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German Pages [327] Year 2016
Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien
Band 22
Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte
Thomas Hardtke / Johannes Kleine / Charlton Payne (Hg.)
Niemandsbuchten und Schutzbefohlene Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-0681-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Fçrderer und Ehemaligen der Freien UniversitÐt Berlin e. V. 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Felix Nussbaum: Le RØfugiØ (Der Flþchtling), 1939, Kunstmuseum der Yad Vashem – Internationale Holocaust-GedenkstÐtte, Jerusalem.
Inhalt
Thomas Hardtke, Johannes Kleine, Charlton Payne Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur . . . . .
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Identität und Identitätslosigkeit Hansjörg Bay Migration, postheroisch. Zu Sherko Fatahs Das dunkle Schiff . . . . . . .
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Warda El-Kaddouri »Gott, rette mich aus der Leere!« Verlust, Religiosität und Radikalisierung in den Fluchtnarrativen von Abbas Khider und Sherko Fatah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Alker Umgekehrte Vorzeichen. Flucht und Flüchtlinge in Klaus Oppitz’ Auswandertag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Orte und Ortlosigkeit Ren8 Kegelmann Im Netz der Ortlosigkeit. Flucht in Ter8zia Moras Roman Alle Tage
. . .
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Christian Luckscheiter Flüchtlinge in der Literatur Peter Handkes . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hanna Maria Hofmann Erzählungen der Flucht aus raumtheoretischer Sicht. Abbas Khiders Der falsche Inder und Anna Seghers’ Transit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Erzählstrategien Sabine Zubarik »Schiffbrüchige« auf Hiddensee. Gestrandete Körper vor und nach der Flucht in Lutz Seilers Roman Kruso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 David Österle »…die Sprache zum Sprechen zu bringen«. Sprachkritik in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Svetlana Arnaudova Versprachlichung von Flucht und Ausgrenzung im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Sasˇa Stanisˇic´ . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Martin Sablotny Einsatz des Lebens. Spielmetaphorik im Erzählen von der Flucht bei Ilija Trojanow und Michael Köhlmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Historische Fluchtsujets Doerte Bischoff Flüchtlinge der NS-Zeit in der Gegenwartsliteratur : Norbert Gstreins Die englischen Jahre und Michael Lentz’ Pazifik Exil . . . . . . . . . . . . . . 199 Charlton Payne An Flüchtlinge erinnern. Ursula Krechels Shanghai fern von wo als Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Katrin Max Integration als Camouflage? Karnevaleske Rollen und biologisch-geographische Verschiebungen in Christoph Heins Roman Landnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Literatur und Diskurs Manuel Clemens Nach dem Künstler. Flüchtlinge und Migranten als neue Sinnstifter
. . . 259
Alexandra Ludewig Jenny Erpenbecks Roman Gehen, Ging, Gegangen (2015). Eine zeitlose Odyssee und eine zeitspezifische unerhörte Begebenheit . . . . . . . . . 269
Inhalt
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Ivo Theele Der ›Schlepper‹, das unbekannte Wesen. Formen der Fluchthilfe in Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen und Illegale Helfer . . . . . . . 287 Sarah Steidl Der Flüchtling als Grenzgestalter? Zur Dialektik des Grenzverletzers in Abbas Khiders Debütroman Der falsche Inder . . . . . . . . . . . . . . . 305 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Thomas Hardtke, Johannes Kleine, Charlton Payne
Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Ein Band über die Repräsentation von Flucht-Räumen und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der 2016/17 erscheint, behandelt selbstverständlich auch die ›Europäische Flüchtlingskrise‹, die die politische Diskussion seit 2015 bestimmt und die politische Kultur der deutschsprachigen Staaten nachhaltig zu verändern scheint. Seit der Entscheidung vom 4. September 2015, als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts einer drohenden humanitären Notlage Flüchtlingen den Grenzübertritt erlaubte, die von Ungarn nach Österreich und Deutschland drängten, sind allein in Deutschland über eine Million Menschen angekommen, die aus Syrien und dem Irak, aus Afghanistan, Nordafrika und dem Balkan geflohen sind. In der politischen Debatte, die aus Termini wie ›Sicherheit‹ und ›Integration‹ umstrittene Begriffe gemacht hat, werden traditionelle politische Loyalitäten auf eine harte Probe gestellt. Der zunehmende Rückzug vieler europäischer Länder auf den Nationalstaat und das schwindende Vertrauen in die Europäische Union zeigen sich am deutlichsten in der vielfachen Verweigerung einer quotierten Verteilung der Geflüchteten und in der Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum. Die Dublin-III–Verordnung zur EU-einheitlichen Regelung der Asylverfahren hat sich als ineffektiv erwiesen, nachdem sie bereits vor der sogenannten Krise eine große Belastung für jene Mittelmeeranrainer darstellte, die wegen der Rückzahlung ihrer nationalen Defizite sowie schon unter großem politischen Druck standen. Die Türkei hat sich zu einem wichtigen, aber schwierigen Partner bei der europäischen Anstrengung entwickelt, die Flüchtlingsbewegungen zu kontrollieren und die Grenzen zu schützen. Gleichzeitig tobt der Konflikt in Syrien weiter und zwingt tausende Zivilisten, ihre Heimat zu verlassen. So sehr diese Entwicklungen die derzeitige Politik bestimmen, sind sie doch nur Zuspitzungen in einer langen, fast kontinuierlichen Geschichte von Flüchtlingsbewegungen im deutschsprachigen Raum, in Europa und in der Welt. Die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ kündigte sich schon länger an. Verzweifelte Menschen, die in überfüllten und häufig manövrierunfähigen Booten die eu-
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ropäische Mittelmeerküste zu erreichen versuchen, bestimmen seit Jahren die Bilder der Nachrichten. Menschen, die gewillt waren, angesichts aussichtsloser Lebensumstände dieses Leben selbst aufs Spiel zu setzen, um in Europa Sicherheit und die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu finden, nahmen schon lange vor der Verfügung Angela Merkels, die Grenzen zeitweise zu öffnen, die gefährliche Reise über das Meer in Angriff. Ein Sammelband, der sich mit literarischen Repräsentationen von Flüchtlingen in der deutschsprachigen Gegenwart beschäftigt, steht also vor jenen großen Fragen, denen sich Europa in Bezug auf Flüchtlinge und sein durch Flüchtlingsbewegungen unsicher gewordenes Selbstverständnis insgesamt stellen muss. Doch zeigt dieser Band auch, dass die inhaltlich breite und an Perspektiven reiche deutschsprachige Literatur, die Flüchtlingsfiguren behandelt und Flucht-Räume in den Blick nimmt, weit über aktuelle Entwicklungen und derzeitige politische Aushandlungsprozesse hinausgeht. Das liegt weitgehend daran, dass Literatur vermag, über soziale und politische Anliegen kulturell reflektiert nachzudenken. Angesichts der unmittelbaren Dringlichkeit, über Flucht und Vertreibung, über die Verteilung und den Umgang von Asylsuchenden zu diskutieren, verliert man leicht den Blick für die historische Dimension von Fluchtphänomenen. Weitet man nämlich den Fokus auf die deutsche, auch die europäische und überhaupt die Welt-Geschichte, so zeigt sich, dass Geschichte zu allen Zeiten durch unzählige Migrations- und Fluchtbewegungen geprägt wurde. Die beiden Weltkriege haben beispiellose Zahlen an Flüchtlingen, Staatenlosen und Displaced Persons hervorgebracht. Dies hat die Vereinten Nationen dazu bewogen, internationale Bestrebungen zur Hilfe für und Koordination von Flüchtlingen unter dem Dach der United Nations High Commission for Refugees zusammenzufassen; heute ist die UNHCR geforderter als je zuvor. Die hier versammelten Beiträge erinnern anhand ganz unterschiedlicher historischer und räumlicher Vertreibungskontexte an die überzeitliche Beschäftigung von Literatur, Worte zu finden, um Fluchterfahrungen auszudrücken. Solche historischen Verknüpfungen unterstreichen den Ansatz der hier versammelten Beiträge, die Unterschiedlichkeit von Fluchterfahrungen ebenso abzubilden wie die Vielschichtigkeit der literarischen Versuche, sie in deutschsprachigen Texten der Gegenwart zu repräsentieren. Wir haben uns dazu entschieden, den historischen Beginn dieser Gegenwart für unseren Band auf die frühen 1990er Jahren zu datieren. Die Beiträge geben einen Eindruck der thematischen und historischen Bandbreite deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, die sich mit Fluchten auseinandersetzt. Dieses ständig wachsende Korpus von Texten spürt Fluchtgeschichten des Zweiten Weltkriegs ebenso nach wie denen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Balkan- und Irakkriege der 1990er Jahre bis hin zu jüngsten Fluchten aus Afrika, der Levante und dem Mittleren Osten.
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Als literarischer Topos ermöglicht Flucht den Autorinnen und Autoren, jenen Konzepten nationaler Geschichtsschreibung kritisch nachzugehen, die heute wieder Konjunktur haben, auch was die spezifisch deutsche und österreichische Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihrer ›Bewältigung‹ angeht. Bei der Erzählung von Fluchtgeschichten konzentrieren sich viele literarische Texte nämlich auf Schlüsselmomente der deutschen Geschichte und deren Nachwirkungen für die Gesellschaft und Kultur. Die Beiträge dieses Bandes gehen solchen Momenten insbesondere in den Texten von Christoph Hein, Norbert Gstrein, Ursula Krechel und Lutz Seiler nach. Außerdem verbinden die Beiträge kanonische Texte der gut erforschten Tradition deutschsprachiger Exilliteratur mit aktuelleren Werken von Autorinnen und Autoren mit und ohne Migrationserfahrung in ganz unterschiedlichen Stadien ihres Schaffens, von Anna Seghers zu Peter Handke, von Sasˇa Stanisˇic´ zu Abbas Khider. Einige dieser Autorinnen und Autoren sind selbst geflüchtet und universalisieren ihre Erfahrungen in autofiktionalen Erzählungen, während andere Zeugnisse von Fluchten ablegen, die sonst nicht erinnert würden. So verrät die Vielzahl unterschiedlicher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, aber auch die Spanne der betrachteten historischen Ereignisse und geographischen Gebiete nicht nur etwas über die notwendig transnationale Konstitution von Flüchtlingen, die per definitionem Grenzüberwinder sind, sondern auch etwas über die Transnationalität der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Viele der hier besprochenen Autoren wie Sherko Fatah oder Sasˇa Stanisˇic´ schreiben nicht in ihrer Muttersprache, und sie verhandeln Konflikt- und Fluchträume weit über den europäischen Kontinent hinaus.1 In der derzeitigen Unausweichlichkeit und Allgegenwart von Bildern, Überschriften und Plakaten, die Flüchtlingsfragen zur Schau und zur Diskussion stellen, mag mancher Beobachter den Blick für die Notwendigkeit gründlicher Reflektion über den Einfluss von kulturellen Repräsentationen auf politische Debatten verlieren. Repräsentationstechniken bedingen die Möglichkeiten dessen, was über Fluchtgründe, -bewegungen und -erfahrungen überhaupt gewusst werden kann. Eine Analyse von Repräsentationsstrategien kann daher auch beleuchten, wie Wissen produziert wird und zwischen Personen und Institutionen zirkuliert. Literarische Texte sind nicht nur eine ergiebige Quelle spezifischer historischer Zeugnisse von Versuchen, Fluchterfahrungen sinnstiftende Interpretationen abzugewinnen, sondern auch Einladungen an die Leserinnen und Leser, an einer Einübung der Produktion sozialer Bedeutung teilzunehmen. Die hier behandelten Texte bieten vielfache Einsichten in die Mechanismen dieser Herstellung von Bedeutung. Schon die Begriffe, die ge1 Vgl. Paul Michael Lützeler, Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman, München 2009.
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braucht werden um Flüchtlinge zu benennen, müssen eingehend untersucht werden, weil sie ganz unterschiedliche Konnotation mitbringen: Flüchtlinge, Geflüchtete, Asylsuchende, Asylbewerber etc. Literarische Texte fungieren dabei einerseits als lexikographische Register wechselnder Bezeichnungen für die Bandbreite von Erfahrungen, die eine geflüchtete Person verkörpert, andererseits kann die semantische Dichte poetischer Texte für die Notwendigkeit sensibilisieren, das entsprechende Vokabular zu verfeinern und auszudifferenzieren. Inwieweit etwa verfehlen juristische Termini und Definitionen ihr Ziel, die Komplexität von Flüchtlingsphänomenen zu fassen? Es zeigt sich, dass Literatur einen Ort für die Kreativität derjenigen bietet, die adäquate Beschreibungen und Worte für die Brüche und Deterritorialisierungen, aber auch für die Hoffnungen und Wünsche suchen, die Fluchten stets mit sich bringen. Zur Vielfalt der Möglichkeiten, Fluchterfahrungen zu beleuchten, trägt auch die Tatsache bei, dass die Perspektiven verschiebbar sind: vom Flüchtenden auf die, die ihn auf seiner Flucht treffen, sei es helfend oder abwehrend. In jedem Falle trägt die größere Genauigkeit des literarischen Vokabulars dazu bei, jene Stereotype als solche zu entlarven, die unser alltägliches Sprechen ebenso wie den politischen Diskurs bestimmen. Es wird deutlich, dass die Analyse von Fluchtphänomenen sich nicht nur mit rein konzeptionellen und definitorischen Fragen auseinanderzusetzen hat, sondern eine Ebene der Betrachtung erreichen muss, die es möglich macht, die zeitlichen und räumlichen Transformationen zu beschreiben, die die Existenz Geflüchteter ausmachen. Daher scheint es notwendig, die narrative Produktion von Wissen über Fluchten und Flüchtlinge genauer zu untersuchen. Die Möglichkeiten von staatlichen Verwaltungen, Flüchtlingsidentitäten und Fluchtbewegungen zu rekonstruieren, sind maßgeblich bedingt durch die begrenzten Techniken der Nacherzählung von Fluchtgeschichten. Diese Erzähltechniken geben die Form und Art der möglichen narrativen Partikel genau vor, indem sie eigentlich nur wissen wollen, woher eine Person kommt und wann und wo sie welche Nationalgrenzen überschritten hat. Dabei setzt sogar die Definition des Begriffs ›Flüchtling‹ durch das internationale Menschrecht eine minimale narrative Sequenz voraus: In der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert die UNHCR einen Flüchtling als jemanden, der sich »außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt«, oder der staatenlos außerhalb seines Herkunftslandes lebt, weil er »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung« aus rassistischen, religiösen, nationalistischen, politischen oder sozialen Gründen dieses Land hatte verlassen müssen.2 Obwohl diese amtliche Definition 2 http://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html?L=0 verlinkt den amtlichen deutschsprachigen Wortlaut des ›Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951‹, so der amtliche Titel der Genfer Konvention.
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des internationalen Rechts, das zur konzeptuellen Abstraktion eines universalen Menschenrechts strebt, eher einen Zustand beschreibt statt eine Bewegung nachzuvollziehen, impliziert die Definition doch eine minimale Geschichte. Diese freilich ist voraussetzungsreich: So geht die Definition beispielsweise davon aus, dass ein Flüchtling eine geopolitische Grenze zwischen seinem Heimatland und fremdem Territorium überquert hat. Außerdem stellt sich unmittelbar die Frage, wie eine »begründete Furcht« vor bedrohender Verfolgung kategorisierbar gemacht werden soll – ohne weitere Narrative ist das unmöglich. Um als Flüchtling mit Anspruch auf Gewährung von Asyl anerkannt zu werden, ist der entsprechende Fluchtgrund als hinreichend zu erachten. Dazu muss der Asylbewerber eine überzeugende Geschichte vorlegen, wodurch die Erlangung des Status also zu einem narrativen Akt wird. So bilden literarische Texte nicht nur Versuchsräume für das Finden einer Sprache, die die Existenz als Flüchtling adäquat abzubilden vermag, sondern auch Foren, in denen narrative Mittel und Versatzstücke ausprobiert werden können, um die Fluchterfahrung selbst zu schildern. Da sie sich nicht an die pragmatischen Bedingungen von standardisierten Asylverfahren halten müssen, können literarische Fiktionen spielerisch mit narrativen Möglichkeiten experimentieren und deren Wirkungen erproben. Sie erlauben eine Beobachtung der Art und Weise, wie Institutionen durch das Erzählen schlüssiger Geschichten erst Wissen über Flüchtlinge produzieren. In Abbas Khiders und Sherko Fatahs Romanen beispielsweise werden die rigiden Asylverfahren der Bundesrepublik literarisiert und damit gleichzeitig kritisiert. Literatur kann auch zeigen, wie stereotype und abgegriffene Konzepte von Flüchtlingen in der unreflektierten Sprache des Alltags zirkulieren. In den hier untersuchten literarischen Texten werden solche Stereotype jedoch einer gründlichen und kritischen Prüfung unterzogen, sei es durch poetisch elaborierte Strategien sprachlicher Verfremdung3 oder durch Ironie, Satire und Parodie. Gerade weil es sich um äußerst eigenständige und unterschiedliche Ausnahmeerfahrungen dreht, will Literatur nach für ihren diskursiven Kontext spezifischen sprachlichen Ausdrücken und narrativen Elementen suchen, die der Komplexität von Fluchterfahrungen gerecht werden. So ist es kein Zufall, dass Giorgio Agamben, einer der wichtigsten Theoretiker des Ausnahmezustands, zuletzt viel über Flüchtlinge gearbeitet hat.4 Ihm zufolge entlarven Flüchtlinge jene Identität zwischen Gebürtigkeit und Nationalität als instabil, die der Souveränität moderner Nationalstaaten zugrunde liegt. Nach dieser Sou3 Zur Sprachreflexion in der deutschsprachigen Exil- und Migrationsliteratur siehe Thomas Weitin, »Exil und Migration. Minoritäres Schreiben auf Deutsch im 20. Jahrhundert – von Kafka bis Zaimoglu«, in Weimarer Beiträge, Jg. 58 (2012), Nr. 2, S. 195–224. 4 Giorgio Agamben, »Jenseits der Menschenrechte«, in Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich 2006, S. 21–30.
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veränitätslogik besteht eine Nation aus all jenen Menschen, die in ihrem spezifischen Territorium geboren wurden. Ihre politischen Rechte richten sich nach ihrer Geburt und Herkunft, die unzertrennlich mit dem Boden verbunden sind. Flüchtlinge sind gleichsam personifizierte Ausnahmen von diesem Souveränitätsprinzip, dass auf der Fiktion beruht, jeder Mensch sei als Rechtssubjekt eines bestimmten Nationalstaats geboren. Agamben beruft sich dabei auf Hannah Arendts Analyse des Menschenrechtsparadoxons: Während die Theorie hinter der Idee von universellen Menschenrechten behauptet, der Mensch sei als solcher immer schon Träger unveräußerlicher Rechte, sind die Menschenrechte doch nicht in der Lage, jene zu schützen, die den Rechtsschutz eines Nationalstaats verloren haben.5 Außerhalb der Grenzen seines Nationalstaats erscheint der Mensch als Ausnahme eines Rechtssystems, das ganz auf dem Prinzip der Souveränität von nationalen Rechtsystemen und ihren Grenzsicherungs- und Bürgerschaftsgesetzgebungen basiert.6 Da Flüchtlinge in vielen Fällen nicht mehr auf den Nationalstaat als den Garanten bürgerlicher oder politischer Rechte zählen können, die mit der Staatsangehörigkeit einhergehen, müssen sie sich auf vage Menschenrechte berufen, die selbst einem undefinierten, gleichsam vor-rechtlichen Bereich der Politik angehören.7 Für Flüchtlinge ist es deshalb schwer einen Platz zu finden, weil in dieser Welt das Auftauchen eines Menschen ohne legalen Status nicht vorgesehen ist – er ist eine Ausnahme von der Regel der Nationalstaatsangehörigen. Daher ist der Flüchtlingsstatus stets ein vorübergehender, der entweder in Naturalisierung oder Repatriierung mündet. Obwohl es zumindest im Völkerrecht so angelegt wurde, ist es in der Praxis jedoch häufig nicht der Fall. Ihr ungeklärter Status innerhalb der existierenden legalen Rahmen setzt Flüchtlinge weiterhin außergewöhnlichen Formen von Überwachung und Weisung aus. Ihr Schicksal wird weitgehend bestimmt durch nationale Grenzschutzbehörden – oder im Falle der europäischen Außengrenzen seit 2004 von Frontex, der Grenzschutzbehörde der Europäischen Union. Diese Behörden regeln den Zustrom von Menschen in die Nationen und haben daher oft mehr Einfluss auf das Schicksal von Flüchtlingen als jene Gerichtsbarkeiten, die über Asylanträge entscheiden. Indem sie für Grenzschutz zuständig sind, tragen sie 5 Hannah Arendt, »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte«, in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2001, S. 559–625. 6 Im internationalen Recht wird zunehmend die sogenannte Schutzverantwortung (R2P – Responsibility to Protect) stark gemacht. Das verdeutlicht den Willen, das lange unangetastete Prinzip der nationalen Souveranität in Frage zu stellen. 7 Cornelia Vismann, »Menschenrechte: Instanz des Sprechens – Instrumente der Politik«, in Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, hrsg. von Hauke Brunkhorst, Frankfurt (Main) 1998, S. 279–301, hier S. 299f.
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nämlich die Entscheidung darüber, welcher Flüchtling überhaupt bis zum Beginn eines Asylverfahrens gelangen kann. Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen legt literarisch Zeugnis ab von den Hürden, die solche Regulierungen Flüchtenden in den Weg stellen. Die Abschreckung von Regulierungs- und Überwachungstaktiken zwingt Flüchtlinge oft, sich auf dunklen Routen zu bewegen und an versteckten Orten aufzuhalten, sie zwingen sie in die Hände krimineller Organisationen und bringen sie zusammen mit zwielichtigen Gefährten. Die in den Beiträgen zu diesem Band analysierten Texte zeigen dies in vielfachen Konstellationen. In den Fluchtgeschichten von Abbas Khider, Sherko Fatah und Maxi Obexer zum Beispiel wird die ambivalente Figur des Fluchthelfers oder Menschenschmugglers – die Grenzen sind fließend, wie Ivo Theeles Beitrag zeigt – als notwendige Figur im Netzwerk der Akteure vorgestellt, die Fluchten erst ermöglichen. Flüchtlinge sind Menschen, die aus konventionellen Lebenswelten und damit auch sozialen Zusammenhängen herausgefallen sind. Ihre Fluchtgeschichten sind meist mit Orten und Gestalten verbunden, die eine Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Sherko Fatahs Roman Das dunkle Schiff etwa führt vor, wie sehr das Schicksal eines Flüchtlings mit den weitreichenden Aktivitäten eines dschihadistischen Terrornetzwerks verbunden ist, dessen Arm vom irakischen Bergland bis in die deutsche Provinz reicht. Wie in seinen anderen Romanen auch lenkt Fatah die Aufmerksamkeit seiner Leserinnen und Leser darauf, wie eine latente Gefahr aus fernen Gegenden in der deutschen Gesellschaft manifest wird. Diese Gewaltpotenz wird als ein Produkt geopolitischer Faktoren vorgeführt: Krieg, Imperialismus, die brutale Logik des modernen Nationalstaats, aber auch die dogmatischen, etwa fundamentalreligiösen Weltverständnisse, die als Antworten auf diese Problemkonstellationen entstanden sind. Warda El-Kaddouris Beitrag beleuchtet letzteren Punkt anhand einer Analyse der Texte Fatahs und Khiders. Wo die Gewissheiten von Beruf, Familie und Zuhause nicht mehr gegeben sind, suchen Flüchtende neue Anknüpfungspunkte auf ihrer ungewissen Reise. Literarische Repräsentationen der persönlichen und sozialen Veränderungen, die im Verlauf der Flucht geschehen, können die Bedingungen und Voraussetzungen sozialen Umgangs überhaupt beleuchten. So wird aus der Figur des Flüchtlings ein literarisches Mittel sozialer Reflektion. Dass dies insbesondere auf die sprachliche Produktion von Stereotypen zutrifft, ist bereits erwähnt worden. Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen zum Beispiel übt eine rigorose Kritik des öffentlichen Sprechens über Flüchtlinge, teils durch direkte Zitate tatsächlicher politischer Äußerungen in Österreich. Bereits der Beginn des Stückes mit seiner Gegenüberstellung der Schnelleinbürgerung Prominenter in Österreich und des rassistischen Nationalismus der FPÖ führt die Verlogenheit dieses politischen Diskurses vor. David Österle geht in seinem Beitrag darauf
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ein. Bei Jelinek – wie in vielen literarischen Fluchtrepräsentationen – erzählt der Text mehr über die Ankunftsgesellschaft als über die Flüchtlinge selbst, und zwar sowohl, wenn diese aufgenommen als auch, wenn sie abgewehrt werden. Dies ist auch die grundsätzliche These von Marina und Herfried Münkler, deren breit diskutiertes Buch Die neuen Deutschen vom Sommer 2016 sich eben nicht nur auf die neu ins Land gekommenen Flüchtlinge als neue Deutsche bezieht, sondern die dadurch ausgelöste »kollektive Selbstreflexion« als gesellschaftlichen Gewinn herausstellt.8 Im Hinblick auf das in diesem Band abgedeckte Korpus kann ein kurzer Blick auf Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen diese These untermauern – Alexandra Ludewigs Beitrag bietet eine genaue und ausführliche Lektüre des Buches. Der Roman wurde im Spätsommer 2015 veröffentlicht, gerade zu Beginn des bald ›Flüchtlingskrise‹ genannten Eintreffens Tausender, die über die Balkanroute Deutschland erreichten. Die im Roman behandelte Gruppe gehört zu den Besetzern des Oranienplatzes, die von Oktober 2012 bis April 2014 gegen die Residenzpflicht und die damalige Abschiebepraxis der Bundesrepublik demonstrieren. Die Handlung setzt direkt nach Ende der Besetzung ein, wobei der Plot Richard, einem emeritierten Professor für Klassische Philologie aus dem alten Westen Berlins, folgt. Er besucht die Protestierenden kurz vor der Räumung des Kreuzberger Platzes und baut danach im Laufe mehrerer Besuche Bindungen zu ihnen auf. Dabei verfolgt der Leser den amtlichen Prozess der Flüchtlinge bis zur Gewissheit, ob in der Bundesrepublik Asyl gewährt wird oder nicht. Erpenbeck begann am Buch zu arbeiten, nachdem im Oktober 2013 vor der Küste der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa fast 400 Menschen ertranken.9 Sie baut ihren fiktionalen Roman auf Interviews auf, die sie mit den Berliner Flüchtlingen geführt hat, und schreibt in einem annähernd ethnographischen Modus, um die Begrenztheiten, Mängel und Überforderungen der deutschen Behörden und des AsylantragProzesses offenzulegen. Um den »Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden,« beginnt Richard seine Amateurethnographie und versucht, das ihm Fremde und Unerklärliche mithilfe von Analogien zu seiner geliebten klassischen Literatur und Mythologie zu verstehen. Eine kurze Schlüsselstelle aus dem Roman zeigt die eigentliche Motivation des Protagonisten, sein ethnographisches Projekt anzugehen: Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zugigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist. Dort wo das eine Leben 8 Marina und Herfried Münkler, Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin 2016, S. 11 und passim. 9 Cornelia Geißler, »Den Menschen, die zu uns kamen, ein Gesicht geben«, in Berliner Zeitung (9. 10. 2015).
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eines Menschen an das andere Leben desselben Menschen grenzt, muss doch der Übergang sichtbar werden, der, wenn man genau hinschaut, selbst eigentlich nichts ist.10
Die grundlegend narrative Struktur des Projekts wird hier ausbuchstabiert, wobei Richard versucht, den Moment im Leben auszumachen, in dem man vom komplexen Menschen zum Flüchtling wird, der für eine unbestimmte Zeit auf diese Facette festgelegt ist. Durch diesen Fokus macht der Roman deutlich, wie der derzeitige europäische behördliche Umgang mit Asylverfahren dazu dient, diesen Moment der Transition zu verschleiern, seine Nacherzählung zu verunmöglichen. Stattdessen reduzieren die EU-Richtlinien die Selbsterzählung von Asylsuchenden auf den Moment der Ankunft auf europäischem Territorium, um herauszufinden, welcher Staat für die weitere Behandlung des Asylantrags zuständig ist. Richard beobachtet diesen Prozeduralimus: Als Gegenleistung für die Räumung des Oranienplatzes bieten die Einwanderungsbehörden, ausdrücklich als Ausnahme, eine tatsächliche Einzelfallbehandlung an, in der die Flüchtlinge dann doch ihre Geschichte erzählen können. Dabei vollzieht sich im Roman eine Ethnographie zweiter Ordnung, weil der Text Richards Interaktion mit den Flüchtlingen beobachtet. Diese teilnehmende Beobachtung operiert durch Unterscheiden und Vergleichen: Verglichen werden vorrangig das Leben des Protagonisten mit dem der Flüchtlinge und dieses mit dem Schicksal derjenigen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten in die Ruinen Deutschlands flüchteten. Der Roman sensibilisiert Richard – und damit seine Leserinnen und Leser – für die Ungerechtigkeit des eklatanten Unterschieds zwischen der Behandlung der Einzelfälle durch die Behörden, die die Geschichten der Menschen radikal verkürzen, und den ausführlich erzählten Schicksalen, von denen Richard in persönlichen Begegnungen erfährt. Die Grenze zwischen Asylsuchendem und Bürger wird durch den minimalen, fast anagrammatischen Unterschied zwischen den Namen Richard und Raschid, einem der Flüchtlinge, verdeutlicht. So wird klar, dass die Ethnographie sich mindestens genauso intensiv mit dem Beobachter Richard auseinandersetzt wie mit den Flüchtlingsschicksalen. Diese Tendenz, Flüchtlingsfiguren und Fluchtsujets zu nutzen, um die Ankunftsgesellschaft zu spiegeln oder Tendenzen politischer Entwicklungen aus ungewöhnlicher Perspektive zu beleuchten, findet sich denn auch in mehreren der hier untersuchten Texte, etwa in Klaus Oppitz’ Roman Auswandertag, einer ironischen kontrafaktischen Geschichte, in der die Fluchtroute von Österreich in die Türkei führt, wie Stefan Alkers Beitrag ausführlich zeigt. Um die groben Fluchtlinien zeitgenössischer, Fluchtgeschichten erzählender 10 Jenny Erpenbeck, Gehen, Ging, Gegangen. Roman, München 2015, S. 52.
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Literatur darzustellen, haben wir uns für eine Perspektivierung auf Figurationen und Topographien entschieden. Die Termini ›Schutzbefohlene‹ und ›Niemandsbuchten‹, zwei hier besprochenen Texten Elfriede Jelineks und Peter Handkes entnommen, stehen metonymisch dafür. Unsere methodologische Vorannahme ist, dass Flüchtlinge literarisch über Figurationen und Narrative konstruiert werden.11 Wie bei allen Narrativen benötigen Flüchtlingsgeschichten Protagonisten ebenso wie Plots, die die Figuren bewegen, und Leserinnen und Leser, die diese Bewegungen interpretieren. Wenn die Protagonisten als Funktionen des Plots Personen sind, werden sie zu Figuren: Zu Projektionsflächen mit den Attributen von Menschen.12 Als Schutzbefohlene – ein Terminus, der die Schutzflehenden (Aischylos’ Hiketiden) der antiken Institution der Gastfreundschaft evozieren soll – suchen diese Protagonisten Zuflucht und überqueren dazu Schwellen. Als Besonderheit dieser allgegenwärtigen Konstruktion von Romanfiguren haben Flüchtlinge als Protagonisten eine besondere Beziehung zum Raum, eine Tatsache, die viele der Beitragenden dieses Bandes genau beobachten. In modernen Gesellschaften sind Räume des Asyls zunehmend begrenzt; für viele Flüchtlinge haben sie sich längst zu Räumen der Einschließung gewandelt, zu Gegen-Orten der Ankunftsgesellschaft. Das Bild der Niemandsbucht fängt die Merkmale solcher Räume als Nicht-Orte im Sinne Marc Aug8s ein13, wo Flüchtende übergangsweise zusammengedrängt werden, abgeschottet von der Ankunftsgesellschaft in statischen, attributlosen Orten. Christian Luckscheiters Beitrag zu Peter Handkes Werk verdeutlicht das. Ren8 Kegelmann zeigt in seinem Beitrag über Ter8zia Moras Roman Alle Tage, wie nicht nur die Orte des Geflüchteten leere, unkodierte Räume sind, sondern auch, wie die Figur des Flüchtlings selbst zu einer leeren Projektionsfläche für Zuschreibungen durch die Ankunftsgesellschaft wird. Mehrere der hier versammelten Beiträge stellen heraus, wie die außergewöhnlichen Arten der Grenzüberquerung, der Mobilität, der Raumaneignung durch Flüchtlinge zu Neukodierungen und Resemantisierungen von Topographien, aber auch von sozialen und politischen Räumen führen kann. Hanna Maria Hofmann vergleicht dabei Texte Khiders und Anna Seghers’ aus einer raumtheoretisch informierten Perspektive. Flüchtlingsfiguren sind auch im Hinblick auf ihre literaturwissenschaftliche Untersuchung außergewöhnliche Forschungsgegenstände, die gewohnte Denk11 Leslie Adelson analysiert das »Türkische«, das ganz ähnlich als eine Figur für kulturelle Begegnung in der deutschsprachigen Literatur konstituiert wird. Leslie A. Adelson, The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration, New York 2005, S. 17. 12 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1993, S. 346. 13 Marc Aug8, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt (Main) 1994.
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kategorien und Methoden herausfordern, insbesondere in einer literaturwissenschaftlichen Praxis, die nationalphilologische Traditionen weiterführt. In der Figur des Flüchtlings findet sich eine Gegenfigur zum positiv besetzten, transversale Transkulturalität emphatisch affirmierenden Grenzgänger jener Neuen Weltliteratur, die die Literaturwissenschaften in Weiterführung der postkolonialen Interventionen häufig beschäftigt. Manuel Clemens fragt in seinem Essay provokativ, ob die Debatte, nachdem sie einige Jahre in positiver Umbesetzung den Migranten als Figur der Zukunft, als Protagonisten einer Nationalgrenzen überwindenden Moderne behandelt hat, nun gar im Flüchtling den ›neuen Menschen‹ erkennt. Diese Konnotation wäre denn eine fatale Verkennung des prekären Daseins auf der Flucht. Wir hoffen, dass dieser Sammelband einen Schritt auf dem Weg zu einer methodologischen Reflexion innerhalb der Literaturwissenschaft, die sich mit Migration im weitesten Sinne beschäftigt, darstellt – einem Feld, das schon seit einiger Zeit in der Germanistik große Aufmerksamkeit genießt. Hansjörg Bays Aufsatz etwa indiziert, wie zeitgenössische Fluchtliteratur wichtige Vorannahmen der deutschsprachigen ›Migrationsliteraturwissenschaft‹ kritisch zur Disposition stellt, wenn Gewissheiten des Feldes angesichts neuester Texte auch neu gedacht werden müssen. Vor allem scheint uns wichtig, dass über die Analyse von Figurationen des Flüchtlings, dieser überzeitlichen Figur, die insbesondere in der deutschsprachigen Literaturgeschichte nicht erst seit der Exilliteratur eine bedeutende Rolle spielt, die Trennung von Migrations- und Exilliteratur aufgehoben werden kann, so dass sich bestenfalls beide Felder der Literaturwissenschaft gegenseitig befruchten. 1990 ist beim achten Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik in Tokyo die Sektion 14 »Emigranten- und Immigrantenliteratur« wegen erhöhten Interesses auf zwei Räume – einen für Emigranten-, einen für Immigrantenliteratur – verteilt worden. Das kann als paradigmatisch für den Beginn einer wirkmächtigen Trennung von Migrations- und Exilliteraturforschung rekonstruiert werden.14 Eine Wiederbegegnung der Bereiche über die Beschäftigung mit der konkreten Figur des Flüchtlings könnte die insbesondere in der Migrationsliteraturforschung häufig ins Beliebige entwichenen Abstraktionen ›hybrider‹ Grenzgänger in dritten Räumen gleichsam rekonkretisieren, während Analogien zwischen literarisierten historischen Fluchtbewegungen und gegenwärtigen Entwicklungen zu einer Neubewertung und zu einem Aktualisierungsschub der Exilliteraturforschung führen kann.
14 Irmgard Ackermann: Einführung zu Sektion 14. In: Begegnungen mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Hrsg. von Eijiro Iwasaki. München 1991. S. 11.
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Thomas Hardtke et al.
Dem Sammelband sind zwei akademische Veranstaltungen vorausgegangen: eine Sektion der Tagung »Gastfeindschaft – Aporien im Umgang mit dem Anderen«, die im November 2015 in Berlin stattfand, sowie eine Tagung im Februar 2016 in Greifswald. Wir danken der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin, dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald sowie der Ernst-Reuter-Gesellschaft Berlin für die großzügige Förderung dieser Veranstaltungen. Zudem gilt unser Dank Carsten Gansel und Hermann Korte für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien. Susanne Köhler von V& R unipress danken wir herzlich für die angenehme Betreuung. Dem Art Department von Yad Vashem gilt unser Dank für die Titelgrafik.
Identität und Identitätslosigkeit
Hansjörg Bay
Migration, postheroisch. Zu Sherko Fatahs Das dunkle Schiff
Die Ereignisse des Jahres 2015 haben den Themen Flucht und Asyl eine Aktualität verliehen, der in der Auseinandersetzung mit Literatur schwer gerecht zu werden ist. Zwar liegt mittlerweile eine Reihe von Texten vor, die auf die gegenwärtige Massenflucht nach Europa Bezug nehmen1 oder sich zumindest implizit in die aktuelle Diskussion einschreiben.2 Aber Literatur bleibt doch ein vergleichsweise langsames Medium, das seine Zeit braucht, um auf politische Entwicklungen zu reagieren. Natürlich ist die Flucht vor Krieg, Verfolgung und Repression kein neues Phänomen. Auch im Blick auf Europa muss man weder auf das NS-Regime, den Zweiten Weltkrieg und deren Folgen noch auf die Zeit des Kalten Krieges zurückgehen, um darauf zu stoßen. In der deutschsprachigen Literatur sind jedoch erst seit Mitte der 2000er Jahre vermehrt Bücher entstanden, die von neueren Fluchtbewegungen erzählen oder sich mit der Situation von Geflüchteten auseinandersetzen. Ter8zia Mora verzichtet dabei auf eine konkrete historische Verortung; Sasˇa Stanisˇic´ nimmt auf den Zerfall Jugoslawiens Bezug; Sherko Fatah und Abbas Khider rekurrieren auf die Situation im Irak, Olga Grjasnowa auf diejenige in Aserbaidschan.3 So unterschiedlich die Herkunftsländer, die Flucht- und die Einwanderungsgeschichten der Protagonistinnen und Protagonisten, so vielfältig ist die Art, in der von ihnen erzählt wird. Unabhängig davon, ob man auch die Thematisierung weiter zurückliegender Fluchtbewegungen in eine solche Kategorie einbeziehen würde, wäre es daher wenig sinnvoll, diesen Texten durch eine Bezeichnung wie ›Flucht-‹ oder gar ›Flüchtlingsliteratur‹ eine weitreichende Gemeinsamkeit zu unterstellen. Schon bei der sogenannten ›Migrationsliteratur‹ hat sich diese Art der Katego1 Vgl. besonders Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen [2013], http://www.elfriedejelinek. com/; Jenny Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen, München 2015. 2 So Abbas Khider, Die Ohrfeige, München 2016. 3 Vgl. Ter8zia Mora, Alle Tage, München 2004; Sasˇa Stanisˇic´, Wie der Soldat das Grammofon repariert, München 2006; Sherko Fatah, Onkelchen, Salzburg 2004; ders., Das dunkle Schiff, Salzburg 2008; Abbas Khider, Der falsche Inder, Hamburg 2008; Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer, der Birken liebt, München 2012.
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risierung nicht bewährt, weil sowohl die verhandelten Phänomene als auch die Möglichkeiten, sich ihnen literarisch zu nähern, zu unterschiedlich sind, als dass hier von einem eigenen Genre die Rede sein könnte.4 Das heißt allerdings nicht, dass man solche Texte nicht gemeinsam betrachten und im Sinn des vorliegenden Bandes daraufhin befragen sollte, wie sie Fluchterfahrungen thematisieren, ob die Auseinandersetzung mit dieser Thematik spezifische Schreibweisen hervorgebracht hat und wie sie sich zum weiteren Kontext der literarischen Auseinandersetzung mit Migration verhält. Zumindest auf den ersten Blick ist der Text, auf den ich mich dabei konzentrieren werde, alles andere als repräsentativ. Die Verknüpfung einer Fluchtgeschichte mit der Frage nach der Entstehung terroristischer Gewalt, die Sherko Fatah in Das dunkle Schiff5 vornimmt, ist in der deutschsprachigen Literatur singulär – und es braucht kaum gesagt zu werden, dass sie heute noch brisantere Fragen aufwirft als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans im Jahr 2008. Auf einer anderen Ebene aber fügt sich dieser durchaus in die Entwicklung der literarischen Auseinandersetzung mit Migration ein. Das dunkle Schiff, so meine These, bricht in geradezu paradigmatischer Weise mit einer bestimmten, für die 1990er Jahre charakteristischen Art dieser Auseinandersetzung, in der sich eine offensive, auf die positiven Potentiale abhebende Besetzung von Migrationsphänomenen mit der Ausbildung eigener, ihnen korrespondierender Schreibweisen verband. Vor dem Hintergrund dieser, für das gängige Verständnis von ›Migrationsliteratur‹ maßgeblich gewordenen Art migrationsbezogenen Schreibens lassen sich wesentliche Züge von Fatahs Roman prägnant in den Blick rücken. Die Kontrastierung soll aber auch umgekehrt dazu beitragen, diese ›heroische‹ Spielart eines literarischen Umgangs mit Migration in ihrer Spezifik und ihrem historischen Charakter erkennbar zu machen.
I. Das dunkle Schiff erzählt die Geschichte des jungen Irakers Kerim von dessen Kindheit und Jugend in einem von Krieg, Not und Diktatur geprägten Land über seine Zeit bei einer Gruppe islamistischer Glaubenskrieger und die dramatische Flucht nach Europa bis hin zum Aufenthalt in Berlin, wo er zum Opfer jenes religiösen Extremismus wird, den er bereits hinter sich gelassen zu haben schien. Die eigentliche Fluchtgeschichte steht dabei zwar der Abfolge, nicht aber 4 Dazu ausführlicher Hansjörg Bay, »Eine kleine Literatur? Kafka, Deleuze/Guattari und der ›Jargon‹ der Migration«, in Postkoloniale Lektüren. Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur, hrsg. von Anna Babka / Axel Dunker, Bielefeld 2013, S. 51–68. 5 Sherko Fatah, Das dunkle Schiff, Salzburg 2008. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
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dem Gewicht nach im Zentrum des Buches. Dessen Hauptanliegen ist vielmehr, den Entstehungsbedingungen extremistischer Gewalt nachzuspüren – und zwar sowohl im Irak als auch, in einer ganz anders gearteten Konstellation, in Deutschland.6 Fatah entscheidet sich dabei für einen Protagonisten, der Opfer und Täter in einem ist. Immer wieder, und meist eher unfreiwillig, gerät Kerim in gefährliche Konstellationen hinein; immer wieder belädt er sich durch sein teils feiges, teils skrupelloses Verhalten aber auch mit Schuld. Zur Zeit des Kriegs gegen den Iran wächst er als Sohn eines alevitischen, aus der Türkei eingewanderten Gastwirts in den Kurdengebieten im Nordosten des Irak auf. Als kurdischer Alevit ist er nicht nur Teil einer von einem repressiven Regime diskriminierten und, wie der am Rande des Geschehens in den Blick gerückte Giftgasangriff auf Halabdscha deutlich macht, auch brutal verfolgten ethnischen Gruppe, sondern gehört auch in dieser noch einmal zu einer religiösen Minorität. Früh schon macht er sich schuldig, indem er bei einer Befragung durch den allmächtigen Geheimdienst statt des Namens seines Vaters den eines unbeteiligten Freundes angibt, der dann nur als gebrochener Mann aus den staatlichen Verliesen zurückkehrt. Traumatisiert wird der heranwachsende Junge aber vor allem durch den gewaltsamen Tod des Vaters, der, als er sich zwei ihn schikanierenden Geheimdienstlern in den Weg stellt, von diesen umstandslos überfahren wird. Als ältester Sohn der Familie sieht sich Kerim von nun an gezwungen, das kleine Gasthaus weiterzuführen und damit auch jene auf Anpassung bedachte, um die Zubereitung von Mahlzeiten kreisende Existenzweise zu übernehmen, die er an seinem Vater stets verachtet hatte. Als er mit seinem Auto von einer Gruppe selbsternannter »Gotteskrieger[ ]« 6 Auf die Frage des Terrorismus konzentriert sich denn auch die wenige bisher vorliegende Literatur zu Fatahs Roman, allerdings ohne die Dopplung der Frage nach den Entstehungsbedingungen wahrzunehmen. Vgl. Heinrich Kaulen, »Heilige Krieger. Fundamentalistische Gewalt im Spiegel der Gegenwartsliteratur«, in Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, hrsg. von Carsten Gansel / Heinrich Kaulen, Göttingen 2011, S. 263–274, hier 272–274; Alex Holznienkemper, »Private-public tensions – recent literary appropriations of the threat of fundamentalist terrorism«, in Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 45 (2012), Heft 1/2, S. 67–76, hier 71–73; Carsten Gansel, »Von der Primärerfahrung zur medialen Konstruktion? ›Soldatisches Opfernarrativ‹, 9/11 und Terrorismusdarstellung in der deutschen (Gegenwarts)Literatur«, in Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich, hrsg. von Ursula Hennigfeld, Heidelberg 2014, S. 159–177, hier 174f. Alle drei Beiträge diskutieren Das dunkle Schiff im Vergleich zu Christoph Peters Ein Zimmer im Haus des Krieges (München 2006). Einen Das dunkle Schiff einschließenden Überblick über die ersten vier Romane Fatahs gibt Sven Robert Arnold, »Fatah, Sherko«, in KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, http://www.munzinger.de/document/16000000725 (zuletzt abgerufen am 24. 8. 2015). Einführend besprechen den Roman auch Michael Hofmann / Iulia-Karin Patrut, Einführung in die interkulturelle Literatur, Darmstadt 2015, S. 123–127.
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(114) in die Berge entführt wird, eröffnet sich ihm ein Ausweg aus dieser Situation. Tatsächlich ist es mehr als nur eine Überlebensstrategie, wenn er sich den islamistischen Extremisten anschließt und mit ihnen immer rücksichtslosere und brutalere Aktionen durchführt. Während ihn der gewalttätige Charakter des militärischen Anführers wie auch die ausgeübte Gewalt selbst abstoßen und ängstigen, zieht ihn der spirituelle Führer der Gruppe in seinen Bann. Nicht umsonst erscheint dieser »Lehrer« (112) dabei als Gegenpol zu einem früheren Englischlehrer Kerims, der für die Verheißungen der westlichen Moderne eingestanden war. Die beiden Figuren markieren unterschiedliche Fluchtlinien aus einer dem alltäglichen Kampf ums Überleben verhafteten, vom Vater verkörperten Existenz, unterschiedliche Vektoren, deren Gegensatz für Das dunkle Schiff von struktureller Bedeutung ist: einen vertikalen, spirituellen, der in die Höhe, ins Gebirge, in den Glauben und in letzter Instanz aus dem Leben hinaus führt, und einen horizontalen, weltlichen, der in die Ferne, auf das Ausland und auf ein besseres Leben weist.7 Trotz allen Unbehagens an den terroristischen Aktivitäten der Gruppe, deren volles Ausmaß der Leser erst gegen Ende des Romans erfährt, sind es erst eine gute Gelegenheit und die Ahnung, der nächste in der Reihe der Selbstmordattentäter zu sein, die Kerim fliehen lassen. Das Geld, das er bei dieser Gelegenheit an sich nimmt, ermöglicht ihm nach einer vorübergehenden Wiederaufnahme seines früheren Lebens die Flucht über die Türkei und das Mittelmeer nach Europa. Allerdings reicht es nicht für eine Flucht ›erster Klasse‹. Nachdem Kerim teils zu Fuß, teils mit Fahrzeugen zu einem türkischen Hafen gebracht worden ist, schleicht er sich an Bord eines Frachters, um die noch riskantere Überfahrt in einem Schlauchboot zu vermeiden. Die Situation als blinder Passagier, der sich in einer lichtlosen Abstellkammer vor der Besatzung versteckt halten muss und, als diese ihn schließlich doch entdeckt, mit einem weiteren, aus Ägypten stammenden Flüchtling auf einem Floß ausgesetzt wird, macht diese Passage zum Gegenteil einer gewöhnlichen Schiffsreise. Aus dem schützenden Gehäuse, das sich durch die grenzenlose Weite des Meeres bewegt, wird ein schwimmendes Gefängnis, dessen beängstigende Dunkelheit der Titel des Romans unterstreicht und das doch immer noch mehr Sicherheit bietet als das Floß, auf 7 Der erstere verbindet sich bereits mit der vom Vater gegenüber der Außenwelt verheimlichten Herkunft aus einer alevitischen Familie, die in der Türkei in einem »wie ein Schwalbennest« (17) hoch in den Bergen gelegenen Dorf gewohnt hatte. Der mit dem Vater unternommene Ausflug in die kurdischen Berge, bei dem Kerim eine Predigt über die »Reinheit« (28) zu hören bekommt, gehört in denselben Zusammenhang. Die »Freude am Lernen«, die Kerim bei seinem Englischlehrer entdeckt, hat dagegen »mit der Ferne zu tun« (36) und verbindet sich mit dem Gedanken an jenen nach Deutschland ausgewanderten Onkel, dem er dann in Berlin begegnen wird: »Allein die Vorstellung, dass jemand seine Heimat verließ und woanders ein völlig anderes Leben begann, elektrisierte Kerim von Kindheit an.« (37)
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dem die beiden Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen werden. Die Überfahrt zu neuen Ufern aber endet auf einer wasserlosen Insel, auf der die hilflos Dahintreibenden stranden. Anders als sein in Anbetracht seiner dunkleren Hautfarbe zurückgelassener Leidensgenosse wird Kerim von einem zufällig vorbeikommenden Fischerboot gerettet und schafft es bis nach Berlin. Dort sieht er sich zunächst mit den deutschen Behörden, deren bürokratischen Verfahren und dem trostlosen Leben in einem Asylbewerberheim konfrontiert, hat mit der sorgsam erfundenen Geschichte, die er diesen Behörden erzählt, jedoch Glück. Obwohl seinem Asylantrag stattgegeben wird, obwohl er mit Leichtigkeit Deutsch lernt und obwohl ihm sowohl sein seit langem in der Stadt ansässiger Onkel Tarik als auch eine deutsche Geliebte zur Seite stehen, holt ihn seine Vergangenheit aber auch im neuen Land ein. Allerdings ist es nicht mehr er selbst, der hier zum Extremisten wird, sondern der in Deutschland aufgewachsene Sohn eines palästinensischen Schmuckhändlers. Als Angehöriger der ›zweiten Generation‹ verachtet Amir seinen Vater, der wie Tarik ein angepasstes, aber wenig verheißungsvolles Leben in einer kulturellen Nische führt, sieht aber auch in der Mehrheitsgesellschaft keine seinem Talent und seinem Ehrgeiz entsprechende Perspektive. Als Anführer einer Bande jugendlicher Kleinkrimineller richtet er seine Energie auf Erfolge im Drogengeschäft, bis ihm Kerim durch seinen widerstrebend erstatteten Bericht von der Zeit als Glaubenskrieger eine andere Perspektive eröffnet und ihn wider besseres Wissen in Kontakt mit radikalen Islamisten bringt, auf die er bei der Suche nach einem spirituellen Umfeld gestoßen war. Nachdem Kerim von einem dieser Islamisten als früherer Mitkämpfer und Verräter erkannt worden ist, bringt ihn der mittlerweile ins Zentrum der narrativen Aufmerksamkeit gerückte Amir um. Wie bereits dieser erste Durchgang durch das Geschehen deutlich macht, geht Fatah der Entstehung des gewaltbereiten Islamismus auf zwei ganz unterschiedlichen Schauplätzen und in zwei sehr verschiedenen Fällen nach. Bildeten im Irak ein von Kriegen verwüstetes Land, ein repressives, auf einen allmächtigen Geheimdienst sich stützendes Regime und die Perspektivlosigkeit der eigenen Existenz den Boden, auf dem der religiöse Extremismus gedeihen konnte, so entspricht dem in Deutschland eine gesellschaftliche Situation, in der die erste Generation der Migranten ihren Söhnen so wenig Aussicht und Orientierung zu bieten vermag wie die Mehrheitsgesellschaft. Der vom Opfer zum Täter und vom Täter wieder zum Opfer gewordene Flüchtling Kerim aber ist es, der in Fatahs Roman die Verbindung zwischen beiden Konstellationen herstellt. Als Überbringer der gefährlichen Weisheiten seines ›Lehrers‹, aber auch als von der erlittenen, ausgeübten und mitangesehenen Gewalt Traumatisierter ist er selbst jenes »dunkle Schiff«, von dem der nur vordergründig auf die Flucht über das Mittelmeer sich beziehende Titel spricht.
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II. Derart gerafft wiedergegeben, mag Kerims Geschichte etwas überkonstruiert erscheinen, und wenn man nur die Handlung als solche betrachtet, ist sie dies sicherlich auch. Das dunkle Schiff ist jedoch kein bloßer Thesenroman. Die Stärke des Buches liegt nicht primär in der Diagnose gesellschaftlicher und politischer Bedingungen, die zur Entstehung islamistischer Gewalt beitragen mögen, sondern in der behutsamen Art und Weise, in der es sich diesen Bedingungen und den Motivationslagen seiner Protagonisten nähert. Trotz seiner abenteuerlich anmutenden Handlung ist Das dunkle Schiff ein ausgesprochen nachdenklicher Roman, der soziale Problemlagen geduldig zu durchdringen versucht. Fatah umkreist mögliche Zusammenhänge mehr, als dass er sie direkt benennen würde. Der Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen maßt sich nicht an, zu sagen, wie die Dinge wirklich liegen. Anstatt die Rolle des eingeweihten Informanten zu übernehmen, der seine Leser über die Verhältnisse im Irak und in Deutschland in Kenntnis setzen, sie uns endlich bündig erklären würde, zeigt er eher deren Unzugänglichkeit – ohne allerdings auf den Versuch, mögliche Zusammenhänge in Erfahrung zu bringen, zu verzichten. Diese Zurückhaltung manifestiert sich in der Gleichzeitigkeit verschiedener möglicher Erklärungen, die Fatah in den Blick rückt, im Verzicht auf überlegene Kommentare und moralische Beurteilungen, vor allem aber in der respektvollen, zugleich einfühlsamen und Distanz wahrenden Art und Weise, in der er seine Figuren behandelt. Der Roman verzichtet darauf, deren Innenleben vollständig aufzuklären. Auch seinem Protagonisten gegenüber wahrt er, was man mit einer Formulierung Edouard Glissants als »Recht auf Opazität«8 bezeichnen könnte. Die heterodiegetische Erzählinstanz ist nah dran an der Figur Kerims und berichtet fast durchweg aus deren Perspektive. Aber sie weiß oder sagt nicht alles über diese Figur, und auch das, was sie sagt, ist oft nochmals dadurch gebrochen, dass es nicht unmittelbar als Erfahrung, Empfindung oder Gedanke des Protagonisten präsentiert wird, sondern als dessen Erinnerung. Auch wo Ort und Zeit des Erinnerns unbestimmt bleiben, betont der Roman immer wieder das Faktum als solches und damit die Nachträglichkeit und auch Konstruiertheit des Erzählten – nicht umsonst beginnt gleich der erste Teil mit den Worten »Kerim erinnerte sich […]« (11). Durch diese doppelt gebrochene Weise, in der Fatah auf die Regungen seines Protagonisten zugreift, wahrt er eine prekäre Distanz. Zwar macht er dessen Empfindungen und Motive in vielem nachvollziehbar und ermöglicht eine partielle Identifikation. In letzter Instanz aber bleibt Kerim dem Leser und auch sich selbst undurchsichtig. 8 Edouard Glissant, »Poetik der Beziehung«, in Lateinamerikanische Kulturtheorien. Grundlagentexte, hrsg. von Isabel Exner / Gudrun Rath, Konstanz 2015, S. 185.
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Damit korrespondieren die Diskontinuität des Erzählens und die Anachronien in der Darbietung der Ereignisse. Insbesondere was die Zeit bei den »Gotteskriegern« angeht, wird ein großer Teil der Geschehnisse erst später nachgetragen. Neben nicht näher bestimmbaren Aussparungen gibt es aber auch echte Lücken in der erzählten Handlung. So erfährt man nach der zuvor relativ ausführlich geschilderten Flucht über das Mittelmeer rein gar nichts über die Reise von der griechischen Küste nach Berlin. Auch sonst schließt sich Kerims Geschichte nicht zu einer kontinuierlichen Abfolge von Ereignissen, deren zeitlicher und kausaler Zusammenhang eindeutige Sinnzuschreibungen stützen würde. Wie die Opazität der Hauptfigur verstärkt dies die Offenheit einer Geschichte, die zugleich die eines Traumatisierten und eines Terroristen, eines Flüchtlings und eines Einwanderers ist. An der Herausforderung, vor die uns diese Geschichte stellt, ändert das allerdings nichts. Als das »dunkle Schiff«, das er ist, als Einwanderer aus einem von Gewalt, Hass und Angst zerrütteten Land, den sein Onkel vergeblich fragt, was er »von dort mitgebracht« (356) habe, stellt Kerim die im Roman so bezeichnete »Gastfreundschaft« (350) des ihn aufnehmenden Landes auf eine harte Probe.
III. Im Folgenden möchte ich Fatahs Roman in einen Zusammenhang stellen, in dem sich weder der Text noch sein Autor aktiv platzieren, in denjenigen der literarischen Auseinandersetzung mit Migration. Das scheint zunächst unproblematisch. Denn auch wenn Fatah keinen Wert darauf legt, schreibt er sich mit Das dunkle Schiff doch zweifellos ein in die Geschichte dieser Auseinandersetzung. Offensichtlich ist die hier erzählte Flucht- ja auch eine Migrationsgeschichte – und dies nicht nur, weil Kerims abenteuerliche Reise im Bauch eines Frachters die Gestalt ist, in der sich sein früherer Auswanderungstraum realisiert. Aber Fatahs Roman steht doch eigentümlich quer zu dem, was gemeinhin ›Migrationsliteratur‹ genannt wird, und ganz besonders zu einer bestimmten, für das dominierende literaturwissenschaftliche Verständnis maßgeblich gewordenen Ausprägung derselben. Diese Ausprägung und auch Phase migrationsbezogenen Schreibens, die sich mit so unterschiedlichen Namen wie Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Feridun Zaimog˘lu verbindet, gewann ihre Konturen im Verlauf der 90er Jahre und kann wohl erst heute, aus einer allmählich sich einstellenden Distanz, in ihrer Spezifik und ihrem historischen Charakter begriffen werden. Wenn ich sie hier, und dieser Begriff ist trotz seines ironischen, diese Distanz suchenden Untertons keineswegs abwertend gemeint, als ›heroische‹ bezeichne, so nicht, weil ihre VerfasserInnen es schwerer gehabt hätten als diejenigen der soge-
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nannten ›Gastarbeiterliteratur‹ zehn Jahre zuvor9, sondern weil sie das Thema Migration in einer ungeahnt offensiven Weise besetzten, indem sie ein positives, auf die Chancen und Potentiale abhebendes Verständnis von Wanderungsbewegungen, Fremdheitserfahrungen und kulturellen Transgressionen entwickelten und dem auch durch die Ausbildung entsprechender Schreibweisen und poetologischer Reflexionen Rechnung trugen. Besonders greifbar wird dieser selbstbewusste und teilweise auch provokante Umgang mit der Thematik anhand der Verfremdung des Deutschen durch Strategien der Fremd- und Mehrsprachigkeit oder die Kreation eines ›kanakischen‹ Sounds. Özdamar und Tawada, aber auch Autoren wie Z8 do Rock oder Jos8 Oliver setzten dabei auf experimentelle Verfahren und zum Teil auch den Anschluss an avantgardistische Traditionslinien. Aber auch bei sprachlich konventioneller verfahrenden AutorInnen zeigte sich ab Mitte der 90er Jahre eine offensive Besetzung von Migrationsthemen, die zumindest der Tendenz nach mit der Ausbildung migrationsaffiner Schreibweisen und Poetiken einherging – seien es nun solche der Bewegung, der Übersetzung oder der Pose. Man kann dieser Literatur und ihrem politischen Gehalt nicht gerecht werden, ohne zu sehen, dass sie in einer Zeit entstanden ist, in der Migration in der öffentlichen Diskussion fast ausnahmslos als Problem behandelt wurde – und zwar als ein kulturelles Problem, auf das im besten Fall sozialpädagogisch, im schlimmsten durch Abschottung und Abschiebung zu reagieren sei.10 Ihre Rezeption im Verlauf der 90er Jahre ist gleichwohl oder gerade deshalb eine Erfolgsgeschichte, und dies nicht nur bei einem migrantischen Publikum. Abgesehen von der literarischen Qualität der erschienenen Texte dürften dazu drei sehr unterschiedliche Phänomene beigetragen haben: eine kulturelle Öffnung 9 Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Zur ›Gastarbeiterliteratur‹ vgl. die Anfang der 80er Jahre von Franco Biondi und anderen herausgegebene Reihe ›Südwind gastarbeiterdeutsch‹. Das kollektive Selbstverständnis formulieren Franco Biondi / Rafik Schami, »Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur ›Gastarbeiterliteratur‹«, in Zu Hause in der Fremde. Ein Ausländer-Lesebuch, hrsg. von Christian Schaffernicht, Fischerhude 1981, S. 124–136. 10 In der Bundesrepublik erkannte die Politik erst ab Ende der 70er Jahre, dass die durch Anwerbeabkommen ins Land geholten Arbeiterinnen und Arbeiter vielfach nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Damit rückte jene Frage der ›Integration‹ in den Blick, die bis heute im Mittelpunkt endloser, sie kulturell akzentuierender Debatten steht. Ab Mitte der 80er Jahre wurde die Zahl von Asylsuchenden zum Thema von Kampagnen und Wahlkämpfen; es begann eine populistische Debatte um angeblichen ›Asylmissbrauch‹, die gegen Ende des Jahrzehnts nochmals verschärft wurde. Nach der Wiedervereinigung, und in diese Zeit fallen die Anfänge der besagten Literatur, kam es in einem zunehmend von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geprägten Klima zu einer Vielzahl gewaltsamer Übergriffe auf MigrantInnen und Migranten und zu einer drastischen Einschränkung des Asylrechts im sogenannten ›Asylkompromiss‹ von 1993. Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 231ff.
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der deutschen Gesellschaft, die sich in diesem Zeitraum trotz allem vollzog, der Topos der kulturellen Bereicherung, der die Vermarktung und Rezeption einschlägiger Texte steuerte, sowie schließlich die Verknüpfung von Migrationsphänomenen mit poststrukturalistischen Theoremen und postmodernen Problematisierungen von Identität. Wie sehr diese Verknüpfung, die auf theoretischer Ebene von Autoren wie Gilles Deleuze und F8lix Guattari, Homi Bhabha oder Vil8m Flusser vorgenommen wurde11, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung bestimmte, zeigt sich an der Konjunktur mehr oder weniger reflektierter Konzepte des Nomadischen und Hybriden, die seit Ende der 90er Jahre nicht mehr aus der Forschungsdiskussion wegzudenken sind. Indem sie es ermöglichte, Migrantinnen und Migranten eine gesellschaftliche Vorreiterrolle zuzuschreiben12, erlaubte die im weitesten Sinn postmoderne Perspektivierung von Migrationsphänomenen auch nicht-migrantischen LeserInnen eine zumindest partiell identifikatorische Lektüre: Migrantische Figuren, und auch darauf bezieht sich die Rede von einer ›heroischen Phase‹, konnten als avantgardistische Helden der Fremdheit, der Hybridität oder der Überschreitung sowohl konzipiert als auch begriffen werden. Besonders gilt dies, wo es sich, und das war gerade bei autobiographienahen Texten vielfach der Fall, um adoleszente und sozial relativ ungebundene Figuren handelte, die als Ich-ErzählerInnen von einem neuen Umgang mit Mobilität, Mehrsprachigkeit oder kultureller Differenz berichten konnten. In all ihrer Unterschiedlichkeit – und sehr viel unterschiedlicher als diejenige der genannten AutorInnen kann zeitgenössische Literatur kaum sein – bewirkten die einschlägigen Texte dieser ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hineinragenden Phase des Schreibens über Migration eine transkulturelle Öffnung der deutschsprachigen Literatur, die diese nachhaltig verändert hat. Ein monokulturelles Verständnis derselben, wie es trotz Chamisso, Kafka oder Celan und ungeachtet der Existenz mehrerer deutschsprachiger Staaten noch Anfang der 90er Jahre dominierte, scheint heute so kaum mehr vorstellbar. Gleichzeitig ließe sich aber auch behaupten, dass die offensive Besetzung von Migrationsphänomenen mit einer Akzentuierung des Kulturellen auf Kosten des Sozialen und Politischen einherging, dass also soziale und politische Aspekte von Migration, wie sie im Zentrum der ›Gastarbeiterliteratur‹ gestanden hatten, in den 90er Jahren zunehmend aus dem Blick gerieten. Durch die Rezeption der einschlägigen Texte als kulturelle Bereicherung oder avantgardistischer Entwurf einer neuen Subjektivität wurde diese Tendenz noch verstärkt. Aber sie ist doch 11 Vgl. Gilles Deleuze / F8lix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 481ff. und passim; Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 1994, S. 212–235; Vil8m Flusser, Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin 1994. 12 Vgl. besonders Flusser, ebd., S. 16 und passim.
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auch schon in den Texten selbst angelegt, in denen, und Zaimog˘lus Kanak SprakProjekt bildet hier eine Ausnahme, die Thematisierung individueller Migrationsgeschichten gegenüber der Selbstverständigung über eine kollektive Situation in den Vordergrund trat.
IV. Auf die weitere Entwicklung der literarischen Auseinandersetzung mit Migration kann an dieser Stelle umso weniger eingegangen werden, als ihre quantitative Zunahme seit der Jahrtausendwende mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung einherging.13 Der Hinweis muss genügen, dass sich seit Mitte der 2000er Jahre eine zunehmende Problematisierung von Migrationsphänomenen – und dazu gehört insbesondere die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Geflüchteten –, aber auch eine Hinwendung zu formal unauffälligeren, an einem realistischen Literaturbegriff orientierten Schreibweisen abzeichnet. In fast schon paradigmatischer Weise gilt beides für Das dunkle Schiff.14 Wie die meisten deutschsprachigen Texte, die eine Migrationsgeschichte erzählen, setzt auch Fatah auf die Geschichte eines einzelnen Protagonisten, und wie in den meisten dieser Texte ist der Protagonist auch hier eine adoleszente Figur. Die Bewegung von einem Land in ein anderes und die Konfrontation mit einer fremden Sprache oder Kultur erscheint jedoch nicht als Erfahrung eines IchErzählers, sondern als die eines Protagonisten, der auch als Perspektivfigur zumindest teilweise fremd und befremdlich bleibt. Wie bereits dargelegt, hält der Roman eine prekäre Balance zwischen Nähe und Distanz zu seiner Hauptfigur. Während er weitestgehend Kerims Perspektive übernimmt, ist es doch nicht dessen Stimme, mit der er spricht. Während er tiefe Einblicke in dessen Innenleben gewährt, bleibt dieses doch auch opak. Und während er vor allem zu Anfang eine identifikatorische Lektüre erlaubt und auch nahelegt, stellt er dieser zunehmend Hindernisse entgegen. Das gilt nicht nur auf der Ebene des erzählten Geschehens, wo Kerim ob seiner Feigheit, seiner Faszination für den islamistischen »Lehrer« und seiner Gewaltbereitschaft zunehmend suspekt erscheint. Es betrifft auch das Erzählen selbst. Vor allem wo es um die Zeit bei den Glau13 Für einen knappen Überblick vergleiche meinen Artikel »Migrationsliteratur« in Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hrsg. von Dirk Göttsche / Axel Dunker / Gabriele Dürbeck, Stuttgart / Weimar 2017 (im Erscheinen). 14 Dabei sei nochmals betont, dass Fatah nicht den Anschluss an das skizzierte literarische Feld sucht, sein Schreiben nicht im Kontext einer wie auch immer verstandenen ›Migrationsliteratur‹ verortet. Auch wenn eine Migrationsgeschichte bereits in Onkelchen und dann wieder in Ein weißes Land (München 2011) eine wichtige Rolle spielt, richtet sich seine Aufmerksamkeit mehr auf Fragen der Gewalt, ihrer Entstehung und ihrer Folgen.
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benskriegern geht, werden große Teile des Geschehens erst nachträglich in Form von spontan sich einstellenden und am Ende unaufhaltsam andrängenden Erinnerungen eingeholt. Ergeben die Auslassungen zunächst ein nur lückenhaftes Bild Kerims, so wird dieses durch die eingeschobenen Erinnerungen, die zunehmend grauenhafte Verbrechen betreffen, gegen Ende kaleidoskopartig gebrochen und eine Identifikation dadurch zusätzlich erschwert. Natürlich hängt diese trotz aller Nähe auch distanzierte Behandlung des Protagonisten damit zusammen, dass dieser Held keiner ist. Weder taugt Kerim als positive Identifikationsfigur, noch erscheint er als starkes Subjekt, das sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen vermag. In die meisten Situationen gerät er irgendwie hinein, sei es durch Zufall oder aufgrund mangelnder Entschlossenheit, und ist dann zu feige oder zu opportunistisch, um einen anderen Weg einzuschlagen. Als eine wenig handlungsfähige Figur zeigt er Entschlossenheit und Tatkraft nur, wenn es darum geht, sich zu retten. Aber Kerim ist nicht nur in einem allgemeinen Sinn wenig heroisch. Er ist auch kein Held der kulturellen Überschreitung oder Übersetzung, keine strahlende Verkörperung des Nomadischen oder Hybriden. Im Gegensatz zu Figuren der früheren ›Migrationsliteratur‹ weiß er die mit der Migrationssituation einhergehende Losgelöstheit und die Begegnung mit einer anderen kulturellen Ordnung nicht zu nutzen, ›macht nichts daraus‹, sondern versucht alle Fremdheit durch Lernen und Anpassung möglichst schnell hinter sich zu lassen. Aber auch sein forcierter Assimilationsversuch scheitert. Obwohl er erfolgreich die Sprache erlernt und sich zumindest zu Anfang an alle Regeln zu halten versucht, lässt er sich doch nicht wirklich ein auf das neue Land – so wenig wie dieses auf ihn. Deutlich wird dies an der Liebesbeziehung zu Sonja, die ja die Möglichkeit einer echten Begegnung zu bieten scheint und beiden fast wie von selbst zufällt. So sehr ihm diese Beziehung am Herzen liegt, so sehr überspringt er dabei doch etwas, übergeht seine eigene Geschichte und die Fremdheit, die zwischen ihnen liegt – wie umgekehrt auch Sonja in der Deckung ihrer deutschen Herkunft verharrt und sich nicht ernsthaft genug auf den Fremden, der Kerim für sie ist und auch bleibt, einlässt. Auf dieses Übersprunghafte verweist die gewaltsame Art und Weise, in der Kerim jenen Ring in seinen Besitz bringt, den er Sonja dann als Zeichen seiner Liebe schenkt (vgl. 310; 381). Diese wiederum muss sich selbst eingestehen, dass sie Kerim nicht ernst genug nimmt, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen, und will sein dunkles Geheimnis letztlich nicht wissen (vgl. 327). Konnte sie ihn bei ihrer ersten Begegnung, als er ins Eis eingebrochen war, noch vor dem Ertrinken in der dunklen Tiefe retten, so erweist sich die deutsche Geliebte als dieser Mission auf Dauer nicht gewachsen. Und so sehr sich Kerim auch wünschen würde, mit ihr auf Schlittschuhen über jenes Eis gleiten zu können, unter dem alle Angst, alle Schuld und alle Fremdheit verschlossen wäre, so sehr muss dies eine Illusion bleiben, solange er sich zu ihr
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retten will, ohne sich seiner Vergangenheit zu stellen, und solange er die Geschichte seiner Flucht erzählt, ohne das »ihn verschlingende, in seiner Tiefe dunkle Wasser, seine eigene Halt- und Atemlosigkeit, seine Furcht« (281) zu thematisieren. So verliert das Dasein in einem anderen Land schnell jenen Glanz, den es für Kerim in seiner Kindheit gehabt hatte, erweist sich die Hoffnung, in der Fremde »ein anderer« (350; vgl. 36f.) werden zu können, als trügerisch und gewinnt der vertikale Vektor wieder die Oberhand. Weil die Ankunft im neuen Land misslingt, er dort ziellos umherwandert, ohne eine Aufgabe zu haben und echte Beziehungen aufbauen zu können, beginnt in Berlin die Saat aufzugehen, die der »Lehrer« gesät hatte. Kerim ergreift die Sehnsucht nach einer spirituellen Gemeinschaft; der »Ruf des Glaubens« (384) ereilt ihn in einer Intensität, die er selbst während der Zeit unter den Glaubenskriegern nicht gekannt hatte. Zu viel schleppt diese Figur mit sich herum und zu widrig sind, trotz allem, auch die Bedingungen, als dass sie die Erfahrung der Migration und das Dasein in der Fremde ins Positive zu wenden vermöchte. Das eigene Fremdsein erfährt Kerim nicht als Chance, sondern als Barriere. Wenn er die fremde Sprache erlernt, so um sie zu beherrschen – und das heißt, sich ihren Regeln zu unterwerfen – und nicht, um mit ihr zu spielen, das eigene Verhältnis zur Welt durch sie in Frage stellen zu lassen und sich ihrer in größerer Freiheit zu bedienen als der eigenen. ›Postheroisch‹ ist Fatahs Migrationsgeschichte aber nicht nur hinsichtlich der Gestaltung ihrer Hauptfigur, sondern auch in Bezug auf ihre eigene sprachliche und narrative Gestalt. Fatah verzichtet darauf, eine auf die Migrationsthematik bezogene Schreibweise zu entwickeln. Die Abwesenheit sprachlicher Regelverstöße ist hier nur der greifbarste Punkt einer mehr an der Erfassung sozialer Realität als an der ästhetischen Innovation orientierten Gestalt des Romans. Anders als die auch ästhetisch ›heroischen‹ Texte, mit denen Özdamar, Tawada oder Zaimog˘lu in den 90er Jahren an die Öffentlichkeit getreten waren, ist Das dunkle Schiff nicht geprägt durch eine eigene Poetik der Migration. Als wäre der Roman selbst überzeugt von jener ›Vergeblichkeit der Schönheit‹ (vgl. 5), die er seinen Protagonisten gleich im Prolog angesichts einer als betörender Anblick sich darstellenden Gewalttat erfahren lässt, treiben Fremdheit und kulturelle Differenz hier keine ästhetischen Blüten. An die Stelle experimenteller und avantgardistischer Schreibweisen, wie sie die Auseinandersetzung mit Migration in den 90er Jahren ausgezeichnet hatte, tritt bei Fatah ein sozialer Realismus, der in seiner Mischung aus abenteuerlich anmutender Handlung15 und 15 Die Bezeichnung als »Abenteuerroman«, unter der Das dunkle Schiff im Klappentext angekündigt wird, ist nicht unproblematisch. Zwar gerät Fatahs Protagonist von einer lebensbedrohlichen Situation in die andere. Aber er sucht diese Situationen nicht und ihre Kette ist auch nicht strukturbildend. Folgt man der klassischen Definition Simmels, so
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geduldiger Ausleuchtung psychischer Welten etwas über aktuelle gesellschaftliche Problemlagen in Erfahrung zu bringen versucht.
