als .Schädling' und als nächste Stufe als „Feind des Vol-

kes" konnte ein Mensch nicht nur bei einem Mißerfolg, sondern allein auf bloßen Verdacht hin abgestempelt werden. Sowohl Einzelpersonen als auch ganze Organisationen wurden in diesen Sog von Mißtrauen und grundlosen

Beschuldigungen hineingezogen,"1 ' schreibt Jakovlev. Als von dem Langstreckenflug Moskau Sevastopol' Moskau die Hälfte der Maschinen nicht zurückkehrte, wurde die gesamte Leitung seines Fliegerclubs verhaftet, so daß dieser eine Zeitlang nur noch auf dem Papier bestanden habe. Nicht anders erging es den Piloten und Flugzeugkonstrukteuren, die Stalin 1938 für das Versagen der Luftwaffe in Spanien verantwortlich gemacht und verhaften lassen habe.12 Auch Maliovanov nahm deutlich die Gefahr wahr, für einen beliebigen Fehler oder Patzer verhaftet und der Sabotage verdächtigt zu werden. Als er 1937 in die Gruben des Trust „Donbasskohle" gerufen wurde, um die „Folgen des Schädlingstums" zu beseitigen, habe er verstanden, daß hier kein „Schädlingstum" vorlag, sondern die Ingenieure gezwungen gewesen waren, auf Risiko zu gehen. In den Gruben, die ihm unterstanden, wurden Ingenieure verhaftet, ohne daß er dagegen etwas unternehmen konnte, so Maliovanov. Ihm sei nur übriggeblieben, „objektiv zu sein", seine Leute zu verteidigen und den Ingenieuren so viel Material zur Verfügung zu stellen, daß sie nicht gezwungen waren, überflüssige Risiken -

-

einzugehen.'3

Während Jakovlev und Maliovanov den Terror zunächst nur als indirekt Betroffene erlebten, schildern Calych, Lavrenenko und Gajlit die Situation, selbst für einen Produktionsausfall angegriffen zu werden. Als Calychs Elektrodenwerk in Celjabinsk 1938 hundert Prozent Ausschuß "

Jakowljew, S. Jakowljew, S. 13 12

106f. 158. Maliovanov, S. 2.

381

Verfolgung und Verhaftung

produzierte, erschien in der örtlichen Zeitung Celjabinskij rabocij ein Artikel, in dem seine Fabrik scharf angegriffen wurde, nebst Karikatur, die einen Berg von verhunzten Elektroden zeigte, auf dem er selbst thronte:

„Det Artikel traf mich nicht nur, sondern machte mir auch Angst. Ich verstand sehr gut, daß das Erscheinen des Artikels nicht auf die Initiative det Redaktiund ihrer Korrespondenten zurückging, sondern er entweder auf Hinweis der zuständigen Behörden oder der Leitung des Kombinats geschrieben worden war. Ich mußte mit den schlimmsten Folgen rechnen, bis hin zur Beschuldigung des Schädlingstums."14 on

Auch Lavrenenko erkannte die Gefahr angesichts der Situation, daß die ihm betriebene Turbine des Kraftwerks in Krasnokamsk immer knapp vor einer Havarie stand. Die Lage spitzte sich zu, als 1937 der Direktor abgesetzt wurde und ein neuer Leiter kam, mit dem er sich schon früher gestritten hatte und jetzt kein Wort mehr sprach. von

„Damals lud man mich ein, in dem Moskauer Trust ORGRÈS zu arbeiten, und

ich nahm an, denn wir hatten schon das Jahr 1937."15 Eine ähnliche Beklemmung beschreibt schließlich Gajlit. Als sich eine Havarie ausgerechnet am Vorabend des Jahrestags der Revolution im Aluminiumwerk am Volchov ereignete, ahnte er, daß der Einsturz des Dachfirsts des Gebäudes der Tonerdefabrik als Fall von „Schädlingstum" bewertet werden würde. Obwohl niemand verletzt worden war, das Kollektiv in permanenter Arbeit den Schaden binnen zehn Tagen behob und das Produktionsprogramm trotz Havarie erfüllte, begannen Ende 1936 die Verhaftungen im Betrieb, die sich im ersten Halbjahr des Jahres 1937 fortsetzten.16

c) Verlust der Wachsamkeit

"



Die Verhaftungen hatten in der Regel zur Folge, daß in den Fabriken die Parteikomitees auf ihren Versammlungen die Verhafteten des „Schädlingstums" beschuldigten und die Belegschaft aufforderten, für den Ausschluß der Angeklagten aus der Partei zu stimmen. Steklov ist einer der wenigen, der über diese Zusammenkünfte berichtet: „Es fanden Parteiversammlungen statt, auf denen wir

uns

gegen die Brust

schlugen und uns selbst bezichtigten, daß wir die bolschewistische Wachsam-

keit verloren hatten und nicht imstande gewesen waren, den Volksfeind zu entlarven, der unter uns gearbeitet hatte. Aber wie hätten wir ihn auch entlarven können, wenn diese Volksfeinde die größten Autoritäten gewesen waren, die ihren Rückhalt bei der Regierung gehabt hatten und auf die Posten aufgrund ihres großen Wissens, ihrer Energie und ihrer politischen Prinzipienfe14 15 16

Calych, S. 61.

Lavrenenko, 1. 30.

Gajlit, 1. 44.

382

Terror

stigkeit befördert worden waren. Oft wurden die aktiven Redner solcher Versammlungen kurz darauf selbst zu Opfern der Repressionen. In diesem Wirrwarr war nichts zu verstehen. Nachdem eine ganze Plejade von Abteilungsleitern und um die zehn stellvertretende Leiter in unserer Hauptverwaltung verhaftet worden waren, wurde auch Lovin als übelster Volksfeind, polnischer Spion usw. festgenommen, der unter dem Einfluß der damals herrschenden Situation auf den Versammlungen aufgetreten und Feinde zerschlagen hatte."17 Steklov deutet mit dem Plural „wir" an, daß auch er zustimmte, als andere zu Volksfeinden gestempelt wurden. Loginov ist dagegen einer von den Ingenieuren, der sich standhaft der Aufforderung widersetzten, andere zu denunzieren. Er kam 1938 aus den USA zurück, um zu erfahren, daß sein Vorgesetzter Nemov, unter dem er acht Jahre lang gearbeitet hatte und dem er sowohl seine Wohnung als auch seine Karriere verdankte, verhaftet worden war. Loginov wurde nicht nur gezwungen, dessen Stellung als Leiter der neu organisierten Zehnten Hauptverwaltung des Volkskommissariats für Rüstungsindustrie zu übernehmen, sondern auch angehalten, auf der Parteiversammlung der Verwaltung „Volksfeinde" zu entlarven: „So war damals die Praxis: Sobald jemand verhaftet wurde, forderten die Parteiorgane von den Mitarbeitern die Demaskierung von Schädlingsarbeit. Auf sämtlichen Versammlungen und Sitzungen erklärte ich, daß mir nichts Negatives über Nemov bekannt sei."' Loginov versuchte damit, nicht nur Nemov zu schützen, sondern auch sich selbst zu retten, denn ihm war klar, daß alle Anschuldigungen, die er gegen Nemov aussprechen würde, sich auch gegen ihn selbst als Nemovs engsten Mitarbeiter kehren würden: „Für alles, was Gutes und Schlechtes im Bereich des Gerätebaus geleistet worden war, war ich genauso verantwortlich."19 Infolge seiner beharrlichen Weigerung, seinen Freund und Förderer zu belasten, schloß ihn das Kiewer Bezirkskomitee „wegen Verlusts der Wachsamkeit" aus der Partei aus. Loginov legt Wert darauf zu betonen, daß dies wegen seiner „ehrlichen und aufrichtigen Haltung" geschah: „Ich unterstreiche ,ehrliche Position', denn einige Mitarbeiter logen aus Karrieregründen."20 Er ließ sich auch nach seinem Parteiausschluß nicht beirren, als der Ermittlungsführer des NKVD von ihm forderte, seinen früheren Studienkollegen, Mitarbeiter und ehemaligen Direktor der Experimentalfabrik für Meßgeräte, I. Gorochov, zu belasten, der sich bereits in Haft befand. Ihm wurde vorgeworfen, mit der Absicht, die sowjetische Wirtschaft zu schädigen, überflüssige Maschinen aus dem Ausland importiert zu haben. Anstatt dem Wunsch des Ermittlungsführers zu ent17 18

Steklov, 1. 53f.

Loginov, 1. 82. Loginov, 1. 83. 20 Loginov, 1. 84. 19

Verfolgung und Verhaftung

383

sprechen, nahm Loginov die gesamte Verantwortung für die Auslandsbestellungen auf sich, weil er als Leiter der Hauptverwaltung alle Anforde-

rungen unterschrieben hatte. „Verdutzt fragte mich der Ermittlungsführer, ob ich ihm das auch schriftlich geben könnte. .Natürlich', antwortete ich und schrieb sofort auf, was ich gesagt hatte."21 Gorochov wurde daraufhin tatsächlich freigelassen. Loginov muß gewußt haben, daß er mit einem solchen Schritt dem NKVD Material gegen sich selbst lieferte. Aber er zeigte einen so starken Gerechtigkeitssinn, daß er über jede falsche Anschuldigung in Wut geriet und offenbar jede Vorsichtsmaßnahme vergaß. Genau das gleiche Schicksal wie Loginov ereilte Pozdnjaks Frau, die als Referentin für den stellvertretenden Volkskommissar für Schwerindustrie, Vladimir Ivanovic Ivanov (1893-1938), arbeitete. 1937 wurde Ivanov verhaftet und auf der folgenden Parteiversammlung des Volkskommissariats verlangt, daß alle für seinen Ausschluß aus der Partei stimmen sollten. Sie votierte als einzige zweimal gegen seinen Ausschluß. Daraufhin zitierte der Parteiorganisator sie zu sich und drohte: „Schönheit, unterschreibe, oder Du wirst Unannehmlichkeiten haben!"22 Anna Isaakovna hielt an ihrer Meinung fest, daß Ivanov kein Volksfeind sei, und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Infolgedessen blieben ihr ein Studium und eine weitere Karriere verwehrt. Ihr Mann wurde ein Jahr später durch ein solch mutiges Vorgehen vor einem Parteiausschluß bewahrt. Pozdnjak wurde keine Sabotage vorgeworfen, sondern der Fakt, daß er 17 Jahre zuvor im Bürgerkrieg zusammen mit einer Litauischen Einheit gekämpft hatte, die zwar auf seiten der Roten Armee gestanden hatte, nun aber als antisowjetisch eingestuft wurde. Als der Parteiorganisator der Abteilung für Rüstungsindustrie verlangte, Pozdnjak aus der Partei auszuschließen, erkundigte sich der Parteisekretär im Volkskommissariat für Maschinenbau nach Pozdnjaks Verdiensten und beschloß aufgrund dessen hervorragender Leistungen, ihn zwar auf einen minder verantwortungsvollen Posten zu versetzen, ihn aber nicht aus der Partei auszuschließen.23 Großes Glück hatte auch Gajlit, der mit einer Maßregelung davonkam. Gajlit ist einer von den Ingenieuren, die sich aktiv für bedrohte Ingenieure einsetzten. Er schrieb als Chefingenieur und stellvertretender Direktor der Aluminiumfabrik am Volchov zusammen mit dem Direktor der Fabrik A.I. Kool' am 15. Mai 1937 einen Brief an den Sekretär des ZK der Partei, Andrej Aleksandrovic Zdanov (1896-1948), und den Nachfolger Ordzonikidzes, Valerij Ivanovic Mezlauk (1893-1938), in dem er sich ge21 22 23

106. Interview mit Anna Isaakovna Pozdnjak, 1. 30f.

Loginov, 1.

Pozdnjak am 8.10.1997 in Moskau.

384

Terror

gen die infolge der Havarie in der Tonerdefabrik ihrer Werksleiter aussprachen.: „In

angeordnete Entlassung

Personen verhaftet worden, die verDiese Personen genossen bei uns kein besonderes Vertrauen, und wir hatten sie nur deshalb nicht ausgewechselt, weil wir keinen Ersatz für sie hatten. All das ist gut. Aber jetzt haben wir vor einigen Tagen eine Mitteilung über die unbedingt erforderliche Entlassung unserer wichtigsten Werksleiter erhalten, ohne daß uns irgendwelche Fakten über Schädlingstum bekannt wären. Die Schwierigkeiten des Jahres 1936, die durch Mangel an Rohstoff hervorgerufen waren, sind nicht Folge der Arbeit dieser drei Männer. Ungeachtet des persönlich erlittenen Schmerzes haben wir die Anweisung der .Organe' erfüllt und die drei entlassen. Aber der Umstand, daß wir ihnen vertraut haben, sie aufgezogen haben, wie viele andere junge Spezialisten auch, erfüllt uns mit Kummer. (...) Jetzt werden wir beschuldigt, diese Männer zu decken, obwohl die Fabrikgemeinschaft selbst diese drei bis zuletzt als ehrlich anerkannt hat. (...) Außerdem fordert die Fabriköffentlichkeit die Entlassung des Chefelektrikers aus sozialen Gründen, ohne daß sie ihm Arbeitsverstöße nachweisen kann, des Chefbuchhalters und des Leiters der Finanzabteilung. Jedem, der das Fabrikleben versteht, ist klar, daß dadurch die Erfüllung des Produktionsprogramms der Fabrik bedroht ist."24 unserer

Fabrik sind eine Reihe

von

dächtigt werden, Schädlingsarbeit betrieben zu haben.

Gajlit und Kool' folgten dem üblichen Sprachduktus und erkannten Verhaftungen grundsätzlich an, um den von ihnen beanstandeten Fall dann

als Ausnahme zu markieren. Dennoch setzten sie sich damit selbst dem Verdacht aus, „Verteidiger von Volksfeinden" zu sein. Das Leningrader Gebietskomi tee schloß am 17. Juni 1936 Kool' „wegen des Versäumnisses, die Liquidierung der Folgen des Schädlingstums durchzuführen, (...), wegen der Verteidigung von Volksfeinden und Schädlingen und wegen Widerstandes gegen die Umsetzung der Maßnahmen zur Liquidierung des Schädlingstums" aus der Partei aus. Gleichzeitig wurde Gajlit verpflichtet, einen „konkreten Maßnahmenkatalog zur Liquidierung der Folgen des Schädlingstums" auszuarbeiten. Kool' wurde nur wenige Tage später verhaftet, während der örtliche Parteisekretär Melkisev auf einer Parteiversammlung versuchte, den Ausschluß Gajlits aus der Partei durchzusetzen: „Man muß den Mitarbeitern der Fabrik den nötigen Respekt dafür zollen, v.a. wenn die angespannte Lage damals bedacht wird, daß sie sich dem Sekretär nicht beugten, gegen meinen Ausschluß stimmten und sich nur für eine scharfe Rüge inklusive Verwarnung wegen der Verteidigung des Volksfeindes und des Verlusts der politischen Wachsamkeit aussprachen."25 An Gajlits Fall ist zu sehen, daß, wenn eine Belegschaft zusammenhielt, sie durchaus Erfolg bei der Verteidigung ihrer Mitarbeiter haben konnte. Einzelne ITR konnte der NKVD herausgreifen, ein ganzes Arbeiterkollektiv konnte nur schwerlich verhaftet werden.

24 25

Gajlit, 1. 44f. Gajlit, 1. 45f.

385

Verfolgung und Verhaftung

d) Sprachlosigkeit

Angesichts dieser Bedrohungskulisse,

der

Verhaftungen, die

alle Betrie-

be, Fabriken, Institute und Behörden betrafen, angesichts jeden neuen Morgens, an dem erneut Kollegen nicht zur Arbeit erschienen, weil sie in

der Nacht verhaftet worden waren, machte sich Angst unter Ingenieuren und Ingenieurinnen breit.26 Aber es sind nur wenige, die es vermögen, diese Lage ausführlicher zu schildern. Die meisten erscheinen sprachlos und begnügen sich damit, wenige Fakten zu nennen und diese für sich wirken zu lassen. Während es eine etablierte Sprache gab, um über Industrialisierungserfolge zu sprechen, und eine, um „Schädlinge" zu denunzieren, hat sich in der Sowjetunion nie eine Sprache zur Beschreibung der Angst und Schrecken des Großen Terrors entwickeln können. Statt dessen entstand eine Art Code und etablierten sich einige Vokabeln, mit denen der Terror umschrieben werden konnte, ohne ihn beim Namen zu nennen. Diese Sprache der Andeutungen und Chiffren, der Leerstellen und Platzhalter hat sich bis in die Erinnerungen der Ingenieure fortgesetzt. Weder Van'jat noch Ivanenko gaben im Interview explizit preis, wie sie die Terrorzeit empfanden. Ivanenko bereitet die Verhaftung und Erschießung ihres Vaters im Jahr 1937 einen solchen Schmerz, daß sie tatsächlich nicht in der Lage war, ihre damalige Situation, Angst und Anspannung zu beschreiben. Den Verlust hat sie offenbar nie verarbeitet, so daß ihr heute keine Formulierungen zur Verfügung stehen, mit denen sie das Erlebte ausdrücken könnte.27 Im Unterschied dazu geht Van'jat wesentlich gefaßter mit ihrer Vergangenheit um. Sie begnügt sich mit der Schilderung der reinen Fakten. Im September 1937 wurde ihr Vater auf dem Weg zur Kur aus dem Zug heraus zusammen mit anderen ehemaligen Mitarbeitern der China-Osteisenbahn verhaftet und bald darauf erschossen.28 Ihre Mutter hatte großes Glück, weil ein NKVD-Mann sich ihrer erbarmte und sie warnte, sie müsse umgehend verschwinden: „Gehen Sie irgendwohin nach Mittelrußland, wo Sie keiner kennt. Es ist nicht seine Schuld, wir leben in solch einet Zeit",29 habe er zu ihr gesagt. Sie ließ alles stehen und liegen, verließ für immer die Sechs-Zimmer-Wohnung in Cita samt Mobiliar und Wertgegenständen und tauchte mit Van'jats jüngerer Schwester in Saratow unter. Ein paar Fotografien aus der Wohnung seien ihnen später anonym zugesandt worden, so Van'jat. Sie selbst, die in Moskau studierte, war froh, daß sie 26

Thurston, Robert W.: Fear and Belief in the USSR's „Great Terror"; Response 1935-1939, in: Slavic Review 45 (1986), S. 213-244. Arrest, 27 Ivanenko, zweites Interview am 17.4.2000 in St. Petersburg. Siehe auch:

to 28

Siehe

zur

Verhaftung der ehemaligen Mitarbeiter der China-Osteisenbahn

Politbüro, S. 277. 29

Van'jat, S. 2f.

auch

Chlevnjuk,

386

Terror

die ihr angebotene Wohnung noch nicht bezogen hatte. Der Besitz einer solchen Wohnung hätte sie als Tochter eines Volksfeindes in große Gefahr gebracht, wenn sie die Begehrlichkeit eines NKVD-Beamten geweckt hätte. So aber konnte sie unbehelligt weiterstudieren.30 Den Schmerz und die Ungewißheit nach der Verhaftung des Vaters, ob sie selbst, ihre Mutter und ihre Schwester tatsächlich verschont bleiben würden, stellt sie nicht explizit dar. Die Vorgänge an sich sind so ungeheuerlich, daß sie keines Kommentars bedürfen. Eine ähnliche Wortkargheit und einen ähnlich nüchternen Stil entwikkelten auch die Ingenieure in ihren Memoiren. Calych faßt sich sehr kurz, wenn er schreibt, daß ihm der Artikel, der ihn scharf angriff, „Angst" machte. Die Gefahr, die ihm drohte, deutet er nur mit den Worten an, es seien die „traurigsten Folgen" zu erwarten gewesen. Einer genaueren Schilderung des Verlaufs und damit seiner Anspannung damals entzieht er sich mit der Floskel: „Aber Gott war gnädig zu mir, und dieser Kelch ging an mir vorüber."31 Ähnlich knapp drückt sich Lavrenenko aus, der wie Calych nach Worten sucht, mit denen er den Terror umschreiben kann, ohne ihn direkt zu benennen. „Ein tödliches Geschenk" ist seine Formel für die Ernennung des Direktors, von dem er befürchtete, dieser werde ihn bei der nächstbesten Gelegenheit denunzieren und verhaften lassen. Die Worte „Denunziation" und „Haft" verwendet er aber nicht, sondern begnügt sich damit zu sagen, daß ihre Zusammenarbeit „tragisch" hätte enden können. Etwas mehr als nur Andeutungen äußert Lavrenenko über die Anspannung während des Terrors 1938: „Die Zeit war beunruhigend. 1938 begann. Besondere Aufmerksamkeit war gefordert, die Leute „verließen" uns auf Schritt und Tritt. (...) Plötzlich und kurzfristig wechselten die Ingenieure, oft fragten die .Workaholics' mit Entsetzen, was vorgeht, warum dieser oder jener Ingenieur entfernt wurde. Was konnte

man

antworten? Ich sagte, laßt

uns

arbeiten. Laßt Euch nicht durch

Dinge ablenken, die uns unbekannt sind."32 Die Lage war sehr „angespannt", da es nie genügend elektrischen Strom gab. Tatsächlich erschien eines Morgens der Leiter der Turbinenhalle, Pavel Fedorovic Kretov, nicht zur Arbeit. „Unruhe und allgemeines Unverständnis: Wo ist er, was ist mit ihm? Am nächsten Tag erfuhren wir: verhaftet... Wofür? Er kam nicht zurück."33 Lavrenenko drückt aus, daß er damals keinen anderen Weg sah, als die Augen vor den Verhaftungen zu verschließen. Nach dem Vogel-StraußPrinzip hoffte er, selbst verschont zu bleiben, wenn er sich nicht um die 30 31

32 33

Van'jat, S. 2f.

Calych, S. 60.

Lavrenenko, 1. 30f. Lavrenenko, 1. 31 f.