V. Es liegt mir fern, Fatahs Projekt gegen das, was ich hier als heroische Variante der literarischen Auseinandersetzung mit Migration bezeichnet habe, ausspielen zu wollen. Beides hat seinen spezifischen Wert und seinen eigenen historischen Moment. Aber der postheroische Text, der Das dunkle Schiff ist, entzieht sich den alten Rezeptionsmustern und stellt seine Leserinnen und Leser vor andere Herausforderungen. Der Migrant, von dem Fatah erzählt, kann nicht mehr als avantgardistische Verkörperung einer neuen Art von Subjektivität begriffen werden, und auch der Roman selbst lässt sich nicht mehr einfach als kulturelle Bereicherung verbuchen – weder in einem kulturalistischen Sinn noch in dem eines Mehrwerts kultureller Hybridität.16 Zu sehr lenkt er den Blick weg von seiner eigenen Gestalt und hin auf konkrete politische und gesellschaftliche Probleme. Die Verknüpfung der Themen Extremismus und Flucht, die Fatah dabei vornimmt, ist politisch zweifellos heikel. Sie war dies schon 2008, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans, und sie ist dies erst recht angesichts der aktuellen Debatte um eine propagandistisch so bezeichnete ›Flüchtlingskrise‹, in der nicht nur rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien keine Gelegenheit auslassen, um Angst zu schüren vor Menschen, die in Europa Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen. Aber nicht erst vor diesem Hintergrund kann und muss man sich fragen, welchen politischen Effekt es hat, die Entstehung extremistischer Gewalt anhand entspricht, was hier als ›Abenteuer‹ zu begreifen wäre, nicht den zentralen Bestimmungen eines solchen, weil es weder »aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt« noch auch als Abenteuer erlebt wird (Georg Simmel: »Das Abenteuer«, in Gesamtausgabe, Bd. 14: Hauptprobleme der Philosophie – Philosophische Kultur, hrsg. von Rüdiger Kramme / Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1996, S. 168–185, hier 168). Wie der Held in Fatahs Roman keiner ist, so sind auch seine Erlebnisse keine Abenteuer im eigentlichen Sinn. Wohl aber lässt sich die Geschichte dieses zum Flüchtling gewordenen Helden in mancher Hinsicht als Transformation eines Abenteuerromans beschreiben. Die bedrohlichen Ereignisse finden dabei nicht mehr außerhalb eines ›normalen‹ Lebens statt, sondern strukturieren das Leben und nehmen ihm damit alle Normalität. 16 Für eine Kritik dieser letzteren Variante von Differenzkonsum vgl. Mark Terkessidis, »Globale Kultur in Deutschland oder : Wie unterdrückte Frauen und Kriminelle die Hybridität retten«, in Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, hrsg. von Andreas Hepp / Rainer Winter, Opladen 1999, S. 237–252; Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005.
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der Geschichte eines Flüchtlings zu verhandeln. Literatur ist nicht frei von gesellschaftlicher Verantwortung und die Herstellung entsprechender Assoziationsketten keineswegs harmlos. Heikel ist es insofern auch, Fatahs Roman im Hinblick auf diese Verknüpfung zu diskutieren, und zwar umso mehr, als der Grat, auf dem er sich mit der Konzeption seiner Hauptfigur bewegt, so schmal ist, dass auch die Lektüre unweigerlich zu einer Gratwanderung wird. Einerseits könnte man Fatah vorwerfen, dass er sich durch die Wahl seines Sujets an einem populären Diskurs beteiligt, der junge muslimische Männer als potentielle Terroristen behandelt und, als Pendant zu dem nicht minder populären Diskurs über muslimische Frauen als Opfer patriarchaler Gewalt, eine ganze Bevölkerungsgruppe zu potentiellen Gewalttätern stempelt. Andererseits ließe sich aber auch argumentieren, dass der Roman allzu großes Verständnis aufbringt für einen Protagonisten, der sich an wirklich menschenverachtenden Verbrechen beteiligt, während er dessen Opfer nie richtig in den Blick bekommt. Obwohl diese Einwände nicht von der Hand zu weisen sind, scheint mir Fatahs Anliegen jedoch legitim und seine literarische Vorgehensweise kaum dazu angetan, politischen Verkürzungen Vorschub zu leisten. So deutet nichts darauf hin, dass sich unter den Flüchtlingen, denen Kerim im Asylbewerberheim begegnet, noch andere ehemalige Terroristen befinden. Vor allem aber wirft Das dunkle Schiff die Frage nach der Möglichkeit einer extremistischen Vergangenheit Schutzsuchender und allgemeiner nach dem ›Gepäck‹ der aus einer Welt voller Gewalt und Bedrohung Geflüchteten auf, ohne mit einfachen Antworten aufzuwarten. Das liegt daran, dass Fatah aus der Sicht seines Protagonisten erzählt, anstatt ihn der Erklärung und Beurteilung durch eine überlegene Instanz zu unterwerfen. Und es liegt daran, dass er diesen Protagonisten nicht auf den ›Gotteskrieger‹ reduziert. Fatahs Roman erzählt mehr als nur eine Geschichte. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der auf brutale Weise seinen Vater verliert. Er erzählt die Geschichte eines Extremisten, der sich an grauenvollen Verbrechen beteiligt. Er erzählt die Geschichte eines Flüchtlings, der eine furchtbare Reise zu überstehen hat. Und er erzählt die Geschichte eines Einwanderers, der, in vielem zumindest, von ähnlichen Hoffnungen getrieben ist und mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat wie andere Einwanderer auch. Jede dieser Geschichten wirft andere Fragen auf, und jede verlangt eine andere Reaktion. Indem er sie ineinander verflicht und ihre Verflechtung verwahrt in der Opazität der Hauptfigur, entzieht der Roman jeder einfachen Antwort den Boden. Aber Das dunkle Schiff wirft auch noch eine ganz andere Frage auf als diejenige nach dem Protagonisten. Denn nicht Kerim ist es, von dem, nachdem er in Deutschland eingetroffen ist, die unmittelbare Gefahr ausgeht. Er fungiert nur mehr als Überbringer einer gefährlichen Lehre. Dass diese auf fruchtbaren
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Boden fällt und in Amir einen dankbaren Empfänger findet, verschiebt die Frage nach einer angemessenen Haltung der Einwanderungsgesellschaft. Denn Amir ist kein Neuangekommener, sondern der in Deutschland aufgewachsene Sohn eines Immigranten. Wir erfahren nicht genug über ihn, um wirklich sagen zu können, warum er sich den gewaltbereiten Islamisten anschließt. Was sich aber sagen lässt, ist, dass er sich in der Gesellschaft, in der er lebt, nicht zu Hause fühlt, so wenig beinahe wie der eben erst angekommene Kerim. Warum das so ist, kann man ahnen, wenn man sich dessen Geschichte ansieht. Denn auch wenn beide Fälle anders gelagert sind, scheint es doch nicht ganz unzulässig, vom einen auf den anderen zu schließen. Der Roman gibt auch hier keine Antwort, zumindest keine explizite. Im menschenverachtenden Opportunismus der Schiffsmannschaft, im rassistischen Verhalten der Fischer und im bürokratischen der deutschen Behörden, vor allem aber in der scheiternden Beziehung zu Sonja deutet er aber doch zumindest an, was falsch läuft auf Seiten der Einwanderungsgesellschaft. Und anhand von Kerims Onkel und dessen Freunden deutet er auf die Hilflosigkeit von Einwanderern der ersten Generation im Umgang mit ihren Kindern. Eine moralische Entlastung im Sinn der Behauptung sozialer Determiniertheit ist das freilich nicht. Gerade weil der Roman seinen beiden Protagonisten, die eben nicht als Helden der Hybridität, sondern als labile und orientierungslose junge Männer erscheinen, ein Recht auf Opazität zugesteht, entlässt er sie auch nicht aus der Verantwortung – so wenig wie die Gesellschaft, in der sie leben.
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»Gott, rette mich aus der Leere!« Verlust, Religiosität und Radikalisierung in den Fluchtnarrativen von Abbas Khider und Sherko Fatah
Jeder Flüchtling hat eine Vergangenheit, die von Verlust gekennzeichnet wird. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie in zwei Fluchtnarrativen von Abbas Khider und Sherko Fatah religiös determinierte Reaktionen auf Verlust thematisiert werden. Beide Autoren sind Deutsch-Iraker, deren Romane bereits mehrfach ausgezeichnet wurden, etwa mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil. Die Protagonisten in den Romanen wachsen unter der Diktatur des irakischen Präsidenten Saddam Hussein auf, in einem Land, in dem Krieg ein ständiges Risiko darstellt und oft bittere Realität wird. Aus Angst vor Verfolgung durch den repressiven Staat und durch religiös fundamentalistische Gotteskrieger entscheiden sich Rasul in Khiders Der falsche Inder (2008) bzw. Kerim in Fatahs Das dunkle Schiff (2008) für die Flucht. Die Studie analysiert, wie die Protagonisten verschiedene Formen von Religiosität und Sinngebung beanspruchen, um die von der Flucht ausgelöste räumliche sowie existenzielle Orientierungslosigkeit zu bewältigen. Obwohl die Romane nur sehr oberflächlich auf Religionsinhalte und Traditionen eingehen, reflektieren sie Radikalisierungs- und Säkularisierungstendenzen insbesondere im Zusammenhang mit Flucht und Exil. »Gott, rette mich aus der Leere!«, schreit Rasul während seiner langjährigen Flucht durch Asien, NordAfrika und Süd-Europa. Auch Kerim sucht Gott, vor allem während seiner gesellschaftlichen Isolierung in Deutschland. Die Rhetorik der Gotteskrieger wirkt nicht etwa im Irak, sondern erst dann wirklich überzeugend auf ihn ein, als er sich in Deutschland gegen die westliche Gesellschaft sträubt: ein innerer Radikalisierungsprozess.
Abbas Khider: Der falsche Inder Abbas Khider, geboren 1973 in Bagdad, lebt seit 2000 in Deutschland. Er hat Literaturwissenschaft und Philosophie in Potsdam studiert und lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Im Alter von 19 Jahren wurde Khider wegen po-
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litischer Aktivitäten gegen das Saddam-Regime verhaftet. Nachdem er drei Jahre in irakischer Haft verbrachte, lebte Khider von 1996 bis 1999 als illegaler Flüchtling in Ägypten, Libyen, Tunesien, Italien, der Türkei und Griechenland. Die Protagonisten von Khiders Romanen – Der falsche Inder (2008), Die Orangen des Präsidenten (2011), Brief in die Auberginenrepublik (2013) und Ohrfeige (2016) – sind junge, irakische Männer, die wegen ihrer politischen Tätigkeiten verfolgt werden und entweder im Gefängnis leben oder vor dem Staat flüchten. Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die in Deutschland Exil suchten, fehlen in Khiders Texten »Nostalgie und Trauer über die verlorene Heimat [im] Gefühlsrepertoire seiner Romane«, da Khider »einen freien, friedlichen und toleranten Irak nie gekannt hat«, wie Sigrid Löffler festgestellt hat.1 Der Schriftsteller subvertiert in seinen fiktionalisierten autobiographischen Geschichten dadurch die Staatsmacht, dass er seine Figuren mit autoritativen Instanzen wie der Geheimpolizei, den Gefängniswärtern, dem Präsidenten, oder sogar Gott Spott treiben lässt. Humor funktioniert als Bewältigungsstrategie und als zynische Kritik am politischen System, da sie das Machtverhältnis umkehrt. Annika Jensen und Jutta Müller-Tamm nennen die Vermischung fiktionaler und autobiographischer paratextueller Markierungen im Untertitel (›Roman‹) und Klappentext, aus dem die Ähnlichkeit der Lebensgeschichten des Autors mit der der Hauptfigur hervorgeht, ein gezieltes doppeltes Leseangebot.2 Das Verwirrspiel der Identitäten setzt sich auf formaler und inhaltlicher Ebene der Geschichte fort. Khiders Der falsche Inder besteht aus einer Rahmenerzählung, in der die namenlose Ich-Figur auf einer Zugfahrt das Manuskript eines Rasul Hamid mit dem Titel ›Erinnerungen‹ findet. Rasuls Lebensgeschichten, insbesondere seine Flucht nach Schweden, bilden die Binnenerzählung und den Hauptteil des Romans. Sein Ziel erreicht er jedoch nicht: Er landet und bleibt in Deutschland. Schon der Romantitel Der falsche Inder weist auf eine gestörte Identitätswahrnehmung hin. Rasuls Umgebung glaubt, dass er wegen seiner dunklen Hautfarbe und seines exotischen Äußeren kein richtiger Iraker, sondern ein Inder sei. Außerdem behauptet Rasuls Vater, seine echte Mutter sei eine Zigeunerin, mit der der Vater eine Affäre gehabt hätte, so dass auch Rasuls biologische Herkunft rätselhaft bleibt. Die Flucht durch verschiedene Kulturen und Sprachen führt zu einer räumlichen und temporalen Orientierungslosigkeit, die die Identitätsverwirrung des Protagonisten noch verstärkt: »es ist uner-
1 Sigrid Löffler, Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, München 2014, S. 199. 2 Annika Jensen / Jutta Müller-Tamm, »Echte Wiener und falsche Inder. Strategien und Effekte autofiktionalen Schreibens in der Gegenwartsliteratur«, in Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013, S. 315–328, hier S. 322.
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träglich, dass ich bis heute nicht genau weiß, wer ich wirklich bin.«3 Sowohl am Anfang als auch am Ende des Fluchtnarrativs fragt der junge Mann: »Wo bin ich eigentlich, was mache ich hier? Wo sind die anderen?« (DFI 7, 155) Auch die verschiedenen Namenswechsel und gefälschten Identitätsausweise ändern Rasuls Identität ständig. Er fragt sich deswegen immer wieder : »wer von ihnen ich eigentlich war, und vor allem, wer sie waren.« (DFI 104) Seine Identität bleibt vom Anfang im Irak bis zum Ende in Deutschland instabil. Die Fluidität der Identität zeigt sich auch auf der Ebene der Erzählform. Der Erzähler nennt seine Geschichten »ungeordnete und diffuse Erzählfetzen […] ohne Raum, Zeit und Handlung.« (DFI 26) Der fragmentarische Charakter der Geschichte lässt sich durch die Unvollständigkeit der Erinnerungen erklären. Rasuls Schreibprozess entwickelt sich in drei Phasen, einer expressiven, einer engagierten und einer selbstreflexiven. Anfänglich bedeutet das Schreiben ein Mittel zum Ausdruck der eigenen Gefühle. Unter dem Einfluss eines idealistischen Weltbilds wird das Schreiben bald ein politisches und soziales Instrument, um die Welt zu ändern. Am Ende befriedigt es das Bedürfnis nach Selbstreflektion und Selbstverständnis. In der dritten und letzten Phase dominiert der Blick nach innen, was direkt in Rasuls Handlungen zum Ausdruck kommt. Er zieht sich zurück: er schließt die Tür, blendet die Außenwelt aus und »tauchte in [s]ich hinein«. Das Geschriebene kreiert durch die neuen Perspektiven, die mit der Erzählung seiner Lebensgeschichte zusammenhängen, eine neue Welt, in der neue Erkenntnisse möglich werden. In Der falsche Inder wird Schreiben mit verschiedenen Formen von Verlust verbunden, die für das Schicksal eines Flüchtlings symptomatisch sind. Der Protagonist verliert seine Heimat, seine Familie, seine Freiheit sowie seine Tagebücher und Notizen während der Flucht. Letztendlich bildet der Verlust des Manuskripts ›Erinnerungen‹ den Anlass für das Erzählen der Geschichte. Rasul verliert seine identitätsstiftenden Geschichten, doch gerade dadurch bekommen wir als Leser Zugang zu seiner Lebenserzählung. In Übereinstimmung mit der Idee, dass Schreiben ein Mittel gegen die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens ist, wird Rasul durch einen fast pathologischen »Schreibtrieb« (DFI 52) gekennzeichnet.4 Der junge Iraker führt seine schlechten Gewohnheiten, die schwer mit der islamischen Glaubenspraxis (fiqh) zu vereinigen sind, selbst ein. Er erzählt, wie er exzessiv Alkohol trinkt und Tabak raucht, freie sexuelle Beziehungen mit mehreren Frauen hat, und mehrmals Diebstahl begeht. Die Inkompatibilität von Lebensstil und religiösen Sitten und Bräuchen wird auch auf sozialer Ebene 3 Abbas Khider, Der falsche Inder. Roman, Hamburg 2013, S. 22. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Siegle DFI auf diese Ausgabe. 4 Der Text spricht von »jene[m] unbeschreibliche[n] Zittern und Beben in jedem Teil meines Körpers« (DFI 42), »mein Herz begann schneller zu schlagen« (DFI 49), »[i]ch schrieb wie besessen« (DFI 52).
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wiedergegeben: Inzest, Drogenhandel, Caf8s, die nachts heimlich Pornofilme zeigen, und voreheliche sexuelle Beziehungen zeigen die doppelte Moral, die als Folge der sozialen Überwachung in den islamischen Ländern herrscht. Als Rasul später in Deutschland landet, empfindet er eine andere Form gesellschaftlicher Kontrolle. Die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York bedeuteten nicht nur einen historischen Wendepunkt in der Weltpolitik, sondern setzten auch eine öffentliche Debatte über Migration und über den Islam und seine Position im Westen in Gang. Die darauffolgenden islamistisch inspirierten Gewalttaten und Selbstmordattentate in andern Ländern führten verstärkt zu Angst und sozialer Polarisierung. In Der falsche Inder führt der Protagonist das Thema an: »Viele Leute hier [in Deutschland] hatten einfach nur Angst vor mir. […] Es begann mit dem 11. September 2001. Den in Europa lebenden Arabern verging nach diesem Tag das Lachen.« (DFI 22) Als nach der Irak-Invasion in Kuwait das Embargo gegen den Irak verhängt wird, erscheint Rasul sein Dasein zunehmend aussichtslos. In seiner Heimat fühlt er »nur ein großes Nichts, und das überall« (DFI 71), was ihn dazu bewegt, das Land zu verlassen. Zahlreiche Rückschläge während seiner Flucht rufen eine immer weiter größer werdende Verzweiflung hervor. Jeder Absatz schließt mit der expliziten und wiederholten Anrufung an Gott: »Gott, rette mich aus der Leere!« (DFI 72, 73, 80, 82, 83, 88) Da eine Antwort ausbleibt, wird die Zuhörerschaft Gottes in Frage gestellt: »Ich schlief und dachte an mein Bittgebet, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, Gott könne mich nicht hören oder wolle es nicht: ›Was ist bloß mit ihm los!‹ Trotzdem begann ich leise zu beten.« (DFI 82) Der Zweifel in Bezug auf die Fähigkeit (»könne«) sowie die Bereitschaft (»wolle«) Gottes, das Gebet zu hören, widerspricht dem Bild eines allwissenden, allmächtigen und barmherzigen Gottes. Trotz seiner Unsicherheit und seiner Verzweiflung betet Rasul weiterhin. Das Schweigen Gottes zeigt eine vage Parallele zur Geschichte Hiobs aus dem Alten Testament, die auch im Koran mehrmals erwähnt wird. Da Hiob (Ayyoub auf Arabisch) im Islam als Prophet bezeichnet wird, eröffnet sich eine weitere Parallele zu Rasul, was auf Arabisch ›Botschafter‹ und in der islamischen Tradition auch ›Prophet‹ bedeutet. Anders als bei Hiob fehlen hier jedoch die längeren, leidenschaftlichen Monologe und bekämpft Rasul seine Irritation über die gescheiterten Dialoge mit Humor. Als er mit der sexuellen Ausbeutung von Frauen durch Menschenschmuggler konfrontiert wird, erreicht er die Grenze seiner Geduld: »Jetzt braucht wohl Gott meine rettende Hilfe! dachte ich. Warum bewegt Er Seinen Arsch nicht vom Himmel herunter? Ich verspürte einen tiefen Hass gegen Ihn.« (DFI 87) Das Machtverhältnis zwischen Gott und Mensch wird umgekehrt. Im Gegensatz zum vorigen Zitat werden das Personalpronomen »Er« und das Possessivpronomen »Seinen« in Großbuchstaben geschrieben, was innerhalb des Kontextes der blasphemischen Aussagen gegen den anthropomorphisierten Gott eher als
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Sarkasmus interpretiert werden muss. Der emotionale Ausbruch geht letztendlich in Niedergeschlagenheit über : »Ich schaute in den hellen Himmel und flüsterte leise: ›Gott, wo bist Du eigentlich? Bist du schon verloren gegangen?‹« (DFI 91) Im Mittelpunkt steht hier wiederum die Abwesenheit Gottes, aber diesmal wird sie als eine Möglichkeit der Abwendung Gottes von den Menschen dargestellt. Während im fünften Kapitel die Absätze mit Rasuls Aufruf an Gott, ihn aus der Leere zu retten, enden, beginnen sie im sechsten mit den Worten »Ich schwöre« (DFI 100, 102, 106, 113, 118, 121). Die Hauptfigur erzählt über wunderbare Ereignisse während seiner Flucht und schließt mit folgender Aussage: Ich glaube an Wunder. An diese seltsamen Einmaligkeiten, auf die einfach kein anderer Begriff passt. Es ist eine Art Geheimnis des Lebens. Diese Wunder haben viel gemeinsam mit Zufällen. Aber ich kann sie auch nicht als Zufälle bezeichnen, weil ein Zufall nicht mehrmals passiert. Ein Zufall ist nur ein Zufall, so banal das auch klingen mag. Man kann von einem oder höchstens zwei großen Zufallen im Leben sprechen, aber nicht von solchen Mengen an Zufällen. Es gibt also Ereignisse, die Wunder sind, aber keine Zufälle – so erlaube ich mir zu formulieren, ohne der aristotelischen Logik zu folgen. Ich bin kein abergläubischer Mensch und glaube nicht an Überirdisches und Unterirdisches. Ich habe im Laufe meines Lebens sozusagen meine eigene Glaubensrichtung entwickelt, und zwar eine, die ausschließlich zu mir passt. Absolut individuell. (DFI 100)
Das stark religiös aufgeladene Konzept des Wunders unterscheidet sich insofern vom Zufall, dass ein Wunder die intendierte Einwirkung einer übermenschlichen Kraft impliziert. Aus diesem Anlass erlaubt die islamische Prädestinationslehre den Glauben an Zufall nicht, da es die Existenz eines allmächtigen Gottes in Frage stellt. Rasul hat also seine »eigene Glaubensrichtung« entwickelt, die sich innerhalb der islamischen Logik doch einen eigenen Platz sucht. Diese Privatisierung der Religion ist ein interkonfessionelles Phänomen der Postmoderne, in der das individuelle Erlebnis der Religion häufig wichtiger wird als kollektive Formen von Verehrung.5 Der Protagonist hat seine eigene Religion, die »ausschließlich zu [ihm] passt« und »[a]bsolut individuell« ist, erfunden. Dass diese Privatisierung des Religiösen unter Aufgabe der kulturellen und sozialen Funktionen einer religiösen Gemeinschaft, die das Dogmatische als Kitt benötigt, wegen seiner Überkomplexität in schwierigen Zeiten dialektisch zum Gegenteil, nämlich zur radikalen Unterwerfung unter eine religiöse Doktrin führen kann, die dem Individuum die Last der reflektierten Selbstbestimmung abnimmt, zeigt hingegen der folgende Roman.
5 Vgl. Hugh McLeod, Religion and the People of Western Europe 1789–1989, Oxford 1997.
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Sherko Fatah: Das dunkle Schiff Der Schriftsteller Sherko Fatah, geboren 1964 in Berlin, wuchs als Sohn eines kurdisch-irakischen Vaters und einer deutschen Mutter im damaligen OstBerlin, im kurdischen Irak und in Wien auf. Als junger Mann kehrte er nach Berlin zurück, wo er ein Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte begann. Seit 2001 hat Fatah sechs Romane veröffentlicht. Seine Geschichten spielen in den kurdischen Grenzgebieten und behandeln Themen wie Gewalt, Religion und Krieg. Im Vergleich zu seinen anderen Romanen bekam Das dunkle Schiff (2008), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, in der Forschung einige Aufmerksamkeit.6 Der Roman behandelt zuerst die Entwicklung des Protagonisten Kerim vom Kind zum Erwachsenen in Bagdad vor dem Hintergrund des repressiven Regimes von Saddam Hussein. Als sein Vater von zwei Geheimdienstagenten ermordet wird, tritt Kerim im zweiten Kapitel gezwungenermaßen als Familienoberhaupt auf. Inzwischen wird das Land weiter destabilisiert und gerät 2003 infolge der Militärinvasion letztendlich in einen Bürgerkrieg. Auf dem Weg zu seinem Großvater wird Kerim von einer Gruppe militanter Islamisten entführt und in die nordirakischen Berge gebracht, wo er zum Selbstmordattentäter geschult wird. Nach einiger Zeit gelingt es ihm, den Gotteskriegern zu entfliehen und in einem Frachtschiff illegal nach Europa zu gelangen. Im dritten Kapitel wird die Geschichte der Flucht erzählt, während sich im vierten Kapitel der Handlungsort ändert: Der junge Mann kommt in Deutschland an und empfindet Schwierigkeiten, in seiner neuen Umgebung heimisch zu werden. Kerim greift hier auf den Islam als Orientierung und als soziales Bindemittel zurück. Schon am Anfang der Geschichte wird Kerims Verhältnis zur islamischen Religion und Gemeinschaft als problematisch dargestellt: Es war das Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören. In seiner Kindheit beneidete Kerim seine Mitschüler um ihre religiösen Rituale. […] Viel später erst begriff Kerim, wieviel Geschick sein Vater darauf verwandte, niemanden merken zu lassen, was er in seinem Herzen wirklich war : ein Mann ohne Glauben. […] Er lebte für seine Familie 6 Vgl. Petra Fachinger, »Fatal (In)Tolernace?: The Portrayal of Radical Islamists in Recent German Literature and Film«, in Seminar, Jg. 47 (2011), Heft 5, S. 646–660; Carsten Gansel, »Von der Primärerfahrung zur medialen Konstruktion? ›Soldatische Opfernarrativ‹, 9/11 und Terrorismusdarstellung in der deutschen (Gegenwarts)Literatur«. In: Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich, hrsg. von Ursula Hennigfeld. Heidelberg 2014, S. 159–178; Carsten Gansel, »›Der Tod ist ein Geschenk‹ – Störungen in der Adoleszenz und terroristische Selbstmordattentate in der deutschsprachigen Literatur«, in Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, hrsg. von Carsten Gansel / Heinrich Kaulen. Göttingen 2011, S. 9–12; Heide Reinhäckel, Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2012; Michael Hofmann, Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft, Darmstadt 2015.
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und sein Geschäft, alles Höhere war ihm fremd. Als Kerim mit etwa sechs Jahren in einer Ecke neben der Küche zu beten begann, ganz so, wie er es bei anderen gesehen hatte, tat er es, ohne zu wissen, was man dabei sagt und wie oft man sich zu verneigen hat. Sein Vater kam nach ihm sehen und beendete das Ganze wie ein dummes Kinderspiel, weil er ihn in der Küche brauchte.7
Das Zitat zeigt, wie soziale Inklusion und Exklusion von der Religion abhängig sind. Traditionen und Rituale »vermitteln Sicherheit und Vertrauen, und sie verhindern […] Vereinzelung«8, was den Neid Kerims seinen Altersgenossen gegenüber erklärt. Aus Sehnsucht nach Zugehörigkeit versucht er als Kind das Gebetsritual nachzuahmen, wird jedoch von seinem Vater unterbrochen und beschimpft. Der Erzähler lässt schon ahnen (»Viel später«), dass Kerim an einem späteren Zeitpunkt die Fassade, die sein Vater unter sozialem Druck für die Außenwelt gebaut hat, durchschaut. Als der junge Mann am Ende des Romans das Gefühl der Einheit während des Gebets beschreibt, sagt er tatsächlich: »Mein Vater hat das nie verstanden. Er war ein Mann ohne wirklichen Glauben.« (DDS 376) Gerade das Fehlen familiär vermittelter Glaubenstraditionen hat also dazu beigetragen, dass der Protagonist bei den Gotteskriegern findet, was er schon sein ganzes Leben sucht: soziale Zugehörigkeit und eine gerichtete Form für das Ausleben spiritueller Bedürfnisse. Die Brüderlichkeit und die Solidarität unter den jungen Männern üben eine starke Anziehungskraft auf Kerim aus. Der charismatische ›Lehrer‹, dessen Namenlosigkeit zu seinem mysteriösen Charakter beiträgt, spielt eine fundamentale Rolle für die Kohäsion und Orientierung der Gruppe: »Alles hing von ihm ab, solange er da war, blieb ihr Weg sichtbar.« (DDS 135) Die zweite männliche Leitfigur in der Gruppe ist der Truppenanführer Mukhtar, der wegen seines exzessiv gewalttätigen Benehmens jedoch nicht dieselbe Wirkung auf Kerim hat. Der Lehrer und Mukhtar vertreten die militärische beziehungsweise die spirituelle Autorität im Kampf. Für die jungen Männer im Lager, und insbesondere für Kerim, dessen Verhältnis zu seinem Vater mehr auf Respekt und Pflichtgefühl als auf elterlicher Liebe basiert, spielt der Lehrer eine väterliche Rolle. Kerim »liebte […] ihn wie einen fernen Vater.« (DDS 135) Der Lehrer spricht die Gruppe auf eine Art und Weise an, die ihm Respekt und Sympathie einbringt: »Nicht einmal sein Vater hatte je so zu ihm gesprochen wie der Lehrer.« (DDS 380) Doch letztendlich treiben die schrecklichen Gewalttaten gegen schiitische Bürger in den irakischen Dörfern sowie die Angst vor dem Selbstmordattentat Kerim dazu, aus dem Lager der Gotteskrieger und schließlich ganz aus dem Irak zu fliehen. 7 Sherko Fatah, Das dunkle Schiff. Roman. Salzburg / Wien 2008, S. 18. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle DDS auf diese Ausgabe. 8 Vgl. Christiane Brosius et al., »Ritualforschung heute – ein Überblick«, in Ritual und Ritualdynamik, hrsg. von Christiane Brosius et al. Göttingen 2013, S. 9–24.
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Das dritte Kapitel beginnt in medias res mit sinnlichen Eindrücken (»Geräusche«, »Luft«, »Aussicht«; DDS 189) im Frachtraum eines Schiffes. Der fehlende Übergang zwischen der Entscheidung, die illegale Überfahrt nach Europa mit Deutschland als Endziel zu machen, und deren effektiver Ausführung repräsentiert die temporale und räumliche Desorientierung des Protagonisten. In der lebensbedrohlichen Situation, in der die Hauptfigur sich jetzt als Flüchtling befindet, wendet er sich zu Gott: »Was geschieht, wenn er uns findet?«, fragte Kerim. »Sie werfen euch über Bord.« »Wo ist Osten?« »Was?« »Zeig mir, wo Osten ist«, sagte Kerim. (DDS 220)
Der Osten ist die Kibla, die Gebetsrichtung, hier liegt die Heilige Stadt Mekka und hierhin verneigen sich Muslime während des täglichen Ritualgebets. Etwas später schaltete er die Taschenlampe ein. Er wollte eine Stelle in Richtung Osten finden. Tony blickte müde, beinahe apathisch zu ihm herüber. »Was tust du?«, fragte er leise. Kerim wusste bereits, dass diese Frage einem Reflex gleichkam und eigentlich nicht beantwortet werden musste. Er fand die Stelle, richtete sich danach aus. Dann schaltete er das Licht ab und begann zu beten. Die Vertrautheit dieser Verrichtung gab ihm die Ruhe zurück. Es kümmerte ihn nicht mehr, wo er war, die Dunkelheit und das fortwahrende Schaukeln verloren ihren Schrecken. Er erhob sich und kniete nieder, er sprach hörbar und schloß auch all seine Furcht in das Gebet mit ein. Als er fertig war, fühlte er sich stark genug für das, was vor ihm liegen mochte. Alles konnte hinter jener Tür lauern, vielleicht sogar der Tod. (DDS 222–223)
Dass das Licht gerade während des Gebets ausgeht, kehrt die religiöse Lichtsymbolik um. Dies verstärkt den Kontrast zwischen der heiklen Situation und dem Gefühl von Schutz und Verbundenheit mit Gott, das Ritual der Verneigung, die Unterwerfung unter Gottes Macht, verleiht Kerim »Vertrautheit«, »Ruhe« und Stärke. Die Unterwerfungsgeste repräsentiert das Gegenteil der individuellen Religiosität, die Rasul in Der falsche Inder auslebt; gerade aus dem selbstverständlichen Einreihen in die Glaubenspraxis der meisten Muslime (dem Afrikaner Tony erklärt er nicht einmal, was er tut) resultiert die Beruhigung. Bei den Gotteskriegern war Kerim einer Religionsindoktrination ausgesetzt, die einen orthodoxen und gewalttätigen Islam propagierte. Diese religiöse Gehirnwäsche erwacht jedoch erst in Berlin und wird dort stärker als in den nordirakischen Bergen. Bei der Begegnung mit muslimischen Jugendlichen in Deutschland erzählt Kerim sehr lebendig über die gewalttätige Dschihadlehre, die er kennengelernt hat: »Und als er einmal begonnen hatte, sprudelte es aus ihm heraus, er war selbst erstaunt darüber, wie präsent ihm all jene Gedanken
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und Ereignisse noch waren.« (DDS 346) Das mühsame Asylverfahren und die distanzierte Beziehung mit seiner Freundin Sonja indizieren eine gescheiterte Verortung in der neuen Heimat. Durch eine Neuorientierung an der Religion kann die Entfremdung überwunden werden. Er greift auf den Islam als Umma zurück, als Gemeinschaft, die eine transnationale Identitätsverankerung ermöglicht. In Berlin besucht Kerim ausgerechnet eine Moschee, in der radikalislamistische Ansichten gepredigt werden. Michael Hofmann geht davon aus, dass »in den Lehren des fundamentalistischen Islam eine Befreiung aus den Problemen von Desorientierung und innerer Isolation«9 für den Protagonisten möglich sei. Wenn Kerim sich einsam fühlt oder in einen inneren Konflikt gerät, erinnert er sich an die Worte des Lehrers: »Allein in der Wohnung, hatte er seine Erinnerungen und die Gedanken seines Lehrers unaufhörlich in sich wachgerufen, hatte sich an ihnen berauscht.« (DDS 323) Die Analepsen folgen unmittelbar auf Kerims innere Monologe voller Selbstzweifel. War dieser ewige Kampf nicht der Kern genau jener trübseligen Freiheit, von der sein Lehrer manchmal gesprochen hatte, jener Freiheit, die einsam macht und auch ebendiesen Zweck hat, die Menschen voneinander zu lösen, sie von der Einheit zu trennen, auf dass sie ihr Leben lang durch den leeren Raum irren? Kerim erinnerte sich genau an seine Worte: »[…] Es geht immer um das Geld, glaube mir, sie sind davon besessen. Es macht sie kalt und hart, und doch ist es das einzige, woran sie wirklich glauben.« (DDS 382–383)
Die Anerkennung Gottes als Einheit ist die Grundlage des monotheistischen Glaubens. Im Islam ist tawhid (Arabisch für ›zum Einen machen‹) die erste und die wichtigste der fünf Säulen. Dem Lehrer zufolge impliziert Freiheit eine Trennung von der göttlichen Einheit, die letztendlich eine Desorientierung im »leeren Raum« zur Folge hat. Die Kritik an einer obsessiven, als religionsartig dargestellten Beschäftigung mit Geld im Westen, die erst zur (Freiheit genannten) Vereinzelung führe, funktioniert im Rahmen einer antikapitalistischen Rhetorik, die an die linkextremistische Gruppe der Roten Armee Fraktion erinnert. Carsten Gansel stellt fest: »Für die Jugend- und Subkulturen der 1980er Jahre bildet die RAF einen positiven Bezugspunkt. Die Referenz auf den RAFTerrorismus funktionierte im Sinne einer provokanten Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft.«10 Die Popularisierung der Idee des militärischen Dschihads durch einige islamistische Terrorgruppen funktioniert ebenfalls als Mittel der Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft.11 Die soziokulturellen 9 Hofmann, Einführung in die interkulturelle Literatur, S. 128. 10 Gansel, »Der Tod ist ein Geschenk«, S. 258. 11 Die Anziehungskraft islamistischer Terrorgruppen wird durch die Ausreise junger Muslime aus Europa nach Irak und Syrien deutlich. Laut dem aktuellen Bericht des unabhängigen Think Tanks International Centre for Counter Terrorism (April 2016) ließen sich allein in
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Prozesse ähneln sich. Dies zeigt Das dunkle Schiff anhand Amirs, eines jungen palästinisch-deutschen Mannes, der an kriminellen Aktivitäten beteiligt ist. Mit einer Gruppe Gleichaltriger verbringt Amir seine Freizeit in einem Internetcaf8, wo er sich Propagandaseiten und -filme der irakischen Gotteskrieger anschaut. Als Kerim diese Bilder sieht, kommen seine Erinnerungen auf synästhetische Weise wieder hoch: »[D]er Geruch und der Geschmack des Sandes im Camp, das ferne Befehlsgeschrei und über allem der Brandgeruch naher Gefahr« (DDS 336) tauchen wieder auf. Amirs ursprüngliche »Neugier« (DDS 319) und »Zuneigung« zu Kerim entwickeln sich jedoch zu einer »Enttäuschung und Verachtung« (DDS 436), nachdem er vom Verrat Kerims an den Gotteskriegern erfährt. Letztendlich bekommt er von radikalen Islamisten, die Beziehungen mit den irakischen Militanten haben, die Aufgabe, Kerim zu ermorden. Kerim ist Opfer der Umstände, aber auch nicht frei von Schuld.12 Wie Heinrich Kaulen es formuliert, überzeugt »Sherko Fatahs Entwicklungsroman […] gerade deshalb, weil er nicht mit dem simplifizierenden Konstrukt stabiler Gegnerschaften und Weltbilder in antithetischen und eindeutig voneinander abzugrenzenden Kulturräumen operiert.«13 Die folgende Textstelle zeigt vielmehr deutlich, dass gerade die Polarisierung essentialistischer Weltbilder die Absicht der Lehre in den irakischen Lagern ist. Wie lange wollt ihr das ertragen? Wie lange sollen wir im Dreck kriechen, den die Zionisten über uns ausschütten? Sie hassen uns. Sie sind Rassisten. Sie verachten uns, weil wir keine modernen Flugzeuge und Panzer haben. Und immer wieder werden sie uns das spüren lassen. Wie oft müssen sie uns bombardieren, wie oft werden sie unsere korrupten Regierungen kaufen, wie viele unserer Brüder werden sie noch töten, bis endlich jeder Gläubige begreift, dass in jedem von ihnen er selbst stirbt? Wie lange wollt ihr euch vertrösten lassen mit den leeren Versprechungen des Westens? Ihr werdet niemals, niemals glücklich sein ohne Gott. (DDS 148)
Der anti-imperialistische Diskurs, bei dem die Gegensätze zwischen ›wir‹ und ›sie‹ ständig wiederholt werden, führt zu einer Polarisierung zwischen dem von der Außenwelt isolierten Lager der Gotteskrieger einerseits und dem Westen andererseits. Das ›Wir‹ ist dabei auf materieller und wirtschaftlicher Ebene unterlegen, besitzt jedoch eine moralische Superiorität. Eine solche Haltung ist kennzeichnend für den Salafismus, eine puritanische Strömung innerhalb des sunnitischen Islams, die nach einem geistigen Leben wie zu Zeiten des ProDeutschland bereits mehr als 700 Jugendliche von der Märtyrerromantik und vom bewaffneten Dschihad von Islamischer Staat (IS) locken. 12 Fachinger, »Fatal (In)Tolerance?«, S. 652. 13 Heinrich Kaulen, »Heilige Krieger. Fundamentalistische Gewalt im Spiegel der Gegenwartsliteratur«, in Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, hrsg. von Carsten Gansel / Heinrich Kaulen. Göttingen 2011, S. 273.
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pheten Mohammed strebt und alle Formen von Modernisierung zurückweist.14 Die aufhetzende Rhetorik schreibt dem Westen nicht nur Hass, Verachtung und Rassismus zu, sondern bezichtigt ihn wegen ihrer »leeren Versprechungen« auch der Unglaubwürdigkeit und der Unzuverlässigkeit. Außerdem impliziert der letzte Satz die Annahme, dass der Westen gottlos sei, was die Idee eines Kampfes gegen die Ungläubigen verstärkt und eine unterkomplexe, aber wirkungsvolle theologische Legitimation des Krieges bedeutet. Kerims Beziehung zum Koran entwickelt sich im Verlauf der Geschichte von einem Buch, »das er von seinen wenigen Koranstunden her kannte« (DDS 30), zu seiner »Nahrung« (DDS 306). Obwohl das Buch eine immer bedeutendere Funktion einnimmt, bleibt Kerims problematisches Verständnis ebenso konstant wie seine nur oberflächlichen Inhaltskenntnisse des Korans. Wo der Protagonist als Kind »nur die arabischen Schriftzeichen« und »den Klang« (DDS 30) kennen lernte, erhebt sich später die Frage nach dem menschlichen Erfassungsvermögen göttlicher Aussagen. Die als innerer Monolog dargestellte Vertiefung in den Koran im folgenden Zitat belegt die These, dass in Kerim ein innerer Kampf über das Begriffsvermögen tobt: Er hielt das heilige Buch auf dem Schoß. Wie konnte man, so fragte er sich seit einer Stunde, die Worte noch heute so einfach verstehen? Es sind heilige Worte, dachte er sofort. Aber andererseits war der Prophet ein Auserwählter, ein Mann, der in Verbindung zum Allmächtigen stand. Vielleicht kann ich, ein einfacher Mensch, seine Worte nicht richtig verstehen. […] Stand nicht, wie der Lehrer gesagt hatte, wirklich alles, was man wissen musste, dort vor ihm auf dem Papier? Fragen halfen in der Tat nicht, sie führten nicht näher an die gedruckten Worte. Kerim senkte den Kopf über das Buch und sah die Textur des Papiers in der Druckerschwarze, der Papiergeruch stieg ihm in die Nase. Doch wenn nicht ein kleiner Teil des höheren Wissens, welches den Propheten erleuchtete, auch in uns wäre, wie könnten wir dann seine Worte überhaupt verstehen, wie hätten wir dann noch eine Ahnung vom Glauben? Und ist es nicht folgerichtig, dass jemand wie der Lehrer, der sich bemühte, sein Leben und sein Denken nach den Vorgaben des Propheten auszurichten, auch jenem höheren Wissen näher ist als ein normaler Gläubiger, gar nicht zu reden von den Ungläubigen? (DDS 379–380)
Im Mittelpunkt steht die Verständnisfrage über die Bedeutung der Worte Gottes, auf die Kerim zu antworten versucht, da er glaubt, dass ein »Teil des höheren Wissens in uns« lebt. Gott existiert mit anderen Worten nicht nur im Koran, sondern auch in den Menschen, desto mehr in den Gläubigen, die sich völlig der Religion widmen. Der Lehrer gilt dabei als Musterbeispiel und als den »normale[n] Gläubige[n]« und »Ungläubigen« überlegen. Dass mehrmals direkt und indirekt auf den Lehrer verwiesen wird, repräsentiert die verzögerte Wirkung 14 Vgl. Werner Ende / Pessah Shinar, Salafiyya, in The Encyclopaedia of Islam. Second Edition; Bd. 8, hrsg. von Peri J. Bearman et al., Leiden 1995, S. 900–909.
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der ideologischen Gehirnwäsche. So sind die rhetorischen Fragen, die in den Reden des Lehrers als Taktik ideologischer Rechtfertigung galten, nun im inneren Monolog Kerims zu finden. Kennzeichnend für religiöse Indoktrination ist die Abwehr gegen kritische Haltungen und Informationen von außen. »Gehst du eigentlich in die Moschee?« Auf diese Frage war Kerim nicht gefasst und schüttelte rasch den Kopf. »Warum nicht? Glaubst du nicht an Gott?« Amir sprach langsam und behielt das Gesicht des anderen im Auge. Kerim zögerte, sein Blick irrte durch den Raum. Amir wusste, dass er die richtige Tür gefunden hatte. »Du glaubst also an Gott. Und warum betest du dann nicht?« »Ich bete jeden Tag«, sagte Kerim. Es klang empört. »Wirklich?« Kerim hatte ein schlechtes Gewissen bei dieser Frage, und er wusste zu alledem, dass er es nicht verbergen konnte. Er dachte nach, klammerte sich schließlich an den Gedanken, die neue Freiheit habe ihn etwas aus der Bahn geworfen. Nur deshalb hatte er sein Gebet manchmal vernachlässigt, weil er in der Fremde war. Natürlich wusste er, dass dies keine Entschuldigung sein konnte, doch wollte er nicht jetzt, unter dem aufmerksamen Blick Amirs darüber nachdenken. »Ich will nicht darüber reden«, sagte er kurz. (DDS 334)
Die Frage Amirs überrascht Kerim dermaßen, dass er zögert. Er schüttelt den Kopf, schweigt und blickt im Zimmer umher. Die Stille nach der Frage über seinen Glauben interpretiert Amir als eine Bestätigung. Als er nach seiner Gebetspraxis gefragt wird, ändert Kerim seine Haltung und schaltet von Scham und Schuldgefühl auf Empörung. Er lügt und antwortet, was von ihm als Muslim erwartet wird. Amirs Haltung zur religiösen Praxis impliziert eine enge Korrelation zwischen dem Glauben an Gott, dem täglichen Ritualgebet und häufigem Moscheebesuch. Dass Kerim das Gespräch rasch beendet, weil er nicht über die Sünde der Vernachlässigung des Gebets reflektieren will, macht ihn umso verdächtiger. Der Versuch, seine neue Situation »in der Fremde« als Entschuldigung für sein Benehmen einzuführen, scheitert, da er die Vernachlässigung Gottes nicht theologisch rechtfertigen kann. In dem Moment, als Kerim tatsächlich wieder in die Moschee geht, erkennt er dort zu seinem Schrecken einen der Gotteskrieger aus dem Irak wieder. Gerade in dem Moment des symbolischen Wiederfindens seiner Religion in einer Moschee, wo er sich nicht wie »der Neuling in einer fremden Gemeinde« (DDS 408) fühlt, wird Kerim von den Gotteskriegern eingeholt: Am Schluss ermordet Amir im Auftrag der irakischen Dschihadisten Kerim, den er als »Verräter« (DDS 443) beschimpft.
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Schlussfolgerung Abbas Khider und Sherko Fatah haben zwei sehr unterschiedliche Fluchtnarrative geschaffen. Dass sie unterschiedliche Gründe für und Arten von Flucht mit der Dimension der Religiosität verbinden, hebt die Bücher heraus. Während Rasuls Flucht in Der falsche Inder einige Jahren dauert und den Großteil des Romans umfasst, interessiert in Das dunkle Schiff vor allem Kerims Entwicklung im Exil Deutschland. In beiden Romanen steigert sich das Bedürfnis nach Religiosität in jenen Momenten, in denen die Figuren sich bedroht oder verloren fühlen. Die existenzielle sowie die räumliche und temporale Orientierungslosigkeit, die durch die Flucht ausgelöst wird, führen zu unterschiedlichen Annäherungen an Gott. Als Rasul während der jahrelangen Flucht durch verschiedene Länder von schweren Schicksalsschlägen getroffen wird, sucht er Gott, aber findet ihn nicht. Seine Enttäuschung über den gescheiterten Dialog mit Gott wird letztendlich produktiv, indem die Figur sich ihre »eigene Glaubensrichtung« (DFI 100) entwickelt. In Das dunkle Schiff spielt der Islam eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Identitätsentwicklung der Hauptfigur als Individuum sowie als Mitglied einer sozialen Gruppe. Die verspätete Wirkung der religiösen Indoktrination, der Kerim bei den Gotteskriegern unterzogen wird, führt zu einer Radikalisierung. Die Neuorientierung zu einem radikalen Islam in Deutschland ist die Folge einer gescheiterten Verortung in der neuen Heimat. Um eine individuelle und reflektierte Spielart der religiösen Optionen zu finden, die der Islam bereitstellt, ohne dabei in radikale Gruppen abzurutschen, die mit einfachen Antworten auf komplexe Zusammenhänge reagieren, muss – das zeigt Rasul gerade in Gegenüberstellung mit Kerim – wenigstens ein geringes Identifizierungsangebot in (oder gar mit) der neuen Heimat gegeben sein.
Stefan Alker
Umgekehrte Vorzeichen. Flucht und Flüchtlinge in Klaus Oppitz’ Auswandertag
Klaus Oppitz’ Roman Auswandertag ist eine untypische Fluchterzählung. Fernab von eigener biographischer Betroffenheit oder der einfühlsamen Schilderung ankommender Flüchtlinge und der Reaktionen Betroffener entwirft er ein Gedankenexperiment als dystopische Konstruktion: Was passiert, wenn die Zustände im eigenen Land sich dahingehend ändern, dass Flucht nötig wird, was bewirken veränderte Voraussetzungen bei wem auf welche Weise? Die Perspektive aus und um den Wiener Gemeindebau, wie der Roman sie entwirft, zeigt die Fluchterzählung unter umgekehrten Vorzeichen: Hier kommt der Flüchtling nicht von außen; er erklärt nicht von außen (bzw. nach außen), wie es zur Flucht kam und was geschehen ist; hier wird die ganze Sache konsequent aus einer als ›eigene‹ entworfenen Gemeindebauperspektive durchgespielt. So ergibt sich, gemeinsam mit einem auf das österreichische Lesepublikum gemünzten Identifikationspotenzial (könnten das wir sein? und warum nicht?) auch eine andere Art des Verständlichmachens von Flucht. Doch bei diesem aufklärerischen Dreh sozialkritischer Literatur lässt es der Text nicht bewenden, beleuchtet er doch mit denselben Mitteln auch die Entstehung von religiösem Fundamentalismus durch und in Parallelgesellschaften, Verbrechen von Immigranten und das völlige Ausbleiben von Integration und Kontaktaufnahme. Der Text markiert eine bestimmte Position im aktuellen Diskurs über Flüchtlinge, der über die Beschäftigung mit einzelnen Schicksalen hinaus vermehrt die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik und Flucht sowie die Verantwortung der Politik und des Aufnahmelandes thematisiert. Er tut das, indem er die Erzählung vollständig den ihrerseits recht beschränkten Perspektiven seiner Protagonisten unterwirft.
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Handlung, Erzählweise und Autor(en) »Unsere Reise, das war auf einmal eine Flucht«1 – was Familienvater Fabian Putschek angesichts von Schwierigkeiten beim Grenzübertritt erkennt, markiert den Roman Auswandertag offensichtlich als Erzählung einer Flucht. Zugleich wird der besondere Charakter dieser Flucht offenbar : Es ist die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, eine mit einem ›Eisernen Vorhang‹ gesicherte EU-Außengrenze, die Richtung Ungarn und damit in die EU überquert werden soll. Es handelt sich nicht nur um eine fiktive Fluchterzählung, sondern auch um eine kontrafaktische und dystopische Satire, die in vielen Details eine zur Flucht unter umgekehrten Vorzeichen mutierende Auswanderung schildert, um sich an den Gründen und Mechanismen von Flucht im Allgemeinen und im realen Österreich im Speziellen abzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund soll nachgezeichnet werden, was die Protagonisten des Romans zur Flucht bringt, wie die Flucht abläuft und wie sie endet, um schließlich zu fragen, was die satirische Konstruktion des Textes für die detaillierte Fluchterzählung bedeutet. Als Folie für das Verständnis der Fluchterzählung dient – hier, aber auch bei einer alltäglichen Lektüre – nicht nur die im Roman entworfene Welt, sondern auch die Stellung von Werk und Autor(en) im realen Österreich. Das fiktive Österreich setzt den Rahmen für die Romanhandlung; hier ist eine rechtspopulistische Partei an die Macht gekommen, deren Parteiführer Hichl als Bundeskanzler die letzten fünf Jahre genutzt hat, um aus der Europäischen Union auszutreten, den Schilling als Währung wiedereinzuführen, die Wiener Gemeindebauten in »Österreicher-Bauten« umzubenennen, den Arbeitsmarkt herunterzuwirtschaften und »Ausländer« aus dem Land zu bekommen. In einer »Österreicherwohnung« in einem Wiener »Österreicher-Bau« wohnen mit der vierköpfigen Familie Putschek die Protagonisten der Handlung. Ihre Lage wird zusehends prekärer: Vater Fabian gilt nach der Teilnahme an einem Kurs des Arbeitsamtes zwar nicht mehr als arbeitslos, sondern als selbstständig – trotzdem ist der 21-jährige Sohn Maximilian als Lagerarbeiter in einem Supermarkt der Einzige der Familie mit einem Einkommen, während Mutter Chiara einer amerikanischen Freikirche anhängt und die 15-jährige Tochter Valentina zunächst durch ihre Beziehungen, später durch die erfolglose Suche nach einem Ausbildungsplatz auffällt. Nach dem Tod der Großmutter versucht der Vater, die Hinterlassenschaft aus ihrer mit Tiroler Devotionalien geschmückten Wiener Wohnung zu holen und gerät dabei in Konflikt mit der Partei, der die Erbschaft zugeeignet wurde. Damit bricht der Vater das Gesetz, die Familie gerät endgültig 1 Klaus Oppitz und die Tafelrunde, Auswandertag. Roman, St. Pölten / Salzburg / Wien 2014, S. 133. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
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aus den Fugen und die Handlung in Bewegung. Die Betriebskosten der Wohnung können ebenso wenig bezahlt werden wie ausreichend Nahrungsmittel. Strom und Heizung werden abgedreht, die Partei pfändet Wertgegenstände. Die beiden Kinder werden bei einem vom Vater ungeliebten Onkel einquartiert, wo Tochter Valentina mit dem Widerstand gegen die herrschende Regierung in Kontakt kommt. Dort hört sie von der besseren Lage in der Türkei, wo im Gegensatz zu Österreich Wirtschaft und Arbeitsmarkt, nicht aber politischer Radikalismus florieren. Als sie aus der Auflösung einer Demonstration mit Blessuren hervorgeht, beschließt sie, wie schon ihr Exfreund, mit ihrer Familie in die Türkei auszuwandern. Der Versuch endet an der von österreichischer Seite stark gesicherten Grenze zur EU. Ungarische Schwarzhändler bringen die Familie über die Grenze, Schlepper fahren sie per Lastwagen nach Rumänien und schließlich per Boot in die Türkei. Dort kommen sie von einem Erstaufnahmezentrum tatsächlich an ihr Fluchtziel Istanbul. Teilerfolge – Tochter Valentina arbeitet illegal in einem Hotel, Sohn Maximilian reüssiert als Pornodarsteller – währen nur kurz, weil Vater Fabian sich einem österreichischen Kulturverein anschließt, in vermeintlicher Rückbesinnung auf sein Tiroler Erbe immer konservativer und radikaler wird und schließlich in der Annahme, sie hätte sich für die Fluchtkosten prostituiert, seine Tochter erschlägt. Erzählt wird die Romanhandlung aus der Perspektive der vier Familienmitglieder. Die einzelnen Kapitel sind mit dem Namen des jeweiligen Erzählers bzw. der Erzählerin überschrieben und schildern die sich gelegentlich überlappenden Abschnitte der Handlung konsequent aus Sicht der jeweiligen Erzählerfigur. So entstehen durchaus Unterschiede in der Deutung der Ereignisse, ohne dass bei der Lektüre Unklarheiten bezüglich der Handlung und ihres ›richtigen‹ Verständnisses entstünden. Die Einschätzung der Lage in Österreich und in der Türkei, das Verhältnis der Protagonisten gegenüber Anderen, die politischen und kulturellen Ereignisse werden durch den Filter der jeweiligen Erzählerfigur vermittelt, was immer auch deren Wahrnehmungsmuster, Einstellungen und Vorurteile transportiert. Die Fluchterzählung Auswandertag ist nicht nur im fiktiven Österreich aus der Sicht seiner Protagonistinnen und Protagonisten verortet, sondern durch ihren satirischen Gehalt unweigerlich auch im realen Österreich. Hier ist das Werk nicht zuletzt durch seinen Autor bzw. seine Autoren positioniert. Auf der Titelseite firmiert neben Klaus Oppitz auch »die Tafelrunde« als Autor, im Nachwort dankt Oppitz seinen »Kollegen der Tafelrunde, Mike Bernhard, Rudi Roubinek und ganz speziell Gerhard Fleischhacker« für Anmerkungen, Ideen und Begleitung durch die erzählte Welt (301). Oppitz und Roubinek sind neben Robert Palfrader als Autoren für die erfolgreiche satirische Fernsehsendung Wir sind Kaiser im Österreichischen Rundfunk verantwortlich, alle vier sind laut Klappentext des Romans »innerhalb weniger Jahre zu führenden Autoren in der
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österreichischen Comedy-Szene geworden«. Nicht nur durch den Klappentext, sondern vor allem durch die explizite Erwähnung gemeinsamer Autorschaft auf der Titelseite verortet sich der Roman in der österreichischen Comedy-Szene.2 Verstärkt wird dieser Effekt durch eine Reihe gemeinsamer Lesungen aus dem Roman durch Protagonisten dieser Szene3 und eine vorrangig österreichischregionale Rezeption, etwa in Printmedien von der Wiener Zeitung bis zu den Salzburger Nachrichten.4 So wird der Roman als Beitrag nicht nur zur Gegenwartsliteratur, sondern vor allem zum kritischen Diskurs über den politischen und kulturellen Zustand des Landes inszeniert. Das hat Konsequenzen für die Intentionen wie für die Lektüre der Fluchterzählung, die als Gedankenexperiment und politische Fabel auf das auslösende Element der Flucht und den folgenden verqueren Heimatbezug angewiesen ist.
Ausgangslage und Charakter der Flucht »Was treibt Flüchtlinge und insbesondere Kinder dazu, ihre Heimat (für immer) zu verlassen?«5 Diese zentrale Frage stellt Sascha Löwenstein in seiner Monographie über Europas Flüchtlingsdrama in der Gegenwartsliteratur, die hier neben Überlegungen zur ›klassischen‹ Exilliteratur, die nicht zuletzt aufgrund der Fluchtrichtung relevant erscheinen, als Bezugspunkt dienen kann. Die Frage ist auch für die in Auswandertag geschilderte Flucht von Bedeutung: Was wird in dem Roman als die »vielfältigen Bedrohungen« und »unerträglichen Lebensbedingungen«6 geschildert, die zur Flucht drängen oder zwingen, gerade weil es ja nicht selbstverständlich ist, Österreicher als Flüchtlinge darzustellen? Potenzielle Gründe »für eine Auswanderung nach Europa« in der Gegenwartsliteratur »reichen von Krieg, Unterdrückung und der Hoffnung auf Frieden über die Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand bis hin zum Streben nach religiöser Emanzipation und Selbstbestimmung«.7 Im Fall der Familie Putschek stehen zunächst wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund, ehe durch eine Konfrontation mit Polizei und Partei auch politische Gründe ausschlaggebend werden. Hier 2 Im Nachfolgeprojekt, das im selben Erzähluniversum mit Hichl an der Spitze der österreichischen Regierung angesiedelt ist, fällt die kollektive Autorschaft weg: Klaus Oppitz, Landuntergang. Roman, Salzburg / Wien 2016. 3 Vgl. die Aktivitäten und Rezeption begleitende Facebook-Seite, www.facebook.com/Auswandertag/ (zuletzt abgerufen am 23. 04. 2016). 4 Vgl. exemplarisch: Wiener Zeitung, 04. 09. 2014; Niederösterreichische Nachrichten, Nov. 2014; kulturbericht oberösterreich 12.2014; Salzburger Nachrichten, 12. 05. 2015. 5 Sascha Löwenstein, Wider die »Globalisierung der Gleichgültigkeit«. Europas Flüchtlingsdrama in der Gegenwartsliteratur. Blickwinkel, Kontexte und Hintergründe, Berlin 2015, S. 21. 6 Ebd., S. 42. 7 Ebd., S. 44.
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entfaltet der Text eine weitere Dimension der Satire: Der Wirtschaftsflüchtling, dem aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention legitime Fluchtgründe fehlen und der für die politische Rechte ein besonderes Feindbild ist, wird erst durch die politische Konfrontation und letztlich durch seinen kriminellen Übergriff legitimiert. Die Alternativlosigkeit seiner Situation in der Gesellschaft bleibt davon unberührt. Der Roman schildert in drei großen Abschnitten zunächst das prekäre Leben der Familie in Österreich (7–106), dann die Flucht (107–200) und schließlich die Erlebnisse in der Türkei (201–300). Am Anfang steht also eine mit dem Familiengeschick verquickte Schilderung der Zustände in Österreich, das sich in den fünf Jahren unter Bundeskanzler Hichl zunehmend abgeschottet hat, aus der EU ausgetreten ist, unter dem Deckmantel der Sicherheit die Grenzen geschlossen und »Ausländer« vertrieben hat. Hichl, der vor Wahlkampfauftritten »den Herrgott um seinen Beistand« anruft (27), stellt mit seiner trendsetzenden Gelfrisur (57) sowie einem hetzerischen Computerspiel, »bei dem man mit einer Steinschleuder auf Türken schießen musste« (58), eine kaum verschleierte Überzeichnung des heutigen österreichischen Rechtspopulismus dar. Folgt man der Meinung von Onkel Felix, bei dem die Putschek-Kinder unterkommen, so hat Hichl das Land durch die internationale Isolation in den Bankrott geführt, betrügt bei der nun so genannten »Arbeitsscheuen-Rate« (71) und kann Österreich als »friedliebend« (60) verkaufen, weil einer kaum funktionierenden Armee ein ausschweifender Zivildienst gegenübersteht, der jedoch nichts als ein maskierter Wehrdienst ist, bei dem man den Gurgelschnitt, Schießen und das Pflegen von Verwundeten lernt. Die Kultur des Landes bestimmt der »AustroStahl-Pop« mit Gruppen wie den »Nordischen Göttern« und Hits wie »Blutsturm«, »Vaterlandsarterie« oder »Messerwetzer« (37). Während Fernsehserien aus dem Ausland nicht mehr zu sehen sind, regieren in österreichischen Serien das Landleben, männliche Helden und hilflos weinende Frauen sowie schwache Krimis: »Man hat immer gleich gewusst, dass der mit der dunklen Haut der Mörder ist.« (75) Auf dem Heldenplatz skandieren linke Demonstranten »Heil Hichl!« (54) oder »Hichl-Michl ist doch nur – ein neues Wort für Diktatur!« (99), bis sie von Wasserwerfern zerstreut werden. Die Lage der Familie Putschek ist zunehmend trist, der Vater ohne Aufträge oder Einkünfte, die Familie konsumiert vor allem Tiefkühlwaren, und ein Job oder Ausbildungsplatz scheint der Tochter »so etwas wie ein Lottogewinn« (70). Durch die Begräbniskosten der Großmutter entstehen Schulden und der Konflikt mit der Hichl-Partei um das Erbe verschlechtert die Lage dramatisch. Die Großmutter hinterlässt in ihrer Wiener Wohnung eine »Tiroler Berghütte« (»Heimweh, das sie da an die Wände nageln hat lassen«, 23) und damit ein als oberflächlich und dysfunktional markiertes folkloristisches Erbe, das die später virulent werdende Frage von Heimweh und Traditionspflege vorwegnimmt. Sie
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hätte, so meint Maximilian, die Hichl-Partei mit ihrem Erbe gefüttert und so ein Leitmotiv ihres Lebens umgesetzt, nachdem sie für ihren Wiener Mann die Tiroler Identität aufgegeben habe: »Das mit dem Verrat hat sich ganz klar durch ihr gesamtes Leben gezogen. In ihrer Jugend hat sie ihr Tirol für einen Wiener verraten und im Alter ihren Sozialismus für den Hichl.« (55) Die Partei nimmt den Eingriff des Vaters nicht hin, strengt ein Verfahren gegen ihn an und pfändet, was in der Wohnung der Familie noch zu finden ist. Valentina kommt durch ihren regierungskritischen Onkel Felix mit einer Widerstandszelle in Kontakt und hört bei einem Vortrag in einem geheimen Keller von den Vorzügen der Türkei, die vergangene Probleme überwunden hätte, um nun eines der erfolgreichsten Länder der EU zu sein, weil deren Bevölkerung radikale Kräfte nie ganz zugelassen habe (95). Bei Valentina, deren Exfreund Özim seit Hichls Durchsetzung in Istanbul lebt, fällt die Idee auf fruchtbaren Boden, und sie beschließt mit ihrem Bruder : »Das hier, das geht sich einfach nicht mehr aus, da gewinnen wir nix. Das hat alles keinen Sinn mehr, Maxl. Wir müssen hier weg.« (106), ehe sie konstatiert: »Hier in Österreich, hier gehen wir alle zugrunde!« (114) Was als Auswanderung beginnt, wird spätestens mit der eingangs zitierten Erkenntnis des Vaters zur Flucht, als ihm ein regulärer Grenzübertritt mit einer langen Reihe juristischer Anschuldigungen (»Einbruch, Hausfriedensbruch, Diebstahl, Sachbeschädigung, tätlicher Angriff«, 128) verwehrt wird. Der ›Eiserne Vorhang‹ an der ungarischen Grenze dient der österreichischen Regierung dazu, die Bevölkerung an der Ausreise zu hindern: »das war unser Eiserner Vorhang, unser eigener, und den hätte der Hichl errichtet, genau wegen Leuten wie uns, die ihre Heimat verlassen wollen« (134).
Zum Ablauf der Flucht: Stationen und Übergänge Am Anfang der Flucht steht nicht nur das Elend in der Heimat, sondern auch die Wahl des Fluchtziels sowie damit verbundene Vorstellungen und Wünsche. Sascha Löwenstein betont die Nähe von »Idealbild« und »Fehleinschätzung«,8 wenn Flüchtlinge sich ein Bild ihres Fluchtziels machen, und Elisabeth Bronfen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Überlagerung von Wirklichkeit und Selbststilisierung«.9 Hier stellt sich die Frage, ob es auch in Auswandertag ein Idealbild der Türkei gibt und ob dieses womöglich den »tradierten wissenschaftlichen Repräsentationen des literarischen Exils« folgt, ob die Emigration
8 Ebd., S. 73–75. 9 Elisabeth Bronfen, »Exil in der Literatur. Zwischen Metapher und Realität«, in arcadia, Jg. 28 (1993), Heft 2, S. 167–183, hier S. 174.
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nach Südeuropa also eine Art kulturelles Muster10 darstellt, das bis heute für die literarische Gestaltung von Exil wirkmächtig bleibt. Während in der neuesten österreichischen Literatur durchaus ähnliche Erzählmuster bekannt sind – hier sei exemplarisch auf Austrofreds ebenfalls satirischen Roman Hard on11 verwiesen, der ein positives berufliches »Exil« in der Türkei mit den Topoi des ausschweifenden Istanbuler Nachtlebens verknüpft –, sperren sich die Figuren von Auswandertag aufgrund ihrer gesellschaftlichen Prägung zunächst heftig gegen das Fluchtziel. »Warum um Himmels willen Türkei? Dort leben die Muezzine!« (109), wettert der Vater, ehe er mit Sohn Maximilian erörtert, ob es nicht doch Islamisten oder Moslems heiße. Zum grundsätzlichen Problem eines Aufbruchs in die Fremde kommt das zusätzlich verunsichernde Unwissen über das Ziel: »Die Türkei ist ja groß, angeblich viel größer als Österreich.« (111) Nur Valentina weiß, was sie im Vortrag der Widerstandszelle gehört hat: »Dass die in der EU die Besten sind, so wirtschaftlich« (110), außerdem ist das Ziel eine doppelte, pragmatische wie romantische, Verheißung nach Arbeit und dem Meer, das an glückliche Tage erinnert: »Das wird wie damals bei unserem Italienurlaub, nur für immer.« (111) Dass in Istanbul auch Valentinas Exfreund wohnt, verdoppelt die romantische Verheißung. Der Beginn der Flucht ist markiert als ein »wirklich hoffnungsvoller Moment« (117). Das kleine Auto der Familie ist voll besetzt und bis aufs Dach beladen. Der Vater will gar Computer und Kombidrucker »für seine neue Karriere im Ausland« (122) mitnehmen. Ihm fällt das Zurücklassen von Gegenständen schwer, und so erscheint er früh als derjenige, der mit Änderungen seines Status und Selbstbildes, mithin mit der Flucht insgesamt, die größten Schwierigkeiten hat. Auf der Fahrt passiert die Familie ein Einkaufszentrum, das in der jungen Beziehung der Eltern eine wichtige Rolle gespielt hat (134), und so zelebriert der Text das »Erfahrungsphänomen des Abschieds«, das Anna-Lena Hermelingmeier als für viele Fluchterzählungen bedeutungsvoll herausgearbeitet hat.12 Ab dem Moment, in dem die Familie realisiert, dass die Grenze nicht legal überquert werden kann, wird die Auswanderung zur Flucht und wird nun auch explizit so genannt. Schnell hat der Schwarzhändler Firsits das Dilemma der Familie erkannt und bietet seine Hilfe an. Hier wird die Flucht für Familie Putschek teuer : »Es wollt’s aussa und des kost« (141), stellt Mutter Firsits klar, ehe sie nicht nur das gesamte Bargeld, sondern auch sexuelle Leistungen von Sohn Maximilian einfordert. Verzweifelt steigen die Putscheks einzeln in speziell ausgestattete Transportfässer im LKW zweier Schlepper. Auch müssen sie ihre 10 Ebd., S. 173. 11 Austrofred, Hard on. Roman, Wien 2013. 12 Anna-Lena Hermelingmeier, Wahrnehmung von Heimat und Exil. Am Beispiel von Texten deutschsprachiger Exilautorinnen und -autoren des 20. Jahrhunderts, München 2015, S. 11.
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gesamte Habe zurücklassen, einschließlich der so wichtigen und im medialen Flüchtlingsdiskurs zuletzt häufig thematisierten Handys (155). Nach einer siebzehnstündigen Fahrt können sie ihre Fässer endlich verlassen. Diesmal ist der »Akt der Grenzüberschreitung«, dieser so wichtige »Moment des Dazwischen ohne absichernde Elemente«13 und damit der zentrale Punkt der Flucht, erfolgreich. Wie einprägsam dieser Grenzübertritt ist, wird von den Figuren wiederholt betont: Schon der Straßenbelag beeindruckt (»ein ganz anderer Asphalt als bei uns daheim«, 165), ebenso »wie gewaltig und schön ein Parkplatz sein konnte« (167), vor allem aber, hier für Mutter Chiara, der zwischenmenschliche Kontakt: »Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ausgehungert ich nach Gesellschaft war, nach lachenden Menschen« (166). Die ungarische Freundlichkeit wird schnell brüchig, wenn dem Lob des Bundeskanzlers (»Großer Mann, Hichl, Werte, guuute Werte«, 169) die Besinnung auf die gemeinsame große Geschichte folgt (»Reich? Reich ja. Aber nix Kaiser«, 173) und »Zigeuner« bei der Zwangsarbeit auftauchen (174). Schnell wird klar, dass Österreicher hier nur als Besucher willkommen sind (175) und nur »wenn man nicht gerade Zigeuner war. Oder Flüchtling.« (180) Nationalistische Einstellungen gibt es also auch in Ungarn – die Engführung von österreichischem und ungarischem Nationalismus ist mit Blick auf die jüngeren (gesellschafts-)politischen Entwicklungen beider Länder wohl nicht zufällig, während Österreicher als Betroffene eine didaktische Wendung darstellen. Im Folgenden versieht der Autor seinen Text mit vielen Details einer schwierigen sowie lebensbedrohlichen Flucht, und verfolgt damit seine an anderer Stelle geäußerte Absicht, als bewusste Entgegensetzung zu Stammtischpolemik darzustellen, »wie es den Menschen als Flüchtlinge [!] in der Fremde ergeht«.14 Auf dem Weg nach Osten ersticken die Romanfiguren fast, weil ihre engen Behälter bei einer überraschenden Kontrolle dicht verschlossen werden (180f.). Im bulgarischen Rezovo muss auf Boote umgestiegen werden (184f.), weil der Landweg zu riskant ist: hier patrouilliert das türkische Militär »weil eben so viele zu denen hineinwollen« (186). Auf der kurzen Boots-Überfahrt, die entgegen der Abmachung erneut Geld kostet, verlieren die Bewacher angesichts eines Suchscheinwerfers die Nerven und prügeln die Flüchtenden aus den Booten (205), Valentina wird von ihrer Familie getrennt (200), während die anderen in ein türkisches Erstaufnahmezentrum überstellt werden.