387

Verfolgung und Verhaftung

Vorgänge kümmerte. Dementsprechend euphemistisch umschreibt er die Verhaftungen als „Verlassen" oder „Entfernen". Während Calych und Lavrenenko derart eher Auslassungen markieren und durch das Nichterwähnen deutlich machen, welche Abgründe sich hier vor ihnen auftaten, versucht Gajlit die Stimmung in Worten wiederzugeben, die 1937 in seiner Fabrik am Volchov herrschte, nachdem der Direktor verhaftet und er nur knapp einem Parteiausschluß entkommen war:

„Man kann sich vorstellen, wie schwer die Lage in der zweiten Hälfte 1937 in der Fabrik war, als praktisch das gesamte alte ingenieur-technische Leitungspersonal und der Direktor durch weniger erfahrene Leute ausgetauscht wur-

den."34 Die Situation spitzte sich weiter zu, als sie im Januar 1938 den Auftrag bekamen, die Fabrik von Bauxit auf Nephelin umzustellen, so daß sie das ganze Jahr 1938 nur damit beschäftigt waren, „Schwierigkeiten abzuwenden". Die Versorgung mit Material und Technik war so schlecht, daß sie mit der geforderten Umrüstung der Fabrik in Verzug gerieten. „Und in einem solchen angespannten Moment wurde der Direktor

vom

Volkskommissar für Schwerindustrie zum Rapport einbestellt. Wie heute erinnere ich diese 48 Stunden, nicht zwei Tage, sondern 48 Stunden, in denen wir den Bericht vorbereiteten. Bevor Samochvalov abfuhr, drückte er mir fest die Hand und sagte: Nun, Andrej, vielleicht wirst Du erneut in diesem schwierigen Moment allein bleiben. (Er meinte, daß er wohl seines Postens enthoben

würde.)"35

Zehn Tage erhielten sie überhaupt keine Nachricht, bis sie erfuhren, daß nicht ihr Direktor Samochvalov abgesetzt, sondern der Leiter der Hauptverwaltung der Aluminiumindustrie (Glavaljumin), P.I. Mirosnikov, Opfer einer „Verleumdungsaktion" und Samochvalov zu dessen Nachfolger berufen worden war. Das Jahr 1938 bedeutete für Gajlit nicht nur ständige Bedrohung durch Terror, sondern eine gleichzeitige erhebliche Anspannung durch die Umstrukturierungen innerhalb der Fabrik und des Volkskommissariats infolge dessen Zerschlagung und Reorganisation nach Branchen. Als er im Oktober 1938 erfuhr, daß sein Bruder Evgenij, der Leiter der Bezirksfinanzverwaltung in der Schwarzmeer-Region gewesen war, als Volksfeind zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, glaubte Gajlit, weiteren Belastungen nicht mehr gewachsen zu sein: „Ende 1938

waren meine Nerven so am Ende und meine Gesundheit befand sich in einem solch kritischen Zustand, daß ich bat, man möge mich auf einen gewöhnlichen Ingenieursposten versetzen. Meinem Wunsch wurde entsprochen: Am 14. Januar 1939 ernannte man mich zum Leiter der technischen Abteilung des Allunionsinstituts für Aluminium

(VAMI)."36

34

Gajlit, 1. 49.

1.51. "Gajlit, 36

Gajlit, 1.

52.

388

Terror

Gajlit drückt seine Hilflosigkeit aus. Er sah die Bedrohung, litt unter ihr entsetzlich, aber wußte doch lange nichts anderes zu unternehmen, als noch eifriger als sonst zu arbeiten, in der Hoffnung, seine Anstrengungen

würden honoriert werden. Auch er deutet vieles nur an. Er konzentriert sich darauf, die Schwierigkeiten im Betrieb zu schildern, die aber nur deshalb so bedrückend waren, weil alle wußten, daß Rückstände als politische Verbrechen bewertet wurden. So wie damals der Direktor sich mit einem Halbsatz verständigte und mit seiner Bemerkung, „vielleicht bleibst Du wieder allein", doch alles sagte, was zu sagen war, so genügen auch Gajlit wenige Worte, um anzudeuten, was es für sie damals bedeutete, zehn Tage auf eine Nachricht aus Moskau zu warten. Schließlich muß auch die Verhaftung des Bruders nicht wortreich beschrieben werden, da jedem Zeitgenossen klar war, daß das nicht nur Schmerz, sondern auch Gefahr für die eigene Freiheit bedeutete. Insofern entzog sich Gajlit mit seinem Versetzungswunsch nicht nur der großen Verantwortung, sondern minimierte mit der Wahl eines kleineren Postens die Gefahr, selbst verhaftet zu werden. Weniger in Andeutungen als in konkreten Benennungen spricht Bogdan über die Zeit des Terrors und ihre ohnmächtige Angst. Sie beschränkt sich nicht nur auf ihre ganz persönliche Erfahrung, sondern geht zumindest teilweise auch auf die politischen Ereignisse ein. Für sie begann die Zeit des Terrors mit der Verhaftung M.N. Tuchacevskijs (1893-1937) und der Losung „Die proletarische Wachsamkeit stärken". Sie selbst sah sich in Gefahr, nachdem in Rostow ein Deputierter des Obersten Sowjets, für den sie hatte Wahlwerbung machen müssen, verhaftet wurde, weil er angeblich ein Attentat auf Vorosilov geplant hatte. Zudem wurden zwei Fabrikvorsitzende verhaftet, die ihr Mann Sergej gerade mit seinen Studenten besucht hatte. Alle warteten angsterfüllt, so Bogdan, wer der nächste sein würde: „Eine Verhaftungswelle rollte über das ganze Land, und wie immer, wenn sie den Leiter verhaftet hatten, (...) fingen sie an, auch dessen nächste Mitarbeiter und Freunde zu verhaften. Der Direktor von „Landmaschinen" wurde verhaftet, und nach ihm viele Spezialisten der Fabrik. Unser Haus, in dem die 132 Wohnungen hauptsächlich von Spezialisten und Politarbeitem bewohnt wurden, war einer permanenten Verwüstung ausgesetzt. Fast jede Nacht fuhr der Wagen der GPU, „die schwarze Krähe", vor und nahm jemanden mit. Besonders furchtbar war die Nacht, als sie kamen, um unseren Nachbarn zu verhaften und dessen Wohnung zu durchsuchen, die direkt über uns lag. (...) Die Durchsuchung dauerte sehr lang, und wir hörten, wie über unseren Köpfen die Männer in schweren Stiefeln gingen, aus irgendeinem Grund die Möbel hinund herschoben, und wie Frau und Kinder laut weinten, als der Wagen ab-

Bogdan, Mimikrija, S.

122f.

Verfolgung und Verhaftung

389

Nicht nur ihre früheren Arbeitskollegen im Mähdrescherkombinat wurden verhaftet, sondern auch der Professor, bei dem sie sich vergeblich um eine Stelle im Institut beworben hatte. Jetzt schien es Bogdan, ihr Glück gewesen zu sein, daß sie damals abgelehnt worden war. Gleichzeitig war die Unsicherheit um so größer, da niemand wußte, weshalb die Wissenschaftler verhaftet wurden. Allem Anschein nach war der Professor Opfer der neuen Hetzkampagne gegen die Wissenschaft geworden, denn aus den Andeutungen seiner Mitarbeiter ließ sich entnehmen, daß ihm die Beschäftigung mit der „reinen Wissenschaft" ohne „aktuelle Bedeutung" vorgeworfen wurde. Seine Mitarbeiter waren gefragt worden, ob der Professor in seinen Vorlesungen Stalin gelobt und auf die wichtige Bedeutung der Partei eingegangen sei. Daraufhin gerieten auch die Bogdans in Panik, denn Valentina Alekseevnas Mann hatte in seinen Vorlesungen Stalin nie auch nur mit einem Wort erwähnt: „Meine Nerven fingen an schwach zu werden, und ich schrieb Mama einen Brief, in dem ich sie bat, zu kommen und Natasa für eine Zeit zu sich zu nehIch fürchtete, daß bei unserer Verhaftung das Kind ins Waisenhaus

men.

kommen und für immer verloren sein würde."38 Valentina Alekseevna und ihr Mann blieben unbehelligt, und auch in Bogdans Mehl- und Nudelkombinat wurde niemand des „Schädlingstums" bezichtigt. Bogdan wählt nicht wie ihre sowjetischen Kollegen umschreibende Wörter und Platzhalter für Verhaftung und Terror. Auch versucht sie nicht, die Anspannung anhand des Arbeitslebens zu demonstrieren. Angesichts der Tatsache, daß sie ihre Memoiren im Ausland in einem ganz anderen Kontext und einem grundsätzlich anderen Erwartungshorizont schrieb, ist es nicht verwunderlich, daß ihr die sprachlichen Mittel zur Verfügung standen, die Dinge beim Namen zu nennen. Ist die Form anders, unterscheidet sich der Inhalt kaum von den Einlassungen ihrer Kollegen in der Sowjetunion. Auch sie zeigt, daß sie sich hilflos dem Terror ausgeliefert fühlte. Sie wußte weder, wofür man bestraft werden konnte, noch, wen es als nächstes treffen würde. Bogdan suchte genauso wie Gajlit vergeblich nach einer Logik des Terrors, die ihn verständlich und die Gefahr berechenbar machen würde. Da sie diese Logik nicht fand, schwankte sie zwischen der Illusion, es werde sie schon nicht treffen, da sie sich nichts zuschulden hatten kommen lassen, und dem Wissen, daß sie der Willkür ausgeliefert waren. Sie und Gajlit ergriffen immerhin „Vorsichtsmaßnahmen", indem sie ihre Tochter in Sicherheit und er sich selbst aus der Schußlinie brachten. Den Rückzug aus dem Mittelpunkt des Geschehens plante auch Loginov im Sommer 1938. Er ist einer der wenigen sowjetischen Ingenieure, die ähnlich ausführlich und explizit wie Bogdan über die Jahre

Bogdan, Mimikrija, S.

123f.

390

Terror

1937 und 1938 berichten. Er widmet nicht nur ein ganzes Kapitel von 64 Seiten und damit fast die Hälfte seiner Memoiren dem Terror, sondern zeigt mit besonderer Deutlichkeit die Zweifel, die Ungewißheit und Seelennot, die er verspürte: „Noch in den USA hatte ich erfahren, daß unser Land unter besonderer Spannung stand, aber in den Zeitungen wurde so feindselig berichtet, daß ich wußte, daß man diesen Berichten nicht glauben konnte, während es gleichzeitig schwer war, sich vorzustellen, welche Gründe eine Verhaftungswelle hervorgerufen hatten."39 Loginov konnte und wollte den Berichten nicht glauben, die über den Terror in der Sowjetunion in den USA veröffentlicht wurden. Als Reaktion auf diese Ungewißheit zog es ihn zurück in die Sowjetunion, da er zu diesem Zeitpunkt sich nicht vorstellen konnte, daß er selbst auch in Gefahr war. Als er im Mai 1937 zurückkehrte, erzählte ihm schon auf dem Bahnhof seine Frau „einige Dinge, die mich warnten". Zwei Tage später war sein Vorgesetzter Nemov verhaftet, nur kurze Zeit später er selbst aus der Partei ausgeschlossen (s.o.) und auch der für seinen Fabrikkomplex zuständige Volkskommissar für Rüstungsindustrie, Mojsej L'vovic Ruchimovic (1889-1938), verhaftet, und Sein Freund Brailo, Mitarbeiter von Amtorg, erschoß sich unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den USA.40 Loginov berichtet verhältnismäßig ausführlich über all diese Vorgänge und sagt trotzdem: „Es ist schwer, die Worte zu finden, mit denen ich einigermaßen vollständig die ganze Unsinnigkeit und Schwierigkeit meiner Situation beschreiben

könnte, in der ich mich in dieser Periode wiederfand."41

Loginov hatte doppelt zu kämpfen: Auf der einen Seite war er durch seinen Parteiausschluß in seiner Autorität erheblich geschwächt. Auf der anderen Seite trug er als neuer Leiter der Zehnten Hauptverwaltung der Rüstungsindustrie erhebliche Verantwortung, während ihm seine Mitarbeiter und Ingenieure einer nach dem anderen wegverhaftet wurden. Es gab Situationen, in denen er von lokalen Parteisekretären in den ihm unterstellten Fabriken vor dem versammelten Kollektiv als Ausgestoßener bloßgestellt wurde: „Das war ein sehr verletzender Stich direkt ins Herz. Genosse Tevosjan bemerkte die nervösen roten Flecken in meinem Gesicht und begriff natürlich, wie schwer es fur mich war, in solchen Umständen Fabrik verließen, versuchte et, mich zu beruhigen."42

zu

arbeiten. Als wir die

Loginov brachte seinen Parteiausschluß vor verschiedene Instanzen, aber der neue Beschluß, der schließlich nach einem halben Jahr gefaßt wurde, bestätigte den Ausschluß. Daraufhin wandte sich Loginov an das höchste 39

Loginov, 1. 89. Loginov, 1. 75, 8Iff Loginov, 1. 89. 42 Loginov, 1. 91. 40 41

391

Verfolgung und Verhaftung

Organ, das Parteikollegium, dem er zehn Personen nennen mußte, die für ihn bürgten. Während diese Prozeduren langsam liefen, versuchte Loginov, die Produktionsfähigkeit seiner Fabriken aufrecht zu erhalten: „Alle Fabriken meiner Hauptverwaltung arbeiteten für die Verteidigung.

In den wissenschaftlichen Forschungsinstituten und den Konstruktionsbüros wurden ausschließlich wichtige Objekte ausgearbeitet. (...) In den Fabriken liefen die Verhaftungen. Der Großteil des ingenieur-technischen Personals stand unter Verdacht. Arbeiten mußten wir fast rund um die Uhr."43

Ständig wurde er in die eine Fabrik oder das andere Institut gerufen, in der gerade die Leitung verhaftet worden war. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, daß der Betrieb trotzdem weiter lief und neue Ingenieure eingestellt wurden: „Fast kein Unternehmen unserer Hauptverwaltung blieb von der furchtbaren Welle der Gesetzlosigkeiten verschont. Die verhafteten Leute mußten ersetzt werden. Aber woher Kader nehmen, die sich auskannten? Es gab sie nur in kleiner Zahl. Außerdem muß erwähnt werden, daß die Leute führende Tätigkeit annahmen, weil sie sich fürchteten."44

nur

ungern eine

Loginov wußte genau, in welche Gefahr er seine Kollegen mit ihrer Beförderung brachte. Schwere Vorwürfe machte er sich, als 1938 M.F. Izmalkov verhaftet wurde, den er nur ein Jahr zuvor überredet Leitung des Konstruktionsbüros zu übernehmen.

hatte, die

„In dem Zeitraum 1937/38 befanden sich viele verantwortliche Mitarbeiter in

einer verleumdeten' Lage, wenn man das so sagen kann. Ich erwartete ebenfalls jeden Tag meine Verhaftung, nicht weil ich mich irgendeiner Sache schuldig fühlte, sondern weil ich jeden Tag von weiteren Verhaftungen solcher Personen erfuhr, wie auch ich eine war. (...) Eines Tages wurden wir, die Hauptverwaltungsleiter, zu M.M. Kaganovic gerufen, der uns sagte, daß A.N. Tupolev verhaftet worden war, weil sich herausgestellt habe, daß er ein französischer Spion sei, der seine Flugzeugkonstruktionen an Frankreich verkauft habe. Nun, was sollte man danach noch denken?"45

Angesichts all dieser Umstände, des eigenen Parteiausschlusses, der Verhaftungen seiner Mitarbeiter und der unglaublichen Verleumdung der besten Konstrukteure geriet auch Loginov langsam in einen Zustand von Anspannung und Angst, wie ihn Bogdan und Gajlit durchlebten: „Was für eine Lage damals in Moskau herrschte, ist sehr gut bekannt. Bei-

spielsweise war für mich und meine Familie jede Nacht die reinste Folter. Es reichte zu hören, wie unten (wir wohnten im fünften Stock) die Tür eines Autos schlug, um sofort zu denken, jetzt sind sie gekommen, um mich zu holen. So ging es tagein tagaus über mehrere Monate. Meine Nerven waren bis

zum Zerreißen angespannt." Im Sommer 1938, ein Jahr nach seinem Parteiausschluß, entschloß sich Loginov zu dem gleichen Schritt wie Gajlit und bat M.M. Kaganovic um seine Entlassung oder Beurlaubung. Der Urlaub wurde bewilligt, und di-

43

Loginov, 1. 1. Loginov, 45 Loginov, 1. 44

89f. 104. 105.

392

Terror

rekt nach seiner Rückkehr am 25. August 1938 erschienen nachts zwei NKVD-Beamte, die ihn verhafteten.46 Zu Loginovs Verhaftung mögen letztlich verschiedene Umstände geführt haben. Der Parteiausschluß war der erste Schritt gewesen, der soviel bedeutete, als habe man ihn für vogelfrei erklärt. Weiter hatte Loginov dem NKVD schriftlich gegeben, daß er für die Bestellung überflüssiger Maschinen aus dem Ausland verantwortlich sei (s.o.). Schließlich wurde Loginov mitgeteilt, die Verhaftung sei aufgrund der Denunziation des ehemaligen Direktors der Fabrik „Autoinstrument", Stasjuk, und des ehemaligen Direktors der Fabrik „Präzisionsinstrument", Liberman, auf Grundlage der Paragraphen sieben und elf des Artikel 58 des Strafgesetzbuchs wegen „Schädlingstums" erfolgt. Die beiden früheren Mitarbeiter Loginovs waren in Haft unter Folter zu belastenden Aussagen gezwungen worden.47 Loginov hatte zwar ein Jahr lang beobachten können, daß ehrlich arbeitende Kollegen nach diesem Muster verhaftet wurden, aber er war doch schockiert, als die Willkür nun auch ihn traf. Seine Mutter und seine Frau, die bei der Verhaftung zugegen waren, hätten geweint, sein Sohn ihn stumm angeblickt. Loginov schärfte ihnen zum Abschied ein: „Was immer man Euch über mich erzählen wird, denkt daran, daß ich keinerlei Verbrechen begangen habe. Mein Gewissen ist rein."48

e) In Haft und Lager

Loginov berichtet

auch deshalb als

einziger Ingenieur

über die Zeit des

detailliert, weil er sich nicht nur bedroht fühlte und die Verhaftung anderer erlebte, sondern selbst in die Mühlen des NKVD geriet. Da die Darstellung des Terrors sein Hauptmotiv für das Niederschreiben seiner Memoiren war, gelang es ihm, sich von Tabuisierungen zu befreien und die Sprache seiner Kollegen, die aus Halbsätzen, Stichworten und Andeutungen bestand, zu überwinden. Er entwickelte eine eigene, nüchterne Sprache. Damit machte er etwas so Unerhörtes, daß ein weiteres Ausschmücken nur als redundant gewirkt oder den eigentlichen Aussagen

Terrors

so

ihrer Wirkungskraft beraubt hätte. Sein ausführlicher Bericht über seine Zeit in Haft und Lager, die bis 1945 dauerte, ist ein seltenes Dokument. Er sah sich als Chronist, der festhielt, was den Menschen zu seinen Lebzeiten verheimlicht wurde. Das Ziel, v.a. die Daten und Fakten zu sichern, ist seiner Darstellungen stark anzumerken: Loginov, 1. 107. Loginov,! 118, 148. Loginov, 1. 107.

Verfolgung und Verhaftung

393

„Es ist möglich, daß viele, viele Jahre vergehen werden und eines Tages dem

Volk mit schonungsloser Deutlichkeit und Ehrlichkeit alles in dieser Periode Geschehene erzählt wird. Meine Rolle ist es, die Wahrheit zu erzählen, soweit mein Gedächtnis sie gespeichert hat."49

wurde in das Gefängnis „Ljubjanka" in eine Zelle gebracht, in der hochverdiente Offiziere und Ingenieure wie er selbst saßen. Fast wie auf einem Kongreß oder in einem DITR machte man sich gegenseitig bekannt, erkundigte sich nach den Verdiensten des anderen und erzählte seine eigene Geschichte. Zumindest anfänglich bestätigte man sich gegenseitig in dem Glauben, daß sich die Verhaftung sicher bald als Irrtum herausstellen würde. Loginov wurde zur Last gelegt, er habe „die Technik einmarinieren" wollen, indem er ihre Weiterentwicklung verhindert habe. Tatsächlich, so Loginov, sei das Gegenteil der Fall gewesen: Weil sich niemand mehr getraut habe, Aufträge zu unterschreiben, hatte er eigenmächtig die Entwicklung und Produktion einiger neuer Konstruktionen in Auftrag gegeben, ohne die Rückendeckung seines Volkskommissars zu haben.50 Loginov war über die Absurdität der ihm vorgetragenen Anschuldigungen entsetzt und zeigte sich fest entschlossen, nicht zu „unterschreiben": das ihm von den Beamten fertig vorgelegte „Geständnis" nicht zu signieren. Loginov betont immer wieder, daß er sich nicht kompromittieren ließ und die ganze Zeit seine Würde behielt. Das Wissen, unbestechlich zu sein und sich nicht dem Unrecht zu beugen, gab ihm die Kraft, diese Jah-

Loginov

re

durchzustehen.

„Ich halte mich nicht für einen Helden. Es gab Momente, in denen ich wankte und fast bereit war, die Lüge als Wahrheit anzuerkennen. Aber immer wieder fand ich den Mut, meine ehrliche Haltung aufrechtzuerhalten."5'

Im Unterschied zu Zellengenossen weigerte er sich beharrlich, seiner Verhaftung einen Sinn zu geben, sie diene dem Allgemeinwohl, der Sowjetmacht oder sonst einem Zweck. Loginov verschweigt ausdrücklich, welche „Szenen" sich zwischen ihm und dem Ermittlungsführer abspielten. Nach einem halben Jahr Haft und Verhör brachte man ihn im Februar 1939 in das Gefängnis Lefortovo, wo sein Fall von dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR verhandelt wurde.52 Obwohl die Anklageschrift Tod durch Erschießen forderte, geschah vor Gericht etwas Unglaubliches: Nachdem er ausführlich über seine Tätigkeit als Ingenieur und die unzulässigen Verhörmethoden hatte berichten dürfen, sprach ihn der Vorsitzende Richter, V.V. Ul'rich (1889-1951), frei. Ul'rich mußte

Loginov, 1. 2. Loginov, 1. 99. Loginov, 1. 114. 52 Vgl. auch Suvenirov, O.F.: Voennaja kollegija Verchovnogo suda SSSR (1937—1939gg), Voprosy istorii, 70 (1995) 4, S. 137-146.

50

51

in:

394

Terror

seinen Spruch wiederholen, bevor Loginov es glaubte.53 Doch änderte sich danach nichts: Die „Neubearbeitung" seines Falls übernahm der selbe Beloglazov, der ihn mit den Worten begrüßte: „Nun denn, beginnen wir von vorne."54 Der NKVD versuchte mit neuen Methoden, auf Loginov Druck auszuüben. Im Gefängnis „Butyrka" sperrte man ihn in drei Tage in eine „Box", die die Ausmaße einer Telefonzelle hatte, bis er ein solches Geschrei erhob, daß man ihn wieder in eine gewöhnliche Zelle verlegte. „Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß ich sonst in der Box verrückt geworden wäre."55 Beloglazov konfrontierte Loginov mit „Zeugen" bereits gebrochenen ehemaligen Kollegen und Mitarbeitern der Meßgeräteindustrie -, die unter dem Druck des NKVDs Loginov beschuldigten, er habe sie zur „Schädlingsarbeit" gezwungen. Die belastende Aussage Sendlers, mit dem Loginov in den USA gewesen war und der unter Folter „gestanden" hatte, war es schließlich, die im Mai 1939 dem Gericht beim zweiten Prozeß reichte, um Loginov innerhalb weniger Minuten zu 15 Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Aberkennung der Bürgerrechte zu verurteilen.56 Loginov wurde im Sommer 1939 via Sverdlovsk in die Goldgruben an die Kolyma im Polarkreis 800 Kilometer nordöstlich von Magadan gebracht.57 In der Grube „Stoßarbeiter" lebte er im Winter bei bis zu minus 60 Grad im Zelt, bearbeitete mit einer Schaufel den tiefgefrorenen Boden und wurde schlecht ernährt, während die kriminellen Insassen ihn zusätzlich drangsalierten. Loginov hielt dies menschenunwürdige Leben nicht -

aus:

dieser Lage reifte in mir der Plan, mein eigenes Leben zu liquidieren. Alle meine Gedanken liefen darin zusammen, daß ich 15 Jahre unter solchen Bedingungen nicht überleben würde. Wozu sollte ich mich also quä-

„Angesichts

len."58

Sprengarbeiten ausgeführt wurden, ging Loginov absichtlich nicht in Deckung, wurde aber nur am Arm verletzt. Daß man sich die Mühe machte, ihn jetzt und später ein weiteres Mal, als er nach einer zehntägi-

Als

gen Karzerstrafe bei 200 Gramm Brot an Skorbut erkrankt und kraftlos zusammengebrochen war, wieder gesund zu pflegen, verdankte er letztlich seiner Frau: Jedesmal traf er auf Ärzte, die seine Frau als Kollegin kannten und ihm deshalb eine privilegierte Behandlung zuteil werden ließen. Nach seiner Genesung brachte man ihn zusammen mit 40 anderen Menschen auf einem offenen LKW bei eisiger Kälte in das Invalidenla53

Loginov, 1. 11 Of Loginov, 1. 113. Loginov, 1. 112. 56 Loginov, 1. 114f. 57 Vgl. auch Nordlander, David J.: Origins of a Gulag Capital: Magadan and in the Early 1930s, in: Slavic Review 57 (1998) 4, S. 791-812. 58 Loginov, 1. 117, 120. 54

55

Stalinist Control

395

Verfolgung und Verhaftung

ger. Zwei Männer überlebten diese Fahrt nicht. Loginov war heilfroh, hier u.a. seinen Freund Aleksandr Vasil'evic Gorbatov (* 1891) wiederzutreffen.59 Für Loginov schien sich Ende 1940 ein frühes Haftende anzukündigen, denn seine Frau hatte erreicht, daß im September 1940 das Höchste Gericht das Urteil gegen ihn aufhob. Aber seine Abreise wurde so lange verzögert, bis der Krieg in der Sowjetunion begann und Loginov die Heimreise verboten wurde. Erst im Mai 1943 brachte man ihn nach Moskau zurück, wo er erneut bis zum 31. Januar 1945 in der „Ljubjanka" in Haft saß. Loginov übte in den dreieinhalb Jahren, die er vom Ende des Jahres 1939 bis zur Rücküberführung nach Moskau im Mai 1943 im Arbeitslager verbrachte, die unterschiedlichsten Tätigkeiten aus: Er leitete eine Schneeräumbrigade, arbeitete als Tellerwäscher und übte landwirtschaftliche Tätigkeiten in einem Schweinesovchoz aus. Er wirkte in einer Konstruktionsgruppe unter Leitung des verhafteten Professors des technolozka, LT. Titov, am Bau eines Wasserkraftwerks mit, experimentierte erfolglos in einem Konstruktionsbüro, das ausschließlich aus verhafteten Ingenieuren bestand, mit Schießpulver und Schußvorrichtungen, und wurde schließlich, nachdem der NKVD die Sinnlosigkeit dieser Tätigkeit eingesehen hatte, als Aufseher einer Werkshalle in die Rüstungsfabrik „Industriekombinat Nr. 2" geschickt. Diese Arbeit gefiel ihm, und auch die Fabriksleitung war so zufrieden mit ihm, daß man ihn zum Meister befördern wollte, als ihn der NKVD nach Moskau zurückbrachte. Noch einmal begann eine Zeit des Hoffens und Verzweifeins. Auf dem Bahnhof in Moskau wartete seine Frau auf ihn. „Ich lasse die Beschreibung meiner Gefühle während des Wiedersehens mit meiner Frau aus. Ich drücken kann."60

denke, daß ich diesen Zustand nicht mit

Worten

aus-

lang unterhielten sie sich auf dem Bahnhof, bevor Loginov abgeführt und erst im Januar 1945 nach nochmaliger Überprüfung

Drei Stunden erneut

seines Falls aus der Haft entlassen wurde.61 Für Loginov war diese Zeit nicht nur eine physische Tortur, sondern gerade deshalb furchtbar, weil er nicht wußte, was er glauben sollte: „Immer wieder stiegen in mir die Tränen der Verzweiflung auf. Wie konnte es sein, daß ich ausgerechnet unter der Sowjetmacht im Gefängnis sitzen mußte und wofür? Jeder

von uns

hatte ein nützlich verbrachtes Leben hinter sich:

Loginov, 1. 119ff. Gorbatovs Memoiren aus der Tauwetterzeit sind viel beachtet worden: A.V.: Gody i vojny, Moskau 1965. Über seine Zusammentreffen mit Loginov be-

Gorbatov,

richtet er auf S. 124ff. Loginov, 1. 128. 61 Loginov, 1. 12 Iff. 60

396

Terror

Teilnahme im Bürgerkrieg, Parteiarbeit, Tätigkeit in der Wirtschaft. Es nicht zu glauben, war das vielleicht ein schlechter Traum?"62 ihm tat sich ein Abgrund auf, denn seine Verhaftung

war

Vor widersprach seinem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Um die entstandene kognitive Dissonanz zwischen der Überzeugung, ein rechtschaffener Sowjetbürger zu sein, und der Tatsache, als Staatsfeind behandelt zu werden, zu überwinden, suchte jeder Verhaftete fieberhaft nach einer Erklärung, die diesen quälenden Widerspruch aufzulösen half. Während einige zu der Ansicht gelangten, ihre Verhaftung diene dem Staat, zog Loginov einen anderen Schluß: „Im weiteren bestätigte sich, daß die Ermittlungen eine einzige Gesetzlosigkeit waren. Drohungen, Erpressungen mit den verschiedensten Mitteln und körperliche Peinigung. Es gab keine Objektivität bei den Ermittlungen. Die Grundhaltung war, die Menschen unter allen Umständen zu beschuldigen."63 „Gesetzlosigkeit" diente Loginov in erster Linie als erklärende Kategorie. Mit der Betonung, daß das, was ihm in diesen Jahren angetan wurde, rechtswidrig war und in den Jahren des Tauwetters tatsächlich als Unrecht gebrandmarkt wurde, gelang es ihm, weiterhin an die Sowjetmacht zu glauben. Er streicht heraus, daß der Terror kein Bestandteil des Systems, sondern dem eigentlichen Wesen der Sowjetmacht widersprach und zumindest 1953 offiziell zu Unrecht erklärt wurde. Loginov und Gorbatov bestätigten sich gegenseitig in ihrer Haltung, vorbildliche Staatsbürger zu sein, die trotz ihrer Verhaftung nicht den Glauben an das von ihnen mitaufgebaute System verloren: „,Und jetzt, Aleksandr Vasil'evic, bereust Du nicht Deine ehrliche Arbeit, daß Du Dich im Leben so abgemüht hast? Hat das Urteil des SemjakinGerichts nicht Deine Haltung verändert?' Ich antwortete: ,Nein, Leonid, ich würde alles noch einmal so machen, selbst wenn ich wüßte, daß ich an der Kolyma lande, wenn ich frei komme, dann werde ich erneut dienen, meinetwegen auch als Bote in einer Rotte oder Schwadron. Und das Gericht, was willst Du von ihm? Jemand hat es ihm befohlen...' ,Eine andere Antwort habe ich nicht von Dir erwartet', antwortete Leonid Ignat'evic, ,mir geht es ganz genauso, ich wäre einverstanden, das ganze Leben ein einfacher Arbeiter zu sein, wenn ich nur frei wäre und alle wüßten, daß ich unschuldig bin.'"64 -

Loginov, 1. 109. Loginov, 1. 109. Gorbatov, Gody i vojny, S.

152f

VII. Nachwort

1) Am Ende eines langen Jahrzehnts a) Das Ende des Terrors Im Januar 1938 erklärte das Plenum des ZK der Partei mit dem Erlaß „Über die Fehler der Parteiorganisationen beim Ausschluß von Kommunisten aus der Partei", daß es durch die Arbeit von „Provokateuren" zu vielen fälschlichen Ausschlüssen gekommen sei. Der Vestnik inzenerov i technikov betonte zwar, daß 1937 das Jahr gewesen sei, in dem der Feind

geschlagen worden sei:

„Aber in Folge der entlarvten Methoden versuchte der Feind eine andere, noch schwerer zu erkennende, raffiniertere Methode anzuwenden, die viele Parteiführer nicht erkannten. Das war die Methode der falschen Wachsamkeit, des Schlags gegen angebliche Feinde, der Verleumdung ehrlicher Menschen, um

Unsicherheit und Argwohn in den Parteireihen zu säen."1

anerkannt, daß es durch „lügnerische Denunziationen, Klatsch, Geflüster und Gerüchte" zu massenhaften Parteiausschlüssen gekommen sei. Angegriffen wurden jetzt Parteiorganisationen, die trotz Warnungen leichtfertig Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen hätten. „Eine Reihe von Fakten ist darüber bekannt, daß Parteiorganisationen ohne jede Überprüfung und folglich ohne Grund Kommunisten aus der Partei ausEs wurde

schlössen, ihnen ihre Arbeit nahmen

sogar zu Volksfeinden erklärten und und Willkür zuließen."2

und sie nicht selten ohne

so

jeden Anlaß

gegenüber Parteimitgliedern Unrecht

„Karrieristen" und „Rückversicherer" seien

es

gewesen, die für ihren ei-

genen Aufstieg und ihre eigene Sicherheit Kommunisten und unbescholtene Ingenieure verleumdet hätten. Zwei Fälle stellte der Vestnik inzenerov i technikov vor, in denen Ingenieure für mangelhafte Arbeit bzw. die Verursachung einer Havarie von denjenigen entlassen worden seien, die die eigentliche Schuld getroffen hätte und so von sich selbst hätten ablenken wollen. Der VMBIT habe diese Fälle aufgeklärt und den betrof-

fenen ITR zu ihrem Recht verholfen. Im Sommer 1938 meldete sich auch L.K. Gil'debrandt, der Vorsitzende der Rechtsabteilung des VMBIT, zu Wort und forderte alle ITS auf, sich ohne Scheu für die Rechte ihrer Mit' 2

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 2, Februar 1938, S. 70f. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 2, Februar 1938, S. 71 f.

398

Nachwort

glieder einzusetzen und all denjenigen ihr Recht zu verschaffen, die unbegründet entlassen und verurteilt worden seien. Er berief sich auf den Erlaß der Partei, als

er

forderte:

„Gnadenlos die Karrieristen, Verleumder und Bürokraten entlarven, die den

ehrlichen Angestellten an seiner Arbeit hindern."3 Zum Ende des Jahres 1938 setzten Stalin und das Politbüro dem Terror ein Ende. Der NKVD-Leiter Nikolaj Ivanovic Ezov (1895-1940) wurde im ZK der „Übertreibungen" bezichtigt, im Dezember 1938 abgesetzt und bald darauf erschossen.4 Sein Nachfolger war Lavrentij Pavlovic Berija (1899-1953), der zwar im Vorgehen gegen die Bevölkerung nicht weniger skrupellos war, dessen Berufung aber zunächst eine Zäsur markierte. In dieser Zeit erschienen Erzählungen und wurden Theaterstücke aufgeführt, die den Terror thematisierten und demonstrierten, daß am Ende immer die Gerechtigkeit siegte, während die „Verleumder" bestraft würden.5 Gleichzeitig wurden zwei Filme gedreht, die die Existenz der Terrorzeit bestritten bzw. das Mißtrauen gegen Ingenieure und Techniker als Provokation des Feindes darstellten. Der NKVD geriet hier zum Freund und Helfer der Ingenieure, der sie vor den Heimsuchungen des Feindes bewahrte. Im Mittelpunkt der Filme „Die höchste Auszeichnung" (Vysokaja nagrada) und „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" (Osibka inzenera Kocina), die im August bzw. Dezember 1939 in die Kinos kamen, stehen zwei hoch angesehene Flugzeugbauer, die der ganze Stolz der Partei und des Volkes sind und weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus großes Renommee genießen. Bedenkt man, daß zu dieser Zeit die bedeutendsten Flugzeugkonstrukteure im Lager saßen, wirken diese Filme geradezu zynisch.6 In „Die höchste Auszeichnung" versucht der Feind in Person des Musikstudenten Tolja seiner Geliebten Nadja, der Tochter des Professors für Flugzeugbau Bogoljubov, einzureden:

„Man darf niemandem trauen, auch nicht dem eigenen Vater. Nicht

umsonst

Ingenieure als Schädlinge verfolgt worden." Nadja steht schwere Gewissensnöte aus und sucht schließlich den NKVD auf, um den eigenen Freund als verdächtiges Element zu melden. Am Ende des Filmes, als alle Feinde entlarvt und verhaftet sind, lernt Nadja, daß die „höchste Auszeichnung" für einen NKVD-Offizier das Vertrauen der Partei und des Volks ist. Sie hat sich in den hübschen NKVD-Leutnant verliebt und singt: sind

„Ruhm Euch eisernen Tschekisten, Heldenmut und Ehre, zur

3 4

von

den Seen bis

Taiga...."

Vestnik inzenerov i technikov. Nr. 6, Juni 1938, S. 383.

Chlevnjuk, O.V.: 1937j god: Protivostojanie, Moskau 1991, S. 43; Rogovin, 1937, S. 255ff. 5 Chlevnjuk, 1937j god, S. 57. 6 Vgl. auch Turovskaja, Das Kino der totalitären Epoche.

Am Ende eines

langen Jahrzehnts

399

Dieser Film unterstreicht nicht nur, daß Ingenieure das Vertrauen der Partei genießen, sondern fordert auch zur Denunziation derer auf, die die Integrität der Ingenieure bezweifeln. Die Bedrohung kommt in diesen Filmen nicht mehr von innen, sondern von außen, in „Die höchste Auszeichnung" verkörpert durch den Militärattache eines „fremden Landes", den Korrespondenten einer „ausländischen Zeitung", einen als Zirkus-Clown verkleideten Spion, der wie Charly Chaplin aussieht, einen Kellner und den Musikstudenten Tolja, die gemeinsam die Flugzeugpläne Bogoljubovs stehlen wollen. Sie alle stehen für das dekadente Volk, das sich nur zu amüsieren sucht; der Ort der Verschwörer ist ein feines Restaurant. „Die höchste Auszeichnung" zeigt mit dem Professor Bogoljubov einen Ingenieur, der nichts Revolutionäres an sich hat, sondern einen Gelehrten verkörpert, wie es ihn auch schon zu Zarenzeiten gab, wie er zur Zeit der Kulturrevolution verfolgt, aber während der „goldenen Jahre" 1934 bis 1936 propagiert worden war: Er ist ein eleganter älterer Herr, der sich eine Haushälterin hält, in einer geräumigen, großbürgerlich eingerichteten Wohnung in Moskau lebt, ein Auto fährt und ein großes Anwesen als Datscha besitzt. Der Professor erscheint in seinem feinen Anzug, mit Hut und Trenchcoat ganz wie ein Aristokrat; seine Gesten und seine Sprache sind vornehm zurückhaltend. Eleganz, Luxus und Intellekt sind wieder die Attribute, die den Ingenieur als Elite des Landes auszeichnen.7 Auch der junge Flugzeugkonstrukteur Kocin in „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" zeigt den eleganten, gepflegten Intellektuellen, der mehr einem Amerikaner als einem Revolutionär ähnelt. Kocin ist ein smarter junger Mann, mit dichtem braunen Haar und funkelnden braunen Augen, stets akkurat mit Anzug, breiter Krawatte und Hut gekleidet. Im Gegensatz zu Bogoljubov wirkt er nicht verhalten und vornehm, sondern sprüht vor Frohsinn und Enthusiasmus, die ihm beinahe zum Verhängnis werden. Auch Maceret, dem vorgeworfen wurde, mit diesem Film den „Kniefall" vor der Sowjetregierung vollführt zu haben, zeigt in seinem Film den NKVD als Retter des Ingenieurs, der verhindert, daß dessen Flugzeugpläne gestohlen werden. Wie auch in „Die höchste Auszeichnung" wird hier eine Bedrohungskulisse aufgebaut, vor der man nicht mehr dem liebsten Menschen trauen kann: Es ist die Geliebte Kocins, Ksenija, gespielt von dem Kinostar der dreißiger Jahre, Ljubov' Orlova, die dem Feind Zutritt zu den Plänen verschafft. Auch „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" wirbt für die Zusammenarbeit der Ingenieure mit dem NKVD und demonstriert, daß der NKVD dafür sorgt, daß niemand unbestraft Ingenieure verleumden kann. Kocin begibt sich selbst in die Hand des NKVD, nachdem die Feinde ihn beschuldigen, Flugzeugpläne mit nach Hause 7

Vysokaja nagrada.

400

Nachwort

genommen zu haben, was streng verboten ist. Tatsächlich hatte der Ingenieur aus Enthusiasmus auch zu Hause an den Konstruktionen gearbeitet, wo der von Ksenija eingelassene Spion sie abfotografieren konnte. Kocin erklärt den NKVD-Offizieren Larcev und Lavrenko: „Ich bin in jedem Falle schuldig." Diese aber widersprechen: „Auf solche Leute wie Kocin lassen wir nichts kommen, auch wenn sie wegen eines Fehlers schlecht dastehen."

Der Verschwörer ist in diesem Film noch einmal der alte Ingenieur, Galkin, dessen Frau und Tochter nach Paris emigriert sind, der stets nur an Wohlstand und persönlichem Glück interessiert war und behauptet, immer ehrlich gearbeitet zu haben. Tatsächlich ist er zum ausländischen Spion geworden. Während in „Die höchste Auszeichnung" der Professor und seine zwei Kinder mit dem Schrecken davon kommen, wird dem Ingenieur Kocin eine bittere Lehre erteilt: Die Spione ermorden seine Geliebte.8 Auch wenn in „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" noch einmal der alte Ingenieur als Volksfeind aufgerufen wird, sind die Aussagen von „Die höchste Auszeichnung" und „Der Fehler des Ingenieurs Kocin" identisch: Der Ingenieur, ob ein alter Professor wie Bogoljubov oder ein junger Enthusiast wie Kocin, gehört zur sowjetischen Familie. Zu behaupten, die Partei habe ihren Ingenieuren einmal nicht getraut, ist ein Staatsverbrechen. Denn der Ingenieur leistet unschätzbare Arbeit und geht gemeinsam mit dem NKVD gegen die Feinde und Spione vor.

b) Die Wiederentdeckung des Ingenieurs Aus der Presse verschwanden nach und nach die Anschuldigungen gegen Ingenieure. Statt dessen wurde die neue sowjetische Intelligenzija gepriesen, ohne deren Taten die Sowjetunion nie soviel erreicht hätte und die für den Erfolg der Arbeiterschaft unentbehrlich gewesen sei. Gabor Rittersporn schreibt, daß die „Wiederentdeckung der Intelligenzija" 1938 eine der bemerkenswertesten Erscheinungen der dreißiger Jahre gewesen sei.9 Der Vestnik inzenerov i technikov wies im Dezember 1938 die neue Richtung, als er daran erinnerte, daß die große Leistung der Ingenieure gerade auch im Hinblick auf die Stachanovarbeit viel zu selten gewürdigt und meist über der Lobpreisung der Arbeiter vergessen würde: „Ein großartiger Stachanovist hat einen Rekord aufgestellt. Aber die Ingenieure haben wir vergessen."10

Osibka inzenera Kocina. 9

Rittersporn, Stalinist Simplifications, S. 322. 10 Vestnik inzenerov i

technikov, Nr. 12, Dezember 1938, S. 71 lf.

Am Ende eines langen Jahrzehnts

401

Die

„Rückbesinnung" auf die Ingenieure könnte als Motto über dem nun Ingenieurs stehen. In der Presse wurden die technischen Spezialisten gerühmt und gepriesen. Wieder wurden Reihen von Biographien derjenigen Ingenieure vorgestellt, die die neue sowjetische Intelligenzija verkörperten:

verbreiteten Bild des

L'vovic Knopov, erzogen vom Leninschen Komsomol, Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitet mit 14 Jahren in einer dörflichen Schmiede, 1925 geht er nach Leningrad, wird dort Lehrling in den mechanischen Werkstätten der Proletarischen Fabrik und besucht gleichzeitig eine allgemeinbildende Schule; er schließt das Abendtechnikum für Chemie ab, (...) 1930 wird er als Gewerkschaftstausender von Partei und Gewerkschaft in das Leningrader Chemisch-Technische Institut abkommandiert; er schließt 1936 sein Studium ab, arbeitet gleichzeitig bereits in der Produktion als Schichtleiter einer Werkshalle. Die Schädlinge haben die für das Land so wichtige Ebonit-Produktion sabotiert. Die Führer dieser Industrie waren nicht in der Lage, die Schädlingstätigkeit der Volksfeinde rechtzeitig zu entdecken. Genosse Knopov hat sich als ein guter Leiter empfohlen, wurde zur Stärkung eines wichtigen Produktionsabschnitts eingesetzt, liquidierte die Folgen des Schädlingstums und führte die Produktion aus der Krise.""

„Aleksandr

Alle Stationen, die für den sowjetischen Ingenieur konstitutiv waren, wurden aufgeführt: die Abstammung aus einer armen Arbeiterfamilie, der Aufbruch aus der Provinz in die Metropole, die Abkommandierung durch die Partei, die Bewährung in der Produktion und als neues Element der Kampf gegen das „Schädlingstum". Im Gegensatz zu der bis Mitte der dreißiger Jahre propagierten Idealbiographie fehlte die Zeit des Bürgerkriegs. Der neue Ingenieur war nicht der „alte" Bolschewik, der schon im Bürgerkrieg für die Sowjetmacht gekämpft hatte, sondern der junge Mann, der vom „Leninschen Komsomol" erzogen und von Anfang an in der Sowjetunion geprägt worden war. Dieser Ingenieur war durch und durch das Produkt des neuen Staates. Das neue Bild war eine Idealvorgabe, die diesmal aber nicht zur Diskriminierung der alten Ingenieure benutzt wurde. Während der junge Ingenieur als neuer Mensch daherkam, dem man stolz das Etikett „Made in the USSR" anheftete, galt der alte Ingenieur als treuer Begleiter und Patriot der Sowjetunion, der schon in der Schule sein „Pausengeld" für technische Instrumente ausgegeben, nach der Revolution all sein Wissen dem neuen Staat zur Verfügung gestellt und sich dadurch ausgezeichnet habe, daß er alle Probleme lösen könne, egal an welchem Ort, zu welcher Zeit und unter welchen Bedingungen. Nun sei er Lehrstuhlinhaber, um sein Wissen an die jungen Ingenieure weiterzugeben.'2 Die neue Ingenieursqualität bestand nicht mehr darin, die „Theorie der Grenzen" durch eine entgrenzte Praxis zu ersetzen, sondern in sorgfältigem Arbeiten, ge" 12

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 10, Oktober 1938, S. 593. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 10, Oktober 1938, S. 657.