13 Ebd., S. 23. 14 Thomas Jorda, »Flüchtlingsschicksal einmal ganz anders«, in Beste Seiten. Extrablatt der österreichischen Zeitungen und Magazine zur Buch Wien 14, Wien 2014, S. 20.
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Leben in der Fremde und die »heimatliche« Identität Im Aufnahmeland angekommen nimmt der Text erneut eine kritische Wendung und schildert ein letztlich letales Scheitern, in dessen Zentrum die Figur des Familienvaters Fabian Putschek steht. Fremdsein und Entwurzelung durch die Flucht wirken bei ihm so stark, dass eine Eingliederung in ein neues Leben nicht möglich scheint. Heimat- und Orientierungslosigkeit kompensiert er durch das Eingehen auf äußerst problematische Identifikationsangebote. Sein weiteres Schicksal folgt den schlimmsten Klischees des bösen Flüchtlings, der als Integrationsverweigerer in einer Parallelgesellschaft zum religiösen Fundamentalisten und Verbrecher wird. Fabian als der geistig Unflexibelste der Familie wird vom Schicksalsschlag der Flucht am härtesten getroffen, seine Starrheit macht ihn zugleich angreifbar und zum Angelpunkt der Satire – ist doch die Starrheit, gerade wo Lebendiges erwartet wird, ein festes Element der Theorie der Komik seit Bergson. Die Handlung folgt diesem verheerenden Mechanismus in Gegenüberstellung der anderen Figuren, ihrer Reaktionen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Fluchterlebnis und ihrer schwierigen Situation im Aufnahmeland. Im Erstaufnahmezentrum werden Grundbedürfnisse wie Essen, Duschen und Kleidung abgedeckt – »gar nicht so schlecht« (212), meint Maximilian, während Vater Fabian sich »ganz unten« sieht: »Sie haben uns die Pässe weggenommen und uns in diesen großen Schlafsaal getrieben, und keiner hat uns irgendetwas gesagt, und rund um mich waren diese nassen, unterkühlten, ängstlichen Menschen« (220). Der Plan des Sohnes, dem ein anderer Flüchtling eingeschärft hat, von politischer Verfolgung zu berichten, wird aufgrund der wirren Erzählungen der Eltern, aus denen auf Traumatisierung geschlossen wird, hinfällig, sodass die Eltern mit Maximilian tatsächlich bald als Asylwerber in Istanbul landen (219). Für die beiden Kinder beginnt nun ein »Leben in der Illegalität«,15 das Element vieler Fluchterzählungen ist. Valentina kommt zunächst bei ihrem Exfreund unter, der Österreich wegen alltäglicher Schikanen verlassen hat, inzwischen verheiratet ist und Vater wurde. Seine Ehefrau erlebt sie als modern – »nicht eine, die man unterdrücken hat können, wie das die meisten in einer türkischen Ehe erwartet hätten« (256) – und der Text liefert damit ein Gegenmodell zur später beschriebenen Tirolerehe. Valentina arbeitet illegal in einem Hotel, bis sie von einem Hotelgast sexuell angegangen wird, der vom illegalen Status der »Österreicher-Schlampen« (283) profitieren will. Maximilian sieht sich zunächst zur Untätigkeit gezwungen, da er nicht arbeiten darf (230), und erkundet Istanbul, bricht seine Suche nach dem »einheimische[n] Leben« aber 15 Löwenstein, Wider die »Globalisierung der Gleichgültigkeit«, S. 123–125.
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ab, als er angestarrt und mit Steinen beworfen wird (233f.). Nun beginnt auch er, illegal zu arbeiten, und wird Pornodarsteller (258ff.), bis er versehentlich in eine eng an die Besetzung der Wiener Votivkirche Ende 2012 angelehnte Moscheebesetzung demonstrierender Flüchtlinge gerät und, weil er dabei gefilmt wird, als »Flüchtlings-Che-Guevara« (292) das Vorzeigegesicht des Protests gegen schlechte Unterbringung und erzwungene Untätigkeit wird: »In der Öffentlichkeit waren die Reaktionen geteilt. Für die einen waren wir Opfer, für die anderen Schmarotzer.« (293) Anders als die Kinder, die sich durch ihre Erwerbstätigkeiten unweigerlich produktiv mit ihrer neuen Umgebung auseinandersetzen, reagieren die Eltern auf die neue Situation im Exil, also auf den Umstand, gezwungenermaßen von eigener Vergangenheit, Erbe, gesellschaftlichem Kontext und kultureller Sprache getrennt zu sein.16 Elisabeth Bronfen macht drei mögliche Reaktionen zur »Herstellung eines neuen psychischen Selbstentwurfes« aus: erstens die distanzierte Existenz als Exilierter, zweitens die Identifikation mit dem aufnehmenden Land und drittens die starke Identifikation mit dem Herkunftsland. Beim Vater trifft letztgenannte zu: Er verfällt damit der »Gefahr einer Erstarrung in Nostalgie«.17 Fabian nämlich kommt schon bald nach der Ankunft mit Männern aus der Heimat seiner verstorbenen Mutter in Kontakt: »Als der Mann mit dem langen Bart und den tiefen Furchen im Gesicht auf mich zugegangen ist, habe ich mir gedacht: So, das ist er jetzt also, mein erster Muezzin. Aber es war der Wenzel aus Tirol.« (220) Als die Tiroler Fabians gegen alle Widrigkeiten mitgeführtes einziges Werkstück als Grafikdesigner sehen, ein Plakat für eine Bezirksorganisation der katholisch-konservativen Volkspartei (14), führen sie ihn ins »Tiroler Kulturzentrum in Istanbul« (225) ein. Hier entdeckt Fabian, der selbst nie in Tirol oder daran interessiert gewesen war, das mütterliche Erbe als »erneut sinnstiftende Narration«.18 Dass diese Entdeckung bzw. Hinwendung keine tatsächliche Rückbesinnung auf heimatliche Elemente ist, macht die prekäre Lage von Fabians Selbstbild ebenso deutlich, wie es fundamentalistische oder patriotische Identifikationsangebote als hohl und zweckgerichtet entlarvt. Fabian fühlt sich in der neuen Umgebung abgelehnt, während er die Sicherheit und »Unerschütterlichkeit« (228) der Exiltiroler bewundert. Er nimmt an ihren Bräuchen – »der morgendlichen Sensen-Übung, dem Eduard-SeibeiunsGebet und dem Früh-Schnaps« – teil und bemüht sich, die neue Sprache zu lernen: »Das Tirolerische war ganz sicher eine viel größere Herausforderung als dieses primitive türkische Genuschel.« (241) Die ideologische Indoktrinierung 16 Bronfen, Exil in der Literatur, S. 170; vgl. auch Hermelingmeier, Wahrnehmung von Heimat und Exil, S. 12–14. 17 Bronfen, Exil in der Literatur, S. 170. 18 Ebd.
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der Tiroler aber betrifft nicht nur die türkische Umgebung, sondern auch die eigene Familie. Chiara, die das Kulturzentrum als Frau nicht betreten darf und sich weitgehend isoliert, sehen die Tiroler als »störrisches Weibsbild«, das zum Gehorsam geprügelt gehört, denn: »Das Weib, das isch dazu da, dem Mann zu dienen.« (245) Während der Fehler, dass Chiara und Fabian nicht verheiratet sind, korrigiert werden kann, taucht sein Sohn als Demonstrant in den Medien auf und gilt folglich als »Linker«, für die gilt: »die Linken, das sind auch alles Heiden! Nix besser als wie ein Moslem!« (279) Da Fabian glaubt, seine Tochter habe sich für die Fluchtkosten prostituiert, gilt endgültig: »was du erlebt hast, das sollte kein Vater erleben. Die Tochter ein Luder und der Sohn ein Linker« (280). »Deine Tochter, die muss aus deinem Leben!« (242), hat man ihm früh empfohlen, und so eskaliert die Lage, als die totgeglaubte Tochter unvermittelt bei der Tiroler Hochzeit auftaucht – Fabian ermordet sie mit einer riesigen Sense. Die Zeitungen schreiben von einem Ehrenmord (294), Fabian erhängt sich in seiner Gefängniszelle (298). Die beiden verbliebenen Putscheks werden nach den Begräbnissen abgeschoben; nach einem neunzehnstündigen Flug quer durch Europa (»In der halben EU haben sie die österreichischen Schubhäftlinge eingesammelt«, 299) erreichen sie Österreich, wo der widerständige Onkel Felix inzwischen mit einem Gurgelschnitt getötet wurde.
Erzählmuster und satirischer Gehalt Der Lektüredurchgang verdeutlicht zunächst Details der Handlung und ihre Vermittlung. Um zu klären, wie der Text literarisch vorgeht und was das für Fluchtmotiv und -thematik bedeutet, sollen nun die Effekte des Erzählverfahrens in den Blick genommen werden. Wie verhält sich der Text zu Standard-Erzählmustern von Flucht- und Exilerzählungen, wie ist es um Authentizität, Referentialität und Legitimationsgrundlage bestellt? Während im Bereich der Fluchterzählungen »die meisten Autorinnen und Autoren Geschichten erzählen, die eine Beziehung zu authentischen Ereignissen haben«,19 bietet Auswandertag eine rein fiktionale und zudem kontrafaktische Geschichte – womit sie sich in einen Trend dystopischer Entwürfe in der österreichischer Gegenwartsliteratur einreiht20 – und ist also nicht, wie von Bronfen für Exilerzählungen idealtypisch in Anschlag gebracht, »sowohl biographisch referentiell, thematisch inhaltlich und textästhetisch 19 Löwenstein, Wider die »Globalisierung der Gleichgültigkeit«, S. 21. 20 Vgl. Günther A. Höfler, »›Definitely Maybe‹. Zur Prosa der Generation Y«, in Österreichische Gegenwartsliteratur, hrsg. von Hermann Korte, München 2015, S. 310–321, zur Dystopie S. 311–315.
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strukturell zu dekodieren«,21 weil eine biographische Referantialität nicht gegeben ist. So geraten Thema und Struktur verstärkt in den Blick. Es zeigt sich, wie sehr der Text auf Standard-Erzählmuster zurückgreift: Fast schon prototypisch enthält er eine ganze Reihe von Handlungselementen wie Aufbruch und Grenzübertritt, Exilvorstellungen und Transformationen, Fremdheitserfahrung und Konfrontation, Öffnung und Abwehr.22 Der Roman folgt also Denkmustern und Modellen anderer Erzähltexte und verweist, mangels der »Autorität der Erfahrung […] als Legitimationsstrategie« weniger auf »eine Realität« als Analysekategorie denn auf einen »universalisierenden Diskurs«.23 Determiniert wird die Literarisierung des Flucht-Diskurses durch die Anlage des Textes als satirische Analyse gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Als ein Gedankenspiel des Was-wäre-wenn nimmt der Roman politische Fehlentwicklungen und die zugrundeliegenden Einstellungen in den Blick. Indem er sein erzählendes Personal mit Vorurteilen und Desinformiertheit ausstattet, sind die Figuren auf markante Weise so gar nicht bildungsbürgerlich wie etwa Jenny Erpenbecks Figur des emeritierten Professors in Gehen, ging, gegangen (2015).24 Die mehrfache Beschränktheit der Perspektive hat Konsequenzen nicht nur für die Sympathiesteuerung und die Wahrnehmung der Figuren, sondern auch des gesamten Textes. Alexander Kluy analysiert am Nachfolgertext Landuntergang: »Das bewirkt auch eine oszillierende Nähe und Distanz zu den gleichermaßen Larmoyanten und Radikalen wie zur halb- bis unterbelichteten Begleitbagage.«25 Die besondere Ausstattung des Personals erweist sich zudem, vor allem bei den Eltern, als nachhaltig, wenn sich der Familienvater auch nach vollzogener Flucht von Kritik an seinem Heimatland angegriffen fühlt, sich mit heimischen ›Werten‹ solidarisiert und auf »diese Türken« herabsieht.26 Nachhaltige Ignoranz und mangelnde bzw. selektive Kritikfähigkeit, falsche Heimatverbundenheit und Heuchelei in Frömmigkeit und Brauchtum führen schließlich in die Katastrophe. Was bedeutet der kritische Wurf des satirischen Textes für die Darstellung 21 Bronfen, Exil in der Literatur, S. 171. 22 Hermelingmeier, Wahrnehmung von Heimat und Exil, S. 13. Vgl. auch den Beitrag von Sabine Zubarik in diesem Band mit den einleitenden Überlegungen zu Prototypen der Fluchterzählung. 23 Bronfen, Exil in der Literatur, S. 183. 24 Jenny Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen. Roman, München 2015. Vgl. den Beitrag von Alexandra Ludewig in diesem Band. 25 Alexander Kluy, »Klaus Oppitz: Landuntergang«, in www.literaturhaus.at, http://www.lite raturhaus.at/index.php?id=11094 (zuletzt abgerufen am 23. 04. 2016). 26 »Auch wenn wir selber geflüchtet waren, ich hab das nicht gut gefunden, wie der unsere Heimat schlechtgemacht hat […]. Gut, ich habe natürlich auch ein Problem mit den HichlLeuten gehabt, aber die Werte vom Hichl, die haben mir immer noch imponiert.« (189); »Man hat ja immer gehört, wie brutal diese Türken waren, emotional einfach ganz anders als wir, viel heißblütiger und primitiver« (220).
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von Flüchtlingsfiguren und Fluchtgeschichten? Die Auseinandersetzung geht jedenfalls über die beschriebene Realisierung des Erzählmusters »Scheitern der Zukunft an der Herkunft«27 hinaus und scheint sich auch dabei gegen die eigenen Protagonisten zu wenden. Mehrfach geraten die Flüchtlinge in die Kritik; zunächst implizit, wenn die Einwohner der Türkei als positives Gegenmodell beschrieben werden, schließlich auch explizit, wenn Maximilian von einem ebenfalls flüchtenden österreichischen Großbauern Tipps für das Asylverfahren bekommt. Dieser erklärt, man dürfe nicht als Wirtschaftsflüchtling erscheinen: »Das Gesindel, das nur deshalb in die Türkei gekommen ist, weil es hier einfach besser war als in Österreich, das würden sie postwendend zurückschicken.« Der Bauer hat für »solche Leute […] nichts als Verachtung übrig« und kontert Maximilians Einwand, warum jemand nicht wohin dürfe, »wo es noch Jobs gibt und er seine Familie ernähren kann«, mit dem Hinweis: »Aber das hätte er ja können, damals, in der EU. Aber dann haben genau die Spaßvögel, die sich jetzt aufregen, den Hichl gewählt.« (213) Der satirisch-kabarettistische Beitrag insistiert als Fluchterzählung mit einem kritischen Dreh auf die eigene Verantwortung für die Zustände im Land. Ist der Roman mit seiner rein fiktiven Fluchterzählung also flüchtlingskritischer als andere etwa mit biographischem Hintergrund? Nur bedingt: Während er seine Protagonisten unverblümt mit zahlreichen Schwächen und Defiziten darstellt, verweist er die Kritik an den Fluchtgründen und am mangelnden politischen Engagement ebenfalls an Figuren, die wie der geflüchtete Großbauer nicht in positivem Licht erscheinen. Der Text überspitzt auf spielerisch-satirische Weise den Diskurs über Radikalisierung und Parallelgesellschaften und schärft den Blick auf die im öffentlichen Diskurs oft vernachlässigten Fluchtgründe (»hätten ja nicht zu uns kommen müssen. Wärens halt daheim geblieben«), indem er »die Idee des Auswanderns einmal umgedreht erzählt«.28 Wenn es dem Text »weniger um die politische Satire« geht, als um die »Umkehrung jener Perspektive, aus der die globalen Migrationsbewegungen hierzulande derzeit beobachtet und beurteilt werden«,29 ist das Verhältnis von Satire und Didaktik neu zu hinterfragen. Hier bekommt die detaillierte Schilderung der Flucht und des Schicksals der Flüchtlinge ihre spezifische Funktion. Die Flucht und ihre Folgen, nämlich Heimat- und Orientierungslosigkeit, das Scheitern im Aufnahmeland, werden zum Erklärungs- und Legitimationsmuster der folgenden tragischen Ereignisse. Die Beurteilung changiert zwischen der 27 Löwenstein, Wider die »Globalisierung der Gleichgültigkeit«, S. 145–148. 28 Michaela Glauninger, »Klaus Oppitz & Die Tafelrunde: Auswandertag«, in kulturbericht oberösterreich 12.2014, S. 14. 29 Wolfgang Huber-Lang, »›Auswandertag‹ blickt in Österreichs Zukunft«, in Wiener Zeitung, 04. 09. 2014, http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/integration/gesellschaft/657598 _Auswandertag-blickt-in-Oesterreichs-Zukunft.html (zuletzt abgerufen am 10. 07. 2016).
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Schuld der Figuren und ihrer Entschuldigung durch Erklärung und Kontextualisierung. So verschieben sich Verantwortungen vom Einzelnen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, politischen Würdenträger und globalen Fehlentwicklungen. Der Text verfolgt aufklärerische, sozialkritische Erklärungsmuster, wenn er Gewalt und Verbrechen didaktisch herleitet, ihr ›Making of‹ mitliefert und aus den bösen Einflüssen der Gesellschaft und folgerichtiger Alternativlosigkeit verständlich macht. Hier aber kommen Didaxe und Satire in Widerspruch, unterläuft die Didaxe die Satire: Während der Text einem aufklärerischen Gesellschafts- und Menschenbild folgt und das Nachfühlende selbst zum Programm hat, macht es mit Fabian Putschek genau den Typen, der eben das ablehnt, zum Untersuchungsgegenstand. Eine solchermaßen zahnlose Satire macht die Putscheks zu äußerst ambivalenten Figuren. Die ebenso widersprüchliche Grundanlage des Textes wurde allerdings auch als positives Element rezipiert. Dass Oppitz »nicht das feine Florett einsetzt, sondern viel häufiger das Breitschwert oder gar die grob geschnitzte Holzkelle«, macht seine Texte »auf das herrlichste unausgewogen und allseits hundsgemein ungerecht«, so Alexander Kluy.30 So nutzt Auswandertag genuin literarische Möglichkeiten der Problemverhandlung, nicht ohne in den außerliterarischen Diskurs zurückzuwirken, was sich etwa in einer Bühnenbearbeitung als Beitrag zur Verhandlung des Themas Heimat zeigt,31 aber auch in diversen Erwähnungen des Titels bzw. Werkes in sozialen Medien wie Facebook als Reaktion auf Wahlerfolge der FPÖ,32 die bestimmten Kreisen die Option der Auswanderung, ebenfalls überspitzt, in neuem Licht erscheinen ließen. Das besondere Identifikationspotenzial, das der Text durch die Erzählhaltung aus dem Wiener Gemeindebau anbietet und das das Nachfolgeprojekt Landuntergang durch die Darstellung des innerösterreichischen Widerstands gegen die Hichl-Regierung weitertreibt, scheint hier, wenn auch nur innerhalb einer Facebook-Filterblase, eingelöst. Als politische Satire braucht diese Erzählwelt die Flucht als Motiv nicht, als gegen Stammtischparolen auftretende Parabel hingegen ist sie auf das initiale Element der Ausnahmesituation angewiesen und macht die dadurch generierten Erfahrungen selbst zum Thema. Im Kontext der Rezeption zeigt sich schließlich, dass der spezifische Umgang des Textes mit Flucht und ihren Zu30 Alexander Kluy, Klaus Oppitz: Landuntergang. 31 Vgl. etwa die Bühnenbearbeitung des Romans durch die Bürgerbühne der Salzburger Landestheater im Mai 2015 als Beitrag zum Schwerpunktthema »Heimat – was ist das eigentlich?«. Vgl. http://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/auswandertag-ua. html/ID_Vorstellung=1412 (zuletzt abgerufen am 23. 04. 2016). 32 Beispielhaft beim ersten Durchgang der Wahl zum Bundespräsidenten im April 2016. Vgl. die auf www.facebook.com/Auswandertag/ im April und Mai 2016 dokumentierten Meldungen oder zuletzt die ebenfalls dort wiedergegebene von Peter Heinz Trykar vom 01. 07. 2016.
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sammenhängen im Ökonomischen und Politischen einen Beitrag zur Frage, wo der Diskurs über Flüchtlinge aktuell steht, leistet und eine bestimmte Position darin markiert. Die Beschäftigung mit diesem ungewöhnlichen, in Zukunft wohl eher nicht kanonischen Text der Flüchtlingsliteratur kann so über die im Kontext anderer Fluchterzählungen markanten Beobachtungen zu typischen Erzählelementen eine produktive gesellschaftliche Position literarischer Beschäftigung mit Flucht, Identitäten und Hintergründen bestimmen und als relevante Eigenschaft solcher Texte sichtbar machen.
Orte und Ortlosigkeit
Ren8 Kegelmann
Im Netz der Ortlosigkeit. Flucht in Terézia Moras Roman Alle Tage
»Als wäre er an jedem Platz falsch«: Der Flüchtling Abel Nema Es war eine positive Überraschung für mich, dass verschiedene Rezensionen sich auf verschiedene Aspekte konzentriert haben: mal war es die Sprache, mal Gott, mal die Panik. Ich befürchtete im Vorfeld, man würde sich mit dem Flüchtling begnügen, also eine vereinfachende Interpretation wählen.1
Ter8zia Mora äußerte sich so in einem Interview kurz nach der Publikation ihres von der Literaturkritik außerordentlich positiv aufgenommenen Romans Alle Tage2. Ebenso verweist Nathan Taylor darauf, dass Abel Nema nicht auf seine »prekäre Existenz als staatenloser Bürgerkriegsflüchtling«3 zu reduzieren ist. Auch wenn Mora und Taylor hier zuzustimmen ist, so werden in diesem Beitrag die auf Flucht und vor allem den Flüchtling Abel Nema verweisenden Aspekte im Roman genauer unter die Lupe genommen. Wie ist Flucht im Roman inhaltlich und sprachlich repräsentiert? Wie werden der Komplex Flucht und die damit verbundenen Aspekte wie Traumata, Ortlosigkeit, Herkunft und Identität erzählt? Dabei sei bereits an dieser Stelle darauf verwiesen, dass im Roman zwei Ebenen vorhanden sind, nämlich einerseits die konkret auf eine Fluchterfahrung in den Westen bezogene Ebene, die mit dem Status Abel Nemas als Bürgerkriegsflüchtling und allen Folgen wie Staatenlosigkeit, Asylantrag, Abschiebung und Scheinehe verbunden ist, und andererseits eine Ebene, deren Basis eher existenziellerer Natur ist und mit Elementen wie Identität, Labyrinth und Ortlosigkeit zu tun hat. 1 Thomas Combrink, »›Man muss die eigene Kleingläubigkeit überwinden‹. Im Gespräch mit Ter8zia Mora«, in TITEL. Kulturmagazin (24. 10. 2005), http://titelmagazin.com/artikel/19/ 2576/im-gespräch-mit-ter8zia-mora.html (zuletzt abgerufen am 06. 05. 2016). 2 Ter8zia Mora, Alle Tage. Roman, München 2004. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe. 3 Nathan Taylor, »Am Nullpunkt des Realismus. Ter8zia Moras Poetik des hic et nunc«, in Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, hrsg. von Silke Horstkotte / Leonhard Herrmann, Berlin / Boston 2013, S. 13–30, hier S. 24.
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Das Thema Flucht spielt bereits in früheren Texten der 1971 in einem kleinen ungarischen Dorf an der österreichischen Grenze geborenen und zweisprachig aufgewachsenen Ter8zia Mora, die im Alter von 19 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland migrierte, eine zentrale Rolle. In den meisten Erzählungen ihres ersten Erzählbandes Seltsame Materie4 stehen zu Außenseitern gewordene weibliche Ich-Erzählerinnen im Zentrum, die versuchen, ihre als eng und einschnürend empfundenen Grenzen zu überwinden und aus einem totalitären System zu fliehen. Fast alle Erzählungen im Band sind daher auch geprägt von Oppositionen wie »hier« und »dort«, »drinnen« und »draußen«.5 Im Gegensatz zu den frühen Erzählungen aus Seltsame Materie ist das Geschehen von Moras erstem Roman Alle Tage nicht mehr in der Ausgangsregion der Flucht, sondern am Ort der »Ankunft« angesiedelt. Mit dem Fund des durch ein Gewaltverbrechen versehrten 32-jährigen Nema, der kopfüber, verklebt und durch seinen schwarzen Mantel verhüllt, an einem Klettergerüst baumelt, beginnt der Roman. Der Text beschreibt sein Leben davor im Dickicht der Großstadt B. in Deutschland, einen Zeitraum von gut 13 Jahren umfassend, sowie Rückblicke auf die Region, in der er vor der Flucht lebte. Doch Moras polyphone, multiperspektivische Erzählkonstruktion6, die über weite Strecken ohne zentrale Erzählinstanz auskommt, von Brüchen und permanenten Perspektiv- und Zeitwechseln geprägt ist, führt auch dazu, dass der Flüchtling Abel Nema uneindeutige, widersprüchliche Konturen bekommt. Er selbst kommt im Roman weitgehend nicht zu Wort (eine Ausnahme ist das Kapitel »ZENTRUM. Delirium«), stattdessen gibt es eine Vielzahl von Projektionen, Eindrücken und Interpretationen des Flüchtlings durch andere Figuren. Nema muss insofern zu größeren Teilen auch als ein Konstrukt der Außenwelt bezeichnet werden. Kaleidoskopartig entsteht das Bild eines jungen Mannes, das in sich widersprüchlich und heterogen bleibt. Nathan Taylor hat in seiner Studie zu Alle Tage plausibel gezeigt, dass die »narrative Ambiguität, Unbestimmtheit und Desorientierung über die topographischen, deiktischen und figurenbezogenen Aspekte hinaus zum zentralen Gestaltungsprinzip des Romans«7 geworden ist. 4 Ter8zia Mora, Seltsame Materie. Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1999. 5 Vgl. auch Ren8 Kegelmann, »›Alles ist hier Grenze‹. Anmerkungen zu einem Themenkomplex im Erzählband Seltsame Materie von Ter8zia Mora«, in Germanistische Studien VII, hrsg. von Mih#ly Hars#nyi / Ren8 Kegelmann, Eger 2009, S. 99–105. 6 Vgl. Denise Reimann, »Ter8zia Mora: Alle Tage (2004)«, in Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hrsg. von Bettina Bannasch / Gerhild Rochus, Berlin 2013, S. 456–463, hier S. 459. 7 Taylor, »Am Nullpunkt des Realismus«, S. 23; vgl. auch Ren8 Kegelmann, »Nomaden der Großstadt. Figurenkonstellationen in Ter8zia Moras Romanen Alle Tage (2004) und Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009)«, in Wechselwirkungen II. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext, hrsg. von Zolt#n Szendi, Wien 2012, S. 203–212, hier S. 203.
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Im Folgenden werden diverse narrative Fragmente des Romans zusammengetragen, um zu zeigen, welches Bild des Flüchtlings sich ergibt. Erschwert wird dieser Versuch durch die zeitliche und räumliche Unbestimmtheit (der Roman beginnt mit dem poetologischen Satz »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt«, 9) bzw. die Weigerung Moras, »die Erzählung durch festgelegte Koordinaten in einer spezifischen Gegenwart zu verankern.«8 Sowohl auf der Figuren- als auch der Zeit- und Raumebene entstehen durch das Erzählverfahren verschiedene Anknüpfungspunkte bzw. zahlreiche Leerstellen, die die Rezipienten füllen müssen, um zu einer einigermaßen konsistenten Lesart zu gelangen. Taylor spricht von einem »Realismus auf dem Nullpunkt«.9 Die skizzierte ausgeprägte Unbestimmtheit in der narrativen Struktur des Romans legt nahe, den Text im symbolischen oder sogar parabelhaften Sinne zu lesen, wie es zum Beispiel Christian Sieg tut, wenn er von der »Konturlosigkeit« eines Sozialraums im Roman spricht, der als Zeichen der Globalisierung komplett deterritorialisiert sei.10 Ter8zia Mora selbst scheint diese Interpretation einer Nichtfestlegbarkeit auf konkrete Orte oder Zeiträume zu stützen, wenn sie in einem Interview sagt: »Also: wir reden hier nicht von den Balkankriegen, sondern von allen möglichen Kriegen. Wir reden hier nicht von Berlin 1991–2004, sondern von einer westlichen Großstadt unserer Zeit.«11 Damit würden auch alle Bezüge auf Abel Nema als Flüchtling aus einer bestimmten Region, der unter bestimmten Umständen zu einer bestimmten Zeit flieht, hinfällig und mitunter gängige Vorstellungen von kultureller Zugehörigkeit, kultureller Entität, Heimat oder Herkunft wären destruiert. Abel Nema wäre dann im existenziellen Sinne ortloser Emigrant und Außenseiter, der sich im Grunde in einem einzigen Transitbahnhof befindet12, gleichsam der Fremde par excellence13. Auf der anderen Seite aber – und diese Lesart möchte dieser Beitrag stärken – 8 Taylor, »Am Nullpunkt des Realismus«, S. 14. 9 Ebd., S. 16. 10 Christian Sieg, »Deterritorialisierte Räume. Katharina Hackers Die Habenichtse und Ter8zia Moras Alle Tage im Spiegel des Globalisierungsdiskurses«, in Weimarer Beiträge, Jg. 57 (2011), Heft 1, S. 36–56. 11 Tobias Kraft, Literatur in Zeiten transnationaler Lebensläufe, Identitätsentwürfe und Großstadtbewegungen bei Ter8zia Mora und Fabio Mor#bito. Magisterarbeit Universität Potsdam 2006, http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2007/1295/ (zuletzt abgerufen am 06. 05. 2016), S. 107f. 12 Vgl. u. a. Lyn Marven, »Crossing Borders. Three Novels by Yad8 Kara, Jeanette Lander und Ter8zia Mora«, in Gegenwartsliteratur, Jg. 8 (2009), S. 148–169. 13 Vgl. Andrea Geier, »›Niemand, den ich kenne, hat Träume wie ich‹. Ter8zia Moras Poetik der Alterität«, in Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Ilse Nagelschmidt / Lea Müller-Dannhausen / Sandy Feldbacher, Berlin 2006, S. 153–177.
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finden sich im Roman eine Reihe von Bezügen zu Regionen in Ostmitteleuropa, zu konkreten ostmitteleuropäischen Sprachen (vor allem dem Ungarischen, das neben dem Deutschen Muttersprache der Autorin ist) und Verbindungen der Figuren über die Herkunft. So stammen zum Beispiel Abel und Tibor aus derselben osteuropäischen Kleinstadt. Tibor, ein Professor an einer Universität in B., kam fast fünfzig Jahre früher in den Westen und ist für den 19-jährigen Flüchtling erste und wichtige Anlaufstation in der neuen Stadt. Im Gespräch mit Abel eruiert er, dass dessen Talente im sprachlichen Bereich liegen und vermittelt ihm schließlich mehrere Stipendien, die ihm eine materielle Absicherung sowie einen rechtlichen Status ermöglichen. Neben der Funktion, die nötigen Voraussetzungen für den Verbleib Abels im Westen zu schaffen, bildet Tibor für Abel auch eine Brücke in die akademische Welt. Zudem lernt Abel über Tibor seine spätere (Schein-)Ehefrau Mercedes kennen. Tibor ist darüber hinaus eine Figur, die Abel mehrfach aus sehr bedrohlichen Situationen rettet und vor einer möglichen Abschiebung bewahrt. Dass er sich in diesem Maße für Abel einsetzt, hängt auf das Engste mit der gemeinsamen osteuropäischen Herkunft zusammen. Dass der osteuropäische Raum für den Roman von zentraler Bedeutung ist, zeigen auch Aussagen von Ter8zia Mora selbst.14 So setzt sie sich in ihren poetologisch zugespitzten Frankfurter Poetik-Vorlesungen 2014 intensiv mit der Figur Abel Nemas auseinander. Der Ausgangspunkt für den Roman sei die »Wanderbewegung aus Osteuropa in den Westen«15 gewesen, sowie als Vorlage für Abel »ein trauriger Osteuropäer«16, zusammengesetzt aus zwei konkreten Personen, die Aspekte der Figur verkörperten17. Mora konstruiert aus diesen beiden Bezugspunkten das Identitätsproblem als verbindendes Element für die Abel-Figur im Roman: »Das Gefühl, falsch zu sein und das Falsche zu tun«18, das sich vor allem in Form von Desorientierung bzw. Orientierungslosigkeit wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Abel verläuft sich häufig, kommt zu spät, ist auch äußerlich derrangiert, verstört andere mit seinem Handeln. Nach dem Gasunfall als junger Mann vor seiner Flucht in den Westen verliert er seinen Geschmackssinn, gewinnt aber dafür die wundersame Fähigkeit, fast unbegrenzt 14 Vgl. Ter8zia Mora, »Das Kreter-Spiel. Oder : Was fängt die Dichterin mit ihrer Zeit an«, in Sprache im technischen Zeitalter, Jg. 45 (2007), Heft 183, S. 333–343, hier S. 334 und 341. Darin spricht die Autorin von einem »Erbe«, einem »Bündel«, das jeder Schriftsteller mitbringt und das eng mit der Herkunft verbunden sei. 15 Ter8zia Mora, Nicht sterben. Frankfurter Poetikvorlesungen, München 2015, S. 36. 16 Ebd., S. 36. 17 Mora erwähnt die Apekte von Scheinehe sowie Fahnenflucht. Interessant ist, dass bei letzterem Aspekt die Zugehörigkeit des Fahnenflüchtigen offenbleibt. 18 Mora, Nicht sterben, S. 36; vgl. auch S. 41: »Es ist, als stünde er immer neben seinen Schuhen. Niemals drin. Immer daneben. Als wäre er an jedem Platz falsch.«; »Er findet seinen Platz nicht. Oder, anders gesagt, obwohl ich dieses Wort hasse. Er kann sich nicht integrieren.«
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Sprachen zu memorieren. In der Großstadt B. geht Abel tagein, tagaus ins Sprachlabor und erlernt auf eine fast klinisch zu nennende Weise zehn Sprachen perfekt. Aber er spricht, wie es Tibor ausdrückt, »ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt« (13). Auf der anderen Seite ist er unfähig, real zu kommunizieren. Eines seiner hervorstechenden Merkmale ist die Stummheit, worauf auch bereits sein Name hindeutet: »Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für : der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren.« (14)19 Abel Nema wird charakterisiert als »ein Halbungar« (171), der aus »einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen« (24), aus einer »untergegangenen Föderation« (262) nach Deutschland gekommen ist, wo er in der Großstadt B. mit einem »der übersichtlichsten öffentlichen Verkehrsnetze überhaupt« (87) mit Blick auf Eisenbahngleise lebt, mit »Matratze und Standleitung« (15). Nema, stets blass und schwarz gekleidet, verließ mit 19 Jahren nach dem Abitur sein Land, um der Einberufung zu entkommen. Da sich diese Föderation nach Abels Flucht auch als Staat auflöst, wird er in Deutschland staatenlos, ihm droht die Abschiebung. Die Scheinehe mit der Deutschen Mercedes verhindert das, weil sie ihm einen Pass und eine Aufenthaltsgenehmigung verschafft. In Bruchstücken wird vermittelt, dass Nemas Kindheit und Jugend durch den frühen Verlust des Vaters, der von einem auf den anderen Tag für immer verschwindet20, durch Instabilität, politische Umbrüche und die Überwachung in einer Diktatur gekennzeichnet ist. Zentral ist wohl die Freundschaft mit Ilia, dem Abel kurz vor dem Abitur seine Liebe gesteht, die aber unerwidert bleibt. Unmittelbar nach dem Liebesgeständnis zwingt der beginnende Bürgerkrieg Abel zur Flucht – er wird Ilia nie mehr wiedersehen. Die persönliche Abweisung ist im Roman untrennbar mit der krisenhaften Lage in der Region verbunden. Auch wird die Freundschaft zwischen Abel und Ilia bereits vor dem Geständnis und der Abweisung als fremd in ihrer Umgebung markiert, da sich beide fundamental von den anderen Figuren in der Kleinstadt unterscheiden. Sie sind intellektuell und individuell markiert und durch ihr Verhalten Außenseiter. Die Erwähnung dieses Details ist insofern wichtig, als dadurch die doppelte Fremdheit, in die Abel nach dem Bruch mit Ilia gerät, sichtbarer wird. Der aufziehende Bürgerkrieg gibt erst danach den entscheidenden Ausschlag für die Flucht Abels und wirkt wie ein Katalysator, der den jungen Mann aus einer Welt, in der er bereits fremd und nicht zugehörig ist, in eine andere, undurchschaubare Welt kata19 Vgl. dazu Reimann »Ter8zia Mora: Alle Tage (2004)«, S. 458. 20 Der Vater von Abel, Andor Nema, bleibt in seinen Konturen verschwommen: »Ein halber Ungar, die andere Hälfte ungewiss, er sagte, er trüge das Blut sämtlicher Minderheiten der Region in sich, ein Zugereister, ein Zigeuner, ein Stimmenimitator und Abenteurer, der auf zwei Flöten gleichzeitig und die Balalaika spielen konnte, und wer weiß, was noch alles.« (61)
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pultiert. Der Weg zwischen diesen beiden Welten findet kaum Erwähnung im Roman, die Flucht selbst und der Transitraum in den Westen werden nicht beschrieben und sind allenfalls in über den Roman verstreuten Erzählpartikeln bruchstückhaft greifbar. Die Figur Abel gewinnt vor allem durch die Wahrnehmung anderer Figuren und deren Zuschreibungen im Roman an Konturen. Dabei ist charakteristisch, dass Abel auf andere äußerst ambivalent wirkt. Rein äußerlich kristallisiert sich im Roman ein Bild heraus, dass relativ übereinstimmend ist und in etwa der ersten Wahrnehmung von Mercedes kurz nach dem Grenzübertritt von Abel entspricht: Unwahrscheinlich dünn und groß, ein Schulterpolster des schwarzen Trenchcoats hing auf Halbmast, überhaupt sah alles aus wie auf ihn geworfen, selbst die weißen Hände baumelten teilnahmslos aus den zu kurzen Ärmeln, so wie später, jetzt – ein ganz ähnliches Baumeln. (165)
Der Eindruck von sehr dünner Gestalt und baumelnden Händen wird in Verbindung gebracht mit Teilnahms- und Wehrlosigkeit sowie Passivität. Da an Abel alles derangiert und erschlafft wirkt und er einen schwarzen Mantel trägt, evoziert seine Figur auch das Gefühl von Traurigkeit und Verhüllung. Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn Abel Nema Opfer eines Gewaltverbrechens wird und ein erster Eindruck des an einem Klettergerüst Hängenden geschildert wird: »Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen, oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzen Mantelflügel zuckten manchmal im Wind.« (9) Die Gestalt Nemas weckt bei seinen Gesprächspartnern häufig Assoziationen und löst Projektionen aus. Obwohl er in den allermeisten Situationen stumm bleibt (155), wird er durch seine »Aura« (17) und seine Andersheit zum Mittelpunkt, löst nicht selten sogar Mitgefühl und Annäherungswünsche aus: Wie eine Statue, sagte eine Frau, die ihn eine Weile beobachtete, weil sie ihn gutaussehend fand. Eine schwarz-weiße Holzstatue, ein wenig gruselig und gleichzeitig … Er strahlt etwas Unerklärliches aus, Ferne und … ist es Kraft oder Schwäche? Man würde sich gerne zu ihm legen, wann, wenn nicht jetzt, betrunken in der Sylvesternacht, aber gleichzeitig hat man Angst, überhaupt in seine Nähe zu kommen. (139)
Diese Unbestimmtheit ist eine Kippfigur, die in manchen Fällen (wie in diesem Zitat) mit Faszination verbunden ist, in anderen aber mit offener Ablehnung bis hin zu Gewalt.21 Oft erscheint Abel den Anderen verdächtig (13f.), als jemand, der sich nicht integrieren will, nicht authentisch (314) oder schlichtweg fremd und unnahbar (67f.) ist. Die Wahrnehmung Abels durch andere Figuren im 21 Vgl. hierzu auch folgenden Satz: »Lieben oder töten. Bei Bora ist es Ersteres.« (68)
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Roman kulminiert im Bild eines Kaleidoskops. Je nach Blickwinkel des Betrachters verändert sich das Bild und lässt sich daher nicht konstant justieren: Wie sieht er aus? Wie ist seine Haltung, wie sind seine Bewegungen? […] Sieht er alles in allem gut aus? Manchmal würde ich sagen: ja, manchmal weiß man’s nicht. Dasselbe Gesicht und dennoch. Eine Sache des Blickwinkels und davon gibt es unzählige. Lichteinfall, Tageszeit, Gesprächsthema. Ein Gesicht wie der Mond: manchmal Krater, Dunkelheit, dann wieder voll, weiß, strahlend. Letzteres macht der Blick. Was für ein Blick. (273)
Aus der Sicht von Mercedes, Abels späterer Ehefrau, wird in dieser Textpassage das Unbestimmte und nicht Festlegbare der Person Abels akzentuiert. Da Abel meist nicht auf einer sprachlichen Ebene kommuniziert, beispielsweise konkrete Fragen nur äußerst unwillig und meist wortkarg beantwortet, kann sich die Betrachterin nur ein Bild der Figur von außen machen. Doch ein solches Bild muss zwangsläufig fragmentarisch ausfallen und ist entscheidend von der eigenen Perspektive (»Lichteinfall, Tageszeit, Gesprächsthema«) abhängig. Exemplarisch zeigt sich das in dieser Passage am Gesicht Abels (in anderen Textpassagen spielen weitere Körperteile wie Arme oder Rücken eine Rolle, und öfters wird auch seine Stimme dahingehend vermessen), das in seinen Extremen (»Krater«/ »Dunkelheit« versus »voll«/ »weiß, strahlend«) wahrgenommen wird. Eindeutig ist nur der »Blick« Abels, im Sinne von beeindruckend oder einprägsam. Die Textpassage lässt sich dahingehend deuten, dass die Faszination, die vom Blick des Flüchtlings Abel ausgeht, der fremd in seiner Umgebung ist und meist stumm bleibt, zu unendlichen Projektionen führt, die je nach »Lichteinfall, Tageszeit, Gesprächsthema« variieren, aber die Figur als Ganzes nie erfassen können. Je nach »Blickwinkel[s]« verändert sich das Bild. Gleichzeitig lässt sich das Erzählverfahren des Romans als kaleidoskopartig beschreiben. Kleine Wahrnehmungspartikel werfen einzelne Streiflichter auf die Figur des Flüchtlings Abel Nema, die letztendlich aber immer nur partikulare und subjektive Stimmungsbilder bleiben.
Im Netz der Ortlosigkeit Im folgenden Schritt sollen die obigen Überlegungen zur kaleidoskopartigen Wahrnehmung mit der Labyrinthstruktur des Romans in Verbindung gebracht werden. Dazu soll ein Blick auf einzelne Räume bzw. Milieus in Alle Tage geworfen werden. Strukturell bewegt sich Abel Nema in B. durch verschiedene Milieus – so das Männerwohnheim um Konstantin, die Kreise seiner Sponsoren um Timor, »Anarchia Kingania«, die düstere Wohnumgebung neben der Flei-
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scherei von Carlos, den Nachtclub »Klapsmühle« sowie das Sprachlabor –, die für einen bestimmten Zeitraum in seinem Leben zentral sind, dann aber meist fast nahtlos durch ein neues Milieu ersetzt werden. Auf zwei Milieus, die für den Kontext der Argumentation in diesem Aufsatz zentral sind, soll weiter unten näher eingegangen werden. Verbindendes Kennzeichen aller dieser Räume und Milieus im Roman ist, dass sie labyrinthische Struktur haben, wobei Mora in ihren Poetikvorlesungen darauf hinweist, dass das Bild vom Irrgarten, der kein eigentliches Zentrum aufweist, noch treffender wäre.22 Umberto Eco erläutert in seiner Nachschrift zum ›Namen der Rose‹23, dass es drei Arten von Labyrinthen gibt: das klassisch-griechische Labyrinth, das Labyrinth als Irrgarten sowie das Labyrinth als Netzwerk. Bezugnehmend auf Deleuzes und Guattaris Rhizom ist das Netzwerk laut Eco »ein Gewirr von Knollen und Knoten«24. Während es im Labyrinth und im Irrgarten prinzipiell noch ein Zentrum gibt, in das zu gelangen zumindest das Ziel ist, ist in einer netzartigen, rhizomatischen Struktur25 jeder Punkt mit jedem verbunden, ein Zentrum ist nicht vorhanden und die Suche danach daher irrelevant. Tatsächlich verbindet die im Roman geschilderten Räume ihre Undurchdringlichkeit und netzartige Struktur. Das Männerwohnheim namens »Bastille« (94) in der »zehnten Etage« eines Hochhauses (86), in dem Abel direkt nach seiner Ankunft im Westen vier Jahre lang ein winziges Zimmer mit einem »Fenster zum Nichts« (94) bewohnt, verunmöglicht zum Beispiel aufgrund seiner Verschachtelung jede Form von Orientierung: Wir wohnen hier genau auf dem Äquator, man sieht weder, was auf dem Grund des Schachtes ist (Dunkelheit), noch was an den Seiten vor sich geht (Zwielicht), noch oben, den Kopf in den Nacken gelegt, im Himmel, denn der ist wieder zu hell. Dazwischen gehen die Stimmen des Hauses auf und ab, oder man weiß nicht, woher wohin, sie sind einfach da, Lebensgeräusche, hoffentlich bist du nicht lärmempfindlich. (94)
Dennoch ist die »Bastille« eine Zeitlang eine Art Zuflucht für Abel, obwohl er sich jeder Form von Kommunikation dort zu verweigern scheint, bei Konstantin, der als »Hausherr« nach Menschen sucht, »denen er ein Obdach bieten konnte« (112), im »Transitbahnhof in meiner Wohnung« (113). Allein innerhalb dieses Milieus bewegen sich zahlreiche Flüchtlinge verschiedenster Herkunft, unter anderem aus dem Kaukasus, Estland, Ungarn und Tschechien. Charakteristisch für die im Roman dargestellten Milieus, in denen sich der Flüchtling Abel Nema bewegt, ist ihre temporäre Funktion. Stets gelangt das 22 Mora, Nicht sterben, S. 56. 23 Umberto Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, München 1986, S. 63ff. 24 Umberto Eco, »Die Enzyklopädie als Laybrinth«, in Im Labyrinth der Vernunft: Texte über Kunst und Zeichen, hrsg. von Michael Franz, Leipzig 1995, S. 104–112, hier S. 106. 25 Vgl. Gilles Deleuze / F8lix Guattari, Rhizom, Berlin 1977.
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Geschehen an einen Punkt, an dem sich ebendiese Funktion plötzlich auflöst und den Flüchtling zwingt, ein neues Milieu zu suchen, das ihm erneut vorübergehend »Obdach« bietet. Die Bastille beispielsweise wird an dem Punkt für Abel obsolet, als er in »eine undurchschaubare Drogen- oder Aufenthaltsgeschichte« (126) hineingeraten ist, die ihm ein Verhör in einer Polizeistation einbringt und nur durch die umgehende Hilfe Tibors entschärft werden kann. Nach dieser Episode bleibt Abel nichts anderes übrig, als sofort aus der Bastille auszuziehen. Der Übergang in das Milieu von »Anarchia Kingania« hängt mit einer Figur namens Kinga zusammen, die ebenso wie Tibor und Abel aus einem osteuropäischen Land stammt und Ungarisch spricht. In »Anarchia Kingania« versammelt sich eine temporäre, fast familiäre Gemeinschaft, in der Abel von Kinga als »Kind« und sie selbst als »Patin« bezeichnet wird. Das Milieu um Kinga, das in seiner Isolation fast wie eine Utopie anmutet, wird auch als Enklave und als »Höhle« charakterisiert: »eine Höhle, was braucht der Mensch mehr.« (154) Hier findet eine Art existenzielle Umdeutung (»Wir leben alle am Rande des Nichts«, AT 149) statt, die auch in Verbindung mit der Kindheit der Figuren steht. So lebte Abel in der Kleinstadt, aus der er kommt, sehr beengt in einem »Schrank« und Kinga in den 80er Jahren in einem »Kellerloch« in einer kleinen Stadt. Die Region wird dabei als osteuropäisch beschrieben: »Bedenke, damals dachten wir, das Hauptproblem sei, dass die Nationalitäten unterdrückt würden« (155). Den Weg von der Bastille in das Milieu von »Anarchia Kingania« geht Abel, durchaus symbolisch zu lesen, durch Nebel und weitgehend orientierungslos, was mit seinem allgemeinen Zustand korrespondiert. Auch im stockdunklen Treppenaufgang des Hauses, in dem Kinga lebt, bewegt er sich nur tastend, und in der Wohnung erscheinen die »Sichtverhältnisse« sehr begrenzt – das Bild eines Wanderers im Wald wird eingeführt (134). Auf dem Weg ins Milieu von »Anarchia Kingania« werden ausführliche Rückblicke in die Narration eingeflochten, durch die ein differenzierter Blick auf die Herkunft des Protagonisten ermöglicht wird. Wichtig zu sehen ist, dass auch hier, um die Metapher des Kaleidoskops erneut aufzugreifen, weitere Facetten der Figur Abel Nemas sichtbar werden. Dabei fällt Kinga die Funktion eines Bindeglieds zur Vergangenheit zu. Dass Abel in der erzählten Gegenwart bei Kinga Zuflucht findet, geht auf eine Wiederbegegnung in B. zurück. Die erste Begegnung zwischen Abel und Kinga fand viele Jahre vorher, kurz vor seiner Flucht in einem überfüllten Zug statt, den er aus seiner Heimatstadt genommen hatte, um auf den Spuren seines Vaters Andor dessen ehemalige Geliebte Bora zu suchen. Kinga, eine berserkerhafte, äußerst lebensbejahende, aber auch erschreckend direkte Figur wird nicht nur an dieser Stelle (»KURV]K, GEBT MIR WAS ZU TRINKEN!«, 135) als aus dem ungarischen Raum stammend markiert. Im Dialog mit Abel wird sie darüber hinaus trotz ihres rüpelhaften Auftretens als intellektuell markiert,
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denn sie nennt ihn »Abelard« und zudem »Abel Ausdemdickicht« (136), ein intertextueller Verweis auf den ersten Band einer im ungarischen Raum bis heute kanonischen Roman-Trilogie von ]ron Tam#si26. Die in die Narration eingeflochtenen Rückblicke auf die Zugfahrt verweisen, auch durch die mehrfach erwähnten Menschenansammlungen (»die reinste Völkerwanderung«, 66), bereits auf den unmittelbar bevorstehenden Bürgerkrieg und damit auf einen zentralen Fluchtgrund Abels. Zwischen der Zugfahrt und der Flucht Abels vor der Einberufung in die Armee liegen wohl nur Tage oder wenige Wochen, in denen sich die Ereignisse auf persönlicher und gesellschaftlich-politischer Ebene weiter verdichten. Die Zugfahrt zu Bora, die Begegnung mit Kinga sowie der Gasunfall und das darauffolgende »Wunder« gehen der Flucht Abels in den Westen unmittelbar voraus. In dieser kurzen Zeitspanne findet nach dem Gasunfall in der Küche Boras im Hirn Nemas eine komplette Umstrukturierung statt, die sich bereits auf ein Gespräch im Krankenhaus auswirkt, das in einer künstlichen Sprache (72) geführt wird: »In den letzten Jahren hat er die Muttersprache seines Vaters fast vergessen, zu Bora sagte er nicht mehr als drei radebrechende Sätze« (73). Der Unfall sowie die neuronale Umstrukturierung im Gehirn Abels korrespondiert mit der politischen Situation, einem beginnenden oder sich bereits im Gange befindlichen Bürgerkrieg. In den wenigen Tagen, die Abel nach dem Gasunfall im Krankenhaus verbringt, verschärft sich die Lage im Land. Die Verschiebungen im Gehirn des Protagonisten können metaphorisch gelesen werden als eine fast übergangslose und grundlegende Umstrukturierung, die zu einer Orientierungslosigkeit auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene führt. Die Warnung seiner Mutter, dass bereits ein Einberufungsbescheid zu Hause eingetroffen sei, ist dann der letzte Auslöser für die Flucht Abels in die Stadt B., die ihn zunächst zu Tibor führt. Die in die Narration eingeflochtenen Facetten der unmittelbar der Flucht vorausgehenden Zeit fallen in die Phase, die Abel in Anarchia Kingania verbringt. Insofern stellt die zentrale Figur innerhalb dieses Milieus, nämlich Kinga, eine wichtige Brücke zur Vergangenheit Abels her. Doch auch Anarchia Kingania muss Abel schließlich nach einiger Zeit wieder verlassen. Der Status dieses Mileus als Enklave und »Höhle« (154) »am Rande des Nichts« (149) ändert sich zunehmend, auch wenn Abel die (zum Beispiel durch Kingas sexuelle Avancen) gegen ihn gerichteten Aggressionen seinem Muster und vor allem seiner zentralen Charaktereigenschaft entsprechend sprachlos erträgt: »Was Abel anbelangte: Er sagte nie ein Wort.« (155) Zunächst 26 Der erste Band der Romantrilogie von ]ron Tam#si erschien 1932 und trägt den Titel Abel a rengetegben (dt. Abel in der Wildnis).
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geht Abel der sich verschärfenden Lage in Anarchia Kingania auf seinen »Irrwegen« (159) durch die Stadt fluchtartig aus dem Weg. Nur mit Mühe kann er sich in der Folge »anhand einiger signifikanter Landmarken« (159) orientieren.
»Ich erhebe, was sonst nicht meine Art ist, die Stimme.« Ein signifikant anders perspektiviertes Bild vom Flüchtling Abel Nema entsteht im Kapitel »ZENTRUM. Delirium«. Während Abel im gesamten Roman keine eigene Stimme erhält und selbst anderen Figuren gegenüber stumm bleibt, ist das ZENTRUM-Kapitel das einzige, das aus der Ich-Perspektive Abels erzählt wird. Die folgenden Überlegungen gehen daher der Frage nach, ob durch diese Perspektive der Narration neue Facetten hinzugefügt werden, die zu einem erweiterten Bild des Flüchtlings Abel Nema beitragen. Das fast fünfzigseitige Kapitel findet sich gegen Ende des Romans und verweist bereits durch die Kapitelüberschrift auf seine zentrale Bedeutung. Auch wenn in gewisser Weise die Verlässlichkeit der Aussagen durch die Tatsache in Frage gestellt ist, dass Abel unter schwerem Drogeneinfluss steht27, so muss das Kapitel doch als wichtige Ergänzung zu allen anderen im Roman auf den Flüchtling bezogenen Facetten gesehen werden. Zentral für die Dramaturgie des Kapitels ist, dass Abel eine eigene Stimme erhält, sein Verhalten reflektiert und selbst deutet. Nach Einnahme einer hohen Dosis Amanita muscaria (Fliegenpilz), deren Wirkung sechsunddreißig Stunden anhält, erlebt Abel Nema in »ZENTRUM. Delirum« eine mentale Reise durch Zeit und Raum, bevor er am Ende auf seinem winzigen Eisenverschlags-Balkon mit Blick auf die Schienen erwacht. Im Delirium begibt sich das 33-jährige Ich auf einen Trip in die Vergangenheit und durch eine labyrinthische Welt, die durch starke Kontraste gekennzeichnet ist (oben, unten; eng, weit; dunkel, gleißend-hell). Auf dieser mentalen Reise trifft er wichtige Familienangehörige, die er seit seiner über ein Jahrzehnt zurückliegenden Flucht nicht mehr gesehen hat, so unter anderem seine Mutter und seinen Vater. Vor allem mit seinem Vater Andor, der in der Begegnung mit der Mutter als »zwielichtige Gestalt« (368) bezeichnet wird, hat er einen Disput über dessen abruptes Verschwinden in seiner Jugend, an das er sich noch detailliert erinnert und das in der Folge innerhalb der Familie totgeschwiegen wurde. Der lange nach dem Weggang des Vaters ausgebrochene Bürgerkrieg zementierte dann den endgültigen Bruch in der Familiengeschichte. Auf dem Trip in »ZENTRUM. Delirium« werden solche wichtigen Facetten der Vergangenheit 27 Ter8zia Mora selbst hinterfragt in einem Interview mit Thomas Combrink die Authentizität dieses Kapitels und begründet das u. a. mit dem Drogeneinfluss Abels, vgl. Combrink, »Kleingläubigkeit«.
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Abels sichtbar. Im Gespräch mit dem Vater, den Abel zum Zeitpunkt der mentalen Reise seit über zwanzig Jahre nicht gesehen hat, überrascht seine Offenheit. So gesteht er ihm auch seine Homosexualität und bringt ihm ein nicht unbeträchtliches Maß an Sympathie entgegen. Damit stellt er sich in dieser Szene explizit gegen das vorherrschende Familiennarrativ, das dem Vater alle Schuld am Auseinanderbrechen der Familie zuschreibt. Auffällig in dem Kapitel ist insgesamt, dass Abel wertend in die Geschehnisse eingreift und Stellung bezieht. Sein Verhalten wird von ihm selbst mehrfach reflektiert: »Ich erhebe, was sonst nicht meine Art ist, die Stimme.« (377) Die theaterhafte Szenerie des Trips zeigt sich an zahlreichen Stellen, so auch darin, dass Abel plötzlich auf einer Drehbühne sitzt und sich sein Blick wie bei einem Panoramabild von großer Enge hin zu extremer Weite öffnet. Die Szenen wechseln oft übergangslos, Raum und Zeit verschwimmen. Abel selbst sagt einmal »I’m puzzled« (359), ein Hinweis auf die vielen Splitter, aus denen sein Leben besteht, und deren Zusammensetzung auch in diesem Kapitel nur bedingt gelingt. Dennoch werden in »ZENTRUM. Delirium« wichtige deutende Akzente gesetzt, die in die Innenwelt Abel Nemas führen, dessen Gefühle beleuchten und den Versuch darstellen, Situationen seines Lebens in einen größeren Kontext einzubetten. So mündet das Kapitel schließlich in längere Erklärungen Abels, warum er nach seiner Flucht in den Westen weitgehend stumm geblieben ist. Es entsteht das Bild eines Menschen, der durch die Flucht aus den »Provinzen der Diktatur in die allumfassende Vorläufigkeit der absoluten Freiheit eines Lebens ohne gültige Dokumente geraten« ist und der seine gesamte Kraft in die »Kultivierung und Ausweitung meines Talents«, also das Erlernen von Sprachen, gesteckt und ansonsten eine »Straußhaltung« (404) eingenommen hat. Die Zwangslage, in die er durch die Flucht geraten ist, hat weitgehend dazu geführt, mit einem »Tunnelblick« durch die Welt zu laufen. Sichtbar wird in dem Kapitel auch, dass die Vergangenheit in Osteuropa weitgehend vom Leben in B. abgeschnitten war, obwohl Abel auch Sehnsucht nach seiner »Heimat« (404) hatte, in die aber eine Rückkehr schon alleine deswegen unmöglich war, weil sich der Staat, aus dem er kommt, in der Folge des Krieges aufgelöst hat. Seinen Versuch, sich in B. zehn Sprachen im Labor perfekt anzueignen und sich als schlecht bezahlter Übersetzer bzw. Dolmetscher durchzuschlagen, erklärt Abel als »Handeln«, als Möglichkeit »alle Tage den Frieden« (402) zu praktizieren. Dass Abels Verhalten auch der Scham geschuldet ist, gehört zu den eindringlichsten Passagen im Kapitel. Wovon ich rede…Wovon ich rede, sage ich nun, nicht zu leise, klar, ist mein neues Vaterland: die Scham. Jetzt und hier habe ich den Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Weil es möglich war. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit, diesen zu zahlen. Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar. (406)
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Hier wird deutlich, wie sehr sich Abel geschämt hat, nicht »am richtigen Ort, oder am richtigen Ort, nicht der richtige Mensch zu sein« (406) und dass er letztlich daran verzweifelt ist, ohne dass das seine Umwelt überhaupt wahrgenommen hätte. Die skizzierte prekäre Lage führte in seinem Leben zu einer Erstarrung, die traumatische Züge trägt, weil sie die Verbindung zu einem früheren Teil seiner Existenz versperrt. Abel selbst bringt seine Situation bezeichnenderweise selbst auf den Punkt: »Vor dreizehn Jahren ist ein Weinen in mir stecken geblieben.« (408)
Vom Zustand der Flucht Alle Tage rückt den Flüchtling als Konstrukt verschiedenster, meist ambivalenter Zuschreibungen und Projektionen in den Mittelpunkt. Mora lenkt in ihrem Roman den Blick auf ein komplexes, labyrinth- bzw. netzartiges Geflecht der Fluchtgeschichte. Nema selbst bleibt innerhalb dieser Konstruktion weitgehend passiv und stumm. Zu dem kaleidoskopartigen Bild, das beim Lesen des Romans entsteht, trägt wesentlich die narrative Struktur des Textes bei, die durch die Abwesenheit eines durchgängigen Erzählers sowie durch die Unbestimmtheit des Raums und der Zeit verschiedene Lesarten anbietet. So liegt zunächst eine Lesart nahe, die Abel Nema im existenziell-parabelhaften Sinn als ortlosen und entrechteten Migranten in einer globalisierten Welt interpretiert.28 Dass Mora bezüglich präziser historischer Koordinaten unbestimmt bleibt, begründet die Schriftstellerin an anderer Stelle auch poetologisch. In ihrem Aufsatz »Das Kreter-Spiel« erläutert Mora, in welchem Maße einzelne Wörter (zum Beispiel 9/ 11) einen Text auf ein ganz bestimmtes historisches Moment festlegen können und damit weitere Lesarten blockieren.29 Dennoch enthält der Roman zahlreiche Hinweise auf eine Verortung des Weges und des Schicksals Abel Nemas in einer osteuropäischen Grenzregion. Insofern kann seine Fluchtgeschichte tatsächlich stellvertretend für eine »Wanderbewegung aus Osteuropa« nach der Wende gesehen werden. Im Roman entsteht das kaleidoskopartige Bild des Flüchtlings Nema, das über weite Strecken ein Konstrukt der Außenwelt ist, das widersprüchlich zwischen Anziehung und Abstoßung, Faszination und Angst changiert und mit der labyrinthischen, 28 Vgl. dazu auch folgende Aussage Ter8zia Moras in einem Interview mit Anke Biendarra, »›Schriftstellerin zu sein und in seinem Leben anwesend zu sein, ist für mich eins‹: Ein Gespräch mit Ter8zia Mora«, in Transit, Jg. 3, 2007, Heft 1, http://transit.berkeley.edu/2007/ biendarra/ (zuletzt abgerufen am 06. 05. 2016). Mora bezieht sich darin auf Abel Nema: »Wenn ich formulieren müsste, worum es in meinen Büchern geht, würde ich immer sagen: um den Zustand der Welt.« 29 Mora, »Das Kreter-Spiel«, S. 11.
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netzartigen Struktur des Romans korrespondiert. Der Flüchtling selbst bewegt sich orientierungslos innerhalb dieses undurchdringlichen Netzes. Vor allem während seines Aufenthalts in Anarchia Kingania öffnet sich in erzählerischen Rückblenden der Blick auf die der Flucht unmittelbar vorangegangene Zeit, wodurch dem Bild des Flüchtlings, wie es von der Außenwelt konstruiert wird, wichtige neue Facetten, die sich auf die Geschichte Abels sowie den Herkunftsraum beziehen, hinzugefügt werden. Als weitere bedeutsame Facette muss das zentrale Kapitel »ZENTRUM. Delirium« gesehen werden, weil darin dem Flüchtling erstmals eine eigene Stimme gegeben wird und sein Verhalten eine vertiefte Deutung erfährt. Der Roman wirft in vielfältiger Weise die Frage auf, wann jemand zum Flüchtling wird. Natürlich beginnt der Status eines Flüchtlings im rechtlichen Sinne auch bei Abel Nema mit dem Moment der Flucht vor dem aufziehenden Bürgerkrieg und allen damit verbundenen Folgen wie Asylantrag, Abschiebung und Scheinehe. Darüber hinaus steht aber eine wesentlich komplexere Struktur von Flucht im Zentrum von Alle Tage, die mit Aspekten von Identität, Zugehörigkeit und Fremdheit verbunden ist. Die Flucht selbst, die Abel aus einer osteuropäischen Kleinstadt in die Großstadt B. im Westen katapultiert, verstärkt im Grunde einen bereits viel früher beginnenden (Flucht-)Zustand, der von Fremdheit und Nichtzugehörigkeit geprägt ist. Für ihn bleibt die Welt auch nach der Flucht Labyrinth. Weder gelingt ihm in der Großstadt B. der Weg in ein Sinnzentrum noch die Rückkehr in eine wie auch immer geartete Heimat. In diesem Sinne stellt die Autorin auch jede Vorstellung von Heimat und Fremde als antipodische Elemente oder eine kulturalistische Interpretation, die auf Verwurzelung setzt, in Frage.
Christian Luckscheiter
Flüchtlinge in der Literatur Peter Handkes
Odysseus und die Flüchtlinge In aktuelle Debatten über Flucht, Flüchtlinge, Flüchtende wird nicht selten Odysseus eingeschleust. Warum? »Wir sollten uns vor allem anderen fragen, warum unsere Fragen immer wieder auf Odysseus zurückkommen.«1 Friedrich Kittler, der diese Frage empfiehlt, sieht in seinem Text Im Kielwasser der Odyssee die zuverlässige Rückkehr zu den Griechen darin begründet, dass »unser Dichten und Denken allgemein«2 von den Griechen bestimmt sei. Die »Rekursionen« bestünden allein darin – wobei Kittler Ernest Renan zitiert –, »das weiter zu entfalten, was die Griechen begonnen haben«3. In der aktuellen FlüchtlingsDebatte, so scheint es, kommt man immer wieder auf Odysseus zurück, weil Odysseus damals mit dem Boot über das Mittelmeer gefahren ist. Diese schlichte Parallelität genügt Journalistinnen und Journalisten anscheinend, um aus ihm den ersten Bootsflüchtling in der Geschichte des Abendlands zu machen. Und weil, auf diese Weise fehlgelesen, am Anfang unserer europäischen Literatur das Schicksal eines Bootsflüchtlings steht, sind selbst wir sesshaften Europäer als seine kulturellen Nachfahren letztlich alle irgendwie und irgendwo Bootsflüchtlinge, zumindest einmal gewesen; eine unbedacht zynische These. Patrick Kingsley, sogenannter migration correspondent von The Guardian, machte den Vergleich sogar zum Titel seines unlängst erschienenen Buchs Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, denn, so Kingsley, die Geschichte des Odysseus gleiche der Geschichte jener Menschen, die »zu Fuß, in den Laderäumen hölzerner Fischerboote oder unter den Bodendielen von Geländefahrzeugen«4 nach Europa zu kommen versuchen. Er fügt hinzu: 1 Friedrich A. Kittler, »Im Kielwasser der Odyssee«, in Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin 2013, S. 360–376, hier S. 360. 2 Ebd., S. 360. 3 Ebd., S. 360. 4 Patrick Kingsley, Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, München 2016, S. 18.
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Ich möchte diese Verbindung nicht zu stark strapazieren, aber dennoch gibt es offenkundige Parallelen. Wie die antiken Helden fliehen auch viele der heutigen Migranten vor einem Konflikt im Nahen Osten und fahren mit Schiffen über das Ägäische Meer. Die heutigen Sirenen sind die Schleuser mit ihren leeren Versprechungen einer sicheren Überfahrt, und die gewalttätigen Grenzwächter sind die modernen Zyklopen.5
Die Frage spätestens an dieser Stelle ist, ab wann Kingsley eine Verbindung für zu stark strapaziert hält. Nicht immer gefällt die Rückkehr zu den Griechen. Abgesehen von völlig verfehlten Sirenen-Vergleichen: Homers Odyssee lässt sich kaum als die Geschichte eines Bootsflüchtlings lesen. Die Odyssee ist eine Heimkehrgeschichte, Odysseus eher ein herumirrender Seefahrer. Nur im Hinblick auf eine ganz bestimmte Flucht ist auf die Odyssee zurückzukommen: »Flüchtig ja ist die Zunge der Sterblichen, vielfach die Reden / Aller Art und weit das Gefild’ hinstreifender Worte«6, heißt es im 20. Gesang der Ilias. Um die Flüchtigkeit der gesprochenen Worte in die Beständigkeit der Schrift zu bannen, um die Ilias und die Odyssee aus ihrer Abhängigkeit von Homer bzw. der mündlichen Überlieferung und dem fehleranfälligen Auswendiglernen eines sterblichen Rhapsoden-Körpers zu befreien und für die Ewigkeit in ihrer ursprünglichen Form zu überliefern, wurde, so die starke These Barry B. Powells7 und in seiner Nachfolge Friedrich A. Kittlers8, überhaupt erst das griechische Vokalalphabet – die »hinreichende Bedingung europäischer Literatur«9 – erfunden. Am Anfang unserer Geschichte war also weniger der Bootsflüchtling als die Fluchtverhinderung. Nun gibt es in der Literatur allerdings eine Stelle, an der Odysseus als Flüchtling bezeichnet wird, und zwar in einem Fragment des Philoktet von Euripides. Odysseus sagt: »Zum Flüchtling machte mich Odysseus und trieb mich aus dem Heer«10. Hier verheimlicht der große Lügner Odysseus Philoktet, wer er ist; die Selbst-Bezeichnung als Flüchtling ist eine List, um Philoktets tödlichem Pfeil zu entgehen – wie an anderer Stelle die List, sich Niemand zu nennen, um den Zyklopen zu besiegen. Auch auf diese List des Weitgereisten und Vielgewanderten wird in der aktuellen Flüchtlingsdebatte zurückgekommen. Richard, emeritierter Professor für Klassische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Held in 5 Ebd., S. 18. 6 Homer, Ilias. Odyssee, in der Übertragung von Johann Heinrich Voß, Frankfurt (Main) 1990, S. 391f. 7 Vgl. Barry B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991, u. a. S. 237. 8 Vgl. zum Beispiel Friedrich A. Kittler, »Homer und die Schrift«, in Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin 2013, S. 342–350. 9 Friedrich Kittler, Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin 2013, S. 20. 10 Euripides, Philoktet. Testimonien und Fragmente, hrsg. von Carl Werner Müller, Berlin / New York 2000, S. 189.
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Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen, erinnert die Art und Weise, wie die Flüchtlinge vor dem Roten Rathaus in Berlin auf sich aufmerksam machen, ihre »Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist«11, an die List des Odysseus, sich Niemand zu nennen.
Homer, Odysseus, der Niemand, die Flüchtlinge Wie oben mit Kittler erinnert, ist die Rückkehr zu den Griechen aber nicht auf die gegenwärtige Literatur zur Flüchtlingskrise beschränkt, sondern vielmehr konstitutiv für die europäische Literatur überhaupt. Selten wird allerdings sowohl zu Homer, zu Odysseus und zum Niemand als auch zum Flüchtling zurückgekehrt – wie in der Literatur Peter Handkes. Dass Handke immer wieder zu den Griechen zurückkehrt und in seiner Literatur Homer, Odysseus und der Niemand eine wichtige Rolle spielen, hat die Forschung mehrfach herausgestellt.12 Homer ist für Handke eines jener Schriftsteller-Vorbilder, die das Schreiben orientieren und an die anzuknüpfen ist, wenn Literatur nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden soll. In dem Film Der Himmel über Berlin, zu dem Handke das Drehbuch verfasste, hat Homer sogar höchstpersönlich einen Auftritt. Dieser Auftritt ist für Handkes Poetologie insofern von entscheidender Bedeutung, als sie hier von Homer explizit gemacht wird. Während Homer in einer Filmszene leicht orientierungslos über den Potsdamer Platz – das »Niemandsland, das einst das Stadtzentrum darstellte« – stolpert, denkt er : Meine Helden sind nicht mehr die Krieger und Könige, sondern die Dinge des Friedens, eins so gut wie das andere. Die trocknenden Zwiebeln, so gut wie … der Holzstamm, der durch den Morast führt. Aber noch niemandem ist es gelungen, ein Epos des Friedens anzustimmen. Was ist denn am Frieden, daß er nicht auf die Dauer begeistert und daß sich von ihm kaum erzählen lässt?13
Die Frage des Film-Homers ist auch die Frage des Drehbuchverfassers Handke, der ab Ende der 1970er Jahre, beginnend mit Langsame Heimkehr (1979), am Versuch einer ›reinen‹ Friedenserzählung schreibt, idealerweise in Form eines Epos.14 Der Literatur wird dabei eine spezifische, sich aus ihrer Geschichte und 11 Jenny Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen, München 2015, S. 31. 12 Vgl. beispielsweise Ralf Zschachlitz, »Der Mythos des Polyphem. Das Motiv des ›Niemand‹ bei Peter Handke im Vergleich mit Paul Celan und Herbert Achternbusch«, in Germanischromanische Monatsschrift, Neue Folge, Jg. 45 (1995), Heft 4, S. 431–452. 13 Peter Handke, Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke, Frankfurt (Main) 1987, S. 56f. 14 »Ein Epos des Friedens – mein Ideal« heißt es in Handkes Aufzeichnungen Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/Wien 1998, S. 347. Vgl. dazu insbesondere Heiko Christians, »Der Roman vom Epos. Peter Handkes ›Poetik der Verlangsa-
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Tradition ergebende Aufgabe gestellt, nämlich etwas Drittes zu sein, nicht »Trostpflaster«, aber auch nicht »Begleitgesang der Zerstörung«.15 In diese Friedens-Erzählversuche wird immer wieder Odysseus und insbesondere Odysseus in seiner Rolle als Niemand eingeschleust.16 Weniger bis nicht bekannt ist jedoch, dass auf ihrem Schauplatz auch Flüchtlinge auftreten. Ihre Auftritte seien in Folgendem zunächst herausgestellt, bevor der Versuch unternommen sei, sie zu kontextualisieren und zu problematisieren.