402

Nachwort

Berechnen und umsichtigem Planen. Als beispielhaft wurde der Ingenieur Stoman im Vestnik inzenerov i technikov vorgestellt, dessen Qualitäten „Akkuratheit, Genauigkeit, Kontrolle" waren.13 Während die Stachanovarbeit langsam in den Hintergrund geriet, maß die Presse der Sicherheitstechnik höchste Priorität bei. Der neue Ingenieur wurde auch im Film gefeiert. Das war zunächst der Ingenieur Kocin, der sich dadurch auszeichnet, daß er sich adrett kleidet und hingabevoll arbeitet: der typische rundum, technisch wie kulturell, gebildete Ingenieur.14 Das war auch der Ingenieur Petachov aus „Ein großes Leben", ein junger, ernsthafter Ingenieur, der seiner Arbeit mit solch einer Leidenschaft ergeben ist, daß er parteilos sein darf.15 Stellen diese beiden Filme neben dem neuen Ingenieur aber immer noch das „Schädlingstum" in den Vordergrund, erschienen 1939 und 1940 zwei Filme, die den neuen Ingenieur bzw. die neue Ingenieurin in den Mittelpunkt rückten, die in einer nahezu sorgenfreien Gegenwart leben und somit an die Filme „Der Torhüter" und „Drei Kameraden" anknüpfen. Der Film „Lärme, kleine Stadt" (Sumi gorodok), der im Mai 1940 in die Kinos kam, zeigt ein harmonisches Ingenieursduo aus jungem und altem Ingenieur. Der Institatsstudent und angehende Ingenieur Vasja ist der „All-Russian Boy", ein blonder Jüngling, von athletischer Statur, der immer im weißen Hemd und mit breiter Krawatte herumläuft und auf dessen einfachen und offenen Gesichtszügen ständig ein Lächeln liegt. Sein Gegenüber ist der Ingenieur Ivan Anisimovic Djatlov, ein alter, etwas fahriger Spezialist, ein Mann von kleiner Statur mit Halbglatze und Schnurrbart, der ganz dem Klischee vom zerstreuten Professor entspricht. Ihre Umgebung ist eine ukrainische Kleinstadt, die davon träumt, New York oder Moskau zu sein: Bislang bleiben die neuen Limousinen noch im Schlamm stecken, aber es werden bereits Straßenbahngleise verlegt, die Straßen erweitert und neue Häuser gebaut. Das bringt den alten Ingenieur in ein Dilemma: Er ist für den Fortschritt, aber gegen den Abriß seines alten Hauses, das einer neuen Straßenmagistrale im Weg steht. Der junge Ingenieur reicht dem alten die Hand und holt ihn aus der Klemme: Er hat eine Konstruktion erfunden, mit der man Häuser versetzen kann. Während Djatlov nicht an den Erfolg dieser Methode glaubt, will Vasja nichts von Grenzen der Technik hören. Am Ende ist das Haus erfolgreich versetzt und der alte

nauem

Ingenieur in die Gemeinschaft der jungen Leute integriert. „Lärme, kleine Stadt" führt vor, daß das Alte nicht zerstört (lomat') werden muß, sondern einfach den Standort wechseln kann. Das gilt sowohl für das Haus als auch für den Ingenieur. Das ukrainische Städtchen ist ein Symbol für 13

14 15

Vestnik inzenerov i technikov. Nr. 10, Oktober Osibka inzenera Kocina. Bol 'saja zizn ', 1. Teil.

1938, S. 599.

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403

die ganze Sowjetunion: Der Ort wandelt sich vom Bauerndorf in eine amerikanische Metropole, die alte Intelligenzija wird erfolgreich integriert, und die jungen Ingenieure sind die neuen Stars. Der Film zeigt das unbekümmerte und fröhliche Leben in der Sowjetunion mit all seinen Errungenschaften: Vom modernen Geburtshaus über die technische Neuerung einer Verkehrsampel bis hin zum ausgelassenen Tanz im Park am Abend wird alles geboten. Wie in „Der Torhüter" darf auch hier die Liebesgeschichte mit Verwirrspiel und Happy-End nicht fehlen. Fabriken müssen nicht mehr gebaut, Gegenpläne nicht mehr aufgestellt, Engpässe nicht mehr überwunden, Feinde nicht mehr vernichtet werden; die Aufbauphase ist erfolgreich abgeschlossen. Der Stadtratvorsitzende verkündet am Ende des Filmes triumphierend: „Wir haben jetzt eine sozialistische Stadt!"16 Die gleiche Botschaft geht auch von dem Musical „Der lichte Weg" (Svetlyj put ') aus, der im Oktober 1940 in die Kinos kam und auch heute noch ein sehr beliebter Film in Rußland ist.'7 „Der lichte Weg" ist das Märchen vom sozialistischen Aschenputtel Tanja Marozova (Ljubov' Orlova), das in diesem Fall am Ende nicht den Prinzen heiratet, sondern Ingenieurin wird. Ihr „Prinz" ist der junge Ingenieur Lebedev, von dem sie sich aber nicht aus ihrer armseligen Existenz emporziehen läßt, sondern zu dem sie sich selbst hocharbeitet, bis sie ihm ebenbürtig entgegentreten kann. Das Schloß ist in ihrem Fall eine Webereifabrik, deren Gebäude mit vielen Türmchen und einem schmiedeeisernen Tor davor tatsächlich wie ein Märchenschloß anmutet. Vor ihrem Zimmer, das sie mit anderen Arbeiterinnen in einem der Türme teilt, ranken Rosen und tummeln sich Tauben. Der Ball, zu dem sie keinen Zutritt hat, ist der des Fabrikclubs, zu dem alle Arbeiter gehen; nur sie bleibt außen vor, weil sie noch nicht ihre Werkbank bedienen kann. Zusammen mit Tanja geht der Zuschauer noch einmal durch die gesamten dreißiger Jahre: Es beginnt mit Tanjas Ausbeutung als Küchenmädchen, wo sich ihre technische Begabung bereits in den erstaunlichsten Konstruktionen zur leichteren Bedienung von Töpfen zeigt. Weiter geht es mit Tanja in der Webereifabrik, wo sie zur Arbeiterin wird; der Zuschauer erlebt mit ihr das Jahr 1935, als sie sich der Stachanovbewegung anschließt, sich gegen die alten, zurückgebliebenen Ingenieure durchsetzt und schließlich 240 Webstühle auf einmal bedient. Er ist dabei, wenn Tanja für diese Tat im Kreml mit dem

Sumi gorodok. Vgl. auch Enzensberger, Maria: „We were born to turn a fairy tale into reality": Grigorij Aleksandrovs „Svetlyj put'", in: Taylor / Spring, Stalinism and Soviet Cinema, S. 97-108; Satorti, Rosalinde: „Weben ist das Glück fürs ganze Land", in: Plaggenborg, Stalinismus, 16

17

S. 267-292.

404

Nachwort

Abb. 18: Szene aus G. Aleksandrovs Film „Der lichte Weg" (1940). Am Ende eines schweren Jahrzehnts und nach Überwindung zahlreicher Hürden ist das sowjetische Aschenputtel, Tanja Marozova (gespielt von dem Star Ljubov Orlova), am Ziel seiner Träume angekommen und präsentiert als stolze Ingenieurin auf der Landwirtschaftsausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft die von ihr entwickelte Webmaschine. Im Film hat sie sich vom Küchenmädchen zur Arbeiterin, von der Stoßarbeiterin zur Ingenieurin entwickelt. Sie hat Schritt ßr Schritt einen neuen Menschen aus sich gemacht und dabei das Personal der alten Welt (keifende Wirtinnen, eifersüchtige Nebenbuhlerinnen, rückständige Meister und Ingenieure) hinter sich zurückgelassen. Nun steht ihrer glänzenden Zukunft nichts mehr im Wege. Tanja Morozova steht für die Erfolgsgeschichte der Sowjetunion. An einer Frau war der sagenhafte Aufstieg aus Dunkelheit und Unterdrückung noch beeindruckender als an einem Mann zu demonstrieren. Quelle: Bulgakova, O. (Hg.): Die unglaublichen Abenteuer des Dr. Marbuse im Land der Bolschewiki. Das Buch zur Filmreihe „Moskau Berlin", Berlin 1995, S. 240. '

-

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Leninorden ausgezeichnet wird und sich bereits vor ihrem geistigen Auge als Ingenieurin im eigenen Auto durch das neue Moskau fahren, abheben und durch die Lüfte schweben sieht. Am Ende des Films und des Jahrzehnts sehen wir sie als Ingenieurin und Abgeordnete des Obersten Sowjets auf der Landwirtschaftsausstellung eine neue Webmaschine vorstellen, die endlose Stoffbahnen ausspuckt. Hier trifft Tanja Lebedev wieder, mit dem sie glücklich durch die Ausstellung der Errungenschaften der sozialistischen Volkswirtschaft spaziert.18 „Märchenhaft", aber wahr, behauptet der Film, ist das sowjetische Leben. Tanja singt den Marsch der Flieger von 1921 : „Wir wurden geboren, um Märchen wahr zu machen". „Der lichte Weg" erzählt die Erfolgsgeschichte der Sowjetunion. Dabei ist typisch, daß der sagenhafte Aufstieg an einer Ingenieurin exemplifiziert wird: Die Entwicklung der Frau, der im Kapitalismus doppelt entrechteten und geknechteten Kreatur, erschien noch beeindruckender als die des Mannes. Am Ende eines langen, entbehrungsreichen Jahrzehnts trat „der" sowjetische Ingenieur hervor, um alle Schwierigkeiten, Konflikte und Sorgen hinter sich zu lassen, so suggerierten die äußerst wohlwollenden Medien im dritten Fünfjahrplan. Er hatte die alte Welt hinter sich gelassen und präsentierte sich in einer neuen Zeit, in der er eine gefragte und geschätzte Kraft war, adrett und gepflegt auftrat, sich in Parks amüsierte und mit dem Auto fortbewegte. Dies war weder der alte bourgeoise spec, noch der dem Arbeiter gleichgemachte ITR, dies war der sowjetische In-

genieur.

c) Epilog Die Memoiren der kommunistischen Ingenieure geben ein den Aussagen der Medien ganz ähnliches Selbstbild der Ingenieure wieder. Sie sprechen teils implizit, teils explizit aus, daß die dreißiger Jahre ein schweres, gefahrenvolles, aber nichtsdestotrotz bemerkenswertes Jahrzehnt waren. Den Enthusiasmus für diese Zeit bezeugen v.a. Fedorova und Kozevnikova, in deren Memoiren selbst jedes negative Ereignis in die positive Entwicklung integriert wird. Auch wenn wir nicht wissen, ob sie nicht doch von Repressionen betroffen waren, bleibt davon unberührt, daß sie sich für den Aufbau des neuen Landes begeisterten, mit den neuen Parolen identifizierten und zu überzeugten Kommunistinnen wurden. Beide verkörpern den Stolz der Tanja Marozova aus dem Film „Der lichte Weg" darüber, daß sie Ingenieurinnen wurden und darüber hinaus nicht nur einen technischen Beruf ergriffen, sondern sich besonders schwere Ar18

Svetlyjput".

406

Nachwort

beitsorte im Metrostollen bzw. bei der Luftwaffe aussuchten. Fedorova lebt heute in Moskau, hält Vorträge zu Ehren des MUT, an dem sie studierte, und der Metro, der sie ihr Leben widmete, und schwelgt ganz in diesen Erinnerungen.19 Auch heute unterstreicht sie noch, was sie bereits in ihren Memoiren festhielt: „So waren die Menschen, einfach und heldenhaft. Was für Menschen, was für Biographien!"20 Fedorova arbeitete auch während des Krieges beim Metrobau, wurde 1948 Bauleiterin und 1961 stellvertretende Vorsitzende der Verwaltung des Metrobaus. Sie heiratete 1940 einen Ingenieur, mit dem sie zwei Kinder hatte. 1983 lud Michajl Gorbacev sie und andere ehemalige Stachanovarbeiter in den Kreml ein, um ihre Aufbauleistangen noch einmal zu würdigen.21 Kozevnikova zeigt die gleiche ungebrochene Begeisterung wie Fedorova: „In mich ergoß sich wirklich etwas Mutiges, Starkes, und mir schien, daß ich alles überwinden, alles machen kann."22 Sie war im Krieg weiterhin als Wartangsingenieurin tätig, rückte mit der Roten Armee bis nach Berlin vor und trat 1942 der Partei bei. 1944 heiratete sie den Kampfpiloten Anatolij Leonidovic Kozevnikov, um sich nach dem Krieg ganz der Erziehung ihrer drei Kinder zu widmen.23 Während diese beiden Frauen ihre Memoiren unter Zensurbedingungen veröffentlichten, läßt Calych, der seine Erinnerungen erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion festhielt, ganz ähnliche Ansichten erkennen:

„Oft denke ich über diese lang vergangenen Tage nach, als das Leben unglaublich schwer, aber andererseits von Optimismus und Initiative erfüllt

war."24

Das schreibt er, obwohl er nur knapp dem NKVD entkam und 1940 seinen Posten als Chefingenieur der Elektrodenfabrik in Celjabinsk aufgeben mußte, weil er den Eindruck hatte, hier als parteiloser Ingenieur nicht mehr geduldet zu werden. Im April 1940 übersiedelte er mit der gesamten Familie nach Moskau, wo er eine Anstellung im der Moskauer Elektrodenfabrik MEZ fand.25 Während des Krieges arbeitete Calych weiter in dieser Fabrik, die zwischenzeitlich nach Celjabinsk ausgelagert wurde. Nach 1945 verlief seine Karriere reibungslos: Er wurde zum Aufbau nach Nordkorea geschickt, nahm danach führende Positionen in der Moskauer Planungsbehörde für Elektrodenfabriken ein und wechselte 1955 in die Wissenschaft an das Moskauer Chemisch-Technische Mendeleev-Institat, 19 20

21

Telefonat mit T.V. Fedorova Fedorova, Naverchu, S. 32.

am

10.3.1994 in Moskau.

Fedorova, Naverchu, S. 94, 144, 211; Dni i gody, S. 150. Kozevnikova, S. 34. 23 Kozevnikova, S. 68ff, 145f. 22

24

Calych, S.

34.

"Calych, S. 71.

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bevor er 1988 in Pension ging.26 Calych beendete im Jahr 1996 seine Memoiren mit einem Zitat von Niels Bohr: „Es war ein besonderes Abenteuer, in dieser Epoche zu leben."27 Das Bemerkenswerte an Calych ist, daß er kein Parteimitglied war, nicht einmal aus Opportunismus 1940 der Partei beitrat, als es von ihm verlangte wurde, und sich dennoch als überzeugter Sowjetbürger präsentiert. Obwohl bzw. weil er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Erinnerungen festhielt, beschreibt er die Sowjetunion als einen Staat, der v.a. auf dem Gebiet der Technik und der Volksbildung ein unschätzbares kulturelles Erbe geschaffen und hinterlassen habe, auf das er stolz war und ist. Auch Gajlit, der seine Erinnerungen 1980 zu Papier brachte, urteilte ähnlich über sein Leben in diesem Land. Er hatte ein ähnliches Schicksal wie Calych: Seit Beginn der dreißiger Jahre als gefragte Kraft eingesetzt, fiel er 1937 in Ungnade, entging aber einer Verhaftung. Seine Karriere setzte sich 1939 fort, als er zum Chefingenieur der Hauptverwaltung der Aluminiumindustrie (Glavalumin) ernannt wurde.28 Auch Gajlit war vom Kriegsdienst befreit, blieb in Moskau und stieg nach dem Krieg weiter auf: 1946 trat er als stellvertretender Vorsitzender des Technischen Rats in das Ministerium für Buntmetalle ein. Doch dann wäre er beinahe Opfer der dritten Terrorwelle geworden. Infolge von „Verleumdungen" wurde er 1953 aus dem Ministerium entfernt, so Gajlit, für sein angeblich „gegen die Partei gerichtetes Verhalten" abgemahnt und schließlich auch seiner Stelle als gewöhnlicher Ingenieur enthoben. Erst als er sich im Februar 1955 an Chruscev wandte, wurde er von allen Vorwürfen freigesprochen. Zwei Jahre später wurde auch sein Bruder posthum rehabilitiert. Gajlit arbeitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1976 auf ranghohen Posten in der Weiterentwicklung der Industrie für Buntmetalle.29 Abschließend schrieb Gajlit im Jahr 1980: „Wenn ich mein Leben betrachte, bin ich stolz darauf, daß ich in dem dreiviertel Jahrhundert, das ich durchlebt habe, niemanden getötet habe, mich nicht als Speichellecker betätigt, meine Nachbarn nicht verleumdet, sondern

mutig anständige

Menschen unabhängig den Staat nicht bestohlen habe."30

Gajlit sucht derart, sich von all

von

den Umständen

verteidigt

und

dem Unrecht und den Verbrechen seiner Zeit abzusetzen. Obwohl er die Mißstände wahrnahm, veranlaßten sie ihn nicht, sein grundsätzlich positives Bild von der Sowjetunion der dreißiger Jahre zu revidieren. Der Tod seines Bruders und seine eigene Verfolgung zu Beginn der fünfziger Jahre gestalteten sich in seinen Augen als Ran26

Calych, S. 77, 88ff.,

136.

S. "Calych, 28

Gajlit, Gajlit, 30 Gajlit, 29

135. 1. 53. 1. 116ff., 1.341.

153, 173,336.

408

Nachwort

derscheinungen bzw. Folge des „Personenkults" und der Verbrechen Berijas.31 Für die Beurteilung der dreißiger Jahre aber war ausschlaggebend, daß er, Gajlit, das erste Aluminium gegossen und einen neuen Produktionszweig aufgebaut hatte.32 Blicken Calych und Gajlit mit Stolz, aber dennoch aus einer gewissen Distanz auf ein für sie erfülltes Leben zurück, gibt sich Pozdnjak als ungebrochener Enthusiast der Sowjetunion, der seine Memoiren anläßlich des fünfzigsten Jahrestags der Revolution aufschrieb. Obwohl auch er 1938 als Verräter verdächtigt wurde und seiner Frau eine Karriere verweigert blieb, waren das für ihn Nebensächlichkeiten verglichen mit all dem Leid und Unrecht, die er als Knecht im Zarenreich erlebt hatte: „Heute erinnern mein Bruder und ich uns oft der bitteren Jahre, als das private Unternehmertum und die unmenschliche Ausbeutung blühten."33 Pozdnjak schreibt sein Leben in der Sowjetunion als die Geschichte seiner eigenen Mensch- und Kommunistwerdung. In dieser Haltung verlieh er jeder Erscheinung einen Sinn und deutete jedes Erlebnis als wichtiges Element seiner Bildungsgeschichte. Während er einerseits Unrecht, Leid und Fehlplanung entdeckte, befahl er sich andererseits selbst, seine Wahrnehmungen dem Interpretationsschema der Partei besser anzupassen und entsprechend der bolschewistischen Dialektik zu beurteilen. Insofern erscheint sein Bericht an vielen Stellen „zweisprachig". Ähnlich wie Gajlit und Calych sah auch Pozdnjak den Terror nicht als systemimmanenten Fehler, sondern lastete ihn „ehemaligen Kulaken", „Neidern" und „Verleumdern" an und grenzte sie damit aus seiner ei-

gentlichen Sowjetanionerfahrung aus.

„Ich bin in erster Linie Kommunist, war es immer und werde es auch immer sein und erst an zweiter Stelle Wissenschaftler, Ingenieur, Propagandist usw. Doch die Parteiprinzipien gen Umständen."34

verteidige ich immer und überall und unter beliebi-

Pozdnjak genoß nicht das Privileg, vom Kriegsdienst freigestellt zu sein, sondern kämpfte sowohl im Finnlandfeldzug 1939/40 als auch im Weltkrieg von 1941 bis 1945. Nach dem Krieg arbeitete er an verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen in Moskau an der Entwicklung der Pulver-Metallurgie und in Gießereien, ging 1971 in Pension, blieb aber bis 1982 Dozent am Allunions-Polytechnischen Abendinstitat. Pozdnjak starb 1982.35

Loginov ähnelt Pozdnjak in seinem ungebrochenen Verhältnis zur Sowjetunion. Der Unterschied zwischen diesen beiden Männern besteht allerdings darin, daß Loginov keine Bewußtseinsfindung beschreibt, son31

Gajlit, 1. 116, 127. Gajlit, 1. 9. 33 Pozdnjak, 1. 10. 34 Pozdnjak, 1. 437. 35 Pozdnjak, 1. Iff. 32

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dem suggeriert, daß er von 1918 an Kommunist und von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war. Loginov verfaßte wie Pozdnjak seine Aufzeichnungen im Jahr 1967 und stand offenbar noch unter dem Eindruck der ausklingenden Tauwetterperiode, in der ihm endlich Genugtuung widerfuhr.36 Mit der Erklärung, seine Verhaftung sei Unrecht gewesen, war für ihn die Ordnung in seiner Welt wiederhergestellt. Dabei hatte sich sein Leidensweg nach 1945 noch weiter fortgesetzt. Anläßlich seiner Haftentlassung hatte ihm der zuständige NKVD-Major Chomic prophezeit: „Wir werden Dich ohnehin nicht in Ruhe in Moskau leben lassen."37 Loginov wurde sofort zum Kriegsdienst eingezogen, aber angesichts seines schlechten körperlichen Zustands für untauglich erklärt. Sein neues Leben in der Gerätebauindustrie und im Konstruktionsbüro an der Moskauer Staatsuniversität (MGU) endete abrupt, als auch er wie Gajlit Opfer der dritten Terrorwelle und im Herbst 1952 aus Moskau ausgewiesen wurde. Es folgte für ihn eine schwere Zeit der Arbeitslosigkeit, bis ihm ein mutiger Chefingenieur einer Industrievereinigung eine kleine Fabrik im Ivanovo-Gebiet anvertraute. Aufgrund seiner zahllosen Eingaben und Proteste erreichte Loginov, daß er bereits im August 1953 vollkommen rehabilitiert und erneut in die Partei aufgenommen wurde. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1964 arbeitete er im Staatskomitee für neue Technik des Ministerrats als stellvertretender Leiter der Abteilung für Gerätebau.38 Trotz des Durchlittenen und seines Ziels, den Terror für die Nachwelt festzuhalten, war es nicht seine Absicht, die Sowjetunion bloßzustellen oder sich von ihr loszusagen. Im Gegenteil: „Mir ist es, wie wahrscheinlich vielen Leidensgenossen, ein Anliegen zu erzählen, daß, auch als ich mich in peinlichen und erniedrigenden Umständen befand und mir alles genommen war, was mir teuer und lieb war, in Umständen, in denen man leicht sein menschliches Antlitz und seine menschliche Würde verlieren kann, ich trotzdem Kommunist blieb, Mitglied der großartigen Organisation, sogar im Gefängnis und 9 lichkeit und Disziplin verpflichtet."