Flüchtlinge in Peter Handkes Texten Niemand und Flüchtling erfahren in Handkes Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) eine engere Verbindung. Die Siedlung in der Niemandsbucht, in der ihr wie Odysseus von einer Narbe am Bein17 (aus)gezeichneter Erzähler wohnt, ist ein »einstiges Flüchtlings- oder Arbeitslager, errichtet vielleicht für einen Monat auf einer ausgedehnten Rodung inmitten der Wildnis«, und erst allmählich zu einer Dauersiedlung geworden; »die Straßen erinnerten dabei, und nicht nur von oben gesehen, noch an die Lagergassen, ebenso wie die Häuser, so solide sie wirkten, in dem Vogelperspektiv-Weichbild Behelfshütten oder Zelten gleich verschoben und durcheinander standen.«18 Eine bruchstückhafte Ortschronik berichtet des Weiteren, dass die Bucht »Asylland« gewesen sei seit dem Beginn des Jahrhunderts, erst für die Russen und die Armenier, dann für die Italiener unter Mussolini, die Spanier unter Franco. Zwischen den beiden Weltkriegen bestand gar ein Viertel der Leute hier, selten für eine westliche Vorstadt von Paris, aus neuangekommenen Asylanten.19
In der Erzählgegenwart Ende des 20. Jahrhunderts sind in die Niemandsbucht »aus den Bürgerkriegsgegenden« erneut Flüchtlinge gekommen, »für welche die Bucht seit je mehr als bloß ein Auffanglager gewesen war.«20 Ihnen ist eine
15 16 17 18 19 20
mung‹«, in Hofmannsthal Jahrbuch, Jg. 10 (2002), S. 357–389, und Heiko Christians, Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000), Freiburg 2004, v. a. S. 215ff. Peter Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Frankfurt (Main) 1990, S. 162. Vgl. hierzu generell Christian Luckscheiter, Ortsschriften Peter Handkes, Berlin 2012, u. a. S. 77, 109 und 142. Zum Motiv des Niemand in Handkes Werk vgl. Zschachlitz, »Der Mythos des Polyphem«. Vgl. Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt (Main), 1994, S. 999. Ebd., S. 708. Ebd., S. 848. Ebd., S. 977.
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besondere Aufmerksamkeit für den Ort eigen. Der Erzähler ist beispielsweise darüber erstaunt, dass sie ihre Behausungen weit mehr schmückten mit dem und jenem aus ihrem neuen Wohnsitz, der Bucht, als mit den Mitbringseln und Erinnerungsstücken aus ihren Herkunftsländern. Nicht nur einer, der auf dem bißchen Grund zwischen der Straße und seinem Kleinsthaus ein Muster niederer Miniaturgehege errichtete, eingefaßt von Holzprügelpflöcken aus den hiesigen Wäldern, […] mit Pflanzen, für die hier sonst keiner, auch ich nicht mehr, Augen hatte, und die in der Gegend eher als Unkraut galten. All das schien den Flüchtlingen eine Besonderheit, und es bekam der gefiederte Ebereschenschößling gleich wie die Königskerze, die Waldrebe gleich wie der Schilfkolben eine Stütze, wurde mit der verknüpft oft durch regelrechte Seemannsknoten.21
Die Aufmerksamkeit für den Ort und Details sowie die Wertschätzung der täglichen Dinge vor Ort, die die Flüchtlinge an den Tag legen, bringen dem Erzähler, der es mit Orten, Details und täglichen Dingen zu tun hat, seine eigene Herkunft wieder zu Bewusstsein: Mir ging […] auf, wie auch meine eigene Art bestimmt wird, weiterhin, davon, daß ich einmal ein Flüchtling war, und das nicht nur die paar Wochen als Kind gleich nach dem Zweiten Weltkrieg […]. Auch Jahre nach unserer Ankunft im Dorf Rinkolach war es, ich hätte, obwohl die dortigen Überlebenden mir fast nichts als liebe Aufmerksamkeit zeigten, kein Recht, in dem Land zu sein, wozu viel beitrug, daß in meinen sämtlichen Zeugnissen, von der Volksschule bis zum Abschluß, dem Vordruck ›Staatsangehörigkeit‹ in wechselnden Handschriften das ›staatenlos‹ folgte. Und ebenso erkannte ich in Betrachtung der neuen Nachbarn, daß mein eigenes zeitweises Kopfscheuwerden […] nicht etwa herrührt davon, daß ich später so plötzlich aus dem Heimatdorf weg in das Internat überstellt wurde, vielmehr von dem mir quereingewachsenen Flüchtlings- und Illegalitätsgefühl.22
Ähnlich der eingangs erwähnten These aus der aktuellen Flüchtlingsdebatte machen die Flüchtlinge dem sesshaften Erzähler das eigene Flüchtlingshafte kenntlich. Weitere Orte in Handkes Literatur sind von Flüchtlingen geprägt. So ist Taxham, Ausgangsort der Handlungen in dem Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997), eine »Neugründung aus dem Nachkrieg«23 und erscheint »nicht nur auf den ersten Blick als eine Enklave.« Es ist »eine Kolonie von Kriegsflüchtlingen, Vertriebenen, Aussiedlern.«24 Der Apotheker des Ortes ist selbst »Flüchtling oder Nachfahr von Flüchtlingen«25, wie 21 Ebd., S. 978f. 22 Ebd., S. 979f. 23 Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, Frankfurt (Main) 1997, S. 7. 24 Ebd., S. 11f. 25 Ebd., S. 49.
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auch der einmal berühmt gewesene Dichter, ein weiterer Protagonist des Romans, als »Flüchtling und Ausländer«26 bezeichnet wird, der allerdings »seinerzeit ein Deutsch geschrieben haben soll, wie es kein Einheimischer im Kopf hatte«27. Der Vorort, in dem Lucie aus Lucie im Wald mit den Dingsda (1999) wohnt, »schien sich darin zu gefallen, eine ›Stadt von Flüchtlingen‹ zu sein«28, und Lucies Vater zittert von Zeit zu Zeit, weil er als Kind mit seinen Eltern »in einem fort – so sagte man damals noch – auf der Flucht war, von einem Land zum nächsten, über eine Grenze zur andern«, demnach »ein Flüchtling war«29, der eine Lucie völlig unverständliche Vatersprache spricht, sie nicht selten »in Gesellschaft gleich mehrerer aus vollen Kehlen in dem fremden Kauderwelsch durcheinanderredender, sämtliches einheimische Sprechen übertönender Mitflüchtlinge«30 von der Schule abholt und immer weiter flüchten will.31 In Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002) wird der »Autor« der Erzählung ebenfalls ein Flüchtlingskind genannt.32 Von den aus der ganzen Welt nach Hondareda, einem Ort der Sierra, Geflüchteten heißt es, ihnen seien durch Krieg, Tod oder Verbrechen »sämtliche Bilder, Ideen, Ideale, Rituale, Träume, Gesetze […], welche ihnen die Vorstellung von einer Welt, eines gemeinschaftlichen Lebens auf dem Planeten, ermöglichten,«33 schlagartig zerstört worden. In ihrem Zusammenleben spielen Herkunft, (Mutter-)Sprache, Glaube und Geschichte keine Rolle mehr. Ob sie in Hondareda noch »Flüchtlinge« und »weiterhin akut auf der Flucht«34 sind, bleibt ebenso fraglich wie die Behauptung, dass sie »auf eine geradezu mythische Namenlosigkeit und ein NiemandSein versessen sind«35. Der »tote Winkel« in Kali. Eine Vorwintergeschichte (2007) ist eine Salzbergwerks-Siedlung, in der »weniger Bergleute als Anderweitige, Flüchtlinge«36 wohnen. Seit jeher eine »Flüchtlingsgegend«, kommen inzwischen fast alle Bergleute des Winkels von auswärts, sind Afrikaner, Asiaten, Araber ; viele haben ihren Wohn- bzw. Schlafort »über Hunderte von Meilen« entfernt und führen ein von den nur noch wenigen Einheimischen getrenntes Leben. Der Bergwerksbesitzer berichtet: 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Peter Handke, Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte, Frankfurt (Main) 1999, S. 20. Ebd., S. 14. Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 57. Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt (Main) 2003, S. 174. Ebd., S. 531. Ebd., S. 540. Ebd., S. 581. Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt (Main) 2007, S. 95.
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Lange, bis nach dem letzten Krieg, und noch in den Jahrzehnten danach, kamen wir Flüchtlinge ausnahmslos aus dem Osten. Und bis Ende des vergangenen Jahrhunderts sind die meisten von uns hier heimisch geworden, fast – haben jedenfalls Arbeit gefunden im Salz, haben sich in der Gegend eingekauft. Aber die Flüchtlinge dieses neuen Jahrtausends werden ganz und gar nicht heimisch. Und sie kommen aus sämtlichen Erdgegenden, wie aus dem Osten, später dem Süden, genauso, mehr und mehr, aus dem Norden und dem Westen. Die heutigen Flüchtlinge bleiben ganz unter sich. Und unter sich heißt nicht untereinander. Denn sie stammen von Tür zu Tür, und das innerhalb der Häuser, aus grundverschiedenen Weltregionen, verstehen die Sprache des Türnachbarn nicht, verstehen auch von der hiesigen nur ein paar Floskeln.37
Der »Salzherr« bezeichnet sie als Überlebende, die wie kriegstraumatisiert wirken. Sie seien verwirrt, würden sich ständig verirren, beim kleinsten Geräusch sich ducken und in ihre Häuser flüchten; die meisten wüssten nicht einmal mehr, woher sie gekommen sind. In den toten Winkel gestolpert »wie auf offenem Meer von einem Schiff gestoßen«, würden sie von der Flucht gezeichnet »auf Dauer unter Schock« stehen. Sie seien zu nichts mehr fähig; »der Schock weicht nicht. Sie sind auf ewig Schiffbrüchige«.38 Nur im tiefsten Schacht des Bergwerks, im sozusagen umgekehrten, nach innen gestülpten Turm zu Babel, verstehen sie einander, die Sprache der jeweils anderen, »auch wenn ihnen diese oben fremder als fremd war«39. Der Wanderer in Handkes Erzählung Die morawische Nacht (2008) stößt in der Nähe von Wien neben einem Containerbahnhof, dessen Container »Herkunftsaufschriften aus sämtlichen Erdteilen, und entsprechend in verschiedenen Schrifttypen – nicht einmal die armenischen, georgischen, thailändischen, malaysischen fehlten«, tragen, auf ein Gasthaus, das den Namen »Augasthaus, vormals Gasthaus der Namenlosen« trägt.40 In ihm meint er zunächst, »in einem Flüchtlingslager zu sein«, er sieht Mongolen, Afrikaner, Eskimos, Tibeter, australische Ureinwohner, aber ebenso Europäer – was ihn zu der Frage veranlasst, ob »inzwischen auch Japaner, Nordamerikaner, Bundesdeutsche, gar welche von uns Österreichern, hier im eigenen Land, Flüchtlinge« seien.41 Im Unterschied zum Bildverlust ist dem Erzähler hier jedoch schnell klar, dass es sich nicht um Flüchtlinge handelt, sondern um Teilnehmer eines »Weltmaultrommeltreffens«42.
37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 109f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 125. Peter Handke, Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt (Main) 2008, S. 337. Ebd., S. 340. Ebd., S. 343.
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Niemand-Sein »Auch mein Held war dabei, wie schon für die vielen vor mir, der homerische Odysseus: Wie er hatte ich mich in eine (vorläufige) Sicherheit gebracht, indem ich sagen konnte, daß ich Niemand sei.« Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire
Handkes Texte werden seit den 1990er Jahren offensichtlich auf vielfältige Weise von Flüchtlingen durchzogen, wobei insbesondere auffällt, dass nicht nur die Protagonisten oft Flüchtlinge, sondern auch die Ausgangsorte der Handlungen Flüchtlingsorte sind, nicht zuletzt die in Mein Jahr in der Niemandsbucht für Literatur und das Schreiben einer Geschichte von heute als ideal behauptete43 titelgebende Niemandsbucht. Dennoch wird man die zitierten Bücher schwerlich derjenigen Gegenwartsliteratur zurechnen können, die in den aktuellen Flüchtlingsdebatten thematisiert und gelesen wird. Die Figur des Flüchtlings wird bei Handke größtenteils positiv umgedeutet. Sie erlebt ihr Flüchtlingssein als befreiend, ist aufmerksamer, offener, unterliegt weniger der Trägheit und der Gewöhnung. Selbst die nachhaltig traumatisierten Flüchtlinge des Bergwerksorts in Kali stimmen auf einem gemeinsamen Fest eine Art Flüchtlingsmanifest an: »Und keine Heimaterde mehr […]. Und kein Vaterland und keine Muttersprache mehr. Und keine Besitztümer und sonstigen -tümer mehr. […] Freude, ja, Freude.«44 Ihnen ist eine Verwurzelung über Territorium, Genealogie, Traditionen oder Besitz nicht mehr möglich – aber auch nicht mehr wünschenswert. Versessen seien sie, wie es, oben bereits zitiert, von den Hondaredos im Bildverlust heißt, lediglich auf das Niemand-Sein.45 In seiner Untersuchung des Motivs des Niemand bei Peter Handke, die allerdings schon 1995 und damit vor den hier behandelten Büchern veröffentlicht wurde, hält Ralf Zschachlitz unter anderem folgendes Ergebnis fest: Es dürfte […] deutlich geworden sein, daß der Zustand der Entsubjektivierung, das Niemand-Sein, von Handke nicht als Zustand der Entfremdung oder als Verlust empfunden wird, er ist ganz im Gegenteil ein von Handke angestrebter Zustand, der von seinen Figuren als befreiend empfunden wird. Das Niemand-Werden ist Voraussetzung für einen neuen Anfang, ein neues Einlassen auf die Welt.46
Dieses Ergebnis lässt sich übernehmen und auf Handkes Literatur seither erweitern. Auch das Flüchtling-Werden ist in Handkes Texten Voraussetzung für einen neuen Anfang, ein neues Einlassen auf die Welt. So werden die sich in 43 Vgl. Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, S. 823ff. Vgl. auch Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt (Main) 2004, S. 30f. 44 Handke, Kali, S. 142. 45 Vgl. Handke, Der Bildverlust, S. 581. 46 Zschachlitz, »Der Mythos des Polyphem«, S. 435.
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Hondareda ansiedelnden Flüchtlinge von Nicht-Flüchtlingen als »selbsternannte[ ] Wiederholer einer Vita Nuova«47 skeptisch beäugt. Wie die Flüchtlinge der Niemandsbucht ist ihnen eine andere, neue, intensivere Aufmerksamkeit für den Ort, an dem sie leben, möglich. Sie üben sich in einem Neu-Bewusstwerden ihrer Sinne, einem Neu-Erlernen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Fühlens, aber auch des auf ein neues Zusammenleben hin ausgerichteten Sprechens, Wohnens und Sich-umeinander-Kümmerns. Darüber hinaus ist Handkes Flüchtlingen ihr Flüchtlings-Dasein, ihre Entwurzelung und Heimatlosigkeit meistens nur recht. Hondareda beispielsweise soll eine »auf Dauer gedachte und beraumte Fremde« sein, die die Flüchtlinge nie umdeuten oder umpolen möchten »in etwas anderes als das, was sie grundsätzlich sei und bleiben solle: die Fremde.«48 Sie wollen nichts voneinander wissen, was sie in irgendeiner Weise festlegt, mit einer Vorgeschichte ausstattet, »keinen Namen, keine Familie, kein Vorleben, keine Lieben, keine Mutter- oder Vatersprache, kein Herkunftsland, keinen Zielort«49. Die sogenannten Hondaredos »sehen sich als Leute ohne Land«, als »Staatenlose«, sind »stolz auf ihre Land- und Staatenlosigkeit.«50
Literatur und Wirklichkeit »Andere zu entwurzeln, sei das ärgste der Verbrechen – sich selber zu entwurzeln, die größte Errungenschaft (ein Satz des Philosophen)« Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire
Stellen, bei denen Handke im Rahmen seines Programms, eine Friedensliteratur zu schreiben, eine – mit Handke formuliert – »entsetzensgraue […] Fläche« zu einem »Morgendämmerungshimmel«51 um-malt, waren immer wieder Grund für zum Teil harsche Kritik. Sein künstlerisches Programm, so schreibt zum Beispiel Neva Sˇlibar, sehe generell »von aktuellen Problemlagen und von der historischen Gewachsenheit mit all ihren ausgetragenen oder verschütteten Konflikten«52 ab, Zschachlitz ist der Meinung, Handke würde das »Wahrheitsideal der Literatur«53 opfern. Vergleicht man die Flüchtlinge und Staatenlosen in 47 48 49 50 51 52
Handke, Der Bildverlust, S. 551. Ebd., S. 566. Ebd., S. 544. Ebd., S. 566. Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, S. 87. Neva Sˇlibar, »Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten, Rezeptionsgeschichten«, in Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen, hrsg. von Andreas Brandtner / Werner Michler, Wien 1998, S. 367–387, hier S. 378. 53 Zschachlitz, Der Mythos des Polyphem, S. 439.
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der Literatur Handkes mit der »neuesten Menschengruppe der neueren Geschichte«54, den rechtlosen Staatenlosen in der Realität, scheint es naheliegend, diese Kritik zu wiederholen beziehungsweise zu erneuern. Hannah Arendt bezeichnete die Staatenlosen in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus als »lebende Leichname«, deren einzige »patria« die Internierungslager seien.55 Als Staatenlose ohne jegliche Rechte, die Staaten ihren Bürgern zugestehen, insbesondere Menschenrechte, können Apatriden schwerlich auf den Gedanken kommen, stolz auf ihre Staatenlosigkeit zu sein. Die auf Dauer gestellte Fremde ist ihnen eher der auf Dauer gestellte Schrecken, in dem ausschließlich ihr »Vorleben« einen Zufluchtsort bietet, der den Schrecken zu ertragen hilft. Geschichte und Erinnerung, gerade aber auch die »Mutter- oder Vatersprache«, wovon die Hondaredos nichts mehr wissen wollen, werden Flüchtlingen zur Ersatzheimat.56 Man kann Handkes Flüchtlinge in ihrer Diskrepanz zur historischen Realität aber auch anders lesen. Indem Handke »Möglichkeiten der Poesie in einem potentiell katastrophischen historischen Umfeld«57 austestet, wird es ihm möglich, Flüchtlingen wieder einen eigenen Wert zu geben und sie, wie es auch gegenwärtige kulturwissenschaftliche Diskurse gleichsam empfehlen, »vom Opfer zum handelnden Akteur«58 zu schreiben. Noch vor beziehungsweise zeitgleich mit einem theoretischen Perspektivwechsel in den Kultur- und Sozialwissenschaften, durch den etwa der Diasporabegriff keineswegs mehr »ausschließlich oder primär negativ besetzt«59 ist, sondern »neue und durchaus positive Konnotationen erhalten«60 hat, stellt Handke in der Literatur, mit Thomas Macho formuliert, dem »Bild von der Flucht als Vertreibung, als
54 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1986, S. 578. 55 Vgl. das Kapitel »Die Nation der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen« in Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 614 und S. 594 (Hervorhebung im Original). 56 Vgl. dazu u. a. Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 67: »Allen ›displaced persons‹, Exilierten, Deportierten, Vertriebenen, Entwurzelten, Nomaden sind zwei Seufzer, zwei wehmütige Erinnerungen gemeinsam: ihre Toten und ihre Sprache.« Vgl. auch Luckscheiter, Ortsschriften Peter Handkes, S. 224f. 57 Carsten Rhode, ›Träumen und Gehen‹. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame Heimkehr, Hannover-Laatzen 2007, S. 67. 58 Vgl. Ralph Poole, »Einführung«, in Transkulturalität. Klassische Texte, hrsg. v. Andreas Langenohl / Ralph Poole / Manfred Weinberg, Bielefeld 2015, S. 21–31, hier S. 24. 59 Ruth Mayer, Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld 2005, S. 9. – Mayer verweist hierbei auf das von Jana Evans Braziel und Anita Mannur herausgegebene Buch Theorizing Diaspora (London 2003). 60 Poole, »Einführung«, S. 21.
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Schicksal des erzwungenen Heimatverlusts« das positivere Bild von der »Flucht als Selbstbefreiung« entgegen.61 Angesichts der Beobachtung, dass »[f]este Standorte und Wohnsitze von Kulturen […] größtenteils der Vergangenheit«62 angehören, und der Behauptung, dass die »Epoche der Seßhaftigkeit […] unwiderruflich vorbei« sei, empfahl Macho bereits 1990 den Gang in die Flüchtlingslager : »Die dringend benötigten Lehrer einer neuen Nomadizität«, jene »Experten der Bewegung, die unseren Ängsten und Hoffnungen Raum schaffen könnten«, die »Phänomenologen der neuen Nomadizität« säßen genau dort. »Von ihren Erfahrungen«, so Macho weiter, »ließe sich lernen.«63 Handke nimmt sie in seine Literatur auf und gibt ihnen den Platz der Protagonisten – wohl einmalig in einer Literatur, die nicht zur sogenannten Migrationsliteratur gerechnet wird. Auf einem Schauplatz, der sich über »die Negation oder den Gegensatz zu einer Topographie, die feste Ordnungsstrukturen zeigt«64, definiert, schreibt Handke den Flüchtlingen zu, fern jeder Zugehörigkeit und Verortung mit Lebensformen experimentieren zu können, die ein Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen zu gestalten versuchen. Mit diesen Helden einer Literatur »ohne festen Wohnsitz«65, einer Literatur des 21. Jahrhunderts, stellt er postnationale Lebensformen vor, die über »utopische[s] Verweispotential«66 verfügen, und dem in den letzten beiden Jahrzehnten vermehrt zu beobachtenden »Prozeß der Einwanderung in eine Nationalliteratur«67 durch die Migrationsliteratur gleichsam eine Auswanderung aus der Nationalliteratur an die Seite.
61 Vgl. Thomas Macho, »Fluchtgedanken«, in auf, und, davon. Eine Nomadologie der Neunziger, hrsg. v. Horst Gerhard Haberl / Werner Krause / Peter Strasser, Graz 1990, S. 123–139, hier S. 136. 62 Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist 2001, S. 13. 63 Macho, »Fluchtgedanken«, S. 137 (Hervorhebungen im Original). 64 Luckscheiter, Ortsschriften Peter Handkes, S. 197 und 239. 65 Ette, Literatur in Bewegung, S. 10 (Hervorhebung im Original). 66 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 12. 67 Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, S. 238.
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Erzählungen der Flucht aus raumtheoretischer Sicht. Abbas Khiders Der falsche Inder und Anna Seghers’ Transit Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat. Anna Seghers: Transit
Von der Kunst des Überlebens Mit Blick auf die aktuelle mediale Berichterstattung verweisen der Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani und der Migrationsforscher Mark Terkessidis auf zwei gängige, aus ihrer Sicht jedoch unbrauchbare Beschreibungsweisen von Flüchtlingen: »Während die einen im Flüchtling ein in jeder Hinsicht armes Opfer erkennen, sehen die anderen eine bedrohliche und fremde Masse. Dabei handelt es sich bei den Flüchtlingen erst einmal um unterschiedliche Individuen, die […] auch widersprüchlich sein können.«1 Sie plädieren für eine adäquatere Beschreibung des Flüchtlings als eines »›Überlebenskünstlers‹ im wahrsten Wortsinn«.2 Damit ist ein Perspektivwechsel angeregt: weg von einem pauschalisierenden Blick von außen auf eine anonyme ›Masse‹ und hin zu einer differenzierten Einsicht in die jeweils individuellen Lebensumstände des Flüchtlings, der sich buchstäblich als ein Überlebenskünstler durch die Welt schlägt. Ein Medium, das solche Einsichten und Mit-Sichten mit dem auf der Flucht befindlichen Individuum zu vermitteln vermag, ist die fiktionale Literatur, in der »menschlich erlebte Räume« und »bewegte Erfahrungsmodelle« zur Darstellung kommen, »in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken«3. Sowohl Anna 1 Aladin El-Mafaalani / Mark Terkessidis, »Genug gefrickelt. Die Herausforderungen der Einwanderung lassen sich nicht nebenbei erledigen: Wir brauchen ein Bundesministerium für Migration«, in Süddeutsche Zeitung, Nr. 242 (21. 10. 2015), S. 13. 2 Ebd. 3 Wolfgang Hallet / Birgit Neumann, »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der ›Spatial Turn‹, hrsg. von Wolfgang Hallet / Birgit Neumann, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 11 und 14. Zu den
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Seghers’ Roman Transit (1944/484) als auch Abbas Khiders Debütroman Der falsche Inder (2008) erzählen – in unterschiedlichen historischen Kontexten und bei einer geographisch ›umgekehrten‹ Fluchtrichtung aus und nach Deutschland – von der Fluchtgeschichte eines Überlebenskünstlers. Der Protagonist und Ich-Erzähler in Transit, ein junger Deutscher, ist auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten im südfranzösischen Marseille angekommen, das für Exilanten aus ganz Europa zum letzten Zufluchtsort geworden ist, von dem aus allein der Weg nach Übersee als einzige Überlebenschance zu verbleiben scheint. Hier erweist sich der namenlose Protagonist, der bereits mehreren Lagern entkommen ist und der Rhein und Rhone durchschwommen hat, als ebenso geschickt im Spiel mit falschen Pässen wie mit Identitäten, als ein Überlebenskünstler im allgemeinen »Visentanz« und »Konsulatszauber«.5 Auch der Protagonist aus Khiders Roman – Rasul Hamid, ein junger Iraker – befindet sich auf einer Flucht; diese führt ihn letztlich nach Deutschland. Er ist dem Tod mehrfach entronnen, hat Namen angenommen und Papiere gefälscht, ist aus Gefängnissen freigekommen, hat gefährliche Gewässer überquert und Grenzzäune übersprungen, wobei sich diese Erlebnisse mit der Art ihrer Darstellung ins achtfache potenzieren: Achtmal – und achtmal anders – wird Rasuls Flucht aus Bagdad über diverse Länder in Asien, Afrika und Europa erzählt, wobei auch er als der Ich-Erzähler seiner eigenen Geschichte auftritt. Bereits die ›Kunst‹ des Transit-Protagonisten im ›Konsulatszauber‹ mutet erstaunlich an. Die ›Überlebenskunst‹ Rasuls wird explizit zum »Wunder« erklärt, wenn es in einem gleichlautenden Kapitel in Der falsche Inder heißt: »Ich schwöre bei allen sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfen, ich habe sieben Leben. Wie eine Katze. Nein, nein, sogar doppelt so viele.«6 Das ›Wunder‹ des eigenen Überlebens impliziert viele Leben und wird in vielen Variationen immer wieder aufs Neue erzählt, wobei sich die Überlebenskunst dieses Flüchtlings als ein ständiger Versuch erweist, die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen künstlerisch in Worte zu fassen, sie in Schrift/en ›hinüberzuretten‹. Dabei spielt nicht zuletzt die Frage nach der eigenen Identität eine Rolle: Der ›falsche Inder‹, der darauf schwört, dass er viele Leben habe, erzählt auch davon, dass er viele mögliche (falsche) Möglichkeiten der Figurenperspektivierung in fiktionalen Erzähltexten vgl. Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel, die u. a. die ›interne Fokalisierung‹ bzw. ›Mitsicht‹ einer ›externen Fokalisierung‹ bzw. ›Außensicht‹ gegenüberstellen; vgl. Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 4 Transit erschien 1944 im mexikanischen Exil in spanischer Übersetzung; erst 1948 erfolgte eine erste deutsche Ausgabe. Vgl. Christina Thurner, Der andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten, Köln u. a. 2003, S. 48. 5 Anna Seghers, Transit, Berlin 2000, S. 150. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle ST auf diese Ausgabe. 6 Abbas Khider, Der falsche Inder, München 2013, S. 100. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle KI auf diese Ausgabe.
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Identitäten habe. Stets präsent bleiben dabei der Tod und die Todesdrohung als Kehrseite des Überlebens, der Selbst- und Identitätsverlust als Kehrseite des ›Spiels‹ mit Identitäten. Noch der in Deutschland Angekommene steht an der Schwelle zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, wenn all seine verstorbenen und verlorenen Verwandten und Freunde nun als (Un-)Tote Rasuls Träume bevölkern.7 Ihr Verlust und ihr Verschwinden markieren für den IchErzähler Rasul letztlich ebenso die Grenze des Erträglichen wie die Ortlosigkeit seiner eigenen Identität und Existenz: »Es ist sicherlich erträglich, Zigeuner, Iraker, Inder oder gar Außerirdischer zu sein, wieso auch nicht! Aber es ist unerträglich, dass ich bis heute nicht genau weiß, wer ich wirklich bin.« (KI 22) Für den Iraker Rasul, der einerseits seine »dunkle Hautfarbe« geradezu schicksalshaft mit seiner Geburtsstadt verknüpft – mit der »Sonne Bagdads«, dem »Feuer der Herrscher« und der »Glut des Steinofens« in der Küche der Mutter – sind andererseits viele Identitäten möglich und zumutbar, da er sich »von vielen Sonnen der Erde gebrannt« sieht. (KI 14, 22) Diese Flexibilität reicht bis hin zu einer potenziellen extraterrestrischen Verortung der eigenen Identität als »Außerirdischer« und gipfelt nicht nur an dieser Stelle in Verzweiflung über einen Dauerzustand der Identitätslosigkeit. Auch in Transit erweist sich die Überlebenskunst des Flüchtlings, der sich seinerseits auf einen anderen Stern wünscht (ST 142), als ein existenzielles und abgründiges ›Spiel‹ mit Identitäten: Dieser Protagonist, der »gern zwei Leben haben [möchte]; da es nacheinander nicht geht, dann nebeneinander, dann zweigleisig«, ist sich dessen bewusst, dass auch er nicht zu spotten vermag »über das unerbittliche Gesetz, dass das Leben einmalig ist und eingleisig.« (ST 151, 264) Es ist nicht zuletzt eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Verdrängung der eigenen gefährdeten Identität und Existenz, die mit einer verzweifelten Orientierungslosigkeit und inneren ›Leere‹ korrespondiert: Das zeigt sowohl die »tödliche Langeweile«, in die der Protagonist bei Seghers verfällt, als auch der »Keinen-Zustand« (ST 27), der den ›falschen Inder‹ überkommt, wenn er »in eine große Leere [taucht]« (KI 71). Dabei erweist sich in beiden Romanen die Suche nach Identität und Zugehörigkeit sowie der Versuch einer neuen (Selbst)Verortung als wichtiges Movens des Erzählens. Dass eine raumtheoretische Perspektive sinnvoll und fruchtbar ist, um diese und andere Konstellationen in beiden Flucht-Romanen analytisch zu beschreiben, soll im Folgenden gezeigt werden.
7 Vgl. das Kapitel »Die Wiederkehr der Gesichter«, KI 132–151.
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Literatur und Raum: Erzählungen der Flucht 1944/2008 Literarische Konzepte von Raum und Bewegung8 spielen in Erzählungen der Flucht offenkundig eine fundamentale Rolle – etwa in der Darstellung von Grenzen und Grenzübergängen, von Fluchtwegen und Aufenthaltsorten – aber auch über das (zunächst) Offenkundige hinaus. Der Blick auf Anna Seghers Transit und Abbas Khiders Der falsche Inder zeigt: Einerseits sind Bewegungen durch konkrete Räume und entlang bestimmter Orte handlungsbestimmend. Gleichzeitig zeigt sich, dass Raum mehr ist als ›nur‹ der physisch messbare und geographisch verortete Raum und der Handlungsort.9 Als eine erzwungene Bewegung aus dem vertrauten Bezugsfeld heraus ins Ungewisse erweist sich Flucht als eine krisenhafte Erfahrung der Entortung und Entwurzelung in einem mehr als nur konkret-räumlichen Sinne: Auf der Flucht gerät das Individuum mitsamt seiner Identität in Bewegung. Und gerade in der (längst nicht nur räumlichen) Orientierungslosigkeit und der damit einhergehenden (längst nicht nur physischen) Lebenskrise des ›Überlebenskünstlers‹ zeigt sich das existenzielle Bedürfnis des Menschen nach Selbstverortung. Im Verlust eines vertrauten Bezugssystems, das mit dem Begriff der ›Heimat‹ als eines geographischen Raumes nur unzureichend benannt wäre,10 offenbart sich die identitäts- und bedeutungsstiftende Dimension von Raum auf subjektiver wie auf literarischer Ebene. Die notwendige Neu-Orientierung im Fremden evoziert Fragen nach (neuen) Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Orientierung, räumlich, lebensweltlich, sozial/kulturell, wobei zeitliche Komponenten zum Tragen kommen: Wird eine Möglichkeit zur Zugehörigkeit auf Dauer oder auf Abruf entworfen? Wird ein Gefühl des Aufgehoben-Seins, wie bei Anna Seghers, über die »blitzhafte« Einsicht in überzeitliche Zusammenhänge entworfen, womit sich auch die eigene (Flucht-)Geschichte in einen übergeordneten Zeit-Raum integriert?11 Erzählungen der Flucht belegen die Relevanz der Kategorien von Raum und Bewegung für die Literatur in grundlegender Weise, insofern Raum als eine für die individuell-menschliche Selbstverortung und Identitätssuche existenzielle
8 Die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Literatur, Flucht und Raum knüpfen an zentrale Einsichten und Erkenntnisinteressen eines »transdisziplinären spatial turn« an, die zuletzt Wolfgang Halle und Birgit Neumann aus literaturwissenschaftlicher Sicht zusammengefasst haben. S. Hallet / Neumann, »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 12. 9 Zu einem dynamischen Raumverständnis, das Raum nicht lediglich als ›Behälter‹ denkt, vgl. Wilhelmer, Transit-Orte, S. 19–40. 10 Zu einem differenzierten Heimat-Begriff als einer räumlichen, sozialen und emotionalen Kategorie vgl. hingegen Andrea Bastian, Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995, zum Kontext Exil insbes. S. 197f. 11 Vgl. Thurner, Der andere Ort des Erzählens, S. 86.
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Kategorie, aber auch als eine »Signatur sozialer und symbolischer Praktiken«12 erkennbar wird. Dass individuelle (Selbst)Verortung immer auch die Positionierung zu einem Kollektiv beinhaltet und über soziale – familiäre, freundschaftliche, zwischenmenschliche – Beziehungen stattfindet, belegen die FluchtRomane von Anna Seghers und Abbas Khider eindrucksvoll.13 Die literarische Gestaltung der Konflikt- und Krisenerfahrungen im Kontext von Flucht verläuft in beiden Romanen über poetische Schreibweisen, die Räume nicht zuletzt in übertragener (metaphorischer, symbolischer) Bedeutung thematisieren: Die Spannweite reicht von einzelnen Metaphern und Motivkomplexen – wie etwa der »Wüste in meinem Kopf« (KI 7) bei Khider, die in gewisser Weise mit der Metapher einer durch Erzählung zu durchquerenden Wüste bei Anna Seghers korrespondiert, insofern das Erzählen auch als eine mögliche Rettung aus der ›Leere‹ erscheint – bis hin zu umfassenden raumsymbolischen Repräsentationstechniken wie etwa in Seghers’ Transit, wo die (variable) Erzählhaltung des Ich-Erzählers im Raum dessen Konflikt zwischen Bleiben und Abfahren abbildet und kommuniziert.14 Hier zeigt sich eine metapoetische Komponente: In der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Erzähler-Subjekt und Raum wird auch eine Aussage über die Funktionen und Möglichkeiten des Erzählens als einer Flucht- und Raumbewältigung getroffen. Der Blick auf Seghers’ bereits gut erforschten Roman und in die deutsche Literaturgeschichte des Exils erweist sich als gewinnbringend für die Erforschung aktueller Narrative der Flucht. Denn er liefert sowohl Einsichten in die weitreichenden Dimensionen der individuellen und kollektiven Krisenerfahrungen als Themen der Exilliteratur wie auch in die Funktion und die Mittel von Literatur im Kontext von Krieg und Flucht. Eine raumtheoretische Perspektive ist hilfreich, solche Einsichten zu differenzieren und für eine Betrachtung etwa von Khiders Roman nutzbar zu machen: Welche Formen einer literarischen Fluchtbewältigung werden entworfen und inwiefern erweist sich dies als eine Bewältigung auch des Raumes? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Literatur und (Raum)Ordnungen der Macht und welche Rolle spielt dies im Kontext von Krieg und Flucht? Inwiefern impliziert ein Ringen um räumliche Selbstverortung (des Erzählers und Protagonisten, aber auch des Autors im Exil) kulturelle oder politische Positionierungen und umgekehrt? Über welche Er12 Hallet / Neumann, »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 11. 13 In Transit erfüllen die Mitglieder der Familie Binnet eine solche Funktion: »Georg Binnet war der einzige Mensch, der mich nicht fragte, wohin ich wolle, sondern woher ich käme« (ST 59); »Er war der einzige Mensch, der wusste, wo [in Marseille, HMH] ich wohnte« (ST 82); »›Uns bist du jedenfalls nicht fremd‹« (ST 152). In Der falsche Inder erfüllen die divergierenden Aussagen von Rasuls Mutter und Vater über dessen Geburt die Funktion einer ›Entortung‹ von Identität (KI 14ff.). 14 Vgl. hierzu Wilhelmer, Transit-Orte, S. 206ff.
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zählstrukturen wird dies vermittelbar? Wie ist das Verhältnis von individueller und kollektiver Fluchterfahrung? Wie ist das Verhältnis von Identität und Raum; welche Rolle spielen soziale Beziehungen und Sprache; inwiefern werden Konzepte der Herkunft oder Heimat entwickelt oder transformiert? Hier zeigt sich in umgekehrter Richtung auch die Produktivität einer Erforschung aktueller Fluchtliteratur : Denn diese ist geeignet, den Blick auf die ›klassische‹ deutsche Exilliteratur zu öffnen für literarische Konzepte und kulturelle Vorstellungen hybrider Identitäten und Kulturen, geeignet auch, den Blick auf Flucht und Exil für einen globalen, nicht allein auf Europa bezogenen Maßstab zu weiten.15 An Stelle des bereits inflationär gebrauchten und häufig diffus bleibenden Begriffs der Hybridität, wie er im Umkreis postkolonialer Theoriebildung häufig Anwendung findet,16 wird hier ein raumtheoretisch fundierter Begriff des Transitorischen in Anlehnung an Lars Wilhelmer vorgeschlagen, um Erzählungen der Flucht als Texte der Entgrenzung sowie als prekäre (Selbst)Positionierungen von Grenzgängern auch in kulturellen Grenzzonen beschreibbar zu machen.17 In seiner Studie Transit-Orte in der Literatur untersucht Wilhelmer in diachroner Perspektive literarische Darstellungen von Transit-Orten wie zum Beispiel Bahnhöfe, Schiffs- und Flughäfen. Er definiert Transit-Orte als paradoxe Orte, da diese als ›Zwischenziele‹ einerseits bloß Durchgang und andererseits Orte mit einer eigenen Struktur seien, woraus ein »eigenwillige[s] Changieren zwischen struktureller Bestätigung und Auflösung«18 resultiere. Entscheidend ist, dass Wilhelmer den Transit-Ort als einen Ort des ›Dazwischen‹ und der »relative[n] Positionslosigkeit« nicht nur in einem konkret-räumlichen Sinne versteht, sondern auch »im Sinne einer Auflösung fester Positionen im Hinblick auf politische, soziale oder kulturelle Differenzen.«19 Hierin liegt eine produktive Komponente: »Transit-Orte [können] den Raum für das Andere öffnen. Sie sind nicht nur entgrenzte Orte[…] – sondern auch entgrenzende Orte, die Ordnungen in Frage stellen und Strukturen neu verhandelbar machen können.«20 Gerade der Transit-Ort, eigentlich markiert durch den »Eindruck des Flüchtigen, des Nicht-Bleibenden«21, hält zugleich ein Potenzial zur Neubildung von Iden15 Vgl. Stephan Braese, »Exil und Postkolonialismus«, in Exilforschung, Jg. 27 (2009), S. 1–19. 16 Zur Problematik und Produktivität des »postkolonialistische[n] Schlüsselbegriff[s]« der Hybridität vgl. ebd., S. 1–2 und 9–16. 17 Zur Figur des Grenzgängers und dem »transformative[n] Potential der Grenzüberschreitung« vgl. auch Michael C. Franks Lotman-Lektüre: »Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin«, in Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, hrsg. von Wolfgang Hallet / Birgit Neumann, Bielefeld 2009, S. 53–80, hier S. 67–68. 18 Wilhelmer, Transit-Orte, S. 37 und 38. 19 Ebd., S. 38. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 39.
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tität und zur (inter)kulturellen Selbstverortung bereit. Und es sind Fragen nach (Selbst)Verortung und (Selbst)Identifikation, die in beiden Romane eine mindestens ebenso große Rolle spielen wie die nach der Vermittlung von Fluchterfahrung.
Erzählung als Selbstverortung Seghers und Khider verarbeiten im Medium fiktionaler Literatur eigene Erfahrungen der Flucht, die in unterschiedlichen historischen Kontexten jeweils kollektiver Fluchtbewegung begründet sind: bei Seghers in den großen Flüchtlingsbewegungen während des Zweiten Weltkrieges; bei Khider in der Flucht vieler Iraker nach Europa in den späten 1990er Jahren aufgrund von Diktatur und Krieg. Unterschiedlich ist der Grad an (Selbst-)Fiktionalisierung. Während bei Khider die überdeutlichen Parallelen zwischen dem Autor und seinem Protagonisten – zwischen dem irakisch-deutschen Schriftsteller mit eigener Fluchtgeschichte und dem Überlebens- und Schreibkünstler Rasul – eine autofiktionale Lesart nahelegen22, erscheint der Protagonist in Transit geradezu konträr zu der gestandenen Schriftstellerin Anna Seghers, die in Marseille mit Mann und Kindern einen vorübergehenden Fluchtort fand: Er ist männlich, jung, ungebunden, von Beruf Monteur, ausdrücklich ohne besondere Neigung zu Dichtung und Literatur. (ST 25) Allerdings bietet auch Transit seiner Autorin, die »das Manuskript unmittelbar in Marseille und während ihrer Überfahrt schreibt«23, ausreichend Möglichkeiten zur (Selbst-)Identifikation. Letztlich entwerfen beide Autoren eine ähnliche Figur des Flüchtlings als eines ›Überlebenskünstlers‹, der eher dem (glücklichen) Zufall verbandelt ist als festen Bindungen oder einem konkreten Ziel. Diese sind auch im Politischen merkwürdig positionslos, handeln zwar mutig, aber doch eher intuitiv und jedenfalls ohne einen größeren Plan. Die Besonderheit bei Khider liegt freilich in der (Selbst-)Darstellung eines durch das Schicksal der Flucht geprüften und ›geschulten‹ Schriftstellers.24 Der Ich-Erzähler und Protagonist in Transit durchläuft eine andere Entwicklung: von einem bloß Getriebenen zu jemandem, der am Ende eine klare Position bezieht. Er entscheidet sich für den Verbleib in Europa und in Frankreich, wo er bei einer befreundeten Familie namens Binnet 22 Vgl. Annika Jensen / Jutta Müller-Tamm, »Echte Wiener und falsche Inder. Strategien und Effekte autofiktionalen Schreibens in der Gegenwartsliteratur«, in Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013, S. 315–328, hier S. 321–322. 23 Lars Wilhelmer, Transit-Orte, S. 189; vgl. hierzu auch Thurner, Der andere Ort des Erzählens, S. 50. 24 Vgl. Jensen / Müller-Tamm, »Falsche Wiener und echte Inder«, S. 327.
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wohnt, die ihm »bis auf weiteres Obdach [gibt].« (ST 279) Dies entspricht nicht nur einer relativen Positionierung im Raum ›bis auf weiteres‹, sondern auch einer kulturellen, sozialen und nicht zuletzt politischen Positionierung: Die gefühlte Zugehörigkeit des geflüchteten Deutschen zu »dieser Familie« und »diese[m] Volk« kommt dem Bekenntnis zu einem antifaschistischen Europa gleich, das es in deutsch-französischer Freundschaft aktiv zu verteidigen gilt: »Ich werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit Marcel eine Knarre nehmen.« (ST 279) Mit dieser kämpferischen Positionierung hin zu einer Verteidigung Europas gegen den Faschismus dürfte sich die aktive Antifaschistin und Kommunistin Anna Seghers durchaus identifiziert haben. Mehr als die Frage nach dem (politischen) Handeln steht in Transit allerdings die Frage nach einer Erzählbarkeit von individueller Fluchterfahrung im Mittelpunkt, sowie nach der Erzählung von Flucht als einer »Erinnerungsarbeit«, Identitäts- und »Erfahrungsrettung«.25 Beide Romane entwerfen Konzepte einer möglichen Vermittlung von Fluchterfahrung, wobei es auch um eine Selbstvermittlung unter Flüchtlingen geht, und schaffen zu diesem Zweck intradiegetische Kommunikationssituationen zwischen einem Erzähler und seinem Rezipienten: Bei Seghers ist es eine als mündlich inszenierte Erzählsituation vor Ort; bei Khider wird ein erster, extradiegetischer Ich-Erzähler zugleich zum Leser, der ein im Zug gefundenes Manuskript rezipiert, das die »Erinnerungen« eines Flüchtlings namens Rasul Hamid enthält. Noch vor jeder Vermittlung steht allerdings in beiden Texten die unvermittelte Nennung einer Flucht- bzw. Reiseroute. »Die ›Montreal‹ soll untergegangen sein zwischen Dakar und Martinique« (ST 5): Mit dieser Aussage eines ungenannten Sprechers beginnt Transit. Das Schicksal dieses Schiffes steht für das Schicksal vieler anonymer Flüchtlinge, die tagtäglich auf Schiffen und über andere Fluchtrouten umkommen: »Verglichen mit den Schicksalen anderer Schiffe […ist] der Untergang dieser ›Montreal‹ in Kriegszeiten für ein Schiff ein natürlicher Tod.« (ST 5) Vorgetragen und weitergetragen wird dieses »Gerücht«, wie sich herausstellt, von einem ebenfalls anonymen Ich-Erzähler, der sich nach eigenem Bekunden in einer Marseiller Pizzeria befindet, mit Blick auf eben jenen Hafen, von dem aus die »Montreal« als ein Schiff unter vielen mit ihrer »Last der Flüchtlinge« abgefahren ist. (ST 5) Dieser Erzähler ist nicht nur vor Ort, er ist selbst ein Geflüchteter und als solcher ›verwickelt‹ in die Schicksale anderer Flüchtlinge, wie umständlich über zwei Seiten hinweg angedeutet wird. Dann erst bringt der Ich-Erzähler sein eigentliches Anliegen auf den Punkt: »Ich möchte […] einmal alles von Anfang an erzählen.« (ST 7) Und es ist zuallererst die eigene Fluchtgeschichte, die der 25 Vgl. Lutz Winckler, »Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers Transit«, in Exilforschung, Jg. 28 (2008), S. 194–210; sowie Jürgen Barkhoff, »Erzählung als Erfahrungsrettung«, in Exilforschung, Jg. 9 (1991), S. 218–235, hier S. 223.
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Erzähler an den Anfang seines Erzählens setzt und die eigene Fluchtroute, die im Rückblick erinnert und nachvollzogen wird: aus einem Konzentrationslager in Deutschland nach Frankreich, dort von einem »Arbeitslager in der Nähe von Rouen« weiter über Paris bis nach Marseille (ST 7). Der Leser wird auf besondere Weise ›mitgenommen‹, denn er kann sich als der Zuhörer vor Ort imaginieren. Der namenlose Flüchtling adressiert seine Erzählung an ein Gegenüber, das greifbar ist allein über die Form der Anrede und über die explizit behauptete Präsenz in der besagten Pizzeria: »Erlauben Sie mir, Sie einzuladen. […] Zu einem Glas Ros8 und einem Stück Pizza.« (ST 5) Bei dem so Angesprochenen scheint es sich um einen Außenstehenden zu handeln, der sich dennoch als ein Eingeweihter, vielleicht sogar Schicksalsgenosse erweist: »Sie kennen das alles genau so gut wie ich selbst« (ST 7); »Sie kennen ja selbst das unbesetzte Frankreich aus dem Herbst 1940« (ST 36). Trotz dieser Identifikationsstrukturen unter Flüchtlingen zeigt sich zugleich eine ironische Distanzierung des IchErzählers von den ›typischen‹ Flüchtlingsschicksalen, etwa dort, wo er sein Gegenüber vor der ›Langeweile‹ warnt, welche diesen angesichts all der »spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr, von atemloser Furcht« befallen könne. (ST 6) Diese Vorbehalte des Ich-Erzählers gegenüber seiner eigenen Erzählung lassen sich unterschiedlich deuten. Nicht zuletzt thematisiert Seghers’ Roman hier die metatextuelle Frage, ob und inwiefern (Exil-)Literatur in der damaligen Lage überhaupt noch Fluchtgeschichten erzählen kann, ohne lediglich eine allseits erfahrene Realität zu reproduzieren. Die Angst des Erzählers, mit seiner Fluchtund Überlebensgeschichte allenfalls zu ›langweilen‹, ist jedoch auch der zynische Ausdruck einer Kriegs- und Krisensituation, in der für die Schicksale und Erzählungen der jeweils Anderen kein Raum und keine Zeit mehr bleibt. In einem Europa, in dem der Raum zum (Über-)Leben zunehmend enger wird, da die »Riesenkrabbe« des Nationalsozialismus um sich greift (ST 254), bittet dieser Erzähler seinen Zuhörer, sich Platz und Zeit fürs Zuhören zu nehmen: »Haben Sie bitte Geduld mit mir! […] Einmal muss man ja jemand alles der Reihe nach erzählen.« (ST 11) Das Erinnern und Erzählen der eigenen Fluchtgeschichte erscheint als ein ebenso fundamentales Bedürfnis wie das nach Raum und Zeit zum Erzählen und Zuhören.26 Die selbstironische Distanzhaltung des Erzählers zu seiner Fluchtgeschichte erscheint somit als Selbstschutz, sie hat aber noch einen anderen Grund: Seine Geschichte ist die eines Geflüchteten, der kein Flüchtling mehr ist, da er sich bereits gegen die Abfahrt und für das Bleiben entschieden hat. Mit dieser Entscheidung endet letztlich nicht nur die Fluchtbewegung, sondern auch die (analeptische) Erzählung des Protagonisten: Zufällig an die Dokumente eines verstorbenen Schriftstellers Weidel geraten, hält 26 Vgl. Barkhoff, »Erzählung als Erfahrungsrettung«, S. 222.
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man ihn auf den Konsulaten in Marseille für denselben. Während der folgenden zahlreichen Behördengänge und Wartezeiten in Caf8s trifft er auf Marie, die untreue Ehefrau Weidels, jetzt liiert mit einem Arzt, der mit ihr nach Übersee fliehen will. Maries Überfahrt ist bürokratisch an die Weidels gebunden, den sie nun sucht, aber nicht finden kann. Stattdessen stößt sie auf den Ich-Erzähler und Protagonisten, der sie über den Tod ihres Mannes nicht aufklärt, aber auf den Konsulaten seine Beziehungen als ›Weidel‹ für Marie spielen lässt. Die Dreieckskonstellation zwischen ihm, Marie und dem Arzt erreicht ihren Höhepunkt, als der Protagonist selbst mit Marie fliehen möchte, dann aber das zu diesem Zweck erstandene Schiffsticket unvermutet abgibt. Verwickelt ist diese Geschichte auch deshalb, weil der Protagonist den Überblick verloren hat, was ihm selbst »das Wichtigste« (ST 86, 93) ist: Es verliert sich in einer Zeit, in der das scheinbar Nebensächlichste, wie ein Stempel auf einem Blatt Papier, zum Überlebenswichtigen geworden ist; in einer aus den Fugen geratenen Welt, deren Untergang unmittelbar bevorsteht (ST 7). Er ringt um Worte, und kann damit doch das Ausmaß des Verlustes kaum mehr fassen: »Irgendetwas war mir verloren gegangen, so verloren, daß ich nicht einmal mehr wußte, was es gewesen war […] in all dem Durcheinander«. (ST 41) Das individuelle Verloren-Sein vermittelt sich in einer literarischen Darstellung, in der nicht zuletzt räumliche Elemente zum Tragen kommen: Das ›Wichtigste‹ verliert sich im ›Herumreden‹ des Ich-Erzählers, der in vielen Dingen nicht klar Position bezieht, ebenso wie im ständigen ›Umherirren‹ im Raum und in der dauernden Suchbewegung nach ›irgendwie‹ wichtigen Menschen oder Papieren.27 Chronisch unentschieden ist Marie, die ewig Suchende, während der Protagonist seinerseits weder ihr gegenüber Position bezieht noch aus seiner eigenen Unentschiedenheit zwischen Abfahren oder Bleiben herauskommt. Lars Wilhelmer hat gezeigt, dass sich diese innere Zerrissenheit des Protagonisten – die Schwierigkeit, sich zu positionieren, eine Haltung zu den Dingen zu erlangen – in der Wahl einer Erzählhaltung zum Raum symbolisch manifestiert. Die anfängliche Erzählsituation, in welcher der Ich-Erzähler dem Zuhörer einen Platz seiner Wahl anbietet, impliziert »eine perspektivische Entscheidung entweder für das Bleibende, das mit dem Pizzaofen und dem Feuer symbolisiert wird, oder für das Transitorische«, das mit dem Blick in Richtung Hafen/Abfahrt symbolisiert werde.28 Wilhelmer sieht daher in der Pizzeria den »wichtigste[n] symbolische[n] Ort der Verwurzelung«29. Auch im falschen Inder erscheint das bereits erwähnte Motiv des »Steinofens, 27 Zum Motiv der Suche in Transit vgl. Wilhelmer, Transit-Orte, S. 199f.; zur »labyrinthischen Bewegung des Textes« vgl. Barkhoff, »Erzählung als Erfahrungsrettung«, S. 218. 28 Wilhelmer, Transit-Orte, S. 212; sowie Barkhoff, »Erzählung als Erfahrungsrettung«, S. 222. 29 Ebd., S. 211.
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in dem meine Mutter unser Brot buk« (KI 14), im Kontext der Frage nach einer (möglichen) Selbstverortung und Identität. Trotz positiver Konnotationen wird letztlich die Unmöglichkeit einer ›authentischen‹ Antwort auf die Frage nach der eigenen Herkunft offenbar. (KI 14)30 Die schlussendliche Selbstpositionierung des Protagonisten und Ich-Erzählers in Transit erweist sich ihrerseits als prekärer als zunächst gedacht. Denn dieser hat zwar »bis auf weiteres Obdach« (ST 279) erhalten und blickt nun in seiner Stammpizzeria zum offenen Feuer des Pizzaofens anstatt zum Hafen; seine Gedanken an Flucht, Flüchtlinge und abfahrende Schiffe aber vermag er ebenso wenig ganz auszublenden wie das Abfahrtsgerede der Anderen: Ich wurde bald dieses Geredes so überdrüssig, daß ich mich hierher in die Pizzeria zurückzog. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Tür, denn jetzt erwarte ich nichts mehr. Doch jedesmal, wenn die Tür aufging, fuhr ich wie früher zusammen. Ich strengte mich gewaltsam an, meinen Kopf nicht zu wenden. Doch jedesmal maß ich vor mir den neuen dünnen Schatten auf der weißgetünchten Wand. (ST 280)
Dieser Ich-Erzähler hat sich eine (Erzähl-)Haltung im Raum und zum Raum Europa mühsam errungen – und ringt doch anhaltend und mit geradezu physischer ›Gewalt‹ um die Einhaltung dieser ›jetzigen‹ Positionierung weg vom Hafen und hin zum Bleiben. Dass diese Perspektive auch einen Blick gegen die Wand impliziert, verweist auf eine mögliche Ausweglosigkeit. Die eigentliche und sichere Sackgasse aber bildet jene Tür zum Hafen, die zwar geöffnet bleibt, jedoch nicht als ein positiver Ausweg. Es wäre allenfalls ein Weg in die ›Schattenwelt‹ des ewigen Flüchtlings und was den Ich-Erzähler, der hier vor seinem inneren Auge den Schatten Maries als einer »Schiffbrüchige[n]« heraufbeschwört, von dieser »Unterwelt« (ST 280) trennt, ist nur eine Bewegung und fast nur ein Blick in diese falsche Richtung. Dennoch: Bei aller prekären Selbstverortung zwischen Bleiben und Fliehen, Leben und Tod steht hier die Entscheidung zum »Leben der echt Lebendigen« (ST 280), die zugleich als eine Entscheidung zum Verbleib in Europa gekennzeichnet ist. Hier wird, wie gesagt, nicht zuletzt auch politisch Position bezogen und die Einsicht, auf die ›es ankommt‹, ist eine in die Notwendigkeit des antifaschistischen Widerstands, um für die Zukunft Europas zu kämpfen: »Um das zu sehen, worauf es ankommt, muss man bleiben wollen.« (ST 270) Mit dieser Selbstverortung aber ist zugleich das buchstäblich blinde Umherirren im Raum und in sich selbst ›bis auf weiteres‹ zu einem Ende gekommen. An dessen Stelle tritt nun der Beginn eines neuen Sehens, eines tatsächlich anderen Sehens der Stadt Marseille, deren all30 Teil dieses literarischen Spiels mit Identitäten in Khiders Roman ist die Frage, ob Rasuls Mutter auch seine ›richtige‹, d. h. leibliche sei, oder ob der ›falsche Inder‹ nicht vielmehr eine »Zigeunermutter« (KI 16) habe, wobei dennoch ein Gefühl der Zugehörigkeit des Protagonisten zu »meine[r] Nicht-Zigeunermutter« (ebd.) vermittelt wird.
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tägliche Lebensfülle dem Protagonisten aufgeht. Was diesem Protagonisten am Ende seiner Erzählung »an meinem eigenen Zufluchtsort in dem abgelegenen Dorf« aufgeht – »[b]ei einer Wendung der Lampe oder nur beim Schließen der Tür« – ist der klare Blick für das Hier und Jetzt, für die Anforderungen der Stunde wie des Alltags der hier lebenden Menschen, da er sich als einer unter ihnen verortet. (ST 280) Auch in Der falsche Inder wird die ziellose Bewegung des Flüchtlings mit einem blinden Umherirren im Raum assoziiert: »Ich war […] [n]ur ein Flüchtling. Eine fliehende Taube, die vollkommen blind war. Sie konnte zwar fliegen, wusste aber nicht genau, wohin« (KI 73), so berichtet der Ich-Erzähler Rasul. Anders als in Transit, stehen am Anfang von Khiders Roman jedoch keine Fluchtroute, kein Krieg und auch kein Gerücht unter angespannten Flüchtlingen – obwohl all das eine wesentliche Rolle spielen wird – sondern die ebenso informelle wie exakte Nennung einer Zugstrecke mit ihren wichtigsten Stationen und dem genauen Zeitpunkt der Abfahrt. Es ist nicht der namenlose Ich-Erzähler, der diese allererste Information vergibt, sondern die anonyme Stimme aus einem »Lautsprecher«. Das Erzähler-Ich tritt erst als die wahrnehmende Instanz in Erscheinung, die sich an den gegebenen Informationen und den raumzeitlichen Koordinaten entlang in Raum und Zeit selbst verortet: Unangenehm blechern die Stimme aus dem Lautsprecher. Ein kurzer Blick auf die große Uhr am Bahnsteig: 12.30 Uhr. Eine knappe halbe Stunde noch. Ich deponiere meine Zeitung und den Kaffee-zum-Mitnehmen auf der Bank. Noch ein langer Blick durch den Bahnhof Zoologischer Garten. (KI 73)
Damit erfährt der Leser zunächst einmal, dass der Ich-Erzähler ein Reisender ist. Dass er jedoch auch eine Fluchtgeschichte hat, erfährt man erst am Ende des Romans, das die Rahmengeschichte des Mannes auf dem Bahnsteig wieder aufgreift: Der unbekannte Ich-Erzähler, jetzt »auf dem Bahnsteig des Münchner Hauptbahnhofs« angekommen, hat eine Zugfahrt hinter sich gebracht, aber auch eine Lektüre im Zug, die ihn verstört zurücklässt: »Ein schrecklicher Alptraum. […] Wie kann es sein, dass einer einfach meine Geschichte aufgeschrieben und in einem Umschlag ausgerechnet neben mir abgelegt hat?« (KI 153) Die Geschichte, die dieser Reisende in der Lektüre als die seine erkennt und die rätselhafterweise plötzlich im Zug neben ihm liegt, das sind die »Erinnerungen« (KI 11) des irakischen Flüchtlings Rasul Hamid. Es ist also die Lektüre eines Textes durch den Ich-Erzähler, der die ›Erinnerungen‹ eines weiteren Ich-Erzählers an dessen eigene Flucht einholt und den Leser in acht Kapiteln immer wieder aufs Neue an den Anfang einer Fluchtroute setzt, die jedes Mal im Irak beginnt und in Deutschland endet. Der Unbekannte im Zug wird zum Leser von Rasuls Fluchtgeschichte, der in der Lektüre durch Räume der Flucht geführt wird und sich dabei selbst in Bewegung befindet. Für den
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Leser von Khiders Roman wird dieser intradiegetische Finder und Leser des Manuskripts zum Medium: Es ist dessen Lektüre auf Rahmenebene, über die man als Leser des Romans Rasuls Geschichte mitliest. Dieser namenlose Leser auf Rahmenebene wird für den extradiegetischen Leser zu einer Identifikationsfigur, deren eigene Identifikation mit dem Gelesenen wiederum eine ganz besondere ist: Für ihn ist es eine bewegte und bewegende Lektüre, mit der paradoxerweise seine eigene Fluchtgeschichte erinnert und verschriftlicht scheint und die ihn daher zurückversetzt in seine eigene Flüchtlingsbiografie, an den Ausgangspunkt seiner Flucht sowie seines Ankommens in Deutschland. Es ist dieses Einholen seiner eigenen Fluchtgeschichte und die damit einhergehende Selbstverortung im Kontext Flucht, mit der die jetzige, fahrplanmäßige Ankunft in München am Ende des Romans Züge eines ›Alptraums‹ erhält. Allerdings wird, von dieser Warte aus betrachtet, bereits am Anfang des Romans ein Moment der inneren Anfechtungen erkennbar, an dem der namenlose IchErzähler von seiner Vergangenheit als Flüchtling eingeholt wird: Im Leerlauf zwischen Abfahrt und Noch-Nicht-Abfahren erfährt der Ich-Erzähler einen Zustand der inneren ›Leere‹ und sieht sich plötzlich »mutterseelenallein« (KI 7): Alles leer. […] Keine Züge, keine Reisenden, keine Lautsprecher. Nichts, nur ich und der leere Bahnhof Zoo, das große Nichts um mich herum. Wo bin ich eigentlich? Was mache ich hier? Wo sind die anderen? […] Alles leer wie eine endlose Wüste, nackte Berge oder klares Wasser. (KI 7)
Im Ausblenden der realen, alltagsweltlichen, räumlichen Gegebenheiten konstituiert sich das paradoxe Bild eines menschenleeren Raums, »laut und leise, tönend und dennoch stimmlos« (KI 7), wo eigentlich Hektik und Lärm das Bild beherrschen. Es ist lesbar als eine komplexe raummetaphorische Beschreibung der Flucht, nämlich der inneren Leere und des inneren Orientierungsverlusts eines Flüchtlings, der im ›Gewimmel‹ und Getrieben-Sein des Transits den Überblick, den Halt und jedes Zugehörigkeitsgefühl verliert. Es ist diese Orientierungslosigkeit des Flüchtlings, die den Ich-Erzähler einholt: »Nicht das erste Mal, dass ich die Orientierung verloren habe. Seit einigen Jahren schon erlebe ich ab und zu diesen Wahnsinn. Manchmal habe ich Angst, dass ich eines Tages aus solch einer Wüste in meinem Kopf nicht mehr zurückkehre.« Die Gegenreaktion, ein ›Festhalten‹ an den äußeren Gegebenheiten des realen Raums, an den darin befindlichen Personen und Schriftzeichen (»Gott sei Dank, die Bahnhofshalle ist noch da und auch die Sprüche an den Wänden«, KI 7) erweist sich insofern als die prekäre Selbstverortung eines transitorischen Subjekts. In dieser gegenwärtigen Situation ist der Ich-Erzähler ein Flüchtling – und zugleich nicht mehr. Eine ähnliche Haltung nimmt der Ich-Erzähler letztlich zu dem gefundenen Manuskript ein, dessen Verfasser er nicht ist und das dennoch in Inhalt und Stil nur seine Geschichte sein kann (vgl. KI 154).
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Nicht nur der Flüchtling Rasul und sein Leser sind in Bewegung – auf der Flucht, im ICE – auch das Manuskript ist es. Es hat keinen Ort, liegt zufällig im Zug, für jeden zugänglich und ohne einen bestimmten Adressaten. Und dennoch erfährt es seine exakte Verortung, da es neben dem liegt, zu dem es ›gehört‹, dessen Geschichte und Erinnerungen es erzählt. Man kann sagen, dass dieser Leser, der über das ›Finden‹ seiner ›eigenen‹ Geschichte erst zu einer bestimmten Person mit einer bestimmten Biographie wird, über dieses Manuskript im Zug, das ihn ›findet‹, gleichsam seine Verortung als ein Flüchtling im Transit erfährt. Über diese paradoxe Erzählkonstruktion eines ›zufälligen‹ Lesers, der unvermittelt und schicksalshaft ein individuelles Flüchtlingsschicksal als sein eigenes erkennt, dieser Geschichte jedoch zugleich als ein Fremder gegenübersteht, erfolgt nicht zuletzt ein Angebot zur Identifikation, das der Roman an seine Leser macht. Der konkrete Leser auf Rahmenebene erhält eine Mittler- und Zwischenstellung zwischen der auf Binnenebene erzählten Welt eines irakischen Flüchtlings und der extradiegetischen Welt irgendeines zufälligen deutschen Lesers, der solche Erfahrungen allenfalls aus Erzählungen kennt. Der extradiegetische Ich-Erzähler dagegen erkennt in dieser Erzählung zwar seine eigenen Erfahrungen und Erinnerungen, indem er zum Leser von Rasuls ›Erinnerungen‹ wird, jedoch führen sie ihn zurück an den Ausgangspunkt einer Fluchtgeschichte, die er hinter sich gelassen hat. Im Hier und Jetzt der Rahmenhandlung ist dieser Ich-Erzähler und Leser ein Reisender in und innerhalb Deutschlands, auf dem Heimweg von Berlin nach München, wo ihn seine Freundin Sophie bereits erwartet. Er liest dieses Manuskript mit dem Schauder des Wiedererkennens und Wiedererinnerns, aber auch mit der »Neugier« (KI 10) des Lesers als Voyeur, der es sich auf dem reservierten Platz im ICE-Sessel bequem machen kann. Dabei bleibt der prekäre Status dieser Selbstverortung eines ehemaligen Flüchtlings offenkundig, und das nicht allein wegen einer gewissen Unruhe und nervösen Beobachtungshaltung gegenüber anderen Reisenden, die diesen Reisenden kennzeichnen. Die ambivalente Haltung gegenüber der eigenen Fluchtund Flüchtlingsgeschichte zeigt sich gerade auch in der (Lese-)Haltung dieses Reisenden gegenüber den ›Erinnerungen‹ eines Flüchtlings, die er als die eigenen Erinnerungen zugleich erkennt und verkennt. Sowohl Der falsche Inder als auch Seghers Transit thematisieren die Haltung des Lesers oder Zuhörers und erzählen nicht zuletzt von einem mühevollen Ringen um eine Erzähllhaltung zu Flucht und Exil.
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Erzählen als Flucht- und Raumbewältigung Die sprachliche Narration – ob in Form eines inszenierten mündlichen Erzählens wie in Transit oder eines beständigen Schreibprozesses, in dem sich der Protagonist von Khiders Roman befindet – fungiert in beiden Romanen als Bewältigung von Flucht- und Kriegserfahrung. Es geht um die erzählerische Ordnung konkreter Raum- und Zeitstrukturen und zugleich um mehr als das: Nicht nur die Räume der Flucht, auch die darin implizierten Verlusterfahrungen, Begegnungen mit Anderen, Ängste und Hoffnungen, Niederlagen und Erfolge erhalten durch das Erzählen eine literarische Ordnung. Dabei erweist sich das Projekt einer ordnenden Erzählung als ein Versuch abzuschließen, etwa wenn am Anfang von Transit der dringende Wunsch des Erzählers und Protagonisten steht, das zwar Vergangene »trotzdem einmal […] von Anfang an [zu] erzählen.« (ST 7) An einer der zahlreichen Stellen, an denen dieser selbst zum Zuhörer wird, äußert er sich zu seiner eigenen Motivation, der Überlebensgeschichte eines Anderen zumindest scheinbar aufmerksam zu folgen: »Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat«. (ST 215) Jedoch stellt sich die Frage, ob (erst) durch das Erzählen eine ›Fahrt abgeschlossen‹ sein, eine Bewältigung und Positionierung stattfinden kann – oder ob nicht umgekehrt erst die Bewältigung des Erlebten, das Herauskommen aus der ›Wüste‹ und die Emanzipation vom Transitorischen eine Erzählung ermöglicht. Beides scheint der Fall zu sein bei diesem buchstäblich zum Stillstand gekommenen Protagonisten, der sich doch erst durch und mit seiner Erzählung dem Druck des Getrieben-Seins entzieht, sich in Zeiten der Flucht und Verfolgung dem enger werdenden Raum und der knapper werdenden Zeit entgegenstellt, indem er sich Raum und Zeit zum Erzählen ebenso wie zum Bleiben nimmt.31 Der Versuch einer abschließenden Erzählung erweist sich als ebenso gefährdet wie das Anliegen einer ordnenden Chronologie32 : Das zeigt sich bei Seghers bereits am Beginn der analeptischen Erzählung des autodiegetischen Erzählers, wenn dieser den ›Anfang‹ seiner Fluchtgeschichte im französischen Rouen ansetzt, dann aber in einer weiteren Analepse zurück nach Deutschland geht und mit diesem wiederholten Rückblick letztlich die wiederholte Frage nach dem ›eigentlichen‹ Anfang dieser Geschichte aufwirft. Noch deutlicher zeigt sich das Problem des Anfangens und Abschließens in Khiders Roman, wo der Versuch einer durchgehenden ordnenden Chronologie von vornherein aufgegeben ist. Dass der Rahmenerzähler mit seiner Fluchtgeschichte nicht abgeschlossen hat, zeigt dessen Reflektion über seine stets ge31 Vgl. auch Barkhoff, »Erzählung als Erfahrungsrettung«, S. 222. 32 Vgl. zum ›chronikalischen‹ Erzählen in Transit Winckler, »Eine Chronik des Exils«, S. 206.
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scheiterten Schreibversuche: »Schon lange hegte ich den Wunsch, meine Fahrt auf dem Geisterschiff, meine Odyssee, niederzuschreiben. Immer wieder […] versuchte ich einen Anfang. Und immer wieder hörte ich auf, […] weil mir die Erzählstruktur fehlte« (KI 154). Es ist das Ende – und damit die Ankunft in Deutschland – an dem der Ich-Erzähler bei seinen Schreibversuchen nicht ›ankommen‹ kann, die allerdings bereits bei der Frage das Anfangs und Ausgangsortes immer wieder scheitern und stehen bleiben. Der ständige Versuch, die eigene Fluchtgeschichte aufzuschreiben, von dem auch Rasul berichtet, steht äquivalent zu dem Versuch, in Deutschland anzukommen: das eigene »Leben in geordnete Bahnen zu lenken«. (KI 99) Die Unabschließbarkeit dieses Prozesses zeigt sich im letzten Bild des Romans, wenn der Ich-Erzähler das ›zufällig‹ im Zug gefundene Manuskript, das seine eigene Fluchtgeschichte enthält, wieder auf die Reise schickt, in einem »leeren Umschlag« (KI 156) ohne Adresse. Es ist das paradoxe Bild eines Abschließens (»und mache den Umschlag zu«, KI 156), das die eigene Geschichte erneut in Umlauf schickt. Dennoch sind ein Ende und ein Ankommen, vor allem aber eine Fluchtbewältigung durch das Schreiben nicht ganz unmöglich, steht doch am Ende des Romans das Rätsel und ›Wunder‹ eines fertigen Manuskripts. Dessen Form ist eine der ständigen Wiederholung und Variation, eine ›Einheit‹ einzelner Kapitel (KI 154), von denen jedes ein Ende hat und ein Ankommen in Deutschland enthält. So wie ›der falsche Inder‹ in seiner Identität nicht eindeutig verortbar ist und ›viele Leben‹ hat (KI 100), so will auch seine Erzählung Vieles und ›Alles zugleich‹ sein. Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung formuliert programmatisch: Es gelte, »eine Form zu finden, bei der man jederzeit und überall mit dem Lesen anfangen kann. […] Alles in einem Werk vereint: Roman, Kurzgeschichte, Biografie und Märchen.« (KI 154) Auch mit dieser Auflösung von Gattungsgrenzen, der Vermischung von (Schreib-)Strukturen und (Erzähl-)Traditionen, die als feste Muster in Frage gestellt werden und zugleich Halt und Orientierung bieten, erweist sich das Erzählen von Flucht als ein Schreiben im Transit. Dabei zeigt sich das Schreiben auf der Flucht ebenso wie das Schreiben über Flucht auch ganz konkret als ein Problem des Raumes sowie der Raumdarstellung: Rasuls Aufzeichnungen gehen auf der Flucht »in alle Himmelsrichtungen« (KI 32) verloren; umgekehrt ›fehlt‹ seinen Geschichten nach eigener Aussage »das, was Geschichten zu Geschichten macht: Raum, Zeit und Handlung« (KI 156). Das Problem besteht auch in einem Nicht-Erinnern traumatischer Erlebnisse, die durch die ›Löcher‹ – auch das eine Raummetapher – in Rasuls Gedächtnis fallen. (KI 25–27) Diese von Rasul so genannte »Gnade« des Vergessens muss als eine Verdrängung jenem Prozess des erinnernden Schreibens zuwiderlaufen. Dem entspricht in gewisser Weise die Struktur einer ›zwanghaft‹ wiederholten Erzählung sowie eines ständigen Zurücksetzens an den Anfang, aber auch die Distanzierung von den eigenen ›Erinnerungen‹ als die eines
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Fremden, wie sie bei Khider in der paradoxen Entsprechung und zugleich NichtEntsprechung von Rahmen- und Binnenerzähler zum Ausdruck kommt.33 Das Erzählen von Flucht erweist sich so als eine Gratwanderung: Dem Ringen um Erinnerung steht ein gewollter Erinnerungsverlust gegenüber, wobei das erste mit Sinnstiftung und Identitätsrettung, das zweite mit Identitätsauflösung einhergeht: Die »schlimmsten Ereignisse« fallen aus dem »löchrige[n] Gedächtnis« und »tauchen nie wieder auf« (KI 26) – so wie Rasul in einen »Keinen-Zustand« zu fallen droht und dann »in eine große Leere [taucht]« (KI 71). Es ist nicht zuletzt »die Leere des Exils« (KI 73), in die er auf diese existenzbedrohende Weise ›eintaucht‹, womit sich der Transit-Ort als ein »semantisch enleerte[r] Ort«34 zeigt. Paradox ist diese Leere des Transits insofern, als daraus Literatur entsteht: Das geheimnisvolle Manuskript taucht für den Reisenden wie aus dem Nichts im Zug auf, als dieser sich in Bewegung setzt, das heißt zwischen den Stationen, aber auch im zeitlichen Leerlauf irgendwo zwischen »12.45 Uhr […] … 13.02 Uhr«. (KI 8) Für den ehemaligen Flüchtling ist die Lektüre eine alptraumhafte Reise in die eigene Vergangenheit, zugleich aber die Lösung seiner Schreib- und Erinnerungsprobleme. Und es ist schließlich die »Wüste in meinem Kopf«, die Gefährdung und ›Rettung‹ zugleich bedeuten kann, da sie in den »Wahnsinn« und Selbstverlust führen, aber auch eine ›rettende‹ Erzählung daraus hervorgehen kann. (KI 7) Dass die »unmenschliche Leere und Öde« des Meeres oder der Wüste in eine »große Ruhe« im Inneren des (Erzähler-)Subjekts zu überführen ist, davon weiß auch Seghers’ Transit (ST 41f). Die Leere des Transits ist noch in einer anderen Hinsicht paradox: Insofern der Transit-Ort als »der unbedeutende, der semantisch entleerte Ort« in Erscheinung tritt, steht er im scheinbaren Widerspruch zu sich selbst als ein Ort, »an dem etwas Ungewöhnliches, etwas Bedeutsames passiert«.35 Der Vorwurf einer ›tödlichen Langeweile‹ von Fluchtgeschichten bei Seghers oder die Klage über das Fehlen von Handlung bei Khider sind irritierend, denn sie stehen scheinbar völlig im Gegensatz zu den »spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr« (ST 7), zu den ständigen Ereignissen, Geschehnissen und Grenzüberschreitungen.36 Das sujetbildende Ereignis, so lässt sich unter Bezug auf Jurij Lotmanns raumsemantische Überlegungen vermuten, scheint sich hier gerade nicht in der konkret-räumlichen Grenzüberschreitung zu manifestieren37, insofern deren Bedeutung und sinngebende Funktion sich 33 34 35 36 37
Zur Zwanghaftigkeit des Schreibens vgl. KI, S. 35–37. Wilhelmer, Transit-Orte, S. 6. Wilhelmer, Transit-Orte, S. 6 und 10. Zum Motiv der ›tödlichen Langeweile‹ bei Seghers vgl. Thurner. Zu Lotmans Modell literarischer Raumsemantik sowie zur Grenzüberschreitung als dem zentralen Ereignis narrativer Texte vgl. Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1993, S. 332.
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gewissermaßen ›abgenutzt‹ hat. Das besondere strukturale Ereignis – das eigentlich ›Spannende‹ – beginnt vielmehr dort, wo sich das erzählende und handelnde Subjekt über die eigene Fluchtgeschichte erhebt, wo der Endlosschleife des Transits etwas Neues und Anderes hinzugefügt wird und die wiederholte Flucht nicht lediglich ihre Wiederholung in der Erzählung erfährt: »Ich hatte […] ebensowenig Lust, die Geschichte doppelt zu lesen, wie ich zweimal das gleiche Abenteuer erleben möchte, den gleichen Ablauf von Gefahren«, heißt es in Transit (ST 27). Um (die eigene) Fluchtgeschichte zu erzählen und abzuschließen, muss man sie variieren, man muss sie etwas anders oder auch in vielen Variationen erzählen. Nur so kann man, statt sich darin zu verlieren, den Überblick bekommen und eine dauerhafte Erzählung schaffen.
Überblicken und Überdauern: Macht und Raum Beide Romane inszenieren Raumordnungen der Macht und zeigen die Ohnmacht des Flüchtlings darin. Bei Khider ist es die todbringende Ordnung der Gefängnisse, Lager und Grenzen, die das »Leben […] wie eine Wand« sein lässt, gegen die man mit dem Kopf schlägt, bis man tot umfällt (KI 153); bei Seghers die »Naziordnung«, deren »Kontrolle« bis nach Frankreich reicht (ST 47) – und bei beiden die ›papierne‹ Raumordnung einer bürokratischen Macht. All dem in gewisser Weise entgegengesetzt ist die Ordnung des ›Überlebenskünstlers‹ als eine ›Ordnung‹ des Zufalls, die unter den existenziellen Bedingungen allerdings als eine höhere Macht erscheint. Es ist das ›Wunder‹ eines zufälligen Überlebens, das bei Khider in all seiner Profanität deutlich wird, wenn Rasul an einer Stelle sogar geplatzte Autoreifen als Schicksalsmächte gelten lässt, da dieser Zufall seine Erschießung in der Wüste verhindern konnte. (KI 100f.) Menschlicher wird es dagegen, wenn in sozialen Begegnungen unverhofft »Schutzengel« Fluchthilfe leisten (vgl. ST 203, KI 118). Aber auch die Wirkungsgesetze der politischen, bürokratischen oder militärischen Mächte – seien es die »Sterne auf den Schulterklappen der Generäle« bei Khider (KI 132) oder der »Konsulatszauber« in Transit (ST 150) – erscheinen als undurchsichtige Schicksalsmächte mitunter zufällig und willkürlich. Gleichzeitig erweist sich das Erzählen von Flucht in beiden Romanen als ein ›spielerischer‹ und gestaltender, wenn nicht sogar subversiver Umgang mit dem Raum und seinen Machtordnungen.38 Eine zentrale Rolle kommt hier dem Erzähler als ›Überlebenskünstler‹ zu, der nicht zuletzt zum (falschen oder echten) Statthalter eines Autors wird. Die paradoxe Konstellation zwischen Zufall und Schicksalsmacht, die über das Fortkommen und damit das Überleben des Flüchtlings entscheiden, korrespondiert mit der 38 Vgl. Hallet / Neumann, »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 23 und 6.
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Aufgabe einer möglichst geschickten Bewegung in diesem ›Spiel‹ und im Raum, dessen Regeln man nicht kennt.39 Bei Seghers verläuft das Spiel mit der bürokratischen Raumordnung als einer ›teuflischen‹ Macht über das geschickte Agieren des Protagonisten und Ich-Erzählers mit (falschen) Identitäten, wobei dieser auf den Konsulaten insbesondere die Rolle jenes verstorbenen Schriftstellers Weidel einnimmt. Just diese Rolle, mit der er in die verwickelte Geschichte mit Marie und ihrer Flucht erst involviert wird, ermöglicht ihm zugleich eine gewisse Distanzierung vom Geschehen, ja sogar eine »winzige[] Überlegenheit« (ST 56) gegenüber der bestehenden Macht- und Raumordnung. Hier wird letztlich doch die Frage nach der Macht oder Ohnmacht des Schriftstellers in Zeiten von Flucht und Exil verhandelt und nach den Möglichkeiten des literarischen Erzählens und Schreibens als einer Gegenstrategie zu bestehenden Machtverhältnissen gefragt. In seinem Buch Die Kunst des Handelns unterscheidet der Soziologe Michel de Certeau zwei Positionierungen zum Raum: Das »Gehen in der Stadt« und das Schauen von oben auf die Stadt.40 Mit diesem »alles überschauende[n]« Blick entstehe im Betrachter die »Fiktion« einer Lesbarkeit des Raums, dessen »undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinn[t].«41 Auch in Transit gibt es solche Momente des Überblicks: Mit dem Blick von oben auf die bewegte Flüchtlingsstadt Marseille findet der Protagonist momentweise »Trost«, Ruhe, wenn nicht gar Souveränität (vgl. ST 43). Stärker noch als die räumliche Perspektive des Überblicks steht hier eine zeitliche Perspektive des Überdauerns. Es sind solche Momente einer weitblickenden Distanzierung, die eine hoffnungsvolle Sicht über die eigene Fluchtgeschichte hinaus implizieren.42 Das eigene vergängliche und gefährdete Leben steht im Kontrast zu, aber auch in einem quasi metaphysischen Zusammenhang mit, einer ›unermesslichen‹ Zeit, in der schon viele Kriege und Fluchtbewegungen vorübergegangen sind und die in der Zukunft womöglich ein besseres Leben bereit hält, da man eines Tages »heimfahren kann und dabei sein kann, wenn sich alles verändert.« (ST 148) Eine solche Dauerhaftigkeit wird auch dem Erzählen im Transit als einer letztlichen Überwindung von Flucht und Krieg zugesprochen, da man mit und nach dem Erzählakt »diese Wüste für immer durchquert hat«. (ST 250)43 39 40 41 42
Vgl. den Beitrag von Martin Sablotny in diesem Band. Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 179ff. Ebd., S. 181. Den »Transitsorgen« ist eine »unendliche Geduld« gegenübergestellt (ST 91) und eine »Ruhe« des Feuers im Pizzaofen (ST 125), da man »seit Jahrhunderten […] den Teig so geschlagen [hat]« (ST 129). Was dem Protagonisten Halt und Ruhe gibt, ist außerdem der Eindruck eines »uralte[n] frische[n] Hafengeschwätz[es]« (ST 273) und die »Suche nach dem, was für immer vorhält« (ST 125); sowie die Einsicht, dass die Menge derer, »die trotzdem geblieben sind«, zu allen Zeiten und Kriegen überwogen habe (ST 271). 43 Hervorhebung durch HMH.
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In Khiders Roman dominiert dagegen eine räumliche Perspektive des Überblicks, der eine Bewegung der Überquerung von oben zugeordnet ist: Rasuls Entwicklung vom ›Überlebenskünstler‹ zum Schriftsteller führt in letzter Konsequenz zu einer solchen Überblicksperspektive, die mit der zugleich metaphorischen und metapoetischen Rede vom Ritt auf dem »Schreibdrachen« (KI 52) literarisch ins Bild gesetzt ist. Es ist die Perspektive des »Büchervogel[s]« (KI 24) und »Unglücksrabe[n]« (KI 123) Rasul, der nach vielen Irrwegen und Schreibversuchen schließlich nicht mehr als »blinde Taube« (KI 73) ziellos umherirrt, sondern am Ende gelernt hat zu sehen und zu fliegen, zu schreiben und sich zu erinnern, da er nur das eine Ziel hat, »meine Geschichte endlich zu Ende [zu] schreiben« (KI 151). Damit erhebt sich dieser Ich-Erzähler »[a]uf den Flügeln des Raben« (KI 123) buchstäblich über die mühevolle und gefährliche Bewegung des Flüchtlings am Boden und über das Festgehalten-Sein im Gefängnis, wo es »weder Himmels- noch Erdenwege [gab]« (KI 145). Im Bild des Erzählers als Unglücksraben wird die Macht des Erzählens thematisiert, wobei diese Gabe als eine zugleich ›schreckliche‹ Aufgabe erkennbar wird. Dabei wird die Macht des ›unglücklichen‹ Autors, von den Schrecken des Krieges und der Flucht zu erzählen, in gewisser Weise gleichgesetzt mit den politischen Machthabern im Irak, die »den vom Schicksal Gebeutelten einen Unglücksraben nach dem anderen aufs Dach gesetzt haben.« (KI 132) Indem hier aber der ›vom Schicksal Gebeutelte‹ selbst die Macht (des Erzählens) ergreift – »[I]ch wollte gegen diese Raben arbeiten« (KI 144), so der »Unglücksrabe« Rasul über die Machthaber im Irak –, scheint in der Tat das Schreiben als eine Gegenstrategie zu bestehenden Macht- und Raumordnungen auf. Ob und inwiefern darin eine utopische Dimension erkennbar ist44, wäre zu diskutieren, offenbaren doch die Erzählung und der Blick ›von oben‹ eine schreckliche Topographie von Krieg und Zerstörung. Es ist eine wahrhaft apokalyptische Perspektive auf die Welt, die in Deutschland ihr groteskes Ende findet, wo die schlimmste ›Katastrophe‹ in der Einführung von Studiengebühren besteht. (KI 123–131) In dieser plötzlichen Gegenüberstellung zeigt sich beispielhaft die produktive Seite einer (Erzähl-)Form des ›spielerischen‹ Umgangs mit der eigenen Fluchtgeschichte: Das Nebeneinander unterschiedlicher Versionen einer eigentlich einmaligen Fluchtbewegung – und damit auch der eigentlich nacheinander erreichten und erzählten Räume – lässt eine »Konstellation[] der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« entstehen, die »besonders dazu geeignet [… [ist], heterogene Räume aufeinander zu beziehen.«45 Was auf der einen Seite als ein ›zwanghaft‹ wiederholtes Erzählen und Erinnern erscheint, als ein Befangen-Sein in der Ohn44 Vgl. zum Schreiben und Erzählen als einer »utopischen Praxis« im Kontext Exil Thurner, Der andere Ort des Erzählens, S. 44–47. 45 Hallet / Neumann, »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 14.
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macht des Flüchtlings, ist zugleich Teil einer (Schreib-)Strategie, sich einen eigenen Spielraum (in) der Literatur zu schaffen und auf diese Weise produktiv und subversiv mit dieser Ohnmacht und Befangenheit umzugehen.
Wundervögel: Utopien der Entgrenzung? Inwieweit entwerfen beide Romane nun literarische Konzepte der Entgrenzung im Sinne einer interkulturellen Selbstverortung und Neubildung von Identität? Bei Seghers’ Transit scheint fast das Gegenteil der Fall, wird doch am Ende die Verwurzelung des Protagonisten im »vertrauten Boden« als die einzig reale und auf Dauer gerichtete Option all den »phantastischen Städten fremder Erdteile« (ST 280) positiv gegenübergestellt, die als bloßes »Trugbild in meinem Kopf [verblassen]« (ST 281). Nicht über die Fluchtziele in Übersee verläuft die Sicherung der eigenen Existenz und Identität, sondern im »Anschluss an Fleisch und Blut« noch über den Tod hinaus: Der Protagonist mag in Europa notfalls »verbluten« und es würde doch »etwas […] von einem weiter[wachsen] wie von den Sträuchern und Bäumen, die man zu roden versucht.« (ST 280)46 Es ist die programmatische Umkehr des Blicks von der Grenze Europas zurück nach Europa als dem einzig Bleibenden. Darin allerdings zeigt sich die politische Utopie einer Veränderung Europas und einer antifaschistisch-kämpferischen Einheit »aller Nationen und Glauben« (ST 69): Es gilt, in Marseille als der »letzte[n] Herberge in der Alten Welt« (ST 129) die Flucht zu beenden und mit der letzten verbleibenden »Mannschaft dieses Erdteils« (ST 255) den gemeinsamen kulturellen und politischen Raum Europas zu verteidigen und künftig zu gestalten.47 Die Autorin Seghers, die Transit auf der Überfahrt von Marseille nach Mexiko beendete und erst von dort aus publiziert, gestaltet damit eine literarische Utopie, der sie selbst in der Realität des Jahres 1944 nicht folgen kann. Khiders Roman stellt dieser Utopie einer Verwurzelung ein Modell der Entgrenzung gegenüber. Es ist eine Grenzüberschreitung zwischen Europa und seinem (›arabischen‹) Anderen, von der Der falsche Inder aus entgegengesetzter 46 Dass hier mit den Worten »Blut« und »Boden« ausgerechnet Schlüsselbegriffe einer nationalsozialistischen ›Blut und Boden‹-Rhetorik aufgerufen werden, mag irritieren. Offenbar auch als Gegenrede zu eben dieser Rhetorik der Nationalsozialisten konzipiert, meint die Forderung nach einem »Anschluss an Fleisch und Blut« hier auch die nach einer Hinwendung zum ›realen‹ Leben im (durchaus paradoxen) Sinne einer lebenszugewandten Arbeit an der Utopie. Wie im Folgenden zu zeigen, entwirft Seghers’ Roman die Vision eines freien und offenen Europas aller Nationen, Glauben und Hautfarben, das dem nationalsozialistischen Verdikt einer rassenideologisch zu definierenden ›Volksgemeinschaft‹ absolut entgegensteht. 47 Vgl. auch ST 124.
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Perspektive erzählt, eine Identitätssuche im Transit, wie Sarah Fortmann-Hijazi in einer eingehenden Untersuchung zeigt.48 Und nicht nur der Flüchtling ist als Grenzgänger und ›falscher Inder‹ eine Figur, die »ethnische und kulturelle Festlegungen [unterläuft]«49. Auch sein Text ist ein Transit-Text in mehrfacher Hinsicht; Schrift steht und entsteht hier grundsätzlich im Zeichen des Transits. Das Manuskript erscheint seinem Leser im Zug, es wird zur Reise-Lektüre, es ist aber auch eine »Handschrift« (KI 9), deren Verfasser »auch noch mit Bleistift« (KI 154) geschrieben hat, also ein im Vergleich zum gedruckten Buch probeweise Fixiertes, ein Text im Übergangsstadium. Es verweist gar auf die Flüchtigkeit eines bloßen Gesprächs im Transit, da sich der Finder des Manuskripts auf einen »arabischen Gesprächspartner« (KI 9) freut, den er ebenfalls im Zug wähnt. Als deutschsprachiger Roman eines irakischen Autors verkörpert Der falsche Inder nicht zuletzt eine interkulturelle Entgrenzung im Sinne eines Sprachtransfers, die mit dem Manuskript Rasuls gewissermaßen im Roman ihre fiktive Entsprechung findet. Es ist ein Text »auf Arabisch« (KI 7), der von dem extradiegetischen Ich-Erzähler im Zug gefunden und gelesen wird. Dieser Gegenstand einer intradiegetischen Lektüre präsentiert sich allerdings dem extradiegetischen Leser von Khiders Roman auf Deutsch. Indem innerhalb der Fiktion keinerlei Übersetzungsvorgang aus dem Arabischen ins Deutsche behauptet wird, bleibt der erzähllogische Ort dieser ›Übersetzung‹ gewissermaßen eine Leerstelle, die allerdings mit dem sprachkompetenten Finder und transitären Leser als dem möglichen Übersetzer dieses Manuskriptes zu füllen wäre. Es ist die – unausgesprochene – ›Übersetzung‹ einer flüchtigen arabischen Erzählung und ›Erinnerung‹ ins Deutsche und ins Druckbild, die irgendwo zwischen der inner- und außerdiegetischen Welt anzusiedeln wäre: Sie mag sich im Kopf des intradiegetischen Lesers, der Deutsch und Arabisch kann, erst im Prozess einer (übersetzenden) Lektüre vollziehen. Dem Leser von Khiders deutschsprachigem Debüt-Roman liegt das mögliche Ergebnis einer solchen Übersetzung ebenso vor wie das behauptete Druckbild einer (übersetzten) ›arabischen Handschrift‹. Der lesende Ich-Erzähler auf der Rahmenebene wird so zum Medium eines Sprachtransfers und zu einer Mittlerfigur, die eine Position zwischen dem arabischen Text und einer deutschen Leserschaft einnimmt. Rasuls ›arabischer‹ Text ist (als Roman) ›immer schon‹ übersetzt – so wie Khiders Der falsche Inder gleich auf Deutsch erscheint. Der Autor Khider verweist damit nicht zuletzt auf das eigene Schreiben als ein internalisierter Sprachtransfer, der ›irgendwo‹ im eigenen Kopf stattfindet, und als ein litera48 Sarah Fortmann-Hijazi: Gehen, um zu erinnern. Identitätssuche in den deutschsprachigen Debütromanen von Sherko Fatah, Semier Insayif und Abbas Khider, unveröffentlichte Dissertation, Bremen 2016. 49 Jensen / Müller-Tamm, »Echte Wiener und falsche Inder«, S. 327.
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risches Schreiben, das seinen Ort ›irgendwo‹ zwischen den Sprachen und Kulturen hat. Sein Protagonist Rasul erzählt seine Geschichte nicht nur in einer ständigen Pendelbewegung zwischen Irak und Deutschland und allen Ländern ›dazwischen‹. Er verfasst auch eine »Lyrik zwischen Asien und Afrika« und verortet seine Texte allenfalls im digitalen, ortlosen Raum des Computers oder in der ›rettenden‹ (übersetzenden) Veröffentlichung. (KI 32–34) Genau dort liegt bei Khider die utopische Dimension: nicht im Bleiben oder Ankommen, sondern in der Schrift als dem möglichen Medium eines Transfers, einer Übersetzung und Vermittlung. Es ist, genauer gesagt, ein Ankommen in der Schrift und nicht zuletzt in der deutschen Sprache, das eine Bewegung und Befreiung erst ermöglicht. In einem Interview aus dem Jahre 2013 sagt Khider : »In der deutschen Sprache fliege ich. […] Die deutsche Sprache ist auch meine Heimat geworden, ich kann mich in ihr bewegen wie ich will.«50 In Der falsche Inder verweist das (Selbst)Bild des Erzählers als freifliegender Vogel auf das Konzept einer entgrenzenden Erzählung, wobei neben der utopischen Dimension eine tragische und sogar tragikomische sichtbar wird: Der geflüchtete Rasul, dessen Ziel es wird, als »Büchervogel« (KI 24) die eigene Geschichte von Flucht und Krieg zu schreiben, ist ein »Unglücksvogel« (KI 123), aber auch ein komischer Vogel, der in Deutschland »arabische[] Märchen« (KI 131) erzählt. Am Ende verleiht Rasul seiner Erzählung jene Widmung, die auch am Beginn von Khiders Roman steht: »Für die, die eine Sekunde vor dem Tod noch von zwei Flügeln träumen.« (KI 151) Der Traum vom Fliegen als einer Rettung vor dem Tod wird lesbar als eine Utopie der Freiheit (in) der Literatur. Es ist der Traum auch von einer ›rettenden‹ Erzählung, die sich über den Tod erhebt. Der falsche Inder beschreibt das »ganz persönliche[…] Schicksal« (KI 123) des Flüchtlings Rasul als eine Entwicklung vom Überlebenskünstler zum Künstler, dessen individuelle Aufgabe und Bestimmung aber darin besteht, auch dem Kollektiv der Flüchtlinge eine Schrift und Stimme zu verleihen: all denen, die dem Tod entgegen gehen oder gingen und die dennoch auf Rettung und Überleben, auf Freiheit und Entgrenzung hoff(t)en. Es gilt, die Geschichten und »Gesichter« (KI 123) all derer zu erzählen und zu erinnern, die sonst ohne Gesicht und ohne Namen blieben, einen »Friedhof der Erinnerungen« (KI 133) zum Sprechen zu bringen. Literatur erweist sich als Konzept einer lebendigen Erinnerung an die Vielen (auf) der Flucht. Sie wird so zu einem medialen Erinnerungsraum zum Beispiel an den Fluss Ebrus, den Rasul in einer »Inschrift« als »internationale[n] Wasserfriedhof und Treffpunkt der Kulturen« (KI 63) bezeichnet. Schrift wird zum Mahnmal und es ist eine ebenso düstere Utopie der Literatur, die Khiders Roman entwirft, da diese auch die tödlichen Aspekte der 50 »Ich bin ein Schönheits-Sammler«. Abbas Khider im Gespräch mit Annika Hillmann, in exilograph, Newsletter Nr. 21, 2013/14, S. 12–15, hier S. 15.
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Entgrenzung enthalten und offenbaren muss. Allerdings nicht ohne einen möglichen besseren ›Treffpunkt der Kulturen‹ im Diesseits und nicht zuletzt in der Schrift aufzuzeigen. Auch bei Anna Seghers wird Literatur zu einem Medium der Erinnerung an Krieg und Flucht, nicht zuletzt an die Flüchtlingsstadt Marseille.51 Und gerade aus der aktuellen heutigen Perspektive besehen besteht eine Leistung von Transit darin, die europäische Geschichte als eine des Exils und der Migration zu vergegenwärtigen. Angesichts der historischen Entstehungssituation und den entsprechenden Untergangsszenarien dieses Romans sind zweierlei Dinge bemerkenswert: zum einen die Hoffnung auf eine (zwar vage) kollektive Zukunft Europas, die es am Ende heroisch zu verteidigen gilt anstatt ›nur‹ zu fliehen oder auszuwandern. Zum anderen aber die Vision eines gegen den Faschismus vereinten Europas, dem nicht-europäische Einwanderer angehören. Denn die Binnets, die dem Protagonisten zur Ersatzfamilie werden, das sind neben dem französischen Freund Georg dessen einst von Übersee gekommene Lebensgefährtin Claudine – der Ich-Erzähler nennt sie einen »Wundervogel von Freundin« – und deren »Knabe«. (ST 60) Als einstmals selbst Geflohene werden diese Beiden für den Flüchtling in der Hafenstadt Marseille, die immer schon Treffpunkt und Durchgangsort vieler Völker und Kulturen gewesen ist, zum konkreten Vorbild für die Masse all derer, die immer schon »trotzdem geblieben sind« (ST 271). Auf seine Frage an Claudine, ob diese nicht »selbst hier fremd« sei, antwortet diese: »›Du vergißt, daß ich hierhergekommen bin, um zu bleiben‹«. (ST 152) Aus einer nicht-europäischen und weiblichen Sicht heraus wird hier eine Selbstverständlichkeit vorgetragen, die allerdings dem männlichen Protagonisten unverständlich bleibe: Was verstehst du von einer Frau, die, ihr Kind im Tuch, ein Schiff besteigt, weil daheim kein Platz mehr für sie ist? […] Und dann ihr! Eure kalten Augen! Die ihr lange braucht für etwas, was für uns im Augenblick abgemacht ist, und in einem Augenblick abmacht, was für uns das Leben lang dauert. (ST 152)
Diese Kritik einer Frau, die nach Europa kam, um für sich und ihr Kind einen Platz zu finden, geht an den ungebundenen ›Überlebenskünstler‹, aber sie geht an ihn als Stellvertreter eines Kollektiv der ›kalten‹ Männer, die in ihrer Kompliziertheit und Selbstvergessenheit den Sinn für das Wesentliche verloren haben. Die Flexibilität Claudines ist anderer Art, pragmatisch und zugleich mehr als das, da sie damit ein Zuhause schafft: »Sie machte sich selber kein Hehl aus der Brüchigkeit ihrer vier Wände. Sie würden vielleicht gerade deshalb umso haltbarer sein. Ich hatte jedenfalls stark wie nie das Gefühl, in ein Heim geraten zu sein.« (ST 152f.) Es ist die Bodenständigkeit einer Entwurzelten: »Denn ein 51 Vgl. hierzu Wilhelmer, Transit-Orte, S. 177–178 und 218.
Erzählungen der Flucht aus raumtheoretischer Sicht
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Blatt, das im Wind herumweht, würde eher auf seinen Zweig zurückfinden. Ich will mit meinem Kind bei Georg bleiben, solange es möglich ist.« (ST 152) Dieser individuelle Blick in eine mögliche Zukunft, in der »mein Sohn ein Lehrer geworden ist oder ein Arzt« (ST 151), erhält nun seinerseits eine kollektive Dimension im Blick auf Europa. Denn in dieser Bereitschaft zum Bleiben, zum Aufbauen und Überdauern – mögen die Wände auch ›brüchig‹ sein – liegt »unsere gemeinsame Zukunft« und eben nicht im »Titre de Voyage«, der die ewig fliehende Marie momentweise glücklich macht. (ST 271f.) Mit ihr wird dieser Protagonist kein Zuhause bauen und keine Familie gründen können.52 Und doch gibt es ein Kind, für das er mehr und mehr Verantwortung übernimmt und für das er »vom ersten Augenblick an […] eine schmerzhafte Zuneigung« (ST 59) empfindet. Es ist der »Junge der Binnets«, der für eine neue Generation und für eine mögliche bessere Zukunft Europas steht. Dieser wissbegierige Junge mit den leuchtenden Augen und seiner »Haut aus dunklem Gold« ist es wert, dass man sich »um seinethalben Mühe« gibt und für ein anderes Europa kämpft, damit er dieses eines Tages doch noch zu sähen bekäme. (ST 59) Was diesen Ich-Erzähler am Ende nach allen Fluchtgeschichten wirklich interessiert, ist »das runde Licht, an dem ein paar Kinder Schulaufgaben machen« (ST 277), und es ist diese Generation und konkret dieser Junge der Binnets, der in einer Zeit der totalen Verwirrung seine täglichen Schulaufgaben macht, der Hoffnung erweckt. Transit zeigt ein von Flucht und Krieg zerstörtes Europa, entwirft jedoch mit der Utopie einer europäischen Wertegemeinschaft über Grenzen hinweg eine im Vergleich zu Khider mehr auf die Zukunft und auf das Kollektiv einer (zukünftigen) Gesellschaft gerichtete Perspektive. Hier findet ein Namenloser am Ende seinen Platz im Kollektiv eines antifaschistischen Europa, das – insofern es überhaupt noch eine Zukunft hat – ein befreites Europa »aller Nationen und Glauben« und Hautfarben wäre; ein ›Heim‹ auch von und für ›Wundervögel‹ wie Claudine und deren Kinder, für das es sich lohnt zu kämpfen und zu lieben, zu leuchten und zu zittern. (ST 59) Der falsche Inder dagegen bleibt ein ›wunderlicher‹ Grenz- und Einzelgänger, aber er findet seinen Ort als Künstler (in) der Schrift und zwischen den Kulturen, der die Fluchtgeschichten Vieler nach Europa und Deutschland ›hinüberrettet‹ und ihnen ein individuelles Gesicht und einen Namen verleiht, indem er von ihnen erzählt.
52 Vgl. ST 179: »Es war gewiß etwas kühn, das Hotel […] ›mein eigenes Dach‹ zu nennen. Ich würde ihr [Marie, HMH] keinen Garten pflanzen können, doch unser beider Papiere würde ich hegen und pflegen[.]«
Erzählstrategien
Sabine Zubarik
»Schiffbrüchige« auf Hiddensee. Gestrandete Körper vor und nach der Flucht in Lutz Seilers Roman Kruso
Lutz Seilers 2014 erschienener Erstlingsroman Kruso ist gleich aus mehreren Gründen nicht gerade ein Prototyp der Flüchtlingserzählung. Zum einen berichtet er nicht, wie man das von Literatur, die Flüchtlinge und Bewegungen des Fliehens zum Gegenstand hat, erwarten könnte, aus der Perspektive der Fliehenden oder doch mit dem Fokus auf diese. Vielmehr spricht er von denen, die bleiben. So zeichnet er auch keine Ortswechsel und Grenzübertritte nach, sondern hat – abgesehen von einer nur kurz umrissenen innerdeutschen Reise des jungen Protagonisten Edgar – nur einen, dazu recht reduzierten, Schauplatz: die deutsche Ostseeinsel Hiddensee. Um Fluchtbewegungen geht es dennoch allemal, um äußere (tatsächliche), aber mehr noch um die inneren (im Geiste). Zum anderen verhandelt Seiler im Epilog seines Romans den Status des Flüchtlings in einer ›Lebensphase‹, in der sich die wenigsten literarischen Texte zum Thema Flucht noch für ihn interessieren, nämlich nach seinem Tod. Damit bietet dieser Roman zwei ungewöhnliche Fokussierungen: auf das Nicht-Fliehen-Müssen und auf den toten Flüchtling, die ich im Folgenden anhand von ausgewählten Textstellen nachzuvollziehen versuche. Aus dieser Analyse ergeben sich zwei interessante Aspekte: 1. Seiler veranschaulicht in seinem Roman sowohl die Fortsetzung des Flüchtlingsstatus über den Tod hinaus als auch die Irreversibilität der mit der Flucht einhergehenden Staatenlosigkeit, denn die Leichen können weder im Ausgangs- noch im Ankunftsland dauerhaft bestattet werden und verbleiben im Zwischenstatus der Konservierung – aufbewahrt an schlecht auffindbaren Un-Orten, zu denen der Zugriff paradoxerweise deshalb nicht gewährt wird, weil der Identitätsnachweis der Vermissten fehlt. 2. Ein/e »Gestrandete/r« zu sein hat in den zwei Romanteilen jeweils eine andere Konnotation: Während die Gestrandeten im Hauptteil Hoffnungsträger auf eine bessere Gesellschaft darstellen, sind die Gestrandeten, von denen im Epilog die Rede ist, tote, ihrer Identität und ihrer Verortbarkeit beraubte Körper. Der intertextuelle Verweis auf (reale) Fluchterzählungen steht dabei am Scheidepunkt zwischen Hauptteil und Epilog und zeigt auf, wie arbiträr
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Flucht verlaufen kann und wie nahe katastrophale und heroische Ausgänge beieinander liegen. Damit verhandelt Seiler jenseits des konkreten Hiddensee-Narrativs Problematiken der persönlichen sowie der kollektiven Aufarbeitung von Fluchtbewegungen und ihren (teils verschollenen) Relikten.
(Nicht-)Flucht auf Hiddensee Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.1
Handlungsort und -zeit in Kruso sind historisch signifikant: Hiddensee 1989, im letzten Sommer vor der deutschen Wende. Zu Zeiten der DDR war die Insel bekannt als Urlaubsparadies und Rückzugsort sowohl für Künstler/innen als auch für Saisonarbeiter/innen. Personen, die im sozialistischen System nicht konform liefen, als Rädchen der planmäßigen Gesellschaft nicht funktionieren wollten, fanden sich zeitweise auf Hiddensee ein, wo zwar wegen der geografischen Beschränkung einerseits der kontrollierte Blick auf sie durch NVA und Stasi nicht schwerfiel, andererseits gerade deswegen auch ein gewisser Freiraum herrschte. Ein Großteil des Personals für die Gastronomie und den Hotelbetrieb rekrutierte sich aus solchen Querdenkern und ›Antihelden‹ des Sozialismus.2 Just so eine Figur ist Seilers Protagonist Ed(gar), aus dessen Perspektive die Geschichte in der dritten Person erzählt wird. Edgar Bendler, der 24-jährige Musterstudent der Germanistik aus Halle, hat mit dem plötzlichen Tod seiner Freundin bei einem Straßenbahnunfall Halt und Sinn im alltäglichen Leben verloren.3 Er flieht, aus Angst vor den Konsequenzen 1 Lutz Seiler, Kruso, Berlin 2014, S. 33. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe. 2 Auf die Frage, was Hiddensee zu solch einem besonderen Sehnsuchtsort habe werden lassen, antwortet Lutz Seiler in einem Interview von 2014: »Das Meer war wichtig, die Inselsituation, eine Art Jenseitserfahrung. Im Grunde war es die einzige wirkliche Insel damals. Und dann gab es dort diese phantastische Szene der Saisonkräfte, der Aussteiger und Ausgestoßenen, ein ganz eigenes Mikromilieu mit einem sehr speziellen, sehr attraktiven Gemeinschaftsgefühl.« Gerrit Bartels, »›Hiddensee war eine Art Jenseitserfahrung.‹ Interview mit Lutz Seiler«, in Der Tagesspiegel (6. 10. 2014). Seiler war selbst im Sommer 1989 als saisonaler Abwäscher im Gasthaus Klausner auf Hiddensee angestellt. 3 In Anbetracht der in Inselnarrativen gerne verwendeten Schiffsmetaphorik ist es interessant, dass Bendler schon an dieser Stelle als Wrack bezeichnet wird: »im Grunde gescheitert […], aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.« (37)
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der eigenen Haltlosigkeit und dem buchstäblichen (Ab)Sturz,4 an den äußersten Rand seines Landes. Der einzige Ort, der ihm innerhalb der Landesgrenze für einen Aufenthalt möglich erscheint, ist Hiddensee: ein anderes Ziel war nicht denkbar innerhalb der Grenzen. Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht. (32f.)5
Edgar weiß jedoch von diesem Ort nur durch die schwärmerischen Kneipenreden (»Elogen«, 33) eines ehemaligen Historikers, der im Winter als Kellner in Halle und im Sommer als Saisonkraft auf Hiddensee arbeitet: Die Insel, ihr Lieben, hat alles, was ich brauche, immer gesucht habe, bereits wenn sie auftaucht am Horizont, vom Dampfer aus gesehen, ihre schmale zerbrechliche Gestalt, ihr feiner Umriss, im Rücken noch der letzte graue Hahnenkamm des Festlands, Stralsund mit seinen Türmen, das ganze Hinterland mit seinem Dreck, ihr wisst, ihr Lieben, was ich meine, ihr Lieben, die Insel taucht auf und augenblicklich vergesst ihr das alles, denn jetzt liegt sie vor euch, und etwas Neues fängt an, ja, schon da, auf dem Dampfer! (33)
Das Erneuernde der Insel ist aber mitnichten nur eine Frage des herausragenden Naturerlebnisses. Eindeutig bezieht sich die Lobrede des Saisonkellners auf die gesellschaftlichen Besonderheiten »des Lebens dort oben«: »Die Freiheit, ihr Lieben, besteht im Kern darin, im Rahmen der existierenden Gesetze eigene Gesetzte zu erfinden, Objekt und Subjekt der Gesetzgebung zugleich zu sein, das ist ein Hauptzug des Lebens dort oben, im Norden.« (33) Damit ist dem vorgegriffen, was Ed auf Hiddensee unter Krusos ›Regime‹ erleben wird, nachdem er als Abwäscher in der Gaststätte Zum Klausner einen Arbeitsplatz und in Kruso einen Vorarbeiter und Freund findet. Alexander Krusowitsch, kurz Kruso oder auch Lotsch genannt, verfolgt eine – für Ed zunächst völlig undurchschaubare – Mission, in die er die gesamte Belegschaft des Inselferienbetriebs einzubinden weiß. Unter den herrschenden gesetzlichen Gegebenheiten und ohne sie maßgeblich zu verletzen, bildet er eine Gemeinschaft mit eigenen Regeln, Ritualen 4 Zur Motivik des Fallens, Abstürzens und Fliegens in Seilers Roman und in literarischen Vorläufern siehe Michael Ostheimer, »Zwischen Idylle und Anti-Idylle. Hiddensee als Paradigma für die Insel-Literatur der DDR«, in Inseln und Insularitäten. Ästhetisierungen von Heterochronie und Chronotopie seit 1960, hrsg. von Sabine Zubarik / Michael Ostheimer, Hannover 2016, S. 181–210. 5 Ähnliches liest man – leicht abgewandelt aus dem Roman zitiert (»auf Hiddensee« statt »hier«, S. 165) – in der Ankündigung des Geraer Theaters zur Bühnenadaption des Romans: »Wer auf Hiddensee war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenzen zu überschreiten.« Kruso, nach dem gleichnamigen Roman von Lutz Seiler, für die Bühne bearbeitet von Petra Paschinger und Caro Thum, Premiere am 6. November 2015 bei Theater& Philharmonie Thüringen.
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und Institutionen. Deren Ziel soll es sein, die »Gestrandeten«, die »Schiffbrüchigen« der Gesellschaft, die nach Hiddensee mit der Option der Flucht über die Ostsee nach Dänemark kommen, innerhalb von drei Tagen davon zu überzeugen, dass sie das Risiko der Republikflucht mit Todesgefahr durch Ertrinken oder Beschuss gar nicht eingehen müssten, weil sie mit einer inneren Freiheit ausgestattet seien, die es ihnen erlaube, in ihr vorheriges Leben zurückzukehren und sich mit allen verbunden zu wissen, die ebenso fühlen. Eines Tages werde diese innere Freiheit der Vielen größer sein als die äußeren Beschränkungen der machthabenden Wenigen. Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen der Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt, jenem Moment… Ein großes Pochen wird das sein, ein einziger donnernder Herzschlag. (175)
Wahrhaft utopisch wirkt dieser Gedankengang – wäre er nicht vor dem Hintergrund der Ereignisse des Herbstes 1989 als die vielleicht nötige Vorbereitung auf den Zusammenschluss der kritischen Masse plausibel. Krusos Utopie der inneren Freiheit wird wahr, wenn auch ganz anders als von ihm ersehnt. Paradox an Krusos groß angelegtem Versuch eines geheimen Hilfsnetzwerks unter den »Esskaas«6 ist die Tatsache, dass zur erfolgreichen Umsetzung just jene Mittel eingesetzt werden müssen, die Kruso im sozialistischen System seines Landes vehement ablehnt: gegenseitige Kontrolle durch Gruppenzwang, Enteignung persönlicher Gegenstände oder Rückzugsbereiche, Eingriff in das Intimleben, Vorenthalten von Informationen, Mystifizierung von anstehenden oder vergangenen Ereignissen, Praktizieren von Initiationsriten, zentrale Verteilung von Nahrungs- und Genussmitteln, Sozialisierung von Infrastruktur. So werden zum Beispiel bei der sogenannten »Vergabe« die Betten der SKs von Kruso an »schiffbrüchige« Schlafgäste weitervermittelt, ohne dass selbst sein Freund Ed darauf Einfluss hätte, an wen und für wie lange. Kruso weist Ed auf dessen Protest hin zurecht, dass das Ideal von Freiheit und Gemeinschaft nicht ohne Disziplin und Ordnung zu erreichen sei: Dein Zimmer? Wofür hältst du dich? Das ist ein Zimmer des Klausners, eine seiner kostbarsten Kajüten, vergiss das nie. […] Die Vergabe braucht Kriterien, sie braucht Gerechtigkeit und Disziplin, sonst macht es keinen Sinn, verstehst du? Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über auf unserem Weg. (231) 6 Das ist die ausgesprochene Abkürzung SK, die für ›Saisonkraft‹ steht.
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Wie so oft verkehrt sich auch in Seilers Roman ›real-existierender Idealismus‹ zur Dystopie.7 Nach einer misslungenen SK-Inselfeier bleibt der zeitweise verhaftete und danach schwer desillusionierte Gruppenanführer Kruso ohne Gruppe zurück; auch bei seiner »Besatzung« übersteigt der Freiheitsdrang nach Draußen (jenseits der Landesgrenzen) deutlich das in Krusos ›Predigten‹ heraufbeschworene innere Gemeinschaftsgefühl. Die Wenigen, die nach der Grenzöffnung bleiben, sind mutlos geworden: »Die alte, mit den Ideen der Freiheit wie natürlich verknüpfte Begeisterungsbereitschaft, reinste Form des Inselpatriotismus, existierte plötzlich nicht mehr.« (326) Auch Ed, der beim traditionellen jährlichen Inseltag von einem der SKs fast totgeschlagen und ertränkt wurde, ist die Freiheitsfantasie schon lange schal geworden: »Scham und Ekel auf weiter Front« (257) erfassen ihn, und nachts erscheint ihm die Insel alles andere als eine utopische Idylle. Im Traum sieht er sie im Ausnahmezustand, »dunkel« von Menschenmassen besetzt, umgeben von einer zerstörten, leblosen Natur: Im Traum sah Ed, dass die Insel überfüllt war. Die Häfen, die Heide, das Hochland und die Strände – dicht und dunkel mit Menschen besetzt. Sogar auf den Buhnen hockten sie, und auf den Steinen aus der Eiszeit, die aus dem Uferwasser ragten. Sie glichen großen, trägen Meeresvögeln, aber ohne Gefieder. Ihre Haut war verbrannt in der Sonne. Ihr Gemurmel war auch nachts zu hören, es mischte sich mit der Brandung und stieg bis an sein Fenster. Der Strand war mit Kot übersät und fauligem Seegras, aus dem kleine tote Fische blinkten und anderer Abfall. (260)
Schon bei früheren improvisierten Feiern der SKs bemerkt Ed die Leere der Rituale, die allesamt zu abstoßenden Trinkexperimenten verkommen sind (220–226). »Discogesichter« nennt er die Anhänger der Spaßgesellschaft, die tagsüber zwar an Krusos Lippen hängen und seine Lehren nachbeten, sich abends aber der Sinnlosigkeit des Alkoholrauschs hingeben: Und nein, in diesen Discogesichtern stand nichts oder nichts als Schminke geschrieben, kein Gefühl, kein Rhythmus, der die Verhältnisse zum Tanzen brachte, kein Kampf und null Utopie. Sie gehörten nicht zu jenem Stamm vor der Zeit, vor der Gesellschaft und ihrer Ordnung, die doch vollkommen verseucht war von Banalitäten, Zwängen, Regeln, verseucht war von ihrer Agonie und der am Ende das Wichtigste fehlte: Ehrlichkeit, Gemeinsamkeit, Liebe vielleicht … Nein, nichts. Nichts als mit Glitzer übertünchtes Nichts, das waren die Discogesichter. (275)
7 Zum Zusammenhang von Seilers Roman und der Frage der Utopie / Dystopie vgl. Heiko Ullrich, »Lutz Seilers Kruso – soziale Utopie, pastoraler Feuilletonroman und pikareske Robinsonade«, und Sabine Zubarik, »Die deutschen Möglichkeiten einer Insel: Gegenwartsromane zwischen utopischen und dystopischen Entwürfen«, beide in Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Jg. 2 (2015), Nr. 34, S. 47–58 und S. 17–32.
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»Null Utopie« bleibt genau in dem Moment übrig, als die auf Hochtouren laufende narrative Linie von Krusos »Widerstandsphantasma« (182) auf die einbrechenden Geschehnisse der Wende im realen Sommer 1989 trifft. Der Aufbruch von Massen und der Zusammenbruch von Systemen – dem großen landespolitischen wie dem kleinen inselutopischen – gehen dabei Hand in Hand und lassen schon in den ersten Anfängen Verstörung, Zerstörung und Brache zurück: Schiffbruch auf ganzer Linie, um in der vielfach bemühten Schiffsmetaphorik des Romans8 zu bleiben, die auch Eds Denken und Sprechen erfüllt: »[…] langsam nahm sein Zimmer die Gestalt des Schiffbruchs an. Fremder und vertrauter Schiffbruch, Schiffbruch eines ganzen Landes.« (234) Wenn schon die illegale Flucht keine Alternative war, so ist es nun die legale Abwanderung noch weniger, und die von Kruso in Aussicht gestellte innere Freiheit und Stärke weicht einer beklemmenden Orientierungslosigkeit, die jeglichem Fluchtreflex die Richtung nimmt. Ed bleibt bis zum Schluss, weil der Ort, an dem er sich befindet, in seiner kargen Alltäglichkeit der Spülküchenrealität die einzige Art von Flucht darstellt, die ihm je und auf ganzer Linie geglückt ist.
Die »Schiffbrüchigen« Welchen Status aber haben diese politisch Gestrandeten, die von Kruso und seiner Mannschaft die »Schiffbrüchigen« genannt werden? Sie werden notdürftig versorgt, unterwiesen in Krusos idiosynkratischer Philosophie des Bleibens und der inneren Freiheit, aber sie werden auch zu kleinen Arbeiten angehalten und mit Ritualen konfrontiert, bei denen sie der Mannschaft unmündig, nackt und schutzlos ausgeliefert sind. »Die Schiffbrüchigen sind wie Kinder«, erklärt Kruso Edgar bei einer »Unterweisung« (126). Kruso bringt ihnen Zuneigung und Fürsorge ebenso entgegen wie väterliche Erziehungsmaßnahmen und ein Betreuungsprogramm (125, 169f.). In den drei Tagen, die ihnen zum Umdenken gegeben werden, und in denen ihr Fluchtvorhaben psychologisch vereitelt werden soll, werden sie völlig entkleidet einer rituellen Ganzkörperwaschung in einem der großen Spülbecken durch eine Saisonkraft unterzogen. Außerdem bekommen sie die »ewige Suppe« vorgesetzt, die aus wahllos zusammengerührten und den ganzen Tag vor sich hinköchelnden Essensresten der Mittagsgäste besteht, sie werden mit Alkohol versorgt und für die 8 Nur einige Beispiele unter zahlreichen: »die Insel wie ein Totenschiff« (187); »die Insel nahm Kurs durch den Nebel seiner ungestillten, grenzenlosen Begierde« (186); »Mit Hilfe eines speziellen Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie, hielten sie ihre Arche über Wasser, Tag für Tag. Und retteten die schlingernde Insel.« (100); »Sie gehörten zu jener Besatzung, die ihr Schiff bis zum Letzten verteidigen würde, so viel war sicher« (99); »All hands on deck!« (88); »Matrosen, ich möchte euch Edgar Bendler vorstellen.« (84)
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nächtliche Unterkunft eingeteilt, was bedeuten kann, sich mit in das Bett eines SK zu legen (und alle Konsequenzen der körperlichen Nähe in Kauf zu nehmen), oder mit etwas weniger Glück in einem Geräteschuppen auf dem Boden unterzukommen. Im schlimmsten Fall müssen sie gar im Stehen zu zweit aneinander gelehnt schlafen.9 Eine Wahl hat – wie bereits mit Eds Protest und Krusos Zurechtweisung angeführt – weder der Gastschläfer noch der Bettbesitzer. Einmal auf Hiddensee angekommen und ohne legitime Einquartierung sind die »Gestrandeten« angewiesen auf Krusos Gastfreundschaft, weil es außerhalb dieser organisierten Hilfe keine andere gibt und das Übernachten im Freien zur Verhaftung durch Nachtpatrouillen führen würde. Damit werden sie zu unmündigen Objekten seiner Untergrund-Ideologie und automatisch auch zu potentiell unliebsamen Parasiten für die eingeweihten SKs. Dass diese dennoch dem Gebot der Gastfreundschaft folgen, liegt daran, dass die »Schiffbrüchigen« als abstrakte und durch Krusos Lehre idealisierte Personen unbedingt zu schützen sind, auch wenn die konkrete Gastperson dann in realiter eine Einschränkung der persönlichen Freiheit und nicht zuletzt den Verzicht auf ausreichend Schlaf bedeutet. Die Versorgung einer über den Sommer nicht abreißenden Kette von Bedürftigen ist als utopisches Projekt nämlich eine soziale Notwendigkeit und positiv bewertet, während die tatsächliche Realisierung parasitäre Zustände auf Dauer etabliert und gerade erst in der Reihung eine negative Wende erfährt.10
»Museum der Ertrunkenen« oder »Abteilung Verschwunden«11 Fluchtbewegungen nehmen mit dem Ableben des Fliehenden nicht unbedingt ihr Ende. In einigen Fällen fangen sie sogar nach dem Tod erst richtig an. Der argentinische Schriftsteller Tom#s Eloy Mart&nez zum Beispiel hat in seinem Roman Santa Evita (1995)12 die unglaubliche Odyssee von Evitas Leiche – und ihren Wachs-Doubles – literarisch aufgearbeitet, deren prekäre Aufenthalte in ungewöhnlichen Verstecken und Reisen inkognito quer über den Erdball nicht anders denn als passive Fluchten zu beschreiben sind. Von Mart&nez lernen wir, dass ein toter Körper genauso gut wie ein lebender mit falschen Papieren oder
9 Vgl. die detaillierte Auflistung aller Übernachtungsmöglichkeiten in Seiler, Kruso, S. 171–175. 10 Zum Konzept der »Gastfeindschaft« versus Gastfreundschaft und dem Gast als Parasit vgl. Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001; weiterführend Evi Fountoulakis / Boris Previsic (Hrsg.), Der Gast als Fremder : Narrative Alterität in der Literatur, Bielefeld 2011. 11 Seiler, Kruso, S. 441 und 462. 12 Tom#s Eloy Mart&nez, Santa Evita, Barcelona 1995.
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als blinder Passagier unterwegs sein, über Grenzen geschleust werden und viel Zeit im illegalen Untergrund verbringen kann. Auch Seiler interessiert sich in Kruso sowohl für den Verbleib als auch für den Status der leiblichen Überreste jener Ostseeflüchtlinge, die auf ihrem Weg übers Meer zwischen ostdeutscher und dänischer Küste gescheitert, sprich ertrunken sind. In einem vierzigseitigen Epilog (437–476), der die Überschrift »Abteilung Verschwunden« und den in Klammern gesetzten Zusatz »(Edgars Bericht)« trägt, berichtet ein Ich-Erzähler retrospektiv von einer im Laufe von zwanzig Jahren zweifach aufgenommenen Recherche nach den letzten Ruhestätten der in Dänemark angeschwemmten Ertrunkenen. Nach dem Hauptteil des Romans, in dem es mit dem Fokus auf die Hiddenseer Sommersaison 1989 – trotz der durch die Erzählung geisternden Vermissten13 – doch maßgeblich um (Über-)Leben und Lebendigkeit geht, widmet sich dieser letzte Teil nun einem forensischen Interesse an den anonymen Toten, dem physischen Verfall von Wasserleichen und der bürokratischen Verwaltung von Karteileichen im doppelten Sinne. Der Wechsel vom Er- auf den Ich-Erzähler geht dabei mit der Aufbereitung dokumentarischen Materials einher : Daten, Fakten, Orte und Namen, die nachweislich real sind.14 Edgar spricht in diesem Romanteil von einem dreifachen Verschwinden gescheiterter Ostseeflüchtlinge. Das erste Verschwinden ist kontextueller Natur und bezeichnet die Phase des Aufbruchs; der Fliehende verlässt sein Lebensumfeld ohne Spuren zu hinterlassen: Aus Rücksicht hat der Flüchtling niemandem Bescheid gegeben. Er hinterlegt auch nichts, keinen Abschiedsbrief, kein Zeichen, er lässt Ausweis und Portemonnaie zurück, alles um seine Nächsten zu schützen, das heißt, zu entlasten vom Vorwurf der Mitwisserschaft, der Fluchthilfe womöglich. Es geht darum, Mutter, Vater, Schwester und Bruder zu bewahren vor endlosen Verhören, Schikanen und Gefängnisstrafen. Zum ersten Verschwinden gehört, dass der Flüchtling die Wäschezeichen aus seinen Kleidern entfernt, Malimo, Modedruck etc., Indizien, die seine östliche Herkunft verraten könnten, falls ihn die Grauen Wölfe (die Grenzboote der Volksmarine) aufgreifen sollten, draußen auf dem Meer. Stunden später wird dieser Flüchtling vermisst, er ist ein Vermisster geworden. Nicht selten hat er seine Spur gekonnt verwischt – kein Verdacht, vielleicht bis auf den heutigen Tag (456).
13 Dabei handelt es sich hauptsächlich um Krusos seit seiner Kindheit vermisste Schwester Sonja, Eds bei einem Straßenbahnunfall tödlich verunglückte Freundin G. und die vor Eds Ankunft verschwundene männliche Spülküchensaisonkraft ›Speiche‹. 14 Eds Fund von 1993 in der Stadtbibliothek (Christine und Bodo Müller, Über die Ostsee in die Freiheit. Dramatische Fluchtgeschichten, Bielefeld 1992) ist zum Beispiel noch heute bestellbar, und die Adressen der erwähnten dänischen Institutionen wie das Gerichtsmedizinische Institut oder die dänische Reichspolizei kann man problemlos auf Stadtplänen finden.
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Das zweite Verschwinden ist physischer Natur und meint das Abtauchen von der sichtbaren Oberfläche hinein in die Meerestiefen, gefolgt vom Erstickungstod und dem Absinken des toten Körpers bis auf den Meeresgrund. Die Folgen der Abtragung und des Verfalls beschreibt Seiler detailliert (457f.). Beim dritten Verschwinden handelt es sich um ein memoriales. Die anonymen, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Wasserleichen werden dem »thanatokratischen Apparat« (449) der dänischen Verwaltung übergeben, welcher für Laien nicht nachvollziehbar oder gar zugänglich ist. Damit nimmt die im ersten Verschwinden vom Flüchtling selbst angestrebte Spurenvernichtung ihre Vollendung in der ewigen Nichtidentifizierbarkeit. Wie Ed während seiner eigenen langwierigen Suchaktion erfährt, führt keinerlei Spur zu dem Archiv, in dem die einzigen Beweisstücke und Aufzeichnungen in Form von textilen Fetzen, Haarproben, Fotos von Körperteilen und schriftlichen Vermerken zu Fundort und -zeit und Beschaffenheit der Leiche aufbewahrt werden. »Für sie gab es nichts als dieses Archiv, Abteilung Verschwunden. Das dritte Verschwinden.« (462) Selbst wenn man wusste oder […] in Kenntnis der Strömungen und Umstände mit großer Sicherheit annehmen konnte, dass die menschlichen Überreste am Strand oder in den Fischernetzen Flüchtlinge aus Ostdeutschland waren, hätte es nie ein gesondertes Verzeichnis gegeben, keine weitere Herkunftsangabe, keine Extrarubrik – die DDR hatte nie existiert in den Gliederungen dieses Archivs, seiner Verwahrbücher, Asservate und Totenlisten. Funddatum und Fundort auf dem Boden des Königreichs, so hießen die Anhaltspunkte, nach denen das Ganze geordnet war. Auf gewisse Weise tauchten sie also noch einmal ab, diese Toten, diesmal im Ozean des Anonymen, Vermissten, Unbekannten – Abteilung Verschwunden. (455f.)
Hat man, wie der Ich-Erzähler, endlich nach langer Suche diese »Un-Orte« – hermetisch verriegelte unterirdische Archive oder verstreute namenlose Massengräber – gefunden, so wird noch lange nicht jedem Zugriff gewährt, denn paradoxerweise wird dafür gerade das verlangt, dessen Fehlen Grundbedingung für den Status des Verschwundenseins ist: der offizielle Nachweis der Identität des Vermissten. Mit der Serie des dreifachen Verschwindens stellt Seiler den Verbleib einer Flüchtlingsleiche in eine Reihe mit dem Verbleib des lebenden Fliehenden und beweist mit dieser numerischen Kette, dass der Flüchtling mit dem Ableben nicht aufhört, Flüchtling zu sein, und dass die mit der Flucht angenommene Staatenlosigkeit auch nach dem Tod irreversibel ist, denn die Leichen werden weder zurück nach Hause gebracht noch auf einem Friedhof des Aufenthaltslandes dauerhaft verortet. Sie werden im Zwischenstatus der Konservierung weiter an Un-Orten aufbewahrt wie der Vermisstenabteilung im kriminaltechnischen Zentrum der dänischen Reichspolizei, die angeblich 24 Jahre lang keinen einzigen Besucher gesehen hat:
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und unfassbar blieb, dass sie dort liegen sollten, dort am Grund, in irgendeinem Keller, an den Fundamenten der Macht, auf denen dieses Gebäude errichtet worden war, dieses Raumschiff aus Beton, das alles Irdische verschlucken konnte, wenn es wollte, so viel war klar, auch die Toten, auch den Tod. (455)
Diese Toten bleiben namen- und zukunftslos, denn erst mit der personalen Zuordnung darf die Leiche sichtbar begraben und der Fall abgeschlossen werden.
Zwischen den Küsten Das vom Erzähler Ed 1993 in der Berliner Stadtbibliothek gefundene Buch Über die Ostsee in die Freiheit. Dramatische Fluchtgeschichten von Christine und Bodo Müller (Erstauflage 1992) wird im Epilog als dokumentarische Quelle für den Hinweis auf das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Kopenhagen genannt (438f.). Für Eds Suchaktion aufschlussreich ist ein Interview mit Erik Jensen, der ehemals Hafenmeister von Klintholm auf der Insel Mön war und drei Jahrzehnte lang immer wieder Zeuge etlicher angespülter Leichen sowie zertrümmerter Boote wurde. Daneben enthält das Buch im ersten Teil sachdienliche Informationen zur ›nassen Grenze‹ der DDR, zu den sowohl land- als auch seeseitigen Grenzsicherungsmaßnahmen an der ostdeutschen Küste, weiterhin zahlreiche Abbildungen von Gesetzesdokumenten, Protokollen von Militärsitzungen, geheimen Dienstkarten, einer Verschlussakte von 1969 (ausführlicher Bericht zur Sicherung der Seegrenze), Verhaltensmaßregeln für ostdeutsche Segler, Anträgen auf Segelgenehmigungen, Mannschaftslisten, unter Verschluss gehaltenen Listen über Grenzverletzungen, sowie ein weiteres Interview von 1991 mit dem ehemaligen Kommandeur der Grenzbrigade Küste und eine von den Autoren zusammengestellte Liste von 33 Personen, die die Flucht über die Ostsee nicht überlebten – mit dem Hinweis auf Kenntnis von insgesamt 189 Fluchtopfern bis zum Erscheinen des Buches und einer vermutlich weit höher liegenden Dunkelziffer, die »sich nie vollständig klären lassen« wird, denn »Das Meer kennt keine Zeugen«.15 Der zweite Teil des Buches befasst sich mit vierzehn Geschichten von Einzelschicksalen, unterlegt mit Foto-, Karten- und Aktenmaterial. Liest man diese vierzehn Berichte von Ostsee-Flüchtenden, so bescheren sie eine Erfahrung, die den Figuren Ed und Kruso versagt bleibt: Es ist das buchstäblich hautnahe Wissen um Details wie etwa die Fluchtvorbereitung, die Fluchtzeit und -dauer, die Geschehnisse während der Zeit im Wasser, der Ausgang der Flucht (gelungen / misslungen) und der weitere Verbleib (Ost- oder 15 Müller, Über die Ostsee, S. 59.
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Westdeutschland) – aber vor allem ist es die Zuordnung einer Geschichte zu einem bestimmten Namen, also die Identifizierbarkeit von Person und Fluchtverlauf. Ed und Kruso kennen zwar die Namen von potentiellen Flüchtenden – Sonja und ›Speiche‹ im Besonderen –, aber keine Geschichten dazu. Dass sie der Details nicht habhaft werden können, macht ihnen zu schaffen, und die offene Lücke zwischen vormals präsenter Person und nunmehr abwesendem Körper lässt sich durch keinen Akt der Fantasie, des Erzählens oder im Fall von Kruso sogar des Dichtens füllen. Erst Jahre später, wenn Ed im dänischen Archiv auf Speiches Überreste treffen wird, verbinden sich mitunter Fakten mit Namen. Im vorhergehenden Romanteil bleiben Namen geschichtslos, wohingegen dann im Epilog viele Geschichten von archivierten Überresten namenlos bleiben. Geschichten und Namen können nicht zueinander finden. Diese Tatsache zeigt sich im Bruch zwischen Roman und Epilog auf mehreren Ebenen: Es gibt eine temporale Differenz zwischen der Zeit direkt vor dem Mauerfall in der Hauptgeschichte des Romans, während der Epilog einen Zeitraum 24 Jahre später beschreibt. Neben dem Wechsel vom Er- zum Ich-Erzähler ändert sich auch die Gattung von einer fiktionalen Erzählung zu einem dokumentarischen Bericht. Die Trennlinie der beiden ungleichen Teile ist damit auch eine vektorielle Linie hin zum Buch von Christine und Bodo Müller. Denn der Verweis auf die Schicksalserzählungen, die punktuelle Nennung einzelner Fluchtstationen und Krisenmomente, veranschaulicht, dass der weitere Verlauf einer jeden Geschichte an jedem Punkt anders hätte ausgehen können. Es zeigt sich daran, wie arbiträr und unplanbar Fluchtverläufe sich gestalten, und dass »knapp entkommen« auch »fast ertrunken« und »das Ziel nicht erreicht« auch »fast geschafft« impliziert. Wie nah die katastrophalen und die heroischen Ausgänge beieinander liegen, wird durch diese intertextuelle Verknüpfung deutlich, die sich auf dem Scheidepunkt zwischen dem Hauptteil des Romans und dem Epilog befindet. Geht man dem Verweis auf Müllers Buch nach, findet man dort, was weder die fiktionale Geschichte um Kruso und Ed noch der nachträgliche Bericht von Eds Recherchen leisten kann, worum aber beide beständig kreisen: die möglichst wahrheits- und detailgetreue Beschreibung von tatsächlich erfolgter Flucht. Müllers Schicksalsgeschichten beschreiben das, was nur die Flüchtlinge selbst erzählen können: den prekären Zustand des Flüchtenden in allen Momenten seiner Flucht – deswegen zeichnet der Text auch Fluchtwege mit allen Stationen und den dazugehörigen genauen Zeitangaben nach. Da aber weder im Hauptteil des Romans noch im Epilog die Geflüchteten selbst zu Wort kommen, stehen anstatt der Erfahrungsberichte, die Müllers Projekt ausmachen, nur die beiden Berührungskanten der Lücke: die Hauptgeschichte schaut von der Küste des Verschwindens ins Nichts, der Epilog nimmt die Küste des Auftauchens in den Fokus; das Dazwischen bleibt dunkel und unerzählt. So wird das Meer zwischen den Rändern der DDR und dem nichtsozialistischen Ausland auch in
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narrativer Hinsicht zur »unsichtbaren Mauer«,16 indem es erzählerisch nicht überquert, nicht durchschritten, nicht einmal überblickt werden kann und die eine Seite von Seilers Roman unverbunden der anderen gegenübersteht, getrennt durch zwei weiße Seiten.
»Die Gestrandeten« Im Epilog erfährt Krusos Utopie der Gemeinschaft der »Gestrandeten« eine weitere negative Wendung. In dem bereits erwähnten Interview mit Hafenmeister Erik Jensen, das Ed zu seiner ersten Suche nach Sonjas Überresten in Dänemark veranlasst, wird von denjenigen Menschen berichtet, deren Flucht aus Ostdeutschland auf der Insel Møn endete. Obwohl Jensen auch von einigen überlebenden Flüchtlingen spricht, die aber in seinem Berufsalltag die absolute Ausnahme darstellten – wie etwa der erschöpfte Surfer Karsten, der 1986 am Strand angeschwemmt wurde und dem auch ein Kapitel der Schicksalsberichte gewidmet ist – handelt es sich bei der Bezeichnung »Gestrandete« doch eindeutig um Tote: Das ist nicht schön zu erzählen. Wenn unsere Fischer zwischen Mön und Rügen das Schleppnetz hochholten, lagen manchmal Leichen zwischen den Fischen. Ich kann mich an zwölf Tote erinnern. […] Wir wußten nicht, woher sie kamen. Ostdeutschland hat uns keine Vermißtenmeldungen geschickt. Aber es wurden nirgendwo so viele Leichen aufgefischt wie zwischen Rügen und Mön.17
Wenn Kruso von »Gestrandeten« spricht, meint er jedoch durchgängig die Lebenden, die auf Hiddensee »angeschwemmt« und dort aufgenommen wurden, um nicht zu fliehen, um nicht zu ertrinken. Krusos Gestrandete waren das Treibgut einer zwar maroden, aber nicht hoffnungslosen Gesellschaft; er wollte sie von innen wie von außen ›säubern‹ mit Lehrstunden und Waschungen, um sie gestärkt wieder auf ihren Posten zu schicken. Krusos Gestrandete sind momentane Aussteiger, Kurzzeitfliehende, während die Gestrandeten in Müllers Buch die endgültigsten und dauerhaftesten Flüchtlinge sind. Flüchtig – und damit kehrt der Fokus von den Fliehenden zurück auf die Zurückgelassenen – bleiben sie vor allem in den Erinnerungen jener, die nichts von ihrem Verbleib wissen. In Träumen suchen sie diese heim, und kaum aufgetaucht, entziehen sie sich jeder Fügung eines klaren Bildes. Noch im Traum kämpft Ed mit der Last, Namen, Spuren und menschliche Überreste nicht zusammenfügen zu können zu Personen und ihren Geschichten: 16 Ebd., S. 7. 17 Ebd. S. 226.
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Monate später, bevor ich diesen Bericht zu schreiben begann, sah ich die Toten im Traum. Sie standen am Weg, in ihrer unvollständigen, kaum definierbaren Gestalt […] und fragten nach ihrem Namen. Heiße ich Schiffsschraube? Heiße ich Gummipuppe? Oder heiße ich Walter? Oder Monika? Im Traum war es so, als müsse die Antwort jetzt gefunden werden, als verbliebe nur noch sehr wenig Zeit und als wäre das die letzte Gelegenheit, bevor sie wieder zurücktreten würden von diesem Weg, fraglos, spurlos und wie nie gewesen. (471f.)
Die die Flüchtlinge bei Seiler kennzeichnende Unmöglichkeit der Be-Schreibbarkeit, sowohl im realistisch-dokumentarischen als auch im poetisch-literarischen Sinn, kulminiert zwar im Epilog, bahnt sich jedoch schon von Anfang an Spuren durch Eds und Krusos Geschichte. Die verunglückte Freundin G., von der wir nie den Namen erfahren; ›Speiche‹, von dem nur vereinzelte Gebrauchsgegenstände im Zimmer, das Ed nach ihm bewohnt, zurückgeblieben sind, und ebenso Krusos Schwester Sonja, von der ein einziges vergilbtes Foto mehr verschweigt als aussagt: sie alle entziehen sich der Erzählbarkeit. Gerade weil aber das Erzählen von ihnen nicht zu einem Abschluss kommen kann, bleiben sie als Leerstelle geisterhaft präsent. Sie sind diejenigen, die auffällig fehlen: im Text, in den Dialogen der Protagonisten, in den Verzeichnissen der Archive, auf Grabsteinen, in ihrem Land. Damit ist Seilers Kruso sehr wohl ein Roman über Flüchtlinge, obwohl er von den Bleibenden, bzw. von den Geflohenen lediglich als Tote erzählt. Denn jenseits des konkreten Hiddensee-Narrativs der Ereignisse um 1989 verhandelt der Text Fragen der persönlichen wie auch der staatlich-politischen Aufarbeitung von Fluchtbewegungen und ihren (verschollenen) Relikten. Seiler beginnt, über das Thema Flucht genau dort zu erzählen, wo diejenigen, die die Flucht angetreten sind, nicht mehr berichten können. Die nicht erzählbare Leerstelle aber, die sich zwischen der verlassenen und der bergenden Küste befindet, wird nicht gefüllt. Auch in der schriftlichen Aufarbeitung bleiben die Fliehenden – anders als in den dokumentarischen Geschichten von Christine und Bodo Müller – auf dem Wasser allein: sie haben keine Zeugen und keine medialen Begleiter. Deswegen ist es narratologisch nur konsequent, die Spuren ihrer Flucht erzählerisch da abbrechen zu lassen, wo sie den festen Boden verlassen und dort wieder aufzunehmen, wo ihre Körper, in welchem Zustand auch immer, an Land gehen. Vielleicht kann man in Anbetracht unmöglichen literarischen Nachvollzugs von Flucht, der immer nur inadäquaten literarischen Nacherzählung nicht respektvoller, und gewissermaßen auch nicht mimetischer vorgehen.
David Österle
»…die Sprache zum Sprechen zu bringen«. Sprachkritik in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen
Am Horizont taucht ein Widerstand gegen uns auf. Wir verstecken uns in Kirchen, in Klöstern, aber wir sollen nicht bleiben, sonst wäre es ja kein Versteck. Diese Kirche ist ein offenes Versteck, das Fernsehn war schon da, es holt alles ans Licht, das es sich selbst mitbringt. Da liegt einer, dort drüben auch, erfüllt vom Namen des ewigen Verhängnisses, fremd zu sein. Er soll nicht der einzige bleiben, der noch nicht tot ist, der übriggeblieben ist, aber der soll auch nicht bleiben dürfen, sagt der Widerstand, dessen Scheinwerfer uns blenden, der soll das bleiben lassen.1
So heißt es in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, dem im Juni 2013 auf ihrer Website erstmals veröffentlichten Dramentext, der vor dem Hintergrund zunehmend restriktiver europäischer Asylpolitik, prekärer medialer Mobilmachung gegen Schutzsuchende und Banalisierung von Menschenrechtsverletzungen für viele als »das aktuelle Flüchtlingsstück schlechthin« gilt.2 Es sind, wie so oft bei Jelinek, tagespolitische Geschehnisse, nämlich die in der zitierten Textstelle bereits angedeuteten Ereignisse in und um die Wiener Votivkirche Ende 2012/Anfang 2013, die den Schreibanlass für den Theatertext bilden: Etwa dreißig Asylwerbende hatten im November 2012 im Anschluss an einen mehrstündigen Marsch von dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen im Sigmund Freud Park, unterstützt von AktivistInnen und Hilfsorganisationen, ein Protestlager errichtet, um gegen die menschenunwürdigen Bedingungen ihrer Unterbringung zu demonstrieren. Bereits Tage bevor das Zeltlager Ende Dezember von der Polizei geräumt worden war, hatten einige der Asylsuchenden den Schutz der benachbarten Votivkirche gesucht. Es folgten Hungerstreiks, Anfang März wurden die meisten von ihnen in das nahe gelegene Servitenkloster
1 Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen, http://www.elfriedejelinek.com/ (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Theater und Aktuelles 2013) datiert mit 14. 6. 2013 / 8. 11. 2013 / 14. 11. 2014 / 29. 9. 2015, im Folgenden mit »Jelinek 2015« zitiert. 2 Christine Dössel, »Angekommen. Die Flüchtlingskrise beherrscht die Theaterlandschaft. Wie viel daran ist Kunst – und wo beginnt die Sozialarbeit?«, in Süddeutsche Zeitung, Nr. 241 (20. 10. 2015), S. 11.