Lager

der

gleichen

Verantwort-

Alle vier Ingenieure sind Männer, die mehr oder minder vom Terror 1937 betroffen waren, aber dennoch überzeugte Sowjetbürger bzw. Kommunisten blieben, die zum Wesen der Sowjetunion den Aufbau und die Aufstiegschancen, nicht aber die Repressionen zählten. „Gewinner" des Terrors, indem sie freiwerdende Positionen besetzten, waren die Ingenieure Lavrenenko, Maliovanov, Jakovlev und Fedoseev, denen deshalb aber keine einheitliche Meinung über ihr Leben in der Sowjetunion eignet. Für Lavrenenko begann der Aufstieg im Jahr 1937 im Moskauer Energieverbund ORGRÈS, für den er Kraftwerke kontrollierte, 36

Loginov, 1. 136. Loginov, 1. 130. 38 Loginov, 1. 130ff, 140, 39 Loginov, 1. 2. 37

145.

410

Nachwort

beseitigte oder neue Werke abnahm. 1938 wechselte er in die Hauptverwaltung für Energie des Volkskommissariats für Schwerindustrie und wurde hier als Dispatcher als Mann für Notfälle und Krisen ins Donbass geschickt. Von 1943 bis 1980 arbeitete er im Ministerium für Energietechnik und war die letzten zwölf Jahre stellvertretender Minister.40 Lavrenenko äußert sich wesentlich kritischer als z.B. Calych oder Gajlit und geht eindeutig mit seiner Kritik über die im Rahmen des Tauwetters konzedierten Verbrechen hinaus. Er schimpft nicht nur auf die Brüder Kaganovic, beschreibt nicht nur mit Befriedigung, wie sich Vinter Havarien

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gegen Stalin auflehnte, und weist nicht nur auf den Personenkult hin, sondern er berichtet auch von dem Terror gegen die Prompartija und die Folgen der Entkulakisierung.41 An keiner Stelle identifiziert er sich mit der Partei. Gleichzeitig ist er einer der Ingenieure, der am ausführlichsten seiner Begeisterung über die Technik, Dneprostroj und die Großbaustellen allgemein Ausdruck verleiht. Diese Technikbegeisterung sowie der Wille, „dabei zu sein", überwogen so stark, daß Lavrenenko nicht nur im Land blieb und es mitaufbaute, sondern nach dem Krieg sogar stellvertretender Minister wurde. Maliovanov zeigt in gewisser Hinsicht eine ähnliche Haltung wie Lavrenenko. Er nahm das Unrecht wahr, blieb aber trotzdem dem Land treu. Der Unterschied zu Lavrenenko ist allerdings, daß Maliovanov weniger der Faszination der Technik erlag, als den Lustfaktor betont, indem er deutlich macht, welchen Spaß er hatte, in diesem System aufzusteigen, Geld zu verdienen, seiner Frau Geschenke zu machen und schließlich als gefragter Mann in die Gruben des Donbass geschickt zu werden. Maliovanov zeigt, wie empfänglich er nicht nur für die materiellen Privilegien, sondern auch für die Botschaften war, mit denen die Partei den jungen Menschen vermittelte, sie seien die neuen Herren im Lande. Wenn man Fedorovas Bericht für verdächtig hält, dann ist Maliovanov, der 1997 von seiner Begeisterung in den dreißiger Jahren berichtet, der Richtige, um die Zweifel daran, daß sich Menschen mitreißen ließen, zu entkräften. Maliovanov ließ sich schließlich von der Partei leiten, als diese ihm verantwortungsvolle Posten übertrug; im Gegensatz zu Calych widersetzte er sich nicht der Aufforderung, ihr 1939 beizutreten. Im Krieg wurde Maliovanov nicht eingezogen, sondern wirkte zunächst weiter in der Belokalitinskij-Region, wurde 1942 nach Karaganda versetzt und 1948 nach Moskau ins Ministerium berufen, wo er in technischen Abteilungen und Konstruktionsbüros arbeitete. Außerdem promovierte er, wurde Professor und mehrfach für seine Konstruktionen ausgezeichnet.42 Lavrenenko und 4

Lavrenenko, 1. 45ff. Lavrenenko, 1. 44f. 42 Maliovanov, S. 5ff. 41

Am Ende eines

langen Jahrzehnts

411

Maliovanov sind zwei anschauliche Beispiele dafür, wie sich Ingenieure, die sich nicht für Kommunisten hielten, durch ihren Aufstieg in den Terrorjahren in das System integrieren ließen. Auch Jakovlev macht in seinen Memoiren sehr deutlich, wie der Aufstieg junger Ingenieure funktionierte und sich diese in den Bann der ihnen übertragenen Verantwortung und Macht schlagen ließen. Jakovlev bezeugt, wie sehr er von Stalin beeindruckt war. Obwohl er vorgibt, die Stalinära kritisieren zu wollen, präsentiert er in einem fort Stalin als den Förderer der Flugzeugindustrie, als einen einsichtigen und allwissenden Menschen, als großes Vorbild und Übervater.43 Dabei war auch Jakovlev nicht vor Anfeindungen gefeit. Nachdem er 1940 zum stellvertretenden Kommissar für Flugzeugbau bestellt worden war, griff ihn Stalin 1943 an, ein „Kumpane Hitlers" zu sein, als sich die Tragflächen der von ihm konstruierten Flugzeuge ablösten und sämtliche Kampfflugzeuge untauglich machten.44 1945 arbeitete Jakovlev bei der Demontage in Deutschland; 1946 ließ er sich „auf eigenen Wunsch", wie er schreibt, wieder in die Produktion versetzen und wurde 1948 Opfer einer Intrige Berijas, der seine Flugzeuge aus der Produktion nahm. Erst nach Stalins Tod und Berijas Verhaftung 1953 konnte er sich als Konstrukteur wieder Geltung verschaffen.45 Jakovlev stellt sich schließlich in erster Linie als einen Flugzeugbegeisterten vor, der nur für seine Maschinen lebte: „Wenn sie nur fliegen wird, mehr brauche ich fürs Leben nicht."46 Er starb 1989. Während Jakovlev sich windet und zum Teil sehr Widersprüchliches über sein Verhältnis zu Stalin schreibt, teilt Fedoseev klar mit, daß er erst später verstand, daß er 1937 nur deshalb befördert werden konnte, weil durch die Verhaftungen Vakanzen entstanden.47 Er erklärt seine Blindheit wie folgt: „Ich hatte, wie viele anderen auch, keine Veranlassung, solche einzelnen, nicht zahlreichen mir bekannten Fakten des politischen Terrors mit dem System als solchem zu verbinden. Wenn mir das damals jemand auseinandergesetzt hätte (und solche Freiwilligen gab es unter den Wissenden praktisch nicht), dann hätte ich das einfach nicht geglaubt, so sehr widersprach das meinen romantischen, wenn auch recht verschwommenen Vorstellungen von meiner Zukunft und dem Land im ganzen."48

Fedoseev

begibt sich damit zwar in Widerspruch zu den Menschen, die bezeugen, daß die Verhaftungen überall und unübersehbar abliefen. Gleichzeitig macht er aber plausibel, daß es Menschen gab, die nicht bereit waren, die Verhaftungen wahrzunehmen. Er gibt damit Einsicht in die 43

Jakowljew, S. 193. Jakowljew, S. 345. 45 Jakowljew, S. 479ff. 46 Jakowljew, S. 600. 47 44

48

Fedoseev, S. 60. Fedoseev, S. 61.

412

Nachwort

Ingenieure wie Loginov u.a., die den Terror nur als Ausnahmeerscheinung akzeptieren wollten. Fedoseev wurde während des Krieges mit seiner Fabrik „Svetlana" erst nach Novosibirsk evakuiert und dann in die Nähe Moskaus verlegt, durfte nach der Befreiung Leningrads aber nicht dorthin zurückkehren und lebte fortan getrennt von seiner Familie. Er arbeitete nach dem Krieg als Demonteur in Deutschland, wurde Leiter eines Forschungs- und Konstruktionslabors, promovierte 1949, konnte 1953 endlich nach Moskau ziehen, arbeitete in einem AKW, habilitierte 1960 und fuhr zu Kongressen ins Ausland. Trotz entsprechender Aufforderungen blieb er parteilos.49 Fedoseev berichtet, er habe drei Phasen in der Sowjetunion durchgemacht: Zunächst habe er gedacht, die Probleme des Landes lägen an vorübergehenden wirtschaftlichen Schwächen und mangelhaften Führungskräften, dann habe er zu zweifeln und zu analysieren begonnen und schließlich begriffen, daß der Fehler im System lag.50 Besonders aufPositionen der

schlußreich ist, daß er betont, daß er in dem Moment, in dem er verstand, daß das System nicht zu reformieren oder durch bessere Führer zu retten sei, keine Perspektive mehr für sich in diesem Land sah. Diese Aussage weist darauf hin, daß es für Menschen auch Selbstschutz bedeutete, den Hintergrund des Terrors oder der schweren wirtschaftlichen Lage kognitiv nicht zu durchdringen, weil sie am Ende eines solchen Prozesses im übertragenen wie im direkten Sinne heimatlos wurden. Fedoseev liefert damit einen Schlüssel zum besseren Verständnis des Verhaltens von Menschen wie Loginov, Gajlit, Pozdnjak u.a. Er sah nach seiner Analyse nur noch drei Auswege: zum Dissidenten zu werden und im Lager zu enden, das Denken einzustellen und zur „Pflanze" zu werden oder auszureisen. 1971 nutzte er die Reise zu einer Flugzeugausstellung nach Paris zur Flucht ins Britische Konsulat.51 Auch Bogdan floh schließlich aus der Sowjetunion. Sie kam allerdings im Unterschied zu Fedoseev nicht langsam zu dem Schluß, daß das System an Not und Terror schuldig war, sondern bestand darauf, dies von Beginn an gesehen zu haben. An ihrer Haltung änderte auch ihr privilegiertes Leben nichts: Sie wurde Sicherheitsbeauftragte, stellvertretende Leiterin des Fabrikkomitees, trat 1939 auf Aufforderung der Partei bei und stieg mit Kriegsbeginn 1941 zur Chefingenieurin auf.52

49

Fedoseev, S. 85, 95, 99, 106, 115ff., 124f. Fedoseev, A.P.: Sbornik statej. Iz serii: „Socializm i diktatura. Pricina i sledstvie", Frankfurt am Main 1971, S. 269. 51 Fedoseev, Zapadnja, S. 196, 209. 52 Bogdan, Mimikrija, S. 197, 216, 290. 50

Am Ende eines

langen Jahrzehnts

413

Bogdan beschreibt ihr Leben in der Sowjetunion als „Mimikry", als ständige Tarnung und Anpassung an ihre Umwelt. Sie und ihr Techniker Jusupov waren der Meinung: „Wir (...) leben wie die Füchse im Wald; wenn Du etwas für Dich erreichen willst, handle verdeckt, berechne die Situation, schau Dich immer um, riech genau hin, und wenn Du etwas geschnappt hast, verwische mit dem Schwanz sofort die Spuren, daß es niemand merkt und sagt: raffgieriger Egoist."

Nach Bogdans Auffassung befand sich Rußland in „Feindeshand", so daß sie mit dem Überfall der Wehrmacht hoffte, Deutschland werde Rußland befreien und eine autonome Regierung einsetzen. Sie ließ sich nicht ins Landesinnere evakuieren, sondern erwartete die „Befreier", um 1942 in den Westen zu fliehen.54 Bogdan lebt heute in England. Ivanenko, Van'jat und Rozanov wohnen noch heute in St. Petersburg bzw. Moskau. Van'jat galt seit 1937 als „Tochter eines Volksfeindes". Damit rückte für sie nicht nur der ersehnte Stadienwechsel ins Reich des Unmöglichen; auch ihr Freund wandte sich von ihr als Stigmatisierter ab. 1940 heiratete sie einen parteilosen Sportjournalisten, der sich nicht für ihre Vergangenheit interessierte: „Die Liebe fragt nicht."55 Van'jat brach sofort ihr Stadium ab und folgte ihrem Mann nach Omsk, wo sie zwei Kinder zur Welt brachte. Nach ihrer Rückkehr nach Moskau 1945 entschloß sie sich, nun doch das von ihrer Mutter schon in den dreißiger Jahren favorisierte Pädagogische Institut zu besuchen, legte aber kein Examen ab, weil ihr Mann sie daran mit den Worten gehindert habe: „Ich brauche keine selbständige Frau. Ich brauche eine Mutter zu Hause, arbeiten kann ich für zwei."56 Van'jat scheint sich gern in diese Rolle gefügt zu haben: Sie widmete sich ganz der Familie und der Gesellschaftsarbeit im „Haus des Journalisten". Mit Stolz berichtet sie, daß sie schicke Kleider und Hüte für ihre Kinder fertigte und das gesellschaftliche Leben im „Frauenrat" des „Hauses des Journalisten" organisierte. Dadurch, daß ihr Mann ein berühmter Sportjournalist war, der u.a. von den Olympischen Spielen aus dem Ausland berichtete, genoß auch sie in ihrem Leben manche Privilegien und kam mit bekannten Persönlichkeiten zusammen. Über ihr Verhältnis zur Sowjetmacht sagt sie nur, nach der Verhaftung ihres Vaters habe ihre Mutter immer betont: „Die, die Vater verhaftet haben, waren schlechte Leute."57 Insofern war auch sie bereit, wie Loginov u.a. den Terror nur wenigen Leuten, nicht aber dem Staat als solchem anzulasten. 53

Bogdan, Mimikrija, S. 231 f. Bogdan, Mimikrija, S. 304, 322; Bogdans Erzählung bricht hier ab; weder schildert sie die Umstände ihret Flucht noch ihr späteres Leben. Sie lebt heute in England, hat aber auf eine über ihren weiteren Lebensweg nicht geantwortet. Anfrage 55 S. 2. Van'jat, 56 S. 3. Van'jat, 57 Van'jat, S. 3f. 54

414

Nachwort

Ivanenko arbeitete während des Kriegs in der Admiralitäts-Fabrik in 1945 an einem Fortbildungsinstitut eingesetzt und war die letzten zehn Jahre vor der Pensionierung im Bergbau-Institut in der Forschungsabteilung tätig. Während Van'jat ihren Frieden mit der Sowjetunion geschlossen hat bzw. sich in der Tradition ihrer Eltern nie in Opposition zu dieser verstand, zeigt sich Ivanenko kritischer. Zwar greift auch sie die Bolschewiki nicht an, aber sie spricht deutlich die Meinung aus, daß mit der Zerschlagung der alten Intelligenzija Rußland einen nicht wieder gut zu machenden kulturellen Verlust erlitten habe. Der Unterschied zwischen der neuen und der alten wissenschaftlichen Elite sei „kolossal". Während die alte „kultiviert, aufgeschlossen, ehrlich und selbstlos" gewesen sei, sei die neue das genaue Gegenteil: statt nach Wissen (znanie) strebe sie nur nach Auszeichnungen (zvanie).5* Entschieden sich all diese Ingenieurinnen und Ingenieure mit Leidenschaft für oder gegen die Technik, für oder gegen die Bolschewiki, für oder gegen die Sowjetunion, ist Rozanov der einzige, der in allen Bereichen vollkommene Gleichgültigkeit zeigt. Er erzählt: „Ich sah die Mängel des Systems, aber es war nichts daran zu ändern."59 Rozanov versuchte sein Leben lang mit mal mehr, mal weniger Erfolg, sich so gut wie möglich anzupassen. Die Parteimitgliedschaft, die er 1943 erhielt, strebte er einzig als „Beweis, daß man sauber war", an. Auch er machte Karriere, übernahm 1950 als Direktor das Flugzeugwerk in Kujbysev, wechselte dann als Laborleiter und späterer Direktor in die Saratower Akkumulatorenfabrik, bevor er 1959 als Verwaltungsleiter in den Volkswirtschaftsrat in die Abteilung für Chemie berufen wurde. 1978 baute er in Nordkorea eine Akkumulatorenfabrik auf und arbeitete später am Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Akkumulatoren, an dem er noch heute halbtags tätig ist. Rozanov resümiert sein Leben mit einer von Ingenieuren, die sich selbst für unpolitisch hielten, oft zitierten Aussage: „Ich wollte immer soviel Nutzen wie möglich bringen."60

Leningrad, wurde nach

Ivanenko, S. 2f. Rozanov, S. 4. Rozanov, S. 3.

415

Resümee

2) Resümee Bereits 1937 verkündete der Vestnik inzenerov i technikov stolz, während Beginn des ersten Fünfjahrplans in der Großindustrie 92 000 Ingenieure und Techniker gegeben habe, seien es 1936 bereits über eine halbe Million gewesen: „Während früher, vor 1928, die ingenieur-technischen Kader in erster Linie von den Emporkömmlingen, dem Adel und der Bourgeoisie abstammten, es zu

stammen

heute 80 bis 90 Prozent

von

Arbeitern und Bauern ab. Unsere

so-

wjetische Intelligenzija besteht zur Zeit zu 22 Prozent aus Parteimitgliedern, ungefähr zu acht Prozent aus Komsomolzen und zu zwölf Prozent aus Frauen."1 Stolz wurde nicht nur die Schaffung einer neuen technischen Elite, sondern auch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur vorgeführt. Entsprechend der offiziellen Volkszählung von 1897 habe es in Moskau 7 638 Geistliche, aber nur 374 Techniker gegeben. Heute habe dagegen eine einzige Fabrik mehr Ingenieure als das gesamte „kaufmännische Moskau". Der Ingenieur war Indikator, Symbol und Sinnbild für die neue Gesellschaft. Während das Land früher von „Popen" und „Kaufleuten" geprägt gewesen war, trat nun die technische Intelligenz an ihre Stelle. Diese Techniker stammten nicht aus den privilegierten Schichten, sondern aus dem Proletariat, das für soziale Abstammung aus der Arbeiterschaft und Klassenbewußtsein stand, war erfolgreich geformt worden und hatte sich (technisches) Wissen erkämpft. Dieser Ingenieur neuen Typs wurde als der neue Mensch gefeiert: „Die großartigste Errungenschaft der sowjetischen Ordnung sind die Menschen die Kader, die den Sozialismus bauen, die von unserer unbesiegbaren Arbeiterklasse und der bolschewistischen Partei (...) geschmiedet wurden. Zusammen mit dem großartigen Volk wuchs und erstarkte unsere produktions-

technische

Intelligenzija."2

meinte nicht nur, daß er Maschinen konstruieren, Metall formen und neue Fabriken erschaffen konnte, „Ingenieur" war auch ein Sinnbild für diese Zeit, in der alles neu konstruiert, geformt und erschaffen werden sollte: das Metall, der Mensch, die Natur. Während die Grundwerte des idealen Ingenieurs während der dreißiger Jahre nicht verändert wurden, erfuhren sein Erscheinungsbild und seine Karriereetappen im Laufe der verschiedenen Kampagnen einige Korrekturen. Zu Beginn des ersten Fünfjahrplans trug der Ingenieur Arbeiterkluft, rasierte sich nicht, und die Trauerränder unter seinen Fingernägeln waren ein Zeichen

Ingenieur

1

2

Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 9, September 1937, S. 523f. Vestnik inzenerov i technikov, Nr. 10, Oktober 1937, S. 572.

416

Nachwort

seiner proletarischen Gesinnung.3 Doch schon am Ende des ersten Fünfjahrplans entsprach er äußerlich einem Amerikaner, der sich mit Trenchcoat, Filzhut, Weste und Krawatte kleidete. Sein Markenzeichen war die Tabakspfeife. Der neue Ingenieur war ein junger, gutaussehender Mann von schlanker, sportlicher Figur mit dichtem blonden oder braunen Haar, das Gesicht immer glatt rasiert, den Blick offen nach vorn gerichtet. Er trug stets ein weißes Hemd, dessen Ärmel er jederzeit hochkrempelte, um bei der Drecksarbeit mit anzupacken. Er brütete nicht über Büchern, son-

dern löste die Probleme vor Ort. Er war kein Schwätzer, sondern ein Macher. Er kümmerte sich nicht um Komfort, liebte aber das Theater, die Musik und war umfassend gebildet. Er stammte aus der Provinz, hatte in einer der Metropolen studiert und sich dann auf einer Großbaustelle bewährt. Auch seine Biographie erfuhr leichte Veränderungen: Während der ideale Ingenieur zu Beginn der dreißiger Jahre im Bürgerkrieg gekämpft und in den zwanziger Jahren in verschiedenen Institutionen den neuen Staat mit aufgebaut hatte, kannte der Ingenieur am Ende der dreißiger Jahre weder das Zarenreich noch die Revolution aus eigener Anschauung. Anstatt gegen die Weißen hatte er gegen die „Schädlinge" gekämpft. „Der sowjetische Ingenieur" war schließlich ein Mann und keine Frau. Zwar gab es wie in „Der lichte Weg" immer wieder Darstellungen von Ingenieurinnen. Diese präsentierten aber weniger die Frau als Ingenieurin, als daß sie als Symbol für Aufschwung, Entwicklung und die sowjetische Zukunft insgesamt herhalten mußten. Nichtsdestotrotz strömten Frauen in zunehmender Zahl an die technischen Institute, wo sie 1937 28 Prozent der Studierenden stellten, was eine Verdoppelung gegenüber 1928 bedeutete. Ihr Anteil an den Studierenden stieg mit dem Ausbruch der Kriege (Winterkrieg 1939/40 und Zweiter Weltkrieg 1941^15) und der Mobilisierung der Männer stark an und lag 1940 bei 40,3 Prozent.4 Die Memoiren zeigen, daß das vom Ingenieur verbreitete Bild tatsächlich von einer Vielzahl von Ingenieuren und Ingenieurinnen aufgenommen, akzeptiert und internalisiert wurde. Die Sprache und die Bilder, von denen sich diese Männer und Frauen umgeben fanden, prägten maßgeblich ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Handeln. Das galt keineswegs nur für Personen, die sich von Haus aus als Bolschewiki verstanden. Auch diejenigen, die sich selbst als unpolitisch oder als Gegner des Systems verstanden, konnten sich nicht dem Einfluß ihrer Umwelt entziehen. Sie verwendeten die etablierte Sprache, dachten in den verbreiteten Feindkategorien und stimmten mit dem sowjetischen Wertesystem inso3

Gugel', Vospominanija, S.

320. De Witt, Education and Professional 13, d. 10.

4

Employment,

S.

654; GARF, f. 5515, Narkomtrud, op.

Resümee

417

fern überein, als daß auch sie der Industrialisierung erste Priorität gaben. Diese Ingenieure, die teils aus der Arbeiterschaft, teils aus kleinbürgerlichen Verhältnissen oder von großen Ingenieuren abstammten, vereinigten sich zu einer neuen technischen Intelligenzija. Ganz gleich, ob sie ihre Erinnerungen in der Sowjetunion zur Tauwetterzeit oder danach veröffentlichten, ob sie sie ausschließlich fürs Archiv niederschrieben oder nach dem Zusammenbruch der UdSSR erzählten, präsentieren sich diese Männer und Frauen größtenteils als stolze Erbauer/innen ihres Landes und Begründer einer neuen Technik. Das Bild, das sie von sich selbst schufen, entstand in Wechselwirkung der ihnen offiziell zugeschriebenen Rolle mit ihren eigenen Empfindungen. Ihre Memoiren sind das Produkt einer alten Genretradition, aktueller Kulturmuster und der jeweiligen eigenen Erfahrung. Zentral für das Verständnis der prosowjetischen Memoiren ist die Feststellung, daß sie auf einer dialektischen Weltsicht basieren. Ihr Konstruktionsprinzip ist die Schaffung von These und Antithese, die immer in deren Überwindung durch die Synthese kulminiert. Nach diesem Schema gliederten die Ingenieure und Ingenieurinnen ihr Leben genau wie ihre Arbeitserfahrung. Aus dem Elend ihrer Kindheit im Zarenreich befreiten sie Revolution und Bürgerkrieg. Nachdem sie in den zwanziger Jahren in der Partei oder für den neuen Staat gearbeitet hatten, schickte die Partei sie zum Lohn an ein technisches Institut. Entsprechend erzählten die jüngeren, daß sie dem Chaos des Bürgerkriegs entflohen, Arbeiter/innen wurden und dann eine Abordnung zum Stadium erhielten. Nachdem sie sich in der Produktion bewährt hatten, stiegen sie auf höhere Posten auf. Diese Ingenieure heben ihre perspektivlose und triste Kindheit in der Zarenzeit bzw. die Wirren der Bürgerkriegszeit von dem danach einsetzenden neuen Leben deutlich ab. Gerade Menschen, die Knechtschaft und Ausbeutung erlebt hatten, demonstrieren, daß dies die adäquate und für sie einzig zulässige Interpretation ihres Lebens war. Mehr noch: sie führen vor, wie sie sich selbst zum neuen Menschen erzogen und sich beibrachten, die Prioritäten „richtig" zu setzen und die Maßstäbe „richtig" zu wählen. Selbst als die Partei von ihnen Taten forderte, die ihren eigenen Interessen zuwider liefen, überzeugten sie sich selbst davon, daß dies der richtige Weg für sie war. Diese kommunistischen Ingenieure und Ingenieurinnen nahmen die vorgefundenen Interpretationsangebote und Deutungsmuster auf und übersetzten ihre eigene Erfahrung in diese Kategorien. Aber nicht nur diejenigen, die tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen stammten, fanden ihre eigenen Erfahrungen in der angebotenen Narration wieder, identifizierten sich mit den neuen Helden und ordneten und bewerteten dementsprechend ihr Leben. Auch Kinder aus bürgerlichen Kreisen übernahmen die Sichtweise, daß die Revolution sie befreite und ihnen neue Chancen

418

Nachwort

bot. Auch sie strukturierten ihre Lebenserzählung als Geschichte darüber, wie sie ein Sowjetmensch wurden. Sie beschreiben die Stadien der schrittweisen Assimilierung und abschließenden Verwandlung mit der gleichen Selbstverständlichkeit und in den gleichen Kategorien. Damit adaptierten auch sie das Modell des neuen Menschen und präsentierten mit ihren Memoiren ihre persönliche Bildungsgeschichte. Über die diskursiven Repräsentationsstrukturen hinaus funktionierten viele Einrichtungen der Bolschewiki als Integrationsmechanismen für junge Menschen. Kleinbürgerliche, aber auch proletarische Kinder beschreiben, daß sie im Komsomol in erster Linie Spaß und Abenteuer fanden. Die kommunistische Jugendorganisation diente vielen als Jugendclub und Treffpunkt für junge Leute, die etwas unternehmen und erleben wollten. Schließlich gab es auch vereinzelt Personen, die sich aus den Angeboten der Bolschewiki wie in einem Selbstbedienungsladen immer das herauspickten, was ihnen gerade am meisten behagte. Dabei ging es keineswegs in erster Linie um Karriere, sondern um Wohlstand, Konsum und Vergnügen. Eine ganze Reihe von Personen wurde auf diesem Weg für das System gewonnen. Sie waren keine „intentionalen" Bolschewiki, wohl aber „funktionale", indem sie die Strukturen nutzten und selbst innerhalb der Institutionen funktionierten. Während die „intentionalen" und „funktionalen" Bolschewiki ihre Kindheit als Negativfolie präsentieren, gegen die sich ihr späteres Leben in der Sowjetunion positiv abhebt, beschreiben diejenigen Ingenieure und Ingenieurinnen, die aus der alten Intelligenzija stammen und sich nicht nachhaltig für die Sowjetmacht vereinnahmen ließen, ihre Kindheit als wunderbare, unbeschwerte Zeit, die durch die Revolution unwiederbringlich verloren ging. Auch die NÉP schildern sie als Zeit, in der das Regime der Bolschewiki noch viele Freiräume ließ, so daß ihnen bis 1927/28 ein angenehmes Leben möglich war, bevor mit dem Beginn des ersten Fünfjahrplans ihre heile Welt in sich zusammenstürzte. Konfrontiert mit der Tatsache, daß sie keinen Studienplatz bekamen, mußten sie sich Strategien ausdenken und sich den neuen Spielregeln anpassen. Die hier vorgestellten Personen führen vor, wie aus einem diskriminierten Bürgerkind ein privilegierter Arbeiter wurde. Mitunter fanden gerade Ingenieurstöchter Wege, die Schleuse „Studium" ganz zu umgehen, auf anderem Wege Ingenieurin zu werden und so eine Abkürzung in die sowjetische Gesellschaft zu nehmen. Während Kinder aus Arbeiterverhältnissen ihr Ingenieursstudium als Erfüllung ihrer Träume betrachteten, ergriffen Bürgerkinder zuweilen diese Ausbildung lediglich als letzte Chance, nachdem ihnen andere Möglichkeiten nicht mehr offenstanden. Die „Bewegung" läuft daher in den Memoiren der emigrierten Ingenieur/innen zu denen der prosowjetischen diametral entgegengesetzt: Während letztere

419

Resümee

Aufstieg aus der Dunkelheit zum Licht schilderten, beschrieben die Emigrant/innen den Niedergang einer lichten Welt und die dreißiger Jahre als die „dunkelste Zeit in der Geschichte der Sowjetunion".5 Ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen den Erzählungen der pro- und antisowjetischen Ingenieur/innen findet sich in der Schilderung der Lebensbedingungen und des Privatlebens. Während Emigranten ausführlich über ihre Wohnsitaation und die Lebensmittelversorgung, Kleidung und Freizeitgestaltung sprechen, finden sich solche Einlassungen in in der Sowjetunion entstandenen Memoiren nur am Rande. Daran ist ihren

mehreres bemerkenswert: Zunächst, daß sich die Zeit der kul 'turnost mit ihren Phänomenen nicht in den Erinnerungen der kommunistischen Ingenieur/innen niedergeschlagen hat. Sie wirkt wie ausgelöscht, als ob es sie nie gegeben habe. Offenbar hat die Verteufelung der „goldenen Jahre" während der Terrorzeit so nachhaltig gewirkt, daß von den Eindrücken dieser Epoche, in der der Ingenieur kulturell geschliffen wurde, nichts übrigblieb. Sie wurden überlagert von dem neu-alten Ingenieursbild, daß den Techniker als genügsamen, arbeitsamen, aber v.a. schweigsamen Menschen zeigte. Diese Vorlage wurde durch die russische Kultur, in der traditionell das Private einen anderen Stellenwert hat, verstärkt. Dennoch läßt sich feststellen, daß viele Ingenieure zumindest in Halbsätzen oder zwischen den Zeilen zu erkennen geben, daß sie Anspruch auf einen gewissen Lebensstandard erhoben. Ihr beruflicher Aufstieg ging Hand in Hand mit einer „Wohnungskarriere". Erstaunlich ist weiter, daß aber auch emigrierte Ingenieure als „verschwiegene" Ingenieure auftreten, die sich zwar über ihre Lebensumstände beklagen, dies aber nicht in den Vordergrund stellen, sondern sich den kommunistischen Kolleg/innen anschließen und sich in erster Linie als arbeitende Ingenieure präsentieren. Auffällig ist auch, daß selbst ein Ingenieur wie Maliovanov, der ganz offenbar in erster Linie diese kul 'turnost '-Seiten am sowjetischen Leben schätzte, dennoch das Bild des nicht über sein Privatleben redenden Ingenieurs so verinnerlichte, daß er im Interview an den entsprechenden Stellen darum bat, das Tonband abzuschalten. Schließlich ist bedeutend, daß gerade Emigranten die Phase des zweiten Fünfjahrplans als wirkliche Entspannung schildern, während heute oft behauptet wird, die Losung Stalins „Das Leben ist besser, das Leben ist lustiger geworden" sei purer Zynismus gewesen. Festzuhalten ist, daß die kul 'turnost '-Phase offenbar v.a. die kritischen Ingenieure nachhaltig beeindruckte, während gleichzeitig das Bild vom nicht über sein Privatleben sprechenden Ingenieur so stark war, daß auch diejenigen davon affiziert wurden, die sich immer wieder von ihm zu distanzieren suchten. '

5

Bogdan, Mimikrija, S. 6.

420

Nachwort

Daß das Bild vom Ingenieur auch die in ihren Bann schlug, die sich von ihm absetzen wollten, gilt v.a. für den Bereich des Technikverständnisses und der Industrialisierungseuphorie: Als den neuen Ingenieuren während des ersten Fünfjahrplans und in der Stachanovzeit die Wissenschaft als abzulehnende „Theorie der Grenzen" vorgestellt wurde, als bestritten wurde, es gebe allgemeingültige technische Standards, eine maximale Belastbarkeit von Maschinen oder in allen Ländern gleich anwendbare Produktionsverfahren, waren die meisten Ingenieure inklusive kritischer Bürgerkinder bereit, diese Slogans zu übernehmen und als reelle Einschätzung der Lage zu akzeptieren. Nur wenige hielten das „bolschewistische Tempo", das „Produktionsrisiko" und die „politische Technik" für „Hastigkeit", Pfusch und Dilettieren. Diese Männer und Frauen zeigen sich sowohl von dem Gedanken beseelt, als erste in Rußland bislang nicht existierende Branchen aufzubauen und Produktionsverfahren zu erproben, als auch von der Vorstellung überzeugt, alte, bewährte, seien es russische, seien es ausländische, Verfahren ignorieren zu können. Kaum einer dieser Ingenieure wehrte sich gegen die Ansicht, ihre Vorgänger, die alten Ingenieure, seien in ihren veralteten Theorien steckengeblieben. Sie wollten nicht „unwissender Mittler der in Hunderten von Büchern, in vielen Jahren zusammengetragenen Vergangenheit sein", sondern eine „neue und eigene" Technik erproben.6 Diese Sicht, die alte Ingenieursgeneration ablösen zu müssen, um eine neue Technik installieren und das Land entwickeln zu können, wurde seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht zuletzt durch entsprechende Romane verbreitet und gehörte damit zum allgemeinen, von den Bolschewiki unabhängigen Gedankengut. Den Industrialisierungsprozeß verstanden die „intentionalen" und „funktionalen" Ingenieure und Ingenieurinnen wie ihre Menschwerdung als dialektische Entwicklung: Es mußten mehrere Stufen durchlaufen werden; erst die Überwindung der Krise führte zum Erfolg. Diesem Herangehen entsprach das Trial and Error-Verfahren. Durch Ausprobieren und Irren überwanden die Ingenieure Hürde um Hürde und gelangten schließlich unausweichlich zum erwünschten Ziel. In diesem Interpretationsschema geriet jedes Mißlingen, jeder Unfall und jede Havarie zu einer eingeplanten Stufe auf dem Weg zum Erfolg. Derart war auch eine Explosion keine Tragödie, die zur Frustration geführt hätte, sondern der Vorbote des baldigen, gesetzmäßigen Durchbruchs. Nur diese dialektische Deutung erklärt die sowjetischen Memoiren, in denen Havarie über Havarie geschildert wird, ohne daß die zuversichtliche Grundhaltung verschwände. Angesichts der schweren Umstände, in denen nicht Routine und Regelhaftigkeit, sondern Pannen und Mangel den Arbeitsalltag charakterisier6

Lavrenenko, 1. 3.

421

Resümee

ten, entwickelten die Ingenieure und Ingenieurinnen ein entsprechendes Ingenieursethos. Ein sowjetischer Ingenieur zu sein, bedeutete, in jeder Lage zurechtzukommen und immer einen Ausweg zu finden. Sie wurden zu Meistern der Improvisation, der Pannen-„Liquidierung" und des Krisenmanagements. Ihr Stolz gründete sich nicht darauf, eine reibungslos funktionierende Technik präsentieren zu können, sondern in der Lage zu sein, trotz aller Schwierigkeiten die Produktion unter allen Umständen aufrechterhalten zu können und immer eine Lösung zu finden. Ihre Haltung beschreiben sie selbst wie folgt: „In der Werkshalle gab es die Worte ,Nein' und .können wir nicht' nicht. (...) Jede neue Aufgabe wurde mit ausschließlichem Wohlwollen und dem Wunsch, sie so schnell wie möglich zu erfüllen, aufgenommen."7 Wenn diese Ingenieure ihre Lage doch als bedrohlich und über das für die dreißiger Jahre normale Maß hinaus schwierig empfanden, dann machten sie für die Schwierigkeiten einzelne Personen verantwortlich. In diesem Sinne waren die Pressemeldungen wirksam, die die Schuld an all den Produktionsproblemen auf einzelne Truste, unfähige Direktoren, Parteibürokraten oder die angespannte Lage im In- und Ausland schoben. Mit wenigen Ausnahmen sahen diese Ingenieure keinen Anlaß, über die an-

gebotenen Erklärungsmuster hinauszugehen. Die Bolschewiki profitierten von der allgemeinen Technikeuphorie, die in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Rußland, sondern auch in der westlichen Welt herrschte.8 Die Sowjetunion verstand es, sich jenseits ihres politischen Anspruchs immer wieder als Mekka für in- und ausländische Ingenieure zu präsentieren. Es existierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts international ein ungebrochener Fortschrittsglaube und die Zuversicht, mit den richtigen technischen Lösungen würden sich auch alle anderen sozialen und gesellschaftlichen Probleme lösen lassen. Die UdSSR stellte sich erfolgreich als das Land dar, das am konsequentesten diesen Weg des (Social-)Engineering ging, und bekam dafür von vielen Seiten Beifall, nicht zuletzt von den eigenen bolschewistischen wie kritischen Ingenieuren. Die Kinder der alten technischen Intelligenzija ließen

sich mehr noch als ihre Väter von den Baustellen und Fabriken in ihren Bann ziehen und zeigten einen noch größeren Pragmatismus. Technik, Maschinen und Kombinate waren die Leidenschaft mindestens zweier Generationen. Teilweise lebten sie unter den Bolschewiki ihre Technikträume aus; teilweise emigrierten sie in die Technik und suchten hier ein Refügium jenseits der Politik. Sie verstanden sich als „echte" Ingenieure und wurden so von der Partei als besonders engagierte Unterstützer des sozialistischen Aufbaus wahrgenommen. So kam es, daß einstma7

RGAÈ, f. 159, Kozevnikov,

1.28. 8

Julian

Nikolaevic,

op.

2, d. 5: Cech moej molodosti, 1953-57,

Vgl. dazu auch Willeke, Die Technokratiebewegung.

422

Nachwort

lige Bürgerkinder Stachanovingenieurin, technischer Abgesandter der Regierung in den USA oder Dispatcher im Donbass wurden. Die Industrialisierung erscheint somit als gelungene Operationalisierung des Sozialismus, die auch ein Identifikationsangebot für neutrale oder der Sowjetmacht feindlich gegenüberstehende Ingenieure bereitstellte. Wenn Kultur Jener Komplex von Vorstellungen" ist, mit denen Menschen zwischen „wichtig und unwichtig, wahr und falsch, gut und böse, schön und häßlich unterscheiden", dann bestand die spezifische Kultur der sowjetischen Ingenieure darin, daß sie die Aufbauarbeit für wichtig und ihren persönlichen Komfort für unwichtig, die Unbegrenztheit ihrer technischen Möglichkeiten für wahr und alte, beschränkende Normen für falsch, die Technik für gut und die Natur für böse, eine Großbaustelle für schön und ein Büro für häßlich hielten. Wenn Graham fragt „What have we learned about Science and Technology from the Russian Experience?",9 dann würden zwar auch die sowjetischen Ingenieure antworten, daß sie teilweise bald merken mußten, daß bestimmte begrenzende und präventive Maßnahmen und Regeln in der Technik allgemeingültig waren und sich nicht nur auf den Kapitalismus bezogen. Gleichzeitig würden sie ihm sagen, daß sie das technische sowjetische Experiment keineswegs als gescheitert ansahen, sondern mit Trial and Error und Krisenmanagement Verfahren und Strategien entwickelten, mit denen sie schließlich eine Industrie aufbauten, auf die sie auch heute noch stolz sind. Weiter würden sie ihm sagen, daß sie die amerikanische Technik für ihr Ideal hielten. Das große Selbstbewußtsein, der Anspruch, nach jahrzehntelanger Abhängigkeit selbst die Industrie des eigenen Landes in die Hand zu nehmen, und die ständig suggerierte Bedrohung durch das Ausland führten zwar dazu, daß sowjetische Ingenieure ihren ausländischen Kollegen oft mit Unverständnis oder Mißtrauen begegneten. Gleichzeitig ist aber deutlich zu sehen, daß sie einen gewissen Neid auf die perfekte Organisation der amerikanischen Technik entwickelten. Diejenigen, die im Rahmen eines Technikhilfsabkommens in die USA reisten, berichteten begeistert von den dortigen Möglichkeiten. Sie machten deutlich, bei allem Stolz auf ihre eigenen Leistungen, daß die USA ein Niveau an Perfektion zeigten, daß sie in der Sowjetunion für unerreichbar hielten. Es scheint dies der seltene Fall zu sein, daß sich mit der Amerikaeuphorie ein von der Regierung lancierter Diskurs verselbständigte. Zwar kontrollierte sie ihn insofern, als daß diese Berichte in der Za industrializaciju abgedruckt wurden; nichtsdestotrotz entwickelte er sich immer mehr in Richtung einer Fundamentalkritik am sowjetischen Wirtschaftssystem. Das bedeutet, daß sowohl am Vorabend zur Kulturrevolution als auch 9

Graham, What have we learned.

Resümee

423

Großen Terror Ingenieure begonnen hatten, ihre Kritik an der Wirtschaftsführung der Partei laut und unerschrocken zu äußern. Der Ingenieur war in den dreißiger Jahren keineswegs eine rein positiv besetzte, sondern höchst eine ambivalente Figur. Dem Idealbild des sowjetischen Ingenieurs wurde permanent das Bild des Ingenieurs als Schädling und Verräter entgegengestellt, das immer nur partiell zurückgenommen wurde, so daß sich Ingenieure in einer permanenten Unsicherheit befanden. In Literatur und Film überwog sogar das Bild vom Ingenieur als alten spec, Bürokraten oder Schädling. Seit der Zarenzeit genoß der Ingenieur ein schlechtes Image, auf dem die Bolschewiki ihre AntiIntelligenzija-Propaganda aufbauen konnten. Dabei wurde das Bild vom feindlichen Ingenieur nicht nur beliebig reaktiviert, sondern auch auf die junge Generation übertragen. „Der alte Ingenieur" war als theorielastiger Kanzleistabenhocker verschrieen, der sich außer für seine eigene Karriere zum

für nichts interessierte. Er hatte nie eine Baustelle besucht oder eine Fabrik von innen gesehen, Maschinen und Mechanismen waren ihm fremd. Seine Welt waren verstaubte Bücher mit endlosen, unbrauchbaren Formeln und Berechnungen darin. Er war bestechlich, raffgierig und karrieresüchtig. Sein Merkmal war die alte Ingenieursuniform, seine Statur war typischerweise klein und krumm oder breit und plump. Er trug eine Halbglatze, über die fettige Haarsträhnen gelegt waren, dazu einen gezwirbelten Schnurrbart, und er konnte ohne Brille nicht sehen. Seine Redeweise war ausschweifend und gekennzeichnet von vielen Füllwörtern und Gesten der Unterwürfigkeit sowie Zeichen der Verschlagenheit. Das Dilemma der Bolschewiki bestand darin, daß zwar die „Diktatur des Proletariats" gepredigt wurde, gleichzeitig aber die Ingenieure das nötige Wissen für den Aufbau besaßen, die Entscheidungen fällten und auch materiell privilegiert waren. Die Terrorwellen während der Kulturrevolution und in den Jahren 1937/38 hatten so mehrere Funktionen: Sie dienten zum einen der Schaffung (1929-31) und Etablierung (1937-38) einer neuen (technischen) Elite. Sie sorgten weiter dafür, daß die Entstehung fester Führungsschichten und Strukturen verhindert wurde, um so die Gesellschaft „im Fluß" zu halten und „Normalität" zu vermeiden, wie Hannah Ahrendt konstatiert.10 Schließlich wurden in ihrem Vorfeld soziale Konflikte geschürt, um den Arbeitermassen den Eindruck zu vermitteln, zum einen seien an ihren unbefriedigenden Lebensumständen immer noch die Ingenieure schuld und zum anderen dürften sie sich jetzt endlich als die wahren Herren über die Fabriken fühlen." Diese Stimmung wurde sowohl Ende der zwanziger Jahre als auch seit 1935 mit der 10

S. 1 '

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, München Zürich 610ff, 63Iff. Vgl. dazu auch: Clark, The Changing Image of Science in Soviet Literature, S. 261.