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übersiedelt, und acht der AsylwerberInnen wurden bereits im Juli nach Pakistan abgeschoben.3 Nach dem verheerenden Bootsunglück vor der Küste von Lampedusa, bei dem im Oktober 2013 rund 300 Flüchtlinge vor allem aus Somalia und Eritrea ums Leben kamen, nimmt Jelinek die Arbeit am Text nochmals auf, erweitert ihn um Schicksal und Erfahrungen afrikanischer Boatpeople, und stellt den Dramentext im November 2013 erneut online.4 Es sind die in der medialen Öffentlichkeit geführten Kontroversen rund um die tragischen Ereignisse im Mittelmeerraum und in der Votivkirche, die den wesentlichen inhaltlichen Referenzrahmen des Theatertexts bilden. Hinter dem zumeist im Plural auftretenden Sprecher-Subjekt lässt sich in Jelineks postdramatischem Textgeflecht, das weder Rolleneinteilung noch Regieanweisung besitzt, eine Gruppe von Flüchtlingen identifizieren. Diese berichten auf der Bühne, welche im Gegensatz zum klassischen Dramenmodell nicht mehr als Handlungsraum fungiert, zumeist im Chor von ihrem Schicksal in den Herkunfts- und Aufnahmeländern. In ihr Sprechen mischen sich dabei immer wieder auch flüchtlingskritische Stimmen, die jenen in der medialen Öffentlichkeit präsenten »Widerstand« gegen »die Fremden«, von dem auch im eingangs zitierten Textstück die Rede ist, jene xenophobe Kommunikationsgemeinschaft des »Staatsbürgerschafts-Wir« hörbar werden lassen. Nur nebenbei sei hier angemerkt, dass der Kommunikationsraum, der sich damit in dem dialoglosen Dramentext auftut, auf produktions- und formalästhetischer Ebene mit Jelineks intertextuellem Kommunikationsraum korreliert, dem dichten Gewebe aus nur teilweise identifizierbaren Stimmen und Prätexten, die am Ende des Textes zumindest partiell ausgewiesenen sind: etwa Aischylos, Ovid und Heidegger. Die flüchtlingskritischen Sprechweisen, die Jelinek in ihrem Text einfängt, lassen sich, wie hier gezeigt werden soll, als Ergebnis eines Aushandlungskonfliktes um nationale Raumaneignungen verstehen. Der Theatertext zeigt, wie nationalstaatliche Ordnungspraktiken, zum einen territoriale Grenzsicherun3 Vgl. Bärbel Lücke, »Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück ›Die Schutzbefohlenen‹«, in Textem, http://www.textem.de/index. php?id=2519#_ftn1 (zuletzt abgerufen am 7. 6. 2016). 4 Eine dritte Fassung, die auch die Schließung von »Mare Nostrum« zugunsten des Überwachungsprogramms »Triton« zum Thema macht, folgte am 14. 11. 2014; am 29. 09. 2015 wird der Text in der jetzt bestehenden Fassung online gestellt. Mare Nostrum war eine von der italienischen Marine und Küstenwache im Oktober 2013 eingeführte Seenotrettungsoperation, die am 1. November 2014 offiziell von dem Programm »Triton« der EU-Grenzschutzorganisation Frontex, das die Sicherung der EUAußengrenzen als primäres Ziel sieht, abgelöst wurde. Vgl. Silke Felber / Teresa Kovacs, »Schwarm und Schwelle: Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen«, in Transit, Jg. 10. (2015), Nr. 1, http://transit.berke ley.edu/2015/felber_kovacs/ (zuletzt abgerufen am 3. 6. 2016), S. 1.
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gen – die Sicherung der »Rechtsgrundstücksgrenze«, wie es bei Jelinek heißt – und zum anderen systematische soziale und politische Begrenzungen innerhalb des Nationalstaates, etwa die Aberkennung des Anspruchs auf soziale, politische und gesellschaftliche Teilhabe für all jene, die sich bereits im Land befinden, ein spezifisches flüchtlingskritisches Sprechen begründen. Fremdenfeindliche Sprechweisen lassen sich also gerade dort ausmachen, wo sich der ein- und ausgrenzende territoriale und politisch-soziale Raum der Nation auch in der Sprache bemerkbar macht. Diese in Jelineks Stück portraitierte Sprache soll hier diskursanalytisch in den Blick genommen werden: eine Sprache, die räumlichnationale Zugehörigkeit in Form spezifischer Körper- und Raummetaphern reflektiert und somit Vorstellungen von nationaler Verwandtschaft und Abgeschlossenheit aufruft – eine Sprache, die Fluchtsuchende mithilfe einer Bedrohungsmetaphorik als das räumlich-invasive »Fremde« auszeichnet. Mit ironischem Seitenblick auf die Schnellverfahren bei der Ausstellung von Staatbürgerschaften für prominente, einflussreiche und finanzkräftige Personen in Österreich thematisiert Jelinek in Die Schutzbefohlenen wesentlich die Frage nach rechtlicher, politischer und sozialer Inklusion und Exklusion. Ein dritter tagespolitischer Bezugspunkt des Textes eröffnet sich mit der literarischen Verhandlung der »Blitzeinbürgerungen«, wie es das österreichische Nachrichtenmagazin »News« benannte. Die Einbürgerung der Opernsängerin Anna Netrebko und – auf Vermittlung des Industriemagnaten, Multimillionärs und Parteigründers Frank Stronach hin – der Tochter Boris Jelzins, Tatjana Borissowna Jumaschewa,5 offenbaren die Doppelmoral der österreichischen Staatsbürgerschaftspolitik und die kapitalistischen Mechanismen hinter staatlichen und politischen Praktiken: »[D]ie Töchter müssen nichts vorweisen« (Jelinek 2015), heißt es in doppelter Anspielung – zum einen auf die fünfzig Töchter des Danaos in Aischylos Danaidendrama Die Schutzflehenden, die aufgrund der bevorstehenden Verehelichung mit den Söhnen des Aigyptos, ihren eigenen Vettern, aus Ägypten fliehen und bei König Pelasgos um Schutz und Bleiberecht bitten, zum anderen auf die per Schnellverfahren eingebürgerten Russinnen: »Sie ist eingebürgert, sie ist durch Zahlung eingebürgert, die andre durch Singung, die erste durch Zahlung und Tilgung einer gewissen Summe, die andre durch Zahlung mit Sitz und Stimme. […] sie darf bleiben, mit Paß und mit Stempel« (Jelinek 2015). 5 Wie das Magazin News berichtet, wurden auch deren Mann Valentin Jumaschew, einst Leiter der russischen Präsidentschaftskanzlei, und die gemeinsame Tochter eingebürgert. 2009 hatte Magna gemeinsam mit der russischen Sberbank (die auch in Die Schutzbefohlenen genannt ist) die Opelwerke in Bochum zu retten versucht; letztlich war das Geschäft aber vom Mutterkonzern General Motors verhindert worden. Vgl. Kurt Kuch, »Blitz-Einbürgerung. Tatjana Yumaschewa bekam Staatsbürgerschaft nach massiver Intervention von Magna«, in News (25. 4. 2013).
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»hard on the outside, soft on the inside« Das in Jelineks Text thematisierte Schutz- und Bleiberecht der Flüchtlinge in Österreich ist im Kontext der »Blitz-Einbürgerungen« eng an die Frage gekoppelt, wem Anspruch auf Bürgerschaft innerhalb der nationalstaatlichen Gesellschaft zusteht, wer das Recht auf soziale, politische und gesellschaftliche Mitgliedschaft innerhalb einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft beanspruchen darf. In diesem Zusammenhang scheinen die Überlegungen zu nationalstaatlichen Integrations- und Ausschlusspraktiken der amerikanischen Rechtstheoretikerin Linda Bosniak aufschlussreich. Bosniak untersucht in The Citizen and the Alien gesellschaftspolitische und verfassungsrechtliche Kontroversen um staatliche und gesellschaftliche Inklusion und Exklusion von Nicht-StaatsbürgerInnen in liberal-demokratischen Gesellschaften.6 Als einen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen benennt sie den prekären Umstand, dass, obwohl sich vor allem auch in Europa viele Staaten mit traditionell hoher Emigrationsquote zu »net importers of people« entwickelt hätten (»thereby joining the rank of the traditional countries of immigration«7), diese sich immer noch vorrangig über den Kreis bestehender Mitglieder, über bestimmte Formen der Be- und Abgrenzung konstituierten und definierten: In normative terms, boundary-focused citizenship is understood to denote not only community belonging but also community exclusivity and closure. The status of citizenship in any given state is rationed, and the limitations on its availability mark the limitations on belonging.8
Bosniak beschreibt in The Citizen and the Alien das traditionelle nationalstaatlich-geprägte Verständnis von Citizenship als »hard on the outside, soft on the inside, with hard edges and soft interior«,9 das auf energischer Sicherung und Kontrolle staatlicher Außengrenzen aufbaue. Auf der Basis eines demokratischen Rechtssystems sollen im Inneren indes weitgehende soziale Freiheiten gewährleistet sein. Mitglied der Gesellschaft ist, wer sich im territorialen Inneren befindet. Gerade im Kontext von Flucht und Migration jedoch deckten sich die geographischen (äußeren) Grenzen nicht mehr mit den Grenzen des (inneren) Sozialraums, weil der Status von Bürgerschaft (d. h. politischer, sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe) nicht mehr nur an die territoriale Ansäs6 In Kapitel 3 und 4 widmet sich Bosniak dabei der verfassungsrechtlichen Diskussion von Immigration und Citizenship im Kontext des Rechtssystems der USA. 7 Linda Bosniak, The Citizen and the Alien. Dilemmas of Contemporary Membership, Princeton 2006, S. 8. 8 Ebd., S. 2. 9 Ebd., S. 4.
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sigkeit gekoppelt sei. Für MigrantInnen und Flüchtlinge bedingt dies häufig den hybriden Status nationalterritorialer Anwesenheit bei politisch-sozialer Abwesenheit, d. h. eine Art gesellschaftlicher Obdachlosigkeit.10 Nur nebenbei sei hier darauf verwiesen, dass die Konzeption des Nationalstaats »as a hard shelled container« von GesellschaftstheoretikerInnen nur selten problematisiert, ganz im Gegenteil viel häufiger implizit gefestigt wurde, indem diese die »national society as the total universe of analytical and moral concern« in den Blick genommen hätten.11 Bosniak nennt exemplarisch John Rawls A Theory of Justice von 1971, in dem etwa Prinzipien »for the basic structure of society conceived for the time being as a closed system isolated from other societies«12 festgelegt worden seien. Rawls ginge fälschlicherweise also von der Prämisse aus, dass (national-)staatliche Grenzen undurchlässig und unüberwindbar seien, so Bosniaks Kritik.13 Gerade in der restriktiven europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Renationalisierungstendenzen mehrerer EU-Mitgliedstaaten offenlegen, werden politisch-strategische Praktiken sichtbar, die strukturell auf jenes nationale »hard on the outside, soft on the inside«-Denken aufbauen. Die Wiedereinführung grenzpolizeilicher Kontrollen und Installierung von Grenzzäunen zur staatlichen Sicherung nach Außen, sowie nach Innen die Etablierung eines ›moralischen Nationalismus‹, einer exklusiven Solidarität mit der »einheimischen« Bevölkerung, führen dies anschaulich vor. Die christliche Nächstenliebe etwa wird von rechtskonservativen Kreisen häufig auf das territoriale und lokale
10 Ebd., S. 35. Michael Walzer, ein ideologischer Befürworter des »hard on the outside, soft on the inside«-Denkens erklärt, dass die Sicherung ihrer Außengrenzen zum Schutz der kulturellen Identität, das Recht und die Pflicht der Nationalstaaten sei. Aber : »once people enter a country, they must be on the track to citizenship otherwise they will be subject to tyranny and abuse.« Vgl. Chhunny Chhean Chia-Chi Li, »In Brief: Linda Bosniak’s The Citizen and the Alien«, in Asian American Law Journal, Jg. 14 (2007), Nr. 243, S. 243–247, hier S. 245. 11 Bosniak, The Citizen and the Alien, S. 208. 12 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 1971, S. 8. Obwohl Rawls seine Gerechtigkeitstheorie unter der Prämisse der Geschlossenheit von Gesellschaften entwirft und somit Immigrationsfragen komplett beiseite lässt, macht er in The Law of People klar, dass diese thematisiert werden müssen: »Every society must have a conception of how it is related to other societies and of how it is to conduct itself towards them. It lives with them in the same world and except for the very special case of isolation of a society from all the rest – long in the past now – it must formulate certain ideals and principles for guiding its policies towards other peoples.« John Rawls, The Law of People, Cambridge 1999, S. 38. 13 Auf den Umstand, dass die Vorstellung von »Gesellschaft« häufig unmittelbar und unreflektiert an die Konzeption vom Nationalstaat gekoppelt sei, macht auch Craig Calhoun aufmerksam: »Our very ideas about what ›a society‹ is are shaped by understandings developed under the influence of nationalism and European state-making. Not least of all, we make national identities seem natural, or at least primordial, by building them into our very sense of history.« Craig Calhoun, Critical Social Theory, Malden / Oxford 1995, S. 233.
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Nächste (»Inländer-Liebe«) verengt, und restriktive Asyl- und Grenzpolitik damit zum Schutz der »eigenen« Gesellschaft legitimiert.14 Die politisch-gesellschaftliche Abwesenheit der Flüchtlinge bei gleichzeitiger geographisch-territorialer Anwesenheit, ihrer »Exterritorialität«, wie sie Bosniak als Folge des staatlichen Behälterdenkens problematisiert, durchzieht auch die Reden des Jelinek’schen Flüchtlingschores: »Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da«, resümieren die Flüchtlinge im letzten Satz resignierend. »Wir haben uns viel zu tief eingewühlt in Ihren Mutterboden«, und doch: »wir sind und werden keine Bürger« (Jelinek 2015). Mit ironisch-kritischem Seitenblick auf die »Blitzeinbürgerungen« wirft Jelinek die Frage auf, für wen das »privilege of presence«15 gilt, das Sonderrecht, das Territorium als Raum politischer Interaktion und Partizipation in Anspruch nehmen zu dürfen: Vom »Mitreden, Mitmachen, Mitgestalten, Mitentscheiden und Mitverantworten« (Jelinek 2015), das leitmotivisch Jelineks Textcollage durchzieht, sind die Fluchtsuchenden ausgeschlossen. Das Land ist du, nein, das denn doch nicht, das Land erlaubt, deine Vorstellungen jederzeit einzubringen, aber das erlaubt es nur dir, nicht nur dir, aber auch dir, vor allem dir, uns erlaubt es gar nichts, wir sind nichts, und uns wird nichts erlaubt, obwohl wir gern mitmachen würden, ist besser als zuschauen, nicht wahr, damit das Recht auch von uns ausgeht, damit das Recht auch vom Volk ausgeht, das dann auch wir sein werden, aber das Recht geht nicht, und wenn es ausgeht, dann macht es sich fein, dann brezelt es sich auf, aber wir dürfen nicht mit, man läßt uns nicht mal ins Lokal hinein, das ist nicht gerecht, obwohl das Recht auch von uns ausginge, zumindest ausgehen könnte. (Jelinek 2015)
Mit dem persiflierenden Rückgriff auf die 2013 vom Staatssekretariat für Integration herausgegebenen Broschüre Zusammenleben in Österreich. Werte, die uns verbinden,16 ein leitkulturell-ausgelegter österreichischer Wertekodex für MigrantInnen in handlicher Form, sucht Jelinek die Widersprüche von Theorie und Praxis politischen Handelns offenzulegen. Die Werte-Fibel, die auf der Grundlage der Bundesverfassung und der ihr eingeschriebenen »6 Prinzipien« 14 In diesem Zusammenhang sei zum einen auf Wahl-Plakate der rechtspopulistischen FPÖ aus dem Jahr 2013 verwiesen, in dem das religiöse Grundgebot »LIEBE deine NÄCHSTEN.« als Kampfbegriff gegen MigrantInnen und Flüchtlinge verwendet wurde: »Für mich sind das unsere ÖSTERREICHER«, heißt es auf dem Plakat. Auch die Äußerung von ÖVP-Politiker Andreas Khol während des Wahlkampfs um das Amt des Bundespräsidenten 2016 schlägt in dieselbe Kerbe: »Ich bin ein Freund der Nächstenliebe. Die Nächstenliebe kann aber nicht nur eine Fernstenliebe sein. Charity begins at home – wir müssen zuerst auf unsere Leut’ schauen.« Vgl. Hans Rauscher, »Nächstenliebe«, in Der Standard (15. 01. 2016.), S. 1. 15 Bosniak, The Citizen and the Alien, S. 139. 16 Vgl. Zusammenleben in Österreich, hrsg. vom Staatssekretariat für Integration, http://www. staatsbuergerschaft.gv.at/fileadmin/user_upload/Broschuere/RWR-Fibel.pdf (zuletzt abgerufen am 7. 6. 2016).
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(Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Republik, Föderalismus, Gewaltenteilung) »18 Werte« listet, ist auf der Basis des Konzepts Nationalstaat, nationaler Zugehörigkeit und nationaler Wertegemeinschaft verfasst. Sie reflektiert die Vorstellung von Nation als Gemeinschaft, die wesentlich auf der gesellschaftlichen Konstruktion politischer Wirklichkeit gründet, wie sie etwa auch Benedict Anderson in Imagined Communities zu beschreiben suchte.17 Indem Jelinek den Chor der Flüchtlinge ironisch auf Artikel der Österreichischen Bundesverfassung Bezug nehmen lässt, etwa auf Artikel 1, »[das Recht der demokratischen Republik Österreichs] geht vom Volk aus« – oder, wie es über-simplifiziert in der Broschüre heißt, »Österreich – das sind wir alle« –, sollen diese als Phrasen und leere Floskel entlarvt werden. Satz-Einsprengsel, die den Verweis auf die Broschüre markieren, wie: »hier steht’s« oder : »lesen auch Sie es nach« (Jelinek 2015) deuten auf die Verwunderung des Flüchtlingschores darüber hin, dass die Broschüre mit ihren Werten und Prinzipien zwar innere Inklusion, also auch die Inklusion der Flüchtlinge vermittelt, indes mit ihren staatlich-politischen Praktiken die Schutzsuchenden in Form innerer Grenzziehungen vom Sozialraum exkludiert: »The border«, wie erneut mit Bosniak der Zustand ihrer Exterritorialität beschrieben werden kann, »effectively follows them inside«.18 Die inneren Grenzen des Staates zeigen sich exemplarisch in dem den Flüchtlingen verwehrten Zugang zum Arbeitsmarkt. Mit Bezug auf die Broschüre heißt es im Text: Die Flüchtlinge werden »dann die Regeln für den Wettkampf des Schwimmens beachten, dann andre Regeln beachten, dann die Vorfahrt beachten, das können wir auch, das können wir, das ist nicht gefährlich, wir wollen das alles, wir wollen es wirklich, wir wollen Arbeit, Schule, Freizeit mit Leben füllen.« (Jelinek 2015) Jelinek übt hier nicht allein Kritik an der makabren Verbildlichung von Konkurrenzgeist und Fairness durch zwei Frauen, eine weiße und eine schwarze, die sich im Anschluss an einem Schwimmwettkampf die Hände reichen – ein Szenario, das Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen im Meer weckt. Vielmehr zielt Jelineks Kritik auch auf die in der Broschüre geschaffene Illusion eines chancengleichen Wettkampfs, die im krassen Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität steht, der politisch-forcierten Chancenungleichheit der Flüchtlinge im Zusammenhang restriktiver Arbeitsmarktreglementierungen. Dass die Rechte des Menschen, die Menschenrechte von Beginn an stets an die Vorstellung von Staatsbürgerschaft geknüpft gewesen seien, kritisiert auch Giorgio Agamben im Anschluss an Hannah Arendts The Origins of Totalitari-
17 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, 1983. 18 Bosniak, The Citizen and the Alien, S. 4.
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anism.19 »Die Trennung zwischen Humanitärem und Politischem, die wir heute erleben, ist die extreme Phase der Entfernung zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten«,20 heißt es in seiner Schrift Homo Sacer. Das politische Leben (bios), das Agamben in der Staatsbürgerschaft verwirklicht sieht, wäre im Rückgriff auf die griechische Antike zwar vom nackten Leben (zoe), der Geburt und Abstammung, zu unterscheiden, im Sinne eines nativistischen Nationalismus seien Nation und Nativität jedoch deckungsgleich: »Wenn Flüchtlinge (deren Zahl in unserem Jahrhundert nie aufgehört hat zu wachsen, bis sie schließlich einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Menschheit ausmachten) in der Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen«.21 Im Kontext von Fluchtmigration zeigen sich staatliche Praktiken, so Agamben, als »der erbitterte und methodisch durchgeführte Versuch, die Spaltung, die das Volk entzweit, dadurch zu schließen, dass das Volk der Ausgeschlossenen radikal eliminiert wird«. Hier klingt auch Zygmunt Baumans Analyse der Moderne an.22 Wie er im Zusammenhang des Holocausts veranschaulicht, würde die Moderne in ihrem Bestreben, eine absolute Ordnung zu etablieren, das Ambivalente, all das, was sich der Eindeutigkeit entzieht, auszuschließen und zu vernichten suchen. Die Ausgrenzungspraktiken einer sich über nationale Zugehörigkeit definierenden Gesellschaft würden, wie Jelinek in ihrem Essay An uns selbst haben wir nichts von 1993 formuliert, vor dem Äußersten nicht zurückschrecken: »Die Ausgegrenzten, denen ihr Bezug zu unserer staatsbürgerlichen Gemeinschaft versagt ist, sie sind Fleisch geworden, wie zum Abschuß, zur Ermordung freigegeben, da sie nicht Bürger sein dürfen«.23 »[W]eg, bloß weg!« sollen die Flüchtlinge folglich auch in Die Schutzbefohlenen, wie es die 19 Silke Felber analysiert in ihrem aufschlussreichen Beitrag die Verortung von Randgruppen und Topologien der Zugehörigkeit in Die Schutzbefohlenen mit Bezug auf Agambens Auseinandersetzung mit Nation, nationaler Zugehörigkeit und Volk in seinen Schriften Homo Sacer, Jenseits der Menschenrechte und Was ist das Volk? Vgl. Silke Felber, »Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks ›Die Schutzbefohlenen‹«, in Jelineks Räume, hrsg. von Monika Szczepaniak, Wien 2016 (in Vorbereitung). 20 Giogio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt (2002), S. 142. 21 Giogio Agamben, Homo sacer, S. 140. »Der Flüchtling muß als das angesehen werden, was er ist, nämlich nicht weniger als ein Grenzbegriff, der die fundamentalen Kategorien des Nationalstaates, vom Nexus Nativität-Nationalität zu demjenigen von Mensch-Bürger in eine radikale Krise stürzt«. (S. 143) 22 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992, hier vor allem S. 73–98. 23 Elfriede Jelinek, »An uns selbst haben wir nichts«, in Fremdes Wien, hrsg. von Lisl Ponger, Klagenfurt 1993, S. 11.
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Gesellschaft der Einheimischen – im diskursiven Hallraum der Rede des Flüchtlingschores – einfordert; denn »nur so wird aus einer Gesellschaft, in der die Rechte der Menschen gerächt, zusammengerecht, auf einen Haufen geschmissen und mit dem Bulldozer zusammengefahren, ich meine: wo die Rechte geachtet werden, erst eine! Wie? Erst eine Gesellschaft natürlich, die muß ja erst eine werden.«24 (Jelinek 2015)
Nationalterritoriale Denk- und Sprachbilder Dass die Flüchtlinge (sozial) sprachlos bleiben, obwohl es der Chor ist, der vordergründig das Wort führt, dass sie als Akteure abwesend sind, obwohl sie auf der Bühne anwesend sind, ist das Paradox, das wesentlich die Struktur des dramenästhetischen Modells des Stücks bestimmt.25 Die Figuren auf der Bühne sind keine Handelnden, sie treten als Referenten von Geschehnissen auf, die sich außerhalb der Theaterbühne zugetragen haben. Die Diskrepanz zwischen medialer Inklusion und Exklusion erst führt die eigentliche Abwesenheit der Anwesenden vor Augen, die mit jener in ihren Reden verhandelten korreliert. Im Zusammenhang der spezifischen Theatralität des Stücks steht auch der dramenästhetisch realisierte Gegensatz von sprachlicher Anwesenheit der Flüchtlinge (als Sprecher) auf der Bühne und ihrem im Stück thematisierten Ausschluss aus der Kommunikationsgemeinschaft aufgrund von Verständnisschwierigkeiten in fremder Sprachumgebung.26 Mit den Berichten der Flüchtlinge von ihrer aktuellen Situation, den traumatischen Erlebnissen in ihren Heimatländern und während der Flucht hat sich 24 An mehreren Stellen im Stück werden die sich als Lösungsvorschlag tarnenden mörderischen Phantasien der fremdenfeindlichen Gesellschaft offenbar: »Nicht mehr wer, wohin, warum, wieviel, sondern rasche Löslichkeit im Meer, das löst alle Probleme für alle« (Jelinek 2015). Gerade in der Umgebung der gleichklingenden »(End-) Lösung« und »Auslöschung« entfaltet »Löslichkeit« hier seine Brutalität. Vgl. Felber / Kovacs, »Schwarm und Schwelle«, S. 8. Bereits in ihrem Roman Die Kinder der Toten geht Jelinek mit der verbreiteten Vorstellung von Zugehörigkeit auf der Basis von Abstammung und Nativität scharf ins Gericht: »Wenn die Wurzel heilig ist, warum sinds nicht auch die Zweige? Oder die Arme, mit denen ein Volk vor Freude tobt, daß es, wie ein Baum, über die anderen Völker drübergewachsen ist?« Elfriede Jelinek, Die Kinder der Toten, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 171. 25 Eine genaue Bestimmung des Chores im Zusammenhang seiner Tradition in der griechischen Tragödie nimmt Silke Felber vor, vgl. Felber »Verortungen«. 26 Die im Stück thematisierten Kommunikations- und Verständnisschwierigkeiten der Schutzsuchenden stehen im konkreten Bezug zu den im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen untergebrachten Flüchtlingen und ihrer Forderung nach dem Austausch sämtlicher Dolmetscher. Vgl. »Chronologie: 76 Tage in der Votivkirche«, in Die Presse, 4. 3. 2015, http:// diepresse.com/home/panorama/oesterreich/1351596/print.do (zuletzt abgerufen am 7. 6. 2016).
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im Stück so auch der Boten- und Zeugenbericht entsprechend dem dramenästhetischen Modell der antiken griechischen Tragödie erhalten.27 Sie sind von der Wahrnehmung räumlicher Exklusion, vom Narrativ der lebensbedrohlichen Raumverengung und von prekären topologischen Körpereinschreibungen durchzogen: »wir sind Gezeichnete, im Staub Gezeichnete, von Meerwasser und Treibstoff Verklebte, Zusammengeklebte, von der Enge, von zu viel Nähe Zusammengeschweißte«, heißt es im Stück.28 Ihre »Raumlosigkeit« ist unmittelbar an ihre (soziale) Sprachlosigkeit im Kontext ihres Asylverfahrens geknüpft. »[U]nser Reden wird ins Leere fallen, in Schwerelosigkeit, unser schweres Schicksal wird plötzlich schwerelos sein, weil es ins Nichts fallen wird, in den luftleeren Raum« (Jelinek 2015). Dass die Flüchtlinge im Stück darüber hinaus zumeist als Kollektiv sprechen, akzentuiert ihre Fremdheit unter den »Einheimischen«. In deren Umfeld nämlich tritt das gesellschaftlich Andere – so ließe sich argumentieren – nur selten als einzelne Person auf: Sie seien »ein zusammengeklebtes, zusammengekleistertes Ding, ein einziger Menschenklotz […] sie kommen in hellen Scharen, nein, in dunklen, sie kommen in Maßen, nein, in Massen«, zitiert der Flüchtlings-Chor durch mehrmalige Selbstkorrekturen mit überdeutlich ironischem Unterton das »mitteleuropäische Besitzstandwahrer-Wir«.29 Als »Agon von Rede und Gegenrede, von projizierter Rede und wiederholter Rede, den Fremden in den Mund gelegter Rede«30 macht der Text Sprache, Sprechweisen, diskursive Ausschlusspraktiken und damit den Flüchtlingsdiskurs selbst zum Thema. Formal artikuliert sich dies durch die polyphone Grundstruktur, die – nicht ungewöhnlich für eine postdramatische Textcollage – ohne spezifische SprecherInnenrollen auskommt: die hoch artifizielle Sprache des Flüchtlings-Chors ist von antiquierten, umgangs- und vulgärsprachlichen 27 Monika Meister macht darauf aufmerksam, dass Jelineks innovative formalästhetische Elemente sehr häufig »aus den geschichtlich sedimentierten Elementen gewonnene Formen« konstruiert sind. Vgl. Monika Meister, »Bezüge zur Theatertradition«, in Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke, Stuttgart 2013, S. 68–74, hier S. 69. 28 Die leerstehenden Wohnungen und Häuser der Blitzeingebürgerten dienen als ironische Folie für die »Wohnungsnot« der Flüchtlinge: »Wir haben zum Beispiel, es ist nur ein Beispiel, mehr ist es nicht, wir haben nicht einmal einen Scheinwohnsitz im Zug der Oase, der Steuer-Oase, über dem Supermarkt, dort viele Menschen, in der Wohnung kein einziger, die sollten sich besser verteilen!« (Jelinek 2015) 29 Christine Wahl, »Die Welt und ihre dramatische Haltigkeit. Das Programm der Mülheimer Theatertage hält nichts von der Nabelschau«, in Theater heute, Nr. 5, Mai 2015. 30 Lücke, »Aischylos, Aufklärung und Asylproteste«. Auch wenn der Chor als Grundelement der antiken griechischen Tragödie vom ersten Satz an, wie bereits bei Aischylos’ Hiketiden, als eigentlicher Handlungsakteur des Dramas agiert, scheinen sich in Jelineks Flüchtlingschor, der die Sprechweisen der Österreicher (der Europäer) ironisch und sarkastisch kommentiert, doch auch letzte Reste der Kommentarfunktion des griechischen Chores erhalten zu haben.
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Einsprengsel durchzogen. Ein Verfremdungseffekt, der wiederum den Blick auf den Diskurs schärft. Die xenophoben Sprechweisen der Ansässigen, die Jelinek in Die Schutzbefohlenen aus der Perspektive der Ausgegrenzten portraitiert, lassen den »Flüchtlingsdiskurs« dabei als Produkt staatlicher Raumpraktiken verstehen, als Aushandlungskonflikt um lokale Raumhoheit. Gott ist für alle da, diese Grenze hat der Gesetzgeber definiert, Ihr Gott endet dort, wo unsrer anfängt, das ist so ähnlich wie mit der Freiheit, da darf niemand eingreifen und auch der Staat nur, wenn er ein Bedürfnis hat, in unsere Freiräume einzugreifen, oje, jetzt hat er grad das Bedürfnis, er will uns wegräumen, […] er respektiert das Zusammenleben, aber er bestimmt, mit wem, er sagt, wer zusammenleben darf und wer nicht, und dann respektiert er das, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, dann muß er es nicht mehr respektieren, er als einziger muß das nicht. (Jelinek 2015)
Jelinek verdeutlicht hier erneut, wie sich der Nationalstaat auf Basis hegemonialkultureller Normativität über Praktiken der Differenz und Grenzziehung zu definieren sucht – kulturelle und religiöse »Freiräume« beschneidet oder gar schließt – und Illegitime aus dem öffentlichen Raum »wegräumt«, wie es im Text in Anspielung auf die Geschehnisse im Wiener Votivpark in Form einer prekären metonymischen Verschiebung von der Müll- zur Flüchtlingsentsorgung heißt. Jelinek spielt hier auch mit der Polysemantik des Begriffs der »Grenze«: Die Grenze konkret als Staatsgrenze, dessen Sicherung vom staatlichen Grenzregime gewährleistet wird, oder als quasi-metaphorisches, sprachlich-gedankliches Konzept, mit der Negativwerte und -größen definiert und so moralisch-ethische Wertehaltungen ausgedrückt werden. Das Sprechen von der Grenze als Limit und Ober-Grenze (des Respektierbaren etwa, wie es in Jelineks Text heißt, oder der Grenze des Zumutbaren, von der häufig im medialen Diskurs über die Aufnahmekapazitäten europäischer Nationalstaaten die Rede ist) präsupponiert dabei jene Instanz, wie die Textstelle deutlich macht, die diese diskursiven Grenzziehungen unternimmt und die Definitionsmacht über moralisch-ethische Grenzen, Ober- oder Höchstgrenzen innehat, den Staat. Dem Sprechen von ›Grenzen‹ liegt also – ähnlich wie bei territorialen Grenzverhandlungen – immer auch spezifische Machtverhältnisse zugrunde. »Freiräume«, »wegräumen« und »Grenze« werden hier, wie die Textstelle verdeutlicht, somit als Denk- und Sprachbilder entlarvt, die sich im Zusammenhang des flüchtlingskritischen Diskurses aus nationalterritorialem Raumund Besitzdenken destillieren. Das verdeutlicht auch diese Textstelle: Aussehen und Herkunft haben hier, wo sie ankommen, keinen Platz, und es stimmt!, bei uns haben Aussehen, Diskriminierung und Rassismus keinen Platz, hat Herkunft keinen Platz, zumindest keinen, den sie wieder hergeben würde, die Herkunft gibt nichts her, die gibt nichts her, was sie mal hat, der Rassismus hat auch keinen Platz bei
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uns gefunden und muß jetzt stehen, geschieht ihm recht, geschieht jedem recht, macht nichts, wenn man steht, gehn mehr Leute in den Waggon hinein. (Jelinek 2015)
In Form einer metaphorischen Verkehrung, einer für Jelinek typischen Kippfigur, werden hier die humanistischen Werte einer sich aufgeklärt gerierenden Gesellschaft sprachlich seziert – einer Gesellschaft, die ihre faschistischen und rassistischen Altlasten bewältigt zu haben glaubt, deren Sprechen indes verräterisch mit fremdenfeindlichen Denkweisen kollidiert, wie sich etwa bei dem Wort »Waggon« zeigt, das die totbringenden Deportationen im Dritten Reich alludiert. Vor dem Hintergrund von Bosniaks Analysen zur tradierten Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit und Bürgerschaft »as a hard shelled container« ist auch die metonymische Chiffrierung von Haus als Nation aufschlussreich, wie sie sich im Zusammenhang flüchtlingskritischer medialer Berichterstattungen sehr häufig findet. Mit der repetitiven Verwendung des Lexems »Haus« in seinen morphologischen Spielarten – Haus, Behausung, hausen, Gotteshaus, Burgenland-Haus, armseligen Häuschen, einhäusig – verweist Jelinek auf die Kodierung des Nationalterritoriums als containerhaft-abgegrenzten Ort der Privatheit, Sicherheit und familiärer Vertrautheit. Mit der expliziten Nennung des Johannes-Evangeliums spielt Jelinek auch auf die in Medien verbreiteten Metaphorisierung lockerer und restriktiver Zugangsbestimmungen für Flüchtlinge (offene und geschlossene Türen) sowie legaler und illegaler Migration (Haupteingang und Hintereingang) an: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. […] Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe«,31 heißt es in Johannes 10,1.32
31 Johannesevangelium 10,1. Vgl. auch Johannes Beutler, Das Johannesevangelium. Kommentar, Freiburg / Basel / Wien 2013, S. 239. 32 Gerade mit Blick auf die britische Medienlandschaft haben Arbeiten der Kritischen Diskursanalyse gezeigt, dass im Zusammenhang nationaler Identität und Immigration die metaphorische Kodierung von Nation als Container und Haus äußerst beliebt ist. Nach Neagu und Colipca-Ciobanu zeigen sich darin »deep seated xenophobic attitudes towards strangers who are seen as violating the boundaries of the container of collective identity and therefore must be brought under control, and whose unfettered access must be stopped. […] We believe that the presumably positive connotations of »house« (i. e. a safe place, where usually only one family lives) account for the presence of House metaphors in the selfrepresentation generated by British headlines on migration.« Interessanterweise zeigen diese Analysen, dass nur im Zusammenhang der Thematisierung von Migration im eigenen nationalen Kontext auf die genannten Vorstellungsbilder zurückgegriffen wird, nicht etwa wenn es um Migration in Italien oder Griechenland geht. Vgl. Mariana Neagu / Gabriela Iuliana Colipca-Ciobanu, »Metaphor and Self/Other Representations: A Study on British and Romanian Headlines on Migration«, in Metaphor and Intercultural Communication, hrsg. von Andreas Musolff / Fiona MacArthur / Giulio Pagani, London u. a. 2014, S. 201–223, hier
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Indem Jelinek Johannes 10,13 namentlich erwähnt, und den in 10,12 genannten »Wolf« assoziativ mit Siegfried Wolf verbindet, dem Nachfolger Frank Stronachs als Vorstandsvorsitzender der Magna International Inc., vollzieht sie eine metonymische Verschiebung des Fremden, Räubers und Diebs auf den ›Blitzeinbürgerer‹, den Kapitalisten Stronach: Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf, ah, super!, das mit dem Wolf können wir gut brauchen, Johannes 10, 13, der Mietling aber flieht, denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht, weil er ein Mietling ist und ihm nichts an den Schafen liegt, dem Fremden liegt nichts an den Schafen.33 (Jelinek 2015)
Die Vorstellung von Nation als »Mutterhaus« oder »Vaterhaus«, von Staatsbürgerschaft als »Vaterlandsbürgerschaft« auch, ruft das Bild einer verwandtschaftlich verbundenen Territorialgemeinschaft auf, deren kollektive Identität sich als Container ausnimmt.34 Synonym zum »Vater- und Mutterhaus« steht an einer Stelle im Text auch der Begriff Heimat, der bereits in seiner historischen Semantik die grundlegende Verknüpfung von »Heimatland« und – im Kontext von Erbrechtsfragen bedeutsam – dem »elterliche[n] haus und besitzthum« aufweist, wie sie sich exemplarisch im Grimm’schen Wörterbuch von 1877 findet.35 Der exklusive Anspruch auf Besitzrechte an der Heimat aufgrund einer Landes-Zugehörigkeit wird in Jelineks Werk des Öfteren kritisch verhandelt. In Ein- und Ausgrenzung, einem Kommentar zur Schriftstellerin Elfriede Gerstl, heißt es: Das Eigene müssen sie nicht lernen, denn sie nur sie haben es ja selbst hergestellt. Und dass sie dieses Eigene vor den Fremden behüten, macht sie, so denken sie, um so heimischer. Je mehr sie denken, umso fester sitzen sie an sich, wie festgewachsen. […] Gehören tut das Land den Machern, den Schaffenden, die in ihm zu Hause sein dürfen, weil sie es unaufhörlich wieder in Besitz nehmen, in einer ununterbrochenen Aktion.36
Es ist ein ideologisch geprägtes Besitzrecht auf »Heimat, welche die Unsre nicht werden darf«, wie es von Seiten der ›unheimlichen‹ Schutzbefohlenen im Stück
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S. 206–210. Vgl. auch Jonathan Charteris-Black, »Britain as a Container. Immigration Metaphors in the 2005 Election Campaign«, in Discourse and Society, Jg. 17, Nr. 5, S. 563–581. Bei Johannes 10,13 heißt es: »weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.« Im rechtspopulistischen Diskurs sind echte Bürger und Bürgerinnen oftmals nicht durch die Staatsbürgerschaft eines bestimmten Landes definiert (Ius soli), sondern – auf der Grundlage nativistischer Körperpolitik – durch die Abstammung der Eltern und Großeltern (Ius sanguinis), was sich auch in der Beliebtheit von »Familie«, und dem (männlichen) »Körper« als Metaphern für »Nation« ausdrückt. Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien / Hamburg 2016, S. 92f. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1877, S. 863. Elfriede Jelinek, »Ein- und Aussperrung«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung (26. 06. 1993).
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heißt. Eine problematische Vereinnahmung von Heimat findet sich auch in der Philosophie des explizit als Intertext ausgewiesenen Heidegger, der »die Heimat usurpiert gegen die Fremden«, und davon spreche »dass diese Heimat denen gehört, die sie besitzen und das Unheimliche dabei ausklammeren«.37 Jelinek verortet die Schutzbefohlenen somit in einem scheinbar-identitätslosen Zwischenraum, denn auch ihre Herkunft, ihre »verlorene Heimat«, wie es im Stück heißt, steht ihnen nicht mehr zur Verfügung: »wer in der Fremde weilt, dem ist die Beziehung zur Heimat verloren«. Das »Fehlen des Heimatbezugs«, das »Heimweh« also, bleibt als letzter »Bezug« zur Heimat.
Dehumanisierende Rhetorik der Ausgrenzung In der Verteidigung des Besitzrechts auf Heimat, die Jelinek über den Umweg der projizierenden Rede des Chores – im doppelten Sinne des Wortes – vorführt, tritt eine den medialen Flüchtlingsdiskurs prägende »dehumanisierende« Bedrohungsrhetorik zutage.38 Wesentlicher Teil davon ist das Krisenvokabular aus dem Bereich von Naturkatastrophen (›Überschwemmungen‹, ›Flüchtlingsströme‹, ›Flüchtlingsflut‹), das ein Gefühl des Kontrollverlusts und der Machtlosigkeit einer unberechenbaren, naturwüchsigen Bedrohung gegenüber erzeugt. Den ›Flüchtlingsströmen‹ setzt Jelinek sarkastisch das »Stromnetz« der Stadt Wien entgegen und die »Geldströme« eines abgehobenen Finanz- und Wirtschaftskapitalismus / la Stronach.39 In Jelineks Sprachspiel, in der subversiven Verfremdung, wird der prekäre, paradoxe und poröse Gehalt der Begrifflichkeiten freigelegt. Ans Licht kommt dabei auch die den Sprachbildern des Flüchtlingsdiskurses eingezeichnete Strategie, die traumatischen Erfahrungen der Fluchtsuchenden zu relativieren und die Rollen von Geflüchteten und Ansässigen paradoxal und menschenunwürdig zu verkehren. Im Sinne rechtspopulistischer rhetorischer Strategien (Opfer-Täter-Umkehr) werden die »Einheimischen« zu Angegriffenen, Überfluteten, räumlich Eingeengten und Eingesperrten. Das trügerische Bild einer im Inneren geeinten, schuldlosen und solidarischen Gesellschaft, das Jelinek in Die Schutzbefohlenen zeichnet (»Katastrophenalarm, Feuerwehr, 37 Karin Kathrein, »›Heimat ist das Unheimlichste.‹ Elfriede Jelinek zu ›Totenauberg‹«, in Die Bühne (1992), Heft 9, S. 34; vgl. auch: Margarete Sander, »Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Das Beispiel Totenauberg«, Würzburg 1996, S. 110f. 38 Ruth Wodak, zitiert in Wenn Menschen zur ›Flut‹ werden. http://orf.at/stories/2292457/ 2292454/ (zuletzt abgerufen am 7. 6. 2016). 39 Im Text heißt es: »Wir preisen die Stadt, die der Strom hoffentlich nie netzt, das wird auch nicht passieren, ein Meer hat sie nicht, aber sie hat diesen Strom, es ist vorgesorgt, die Stadt hat ein eigenes Stromnetz und ein Überschwemmungsgebiet« (Jelinek 2015).
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Bundesheer, Nachbarschaftshilfe«), komplettiert dabei auch die Vorstellung des »hard on the outside, soft on the inside«-Staates: das zeigt, wie wichtig Hilfe ist und solidarische Zusammenarbeit gegen uns, in Krisen besonders, ja, auch im Alltag, ja, aber in Krisen besonders, da müssen wir Menschenfluten verhindert werden, da sind Sie solidarisch mit sich selbst, das müssen Sie sein, mit wem denn sonst, in erster Linie mit sich selbst, ja, und da helfen Sie mit der Nachbarschaft zusammen, daß wir Sie nicht überrennen wie Wasser, da sind Sie solidarisch, Einsatzbereitschaft natürlich vorausgesetzt. (Jelinek 2015)
Das Bedrohungsszenario kulminiert in der metaphorischen Kodierung von Fluchtsuchenden als Schwarm (»Taubenschwarm«, »Barbarenschwarm« und »Schwarm Wilder«), die bereits in Aischylos Schutzflehenden enthalten ist – zum Teil positiv konnotiert, wie sich angesichts der Selbstbezeichnung der Danaidentöchter als »Schwarm« und mit Blick auf Danaos Beschreibung seiner Töchter als »Taubenschwarm« zeigt; König Pelasgos bezeichnet die Töchter hingegen bereits als »Barbenschwarm«.40 Als »Figuration der Unordnung« verkörpert der Begriff, in dem die anhaltend gebräuchliche nationalsozialistische Parasitenrhetorik nachklingt, »das Andere des Systems, den Störenfried«,41 und bündelt diffuse gesellschaftliche Ängste vor einer unkontrollierbaren, nichtsteuerbaren und vor allem formlosen Masse.42 Jelinek verhandelt in ihrem Text jene Herrschaftstechniken und offensive Formen kultureller Identitätsstiftung, die – wie Derrida in seinen paradigmatischen Analysen zum westlichen »Logozentrismus« vorführt43 – grundlegend auf binären Oppositionen aufbauen. Ganz im Sinne von Reinhardt Kosellecks
40 Seine positiven Implikationen in der frühen (antiken) Erscheinungsform des Begriffs gehen auf die Vorstellung vom Schwarm als ein gemeinschaftliches Zusammenleben jenseits hierarchischer Ordnung zurück, wie Silke Felber und Teresa Kovacs in ihrem Beitrag zum Begriff des Schwarms in Jelineks Die Schutzbefohlenen zeigen. Vgl. Felber / Kovacs, »Schwarm und Schwelle«, S. 4. 41 Felber / Kovacs, »Schwarm und Schwelle«, S. 7. Unter Berücksichtigung der historischen Semantik des Begriffs, der theaterästhetischen Implikationen für die Bedeutung des Chores und des Flüchtlings- und Terrordiskurses zeigen Felber und Kovacs, wie sich die Figuration des Schwarms auch für die formalästhetische Betrachtung von Jelineks Schreiben fruchtbar machen lässt. Es sei ein »schwärmendes Schreiben« »ohne Zentrum und Hierarchie« – ohne »intratextuelle Hierarchie« und ohne »hierarchische Strukturierung« – das sich den Wahrnehmungsgewohnheiten produktiv entziehe. Vgl. Felber / Kovacs, »Schwarm und Schwelle«, S. 11–13. 42 Der britische Premier David Cameron sprach in einer Stellungnahme zu den Flüchtlingen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Calais untergebracht waren, von einem »Schwarm«, der Nacht für Nacht die »Bastion Britannien« zu erklimmen suche. Siehe: Gina Thomas, Camerons Flüchtlings-Rhetorik. Streit um den »Schwarm«, in Süddeutsche Zeitung (03. 08. 2015). 43 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt (Main) 1992, S. 12.
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Analysen zur »Semantik der geschichtlichen Zeiten«44 werden diese offensiven Fremdkonstruktionen, jenes Ab- und Ausgegrenzte zum konstitutiven Teil des kulturellen Selbstentwurfs (Hellenen-Barbaren, Christen-Heiden, MenschÜbermensch) und zur Grundlage sozialer und interkultureller Praktiken.45 Innen versus Außen (im Zusammenhang des nationalstaatlichen ContainerDenkens) sowie Kultur versus Natur stellen in Jelineks Text dabei jene archetypischen Antagonismen dar, die Flüchtlinge zu »Wilden« und deren Fluchtbewegung zur »Invasion« macht, und die es zu »zähmen« und »einzuzäunen« gilt, wie es im Text kalauernd heißt. Besonders augenscheinlich wird dies vor allem dort, wo die hochkulturellen Inszenierungspraktiken Österreichs, etwa als Musiknation in kritischer Anspielung auf die »blitzeingebürgerte« Anna Netrebko, leitkulturelle Exklusionsrechte begründen. Der Blick auf die »schönen Ausbauten Ihrer Kultur« bleibt den im fensterlosen Lastenwagen »geschleppt[en]« und »geschleudert[en]« Flüchtlingen versperrt, wie es im Text in über-anschaulicher Bildsprache heißt: »Bauten aufzustellen, die wir nicht sehen, na sowas, dieses Auto hat überall Wände, man kann nicht rausschauen, man sieht nichts, gar nichts«. Während die Naturlandschaft für die Flüchtlinge als feindlicher Gegenspieler auf der Flucht (»Fast hätte uns die See vernichtet, fast die Berge«) erscheint, ist sie als gebändigtes, medial transportiertes Heimatfilm-Idyll Projektionsraum für die ›Angestammten‹ der Alpenrepublik. Natur und Heimat stehen hier Synonym. An ihm entfaltet sich auch ein entpolitisierter, pseudo-emphatischer Freiheitsbegriff, der dem realen Freiheitsentzug der Flüchtlinge entgegensteht und nationale Definitionshoheiten beansprucht; er wird von Jelinek als Herrschaftsinstrument entlarvt: »Freiheit kann ein Gefühl sein, ich sags Ihnen, ein Gefühl, das hat nicht jeder, der Sport kennt dieses Gefühl, die Natur kennt es auch, der Schifahrer in den Bergen kennt es, das heißt, jeder kennt das Gefühl der Freiheit« (Jelinek 2015).46 Die kulturellen Selbstentwürfe der Immer-schonAnsässigen, die – wie Jelinek in holzschnittartiger Klarheit aufzeigt – auf der alltagssprachlich und medial transportierten Differenzierung von fremd und eigen, auf der Grenzziehung von zivilisierter und menschenrechtsfreundlicher Kultur und wilder, invasiver Natur aufbaut, wird als diskursiv hervorgebrachte Konstruktion entlarvt – und die xenophobe Sprache der SprecherInnen damit als Produkt nationalterritorialer Raumproduktion. 44 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt (Main) 1989, S. 213–218. 45 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. 46 In der bereits genannten Broschüre des Staatssekretariats für Integration, auf die Jelinek Bezug nimmt, heißt es: »Stellen Sie sich vor: Freiheit kann ein Gefühl sein, wie man es beispielsweise beim Sport und in der freien Natur – wie bei Skifahren in den Bergen – erlebt.« Vgl. »Zusammenleben in Österreich«.
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Dem staatlichen Territorial- und Grenzdenken setzt Jelineks subversives Textgeflecht eine Poetik der formal-sprachlichen Grenzüberschreitung entgegen, in der sich die SprecherInnen nur partiell identifizieren lassen und die Sprache liquide bleibt. In produktiver Verkehrung der dem Flüchtlingsdiskurs eigenen Bedrohungsrhetorik ließe sich mit Blick auf Jelineks literarische Subversionsstrategien vom Text als Wortflut sprechen, der LeserInnen und ZuschauerInnen förmlich überschwemmt, und die Grenzen des Wohlempfindens überschreitet. Der moralische Impetus und Antrieb von Jelineks literarischer Tätigkeit, »für die, die sprachlos sind oder deren Sprache wir nicht verstehen, zu sprechen«,47 wie sie sich im Zusammenhang ihres Theaterstücks Stecken, Stab und Stangl äußerte, ist mit einer wesentlichen Prämisse ihres ästhetischen Programms verknüpft, nämlich »die Sprache zum Sprechen« zu bringen, die im »Idiom verhüllte Sprache« zu entlarven.48 Dies findet sich bereits in der Sprechund Kommunikationssituation des Stückes realisiert. Indem es nämlich der in keiner Regieanweisung ausgezeichnete Flüchtlingschor ist, der die Sprache der xenophoben Sprecher spricht, und die gegen ihn gerichteten Feindseligkeiten in ironisch-kommentierender Weise dem Publikum entgegenhält, ist die Sprache objektiviert und damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Eine Sprache, wie in Die Schutzbefohlenen gezeigt wird, die aus dem Normalisierungsprozess diskriminierender, teils rassistischer Sprachfiguren und Denkmotive hervorgeht, während ihre prekären Untertöne kaum mehr zu vernehmen sind. Sie hat sich von ihren rechtspopulistischen SprecherInnen gelöst, ist nun in aller Munde – und damit zu einer prekären sozialen Realität einer breiten diskursiven Öffentlichkeit geworden.
47 Stephanie Carp, »›Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung‹. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek«, in Theater der Zeit, Jg. 51 (1996). 48 »Meine Arbeitsweise funktioniert, wenn es mir gelingt, die Sprache zum Sprechen zu bringen, durch die Montage von Sätzen, die verschiedene Sprachen miteinander konfrontiert, aber auch durch Veränderung von Worten und Buchstaben, die im Idiom verhüllte Aussagen entlarvt.« Elfriede Jelinek, »Ich schlage sozusagen mit der Axt drein«, in TheaterZeitSchrift, Jg. 7 (1984), S. 16.
Svetlana Arnaudova
Versprachlichung von Flucht und Ausgrenzung im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Sasˇ a Stanisˇ ic´
Sasˇa Stanisˇic´s Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert vereinigt auf komplexe und kreative Weise Fragen nach dem Verhältnis von Geschichte und Narration, nach der Darstellbarkeit von Katastrophen wie Krieg, Flucht und Vertreibung und nach der Rolle der Literatur als Medium historischer Imagination. Dabei kommt der Versprachlichung von traumatischen Erfahrungen eine besondere Rolle zu. Dieser Aufsatz erkundet die innovativen Erzählstrategien von Stanisˇic´ bei der Darstellung der jugoslawischen Kriege 1992–1995 und der Schilderung des Lebens einer Flüchtlingsfamilie. Der Fokus der Interpretation liegt auf der Funktion des Wechselspiels zwischen Benennen und Verschweigen von Tatsachen und Stellungnahmen, auf der Rolle der multiperspektivischen Darstellung von gravierenden historischen Ereignissen und auf der Fähigkeit des Textes, trotz der politischen Brisanz des Dargestellten sich jeglicher politischen Vereinnahmung zu entziehen. Die Brüche in der Biografie des Geflüchteten werden durch eine nicht lineare, nicht abgeschlossene und nicht einstimmige Erzählung repräsentiert, in der der Erzähler, der selber durch eine fluktuierende Identität gekennzeichnet ist, immer wieder die Frage nach der Darstellbarkeit eines Flüchtlingstraumas stellt. Somit gerät der Roman auch mitten in die theoretische Diskussion über die Rolle der Erzählinstanz in historischen und literarischen Narrativen, über die Literatur als Zeitzeuge und fiktives Konstrukt, über die Verschränkung zwischen dokumentarischen und narrativ-konstruktivistischen Herangehensweisen in Historiografie und Literatur.1 Weil es im Roman um Flucht und Vertreibung geht, schreibt er sich auch in das aktuelle Thema der Geschichte als traumatisches Erlebnis2 ein. 1 Vgl. Kerstin Stüssel, »Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel«, in Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Autobiografisches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur, Band 1, hrsg. von Ulrich Breuer / Beatrice Sandberg, München 2006, S. 19–34; Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hrsg. von Fotis Jannidis et al., Tübingen 1999; Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von Daniel Fulda / Silvia Serena Tschopp, Berlin / New York 2002; Volker Dörr, »Wie dichtet Klio? Zum Zusammenhang von
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Das Verhältnis von Trauma und Geschichte und die Rolle der Versprachlichung von Traumata werden immer häufiger zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher und literarischer Untersuchungen. In einem aufschlussreichen Aufsatz versucht Manfred Weinberg durch den Bezug auf Freud und seine Werke Jenseits des Lustprinzips und Der Mann Moses und die monotheistische Religion das Trauma aus dem Bereich der Psychoanalyse zu holen, seine Funktion bei der Konstruktion von Erinnerung und Gedächtnis zu erläutern und seine Fruchtbarkeit für die Interpretation von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen historischen und literarischen Narrationen zu nutzen. Weinberg bezieht sich auf Freuds Behauptung, dass »in der ›normalen‹ Erinnerung das zu erinnernde Ereignis einem bewußten Rückgriff zugänglich, dafür aber entstellt«3 ist, die traumatische Rückführung dagegen unentstellt sei, »aber weder bewußt herbeizuführen noch dem Bewußtsein zu integrieren ist.«4 Von dieser These ausgehend wendet sich Weinberg dem Verhältnis von Trauma und Geschichte zu und stellt die Frage, ob sich in der Historiografie eine Struktur beschreiben lässt, die dem individuellen Trauma entspricht. Dabei hinterfragt Weinberg kritisch die These des prominenten Historikers Johann Gustav Droysen, Geschichte sei nicht das Geschehene, sondern »eine Erinnerung, die die Vergangenheit immer schon simplifizierend auf Namen und Begriffe gebracht hat,«5 und das Historische sei etwas, was »durch unsere gegenwärtige Rede vom Vergangenen hervorgebracht ist.«6 Um dieses Dilemma geht es auch bei der Versprachlichung von Flucht und Trauma in Stanisˇic´s Roman, auf die ich mich an anderer Stelle in diesem Aufsatz beziehe. In seinen weiteren Ausführungen skizziert Weinberg eine Struktur des Erinnerns, die die Dichotomie zwischen »traumatischem reenactment und bewusst zugerichteter Erinnerung«7 verabschiedet, wobei er sich auf Modelle des Erinnerns bei Hesiod, Platon und Simonides beruft. Sehr aufschlussreich ist dabei auch der Bezug zu Cathy Caruths Traumatheorie; Weinberg rekurriert hier einerseits auf die von der Autorin festgestellte Unmöglichkeit des traumatischen Erinnerns, sich in »narrative memory« zu ver-
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Mythologie, Historiographie und Narrativität«, in Zeitschrift für deutsche Philologie (2004), Sonderheft, S. 25–41. Vgl. Cathy Caruth, Unclaimed Experience: Trauma, Narrative and History, Baltimore 2010; Susan Rubin Suleiman, »Historical Trauma and Literary Testimony : Writing and Repetition in the Buchenwald Memoirs of Jorge Semprun«, in Journal of Romance Studies, Jg. 4 (2004), Nr. 2, S. 1–19. Manfred Weinberg, »Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und Gedächtnis«, in Trauma: zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, hrsg. von Elisabeth Bronfen / Birgit R. Erdle / Sigrid Weigel, Köln 1999, S. 172–206, hier S. 175. Ebd. Ebd., S. 179. Ebd. Ebd., S. 181.
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wandeln, und beruft sich andererseits auf die von ihr betonte unumgängliche Versprachlichung von Trauma: »the transformation of the trauma into a narrative memory that allows the story to be verbalized and communicated, to be integrated into one’s own, and other’s knowledge of the past, may lose both the precision and the force that characterizes traumatic recall.«8 Caruth plädiert also wie Weinberg für die Überwindung der Dichotomie zwischen traumatisch wahrem reenactment und entstellendem Erinnern, und für die Verbalisierung von traumatischer Erfahrung, da durch das Erzählen »unverfügbare[…] Erinnerungen«, etwa in literarischen Texten, präsent werden können. Auch bei Sigrid Weigel geht es um traumatische Ereignisse, die ihre Spuren in der Sprache hinterlassen haben.9 Wie sie feststellt, »hat sich Trauma von einem klinischen Konzept in ein kulturelles Phänomen verwandelt.«10 Weigel unterzieht Caruths universalisierende Traumatheorie und besonders Caruths Formulierung, dass jedes Trauma Geschichte sei, einer kritischen Analyse und setzt sich mit dem Paradigma des »Undarstellbaren« und des »Unaussprechlichen« nach Auschwitz auseinander. Durch dieses Paradigma laufe man Gefahr, »die unablässige Rede über den Holocaust«11 aus dem Blick zu verlieren. Weigel stellt fest, dass die Erinnerungen in der Nachgeschichte an die Nazizeit und die Shoah eher zunehmen. Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Holocaust einen wichtigen Platz in Weigels Ausführungen einnimmt, erwähnt sie schon zu Beginn ihres Aufsatzes die Tatsache, dass das Bezugsfeld der Traumaforschung in der Zwischenzeit sehr vielfältig geworden ist, »vor allem durch die Vertreibungen und die ethnischen Kriege der jüngsten Zeit«12 Im Roman von Stanisˇic´ wird auf einer literarischen Ebene gerade diese Kontinuität im Reden über Flucht und Trauma und der Bezug zwischen Holocaust und ethnischen Kriegen thematisiert. Während die Versprachlichung von erschütternden historischen Ereignissen bei Weigel und Weinberg nur einen Teil der Ausführungen ausmacht, stellt Dominick LaCapra die Verflechtung von Trauma und Narration ins Zentrum seiner Traumatheorie. Er plädiert für eine diskursive ›mittlere Stimme‹ (middle voice), die er in Anlehnung an Roland Barthes’ berühmten Aufsatz »To Write: An Intransitive Verb?« und an Hayden Whites Überlegungen zum Zusam-
8 Ebd., S. 187. 9 Sigrid Weigel, »T8lescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur«, in Trauma: zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, hrsg. von Elisabeth Bronfen / Birgit R. Erdle / Sigrid Weigel, Köln 1999, S. 51–76, hier S. 51. 10 Ebd., S. 51 und S. 57, wo Weigel die Stimme als »die Pathosformel der Traumatheorie« bezeichnet. 11 Ebd., S. 71. 12 Ebd., S. 51.
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menhang von Geschichte und Modi der Narration entwickelt.13 La Capra interessiert sich besonders für zwei Momente in Barthes’ Analyse der modernen Literatur : Erstens für seine Behandlung der Frage nach der Referenzialität und dem Verhältnis von »speaker and discourse«. So bezieht er sich auf Barthes’ Charakterisierung der Erzählinstanz: Modern literature is trying, through various experiments, to establish a new status in writing for the agent of writing. The meaning of the goal of this effort is to substitute the instance of discourse for the instance of reality (or the referent), which has been, and still is, a mythical ›alibi‹ dominating the idea of literature.14
Zweitens interessiert LaCapra Barthes’ Situierung einer mittleren Stimme zwischen der Opposition transitiv-intransitiv an einem metaphorischen Platz, wo das Grammatikalische verloren gegangen ist, dort, wo in einem diskursiven Sinne die Unentschlossenheit der sprechenden Instanz hervorgehoben wird: »The middle voice would thus be the ›in-between‹ voice of indecidability and the unavailability or radical ambivalence of clear-cut positions.«15 LaCapra unterscheidet zwei Mechanismen der Traumaüberwindung, die zugleich auf die Fähigkeit rekurrieren, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart in einem posttraumatischen Zustand zu unterscheiden: Mit Bezug auf die Relation zwischen psychoanalytischen und dekonstruktivistischen Konzepten spricht er von »acting out« und »working through«. Während der Phase des »acting out« lässt man Szenen der Vergangenheit aufleben und unterliegt einem Wiederholungszwang von traumatischen Szenen im Freud’schen Sinne: »one is haunted or possessed by the past and performatively caught up in the compulsive repetition of traumatic scenes«16. In der Phase der Überwindung des Traumas (working through) distanziert man sich von der Vergangenheit und ist bereit, sich auch für die Zukunft zu öffnen: to the extent one works through trauma (as well as transferential relations in general), one is able to distinguish between past and present and to recall in memory that something happened to one (or one’s people) back then while realizing that one is living here and now with openings to the future.17
Interessanterweise nennt LaCapra das »working through« eine »artikulative Praxis« in enger Anlehnung an seine Überlegungen zur Rolle der diskursiven mittleren Stimme bei der Vermittlung und Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Selbst und Anderem: 13 14 15 16 17
Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001, S. 17. Ebd. S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.
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In a sense one’s response to the role of the middle voice may be intimately bound up with one’s response to reenacting or acting out trauma in relation to attempts to work it through. In my own tentative judgment, the use in historiography of some discursive analogue of the middle voice might be most justified with respect to one’s most tangled and difficult relations of proximity and distance with regard to the other, notably when one is moved, even shaken or unsettled, in such a manner that one is unable or unwilling to judge or even to predicate with any degree of confidence.18
Das ist eine Schlüsselstelle in LaCapras Überlegungen. Sie ist von erheblicher Relevanz für die Erzählweise in Stanisˇic´s Roman, dessen Erzähler ständig auf der Suche nach dem »Wahren« ist, der sich jedoch nie sicher sein kann, ob es tatsächlich existiert oder nur das Ergebnis seiner Imagination ist. LaCapra beschreibt dieses Dilemma, indem er Frank Ankersmit zitiert: »Saying true things about the past is easy – anybody can do that – but saying right things about the past is difficult.«19 Diese Überlegungen von LaCapra bieten wichtige Impulse für Analyse des Umgangs mit Trauma in Stanisˇic´s Roman, vor allem für die narrative Bewältigung traumatischer Erinnerungen im Text. Auch die zeitliche Distanz, über die LaCapra spricht, korrespondiert mit dem Roman, dessen erzählendes Ich die Ereignisse mit einem Abstand von zehn Jahren Revue passieren lässt, was ihm die Möglichkeit für einen neuen Blick auf die traumatischen Geschichten und für eine neue Bewertung von Erinnerung und Gegenwart bietet. Da Literatur aber ein besonderer gesellschaftlicher Diskurs ist, in dem Wahrheit und Erkenntnis nicht den gleichen Stellenwert wie in der Historiografie besitzen und im Prisma der Fiktion und der Mehrschichtigkeit des Textes behandelt werden, gewinnt die Analyse der Versprachlichung des Traumatischen im Roman natürlich keine Eindeutigkeit und erhebt keinen Anspruch auf endgültige Schlussfolgerungen. Doch die Reflexion über das Erzählen ist die Folie im Roman, auf der Erinnerungen abgerufen und Konsequenzen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gezogen werden. Der Prozess des Erzählens wird im Roman ständig thematisiert und fungiert als ein Medium der Verarbeitung der Flüchtlingserlebnisse. Die Fähigkeit, über ein Ereignis erzählen zu können, verwandelt sich allmählich in die Fähigkeit, sich an dieses Ereignis erinnern zu können und es ins Register des individuellen oder kollektiven Traumas zu überführen. Sprechen und Erzählen stehen für das Leben, das Schweigen über Ereignisse und Personen verurteilt diese gewissermaßen zum Tode. »Weniger am Leben als Opa Rafik kann kein Toter sein«20 sagt der Erzähler über seinen Großvater Rafik, über den niemand reden will. Und 18 Ebd., S. 29. 19 Ebd., S. 10. 20 Sasˇa Stanisˇic´, Wie der Soldat das Grammofon repariert, München 2006, S. 18. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
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dem verstorbenen Opa Slavko widmet der Protagonist seine Erzählung, um die Erinnerung an ihn wach zu halten. Im ersten Teil des Romans, in dem der Erzähler unmittelbar aus der Perspektive eines Kindes berichtet, geht es um die Aufarbeitung des Traumas, in das der kleine Aleksandar involviert ist, ohne richtig zu verstehen, wessen Opfer er und seine Familie und Freunde geworden sind. Er schildert in der ersten Phase der Aufarbeitung traumatische Fluchterlebnisse, ohne sie zu analysieren. Im zweiten Teil versucht der erwachsene Erzähler, die Lücken in seiner Erinnerung aufzufüllen und sie zu verifizieren, indem er zehn Jahre nach der Flucht aus Bosnien nach Visˇegrad zurückfährt und recherchiert, ob das Erlebte »wahr« oder nur das Ergebnis seiner Imagination ist. Schon dieses Dilemma der Suche nach dem »Wahren«, das im Roman an mehreren Stellen direkt expliziert wird, zeugt von der Relevanz der Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion historischer Narrative und des Verhältnisses von Geschichte und Literatur.21 Stanisˇic´s Roman zeigt einerseits die Macht der dichterischen Einbildungskraft, die an der Erfindung unzähliger Geschichten und Charaktere beteiligt ist, andererseits veranschaulicht er die Möglichkeiten der Literatur, Fiktionalität auf Faktizität zu gründen. So wird der Leser ständig aufgefordert, nach den diskursiven Grenzziehungen zwischen Literatur und Historiografie zu suchen und die Sprache literarischer Texte als Grundlage von Wirklichkeitskonstruktion zu sehen. Die Überlegungen von Hayden White korrespondieren in diesem Sinne mit denen von Dominick LaCapra zur Verarbeitung (working through) von Trauma, die Stereotypen unterwandert, neue Realitäten schafft und die Entstehung neuer kollektiver Identitäten begünstigt. LaCapra setzt sich auch für eine narrative Struktur ein, die das sogenannte »redemptive narrative«22 überwindet, weil es die Tendenz aufweist, das Trauma zu verleugnen. Der Roman von Stanisˇic´ scheint allen diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Schon am Anfang des Romans wird die Erzähllust des Hauptprotagonisten thematisiert: Der kleine Aleksandar hat sich vorgenommen, niemals mit dem Erzählen aufzuhören und nennt sich selbst »Chefgenosse des Unfertigen« (11), eine großartige Metapher, die den ganzen Roman durchzieht. Wenn über Ereignisse und Personen nicht der letzte Satz ausgesprochen wird, bleiben sie lebendig und so können sie immer wieder Erinnerungen, Gefühle und Nachdenken hervorrufen. Erzählung sichert die Kontinuität des Lebens, daran glaubt zumindest der kleine Aleksandar. Er ist überzeugt von der Macht der Sprache, durch die man eine schönere Welt erschaffen kann. Dieser Glaube an die 21 Vgl. dazu Hayden White, dem zufolge »auch Klio dichtet« und zwischen Geschichte, Ereignis und Narration eine wechselseitige Beziehung bestehe: Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt (Main), 1991. 22 Darunter versteht LaCapra eine Struktur, die der biblischen Geschichte folgt: Paradies, Sündenfall, Historie, Erlösung. La Capra, Writing History, Writing Trauma, S. 156.