21991,

424

Nachwort

Stachanovbewegung erzeugt, die noch stärker als die Kulturrevolution den Arbeitern suggerierte, sie könnten auf die Ingenieure auch verzichten.12 Die Ingenieure übernahmen so eine Art „Blitzableiterfunktion".13 Der Ingenieur eignete sich als Sündenbock, weil er die Fabriken leitete, die nicht genügend Gebrauchswaren produzierten, nicht genügend Traktoren herstellten, um die Ernte einzufahren, und die mangelhafte Nähmaschinen und häßliche Bratpfannen ausstießen. Sowohl aus den Berichten der Ingenieure als auch aus den Zeitungsmeldungen geht deutlich hervor, daß den Ingenieuren in erster Linie ganz alltägliche Produktionspannen oder Planuntererfüllung als Schädlingstum und Sabotage angelastet wurden. Nach der ersten Terrorphase 1928-1931 hatten Ingenieure gefordert: „Erlaubt uns, uns ehrlich zu irren (razresite cestno osibat'sja)."" In den Zeiten zwischen den Terrorwellen war es Ingenieuren eher möglich, sich „ehrlich zu irren", ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Grundsätzlich galt aber in den dreißiger Jahren, daß es für ein Problem immer einen Schuldigen geben mußte.15 Von jeder Erscheinung wurde offiziell angenommen, daß sie das Resultat intentionalen Handelns sei. Das galt sogar für Naturkatastrophen, die, anstatt ihnen vorzubeugen, dem „hinterhältigen Feind" Natur angelastet wurden. Seit dem neuen Gesetz gegen Ausschußware Ende des Jahres 1933 konnten Ingenieure wieder für Produktionsfehler vor Gericht gestellt werden, allerdings ohne als „Schädling" oder „Volksfeind" belangt zu werden. Es gehörte damit in der Tat zum „Berufsrisiko" der Ingenieure, zu Zwangsarbeit oder Haft verurteilt zu werden. Dieses Risiko erhöhte sich zusätzlich dadurch, daß viele Ingenieure, die ihm Auftrag der Regierung ins Ausland geschickt worden waren, in den Jahren 1937/38 als verdächtig galten, „Spion" oder „ausländischer Agent" zu sein. Die hier vorgestellten Ingenieure und Ingenieurinnen haben zum Großteil die permanente Bedrohung in den dreißiger Jahren vor 1937 ausgeblendet oder verdrängt: die Verfolgung der alten Intelligenzija während der Kulturrevolution, die Entkulakisierung, die Hungersnot, Institutsausschlüsse und Verhaftungen. Sie nahmen den Terror erst in dem Augenblick wahr, in dem sie selbst oder ihre direkte Umgebung betroffen waren. Das Jahr 1937 markiert in dieser Hinsicht in vielen Memoiren einen Schnitt. Viele kommunistische Ingenieure, die diesen Bruch sahen und ausdrücken wollten, stilisierten den Volkskommissar Ordjonikidze zum Schutzpatron und Symbol für die „guten Jahre" vor dem Sündenfall der Sowjetunion 1937. 12

Vgl. Rittersporn, The Omnipresent Conspiracy, S. Vgl. auch Rogovin, 1937, S. 244. 14 13

15

RGAÈ, f. 4394, VARNITSO, op. 1, d. 92, 33f.

Vgl. Rittersporn, Omnipresent Conspiracy, S.

110.

102.

Resümee

425

Den Rahmen für die Bewältigung des Terrors steckte schließlich die Rede Chruscevs 1956 auf dem 20. Parteitag ab.16 Sie legte als Verfahren nahe, einzelne Personen als verbrecherisch zu benennen und als solche aus der Gesamterfahrung Sowjetunion auszugrenzen. Die UdSSR wurde dadurch entlastet und blieb in ihrer Grundstruktur und ihren Grundaussagen unangetastet. Im Ganzen blieb der Terror ein Tabu, so daß es den Menschen schwer fiel, die adäquaten Worte zu finden, um ihn darzustellen. An Loginov ist deutlich zu sehen, daß er das von Chruscev angebotene Verfahren dankbar annahm: Er brandmarkte das ihm Widerfahrene als „Gesetzlosigkeit", um so seinen Frieden mit „seiner" Sowjetunion zu schließen. Die Wahrheiten, an denen er festhielt, waren nun nicht mehr von dem Erlebten bedroht. Einerseits hätte ein Eingeständnis, daß der Terror keine einmalige Erscheinung war, für viele Ingenieure bedeutet, ihre eigene Lebensgeschichte zur Disposition zu stellen und das eigene Lebenswerk für gescheitert zu erklären. Andererseits machte die geschlossene Welt, die aus den Fäden der verinnerlichten Diskurse und der eigenen Erfahrungen wie ein Kokon gesponnen war, es nahezu unmöglich, eine Außenperspektive einzunehmen. Die neuen Ingenieure und Ingenieurinnen waren das Produkt dieses Systems und gleichzeitig seine bzw. ihre Produzent/innen. Sie waren durch die Losungen, Bilder und Narrationen der dreißiger Jahre geprägt worden und hielten nun an diesen Diskursen fest, um sie weiterzutragen und gegen Angriffe zu schützen. So lange sie ihre Welt verteidigten, stand auch die Sowjetunion auf festem Fundament.

16

Chruschtschow, N.S.: Geheimrede

am

25.2.1956, in: Crusius, Reinhard / Wilke, Manfred:

Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt am Main 1977, S. 487-537; zur Datierung der „Stalinschen Verirrungen" siehe auch: Werth, Nicolas: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, S. 281, in: Courtois, Stéphane et al. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit dem Kapitel „Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR" von Entstalinisierung.

Der XX.

Joachim Gauck und Ehrhart Neubert, Zürich 21998, S. 51-298; Naumov, V.P.: N.S. Chruscev i reabilitacija zertv masovych repressij, in: Voprosy istorii 72 (1997) 4, S. 19-35.

VIII.

Anhang

Abkürzungen Amtorg Avtostroj

CAGI CEKUBU d. (delo) DITR

Dneprostroj f. (fond) Giprocvetmet

Gosfil'mofond FZU GARF

GOÈLRO

Gosplan (I)RTO ITR ITS KEPS

Komsomol KSU

Kuzneckstroj 1. (list) likbez

Magnitostroj Magnltka Metrostroj

MICMiZ MUT

.Amerikanischer Handel" (sowjetische, 1924 in New York gegründete Handelsorganisation) Bau des Automobilwerks in Niznij Novgorod Zentralinstitut für Flugzeugbau Zentralkommission zur Verbesserung des Lebensstandards der Gelehrten Akte Haus des Ingenieurs und Technikers Bau des Staudamms am Dnjepr Fonds Staatliches Projektierungsbüro für Buntmetallfabriken Staatliches Filmarchiv in Krasnogorsk bei Moskau betriebliche Berufsschule Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau Staatliche Kommission zur Elektrifizierung Rußlands

(Elektrifizierungsplan) Staatsplankommission (Kaiserliche) Russische Technische Gesellschaft Ingenieur-technischer Angestellter Gewerkschaftssektion der Ingenieure und Techniker Kommission zur Erforschung der natürlichen Pro-

duktivkräfte Kommunistischer Jugendverband (Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei) Kommission zur Hilfe der Gelehrten Bau des Metallkombinats in Kuzneck Blatt

Liquidierung des Analphabetentums

Bau des Metallkombinats in Magnitogorsk Metallkombinat in Magnitogorsk Bau der Moskauer Untergrundbahn Moskauer Institut für Buntmetallurgie und Gold Moskauer Institut für Verkehrsingenieure

428

MVTU

NÈP NKVD

(opis ') (O)GPU

op.

OsoAviaChim

parttysjacnik proftysjacnik rabfak

RGAÉ RKI

RKP(b) RCChlDNI

RSDPR(b) RSFSR subbotnik technolozka

Traktorstroj VAI VARNITSO

VKP(b) VKVTO VMBIT VOTI VSI VSNCh

vtuz(y)

ZK ZR

Anhang Moskauer Technikerakademie Neue Ökonomische Politik Volkskommissariat für Inneres [hier firmierte die Staatssicherheit 1934-1941] Findbuch (Vereinigte) Staatliche Politische Verwaltung

[Staatssicherheit 1922-1934]

Gesellschaft zur Unterstützung der Luftfahrt und der chemischen Industrie Parteitausender (von der Partei zum Studium Abge-

ordnete/r)

Gewerkschaftstausender (von der Gewerkschaft zum Studium Abgeordnete/r) Arbeiterfakultät Rußländisches Staatliches Wirtschaftsarchiv, Moskau Arbeiter- und Bauerninspektion Russische Kommunistische Partei (Bolschewiki)

(1918-1925)

Rußländisches Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung der Neusten Geschichte Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bol-

schewiki) ( 1903-1918)

Sowjetrepublik Samstagarbeitseinsatz Technologisches Institut St. Petersburg Bau des Traktorenwerks in Stalingrad Allunionsassoziation der Ingenieure Russische Sozialistische Föderative

Allunionsassoziation der wissenschaftlichen und technischen Angestellten zur Unterstützung des sozialistischen Aufbaus Allsowjetische Kommunistische Partei (Bolschewiki)

(1925-1952)

Allunionskomitee für technische Hochschulbildung (Gewerkschaftliches) Intersektionales Allunionsbüro der Ingenieure und Techniker

Allunionsvereinigung der Präzisionsindustrie Allrussische Union der Ingenieure Oberster Volkswirtschaftsrat Technische Hochschule(n) Zentralkomitee

geschlossene Verteilungsstelle (für Defizitwaren)

Lebensmittel und

429

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430

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techniki, Moskau

Gatcinskaja Pravda, Gatöina Industrija, Moskau Inzenernyj trud, Moskau Metrostroevec, Moskau

Novyj mir, Moskau Pravda, Moskau Russkij Inzener ', Berlin Torgovo-promyslennaja gazeta, Moskau Ural 'skij rabocij, Sverdlovsk '

USSR im Bau, Moskau

am

17.4.2000 in

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Vzryv,

fil'mofond, Krasnogorsk.

432

Anhang

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S.

Jutkevic, Filmnachweis: Bundesarchiv

Filmarchiv, Berlin.

ljudi, Sojuzkino nogorsk.

Déla i

-

Moskau

1932, Regie: A. Maceret, Nachweis: Gosfil'mofond,

Kras-

Vstrecnyj, Rosfil'm Leningrad 1932, Regie: F. Érmler und S. Jutkevic, Nachweis: Bundesarchiv Filmarchiv, Berlin. Ivan, Ukrainfil'm Kiew 1932, Regie: A. Dovzenko, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozest-

fil'my, Bd. 2, S. 19. zizn' Petra Vinogradova, Moskinokombinat Moskau 1934, Regie: A. Maceret, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Cetyre vizita Samuélja Vul'fa, Mezrabpromfil'm Moskau 1934, Regie: A. Stolper, Nachweis: Videothek im Kinozentrum, Moskau. Novaja rodina, Belgoskino Minsk 1935, Regie: Ë. Arsanskij, der Film ist nicht erhalten, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 70. Tri tovarisca, Lenfil'm Leningrad 1935, Regie: S. Timosenko, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Gibel' sensacii, Mezrabpromfil'm Moskau 1935, Regie: M. Doller, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fi'lmy, Bd. 2, S. 61. Grunja Kornakova, Mezrabpromfil'm Moskau 1936, Regie: N. Ékk, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 87. Ja ljubiju, Ukrainfil'm Kiew 1936, Regie: L. Lukov, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 113f. Vratar', Lenfil'm Leningrad 1936, Regie: S. Timosenko, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Zakljucennye, Mosfil'm Moskau 1936, Regie: E. Cervjakov, Nachweis: Videothek im Kinozentrum, Moskau. Sachtery, Lenfi'lm Leningrad 1937, Regie: S. Jutkevic, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Bol'sie kryl'ja, Lenfil'm Leningrad 1937, Regie: M. Dubson, der Film ist nicht erhalten, Nachweis: Maceret, Sovestkie chudozestvennye fil'my, Bd. 2., S. 121. Komsomol'sk, Lenfil'm Leningrad 1938, Regie: S. Gerasimov, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Cest', Mosfil'm Moskau 1938, Regie: E. Cervjakov, Nachweis: Videothek im Kinozentrum Moskau. Noc' v sentjabre, Mosfil'm Moskau 1939, Regie: B. Barnet, Nachweis: Maceret, Sovetskie chudozestvennye fil'my, Bd. 2, S. 203. Bol'saja zizn', 1. Teil, Kievskaja Kinostudija Kiew 1939, Regie: L. Lukov, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Velikij grazdanin (Großer Patriot), 2 Teile, Lenfil'm Leningrad 1937 und 1939, Regie: F. Ërmler, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Vysokaja nagrada, Sojuzdetfü'm Moskau 1939, Regie: E. Snejder, Nachweis: Gosfil'mofond, vennye

Castnaja

Krasnogorsk.

Osibka inzenera Kocina, Mosfil'm Moskau 1939, Regie: A. Maceret, Nachweis: als Video in meinem Besitz. Sumi gorodok, Kievskaja kinostudija Kiew 1939, Regie: N. Sadkovic, Nachweis: Videothek Kinozentrum, Moskau. Svetlyjput', Mosfil'm Moskau 1940, Regie: G. Aleksandrov, Nachweis: als Video in meinem Besitz.

433

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ders.

1994.

450

Anhang

Kurzbiographien zu

14

Ingenieur/innen

Bogdan, Valentina Alekseevna, geb. Ivanova (*1911, lebt in England) Vater Eisenbahner, religiöse und bürgerliche Familie aus Kropotkin am Kuban, vier Geschwistet; 1929 Abitut, 1929-1934 Studium in Krasnodarsk am Institut für Lebensmittelindustrie, 1934/35 Assistentin am Lehrstuhl für Maschinenkunde; 1935 Ingenieurin in einer Mähdrescherfabrik in Rostow am Don, 1936-42 Konstrukteurin, zuletzt Chefingenieurin in einem Mehl- und Nudelkombinat; 1939 Parteieintritt, 1942 in den Westen geflohen. Erinnerungen: „Studenten des ersten Fünfjahrplans" (Studenty pervoj pjatiletki), veröffentlicht 1973 in Buenos Aires, und „Mimikry in der UdSSR. Erinnerungen eines Ingenieurs 1935-1942, Rostow Don" (Mimikrija v SSSR. Vospominaija inzenera 1935-1942 erschienen 1986 in Frankfurt am Main. am

gody, Rostov-na-Donu),

Calych, Evgenij Fedorovic (*1901, lebt in Moskau)

Bauernsohn aus Perovsk (Turkestan), Eltern Analphabeten, einziges Kind; 1909-1915 Besuch der Gemeindeschule, bis 1919 Besuch des Priesterseminars in Taschkent, Arbeit als Bürohilfe und Lehrer; 1919-1920 in Armee, als Alphabetisierer eingesetzt; 1920-1922 Studium der Landwirtschaft an der Universität Tomsk, 1922-1929 Ingenieurstudium in Leningrad am Bergbauinstitut; arbeitet in der Aluminium-, Kohlenstoff- und Elektrodenindustrie, 1930 Zechenleiter in Elektrodenproduktion in Kudinovo, 1933 Versetzung nach Dnepropetrovsk, 1934 nach Celjabnisk, 1940 nach Moskau; Aufenthalte in Frankreich und Deutschland, 1936 in den USA; 1938 Opfer einer Verleumdungskampagne. Erinnerungen: „Aufzeichnungen eines sowjetischen Ingenieurs" (Zapiski sovetskogo inzenera), veröffentlicht in Moskau 1996.

Fedorova, Tat'jana Viktorovna (*1915, lebt in Moskau)

In Moskau geboren, Vater früh gestorben, während des Bürgerkriegs Flucht an den Dnjepr, Mutter mittellos, arbeitet im Krankenhaus, zwei Geschwister; sieben Jahre Schulbesuch, 1925 Beitritt zu den Pionieren, 1931 Eintritt in den Komsomol, 1931-32 Besuch einer betrieblichen Berufsschule (FZU); arbeitet als Taklerin für Heißluftballons, ab 1932 Arbeiterin und Brigadierin beim Metrobau; 1937 Eintritt in die Partei, 1937-1941 Studium am Moskauer Institut für Transportingenieure (MUT), ab 1941 Ingenieurin beim Metrobau. Erinnerungen: „Oben befindet sich Moskau" (Naverchu Moskva), veröffentlicht in Moskau 1981, außerdem im Sammelband „Tage und Jahre des Metrobaus" (Dni i gody Metrostroja), Moskau 1981. -

Fedoseev, anatolu Pavlovic (*1902)

In St. Petersburg geboren, Vater Ingenieur, zwei Geschwister, sorglose Kindheit in Provinz; 1927 Abitur, 1928 bis 1930 als Spezialistensohn zum Studium nicht zugelassen, 1930 Komsomoleintritt, verschiedene Gelegenheitsarbeiten, 1931-1936 Studium am Elektrotechnischen Institut in Leningrad; ab 1936 in Leningrader Fabrik „Svetlana" in der Glühbirnen- und Generatorenentwicklung; 1938-1940 in den USA, 1971 in den Westen geflohen. Erinnerungen: „Die Falle. Der Mensch und der Sozialismus" (Zapadnja. Celovek i socializm) veröffentlicht 1976 in Frankfurt am Main.

Gajlit, Andrej Andrejevic (*1905)

Aus lettischer Intelligenzija-Familie, Vater Techniker, früh gestotben, Mutter Krankenschwester, ein Bruder, unbeschwerte Kindheit in Gateina bei St. Petersburg; 1918 Parteieintritt, Mitglied im Rotgardistendeputiertenrat, Komsomolarbeit, 1924 Abitur in Petrograd; 19241929 Studium am Leningrader Technologischen Institut, Studentenvertreter, Deputierter auf Gewetkschaftskongreß, Studienaufenthalt in Frankreich; arbeitet seit 1928 in der Aluminiu-

451

Kurzbiographien

mindustrie: am Volchov, in Dnepropetrovsk im Forschungsinstitut, Ende der dreißiger Jahre Direktor der Fabrik am Volchov, arbeitet mit französischen Firmen zusammen; 1938 Opfer einer Verleumdungskampagne, 1951 degradiert. Erinnerungen: „Chronik eines Lebens, das fast ausschließlich dem Komsomol, der Partei und der Aluminiumindustrie gewidmet war" (Chronika odnoj zizni, pocti poínos t'ju posvjascennoj komsomolu, part ii i aljuminevoj promyslennosti) 1980, im Wirtschaftsarchiv Moskau, Fonds 332, Findbuch 1, Akte 103.

Ivanenko, Taisua Aleskandrovna, geb. Vasil'eva (*1913, lebt in St. Petersburg) Vater Ingenieur und Direktor des Wärmekraftwerks in Gateina, eine Schwester, behütete Kindheit; 1920-1928 Schulbesuch, danach zwei Jahre Arbeiterfakultät, 1930 als Speziali-

stentochter keine Zulassung zum Studium; von ihrem Vater und anderen Ingenieuren in Privatkursen innerhalb eines Jahres zur Ingenieurin ausgebildet; ab 1931 Bauingenieurin in einem Konstruktionsbüro, ab 1935 Konstrukteurin im Institut für Mathematik und Mechanik; ihr Vater wird 1937 erschossen. Erinnerungen: Interview im September 1993 und im März 2000 in St. Petersburg.

Jakovlev, Aleksandr Sergeevic (1905-1989)

Vater Leiter der Transportabteilung bei der Firma „Nobel" in Moskau, zwei Geschwister, Besuch des Gymnasiums von 1914-1922; 1923 Teilnahme beim Segelflugwettbewerb auf der Krim, Hobbyflugzeugkonstrukteur, 1924-26 Hilfskraft und Motorenwart auf dem Flugplatz bei Moskau; Parteimitglied; 1927-31 Studium an der Zukovskij-Militärakademie für Luftfahrt in Moskau; seit 1931 Ingenieur im Men'sinskij-Flugzeugbauwerk, leitet eigene Konstruktionsgruppe, Fabrikbesuche in England, Italien, Frankreich; seit 1938 persönlicher Berater Stalins, als Mitglied offizieller Regierungsdelegationen 1939 und 1940 in Deutschland, 194048 stellvertretender Volkskommissar für Flugzeugbau. Erinnerungen: „Ziel des Lebens. Aufzeichnungen eines Flugzeugkonstrukteurs" (Cet' zizni. Zapiski aviakonstruktora), veröffentlicht in Moskau 1966.

Kozevnikova, Tamara Borisovna, geb. Odenova (* 1917) Vater Arzt in Kachetien, einziges Kind, Familie lebt in Odessa, Batumi, Kjurdamir, Baku; sieben Jahre Schulbesuch; 1931 Eintritt in Komsomol, 1931 Besuch des Erdöltechnikums in Baku, 1932 Vorbereitungskurse für das Polytechnische Institut in Baku, 1933 Studium am

Moskauer Institut für Energietechnik, 1934-40 Studium an der Zukovskij-Militärakademie für Luftfahrt; ab 1940 als Wartungsingenieurin bei der Luftwaffe, im Krieg bis Berlin; 1942 Parteieintritt. Erinnerungen: „Die Berge verschwinden im Himmel" (Gory uchodjat v nebo) veröffentlicht gemeinsam mit der Pilotin M.L. Popovii im Band: „Das Leben ist ein ewiger Steigflug" (Zizn vecnyj vzlet), Moskau 1978. '

-

Lavrenenko, Konstantin Dmitrievic (*1908) Sohn eines Dorfschullehrers in der Nähe von Kiew, ein Bruder; sieben Jahre Schulbesuch, Berufsschule der Metallfabrik in Dnepropetrovsk, Ausbildung zum Schlosser und Anreißer, Arbeit als Komsomolsekretär; 1931 Kiewer Polytechnisches Institut abgeschlossen, arbeitet auf dem Wärmekraftwerk in Berezniki, weitere Posten in Kraftwerken; seine Verlobte wird verbannt, stirbt; 1938 Aufstieg in die Hauptverwaltung für Energiewirtschaft, nach dem Krieg stellvertretender Energieminister. Erinnerungen (drei verschiedene Titel): „So war es" (Tak bylo), „Die Beichte eines Energietechnikers" (Ispoved' énergetika), „Elektrizität und Menschen" (Élektricestvo i ljudi), jeweils mit dem Untertitel: „Eine dokumentarische Erzählung" wahrscheinlich in den achtziger Jahren schaftsarchiv Moskau, Fonds 9592, Findbuch 1, Akte 404.

(Dokumentärnoe povestvovanie),

geschrieben,

Wirt-

452

Anhang

Loginov, Leonid Ignat'evic (*1902)

Aus der Stadt Vjazniki im Gouvernement Vladimir, Vater Verkäufer und sehr belesener Atheist, früh gestorben, Mutter verdient Unterhalt mit Heim- und Fabrikarbeit, zwei Brüder; vier Jahre Schulbesuch, Fabrikjunge und Dienstbote; schließt sich 1918 der Roten Armee an, 1919 Aufnahme in die Partei, 1923 demobilisiert; 1924 Studentensekretär an der Universität Saratow, Jurastudent, 1925-26 Propagandist auf dem Land; 1926-1929 Ingenieursstudium am Leningrader Polytechnischen Institut; seit 1930 stellvertretender Leiter des Trusts für Meßgeräteindustrie in Moskau, Dienstreisen nach Frankreich, England, 1936-1937 in die USA; 1938 aus der Partei ausgeschlossen, 1939 verhaftet, 1945 freigelassen, 1951 aus Moskau verbannt, 1953 rehabilitiert. Erinnerungen: „Aufzeichnungen eines Ingenieurs" (Zapiski odnogo inzenera), 1966/67, Wirtschaftsarchiv Moskau, Fonds 9592, Findbuch 1, Akte 350.

Maliovanov, Danul' IsaakoviC (*1911, lebt in Moskau) Vater Buchhalter in Juzovka (später Stalino), Donbass, Mutter Hausfrau, einziges Kind; sieben Jahre Schulbesuch bis 1926, Besuch einer Technischen Berufsschule (proftechucilisce) bis 1929, Eintritt in Komsomol und Partei; 1929 Besuch det Arbeiterfakultät, 1930 als „Gewerkschaftstausender" (proftysjacnik) zum Studium abgeordnet ans Bergbauinstitut in Stalino, 1935-37 Doktorand; seit 1937 in leitender Stellung in Bergbautrusten u.a. im Donbass tätig. Erinnerungen: Interview im September 1997 in Moskau.

POZDNJAK, NIKITA ZACHAROVIC (1906-1982)

Geboren im Dorf Agajmany (später Frunze) unweit der Stadt Kachovka im Chersoner (später Ivanovo-) Gebiet, Sohn eines Dachdeckeis und Revolutionärs, vier Brüder, mit zwölf Jahren Vollwaise, vier Jahre Schulbesuch; Teilnahme am Bürgerkrieg, Gefangennahme und Flucht, zwei Brüder fallen; 1917-1924 Knecht, 1924 Eintritt in den Komsomol, 1925 in einer Arbeitskolonie für Waisenkinder, 1926-27 Komsomolarbeit, 1927 Parteieintritt; 1927-1929 Besuch einer Arbeiterfakultät, 1929-34 Ingenieurstudium in Moskau an der Bergbauakademie bzw. am Moskauer Institut für Buntmetallurgie und Gold (MICMiZ); arbeitet im Staatlichen Projektierungsbüro für Buntmetallfabriken (Giprocvetmet). Erinnerungen: „Erinnerungen und Aufzeichnungen eines Ingenieurs. Vom Tagelöhner aus Kachovka bis zum Gelehrtendiplom" (Vospominanija i zapiski inzenera. Ot Kachovskogo batraka do diploma ucenogo), 1967, Wirtschaftsarchiv in Moskau, Fonds 372, Findbuch 1, Akte 34.

Rozanov, German Vasil'evic (*1915, lebt in Moskau) Vater Jurist, Mutter Pädagogin, arbeitet als Schriftführerin, einziges Kind; sieben Jahre Unterricht, zunächst bei Hauslehrern, bis 1929 an Experimentalschule; Komsomolmitglied, 1929 als Angestelltensohn vom Studium ausgeschlossen, arbeitet als Lehrer, Dreherlehrling bei der Ural-Eisenbahn, 1931 Abendstudium am Technischen Institut in Saratow, 1932 Studium in Moskau am Kalinin-Institut zur Mechanisierung der Landwirtschaft, 1933 Ausschluß aus dem Institut, Wechsel an die Moskauer Universität, Fakultät für Chemie, erneuter Studienausschluß 1935, Abschluß 1938; seit 1938 Ingenieur im Saratower Flugzeugwerk; 1943 Parteieintritt.

Erinnerungen:

Interview im September 1996 in Moskau.

VAN'JAT, Ljudmilla SERGEEVNA, geb. Kric (»1919, lebt in Moskau) Vater Ingenieur an der China-Osteisenbahn, Mutter Pädagogin, eine Schwester, wächst an der Chinesischen Grenze in Cita auf, Erziehung nach humanistischen Idealen; 1935 Abitur, 1936

Studienbeginn

am

Moskauet Institut für

Transportingenieure (MUT);

1937 wird ihr Vater

erschossen; 1940 Studienabbruch. Erinnerungen: Interview im März 1994 in Moskau.

453

Personenregister

Personenregister 301

Abagjan, Ing.

Brown, R. 282,334 Bucharin, N.I. 76,365 Buzinova, V.M. 54

Aleksandrov, G. 324 Aleksandrov, I.G. 81 Alfeev.A. 179 Alksnis, Ja.I. 145 Almazov, C.I. 377

Byckov, Ing.

Calder.J. 260

Antjuchin 376

Calych, E.F. 39, 111-112, 114, 133-134,

Antonov, A.S. 125 Apolonov, Ing. 299 Archangel'skij, A. 206, 373 Archipov, Ing. 229

141-142, 146, 159-160, 167, 170, 172173, 195-197, 223-225, 229-230, 233, 239-241, 243, 247-248, 250,275, 277, 278, 280-285, 330-331, 338, 346, 349, 356-357, 372-373, 380-381, 386-387, 406^108,410,450 Ceremisin, Ing. 299 Cerjakov, E. 245,345

Babel', I.E. 47. 193 Bach, A.N. 79 Bakunin, M.A. 62

Balinskij, P.I.

55

Banin,N.F. 53 Barabanova, O.A. 305 Bardin, LP. 25, 30, 63-64, 81, 116,212, 229,244, 258, 328, 353-354, 366 Barnet, B. 344,345,352 Baskov, B.S. 281

Bazipevic, Ing. 302 Beleljubskij, N.A. 55 Beloglazov, NKVD-Beamter Berija, L.P. 398,408,411 Berkengejm, A. 272

394

Berman, P.V. 322 Bertini, R.L. 27

Bezymenskij, A.I. 46, 94, 159, 168, 245 Birman, S.P. 365

Bocacer, M.N. 92 Boékin,A.E. 132,169,171,176,216 Bogdan, S.V. 119,336,388-389 Bogdan, V.A. 39, 117, 119-120, 122, 137-139, 150-152, 158-161, 165-166, 168-174, 177-178, 184, 198-200,206207,222, 233-234,249-250, 335-337, 346-349, 372-373, 388-389, 391, 412413,419,450 Bogdanov, A. (Malinovskij) 67, 68, 69, 70

Bogdanov, P.A.

271

Bohr.N. 407 Bojko, Ing. 302

Bondarevskij, D.I. Brailo, Ing. 390 Brezenev, L.I. 30

297

Cernjak, Ing. 99 Chetagurova, V. 320,321,322 Chomiö, NKVD-Major 409 Chruscev 26 Chruscev, N.S. 407,425 Cíolkovskij, K.É. 145 Cistjakova, N.V. 372 Ckalov, V.P. 246

Cooper, H. 256,260 Cubar*, V.Ja. 301 Cukkerman, A. 272,342 Davinci, L. 107 Dmitriev, G.A. 377 Dmitriev, Ing. 235

Dostoevskij, F.M. 159 Drejcer, Ing. 372 Drejzen, Ing. 297 Duchoviênyj, A. 155 Dzaparidze, E.A. 193, 217, 229, 236, 254 Ezov, N.I. 398

Ejchenbaum, B.

Èkk,N.

Emel'janov, V.S. 26, 222-224, 231-232, 327, 354, 374

Éngel'mejer, P.K.

Engels, F. 365 54

168

367

74,89

Érenburg, I.G.

26, 33, 137, 217, 235, 244

Everhard, Ing.

264 105

Èrmler, F. 227, 368, 370 Evfarickij, Ing.

454

Anhang

Fedorova, T.V. 38, 113-115, 135-136, 142, 151-152, 158, 174, 198,220,222, 230,-231, 237, 239, 246,250, 274-275, 335,346, 349, 377, 380,405^106,410, 450

Fedoseev, A.P. 39^10, 116-117, 119, 120, 122, 138-139, 148-149, 151-152, 160, 167, 170, 174-175, 196, 199,200, 206207, 222, 225, 242-243, 275,280-285, 329, 335, 378,409,411^112,450 Filimonov, N.A. 220, 228-229, 361

Fipokova, Ing.

189 Flakserman, Ju.N. 65, 377 Frankfurt, S.M. 25, 184, 189, 212,214,

216-217,328,352,366

Fridljandskij, Gewerkschafter Frolov, Ing. 244

298

Frunze, M.V. 133

Gaaze, Ing. 190 Gajlit, A.A. 37-38, 114-115, 121, 133-

135, 142, 158, 160, 167, 170, 173, 175, 195-197,203, 205,206-207, 213, 229230,247, 250, 274, 330-331, 338, 356357, 380-381, 383-384, 387-389, 391, 407-410,412,450

Gajlit, E.A. 387 Gamamik, Ja.N. 351 Garin, N. (Michajlovskij) 65,66, 68,69 Gastev.A.K. 76,256 Gavriljuk, Ing. 190 Gerasimov, S. 192 Gil'debrandt, L.K. 291,397 Ginzburg, S.Z. 360,361

Gitgarc, A.L.

331

Gladkov, F.V. 45,47, 92, 181-182,211212,214,217,220,245,328 Gogol', N.V. 121,310 Golubev.V.V. 159 Goncarenko, Ing. 182,215 Gor'kij.M. 24 Gorbacev, M.S. 406 Gorbatov, A.V. 26,395, 396 Gorbunov, Konstrukteur 374

Göring, H. 279 Gorjanova, N.S.

177

Gorlov, M.Ja. 371 Gorochov, I. 382 Gorosienko 143 Gracev, L.P. 41, 176-178, 345-346, 349, 377

Graftio, G.O. 55,81,84

Grudinina, N.F. 329

Grum-Grzimajlo, V.

27 Gubkin 162 Gudkov, Konstrukteur 374 Gugel', Ja.S. 156, 212, 217, 229, 236, 244, 254, 264, 272, 353, 354, 360, 366 Gvacharij, G.V. 361

Hadjack, Ing. 282 Haven, Ing. 264

Hitler, A. 279,411 Il'f, I.A. 255-256,280-281 Il'in, Ja.N. 202,231,261 Il'in, M. 182,202,228,231 Iljusin, S.V. 143, 206, 334, 374 Ioffe,A.F. 140 Ivanenko, T.A. 40, 119, 120, 121, 122, 138, 139,146, 149, 150, 152, 174, 199, 335,378,385,413,414,451 Ivanov, Ing. 311 Ivanov, V.l. 383 Ivanova, Ing. 189 Izmalkov, M.F. 391 Izotov, N. 322

Jablonskaja, L.V. 180 Jäger, Ing. 246,277-279

Jakovlev, A.S. 38, 114-115, 121, 138139, 142-143, 148, 158, 173, 194-195, 206-207, 220, 239, 243, 246-247, 275280, 288, 334, 338, 356, 373-374, 377, 380,409,411,451 Jastrebova, V.D. 235-236 Judenic.N.N. 134 Jurkeviê, V.l. 280 Jusupov, Mechaniker 346,373,413 Jutkevic, S. 227,345,432

Kaganovié, L.M. 20, 197, 236, 298, 410 Kaganovic., M.M. 156,230,334,357, 373,391,410 Kalinin, M.I. 284 Kalinin, V.M. 284 Kalinnikov, I.A. 76, 86, 90

Kalinovskij, Dit.

203

Kataev, V. 210, 211, 227, 245, 254, 267, 328

Kataev, V.P. 94, 210-211, 227, 245, 254, 256, 267, 328 Katharina II. 50

Kellermann, B. 65,68,69

455

Personenregister Kerbedz, S.L.

55

Kienja,S.A. 198,377 Kirov, S.M. 160,370

Kirpiéev, V.L.

57

Kopylova, N.I.

372

Kisel'ev, S.S. 378 Klasson, R.E. 64,81 Klimov.V. 206 Knerel', Ing. 297 Knopov, A.L. 401 Knorre, E.K. 55 Kolesnikov, Ing. 301 Komzin, I.V. 185,223 Kool',A.I. 383,384 Kozevnikov, A.L. 406 Kozevnikova, T.B. 38, 113-114, 135136, 142-143, 145-146, 152, 159, 167171, 174-175, 197-198, 220-221, 243, 274-275, 335, 377, 405^06,451

Krzizanovskij, G.M.

366

Krasil'nikov, Ing. 99 Krasin, G.B. 64 Krasin, L.B. 64,81 Krasinskij, Ing. 190

Krestinskij, N.N. 281

Kretov, P.F. 386 Kric, S.I. 40, 120, 375, 385 Krimker, Ing. 101

Kropotkin, P. 62 Krupskaja, N.K. 321 Krylenko, N.V. 86,205 Krylov, I.A. 110 Krymov, Ju.S. 47,344 Krzizanovskij, G.M. 25, 64-65, 80, 8283,88, 157, 184,213,340 Kudisov, A.Ch. 299 Kudrjasov, M.V. 363,376 Kujbysev, V.V. 88,215 Kurako, M.K. 63 Kusenko, Ing. 101 Kutuzov, M.I. 212

Laricev, V.A. 89,90 Lavoékin, Konstrukteur 374 Lavrenenko, K.D. 37-38, 121-123, 133135, 142, 158-159, 167, 173-175, 178179, 195-196, 205, 221, 239, 241-243, 247- 250,274-275,278, 329-331, 338, 380-381, 386-387, 409^tl0, 420,451 Lavrenenko, S.E. 330 Lazareva, S. 135

Lenin, V.l. 12, 14, 64, 70, 76, 80-82, 88, 103, 107, 116,213,254,309,365 Leonov, L.M. 93 Levin, Ing. 365 Liberman, Dir. 392 Lider, E.Ë. 101 Livsic, B.G. 162 Lobanova, F.I. 394,395 Loginov, L.I. 36-37,41, 109-112, 114115, 124-128, 131-135, 142, 146, 158, 171, 173, 176, 194,202-207, 213, 224, 230-231, 233, 275-276, 278, 280- 282, 284-285, 333-334, 338, 345, 356-358, 380, 382-383, 389-396, 408^109, 41413,425,452 Lomonosov, M.V. 107 Losak, B.O. 184,219 Lovin, K.P. 360,382 Lukov, L. 246,345,367 Lunacarskij, A.V. 152,153 Lur'e, S.M. 162

Majakovskij, V.V.

168

Maksimov, Dir. 361 Maksokova, Z. 135

Malgobeka, Ing. 322 Maliovanov, D.I. 40, 122-123, 135-136, 142, 159, 167, 171, 173, 197, 230-231,

239, 240-241, 247, 249-250, 327,334335,337,380,409-410,452 Marx, K. 107,365 Maslennikov, Dir. 316 Matlin 376

Mauri, Ing. 229 Medovikov, Prof. 297 Mehnert, K. 140,307 Melkisev 384

Mezencev, Ing. 190 Mezlauk, V.l. 383

Michajlov, Ing. 312

Mikulin, A. 206 Mine, A.L. 378 Mirosniéenko, N. 269 Mirosnikov, P.I. 387 Mogil'nov, Ing. 294 Molotov, V.M. 11, 20, 85, 153, 201, 215 Mordinov, Ing. 101 Mosickij, B.A. 340,341 Mussolini, B. 276

Nejman, M.S. 140-141 Nekrasov, N.A. 110

456

Anhang

Nemov, A.S. 194,382,390 Nikitin, T.S. 371

Radcenko, I.I. 64,80-81,376 Radionov, N.A. 363 Ramzin, L.K. 86,89,90,91,205

Nikolajcuk, M.

Raskin 372

Nelepov, Ing.

302

316

Ol'denborger V.V. 77 Ordzonikidze, G.K. 13,

18, 41, 88, 91, 202,212,216, 240, 254, 288, 307, 319, 320, 333, 351-357, 359-360, 362-363, 371,372,424 Ordzonikidze, Z.G. 351 Orlova,L. 399,403

Ostrovskij, N.

132

Ozerov, G.A. 374

Pal'cinskij, P.A. 23, 27, 59-60, 62,-64,

Razdobreev, Prof. 342 Revo, Ing. 101 Riza-Zade 376 Rjabov.F.F. 313 Rotert, P.P. 239 Rozanov, G.V. 40,

121-123, 139, 149150, 160, 162, 165-166, 168, 174 Rozanov.G.V. 197,208,378,380,413414,452

Rozanovskij, D.A. 140 Rozenblat, Ing. 190 Rubinovic, Ing. 302

Pal'cinskaja, N.A. 90 Patkovskij, R.S. 372

Ruchimovic, M.L. 390 Rudzutak, Ja.É. 239, 245, 292, 298 Russak, I. 57 Rykov, A.I. 76, 82

Peskin, Dir. 297 Peskin, I. 270

Sabarov, Ing. 312 äaginjan, M.S. 47,245 Saint Simon, C. H. Graf v. 57

78, 82-84, 86, 90-91

Patreev, A.I. 65, 218-219, 231, 237, 258 Peckin, Ing. 348 Peter I. 50 Petrov, P. 255-256,280-281 Pinkevic, A. 154 Piontkovskij, Pilot 143, 247 Piraskova, A. 193 Piznyk,N. 125 Pjatakov, G.L. 351,362,365 Podlubnyj, S.F. 19, 23, 126 Pogodin, N.F. 94,212,215,225,256,

260,265 Pogoncenko, Ing. 313 Polikarpov, N.N. 206, 246, 334, 374 Poljakova 164 Polov'ev, Ing. 101 Popovic, M.L. 38 Pozdjunin, Prof. 297 Pozdnjak, A.I. (Lipskaja) 331,383 Pozdnjak, N.Z. 36-37,110-112,115,

125-129, 131-135, 141-142, 151, 158173, 175-176, 194,204-205,207-208, 221-222, 225, 233, 239, 242-243, 251, 274, 331, 333, 338, 345, 373, 383,408, 412,452

360 Prokof ev, V.V. 266, 302, 365

Poznanskij

Puskin.A.S. 112,121,310 Pysnov 143 Rabinovic, Ing. 269

Sajko, Ing. 302 Saljapin, F.I. 282

Samochvalov, Dir. 387 Sarafankin 125 Satelen, M.A. 49, 54-55 Scerbina, T.D. 120 Seit, Ing. 209 Scott, J 23 Sejn, S.D. 89-90, 107 Semenov, S.A. 45,92,93

Semuskin, A.D.

Sendler, Ing.

354

394

Serb, N.N. 207, 250, 347, 348 Serebrovskij, A.P. 53, 64, 81, 84, 352354, 366 Serov 125

Sestoval, V.M. 219,223,231

Sevljagin, V.D.

202,203 Sidorenko, A. 189 Sidorkin, Ing. 311 Sinkó, E. 307,308,323 Sipanov, Ing. 313

Siskin, S.

374

Smirnov.M.S. 124,219,375 Snezko, F. 269 Sokolov, Ing. 372

Solzenicyn, A.I.

Spil'rejn, Ja.

26 155

457

Personenregister

Spyrev, Ing.

299

Stachanov, A.G. 339, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 349, 367, 370,403,424 Stalin, I.V. 11-12, 14, 18-20,31-33,44, 69, 75-76, 84-85, 87-88, 91, 103, 107, 178-179,201,206, 209-210, 215,246, 254, 279, 287-288, 290, 300, 306-309, 313, 339-340, 342, 346, 351-353,355356, 359, 362-365, 369, 371, 373, 380, 389,398,410-411,448 Stankov, Ing. 54 Starkov, V.V. 64 Stasjuk, Dir. 392 Steklov, Ju.M. 376 Steklov, V.Ju. 376,381 StjunkeP, B.É. 88-91,366 StjunkeP, T.B. 88,91 Stoman, Ing. 328,402

Strjuckov, Ja.P.

348

Subin.N.A. 56 Suljakov, Ing. 147 Sulsenko.M. 206 Surakov, Ing. 312 Surovcev, Dir. 319

Svecov, A.

206

Tal'.B.M. 41 Taner-Tannenbaum, Z. 269 Tanpeter 376 Taylor, F.W. 75 Tevosjan, I.F. 240,390 Timosenko, S. 325 Titov, LT. 395 Tocïnskij, A.S. 351,353,354,355 Tolstoj,L.N. 110, 159 Tomasevic, Ing. 246 Tonezer, B.L. 322 Trepalov, A.M. 242 Tron', I. 270 Trosanov, V.A. 372 Trosin, Ing. 302 Tuchacevskij, M.N. 388 Tupolev, A.N. 27, 206, 269, 279, 373374, 391

Tvardovskij, A.T. 26 Tynjanov, Ju.N. 168 Ugrimov.A.I. 53,80-81,376 Ugrimov, B.I. 53, 81, 91, 116, 366, 376 Ul'janova, M.I. 166 Ul'rich, V.V. 393

Usacev, Dir. 246

Vachruscev, V.V. 240 298

Vajnstejn, Architekt Vale, R.

272 L.S.

40, 120-122, 139, 146, 150152, 167, 174, 375, 385-386,452 Vanjukov, Prof. 164, 167 Vasil'ev, A.G. 40, 120,378 Veblen, T 73 Vedeneev, B.E. 196,220,288, 366

Van'jat,

Veksinskij, S.A. Vernadskij, V.l.

378 59

Vesnik,E. 319 Vinter, A.V. 25, 64, 76, 80-81, 84, 196, 212,216, 220, 232, 264, 288, 366, 410 Vitte, S. 58 Vlasenko, N.M. 184, 185

Vojkov, A.A. 242 Vol'fson, Ing. 371 Voronin, Kapitän 297 Vorosilov, K.E. 145,215,388 Vrangel', P.N. 126 Vysinskij, A.Ja. 355, 359

Vysnegradskij, I.A.

58

Watt,J. 107 Witkin,Z. 23

Zachar'evskij, V.A. 228,229,235, 236 Zadoroznyj, I. 180 Zavenjagin, A.P. 162 Zdanov,A.A. 215,383

Zil'berstejn, M.

270

Zolotarev, A. 270

Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte wird sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung tragen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse.

Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: vergleichende Studien zu den nationalen Idiomen und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen

Die Reihe -

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Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert die Herausbildung traditionstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.

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Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäiDie Reihe

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schen Gesellschaften. Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

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Band 1: Michael

Hochgesch wender

Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 3-486-56341-6 Band 2: Thomas Sauer

Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. Vü, 326 S. ISBN 3-486-56342-4

Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt"-,3ild" des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 3-486-56343-2 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 3-486-56344-0 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 3-486-56455-2 Band 6:

Jin-Sung Chun

Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte" im Spannungsfeld wissenschaftlicher Innovation 1948-1962 2000. 277 S. ISBN 3-486-56484-6

von

Modernitätskritik und

Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864—1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 3-486-56545-1 Band S.Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969 2001. 488 S. ISBN 3-486-56559-1 Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VHI, 445 S. ISBN 3-486-56581-8 Band 10: Martina Winkler Karel Kramáf (1860-1937)

Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 3-486-56620-2

Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 3-486-56678-4 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. Ca. 336 S. ISBN 3-486-56679-2

Band 13: Julia Angster

Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB von 2002. Ca. 412 S. ISBN 3-486-56676-8

1940-1965