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Kreativität der Sprache ist unbeirrbar, solange der Erzähler an die friedlichen Zeiten denkt und sich an seine glückliche Kindheit erinnert, als keiner ahnte, dass ein Krieg überhaupt möglich sei. Aleksandar sieht keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und sprachlicher Referenz und fasst diese Überzeugung durch die Worte seines Vaters zusammen: »Wirklichkeit abbilden heißt vor ihr kapitulieren.« (24) Daher werden in der ersten Hälfte des Romans, in dem sich die Handlung im friedlichen Visˇegrad abspielt, ausführliche Szenen von Festen und Ritualen, von Liebes- und Ehebruchgeschichten, von Freundschaft und Nachbarschaft geschildert. Zu den stilistischen Besonderheiten des Romans zählen die barocken Überschriften der Kapitel der ersten Romanhälfte, die stark mit den kurzen und wortkargen Titeln der zweiten Hälfte kontrastieren. Aleksandar selbst ist der geborene Erzähler, dessen Fabulierkunst und Fabulierlust allen auffällt. Sogar der Serbokroatisch-Lehrer Herr Fazlagic´ sieht sich gezwungen, ihn zu warnen: »Du hast dieses Jahr bei allen Aufsätzen das Thema verfehlt – zügle gefälligst deine Fantasie! […] Und für die direkte Rede, sagt er […] gibt es Anführungszeichen, das weißt du…« (84) Das Fehlen von Anführungszeichen ist ein wiederkehrendes Motiv, das die verschwommene Grenze, das Transitorische zwischen dem Sagbaren und nicht Sagbaren markiert: »Weil jeder alles sagen und denken und nicht sagen darf, und wie sollen Anführungsstriche für nichtgesagtes Denken aussehen, oder für gelogenes Sagen, oder für Denken, das gar nicht wichtig genug ist, um gesagt zu werden, oder für das wichtige Gesagte, das nicht gehört wurde?« (87) Genauso knapp und eindrucksvoll wird das ganze jugoslawische Schicksal repräsentiert, indem der Ich-Erzähler subtil von Einstellungen und Befindlichkeiten kurz vor dem Kriegsausbruch berichtet. Humor und gewitzte Brüche deuten auf schwelende Nationalismen und auf die Kriegsursachen hin: »Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also.« (53) Das Sprechen und das Schweigen werden zu Markern des Mutes oder der Konformität, der Fähigkeit zum Beziehen einer ethischen Position und einer empathischen Stellungnahme. Eine besondere Funktion erfüllt dabei die erlebte Rede im Roman, bei der Erzähler- und Figurenrede oft verschmelzen. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist die erlebte Rede des »Dreipunktemannes«, des Rabbis Abraham, die ohne jegliche Einführung beginnt und das Geschehen in den Zweiten Weltkrieg verlegt. Der Rabbi versucht, immer wieder seine Geschichte zu erzählen, kann sie aber nie zu Ende bringen. Die drei Punkte, durch die dieses Kapitel über den Holocaust betitelt ist, stehen für das nicht überwundene Trauma der Judenverfolgung, symbolisiert durch die nie zu Ende erzählte Geschichte. Hier bestätigt sich die These von Sigrid Weigel, dass die Rede vom Trauma »Gewicht und Bedeutung doch zunächst und zuallererst aus der
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Nachgeschichte von Krieg und Schoah erhielt«23. Der Erzähler im Roman von Stanisˇic´ zieht indirekt eine Parallele zwischen dem Trauma der Jugoslawienkriege und dem Holocaust, ohne dies zu kommentieren, die Ähnlichkeit des Schreckens drängt sich umso mehr auf durch die Art und Weise des Erzählens: »es zerreißt mir … es zerreißt mich … Waffen … prügeln … schelten … fauchen … fluchen … wie damals […] ein Land der Schläger … nie ruht es sich aus […] nichts habe ich gerettet … nichts … so sind die Kriege …« (95) Der Dreipunktemann versucht das Trauma seines Lebens ausgerechnet auf der Flucht aus Visˇegrad zu erzählen, der Gedanke an die Wiederholbarkeit des Grauens und an die wiederholten Fehler der Geschichte fällt dem Leser sofort auf. Dieses Kapitel verzeichnet auch den Übergang zum Dreipunktekapitel, das eine Art Zäsur in der Erzählung über Flucht und Vertreibung darstellt. Der Erzähler ist überzeugt von der Verknüpfung zwischen Realität, Erinnerung und Sprache. In diesem Sinne manifestiert sich hier die Überlegung von LaCapra, dass »working through« eine Art Artikulation des Traumas ist, die einen Einblick in Vergangenheit und Gegenwart gewährt. Die traumatische Erschütterung hat dem Rabbi Abraham die Erinnerung geraubt und das Vermögen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden, daher verschmelzen sie in seinem Bewusstsein und das Böse nimmt kein Ende. Das Ende des Schreckens ist nur durch ein Beenden der Erzählung darüber möglich: »Der Dreipunktemann erzählte uns, dass man sein Zuhause und seine Synagoge und seine Erinnerung daran, wie man Sätze beendet, geplündert hat.« (96) Gleichzeitig thematisiert der Roman die Spannung zwischen dem Glauben an die Aufarbeitung durch Narration einerseits und der Erkenntnis über die Grenzen des sprachlichen Vermögens in Momenten der Erschütterung und der Katastrophe andererseits: »Was geschehen wird, ist so unwahrscheinlich, dass keine Unwahrscheinlichkeit übrig bleibt, um darüber eine erfundene Geschichte zu erzählen.« (213) Die drei Punkte im Holocaust-Kapitel, die für den Schrecken und für das Unaussprechliche stehen, finden sich auch am Anfang des »Hass-Kapitels«, in dem Zoran, die nüchterne Stimme im Roman, in einer kurzen, aber sehr einprägsamen »Hasstirade« scheinbar distanziert, doch in Wirklichkeit emotional sehr engagiert, die Grausamkeit der ethnischen Säuberungen mithilfe subtiler Einzelheiten entlarvt: ich hasse auch, dass das Wasser mittags abgedreht wird […] Ich hasse die Schüsse in der Nacht und die Leichen im Fluss, und ich hasse es, dass man das Wasser nicht hört, wenn der Körper aufschlägt […] Ich hasse den Typen vom Staudamm in Bajina Basta, der sich beschwert, man solle nicht so viele Leute auf einmal in den Fluss werfen, weil die Abflüsse verstopfen. (145)
23 Weigel, »T8lescopage«, S. 51.
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Die Banalität des Bösen im Sinne von Hannah Arendt wird entlarvt durch die Banalität der alltäglichen, fast unbeteiligten Rede darüber. Die Assoziation zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg wird durch den intertextuellen Verweis auf Celans »Todesfuge« noch deutlicher : »Ich lese und liebe das Lesen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister aus Bosnien.« (ebd.) So wie bei LaCapra die mittlere Stimme für eine empathische Mäßigung sorgt, wird bei Stanisˇic´ jede unangebrachte Identifikation mit den literarischen Figuren, insbesondere mit den Opfern, durch die Mehrstimmigkeit des Textes verhindert, die sich im zweiten Teil des Romans besonders intensiv entfaltet. Das ist eine große, innovative Leistung von Stanisˇic´, die für die Schilderung von Flucht und Vertreibung während der Jugoslawienkriege in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einmalig bleibt. An die Stelle einer mittleren Instanz tritt bei Stanisˇic´ die Polyphonie der Stimmen, die an der Textoberfläche für ein nüchternes und scheinbar unbeteiligtes Erzählen sorgt, im Endergebnis aber zu Empathie und Teilnahme führt.24 Im ersten Teil des Romans geht es eindeutig um einen Erzähler, der ruhig und chronologisch durch den Blick eines zehnjährigen Kindes erzählt. Dieser fast idyllische Zustand wird erschüttert durch Parolen der Kriegshetze, die der kleine Aleksandar nicht versteht, aber wortgenau übermittelt, um seinem Versprechen, alles zu erzählen, treu zu bleiben. In einer Schlüsselszene des Romans heißt es: Die Ohrfeige gibt es, weil der morgige Soldat sagt: […] wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen, es ist an der Zeit, dass wir den Ustaschas und den Mudschahedin die Stirn bieten, es gibt dafür die Ohrfeige, es gibt verstohlene Blicke zu meiner Mutter und zu meiner Nena Fatima; es gibt die taubstumme Nena Fatima, die in die Runde sieht, als hätte sie jedes Wort und jede Geste und jeden Schuss verstanden: beschämt und traurig. (52)
Nena Fatima, die muslimische Großmutter des Erzählers mütterlicherseits, ist eine der originellen Frauenfiguren im Roman, deren Sprachlosigkeit an mehreren Stellen des Textes thematisiert wird. Stanisˇic´ operiert gern mit dem Verschwiegenen, es wird nicht klar, warum Nena Fatima beschämt ist: Schämt sie sich der eigenen Herkunft oder der nationalistischen Parolen des jungen Mannes? Die Verschwiegenheit dieser Frauenfigur verrät traumatische Erlebnisse (sie verstummt nach dem Tod ihres Mannes), zeugt aber auch von einem unbeugsamen inneren Widerstand gegen historische Ungerechtigkeiten, familiäre Bedrängnisse und Restriktionen. Nena Fatima wird so lange schweigen, bis sie 24 Vgl. Boris Previsˇic´, »Poetik der Marginalität: Balkan Turn gefällig«, in Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Bd. 69: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Kultur und Literatur im Zeitalter globaler Migration, hrsg. von Helmut Schmitz, Amsterdam / New York 2009, 189–203, hier S. 202.
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einen Sinn in ihrem Leben sieht. Und dieser Sinn ist auf der Flucht verloren gegangen. Darüber schreibt Stanisˇic´ eine faszinierende lyrische Partie: die taubstumme Nena Fatima verfasst ein Gedicht: Ich will reden wieder reden … ich will reden wieder reden aber einen grund brauche ich soll ein guter grund sein das ist so (149)
Die Nüchternheit und die Gegenständlichkeit der Sprache, die knapp und einfühlsam Befindlichkeiten und Betroffenheiten schildert, erinnert an die expressive Sprache von Herta Müller, die die Einsamkeit des Einzelnen in der Diktatur darstellt. Die Sprachlosigkeit von Nena Fatima verleitet auch zu Assoziationen mit einer anderen Figur des Opfers der Balkankriege – Abel Nema aus Ter8zia Moras Roman Alle Tage.25 Sprache und Sprachlosigkeit korrespondieren also mit der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erfassens von Traumata und Schrecken. Beim Kriegsbeginn lähmen Angst und Stille alles, was der IchErzähler bis dahin kennt: »Die Stille fletscht die Zähne. Alles zur unaussprechlichen Stille geworden.« (107) Charlton Payne betrachtet die Versprachlichung der Figur der Stille in Stanisˇic´s Roman im Kontext von Foucaults Schrift Archäologie des Wissens als eine Verbindung zu dem Unaussprechlichen innerhalb des Archivs und stellt fest: »Verbalized silence […] is presented by Stanisˇic´’s text as a literary strategy of bearing witness to something which cannot be said, which is unsayble, but which must be attested.«26 Nach Payne kann die Stille, die »die Zähne fletscht«, verschiedene Konnotationen haben: Gewalt, Verantwortung, den biopolitischen Imperativ zu überleben im Sinne von Giorgio Agamben. Gleichzeitig kann diese Stille bei ihrer Verwandlung in hörbare Rede einen therapeutischen Effekt auf Aleksandar ausüben.27 Als die ersten Bomben einschlagen, verändert sich schlagartig auch die Art und Weise des Erzählens im Roman. Die topografischen Konkretisierungen, die im ersten Teil des Romans dem Erinnerungsprozess inhärent sind, verschwinden abrupt. Der Ich-Erzähler, der vor Kriegsausbruch in seiner geliebten Stadt Visˇegrad, im Dorf seiner Großeltern Veletovo und an seinem geliebten Fluss Drina fest verortet ist, verliert mit dem Verlust der Verwurzelung auch sein Zugehörigkeitsgefühl zu einer topografisch markierten Gemeinschaft und kann nicht begreifen welche Partei die falsche und welche die richtige im Krieg ist. »Alle fieberten mit unseren Truppen und den Stellungen unserer Truppen, ob25 Vgl. dazu den Beitrag von Ren8 Kegelmann in diesem Band. 26 Diana Hitzke / Charlton Payne, »Verbalizing Silence and Sorting Garbage: Archiving Experiences of Displacement in Recent Post-Yugoslav Fictions of Migration by Sasˇa Stanisˇic´ and Adriana Altaras«, in Archive and Memory in German Literature and Visual Culture, hrsg. von Dora Osborne, Rochester / New York 2015, 195–212, hier S. 197. 27 Ebd., S. 202.
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wohl niemand genau wusste, wer das war, diese unsere Truppen, und was das für wichtige Stellungen waren, die aufgegeben werden mussten.« (107) Von nun an ist er Flüchtling und erleidet alle Bedrängnisse des Flüchtlingsschicksals. Stanisˇic´ schildert scharfsinnig die mühsame Bewegung im Exterritorialen der Menschen auf der Flucht, den Verlust ihrer Identität und die Ausgrenzung, die sie ständig begleitet. Von nun an sind sie nirgendwo willkommen und nirgendwo zu Hause. Eine der großen Leistungen des Romans besteht darin, dass er brisante ethische und politische Fragen stellt, sich aber jeder politischen Vereinnahmung entzieht. Mit den Balkankriegen haben sich viele Autoren beschäftigt, doch kaum einem ist es gelungen, dem Thema beizukommen, ohne direkt eine politische Stellungnahme zu beziehen und diese Problematik nur auf dem Feld des Literarischen auszuhandeln. Boris Previsˇic´ bringt es auf den Punkt: Zusammenfassend zu den deutschen und österreichischen Autoren muss der eigentümliche Befund festgehalten werden, dass selbst großes literarisches Potential dem Themenkomplex Balkankrieg nicht beikommt. Meist kollidiert die poetologische Absicht mit einer politisch gegenläufigen Konzeption, welche sowohl im Falle Handkes wie auch im Falle Gstreins im Feuilleton ausgeschlachtet wurde und immer noch wird […] Aber letztlich löst genau diese Literatur die interkulturell so notwendige Vermittlungsaufgabe, endlich festgefahrene Stereotypen über den Balkan aufzulösen, nicht.28
Stanisˇic´s Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert ist ein Beispiel dafür, wie sich Literatur den politischen und marktmedialen Vereinnahmungen widersetzen kann. Der Blick des Kindes registriert unvermittelt und ohne politische oder moralische Wertungen den Alltag der einfachen Menschen und die ersten Reaktionen auf den Krieg und wehrt sich gegen jeden politischen Missbrauch. Einfühlsam und lakonisch, durch den geschickten Umgang mit der Sprache, schildert Stanisˇic´ das Ausgeliefertsein und die Desorientierung der zukünftigen Flüchtlinge, die am Anfang glauben, dass der Krieg sie nicht einholen wird. In knappen Details werden Mechanismen der Verdrängung und der psychologischen Abwehr widergespiegelt: Am Anfang des Krieges glauben die Eltern von Aleksandar, dass Osijek in Kroatien brennt, dass aber diese Stadt weit weg ist. Im Laufe des Krieges, als die ganze Familie auf der Flucht ist, versuchen die Eltern, das Böse über Osijek zu verschweigen, »als würde die Angst kleiner werden, wenn man über sie nicht spricht« (200). Als Aleksandar zum Angelwettbewerb nach Osijek fahren soll, heißt es: »Osijek ist nämlich ein Problem, niemand kann mich hinfahren, da niemand ahnen konnte, dass ich gewinne […] Sagt meine Mutter. Sie sagt nicht: weil in Kroatien geschossen wird. Sie sagt nicht: weil in Osijek ein Panzer ein rotes Auto zermalmt hat.« (201) Indem man 28 Previsˇic´, »Poetik der Marginalität«, S. 199.
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das Unsagbare ausspricht, wirkt es noch böser. Daher versucht man ständig, die Wahrheit vor Aleksandar zu verschweigen. Der Flüchtling ist ein nicht willkommener Gast, der immer auf sein Sprechen achten muss. Sogar in Belgrad, wo die muslimische Mutter ihre Herkunft verschweigt und die Familie für serbisch gehalten wird, fällt die Flüchtlingsfamilie der Nachbarschaft zur Last. Die Nachbarn sehen Unbekannte und Fremde nicht gern. Auch unter den Serben gibt es keine Solidarität zu den Geflüchteten. So wird der Krieg aus einer anderen Perspektive entlarvt: Die unwürdige Behandlung der Flüchtlinge wird zur ständigen Charakteristik des Flüchtlingsdaseins. Visum, Papiere, Dursuchungen von Autos und Gepäck – das ist der Alltag, der Aleksandar begleitet. Durch Zusammenraffungen von Fragen und Antworten und durch ein raffiniertes Sprachspiel fasst er das Leben am Rande der Gesellschaft zusammen, jenseits von Grenzen und nationaler Zugehörigkeit: »Wenn man mich fragt, woher ich komme, sage ich, das sei eine schwierige Frage, weil ich aus einem Land komme, das es dort, wo ich gelebt habe, nicht mehr gibt.« (139) Diese Tatsache wird emotionslos mitgeteilt und wird von keinem Gefühl des Heimatverlustes begleitet, wie man es häufig in der Migrationsliteratur antrifft. Der Eindruck wird verstärkt durch weitere nüchterne Überlegungen Aleksandars, der die Schwierigkeiten des Flüchtlingsdaseins der aus Ex-Jugoslawien Vertriebenen registriert, dies aber als ein Teil des gesamten Weltgeschehens betrachtet und nicht als einen Zustand, der nur die bosnischen Flüchtlinge betrifft. Kleine, vielsagende Details, verstreut im ganzen Text, verstärken das Gefühl der Ausgrenzung und des Ausgeliefertseins: Obwohl die Mutter hochgebildet ist und Deutsch lernt, findet sie nach siebzig Bewerbungen nur eine Arbeit als Wäscherin. Bei der letzten Bewerbung verschweigt sie ihre bosnische Herkunft und wird als Kassiererin eingestellt. In Essen, wohin die bosnische Familie geflüchtet ist, geht Aleksandar wieder zur Schule und lernt dort Flüchtlingskinder aus anderen Ländern kennen. Und von seinem Freund Zoran, der in Visˇegrad geblieben ist, erfährt Aleksandar, dass die Stadt »voller serbischer Flüchtlinge ist. Sie wohnen in der Schule oder haben sich einfach die leeren Wohnungen von den vertriebenen Bosniaken genommen. Und die sind vielleicht jetzt in den serbischen Wohnungen. Am Ende wird niemand dort sein, wo er vorher war.« (143) Anders als in vielen Texten der Migrationsliteratur, in denen es um Verwurzelung und Entwurzelung und um Topografien der Erinnerung geht, wird in Stanisˇic´s Roman durch den Kinderblick ein momentaner Zustand registriert, in dem es nicht um den Verlust von Orten, sondern von Menschen geht. Nach dem Krieg haben die Flüchtlinge die größte Angst davor, wieder nach Bosnien zurückgeschickt zu werden, wo sie keine Freunde und Verwandten mehr haben, weil die meisten tot oder vertrieben sind:
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Freiwillige Rückkehr nennt sich das. Ich finde, etwas Verordnetes kann nicht freiwillig sein und eine Rückkehr keine Rückkehr, wenn es sich um einen Ort handelt, dem die Hälfte der ehemaligen Bewohner fehlt. Das ist ein neuer Ort, dahin kehrt man nicht zurück, da fährt man zum ersten Mal hin. (151)
Durch Sprachspiel, Witz und Humor gelingt es dem Ich-Erzähler, den bitteren Erfahrungen und dem Leben an der Grenze zwischen den Sprachen und Kulturen beizukommen. Ohne Schmerz vermerkt er, dass ihm zum ersten Mal ein Wort in Bosnisch nicht einfällt, das Wort für »Birke«. Gleichzeitig beginnt er sich in Deutschland einzuleben und heimisch zu fühlen: »Gestern spielte ich StadtLand-Fluss mit Philipp, Sebastian und Susanne und wurde mit Duisburg, Drina, ›Drachenmaul‹, Dragan, Deutschlehrer, Dalmatiner nicht Letzter.« (140) Das Ankommen in der deutschen Sprache ist ein Signal für das Ankommen im anderen Land. Und wieder ist es die Sprache und die Verarbeitung durch Sprache, die dem Flüchtling hilft, die traumatischen Erlebnisse zu überwinden. Das Besondere an diesem working through des Protagonisten ist die Tatsache, dass die Aufarbeitung des Traumas mit Hilfe einer fremden Sprache erfolgt. Indem Aleksandar die deutsche Sprache lernt und »sammelt«, versucht er auch, die schmerzliche Erfahrung zu artikulieren. In der deutschen Sprache fällt ihm das leichter, weil durch die fremde Sprache eine Distanz zum Erlebten entsteht: »Ich sammle die deutsche Sprache. Sammeln wiegt die schweren Antworten und die schweren Gedanken auf, die ich habe, wenn ich an Visˇegrad denke, und die ich ohne Opa Slavko in der Nähe nicht aussprechen kann.« (140) Das »Sammeln« der deutschen Sprache markiert einen anderen wichtigen Prozess, die Veränderung des Status des Erzählers von einem Flüchtling zu einem Emigranten, der nicht mehr im Transitorischen lebt, sondern sich in einer Einwanderungsgesellschaft einzuleben beginnt. Dass er »nicht Letzter« bei einem alltäglichen beliebten Schülerspiel wird, spricht auch für ein gewachsenes Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Aus dieser Perspektive der beginnenden Integration kann Aleksandar das Leben seiner Eltern klarer beurteilen, die ein zweites Mal, nämlich in die USA, auswandern sollten, um nicht nach Bosnien abgeschoben zu werden. Nüchtern und sachlich berichtet der Protagonist über das gesetzliche Verfahren, durch das die Familie getrennt wird: die Eltern müssen Deutschland verlassen, der Sohn darf bleiben, bis er das Abitur macht. Die Existenz der Eltern als Flüchtlinge in den USA wird lapidar und scheinbar emotionslos dargestellt, enthüllt aber vielsagende Details über das Leben im Transit: Sie besuchen abends andere Bosnier, erzählen sich Geschichten aus dem früheren Leben in Bosnien, essen »mothermade cevapcˇic´i« und vermissen das Zirpen der bosnischen Grillen. (153) Bei großen gesellschaftlichen Narrativen über Krieg, Vertreibung und politische Umbrüche ist die narrative Substanz oft politisch oder ideologisch be-
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einflusst. Hier jedoch entzieht sich der Erzähler direkten Urteilen und verzichtet auf eindeutige Stellungnahmen, wodurch der Leser aufgefordert wird, sich ein eigenes Bild zu machen. Im ersten Teil des Romans werden durch die scheinbare Unwissenheit des Kindes wichtige Details in den Vordergrund gerückt. In einem auf der Flucht aus Belgrad geschriebenem Brief berichtet der Erzähler : »Visˇegrad kam gleich im Fernsehen, hier sind diejenigen die Aggressoren, die in unserem Fernsehen die Verteidiger waren, und die Stadt ist nicht gefallen, sondern befreit worden.« (132) Das ist eine entlarvende Aussage über die manipulative Kriegsberichtserstattung, die ohne Kommentar viel überzeugender wirkt. So verwandelt sich die Erzählung von Aleksandar Krsmanovisˇ in eine im Sinne von LaCapra scheinbar unentschiedene, doch widerspenstige Instanz, die sich politischen Vereinnahmungen entzieht und den Machtdiskursen trotzt. Die Suche nach dem »Wahren«, nach der einen Wahrheit, bleibt erfolglos. Umso subtiler wird die Kriegsschuldfrage im Roman gestellt: Durch die geschickte Vermischung von Benennen und Verschweigen, durch die feinfühlige Schilderung von Rechtfertigung und Reue wird die Frage der Schuld in ihrer Kompliziertheit dargestellt, indem Sprache und sprachliches Können auf Probleme aufmerksam machen, über die jedoch keine endgültigen Wahrheiten ausgesprochen werden: Weil der scheiß Schnee nichts, nichts, nichts verdeckt, wir aber unsere Augen so gekonnt verdecken, als hätten wir nur das gelernt in all den Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit. Ich hasse es, dass alle alles verurteilen, dass alle auch im Hass die Guten sind, dass ich der Gute bin. (145)
Versprachlicht wird auch der tiefe Riss in der bosnischen Gesellschaft, der nicht nur Ethnien und Religionen, sondern auch Familien trennt. Die Aussage dazu fällt wiederum kein direktes Urteil, durch die sehr konkrete und gleichzeitig allegorische Dimension wirkt sie aber sowohl auf einer politischen als auch auf einer moralischen Ebene. Am Grab des verstorbenen Großvaters Slavko sagt Onkel Miki, der in der serbischen Armee war : »Es gibt nichts, worauf wir gemeinsam stolz sein würden, Vater, und an nichts sind wir zusammen schuld, als wir das alles sagen, kann niemand mehr wissen, wer gerade wie heftig weint.« (310) Die Schuld wird durch diese bittere Aussage weder verharmlost noch aufgehoben. Doch Stanisˇic´ stellt keine einfachen Fragen und erwartet keine eindeutigen Antworten. Historische, kulturelle, politische Probleme werden in ihren komplizierten Verflechtungen und Zusammenhängen angedeutet. Für die Verwüstungen des Krieges sind vergangenes und gegenwärtiges Handeln in gleichem Maße verantwortlich. Diese komplizierte Verstrickung wird durch eine kurze Aussage meisterhaft versprachlicht: »einmal hat er [Opa Slavko] prophezeit, es kann nicht gut ausgehen, dass wir alle Ideale haben, aber keine Alternativen zu den Idealen…« (306)
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Auf der Suche nach der »Wahrheit« wagt Stanisˇic´ das, wofür Peter Handke heftig kritisiert wurde: auch das serbische Leid darzustellen, ohne eine einseitige Position zu beziehen. Neben den vielen Szenen der Grausamkeiten gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Bosnien wird auch das tragische Schicksal der serbischen Opfer dargestellt, die mitten in die Kriegshandlungen geraten. Der Serbe Radovan Bunda berichtet von der Ermordung aller serbischen Bewohner in seinem Heimatdorf: Einen sichereren Ort als sein altes Dorf habe er sich nicht vorstellen können […] sagt er : mein Dorf war aber kein Dorf mehr, weil für Dörfer brauchst du Menschen. Ich bin von Tür zu Tür gegangen, alle Schlösser waren aufgebrochen, und in den Schlafzimmern schliefen sie nicht, in den Schlafzimmern lagen sie tot. In Betten, auf roten Kissen. Alle Serben, und wir waren, bis auf ein Haus, alle Serben. Es war das Haus vom guten Mehmed, ich habe geklopft, er hat aufgemacht, er hat gesagt: mein Radovan. Er hat mir seine Hände gezeigt und mich wie einen Bruder umarmt. (272)
Die mittlere Stimme im Roman entsteht durch die diskursive Vielfalt des Sprechens über den Krieg: Opfer und Täter kommen gleichzeitig zur Sprache, die Tragödie der Toten und der Vertriebenen, der Mangel an Schuldgefühlen der Täter finden eine angemessene ästhetische Repräsentation – sie werden aus verschiedenen Perspektiven dargestellt, die sich ständig ergänzen, widersprechen oder verschieben. Der zweite Teil des Romans betont explizit die obsessive Suche nach dem Wahren. Alles wird noch einmal erzählt, doch diesmal aus der Perspektive des zehn Jahre älteren Aleksandar, der 2002 nach Bosnien zurückkommt, um seine Erinnerungen zu verifizieren und zu vervollständigen. Zehn Jahre nach dem Krieg durchwühlt der erwachsene Erzähler verschiedene »Suchmaschineneinträge« und findet knappe, fragmentarisch durchmischte Textpartien, die nicht nur durch ihre Semantik auf politische und moralische Fragen aufmerksam machen, sondern auch durch die grafische Gestaltung des Textes auf die Kompliziertheit der bosnischen Thematik und auf ihren breiteren europäischen Kontext hinweisen: > Visˇegrad genozid handke scham verantwortung < > opfer unschuldig bombardement belgrad < > milosˇevic´ internationales versagen interessen < (215)
Die Unentschiedenheit der Stimme von Aleksandar (»undecidability«29) kontrastiert auffällig mit der klaren Stimme von Zoran, der kühlen, sicheren, besserwissenden, realistischen Instanz im Roman. Auch diese literarische Figur wird durch Sprechen und Schweigen charakterisiert: »Es ist nicht schwer mit Zoran zu schweigen, denn es ist nicht leicht, mit ihm zu reden.« (58) Umso 29 La Capra, Writing History, Writing Trauma, S. 20.
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auffälliger sind Zorans »Redeausbrüche« im Telefongespräch mit Alexander, der ihn mitten im Krieg aus Deutschland anruft. In diesem Gespräch reagiert Zoran einerseits unerwartet emotional, andererseits erzählt er wie ein Chronist von Kriegsverbrechen und Kriegsverbrechern: Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab. […] ich hasse Lastwagen voller Mädchen und Frauen, die zum Vilina Vlas und zum Bikavac fahren, ich hasse brennende Häuser und brennende Fenster, durch die brennende Menschen vor die Gewehre springen. (145)
Auch nach dem Krieg ist das Schweigen von Zoran ein Zeichen für kritisches Beobachten und Urteilen und für unterdrücke Gefühle von Schuld, Scham und Empörung: »Mit Zoran zu schweigen, war nie wirklich unangenehm, es war eher ein Gefühl, dass ich nichts zu erzählen wusste, das ihm Worte entlocken konnte« (277) Während der unschlüssige, um die Wahrheit bemühte Aleksandar versucht, seine »Erinnerung mit dem Jetzt zu vergleichen« (ebd. S. 277), greift der Jugendfreund Zoran wütend in das Erzählen ein: »Ich erzähl dir mal was für den ˇ ika Sead folgt, der Vergleich!« (ebd.) Worauf der auffällig kurze Bericht über C ˇ aufgespießt wurde, und über Cika Hasan, der zweiundachtzig Leichen auf Befehl in die Drina werfen musste und danach selbst in die Fluten sprang. Diese Multiperspektivität der verschiedenen Berichte macht Aleksandars Unterfangen, das Richtige zu schreiben, noch schwieriger. Umso überzeugender nimmt sich sein Versuch aus, das Vergangene mit der Gegenwart zu vergleichen. Hier wird die Brisanz von Droysens These, Geschichte sei das, was »durch unsere gegenwärtige Rede vom Vergangenen hervorgebracht ist«30, besonders deutlich: Der unermüdliche Erzähler und Geschichtensammler Aleksandar schwankt zwischen der eigenen und den fremden Erinnerungen und stellt fest, dass es genauso schwer ist, die Balance zwischen der früheren eigenen Erinnerung und der eigenen Rekonstruktion der Vergangenheit zu finden. Diese Unsicherheit manifestiert sich in der Ambivalenz der Feststellung: »Man müsste […] einen ehrlichen Hobel erfinden, der von den Geschichten die Lüge abraspeln kann und von den Erinnerungen den Trug. Ich bin ein Spänesammler.« (266) Die unfertigen Bilder, die der Erzähler früher hinter dem Schrank seiner Großmutter versteckt hat und die er nach zehn Jahren nachzuzeichnen versucht, verwandeln sich in eine lebendige Metapher der Wahrheitssuche und der Wahrheitsfindung, durch die das Verhältnis von Literatur und historischer Recherche weiter radikalisiert wird. Durch das Flüchtlingsschicksal, durch das Leben im Transit ist die Figur des Erzählers selbst zwiespältig und voller Zweifel und Unsicherheit, in seinen Gedanken pendelt Aleksandar ständig zwischen Bosnien und Deutschland: 30 Weinberg, »Trauma-Geschichte«, S. 179.
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Es kommt mir vor, als wäre ein Aleksandar in Visˇegrad und in Veletovo und an der Drina geblieben, und ein anderer Aleksandar lebt in Essen […]. In Visˇegrad, bei seinen unfertigen Bildern, gibt es einen angefangenen und nicht zu Ende gebrachten Aleksandar. Nicht ich bin mehr Chefgenosse des Unfertigen, das Unfertige ist mein Chefgenosse. (140)
Am Ende des Romans ergibt sich noch einmal die Frage nach der Wirksamkeit der Sprache als Medium der Aufarbeitung. Nach all den Recherchen und Rekonstruktionen vermisst der Protagonist nicht nur die faktischen, sondern die moralischen, die menschlichen Wahrheiten, die nach dem Grauen des Krieges die Menschen dazu bringen, wieder miteinander leben zu können: »solche Wahrheiten, in denen wir nicht mehr Zuhörer oder Erzähler sind, sondern Zugeber und Vergeber.« (311) Die Kriegsschuldfrage wird behutsam angedeutet, umso beeindruckender wird eine »Alternative« zum Zugeben und Vergeben im Alltag präsentiert: Kiko und Milan Jevric´ (Mikimaus genannt), vor zehn Jahren Soldaten in der bosniakischen und in der serbischen Armee und Fußballspieler in zwei feindlichen Mannschaften, sind 2002 gute Freunde und Kiko, selber Muslim, hat seinem Sohn einen serbischen Namen gegeben und ihn nach Milan genannt. Doch wenn Kiko und seine Frau Hanifa an die Vergangenheit denken, können sie immer noch keine passenden Worte für den erlebten Schrecken finden. Orte der Kriegshandlungen, die im Volksmund expressive, bedeutungsvolle Namen tragen, sind nach Hanifa nicht ins Deutsche zu übersetzen. Dem Roman ist sowieso eine besondere Mehrsprachigkeit inhärent, die durch fremdsprachige Begriffe und sprechende Namen, durch Verwandtschaftsbezeichnungen, die nicht übersetzt werden, durch Lehnübersetzungen aus dem Bosnischen und durch den häufigen Verzicht auf Erklärungen zustande kommt. Das spiegelt eine sprachliche Realität wider, die das Ergebnis von Mischungen und transkulturellen Verflechtungen ist. Die Mehrsprachigkeit verleiht dem Text auch eine politische Dimension: der bosnische Hintergrund bleibt auf diese Weise immer präsent, das Aufschreiben der bosnischen Flüchtlingsgeschichte in deutscher Sprache zeugt von einer gewissen Distanz des Erzählers zu den geschilderten Ereignissen, die die Bewältigung traumatischer Erfahrungen erleichtert. Ein Beispiel dafür ist das bosnische Lied von der schönen Zigeunerin Emina, gesungen als Antwort auf das Verbot, »türkischen Zigeunerdreck« zu spielen. Das Lied widersetzt sich einerseits den aggressiven Parolen der zukünftigen Kriegshetze, andererseits wirkt es auf einer ästhetischen Ebene durch seine besondere Form. Der bosnische Text wird im Original präsentiert und jede Strophe wird begleitet von einer poetischen Auslegung oder einer Übersetzung ins Deutsche, die dem Original nur bedingt entspricht und den Text in einen losen Zusammenhang mit den phantasievollen Vorstellungen des Erzählers bringt:
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… zamirisa kosa ko zumbuli plavi, a meni se krenu bururet u glavi … Eminas Hyazinthenhaar bringt meinen verliebten Ur-Opa völlig durcheinander… (50)31
Der Leser fragt sich, welcher der »wahre«, der richtige Text ist. Diese Verunsicherung führt dazu, dass die Wahrnehmung der zwei Sprachen nebeneinander als eine Gegebenheit empfunden wird, die zum Alltag gehört. Das Fehlen einer kompletten Übereinstimmung zwischen Original und Übersetzung deutet auf die »ungezügelte«, schon von Herrn Fazlagic´ angesprochene Fantasie des Erzählers hin. Das Nebeneinander der bosnischen und der deutschen Sprache veranschaulicht auch grafisch die Spuren der Vergangenheit, für die das Bosnische steht, die nie vergessen werden kann und zur Gegenwart gehört. Die Zweisprachigkeit unterwandert einerseits feste Zuschreibungen und macht Grenzen fließend und undicht. Andererseits wird durch den Umgang mit der Zweisprachigkeit die Teilung der Zeit in eine Episode vor und eine nach dem Bosnienkrieg reflektiert. Im ersten Teil des Romans, in dem idyllische Kindheitserinnerungen und Familienfeste geschildert werden, schleichen sich mehr bosnische Sprichwörter, Redewendungen und nicht übersetzte Textabschnitte ein als im zweiten Teil. Die Rekonstruktion der Erinnerung hängt eng mit der Wahrnehmung der eigenen Identität des Erzählers zusammen. Dieser Prozess wird auch durch die Sprachsuche, Sprachfindung und oft durch das Versagen der Sprache verlebendigt.32 Eine wichtige Rolle spielt die unterschiedliche Stilistik der zwei Romanteile: Im ersten Teil ist die Sprache emotionaler und spontaner, der zweite Teil repräsentiert das Erwachsenwerden des Protagonisten, daher ist die Sprache kühler und prosaischer, die Aussagen sind exakt und ausgeglichen, Unruhe und Unsicherheit kommen seltener vor. Der Erzähler kann selbstständig und souverän über die Vergangenheit und über das Jetzt berichten. Das hängt auch damit zusammen, dass er nicht mehr auf der Flucht ist, sondern die Ereignisse aus dem zeitlichen Abstand und aus der Perspektive des Emigranten bewertet.33 31 So heißt es im Original »das Haar riecht nach Hyazinthen und bringt meinen Kopf durcheinander«, daraus macht der Erzähler »und bringt meinen verliebten Ur-Opa völlig durcheinander«. 32 Die Arbeit an der eigenen Identität wird repräsentiert durch feine Details wie die Arbeit an der Konstruktion des eigenen Namens: In der bosnischen Variante heißt der Protagonist »Aleksandar«, bei der Ankunft in Deutschland ist er vom Buchstaben »ß« fasziniert und möchte »Alekßandar« heißen. Später stellt er sich vor, dass sein Name zu »Alexander« eingedeutscht wird. 33 S. dazu den Aufsatz von Charlton Payne »How the Exiled Writer Makes Refugee Stories Legible: Sasˇa Stanisˇic´’s Wie der Soldat das Grammofon repariert«, in Gegenwartsliteratur, Jg. 13 (2014), 321–339. Payne untersucht das Spiel mit den Erzählkonventionen im Roman und stellt fest, dass die Erzählung des Geflüchteten oft an die Grenzen des Sagbaren gerät und
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Obwohl der Protagonist eine neue Heimat gefunden hat und die Kriegserlebnisse immer wieder zu verarbeiten versucht, kann das Trauma nie endgültig überwunden und versprachlicht werden. Dem Erzähler ist es vollkommen bewusst, dass »wahr« und »richtig«, Sprache und Referenz nicht identisch sein können. Eine gute Geschichte muss etwas haben, was sich nicht nur auf Tatsachen bezieht und was nicht nur durch Sprache erfasst werden kann: »Mir fehlt alles, um meine Geschichte als einer von uns zu erzählen: Drinas Mut fehlt mir, die Stimme des Falken, das felsenharte Rückgrat unserer Berge, Walross’ Unbeirrbarkeit und der Enthusiasmus des ehrlich Vermissenden.« (311) Dieser Textabschnitt deutet auch auf die Fiktionalität des Textes hin und weist ihn als ein literarisches Konstrukt aus: Die Literatur ist immer etwas mehr als Faktizität und Wirklichkeitstreue. Der Erzähler kann den Schlüsselsatz aussprechen: »Unser Versprechen, immer weiterzuerzählen, breche ich jetzt.« (ebd.) Dadurch wird auch sein Misstrauen gegenüber der Sprache geäußert: Am Ende des Romans wird das Erzählen von Geschichten und das Fließen der Wörter vom Fluss übernommen. So wird dadurch auch das Problem der Autorschaft inszeniert: wer kann und darf etwas erzählen, was darf gesagt oder nicht gesagt werden, ein Thema, das den ganzen Roman durchzieht. Die Kontinuität der Erinnerung überlässt Aleksandar der geliebten Drina, dem Fluss, der mit zwei Millionen Stimmen rauscht, in dessen Nähe sich der Protagonist immer aufgehoben und beschützt fühlt und der jahrhundertelang der stumme Zeuge von Leid und Gewalt war. Der Bezug zu Ivo Andric´ ist nicht zu übersehen, die Drina verwandelt sich in eine Metapher der Erinnerung und in ein Symbol der Verortung, etwas, das der Erzähler ständig vermissen wird. Durch die magisch-poetische Gestalt dieses Flusses, die den ganzen Roman beherrscht, werden Hoffnung und Glauben an die Kontinuität des Lebens suggeriert, gleichzeitig wird auch die Kontinuität der Erinnerung gesichert. Aleksandar wird die Drina ewig vermissen, doch jetzt denkt er daran, auch an der Ruhr angeln zu gehen. Die Stadt Essen und die Ruhr sind die neuen Orte der Verwurzelung des Protagonisten und seine Geschichte ist nicht nur eine bosnisch-jugoslawische, sondern auch eine europäische. So meistert Stanisˇic´ literarisch den Übergang zwischen Räumen und Sprachen und zeigt wie sich Literatur in die großen gesellschaftlichen Narrative einschreiben und ein unbestechlicher Zeitzeuge sein kann.
die Stimmen von anderen Flüchtlingen gar nicht gehört werden. Erst das Erzählen aus der Perspektive des Emigranten macht diese Stimmen hörbar und ihre Geschichten lesbar.
Martin Sablotny
Einsatz des Lebens. Spielmetaphorik im Erzählen von der Flucht bei Ilija Trojanow und Michael Köhlmeier
Flüchtlinge, Spieler und Erzähler Massen von Vertriebenen bleibt aufgrund unmittelbarer Gefahr für das Leben kaum eine Handlungsoption außer der Flucht. In anderen Fällen stellt die Flucht hingegen einen souveränen Akt in einer ansonsten ohnmächtigen Situation dar. Ilija Trojanows Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (1996) und Michael Köhlmeiers Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013) behandeln die Kippfigur zwischen Selbstbestimmung und Ohnmacht als jene existenzielle Erfahrung, vom Subjekt zum Objekt lebenswichtiger Entscheidungen zu werden, welche bei Flüchtlingsfiguren besonders kontrastreich aufgezeigt werden kann. Die Entscheidung der Protagonisten zur Flucht ist mit enormen Risiken verbunden, die aber in Kauf genommen werden, um der Gefahr im Herkunftsland nicht länger passiv ausgesetzt zu sein.1 Der hiermit verbundene Akt der Selbstbestimmung wird sofort wieder in Frage gestellt, wenn die Geflüchteten in einem Aufnahmesystem ankommen, das die Möglichkeiten individueller Entscheidungen extrem begrenzt.2 Durch das Erzählen von der Flucht, so meine These, kann Selbstbestimmtheit oder zumindest der Anschein derselben zurückerlangt werden. Das verdeutlicht in spezifischer Weise die in beiden Ro1 Zur Unterscheidung zwischen einer Gefahr, der man passiv ausgesetzt ist, und einem Risiko, welches aktiv eingegangen wird, welchem also eine Entscheidung zugrunde liegt, verwende ich die Risikodefinition Niklas Luhmanns. Wichtig für dessen Definition von Risiko ist auch die Entscheidung für die Übernahme von Verantwortung für dieses Risiko. Hier sind es die geflüchteten Protagonisten, deren Verantwortung für ihr eigenes Leben, in einem der beiden Texte auch das ihrer Familie, nunmehr ausschließlich bei ihnen selbst liegt. Vgl. Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin / New York 2003, S. 31–35. 2 Ich verwende den Begriff der Selbstbestimmung zum einen in seiner soziologischen Bedeutung, der »Unabhängigkeit des, bzw. der Einzelnen von jeder Art von Fremdbestimmung (z. B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt)«. (Deutsches Universalwörterbuch. 6. Auflage. Mannheim u. a. 2007, S. 1527) Wo ich den Begriff zum anderen in der Bedeutung einer Selbstverortung bzw. einer Definition von sich selbst verwende, werde ich dies entsprechend explizieren.
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manen verwendete Spielmetaphorik. Die Souveränität der Erzähler und Protagonisten besteht, obwohl sie ihre Lebensläufe als ungemein kontingent, gleichsam als großes Spiel beschreiben, wenigstens darin, Entscheidungen über die Einsätze zu treffen; bestenfalls sogar darin, die Regeln neu zu formulieren. Um die Dynamik von Erzählung und Spiel in den beiden Texten zu veranschaulichen, schließe ich an Koschorkes Ansätze einer allgemeinen Erzähltheorie an, in denen er die Verwandtschaft von ›homo narrans‹ und ›homo ludens‹ besonders betont. Erzählung und Spiel haben beide die Funktion, Bezüge zwischen dem Menschen und seiner Umwelt herzustellen, die dessen Weltsicht prägen.3 Dabei weist das Erzählen eine breite funktionale Spannweite auf. Einerseits dient es als Mittel zur Kontingenzbewältigung, zur Einbettung der Lebenswirklichkeit in einen begreifbaren Gesamtzusammenhang, andererseits zur Beschreibung von Kontingenz, also zur Dekonstruktion von Sinnbezügen und ›hegemonialen Sinnzwängen‹. Gerade wegen dieser Spannweite sieht Koschorke Erzählungen als ›Erzählspiele‹, die dem Menschen beim Beschreiben der ihn umgebenden Welt ebenso Regeln aufstellen wie Freiheiten eröffnen können.4 ›Homo narrans‹ und ›homo ludens‹ gehören umso mehr zusammen, fasst man das Spiel nicht, wie etwa Huizinga, ausschließlich als feierlich gerahmtes Außeralltägliches, als von einer »Sphäre materieller Nützlichkeit und Notwendigkeit« Getrenntes auf,5 sondern als spezifische Ausdrucksform vieler ›ernster‹ Handlungen. Die beiden hier analysierten Romane verhandeln Erzählungen von Flüchtlingen und ihrer Flucht als Befreiungsversuch von politischen, bürokratischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zwängen. Das Leben spielerisch zu sehen, oder dies innerhalb der Erzählung zumindest zu behaupten, ist dabei eine Perspektive, die die Protagonisten und Ich-Erzähler in den analysierten Romanen einnehmen, weil sie ihnen bei der Bewältigung von Kontingenz- und Ohnmachtserfahrungen hilft. Beide Texte nutzen ein bestimmtes Spiel als Leitmetapher, um das Potenzial des Erzählens für die Selbstbehauptung der Figuren herauszustellen. In Trojanows Die Welt ist groß und Rettung lauert überall wird die Geburt des Protagonisten mit einem Würfelspiel überblendet – die Würfel seines Lebens sind gefallen. Nimmt er die Würfel aber selbst in die Hand und erzählt eine neue Geschichte von sich, kann sich sein Schicksal immer wieder neu entscheiden. Durch persönlichen Willen, so die Behauptung des Romans, beeinflusst er dabei sogar das eigentlich völlig zufällige Würfelergebnis. Hier ist also eine magische Komponente im Spiel. In Köhlmeiers Die Abenteuer des Joel Spazierer ist hin3 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt (Main) 2012, S. 9–15. 4 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 11f. 5 Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 129.
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gegen das strategische Schachspiel zentral. Wird das Erzählspiel durch die Metapher des Schachspiels beschrieben, betont man die Notwendigkeit, sich beim Erzählen nicht vom Gegenüber lenken oder auf eine Identität festlegen zu lassen, um Kontrolle über die eigene Selbstinszenierung zu bewahren. Das Glückspiel als poetologische und selbstreflexive Metapher hingegen verweist eher auf erzählerische Versuche, Zufallsereignisse nachträglich als Eigenleistungen darzustellen.
Würfelspiele – von Zufall und Selbstwirksamkeit Zu Beginn von Trojanows Die Welt ist groß wird eine kleine bulgarische Stadt im Balkangebirge als »heimliche[] Hauptstadt der Spieler« geschildert, in der die Männer sich zu abendlichen Würfelspielen im zentralen Caf8 treffen. Bei der Schilderung des Würfelspiels wird das kleine Spiel der Männer zum Zeitvertreib (oder zur »Zeitverschwendung«, wie es eine der Ehefrauen der Spieler nennt)6 in ein ›großes‹ Spiel umgedeutet, das den Zeitlauf symbolisiert: Die Stadt, die »sich so in den Bergen versteckt hielt, […] dass selbst die Geographen von Sultanen, Zaren und Generalsekretären sie nicht auf ihren gierigen Karten verzeichnen« (TW 9), wird als exterritorialer und extemporaler Ort geschildert. Die spielenden Männer erscheinen in ironischer Weise als olympische Versammlung, die mit ihren Würfelwürfen weltliche Geschicke entscheidet. So wird auch der Protagonist Alexandar Luxow gleichzeitig mit den ersten Spielwürfen einer Partie nahe des Spielercaf8s in die Welt ›geworfen‹: Erstermann. Ersterwurf. Die eleganten Finger des Meisters […] ergreifen die zwei Werkzeuge der Zeit. Würfelzeit. […] Augenblicke rollen über das Brett, bleiben liegen, erste Entscheidungen, Schöpfungen und Erosionen, Positionen werden besetzt, wieder freigegeben, Mauern errichtet und zerstört. Und ständig ein Trommeln und Klacken, Tricken und Tracken Trommeln KlackenTrickenTracken. plötzlich ein grelles gehirnrindenscharfes Geräusch, ein Baby schreit seine Geburt heraus […] (TW 12)
Das Motiv des Würfelspiels (Backgammon) wird in dieser Eingangsszene eingeführt und dient fortan häufig zur Markierung von besonderen Kontingenzerfahrungen. Gleichzeitig erinnert die Spielerrunde, deren Spiel mit schicksalhaften Entscheidungen in Verbindung gebracht wird, eher an das Konzept von Providenz. Die Spielerrunde kann auch als Allegorie auf das Schicksal interpretiert werden, wobei die Zufallsbestimmtheit des Würfelspiels insbesondere 6 Ilija Trojanow, Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, München 1999, S. 10. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle TW auf diese Ausgabe.
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von einer Figur in dieser Runde wiederholt negiert wird. Es ist Bai Dan, der älteste unter den Männern, dem als besonderem ›Meister‹ (oder Trickser) seiner Kunst nachgesagt wird, er könne den Zufall beherrschen: Ein Dompteur des Zufalls, flüstern sie gelegentlich hinter meinem Rücken. Ein Magier, höre ich sie nicht selten sagen. Und sie übertreiben damit. Auch ich bin gegen die Überraschungen der Würfel nicht gänzlich gefeit, und staune über ihre Bestimmtheit und Bestimmung. (TW 18)
Jedenfalls symbolisiert das Würfelspiel die partielle Vorbestimmtheit des eigenen Lebens durch den Ort und die Zeit, an dem und in die man mit bestimmten persönlichen Voraussetzungen geboren wurde: SO WURDE ALEXANDAR LUXOW GEBOREN, und ich vermute, auch Sie. Aus einem Wurf heraus, in einen Wurf hinein. Und dann mußten Sie, so wie er, versuchen, das Beste daraus zu machen. In seinem Fall war der Wurf brauchbar, eine solide Eröffnung: schnelle Gehirnzellen langsame Beine weiße Haut schwarze Haare und ein Zuhause am Rande Europas, dort wo es endet, und doch noch nie begann. (TW 17)
Alexandars Würfel sind also gefallen. Doch immer wieder kann er seine Würfel, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Aus einer Reihe solcher Neueinsätze ist der Roman aufgebaut. Er entfaltet dabei eine Reflexion über die Schwierigkeit, sich trotz aller Kontingenz im Leben, welche die Wirkung eigenen Handelns unberechenbar machen, immer wieder zu neuem Handeln zu motivieren. In der Extremsituation der Flucht erscheint diese Kontingenz freilich besonders dramatisch, die Ungewissheit über die Folgen eigenen Handelns besonders groß. Mit dem von Bandura entwickelten psychologischen Begriff der Self-efficacy, der Selbstwirksamkeitserwartung, lässt sich die autosuggestive Kraft eines Glaubens an die Wirksamkeit selbstständiger Handlung beschreiben: Menschen ergreifen in aller Regel nur dann die Initiative, wenn sie mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass ihre Handlungen zu einem angestrebten Ergebnis führen. Dabei sind aber nicht in erster Linie objektive Ressourcen entscheidend, sondern vielmehr subjektive – manchmal intersubjektive – Erwartungen.7 Diese subjektiven Erwartungen werden zum Teil narrativ hergestellt: So erhöht sich die Selbstwirksamkeitserwartung eines Menschen, wenn er Zufallsereignisse im Nachhinein als Eigenleistungen behauptet und damit eine positiv-selbstwirksame Geschichte von sich erzählt. Umgekehrt verringert sich die Selbstwirksamkeitswahrnehmung, wenn man Eigenleistungen in seiner Biografie in Zufalls- oder Schicksalsereignisse umdeutet. Diese Geschichten sind äußerst wirkmächtig: Selbstwirksamkeitserwartung hat Einfluss auf die Motivation, Emotion und das Verhalten von Menschen gerade in schwierigen Situationen. 7 Albert Bandura: »Self-efficacy : Towards a unifying theory of behavioral change«, in Psychological Review, Jg. 84 (1977), S. 191–215.
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Und unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Selbstwirksamkeitserwartungen, wie es auch Trojanows Roman anhand der Figuren von Bai Dan und Alexander schildert. Banduras Theorie lässt sich kaum anschaulicher illustrieren, als durch die Figur Bai Dans, die schlichtweg behauptet, das Würfelspiel hänge vom Glück in keiner Weise ab, ausschließlich vom persönlichen Willen. Er ist ein begnadeter Spieler (und auch ein ›Lebenskünstler‹), weil er ein guter Erzähler ist, der die eigene Selbstwirksamkeit mit Ironie behauptet, gerade dort, wo sie objektiv besehen äußerst gering ist. Dies werde ich an einer eingehenden Analyse der Charaktere und des Erzählverlaufs zeigen. Im Folgenden seien jedoch zunächst Episoden genannt, in denen das Leben der Protagonisten eher durch Zufall oder Schicksal als durch bewusste Entscheidungen geprägt wird: Schon die Geschichte der Eltern von Alexandar wird auf ein Initialereignis rückgeführt, das man wahlweise als Fügung oder Zufall interpretieren kann. Der Vater Vasko barg die Mutter Tatjana (Jana), als diese beim Badeurlaub am Schwarzen Meer zu weit hinausgeschwommen war und nach dem entkräftenden Zurückschwimmen ans Ufer auf einer Sandbank bewusstlos liegenblieb. »Sie sollte es noch bereuen, ihre Augen geöffnet zu haben. Ein knappes Jahr später blieb ihr nichts anderes übrig, als Alexandar zur Welt zu bringen,« (TW 38) konstatiert der Erzähler nüchtern. Als Vasko und Tatjana mit Alexandar einige Jahre später über Jugoslawien nach Italien fliehen, widerfahren ihnen auf dem Weg eine Reihe unglaublicher Zufälle. Sie wagen den Grenzübertritt an einer Stelle, die, wie sich später erst herausstellt, eine der wenigen ist, an denen zu dieser Zeit noch eine Mauer steht – der Fluchthelfer hatte sie entgegen der Absprache an dieser Stelle abgesetzt. Sie haben dennoch Glück. Ein Grenzposten übersieht sie absichtlich. Alexandar wird von seinem Vater über die Mauer geworfen, er landet auf der anderen Seite weich auf einem gerade vorbeifahrenden Heuwagen aus der benachbarten italienischen Ortschaft und fährt mit ihm davon. Der Junge ist verschwunden. Sie laufen mit Mühe und vom Sprung über die Mauer verstauchtem Knöchel zum nächstgelegenen Ort, wo ihr Sohn bereits auf sie wartet und von den Einheimischen liebevoll aufgenommen wurde. Die Unterschiedlichkeit der Ankunft von Sohn und Eltern im neuen Land antizipiert bereits die unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich nach der Auswanderung für Alexandar und seine Eltern bieten. Alexandar wird gar nicht alle Chancen ergreifen können, die sich ihm bieten. In der ganzen Reihe von Zufällen, die der Familie widerfahren, ist der einzige selbstbestimmte Entscheidungsakt, der auch zum gewünschten Ergebnis führt, die Entscheidung zur Flucht. Sie wird allerdings von Vasko getroffen, Tatjana lässt sich überreden. Alle damit verbundenen kleineren Entscheidungen erweisen sich im Verlauf der Handlung als nichtig: So etwa die wochenlangen schwierigen Abwägungen des Fluchtgepäcks, das sie nach dem Grenzübertritt in Italien nicht wiedersehen, da der Fluchthelfer nicht an verabredeter Stelle auf-
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taucht. Auch wird der ausgehandelte Fluchtplan vom Fluchthelfer durchkreuzt, wodurch sie in gefährliche Situationen geraten. Erst bei der Ankunft in einem Flüchtlingslager, in das sie durch den Carabiniere des grenznahen Städtchens gebracht werden, begreift Vasko, dass ihn nach der Flucht genau das ereilen könnte, wogegen er sich eigentlich mit seiner Flucht entschieden hat. Die Erfahrung der vollständigen Aufgabe von Entscheidungsgewalt über sein Handeln hat er zuletzt während seiner Zeit im bulgarischen Militär erlebt. Nun fragt er sich, »ich habs doch geschafft. Wieso lande ich in einer Kaserne?« (TW 100) Wie er es in der Armee kennengelernt hatte, wird den Bewohnern des Lagers ihr Subjektstatus aberkannt. Geschildert wird dies etwa anhand der Art, wie die Daten der Familienmitglieder erfasst werden, ohne Rücksichtnahme auf persönliche Befindlichkeiten und ohne Erklärung über das Vorgehen. Sie mußten ihre Pässe abgeben. Jana fühlte sich nackt, […] auf dem Hocker Platz nehmen, Jana hatte nur kurz Zeit, sich eine Strähne von der Stirn zu streichen, da blitzte es schon, […] der Mann packte sie am Handgelenk […] er nahm ihren Daumen zwischen seine Finger, […] wälzte ihn in ein … Stempelkissen. Was macht er? Er schüttelt ihre Hand, locker werden, dann rollt er ihren Daumen über ein hellbraunes Kärtchen (TW 105f.)
Doch ein Teil der Aufnahmeprozedur lässt individuelle Einflussnahme auf das eigene Erscheinungsbild des Asylbewerbers zu: Die Schilderung der Fluchtgründe und die Erzählung des Fluchtverlaufs. Das Thema, welches den späteren auf Alexandar konzentrierten Teil des Romans dominiert, Erzählen als Chance zur Behauptung persönlicher Souveränität, ist hier bereits antizipiert, wobei die Protagonisten beim Erzählen keineswegs gänzlich frei sind. Heikel ist das Abwägen zwischen der Wahrheit, Angaben, die das Asylverfahren möglicherweise positiv beeinflussen und bestimmten Erwartungen, denen eine Geschichte seitens der aufnehmenden Beamten zu entsprechen hat. Bogdan, der für die Betreuung der Asylbewerber zuständig ist, erklärt: Gleich gibts ein paar Fragen. Werwiewowas. Aufgepaßt bei den politischen. Schön allgemein bleiben, ha, ganz unbestimmt, Genaueres wollen die eh nicht wissen. Nur müßt ihr daran denken, wenn ihr jetzt eine Geschichte auftischt, dann müsst ihr euch auch daran halten […] keine Abweichungen später, das mögen die gar nicht (TW 101f.)
Letztlich gibt es in den ersten beiden Kapiteln des Romans, die die Flucht und ihre Vorgeschichte sowie den Aufenthalt im Flüchtlingslager beschreiben, nur drei Entscheidungen, die die Protagonisten angesichts ihres prekären Subjektstatus’ überhaupt zu treffen im Stande sind: Erstens, aus Bulgarien zu fliehen, zweitens wie davon und von den Fluchtgründen zu berichten sei. Ihre dritte Entscheidung besteht darin, erneut zu fliehen, diesmal aus dem Flüchtlingslager. Sie wollen illegal nach Deutschland einreisen und dort erneut Asyl beantragen, da ihnen Italien keines gewähren wird und sie nur an sehr wenige Asylbewerber
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aufnehmende Staaten mit voraussichtlich sehr langen Wartefristen vermittelt werden können. Die Familie wird zu einem narrativen Spiel mit Identitätsentwürfen und Lebensgeschichten gezwungen, die ihnen im Zielland bessere Chancen auf Asyl einräumen sollen. Mit ihrer zweiten Flucht wagen sie gewissermaßen einen weiteren Wurf, um es in der Leitmetapher des Romans auszudrücken. Die Familie ist dabei erneut dem Zufall ausgeliefert, etwa, als sie von ihrem Fahrer nach Deutschland stehengelassen werden. Er fährt mit ihrem letzten Gepäck und ihrer Kleidung von der Caritas davon. Die Leitmetapher des Würfelspiels beschreibt also das wechselhafte Schicksal der Protagonisten. Sie verdeutlicht, dass diese die Würfel ihres Lebensglücks aktiv in die Hand nehmen und ein riskantes Spiel wagen, gleichzeitig dem Ergebnis ihres Wurfes ausgeliefert sind. Sie setzen ihr Leben und ihre letzte verbliebene Habe aufs Spiel – und gewinnen, denn die Familie wird schließlich in Deutschland eingebürgert und kann sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten. Später allerdings verliert Alexander seine beiden Eltern bei einem Autounfall. Er wird depressiv und auch körperlich krank. Im dritten Kapitel sucht Bai Dan ihn, der sich nun in Deutschland nur noch kurz Alex nennt, mit seinen Würfeln auf, um ihn auf Wunsch von dessen Großmutter Slatka, die den Jungen vor ihrem Tod noch einmal sehen will, in seine Heimat zurückzuholen. Mit dem Wiederauftauchen dieser Figur verändert sich die Funktion der Würfelspielmetapher. War Bai Dan zu Beginn des Romans eine Allegorie des Schicksals, tritt er nun als Protagonist in das Geschehen ein. Er verkörpert jetzt eine Figur, die vorführt, wie man die eigene Selbstwirksamkeitserwartung erhöht, indem man das Leben spielerisch betrachtet, es wie die Würfel eines Spiels, ›in die eigene Hand nimmt‹. Der Taufpate nimmt sich vor, Alex eine spielerisch-optimistische Haltung zum Leben nahezubringen. Den Ehrgeiz seines Taufsohns fordert er zuerst mit einer Partie Backgammon heraus. Dabei klärt er Alex, als dieser von Bai Dans anhaltendem ›Glück‹ frustriert ist, über seine Ansicht zum Würfelspiel als vermeintlich rein zufälligem Spiel auf: Dann erkläre mir doch bitte, wo beim Würfeln der Zufall liegt. Hast du nicht alles in der eigenen Hand. Hängt es nicht von dir ab, mit welcher Kraft du wirfst, in welchem Winkel zum Brett du losläßt, welche Zahlen am Anfang oben stehen. Das hat mit Zufall wenig gemein, stimmst du mir zu? (TW 226)
Und was für die Würfel gilt, so schlussfolgert er daraus die Aufforderung an seinen Schützling, gilt auch für das Leben: »Anstatt herumzujammern, solltest du dich etwas mehr mit diesem Spiel beschäftigen.« (TW 226) Bai Dans Argumentation mutet wie ein ›Erzählspiel‹ an, das seinem Würfelspiel folgt, wenn der Taufpate sagt, Glück stelle sich eben nicht zufällig ein, sondern sei das Ergebnis
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der spielerisch-erzählerischen Therapie, der der Junge unterzogen werden müsse. Tatsächlich entwickelt Alex mit der Zeit nicht nur neue Lust am Spiel, sondern auch Lust am Erzählen. Die beiden unternehmen eine Tour mit dem Tandem quer durch Europa und mit dem Dampfer einen ›Abstecher‹ nach New York, um einmal den verheißungsvollen Westen bereist zu haben, der Alex’ Eltern einst an- und aus der Heimat fortzog. Das notwendige Geld verdienen Sie unterwegs mit Glücksspielen und als Taschenspieler. Aus den Erzählungen, die die beiden unterwegs austauschen, erfährt der Leser erstmals von Alex’ Zeit nach der Ankunft seiner Familie in Deutschland und nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern. Diese Episoden werden im Erzählverlauf des Romans zuvor übersprungen, entsprechend der Verdrängung dieser Ereignisse durch Alex, denn er muss erst wieder lernen, von seiner eigenen Geschichte zu erzählen. Dieser Entwicklungsprozess ist gleichsam parallel gesetzt zu der Rückkehr in seine Geburtsstadt am Ende des Romans, seiner ›Heimkehr‹ und der Reintegration seiner Herkunft und Geschichte in den eigenen Identitätsentwurf: Großmutter Slatka hakt sich beim Wiedersehen mit ihrem Enkel bei ihm unter »und bestürmt ihn mit Fragen. Über die Flucht, das Lager, die Eltern, die Schulzeit, das Studium, über sein jetziges Leben. Und Alex kann endlich erzählen.« (TW 273) Was auf der Erzählebene über Alex’ Entwicklung zu einem guten Erzähler behauptet wird, illustriert auch die Textebene: Ein komplexes Spiel mit verschiedenen Erzählinstanzen, Zeitformen und narrativen Zeitstrukturen zeigt deutlich, dass der Roman eine Reflexion über das Erzählen ist. Die Variation von Erzählstruktur und Erzählperspektive in Trojanows Roman geht dabei einher mit der unterschiedlichen Art, in der die Familienmitglieder als Figuren oder Erzähler von ihrem Leben berichten. Sie unterstreicht den Kontrast zwischen Ohnmacht und Selbstwirksamkeitserwartung, die durch das Erzählen wieder gestärkt werden kann. Im ersten Teil des Romans erzählt ein auktorialer Erzähler im Präteritum die Vorgeschichte und Durchführung der Flucht bis zum Grenzübertritt nach Italien. Nur die vorausblendenden Einschübe des Ich-Erzählers Alex nach der Flucht und dem Tod seiner Eltern in Deutschland sind im Präsens verfasst. Die Erzählung über die Familie besteht aus Rückblicken in die Vergangenheit (Alexandars Kindheit, die Geschichte der Beziehung von Tatjana und Vasko) sowie, innerhalb der Figurenrede, aus Ausblicken in die Zukunft. Vasko breitet seiner Frau seine Vorstellungen von einem zukünftigen einfacheren und freieren Leben in Amerika aus, um sie für seine Fluchtpläne zu gewinnen. Im zweiten Teil des Romans wird, wieder von einem auktorialen Erzähler, sehr detailliert und in zahlreichen Alltagsepisoden das Leben im Aufnahmelager für Asylbewerber beschrieben – nun allerdings im Präsens.8 Im 8 Lediglich wenige im Präteritum gehaltene Binnenerzählungen unterbrechen den Haupter-
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Gegensatz zum ersten Teil wirkt der Zeithorizont im zweiten Teil des Romans dadurch eingeschränkt. Jana und Vasko haben ihre bulgarische Vergangenheit hinter sich gelassen. Ihre wenigen Erinnerungsstücke sind während der Flucht verloren gegangen. Ihre Zukunft erscheint immer perspektivloser, als die beiden erfahren, wie wenige Möglichkeiten sie haben, von Italien aus ein aufnahmebereites Asylland zu finden. In ähnlicher Weise handelt es sich bei den kurzen von Alex erzählten Abschnitten des ersten Romanteils um ausschließlich auf die Gegenwart bezogene Alltagsschilderungen, die verdeutlichen, wie sehr er seinen Selbstbezug verloren hat.9 Dass die Abschnitte als Vorblenden auf den lethargischen Alex in Deutschland im ersten Romanteil stehen, zeigt ihre starke Diskrepanz zum hoffnungsvollen Zukunftsblick seiner Eltern. Damit scheinen die Abschnitte ein Scheitern von Janas und Vaskos Lebensplänen vorauszudeuten. Die Wirksamkeit von Erzählung für den selbstbewussten Umgang mit der eigenen Biografie verdeutlichen also ex negativo gerade die Textteile, in denen den Protagonisten (tröstende) Perspektiven fehlen. Der erste Teil schildert die Motivation durch Zukunftsvisionen. Der letzte Teil erzählt davon, wie Alex zwischenzeitlich den Bezug zu seiner eigenen Geschichte verliert und ihn wiedergewinnt. Neben diesem Wechsel zwischen den Zeitformen stellt auch der Wechsel der Erzählperspektiven das Erzählen als Chance zur Selbstbestimmung heraus (sowohl im Sinne der Erlangung von Handlungsfreiheit als auch im Sinne der Selbstvergewisserung). Die überwiegend auktoriale Erzählperspektive im ersten und zweiten Teil des Romans betont den Blick auf die nichtselbstbestimmten, kontingenten Lebensentscheidungen der Protagonisten. Doch auch Alex’ IchErzählereinschübe stellen (noch) kein Erzählen im Dienste eines selbstbewussten Identitätsentwurfs dar. Es handelt sich bei Ihnen um Berichte vor allem seines Krankheitszustands und seines Alltags in Deutschland nach der Flucht und dem Tod seiner Eltern. Keinerlei persönliche Entwicklung findet noch in diesem Alltag statt. Alexanders Erzählungen sind entsprechend nicht besonders avanciert. Doch dies ändert sich: Im dritten Teil des Romans sprechen abwechseln die Ich-Erzähler Bai Dan und Alex. Dieser Teil handelt von Alex’ Leben in Deutschland, von seiner Rückkehr in die Heimat und davon, wie er wieder zählstrang: Es sind Fluchtgeschichten von Asylbewerbern, die ebenfalls im Lager untergebracht sind oder waren. Wenn in diesem Abschnitt des Romans von der Vergangenheit die Rede ist, geht es fast ausschließlich um die Flucht. Überlegungen über die Zukunft beschränken sich für Jana und Vasko auf die Frage, in welchem Land sie Asyl beantragen möchten. 9 Vgl. zu Alex’ Monologen als ›narrativen Identitätsprojekten‹, in denen allerdings Vergangenheit erfolgreich verdrängt wird: Ekaterina Klüh, Interkulturelle Identitäten im Spiegel der Migrantenliteratur. Kulturelle Metamorphosen bei Ilija Trojanow und Rumjana Zacharieva, Würzburg 2009, S. 162–165.
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lernt, von der Geschichte seiner Familie zu erzählen und Zukunftspläne zu entwickeln. Passenderweise ist dieser Abschnitt, im Gegensatz zu den Ich-Erzählereinschüben im ersten Teil des Romans, im Präteritum verfasst. Der Zeithorizont öffnet sich wieder. Zugleich nehmen die Erzählanteile Alex’ an Quantität und erzählerischer Komplexität kontinuierlich zu. An die Stelle monotoner Berichte von Einzelsituationen treten etwa geraffte Erzählungen längerer Zeitabschnitte mit Porträts von Figuren aus seiner Kindheit.10 Zusammengefasst ist also das Spiel eine Metapher für das Leben. Die Lust am Selbstbetrug des Spielers (er habe Einfluss auf ein rein zufallsbedingtes Spiel) verdeutlicht die Notwendigkeit einer gleichsam autosuggestiv positiv deutenden Selbsterzählung für ein gelingendes Leben, welche ein individuelles Selbstwirksamkeitsgefühl stärkt. Das Spiel ist insofern eine poetologische Metapher, als die Erzählinstanzen- und Zeitformenwechsel in Trojanows Roman wie immer neue Würfelwürfe einsetzen. Über diese Vielfältigkeit der Stimmen wird die autosuggestive Erzählstrategie der Erzähler Bai Dan und später Alex mit dezidiert poetischen Mitteln validiert. Denn im Gegensatz zu den rein präsentischen Erzählabschnitten – zumal wenn diese keine individuelle Erzählperspektive vorgeben – demonstrieren die Abschnitte der Ich-Erzähler im Präteritum die Möglichkeit eines selbstbestimmten Identitätsentwurfs, der durch die Entscheidung, wie von der eigenen Vergangenheit und Zukunft zu erzählen sei, möglich wird.
Schachspiele – von Erwartung und Selbstbestimmung Während Trojanows Roman die Bedeutung des Erzählens für die Selbstverortung des Erzählenden und seinen Umgang mit Kontingenzerfahrungen behandelt, ist der Bildungsweg des Protagonisten in Köhlmeiers Die Abenteuer des Joel Spazierer vor allem gekennzeichnet durch die Perfektionierung einer etwas anderen Spielart des Erzählens: Der absichtsvollen Lüge, die nicht etwa die Lust am Selbstbetrug zum Ziel hat, sondern die Täuschung anderer. Die strategischen Voraussetzungen der Lüge werden durch einen Vergleich mit dem Schachspiel beleuchtet, wodurch der Roman an eine lange erzählerische Tradition anknüpft. Karatsioras hat in einem literaturgeschichtlichen Abriss Schachmotive und -metaphern gesammelt. Das Spiel taucht in der Literatur zweifellos häufiger auf als das Würfelspiel. Die führende Analogie zwischen Schachspiel und Erzählen 10 Der Wechsel zwischen dem auktorialen und dem Ich-Erzähler macht es dabei erst möglich, seine Entwicklung in den Blick zu nehmen: Dadurch, dass Alex erst als Figur und später als Erzähler eingeführt wird, kann der Leser einen Teil seiner Geschichte aus der auktorialen Perspektive mit Alex’ erzählerischer Wiederaneignung seiner ihm selbst fremd gewordenen Herkunftsgeschichte abgleichen.
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betrifft die geistigen Voraussetzungen für das Gelingen von beidem: logisches Denken, kühle Berechnung, aber auch Fantasie.11 Außerdem weist die Struktur des Schachspiels Parallelen zu Textstrukturen auf. Es gibt eine Aufteilung von Spielphasen in Eröffnung, Mittel- und Endspiel, die unterschiedlichen Werte und Zugmöglichkeiten der verschiedenen Figuren. Auch Spielsituationen wie Matt, Patt, Rochade, Figurenopfer, Bauernumwandlung etc. sind auf Erzählungen übertragbare Strukturen.12 Nicht zuletzt ist die List ein wichtiger Aspekt des Schachspiels. Wer in der Lage ist, einen Schritt weiter zu denken und seinen Gegner zu täuschen, gewinnt. In einer Erzählung kann die List in einer Lüge bestehen. So kann ein Erzähler lügen, um seine Gegenüber zum eigenen Vorteil zu überlisten. Doch können Lügengeschichten in manchen Fällen auch ein subversives Potential entfalten und andere Lügen enthüllen. Der Spazierer, der von der Lebensgeschichte eines Lügners und Hochstaplers handelt, ist ein Spiegel der Zeitgeschichte, welcher »en passant die Ideologien des 20. Jahrhunderts (Stalinismus, Wirtschaftswunder-Kapitalismus, DDR-Sozialismus, Laissez-faire-Liberalismus) als phantasmatische, im Kern lügengestützte Ordnungen«13 entlarvt, wie in den einschlägigen Rezensionen betont wurde.14 Der Protagonist führt vor, wie Lügen sich in einen Zusammenhang menschlicher Erwartungen integrieren lassen. Von sich selbst sagt er, er »durchschaue die Wünsche der Menschen, vor allem jene, die sie vor sich selbst nicht zugeben.«15 Er ist mit zwei besonderen Fähigkeiten ausgestattet: Einer starken Auffassungsgabe für die Erwartungshaltung seiner Zuhörer und der ständigen Bereitschaft, sich mit immer neuen Identitätsentwürfen dieser Erwartungshaltung anzupassen. Seine biographische Flexibilität, sein Erfinden immer neuer Charaktere wird dabei begünstigt durch seine fehlende Moral. Er behauptet von sich: Ich verfolgte keine Pläne. […] Wem ich gefiel, dem gefiel ich, wem ich nicht gefiel, dem gefiel ich nicht. […] Ich hatte keine Überzeugungen. Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden; auch wenn ich eine Zeitlang glaubte, Moral gehöre zu unserer Grundausstattung. (KA 496)16 11 Nikolaos Karatsioras, Das Harte und das Amorphe. Das Schachspiel als Konstruktion- und Integrationsmodell literarischer Texte, Berlin 2011, S. 17f. Mit diesen zwei unterschiedlichen Anforderungen an das Spiel wurde im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auch in der Debatte um die Möglichkeit einer Mechanisierung menschlichen Denkens argumentiert. 12 Karatsioras, Das Harte, S. 20. 13 Rezension von Simon Zeisberg, in Simpliciana, Jg. 35 (2016), S. 490–492, hier S. 491. 14 Vgl. auch Michael Maar, »Der Schelm als Monster« in Die Zeit (31. 1. 2013). 15 Michael Köhlmeier, Die Abenteuer des Joel Spazierer, München 2013, S. 38. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle KA auf diese Ausgabe. 16 Joel übernimmt nur einmal Verantwortung für eine andere Person, als er die Tochter seines ersten Mordopfers zu beschützen versucht. Seine Taten, die sich aus diesem minimalen
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Der Protagonist selbst legt eine pathologische Begründung dieser seiner Geisteshaltung vor, ein Erlebnis in seiner Kindheit. Andr#s Fülöp, der sich erst später Joel Spazierer nennt, wird 1949 in Budapest in eine bildungsbürgerliche Familie geboren und wächst hauptsächlich bei seinen Großeltern auf. Als die von Stalins Regime betriebene Bekämpfung der angeblichen Ärzteverschwörung auf Ungarn überschlägt, wird Andr#s’ Großvater vom ungarischen Geheimdienst ]VH inhaftiert und gefoltert. Als später auch die Großmutter abgeholt wird, verbringt der Junge fünf Tage allein in deren Wohnung, bis seine Mutter ihn findet. Während dieser Tage erfährt er ein spezielles Ich- und Allmachtsgefühl, das im Verlauf der Erzählung immer wieder auftaucht, gleichermaßen als Sehnsuchtsmoment wie als Trauma. Die Gattungstradition des Schelmenromans, welcher sich der Spazierer zuordnen lässt, spricht ebenfalls für dieses Trauma als Ausgangspunkt seiner moralischen Indifferenz. Ein typischer Bestandteil des Schelmenromans ist nämlich das schockartige Initiationserlebnis, das dem Protagonisten die moralische Fragwürdigkeit und Bosheit seiner Mitmenschen offensichtlich werden lässt.17 Im Spazierer werden dem Kind in der Einsamkeit seine sonst familiär und sozial unterdrückten Instinkte gewahr, die ihm ohne die elterlichen Spiegelungen nicht als unmoralisch erscheinen können. Ohne Bezugspersonen, die das Verhalten kommentieren, ist das Kind frei von moralischen Konventionen und nicht etwa ›unschuldig‹ – ein Prädikat, welches ein Moralverständnis voraussetzt und diesem nicht vorgelagert ist. Des Weiteren lassen sich Spazierers besondere Fähigkeiten zur Lüge und zum Spiel mit Identitäten auf bestimmte Initiationsmomente zurückführen: Etwa ein Verhör durch zwei Mitglieder der ]VH einige Jahre später, nach dem Umbau des Geheimdienstes im Zuge der Entstalinisierung nach 1953. Andr#s wird über die fünf Tage, die er als Kind allein in der Wohnung verbracht hat, befragt. Die ]VH nutzt den Fall, belastendes Material zur Verurteilung ehemaliger Geheimdienstmitglieder zu sammeln. Andr#s erkennt, ohne die politischen Hintergründe verstehen zu können, die Motivation der Verhörenden, aus seinen Erklärungen eine für sie interessante Version des Vorgefallenen herausziehen zu können. In kindlicher Neugier erprobt er die Wirkung seiner Aussagen und erzählt den beiden, was sie hören wollen. Für ihn ist es ein Spiel: Irgendwelchen Leuten wollte sie heimzahlen. Aber sie wollte oder konnte sich nicht selbst eingestehen, dass dies ihr Motiv war. Also brauchte sie einen Grund, der ihren Hass rechtfertigte. […] Sie erzählte sich selbst, was sie hören wollte: dass in der Nacht Männer gekommen seien und dass diese Männer irgendwelche Sachen mit mir angemoralischen Anspruch ergeben, erweisen sich jedoch als nicht minder grausam. Letztlich zerstört er auch das Leben seiner Schutzbefohlenen. 17 Jürgen Jacobs, »Schelmenroman«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin / New York 2007, S. 371–374, hier S. 371.
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stellt hätten, abscheuliche Sachen, über die zu sprechen mir nicht möglich war. […] Ich habe nichts anderes gesagt als Ja und Nein. […] Ab und zu, wenn mir danach war, in ihren Augen das Entsetzen zu sehen, das sie in meinen Augen sehen wollten, sagte ich: Weiß nicht. (KA 41–43)
Nach der Flucht der Familie nach Österreich wird Andr#s noch einmal interviewt, an seiner Schule. Hier macht er die leidvolle Erfahrung, wie sich das Spiel mit den Erwartungen der Interviewer gegen ihn wendet, wenn er es nicht schafft, »die Genasweisten auf [s]eine Ziele hin zu lenken, also: sie zu beherrschen.« (KA 60) Durch Andr#s’ Lust, den Interviewern bei ihrer Suche nach einer Sensation Genüge zu tun, hat er sich in einer Erzählung verfangen, die aus seiner Familie Täter des kommunistischen Regimes macht, welche nach Österreich geflohen sind, um ihrer strafrechtlichen Verfolgung nach einem möglichen Regierungswechsel im Zuge der Ungarischen Revolution zu entgehen, nicht weil sie Opfer des Regimes waren. Diesen Fehler, sich beim Lügen von den Fragen seines Gegenübers in die Defensive drängen zu lassen, wird er im Laufe seines Lebens nicht mehr machen. Er perfektioniert die Technik, sein Gegenüber glauben zu lassen, er befände sich in der Offensive, während er doch nach Spazierers Interessen gelenkt wird. Andr#s erlebt früh, welche Chance die Flucht an einen anderen Ort, in ein anderes Land für die Möglichkeit einer neuen Identitätskonstruktion bietet. Er wird im Verlauf seines Lebens viele Grenzen überqueren, was stets mit einem neuen Erzählabschnitt im Roman sowie einer neuen Identität des Hochstaplerprotagonisten einhergeht. Zum ersten Mal geschieht dies bei der Flucht seiner Familie nach Österreich im Juni 1956. Im Oktober, nach der zunächst erfolgreichen Ungarischen Revolution, zweifelt die Familie an ihrer Entscheidung zur Flucht, nach dem Zurückschlagen der Revolution durch die Sowjetarmee im November nicht mehr. Allerdings wurde ihnen bewusst, dass sie ihre Flucht einige Monate zu früh unternommen haben, denn in Österreich, das wie alle westlichen Staaten den Volksaufstand politisch unterstützte, wurden im November 1959 Sonderregelungen für die Einreise ungarischer Flüchtlinge getroffen, die eine unbürokratische Ausstellung von Papieren ermöglichten. Die Familienmitglieder beschlossen daraufhin, ihre Flucht ein zweites Mal zu inszenieren, indem sie noch einmal kurz die Grenze nach Ungarn und wieder zurück überquerten. Dabei nutzten sie die Gelegenheit, sich in die sofort an der Grenze ausgestellten Papiere eingedeutschte Namen mit akademischen Titeln eintragen zu lassen, die sie nicht erworben hatten. Auf Andr#s’ Frage hin, warum sie das Risiko eingegangen sind, noch einmal die Grenzbrücke zu überqueren, die wenige Tage später gesprengt wurde, anstatt sich auf österreichischer Seite zu verstecken und am Morgen zum Grenzposten zu laufen, entgegnet sein Vater, dies wäre ihm und seiner Mutter als Betrug erschienen. Die Beobachtung, dass
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sich seine Eltern ihre Lügen nicht eingestehen wollen und daran verzweifeln, führt ihn zu einer Überzeugung: »Der Lügner muss zu sich selbst ehrlich sein, sonst geht er unter.« (KA 127)18 Viele Menschen braucht er nicht anzulügen, »sie tun es selbst – ihnen zuzustimmen genügt.« (ebd.) Fertigkeiten im Fälschen von Pässen und im Spielen einer falschen Identität erwirbt sich Andres, wie er sich nun nennt, als er in Wien auf György Hajjs trifft, den ]VH-Major, der in Ungarn seinen Großvater entführt hatte. Andres hilft Major Hajjs bei dessen Flucht von Österreich über Deutschland und Belgien in die USA, indem er sich als sein Sohn ausgibt und mit ihm gemeinsam nach Ostende reist. Sie fälschen sich gemeinsam einen Reisepass. Nur einmal meldet sich der Protagonist im Roman bei einem Grenzübertritt als Flüchtling und gibt damit Kontrolle über die Art der Erfassung seiner Identität ab, später reist er nur mit verschiedenen falschen Pässen. Er wird im Stande sein, zwischen verschiedenen Identitäten mit ihren unterschiedlich zu erzählenden Biografien mühelos zu wechseln. Von der am ausführlichsten erfundenen Biografie erzählt die Episode, als Spazierer sich bei seiner Einreise in die DDR mit dem bizarren Namen Ernst-Thälmann Koch als bislang unbekannter Enkel des Arbeiterführers Ernst Thälmann ausgibt. Er erzählt diese Biografie dutzende Male in Gesprächen, Interviews und einem Verhör durch die Staatssicherheit. Seine tatsächliche Biografie offenbart er nur dem Leser des Romans. Er stellt somit eine Art ›Lebensbeichte‹ dar, die er am Ende seines Lebens niederschreibt. Die Suggestion von Authentizität, die mit der Enthüllung der ›wahren‹ Figur Joel Spazierers einhergeht, mit der Schilderung intimster und verbrecherischster Episoden seines Lebens, wird allerdings ebenfalls gebrochen. Dazu dient ein souveränes Spiel mit Gattungskonventionen, Intertexten und einer fortlaufenden Reflexion über die Komposition des Romans. So ersetzt Spazierer etwa den geplanten Romananfang durch einen schlechten Witz, da seine Stammtischkumpane ihm zu einem lustigen Einstieg geraten hätten. Neben den Erwartungen dieser literarischen Laien entspricht er auch den Erwartungen seines Freundes, dem Schriftsteller Sebastian Lukasser, der ihm zu einer literarischen Anspielung rät, durch einen zweiten Einsatz mit einem Grimmelshausen-Zitat. »Er meint – spricht es aber nicht aus –, das würde mir das Debüt bei den Kritikern erleichtern.« (KA 7) In einem Bescheidenheitstopos erläutert also der Erzähler den Beginn als nicht gänzlich von ihm stammend. Dies dient aber nicht nur der Captatio benevolentiae, es verdeutlicht auch, dass Spazierer als Erzähler ebenso mit den Erwartungshaltungen der Rezipienten spielt, wie er als Figur seiner Erzählung stets die passende Art trifft, sich in unterschiedlichsten sozialen Kontexten zu verhalten und sich anzudienen. Dabei stellt er alle Erwartungshaltungen bloß, indem er sie ad absurdum führt. 18 Einzelne Lebensmaximen, die der Erzähler preisgibt, sind im Roman kursiv gesetzt.
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Seine ›List‹, mit der er sich von literarischen Konventionen emanzipiert, indem er sie karikiert, ist die Ironie, die sein literarisches Kompositionsprinzip nicht verschleiert, sondern offen herausstellt – entgegen dem zweiten Rat Sebastians. Der intertextuelle Verweis am Beginn des Romans, eine Abwandlung des ersten Satzes aus Grimmelshausens Simplicissimus, stellt den Gattungsbezug aus. Mehrfach noch wird die Zuordnung des Spazierers zum Schelmenroman vom Erzähler reflektiert – nicht ohne ironischen Verweis auf die Verwertbarkeit des Textes innerhalb der professionellen Rezeption, die durch literarische Anspielungen natürlich gewinnt. Je deutlicher Köhlmeier diese Referenz auf die pikarische Erzähltradition ausstellt und damit deren Offenlegung durch Interpretation obsolet macht, desto mehr wird er dabei dem Subversionsanspruch, welcher der Gattung seit jeher inhärent ist, gerecht, wie Simon Zeisberg treffend bemerkt.19 In dem satirischen Bild der Gesellschaft, das der Roman zeichnet, wird auch die gesellschaftliche Funktion der Literatur reflektiert. Sie ist gleichsam aufgespannt zwischen einem (nicht aussterbenden) Authentizitätsanspruch, mit dem die feuilletonistische Kritik von Zeitromanen immer wieder deren mehr oder weniger adäquate Widerspiegelung von Zeitgeschichte befragt, und dem literarischen Geltungsanspruch, der in der wissenschaftlichen Rezeption mit dem kunstfertigen Einschreiben in ein Gewebe von Intertexten zusammenhängt. Sowohl der Ich-Erzähler Spazierer als auch er selbst als Figur seiner Erzählung zeigen sich also ausgesprochen geschickt im erzählerischen Spiel mit Erwartungshaltungen.20 Was diese Fähigkeit ausmacht, wird im Roman in einer kurzen Episode vorgeführt, in der das Schachspiel eine wichtige Position einnimmt. Die Episode findet sich im zentralen Metareflexionskapitel des Romans, als Spazierer einige Zeit bei seinem Freund Sebastian Lukasser in Wien wohnt und von ihm den Rat erhält, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Hier beginnt er, beflügelt und »[a]nimiert durch das Schachspiel« (er hat zehn Mal in Folge gewonnen), zum ersten Mal überhaupt seine Geschichte zu erzählen. Und das geschilderte ›Erzählspiel‹, dessen souveräne Handhabe den Protagonisten auszeichnet, wird über die Metapher des Schachspiels versinnbildlicht. Für einen Hochstapler ist der Vergleich äußerst treffend: Er spielt ein Spiel mit verschiedenen Figuren, die nach jeweils eigenen Regeln eingesetzt werden müssen. Die Lebensgeschichte schreibt Spazierer schließlich nach einem Schlaganfall, einer unbestechlichen Erfahrung der eigenen Sterblichkeit, auf. Spazierer hatte mehrere Schachlehrmeister. Als er erläutert, inwieweit sie ihn 19 Zeisberg, Rezension, S. 490. 20 Der Erzähler hält diese beiden Instanzen, sich selbst als Erzähler und als Figur, hin und wieder sehr bewusst auseinander, um darauf hinzuweisen, wie sehr das Bild seiner selbst narrativ überformt ist.
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geprägt haben, fällt auf, dass seine Strategie sich keinesfalls auf das Spielbrett und die Kombination von Zügen beschränkt. Er analysiert die Motivation der Spieler und ihre Prinzipien genau: Ein Mathematikprofessor habe vor allem einen Sinn für die Ästhetik des Spiels. Quique Jim8nez, ein ehemaliger Mithäftling aus der Haftzeit, die Spazierer infolge seines ersten Mordes absitzen musste, habe ausschließlich um Geld gespielt, was es diesem im Vergleich zu dem Ästheten leichter machte, »zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden; der Sinn nach dem Schönen hingegen lässt sich ohne große Gewitztheit ablenken und irreführen.« (KA 510) Eine weitere Lehrmeisterin während seines Aufenthalts in der DDR, seine Kollegin Frau Prof. Jirtler von der Humboldt-Universität und Mitarbeiterin der Staatssicherheit, »spielte, um die Moral zu retten«: Dieses Motiv ist rein. Es […] verwandelt den Spieler selbst gleichsam in eine Figur. Er wird immun gegen Irritationen von außen, deren gefährlichste Antipathie und Sympathie für den Gegner ist. Ich hatte versucht, den Impetus des Kriminellen und der Biologin zu vereinigen. Meine Recherchen ergaben, dass Bobby Fischer, der Muhammad Ali des Schachs, ähnlich tickte. Er spielte für das Gute in der Welt, indem er gegen den Kommunismus spielte, und er spielte in die eigene Tasche, nur dass sein Mammon Ruhm hieß. Ich studierte Fischers Partien […] Am Ende hatte ich Frau Prof. Jirtler […] besiegt. Sie hielt mich für ein As, für moralisch integer und für einen Philosophen in der Nachfolge des Sokrates … (KA 510)
Spazierer gelingt es also nicht nur, das einzig kontingent erscheinende Element des rein strategischen Schachspiels, nämlich die Vorgehensweise des Gegners, durch Charakterstudien zu minimieren. Er nutzt das Schachspiel auch zur Inszenierung seiner eigenen Figur. Für ihn ist es kein rein auf die Taktik der Züge reduziertes Spiel, sondern eines, in dem die Persönlichkeit ungewollt zum Vorschein kommt. Spazierers Erfolg liegt also weniger in einer besonderen Kombinationsleistung oder Erfahrung als vielmehr in seiner Menschenkenntnis begründet. Dies zeigt sich auch bei seinen Besuchen in einem Spielercaf8, das er während der Zeit bei Sebastian regelmäßig aufsucht. Professionelle Stammspieler verdienen dort ihr Geld mit Touristen und regelmäßigen Gästen. Er beobachtet ihre Strategie, interessierte Spieler anzulocken und bei guter Laune zu halten, indem man sie einige Partien gewinnen lässt, um sie dann aber bei den höheren Einsätzen zu ›wurzen‹, also auszubeuten. Er glaubt, sie schlagen zu können und wählt sich den am schwächsten erscheinenden Spieler – wobei er sich bei der Auswahl nicht auf die eventuell geblufften Partien der Männer verlässt, sondern nach »dem Gesicht« (KA 512) entscheidet: »Ich glaubte, um die Stirn eine Spur von Verzagtheit zu erkennen, einen Kummer.« (KA 513) Joel hat sich überschätzt, kann keinen der Spieler schlagen und verliert bei den Versuchen viel Geld. Bezeichnend für seinen persönlichen Zugang zum Schachspiel jedoch ist die Methode, mit der er seine Spielschulden wieder tilgen kann. Denn
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erfolgreicher als in der Offensive, wenn er etwa einem Spieler versucht, eine bekannte Meisterpartie aufzuzwingen, ist er wie immer, indem er sich seinem Gegenüber andient. Er wird den Spielern sympathisch und zu einem Vertrauten, den sie in ihr Geschäft einbeziehen. Da er sich in der Runde als Russe ausgibt, und Russen im Ruf stehen, gute Schachspieler sowie reiche Leute zu sein, benutzen sie ihn nun, um ›Kundschaft‹ anzulocken, gegen die er allemal gewinnt. In Spazierers Art zu spielen kommen alle Fähigkeiten zur Geltung, die ihn auch zu einem meisterhaften Erzähler und Lügner machen: Er spielt aus einer Rolle heraus, die er sich angeeignet hat, indem er fremde Partien studiert. Dabei analysiert er vor allem den Charakter des Gegners und dessen spielerische Motivation. Er spielt weniger offensiv als defensiv und sucht, die Gegenüber unbemerkt auf seine eigenen Ziele hinzulenken. Interessant in Bezug auf meine Ausgangsthese ist dabei, dass er durch sein geniales Rollenspiel zwar Souveränität beanspruchen kann, dabei aber keine Selbstbehauptung – in der zweiten Bedeutung des Begriffs, also einer Definition von sich selbst – möglich scheint. Ihm fehlt ein nach außen anschlussfähiger Identitätsentwurf, der ihm zugleich selbst Orientierung im Leben gibt. Sein Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser, sieht ihn als einen »Fall höchstrangiger Unerlöstheit.« (KA 531) Und der Staatsanwalt, der nach Joels erstem Mord die Anklage erhebt (einer der wenigen, der die ›Bestialität‹ des Protagonisten erkennt), sagt in Spazierers Erinnerung: »Etwas vergleichbares wie mich hätte es nie gegeben, gebe es nicht und werde es nicht geben; die Menschheit wäre gut beraten, sich nicht an mich zu erinnern.« (ebd.) An diese Worte denkt Spazierer, als er seinen Roman plant, sie rufen eine Trotzreaktion hervor. Das Romanvorhaben entspringt offensichtlich dem Bedürfnis, seine verschiedenen durchgespielten Identitäten in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Die Selbstbehauptung erfolgt also erst mit der ›Wahrheit‹ über sein Leben. Die Schachspielmetapher dient dabei einmal mehr als Illustration: Spazierers Erzählen rückt vom Fokus der Einzelfiguren ab, die er anderen vorspielt, und konzentriert sich auf das Gesamtspiel, in dem alle Figurenbewegungen innerhalb der ›Partie des Lebens‹ eine spezifische Funktion erhalten.
Fazit – ›Erzählspiele‹ als Mittel der Selbstbehauptung In einem Vergleich der beiden analysierten Romane fasse ich noch einmal die Funktionen der beiden Leitmetaphern sowie die Erzählstrategien zusammen, mit denen – meiner These nach – erzählerische Selbstbehauptung erreicht wird. Joels Lügen dienen im Gegensatz zu Alex’ Erzählungen nicht dazu, Kontingenzerfahrungen zu verarbeiten oder sich gegen ein Selbstbild zu wehren, das aus simplifizierenden Fremdzuschreibungen zusammengesetzt ist, wie bei
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Flüchtlingen und Asylbewerbern. Er verschafft sich im Gegenteil Identitäten, die ihn spielend über alle nationalen Grenzen hinwegspazieren lassen, ohne dabei einen Einreise- oder Asylantrag stellen zu müssen. Während die Würfelspielmetapher in Trojanows Roman und das magische Moment in der Kontrolle des Zufalls der Illustration einer (selbsterfüllenden) Behauptung von Selbstwirksamkeit dienen, bildet die Schachspielmetapher in Köhlmeiers Roman eher Analogien zu strukturellen Merkmalen des Erzählens. Die Souveränität des Protagonisten drückt sich in seiner Art zu erzählen und zu lügen aus. Allerdings lässt sich die Erzählung seiner ›Lebensbeichte‹ mit der Funktion vergleichen, die für Alex das Erzählen seiner Herkunftsgeschichte enthält, denn in Spazierers Spiel mit den fingierten Identitäten bleibt, wie geschildert, die Frage nach seiner ›authentischen‹ Identität bestehen. Für beide ist das Erzählen eine notwendige Operation der Selbstvergewisserung – notwendig wegen der Wechsel des Lebensumfeldes, welche immer auch mit fundamentalen Rollenwechseln der Figuren verbunden sind, die dann erzählerisch wieder in einen Zusammenhang gebracht werden. Außerdem schafft das Erzählen einen Freiraum zur Selbstbestimmung, wenn fremde Zuschreibungen von außen zu dominant werden. In Bezug auf Köhlmeiers Spazierer trifft diese These einen etwas strittigen Punkt der Interpretation. Speicher charakterisiert in seiner Rezension des Romans den Protagonisten als »einen leeren, glatten Spiegel«, den der Autor durch die Welt schickt.21 Ich kann dieser These nur mit einem entscheidenden Abstrich zustimmen. Natürlich erscheint Spazierer seelisch unbestimmt, er empfindet nichts, wenn er jemanden tötet. Eine pathologische Erklärung hierfür muss im Vagen bleiben. Der Protagonist, der selbst äußerst interessiert ist an der Psyche anderer, lässt sich psychologisch nicht greifen. Die Deutung seiner als Kleinkind allein verbrachten Tage als Trauma bleibt spekulativ, weil nicht zu entscheiden ist, ob der Protagonist schon vor diesem Ereignis moralisch indifferent war. »Jedes andere Kind wäre in Tränen und Entsetzen ausgebrochen, nicht so der kleine Andras«, argumentiert Speicher. Jedoch bleibt in der These der ›leeren Figur‹ die Rolle des Ich-Erzählers unberücksichtigt. Es liegt nahe, dass Spazierer mit seinem Roman das Rätsel seines Charakters zu ergründen sucht, weil er mehrfach an der Frage verzweifelt, warum er so ist, wie er ist. Als er Janna, die einzige Person, die er sich vorgenommen hatte, zu beschützen, in den Tod getrieben hat, steht er vor dem Spiegel (er fungiert also nicht nur selbst als solcher!) und sagt sich: Nein, dies ist nicht der Mensch, der in dir steckt und solches Unheil anrichtet. Woher kommt der, der in mir steckt und solches Unheil anrichtet? Wie konntest du es zu-
21 Stephan Speicher, »Mephisto und der Fliegengott«, in Süddeutsche Zeitung, 23. 04. 2013.
Einsatz des Lebens
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lassen, dass er in dich hineinkroch, um solches Unheil anzurichten? Du bist doch ein anderer. Warum fütterst du ihn weiterhin? (KA 497)22
Dass er seine ›Seele‹ ergründen will, zeigt aber, dass er durchaus eine Seele hat. Und die Tatsache, dass seine Figur charakterlich leer ist, mag auch darin begründet liegen, dass niemand hinter seine verschiedenen Rollen blicken und ihn nach seinen Motiven fragen kann: Niemand hält ihm einen Spiegel vor. Ähnlich verhält es sich bei den Flüchtlingsfiguren in Trojanows Roman, wo jedoch deutlich wird, dass es nicht das Geschick eines Hochstaplers braucht, um mit einer Rolle einen Teil der eigenen Persönlichkeit zu verdecken. Die Flüchtlinge in Trojanows Roman werden seit ihrer Flucht eben hauptsächlich als Flüchtlinge identifiziert, bzw. später als Migranten. Die wichtigste Frage ist stets die nach ihrer Herkunft, nicht die nach ihrer Person. Der Leser erfährt durch die Geschichten der geflüchteten Protagonisten viel über die Welt, die sie durchreisen. Sie sind dabei aber auch auf der Suche nach sich selbst, indem sie erleben, dass Identität ein leicht zu verlierendes Gepäck ist. Die Protagonisten der beiden Romane von Trojanow und Köhlmeier haben für die Flucht ihr Leben eingesetzt und dabei einen Teil ihrer Identität verloren. Sie wagen ein weiteres (Erzähl-)Spiel, um sie zurückzugewinnen.
22 Vgl. zu dem Komplexen von Erinnerung und Identität im Roman: Andrea Horv#th, »Noch vor der Grenze. Das Bild der eigenen Kultur in Ilija Trojanows Die Welt ist groß und Rettung lauert überall«, in Interkulturalität und Kognition, hrsg. von Tam#s Lichtmann, Frankfurt (Main) 2013, S. 23–28, hier besonders S. 27f.
Historische Fluchtsujets
Doerte Bischoff
Flüchtlinge der NS-Zeit in der Gegenwartsliteratur: Norbert Gstreins Die englischen Jahre und Michael Lentz’ Pazifik Exil
I. In den Auseinandersetzungen über die nach Europa vor Verfolgung und Krieg fliehenden Menschen ist vielfach die erinnernde Hinwendung zu jener historischen Epoche, in der Deutschland nicht Aufnahmeland für Flüchtlinge war, sondern diese zu Hunderttausenden durch Ausgrenzung, Bedrohung und Vertreibung selbst hervorgebracht hat, bedeutsam geworden. Damit kommen offensichtlich nicht nur die besonderen Zeitumstände des historischen Exils, sondern aus wissenschaftlicher Perspektive auch Formen und Traditionen ihrer Erforschung und Erinnerung auf neue Weise in den Blick. Die Suche nach möglicherweise vergleichbaren Konstellationen und Deutungsangeboten trifft so etwa auf den in den siebziger Jahren vielfach artikulierten Anspruch, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Exil und Vertreibung sei zentraler Kristallisationsmoment einer erneuerten Literaturwissenschaft, die sich etwa von der in der Nachkriegszeit vorherrschenden Methode der Werkimmanenz absetze.1 Tatsächlich ist kaum ein Zweig der Literaturwissenschaft in der Vergangenheit so ausdrücklich mit einer engagierten Literatur und Wissenschaft verknüpft worden wie die Exilforschung. Kann jetzt, so ließe sich im Anschluss daran fragen, eine Literaturwissenschaft, die das Label ›politisch‹ oder ›engagiert‹ über Jahrzehnte hinweg ganz überwiegend weit von sich gewiesen hat, von der ausdrücklichen Bezugnahme auf Migration und Flucht neuerdings in dieser Hinsicht innovative Impulse erwarten? Eine Möglichkeit, dies zu erproben, ist natürlich, sich neueren Texten und Kunstformen zuzuwenden, die eben diese Themen, zum Teil in impliziter Referenz auch auf historische Exile, aufgreifen 1 Vgl. etwa die hier titelgebende programmatische Formulierung von Hans-Albert Walter, »Emigrantenliteratur und deutsche Germanistik. An der deutschen Exilliteratur könnte die deutsche Germanistik den Ausweg aus der Krise proben«, in Colloquia Germanica, Jg. 5 (1971), S. 313–320.
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und die ihrerseits offensichtlich der verbreiteten Diagnose widerstehen, die Gegenwartsliteratur vermeide politische Themen. Eine andere Möglichkeit besteht in der Analyse von Formen und Traditionen der Bezugnahme auf das historische Exil, die sich im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte jeweils sehr unterschiedlich ausgeprägt haben. Tendenzen und Konjunkturen der Erinnerung des Exils, wie sie den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs in unterschiedlichen Phasen geprägt haben, sind inzwischen selbst zum Gegenstand einer diskurshistorischen Betrachtung geworden. Diese richtet das Augenmerk nicht mehr primär darauf, ob und in welchem Umfang das Faktum des Exils und seine künstlerischen Dokumente Teil einer offiziellen, auch in Lehrplänen und Handbüchern repräsentierten Gedenkkultur geworden sind, vielmehr fragt sie danach, auf welche Weise das Exil jeweils perspektiviert und verhandelt worden ist und inwiefern die verschiedenen Narrative jeweils charakteristisch sind für zeittypische Fragehorizonte und Deutungsmuster. Bezeichnenderweise ist es nicht zuletzt die Literatur selbst, die solche diskursgeschichtlich typischen ExilNarrative beobachtet und mit ihren Mitteln vorführt und problematisiert. Lässt sich dies in vieler Hinsicht bereits für die zeitgenössische Literatur des Exils zeigen, so gilt es besonders auch für die Literatur der Gegenwart, die in einem größeren Abstand entsteht und so auch Formen der diskursiven Verhandlung des historischen Exils noch stärker in ihrer Kontingenz und Wandelbarkeit in den Blick nehmen kann. Dabei endet das, was man Exilliteratur nennen kann, weder abrupt 1945 mit dem Ende der Nazi-Diktatur, noch fünfzig Jahre später mit dem allmählichen Verschwinden der Zeitzeugen als denjenigen, die in ihren Texten ein biografisch erlebtes Exil gestaltet haben. Vielmehr tritt die Reflexion darüber, was eigentlich biografisches Erzählen wie allgemein ein Erzählen mit dem Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit gerade angesichts von Erfahrungen der Vertreibung und Entortung überhaupt sein kann, nur mehr in eine neue Phase. Bereits die Fülle der historischen Autobiografien, die die Erfahrung des Exils bezeugen, lassen sich nicht nur als Versuche lesen, von Ausgrenzung, Unrecht und Gewalt zu berichten und so gegen die Tendenz des Vergessenwerdens, das die Vertreibung endgültig besiegelte, anzuschreiben, sondern – neben vielen anderen möglichen Schreibimpulsen – vor allem auch als Erzählungen, die sprachlich Zusammenhänge und Bezüge herstellen, wo diese lebensweltlich nicht mehr gegeben erscheinen, Erzählungen also, die – im Sinne von Elisabeth Bronfen – ›Schutzdichtungen‹ sind, die Erschütterungen und Brüche ebenso ›heilen‹ und verbergen wie zur Schau stellen.2 Stefan Zweigs im Exil verfasster 2 Vgl. Elisabeth Bronfen, »Die Kunst des Exils«, in Literatur und Exil. Neue Perspektiven, hrsg. von Doerte Bischoff / Susanne Komfort-Hein, Berlin 2013, S. 381–395, hier S. 384; vgl. zum Thema und zu weiterführender Literatur auch Exilograph 24 (Frühjahr 2016): Verzeichnete Erschütterungen. Autobiografie und Exil.
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Autobiografie lässt sich dies in ihrem geradezu obsessiven Impuls, eine geschlossene und sinnhafte Bildungs-›Welt von gestern‹ noch einmal zu beschwören, besonders eindrücklich ablesen. Autobiografische Romane von Konrad Merz (alias Kurt Lehmann), Hans Sahl oder Hilde Domin (letztere deutlich nach 1945 entstanden: 1959 bzw. 1968) reflektieren in ihrer fragmentarischen, vielfach achronischen Erzählform Bedingungen und Grenzen des Leben-Schreibens im Horizont von Vertreibung und Exil. Dabei spielt bereits die Auseinandersetzung mit Bildern des Exilanten, wie sie etwa von einer Exilgemeinschaft gepflegt und interpretiert werden und zu denen sich das schreibende Ich nicht oder nur bedingt in Übereinstimmung bringen kann, eine zentrale Rolle. Deutungen des Exils etwa im Sinne eines antifaschistischen Bündnisses oder auch – durchaus positiv – im Sinne einer Befreiung von Routinen und Zwängen, die der eigenen Kreativität neue Impulse gibt, werden also auch in der ›klassischen‹ Literatur des (Nach-)Exils schon auf eine Weise problematisiert, die Konsequenzen für den Entwurf des Ich als Repräsentanten des Exils, überhaupt für eine an der Möglichkeit der Repräsentation festhaltende Schreibweise haben. Die Zäsur, die sich mit der Ablösung derjenigen Autoren und Autorinnen abzeichnet, die sich auf eine eigene Zeitgenossenschaft beziehen können, durch solche, die ausdrücklich nur über medial vermittelte Zeugnisse zum historischen Geschehen Zugang haben, ist vielleicht – das deutet sich hiermit zumindest an – gar nicht so radikal, wie man vielleicht zuerst vermuten könnte. Dennoch wird in literarischen Texten, die in den vergangenen Jahren das Exil seit 1933 thematisiert haben, die Mediatisierung der Erzählungen vom Exil und von den Exilanten auf eine Weise in den Vordergrund gerückt, die es rechtfertigen, zumindest von einer neuen Phase in der Literarisierung des Exils zu sprechen. Tatsächlich lässt sich eine bemerkenswerte Konjunktur im Hinblick auf die Verhandlung des historischen Exils in der deutschsprachigen Literatur um die Jahrtausendwende beobachten.3 Dabei werden, so soll im Folgenden gezeigt werden, vielfach Probleme der Rekonstruktion und des nachvollziehenden Verstehens erörtert, die sich aus dem zeitlichen Zurückweichen der historischen Ereignisse ergeben, deren Zeugnisse inzwischen überwiegend Archiven einverleibt sind, die jeweils bestimmten Ordnungslogiken folgen, welche 3 Texte, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, sind neben Norbert Gstreins Die englischen Jahre (1999) und Michael Lentz’ Pazifik Exil (2007), die im Folgenden genauer behandelt werden, auch Ursula Krechels Shanghai fern von wo (2010) sowie Klaus Modicks Sunset (2011), Volker Weidermanns Ostende 1936: Sommer einer Freundschaft (2014) oder Volker Altwassers Glücklich Sterben (2014). Auf das Phänomen, dass viele Gegenwartstexte auf historische Figuren und Texte des Exils zurückgreifen, zu denen das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) besonders viel Material besitzt, hat dieses 2015 mit der Ausschreibung eines Workshops reagiert: »Aus den Archiven des Exils: faktographisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur« (16.7.–17. 7. 2015).
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immer auch von den Perspektiven und Bedürfnissen der Nachgeborenen gezeichnet sind. Wenn auf unterschiedliche Weise Skepsis gegenüber einer Rekonstruktion des Vergangenen als rückholender Aneignung in Szene gesetzt wird, so bezieht sich diese immer auch auf Diskurse des Exils, die im Laufe der Nachkriegszeit unterschiedliche Konjunkturen und Akzentsetzungen durchlaufen haben. Indem die neuere Literatur über das (historische) Exil diese Diskurse beobachtet, verschiebt sich ihr Fokus von der rückholenden Rekonstruktion von Lebensgeschichten, um die es gleichwohl auch immer wieder geht, hin zu einer Problematisierung einer zumeist idealisierenden Aneignung fremder Biografien. Dabei geraten auch, wie sich zeigen wird, Figuren und Phänomene der wissenschaftlichen Exilforschung, die mit der Arbeit der Archivierung eng verbunden ist, mit ins Visier. Im Folgenden werden vor allem zwei Texte näher untersucht, die auf je unterschiedliche Weise ein etabliertes Wissen um das Exil und seine Repräsentanten angreifen. Indem sie es mit Vielstimmigkeit und Brüchen konfrontieren, lassen sie die Instrumentalisierungen der Exil-Geschichten zumal aus Sicht von Nachgeborenen grundsätzlich problematisch werden. Nicht um die eine wahre, möglicherweise bislang vergessene und verdrängte Geschichte des Exils wird gerungen, um sie der (eigenen) Geschichte als deren Fundament und Legitimation einzuverleiben, vielmehr wird genau dieser Modus im Umgang mit den Zeugen und Zeugnissen der Vertreibung kritisch reflektiert. Die Frage, ob und inwiefern es sich hier um engagierte oder politische Literatur handelt, wird von den Texten selbst als eine komplexe ausgestellt. Charakteristisch ist, dass nicht eine tendenziell identifikatorische Präsentation politischer (zum Beispiel antifaschistischer) Positionen und Inhalte das Erzählen leitet. Stattdessen besteht der Einsatz der Texte gerade darin, homogenisierende und hegemoniale Exil-Erzählungen als solche vorzuführen und zu unterlaufen.
II. In Norbert Gstreins 1999 erschienenem Roman Die englischen Jahre etwa wird das etablierte Narrativ der Erkundung eines Exilschicksals mit dem Versprechen, Verdrängtes ans Licht zu bringen und mit Hilfe des Entdeckten eine andere Geschichte der deutschen bzw. österreichischen Vergangenheit schreiben zu können, als Ausgangspunkt des Geschehens aufgenommen. Allerdings erweist sich die Rückkehr des hier Verdrängten schließlich als weit weniger kontrollierbar, als sich dies die verschiedenen Exilforscher, die im Text auftreten oder erwähnt werden, vorgestellt haben. Die allmähliche Rekonstruktion der Lebensgeschichte oder besser der Lebensgeschichten, die hier mit dem Namen ›Hirschfelder‹ gezeichnet erscheinen, bleibt zuletzt nicht nur voller Lücken und
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Ungewissheiten, sie führt vor allem auf diejenigen zurück, die mit ihr im Begehren nach Aufmerksamkeit und Anerkennung immer auch eine eigene Agenda verfolgen. So evoziert schließlich der insistente Versuch, Licht in das Dunkel eines Exilschicksals zu bringen, vor allem Spiegeleffekte, welche die gesuchte Figur als Phantasma einer identitäts- und sinnstiftenden Projektion vorführen. Zugleich werden jedoch Möglichkeiten eines Erzählens ausgelotet, das Brüche und Ungewissheiten nicht in einer triumphalistischen Präsentation einer zusammenhängenden Lebensgeschichte verbirgt, trotz der vielschichtigen Rekonstruktionsarbeit, die mit Archivmaterial ebenso operiert wie mit Gesprächen mit Zeitzeugen und ›Ortsbegehungen‹. Vielmehr wird diese Rekonstruktionsarbeit zum Kristallisationspunkt und Strukturprinzip einer komplex verschachtelten Narration, die auch Raum lässt für die emphatische Imagination von Leid und Tod des Flüchtlings als Anderem, dessen authentische Stimme gerade nicht mehr rekonstruiert werden kann. Hauptakteurin der Suche nach der verborgenen Exilbiografie ist in Gstreins Roman die namenlose Rahmenerzählerin, die beharrlich die Spur eines jüdischen Exilanten verfolgt, dessen Porträt sie auf einer Exil-Ausstellung im Österreichischen Institut in London gesehen hat. Dort ist sie auch seiner letzten Frau begegnet, die ihr im Folgenden allerhand Details über den Verstorbenen, der nach 1945 in seinem Exilland England geblieben war, erzählt. In der Folge macht sie noch zwei weitere Frauen, mit denen er zusammengelebt hatte, in England und Österreich aus und führt mit ihnen längere Gespräche, in denen immer mehr Details und Dokumente – etwa weitere Fotos, Zeitungsausschnitte und ein Tagebuch – zum Vorschein kommen, aber auch erkennbar wird, dass man es jeweils mit widersprüchlichen und interessegeleiteten Narrationen zu tun hat. Die einzige Frau aus Hirschfelders Leben, die unmittelbar über die Zeit des Exils berichten könnte, heißt bezeichnenderweise Clara und hat mit ihm das Schicksal des heranwachsenden Flüchtlings geteilt, der, während der Rest der jüdischen Familie der Verfolgung nicht mehr entgehen kann, in einer Londoner Familie als Hausbediensteter Zuflucht findet. Sie kann der Erzählerin, als diese sie in einem Heim aufsucht, wegen ihrer fortgeschrittenen Demenzkrankheit keine Auskunft mehr geben. Dabei ist sie die letzte, die einschlägiges Wissen über die für die Handlung zentrale Zeit besitzt, in der Hirschfelder zusammen mit andere Flüchtlingen, aber auch sogenannten »Nazi-Sympathisanten«, die sich zur Zeit des Kriegseintritts auf englischem Boden befinden, auf der Isle of Man interniert war. Denn Clara, selbst ehemalige Internierte in einem Frauenlager auf der Insel, ist nach Kriegsende dort geblieben, kennt den Schauplatz und seine Geschichte anders als die anderen Frauen, die die Erzählerin aufsucht, aus eigener Anschauung. Gerade von ihr aber ist keine Auf-Klärung mehr zu erwarten. Immerhin tastet sich die Erzählerin allmählich an die Erkenntnis heran, dass es im Internierungslager auf der britischen Insel im Kriegs-Sommer 1940
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zu einer folgenreichen Vertauschung von Identitäten gekommen sein muss, als nationale Interessen den Willen, den Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren, überlagern und es so vorübergehend zu einer Gleichbehandlung aller deterritorialisierten Reichsdeutschen als ›feindliche Ausländer‹ kommt. Der nach dieser Zeit als Hirschfelder weiterlebt, ist ursprünglich weder Jude noch eindeutig Flüchtling, vielmehr handelt es sich um einen jungen Österreicher, der von seinen Eltern vorübergehend nach England geschickt wird, um sein ambivalentes Verhältnis zu einer Jüdin, die im elterlichen Gasthaus mit ihrer Familie offenbar keinen Schutz gefunden hatte und die noch vor ihrer Deportation den Tod findet, zu verbergen. Infolge eines Glücksspiels, das dieser neu hinzukommende Häftling mit dem sprechenden Namen Harrasser (engl.: belästigen, drangsalieren; der Name Hirschfelder könnte in diesem Kontext auf das gejagte Wild verweisen) seinen jüdischen Mitgefangenen aufzwingt, ist es, wie der Text auf der Grundlage zahlreicher Anhaltspunkte, letztlich aber imaginativ erzählt, der jüdische Flüchtling, der schließlich das Schiff besteigt, das ausgewählte Gefangene, darunter den auch der Lagerleitung suspekten Harrasser, nach Kanada bringen sollte. Als dieses (historische) Schiff 1940 vor der irischen Küste von einem Torpedo getroffen wird und sinkt, findet der jüdische Flüchtling vermutlich den Tod. Wo immer der Name Hirschfelder nach diesem Ereignis noch auftaucht, verbindet sich mit ihm, wie spätestens am Schluss des Romans deutlich wird, eine illegitime Aneignung im Horizont von Diskursen, in denen die Hinwendung zu oder gar eine Identifikation mit zumal jüdischen Exilschicksalen moralisches Kapital verspricht. Die Forschung hat den Roman naheliegender Weise auch mit dem (ein Jahr vor seinem Erscheinen aufgedeckten) ›Fall Wilkomirski‹ in Verbindung gebracht sowie mit W.G. Sebalds kurz zuvor publizierten Erzählungen Die Ausgewanderten (1992), in denen auf eine ähnliche Weise Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion von Flüchtlingsschicksalen problematisiert werden.4 Gerade im Hinblick auf die Frage, inwiefern die Instanz des Erzählers bzw. sogar der Autor selbst, dessen Name schließlich auf dem Roman Die englischen Jahre erscheint, der als autobiografisches Projekt Hirschfelders/Harrassers auch im Text selbst von einer der Frauen erwähnt wird, in der Fokussierung auf eine Exilbiografie auch eigenen Interessen und Perspektiven folgt, erscheint die Erzählung bei Gstrein noch 4 Vgl. J. M. Ritchie, »Exile, Internment and Deportation in Norbert Gstrein’s Die englischen Jahre, in Totally Un-English? Britain’s internment of ›enemy aliens‹ in Two World Wars«, hrsg. von Richard Dove, Amsterdam / New York 2005, S. 193–203, hier S. 201; Walter Hinck, »Falschmünzer in der Emigration«, in Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur, Köln 2006, S. 261–268, hier S. 261; Jan Ceuppens, »Falsche Geschichten: Recherchen bei Sebald und Gstrein«, in Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, hrsg. von Bart Philipsen / Anke Gilleir, Amsterdam / New York 2008, S. 299–317.
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deutlich komplexer als bei Sebald gestaltet. (Vorwürfe, wie sie immer wieder gegenüber Sebald vorgebracht wurden, er beanspruche jüdische Flüchtlingsschicksale für seine eigene Autor-Inszenierung, von der die realen Vorbilder verleugnet und vergessen würden, wird man Gstrein so nicht machen können, weil der Roman sie sämtlich vorwegnimmt, einbezieht und zum Teil der Erzählkonstruktion werden lässt.) Auffällig ist in Gstreins Roman auch, dass die Gender-Perspektive im Hinblick auf die Etablierung eines identitätsstiftenden Erinnerungsnarrativs grundsätzlich in die inhaltliche und strukturelle Auseinandersetzung mit dem Exil eingewoben wird. Tatsächlich trägt sie wesentlich dazu bei, idealisierende Vorstellungen vom großen Exilschriftsteller, von dem grundlegende Deutungen der Zeit ebenso wie Inspirationen zu eigenen Werken zu erwarten seien, kritisch zu befragen. So wird nämlich die Suche nach dem jüdischen Exilanten, auf die sich die Erzählerin begeben hat, auch mit ihrem Impuls in Verbindung gebracht herausfinden zu wollen, was ihren Ex-Mann Max antrieb, der sich als Schriftsteller in einem Maße mit Hirschfelder identifiziert hat, dass er ihm sogar einen eigenen Roman mit dem Titel »Hommage / Hirschfelder«5 gewidmet hat. Von seinem Begehren, sich in der verehrenden Nachschrift auf einen Exilanten selbst als Autor hervorzubringen und zu beglaubigen, sieht sich die Erzählerin offenkundig ausgeschlossen.6 Ihre Nachforschungen gehen also von Anfang an von einem persönlich erlebten Bruch aus, wodurch sie auch als Möglichkeit erscheinen, dem Phantasma einer Exilautorität und seines »Meisterwerks« (EJ 25f.), von dem Max immer als einem noch unveröffentlichten Schatz gesprochen hatte, daraufhin nachzuspüren, was von ihm verdrängt und verborgen gehalten wird. Auf diese Weise wird die Vorstellung von einem Exilautor, der ein »Panorama des Jahrhunderts« (EJ 26) geschrieben und damit als privilegierte Bezugs- und Deutungsinstanz zu gelten habe, als eine männlich konnotierte vorgeführt. Gleichfalls wird auch die Figur des wohl nicht zufällig ebenfalls männlichen Exilforschers, die man in Max erkennen kann, die aber ausdrücklich auch mit Blick auf die wissenschaftliche Erforschung von Exil und Exilliteratur verkörpert erscheint, kritisch betrachtet. So schilderte die Erzählerin die Begegnung mit einem ›angeblichen‹ Exilexperten aus Wien, der ihr als Zugang zu ihrem Thema – Hirschfelders Internierungszeit auf der Isle of Man – seine eigenen Aufsätze als privilegiertem Zugang zum Thema aufdrängt. Ist die Erzählerin von seiner »blasierten Besserwisser[ei]« (EJ 254) bereits abgestoßen, so intensiviert sich dieses Gefühl nach der Lektüre der empfohlenen Aufsätze, deren Verfahren, 5 Norbert Gstrein, Die englischen Jahre [1999], München 2008, S. 10 und 386. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle EJ auf diese Ausgabe. 6 Vgl. hierzu auch Jelena Spreicer, »›Ständige Neuerfindung der Wahrheit‹. Zum Problem der Biographie und Identität im Roman Die englischen Jahre von Norbert Gstrein«, in Zagreber Germanistische Beiträge, Jg. 20 (2011), S. 89–102, hier S. 95–97.
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»jedes Fitzelchen und Krümelchen zu würdigen, das er in irgendwelchen Archiven aufgestöbert hat« (EJ 255) sie sich vollends von seinen Posen und vermeintlichen ›Gewissheiten‹ abwenden lässt. Es ist hier besonders bemerkenswert, auf welche Weise Archivrecherchen, die ja zumeist auch an Reisen geknüpft sind, und die suchende Reise der Erzählerin kontrastiert werden. Während in ihrem Fall der eigene Antrieb, der mit Brüchen, Ausschließungen und einem vage benennbaren Begehren, diesen nachgehen zu wollen, in Verbindung steht, als Reise beschrieben wird, in deren Verlauf die Erzählerin eine Vielzahl von Lebens-Geschichten aufnimmt, indem sie auch die eigene Geschichte und die Geschichten ihrer Mittlerinnen mindestens andeutungsweise mit erzählt, so erscheinen die Archivreisen des Exilexperten als Operation einer positivistischen Sammlung, die sich gegen den Einbruch von Erfahrung und damit von Unsicherheit, Ambivalenz und Differenz, möglichst vollständig abdichtet. Vor allem wird deutlich, dass Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung, die der Psychoanalyse zufolge als zentrale Dynamik jede Analyse prägen, hier verdrängt werden, analog zu der Beschreibung Paul Ricœurs, dass Positivismus eine Verleugnung der Übertragung und damit des auch in Forschungskontexten immer involvierten eigenen Interesses und Begehrens impliziere.7 Dass aber sowohl im Fall von Max wie in dem des Wiener Exilforschers Übertragung in hohem Maße zur Konstitution und Behandlung des Forschungsobjekts beiträgt, daran lässt der Text keinen Zweifel. Sowohl der von Max etablierte »Mythos Hirschfelder« (»die Schriftsteller-Ikone, der große Einsame, der Monolith«, EJ 9) wie auch die zur Schau getragene Expertise des Wissenschaftlers, der überzeugt ist, sich ›dort‹, am Ort des Exils, besser auszukennen »als bei mir zu Hause« (EJ 255), machen Tendenzen überdeutlich, das Objekt der Verehrung bzw. der Forschung entsprechend den eigenen Bedürfnissen nach Selbstvergewisserung und Geltung zuzurichten und zu vereinnahmen. Bemerkenswert ist dabei, dass sowohl Max wie auch der Exilforscher nicht als Figuren der Handlung auftreten, sondern auf sie nur rückblickend und indirekt durch die Erzählerin Bezug genommen wird, ebenso wie Hirschfelder nur in den gebrochenen und vielstimmigen Perspektiven seiner Frauen aktualisiert erscheint. Der gesamte Text ist in acht Kapitel untergliedert, von denen vier die Namen dieser Frauen im Titel tragen als Hinweis auf die Erzählerinnen, die hier jeweils ihre Versionen der Geschichte präsentieren, die wiederum durch die erste Erzählerin, die als Rahmenerzählerin betrachtet werden kann, wiedergegeben werden. Die übrigen vier Kapitel sind mit genauen Orts- und Zeitangaben (also etwa »Douglas, Isle of Man, 21. Juni 1940«) betitelt, die eine exakte historische 7 Vgl. Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998.
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Verortbarkeit des Geschehens suggerieren, wie der Text insgesamt auf intensive Quellenrecherchen über die Internierung sogenannter ›feindlicher Ausländer‹ auf der Isle of Man sowie den historisch verbürgten Untergang der »Arandora Star« zurückgreift, eines unter britischer Flagge segelnden Luxusliners, der am 2. Juli 1940 mit tausenden Internierten an Bord versenkt wird, von denen etwa die Hälfte nicht überlebt. Die zentrale Figur, Gabriel Hirschfelder, wird in diesen genau datierten Kapiteln mit dem in Erzähltexten ungewöhnlichen ›Du‹ angesprochen, womit offensichtlich eine empathische Bezugnahme auf ein Gegenüber markiert wird,8 die eine im Einzelnen nicht mehr sicher zu rekonstruierende Lebensgeschichte dennoch erzählt, indem sie sich imaginativ in den Flüchtling und sein Erleben, bis hin zum langsamen Tod auf dem Floß im Meer, hineinversetzt ohne mit ihm etwa als Ich-Figur zu verschmelzen. Durch diese Ansprache wird er zum Leben erweckt und wird seines elenden Sterbens gedacht,9 das so gar nichts Triumphales hat, nichts, aus dem sich eine über den singulären Fall hinausgehende Sinnhaftigkeit (des Todes oder des Überlebens, deren Unterscheidung hier als vom Ausgang eines Spiels abhängig gezeigt wird, oder gar des Exils im Allgemeinen, der Epoche oder des Jahrhunderts) ableiten lassen würde. Indem an der Stelle des Phantoms des Exilanten und seines zu entdeckenden monumentalen Werks ein Wissen darum auftaucht, dass viele Exilanten nicht überlebt haben, nicht zuletzt weil die Grenze zwischen rettendem Exil und NS-Bedrohung gerade in Europa oft kaum zu ziehen war, wird ein Weitererzählen im Namen des Exils problematisiert, das die radikalen Kontingenzen und gelegentlich auch die Schuld des Überlebens verbirgt. Wenn die Schuld im Falle Harrassers, der sich nach dem Krieg schamlos als verfolgter Jude und Exilautor feiern lässt,10 vom Text zuletzt relativ unzweideutig festgestellt 8 So hat auch die Forschung diese ungewöhnliche Erzählform zum Teil wahrgenommen. Vgl. Ceuppens, »Falsche Geschichten«, S. 307: »Die Erzählerin versucht auf diese Weise in einen Dialog mit der imaginären Person zu treten, die sich hinter dem Namen Hirschfelder verbirgt.« Vgl. auch Daniela Strigl, »›Die Lebenden leben und die Toten sind tot‹. Norbert Gstreins ›Die englischen Jahre‹ (1999)«, in Der deutsche Roman der Gegenwart, hrsg. von Wieland Freund / Winfried Freund, München 2001, S. 224–229, hie: S. 225; J. J. Long, »Intercultural Identities in W.G. Sebald’s The Emigrants and Norbert Gstrein’s Die englischen Jahre«, in Journal of Multilingual and Multicultural Development 25 (2009), Heft 5–6, S. 512–528, hier S. 518 und 524. 9 Tatsächlich kennzeichnet es eine Gruppe der Erzählungen in der Zweiten Person, dass die zentrale Figur abwesend oder tot, auf bestimmte Weise – wie hier in der Erinnerung – aber dennoch präsent ist. Vgl. Monika Fludernik, »The Category of ›Person‹ in Fiction: You and We Narrative-Multiplicity and Indeterminacy of Reference«, in Current Trends in Narratology, hrsg. von Greta Olson, Berlin / New York 2011, S. 101–141, hier S. 110 und 113. 10 Die Konstellation ähnelt dabei dem philosemitisch-exkulpatorischen Verwandlungswerk des SS-Mörders Max Schulz aus Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi & der Friseur (1971/1977), der sich nach dem Krieg durch Annahme der Identität des Juden Itzig Finkelsteins in Sicherheit bringt.
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wird, bleibt sein Verhalten doch zugleich abhängig von einer allgemeinen Tendenz, das historische Exil nach 1933 als Teil der eigenen Geschichte, als privilegiertes Thema der politisch Engagierten oder gar als Modellfall einer künftigen Gesellschaft zu hypostasieren, nicht zu reden von einem übersteigerten Philosemitismus, der eine Weigerung, sich mit eigener Schuld und ambivalenten Gefühlen auseinanderzusetzen, verbirgt. Generell lädt der Text dazu ein, die Aneignung der Identität des jüdischen Flüchtlings durch einen nicht-jüdischen Internierten nicht nur als skandalöse Einzeltat aufzufassen, auch wenn sie als solche durchaus konkrete historische Vorbilder hat. Vielmehr kann sie offenbar als symptomatische Figur für eine komplexe diskursive Konstellation verstanden werden, in der Exil und Judentum – durchaus zeitversetzt bzw. zunächst in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen und Kontexten – zentrale Referenzbegriffe, regelrechte ›key words‹ werden, deren Evokation in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten (Literaturbetrieb, Wissenschaft, mediale Öffentlichkeit etc.) jeweils Aufmerksamkeit garantiert und bestimmte Wirkungen erzeugt.11 Von der Verfestigung idealisierter Figuren des Exils, welche die Brüche und Projektionen verbergen, denen sie ihre Existenz verdanken, nimmt das mit der weiblich konnotierten Stimme verknüpfte Erzählen seinen Ausgang. »Am Anfang stand für mich der Mythos« (EJ 9), heißt es in Bezug auf die von Max und anderen erschaffene »Schriftsteller-Ikone« gleich im ersten Satz. Insbesondere die Dekonstruktion einer männlichen Autorposition erfasst in der Folge auch die Vorstellung eines Exilautors, der das gleichermaßen existenziell entbehrungsreiche wie ästhetisch-künstlerisch und politisch produktive Exil repräsentierte und darin zum »identitätsstiftenden Mythos« würde, eine Formulierung, die Lutz Winckler in einem 1995 publizierten bilanzierenden Aufsatz mit dem Titel »Mythen der Exilforschung« gebraucht hat und auf den hier möglicherweise Bezug genommen wird.12 Julia Schöll hat zudem kürzlich gezeigt, dass es die Tendenz gab, mit den ›guten Exilanten‹ rhetorisch eine moralische Instanz zu etablieren, welche den Mangel an positiven Leit- und Identifikationsfiguren in einem Nachkriegsdeutschland kompensieren helfen sollte, in dem kaum jemand keine Schuld auf sich geladen hatte. Dies führte zu einem bemerkenswerten Kult um große Autoren – genauer : Exilautoren – zu einer Zeit, in der in Frankreich Michel Foucault und Roland Barthes den Mythos des Autors nachhaltig dekonstruierten.13 Gstreins Roman lässt sich als komplexe 11 Vgl. dazu auch Long, »Intercultural Identities«, S. 522: »At a time when identity politics was and remains a powerful force in Western societies, adopting the identity of a (once persecuted) minority appears to bring with it considerable cultural and moral capital.« 12 Lutz Winckler, »Mythen der Exilforschung«, in Exilforschung, Jg. 13 (1995): Kulturtransfer im Exil, hrsg. von Claus-Dieter Krohn et al., S. 68–81. 13 Julia Schöll, »Die Rückkehr des Autors in den Diskurs. Exilforschung als antiautoritäre Denkbewegung«, in Verfolgt und umstritten. Remigrierte Künstler im Nachkriegsdeutsch-
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literarische Reflexion auf diese Logik der Konstruktion des (großen) Exilautors im Sinne einer Deckerinnerung lesen, welche die Brüche der Überlieferung leugnet und harmonisiert, die unter anderem mit dem Tod der Verfolgten beschrieben sind, die nicht mehr Zeugnis ablegen können und die keinen Anteil mehr daran haben, was mit ihren Hinterlassenschaften geschieht bzw. was und wie über sie erzählt wird. Die Sammlung und museale oder wissenschaftliche Präsentation von Exil-Dingen kann nicht nur eine Auseinandersetzung mit einer problematischen Vergangenheit initiieren, sondern ebenso der Fetischisierung von Objekten Vorschub leisten, die wegen ihrer vermeintlich indexikalischen Verweisstruktur das Andere, Ausgegrenzte präsent und beliebig verfügbar zu machen scheint und so eigene Schuld und Identitätsbrüche zu heilen verspricht. Was im Archiv landet, was dann u. U. ausgestellt wird, verdankt sich hochgradig kontingenten Fügungen einerseits sowie den Interessen der Überlebenden andererseits. Als letztere kommen nicht nur die Nachfahren der Tätergeneration, sondern auch andere Exilanten und Inhaftierte in den Blick, die aus unterschiedlichen Motiven dazu tendieren, ihre Exilerzählungen zu glätten. Im Text steht für letzteres Phänomen vor allem die Figur der ›Katz‹, die sich als Figuration Hilde Spiels, die ebenfalls von Wien nach London ins Exil ging, lesen lässt. Die Lektüre ihrer Autobiografie hat der Erzählerin nicht, wie andere ihr versprechen, Aufschluss darüber gegeben, »was es damals bedeutet hat, im Exil zu sein« (EJ 156), vielmehr fühlt sie sich von dem allzu glatten Text abgestoßen, in dem eitle Schilderungen von Begegnungen und Bedeutsamkeiten innerhalb der Exil-Community verhindern, dass ein Gespür für Verluste, Brüche und den Zerfall einer sinnhaft erzählbaren Ordnung entstehe (EJ 156–159). Offensichtlich ist das komplexe Erzählprojekt Die englischen Jahre, in dessen Zentrum ein Exilant steht, der nicht überlebt und dessen Autobiografie nur in der beschwörend-auratisierenden Rede anderer existiert, ausdrücklich auch als Gegenentwurf zu der (mehrbändigen) Autobiografie Spiels konzipiert. Dass hier mit der jüdischen Zeitzeugin auch eine weibliche Autorin in den Fokus des ikonoklastischen Impulses des Textes gerät, verkompliziert noch einmal die Verhältnisse, insofern deutlich wird, dass die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Autorschaft und Repräsentanz zwar mit der Kategorie Gender eng verschränkt ist, aber nicht im Sinne einer eindeutigen biografischen Zuordnung oder Identifizierbarkeit. Das Forschen nach den verbleibenden Spuren des Exils, der Versuch ihrer Versammlung und Deutung, ist, wie hier deutlich wird, vom Dispositiv der Rückholung ins Eigene und damit der Selbstbegründung nicht ohne weiteres zu trennen. Die Autorität über das Archiv jedoch wird in Gstreins Text einer funland, hrsg. von Michael Grisko / Henrike Walter, Frankfurt (Main) 2011, S. 231–242, hier S. 235.
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damentalen Verunsicherung ausgesetzt, in dem an die Stelle von Verortung und Sinnzuschreibung die Vielzahl der Erzählungen tritt, eine Dissemination mithin, die der Vertreibung und Zerstreuung mimetisch nachspürt, durch die sich eine totalitäre Macht einst konstituieren zu können glaubte. Insofern ist das Erzählverfahren hier der Logik der Rückholung, die eine Exil-Erinnerung am Leitfaden auch für die Gegenwart repräsentativer Namen und bedeutsamer Geschichten konstituiert, regelrecht entgegengesetzt und es findet konsequenterweise auch zu keinem eindeutigen Schluss. Am Ende nämlich kommt Max noch einmal ins Spiel als derjenige, dem die Erzählerin ihr Manuskript zu ›schenken‹ überlegt, damit er auf dieser neuen Grundlage sich des Themas Hirschfelder noch einmal auf neue Weise als Schriftsteller annehmen könne. Zuletzt aber bleibt die Frage der Autorschaft von »Die englischen Jahre« auch im Hinblick auf die Gender-Kategorie uneindeutig, wird die Figur des potentiell männlichen Autors als »unzuverlässiger Zeitgenosse« (EJ 389) vorgeführt.
III. Auch in Michael Lentz’ 2007 publizierten Roman Pazifik Exil wird die Vielfalt der Erzählungen über das Exil akzentuiert, die eine eindeutige Bestimmung seiner Bedeutsamkeit durchkreuzt. Anders als bei Gstrein ist es hier aber nicht die vervielfältigte Rede anderer über einen Menschen, dessen Identität sich zunehmend als nicht ermittelbar erweist, da er mit Mord, Usurpation und Verleugnung assoziiert wird. Vielmehr treten bei Lentz eine Vielzahl als historisch bekannter Figuren des literarischen Exils auf, deren jeweils unterschiedliche Sicht auf die kalifornische Exilgemeinschaft, der sie angehören, kontrastiv vorgeführt wird. Lentz hat 2001 als Stipendiat mehrere Monate in der Villa Aurora, dem Exildomizil Lion Feuchtwangers in Kalifornien, verbracht und sich intensiv nicht nur mit Hinterlassenschaften der Feuchtwangers beschäftigt, sondern auch mit Texten und Archivmaterialien anderer namhafter Exilanten. Die mehr aneinandergereihten als durch eine klare Handlungsfolge miteinander verknüpften Kapitel haben immer wieder Ich-Erzähler, in denen jeweils eine andere Figur zu Wort kommt, wobei neben Brecht, dem mehrere Kapitel gewidmet sind, vor allem Heinrich Mann, Thomas Mann, Arnold Schönberg, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger als Erzählerinstanzen auftreten. Da es sich bei diesen nicht um unbekannte Figuren des Exils handelt, deren Spuren womöglich zum ersten Mal verfolgt würden, um ein verdrängtes und vergessenes Kapitel deutscher Literatur- und Kulturgeschichte schreiben zu können – so ja der seit den 1960er Jahren vorherrschende Diskurs über die Dokumente des Exils – steht hier nicht die Geste der Entdeckung und Entbergung unbekannter Manuskripte und Lebenszeugnisse im Vordergrund. Vielmehr werden gerade
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auch diejenigen Aussagen aufgegriffen, die so häufig zitiert wurden, dass sie für die Beschreibung des Exils geradezu ikonischen Charakter angenommen haben. Vor allem das berühmte Diktum Thomas Manns, »wo ich bin, ist Deutschland«, wird mehrfach im Text aufgegriffen und allein durch die ebenso redundante wie penetrante Wiederholung als Sprechakt einer Selbstbehauptung aufgewiesen, der zugleich etwas zeigt und verbirgt: das wie unter einem Wiederholungszwang immer wieder behauptete Selbstverständnis als repräsentativer Schriftsteller lässt die existentielle Funktion einer solchen Behauptung hervortreten, die offensichtlich nicht ein selbstverständlich gegebenes Verhältnis zwischen Autor und Nation beschreibt, sondern an die Stelle einer fundamentalen Verunsicherung dieses wechselseitigen Bezogenseins aufeinander gesetzt erscheint. Der Satz, der in seiner englischen Version »Where I am, there is Germany« die »Welt umsegelt«14 hat, wie es im Text einmal heißt, erscheint als regelrecht geflügeltes Wort abgelöst von seinem Urheber wie auch von der Nation, deren repräsentative Lokalisierung in ihm festgestellt wird. So wird einerseits die mit dem Begriff von Nation und Nationalkultur traditionell verbundene Vorstellung einer territorialen Verortbarkeit aufgerufen, aber zugleich verschoben: als Wort, das die Welt umsegelt, ist es zum exilischen geworden, welches das Konzept einer territorial gebundenen Nationalsprache oder -kultur als solches fragwürdig erscheinen lässt.15 Zudem wird es im Text selbst in der Rede der anderen Exilanten vielfach variiert und transformiert, wobei auch die Vorstellung unterlaufen wird, diese stellten eine Gemeinschaft dar, die insgesamt das ›andere Deutschland‹ repräsentierte – ein zentrales Narrativ gerade auch der frühen Exilforschung. »Wo ich bin, ist links«, sagte Bertolt Brecht im Roman und: »wo ich bin, ist kein Thomas Mann«. (PE 310) »Wo ich bin, ist Exil« (PE 205), wird Arnold Schönberg in den Mund gelegt, wodurch die Vielstimmigkeit innerhalb der Emigration vorgeführt wird, die hier in der Kontrastierung nationaler, politischer und jüdischer Selbstbestimmungen aufscheint. Verdichtet und zugleich ironisch gebrochen wird der von verschiedenen ›großen Männern‹ im Exil erhobene Anspruch auf Repräsentanz vor allem auch in der leitmotivisch aufgegriffenen Episode um Schönbergs Sessel – auf dem angeblich ursprünglich einmal Wagner gesessen hat –, der als Dingsymbol der verlorenen Heimat stilisiert wird: »Dieser Sessel ist das Einzige, was mit herübergekommen ist.« 14 Michael Lentz, Pazifik Exil, Frankfurt (Main) 2007, S. 226. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle PE auf diese Ausgabe. 15 Vgl. PE 338: »Heimat? Ende der Nationen, Auflösung ins Planetarische, das ist es, was bevorsteht.« Vgl. hierzu auch Katharina Gerstenberger, »Culture and Nation: Michael Lentz’ Pazifik Exil, Günter Grass’s Das Treffen in Telgte, and Christoph Ransmayr’s Die letzte Welt«, in Gegenwartsliteratur, Jg. 9 (2010), S. 243–262; Susanne Komfort-Hein, »›Alles Camouflage. Kurzes Leben, lange Kunst‹ – Gegenwärtigkeit im ›Pazifik Exil‹«, in Text + Kritik: Michael Lentz, hrsg. von Jan Wilm, München 2016 (im Erscheinen).
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(PE 203)16 Auf ausdrückliche Bitte Thomas Manns, ihm diesen Sessel zu leihen, überlässt ihn der jüdische Komponist dem Literaten, der sich in ihm an ›seinem‹ Deutschland abarbeitet, indem er den Doktor Faustus schreibt. Die Idee, dass das ›geliebte Objekt‹ ein »Stück gemeinsame Heimat« (PE 219) figurieren könne, wird dadurch zunichte gemacht, dass Thomas Mann ihn, aus der Perspektive Schönbergs, ganz für sich und seine Geltungsansprüche in Besitz nimmt. Tatsächlich ist der majestätische Ohrensessel »eine Art Herrschaftssessel in dem Sinne, dass eine Herrschaft darin Platz nimmt, eine Person von unbestrittenem Ansehen und Stand« (PE 221)17, auf dem natürlich immer nur eine Person Platz nehmen kann. Als Mann Schönberg den Sessel schließlich zurückgibt, hat dieser ein nicht sichtbares, für ihn aber deutlich spürbares Loch: »unter mir ist was faul. Ich kann die Stelle genau angeben, die mich belästigt. Es ist rechts hinten. Da hängt was durch.« (PE 202)18 Die Fokussierung des Möbelstücks als Heimatersatz und haltgebendes Fetischobjekt bringt die materiellen Bedingtheiten nicht nur des Exils, sondern auch des künstlerischen Schaffens und der Autorinszenierung in besonderer Weise zum Vorschein. Die Kontroverse im Exil, die anlässlich des Doktor Faustus zwischen Mann und Schönberg um Fragen von Autorschaft und geistigem Eigentum entbrannte,19 wird so auf komisch-groteske Weise auch als Ringen um einen tradierten Habitus und eine zur Gewohnheit gewordene ›Einrichtung‹ im Leben und im nationalen Kunstbetrieb dargestellt, die die ›großen Männer‹ zumal angesichts von deren im Exil merklich werdender Brüchigkeit nicht (mehr) kontrollieren können.20 Bereits in den widersprüchlichen Selbst-Äußerungen Thomas Manns wird auch der Zerfall einer mit sich identischen repräsentativen Sprecherrolle vorgeführt, wenn dieser sich »als Amerikaner« (PE 184) bezeichnet, im Auseinan16 Vgl. folgende Textstellen: »dieser Sessel ist Heimat« und »Ohne den Sessel […] wäre ich völlig haltlos gewesen« (204); sowie S. 207, wo es heißt, der Sessel verhelfe »zur Tuchfühlung mit der verlorenen Heimat«. 17 Vgl. hierzu auch Lena Gärtner, »Schönbergs Sessel. Zur Dekonstruktion des Mythos vom Exil-Autor in Michael Lentz’ Pazifik Exil«, in Exilograph 21 (Winter 2013/14), S. 7–8. 18 Vgl. auch S. 401: »der Sessel ist ein durch und durch literarischer Sessel, auch wenn Thomas Mann, so habe ich das ja schon lange im Verdacht, dieses Loch, das ich nicht mehr spüre, in den Sessel hineingemacht hat.« 19 Vgl. hierzu E. Randol Schoenberg (Hrsg.), Apropos Doktor Faustus. Briefwechsel Arnold Schönberg – Thomas Mann 1930–1951, Wien 2009. In der Saturday Review of Literature publiziert Schönberg etwa einen offenen Brief, in dem es heißt: »Thomas Mann hat in seine Roman Dr. Faustus unerlaubten Vorteil gezogen. Er hat als Helden dieses Romans einen erdichteten Komponisten geschaffen, […] ihn als den Schöpfer meines irrtümlicherweise so genannten ›Systems der zwölf Töne‹ gemacht […]. Er tat das ohne meine Erlaubnis und sogar ohne mein Vorwissen. Mit anderen Worten: er hat es sich ausgeborgt, als der Eigentümer abwesend war.« Zit. nach ebd., S. 140. 20 Zum Aspekt der Bedingtheit und Materialität der (Exil-)Existenz vgl. auch Exilforschung, Jg. 31 (2013): Dinge des Exils, hrsg. von Doerte Bischoff / Joachim Schlör.
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derfallen von Staatsbürgerschaft, Lebensort und Schreibsprache mithin auch eine Auflösung der für den Diskurs des Nationalen konstitutiven Verschränkung dieser Kategorien erkennbar wird. Ähnliches wird auch in der Reflexion über einen im Kaiserreich viel zitierten und für die nationale Aufrüstung instrumentalisierten Satz Emmanuel Geibels, »am deutschen Wesen soll die Welt genesen« (PE 118) vorgeführt: anstatt sich auf eindeutig konnotierte Aussagen der Dichter und Lebensäußerungen des Volkes beziehen zu können, wie behauptet wird, monopolisiert der nationale Diskurs eine ihm vorausgehende Vielfalt von Bedeutungen. Bei der Konstruktion nationaler Einheit und ursprünglicher Verwurzelung von Kultur handelt es sich also, wie mit Bezug auf die (entstellende) Rezeption Geibels im Kaiserreich ausdrücklich reflektiert wird, um eine nachträgliche Versammlung von Bedeutung, die eine Verwurzelung an der Stelle einer ursprünglichen Zerstreuung von Sinn behauptet.21 Dies wird dann noch einmal sehr deutlich anhand des von den Nationalsozialisten etablierten, angeblich auf germanische Wurzeln zurückgehenden Symbols der Swastika vorgeführt. »Das Zeichen, das die Nazis geklaut haben«, referiert Lion Feuchtwanger den in seinem Haus versammelten Mit-Exilanten über seine Recherchen, »war über die ganze Erde verbreitet. Manchen Völkern diente es als Glückssymbol, anderen als Sexsymbol.« (PE 313) Durch Vermittlung eines rassistischen Völkertheorien zugeneigten französischen Archäologen sowie Heinrich Schliemanns, der sich dessen Deutungen zu eigen macht, findet es seinen Weg in die völkischen Diskurse der Nationalsozialisten, wo es endgültig als ein »Ursymbol der arischen Rasse« (PE 315) festgeschrieben wird, womit alle anderen Bedeutungen ausgeschlossen und verleugnet werden. Spätestens im Exil sind die aus Deutschland Vertriebenen jedoch wieder mit der Vieldeutigkeit der nationalen Zeichen, die sich als synkretistische Konstruktionen erweisen, konfrontiert: Feuchtwanger etwa entdeckt die Swastika als ein dem Holz seiner kalifornischen Bibliothek überall eingeprägtes Muster, das den Gedanken, es handelte sich hier um eine Manifestation faschistischer Symbolik klarerweise zurückweist. Ebenso können die Bücher, die dann in dieser Bibliothek versammelt werden, nicht als nationaler Kulturschatz vereindeutigt werden. Nicht um Eliminierung des inkriminierten Zeichens könne es gehen, so Feuchtwanger, indem er den anderen das Szenario einer Bibliothek vor Augen stellt, die wegen ihrer Kontamination durch faschistische Symbole herausgerissen und vernichtet werden müsste. Vielmehr liege die Herausforderung gerade darin, an eine ursprüngliche Vieldeutigkeit zu erinnern und zu zeigen, auf welche Weise »der (synkretistische) Ersatz […] zur Ikone« (PE 317) habe werden können. Die 21 Vgl. Homi K. Bhabha, »DissemiNation«, in The Location of Culture, London / New York 1994, S. 139–170, hier S. 139: »The nation fills the void left in the uprooting of communities and kin, and turns that loss into the language of metaphor.«
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Perspektive des Exils wird dabei als eine präsentiert, aus der gerade nicht eine ursprüngliche Bedeutung nationaler Zeichen, die von den Nazis lediglich usurpiert worden wäre, rekonstruiert und bewahrt werden kann. Eher handelt es sich um eine Perspektive, die zur Wahrnehmung einer Vielfalt kultureller Sinnkonstruktionen und einer permanenten Wanderung und Umbesetzung kultureller Zeichen in besonderer Weise sensibilisieren kann. Tatsächlich wird diese Möglichkeit im Text allerdings nur an wenigen Stellen so direkt von den Exilanten selbst artikuliert wie in der Passage über die Swastika. Charakteristisch erscheint vielmehr die Art und Weise, in der die Exilanten weiterhin einer Rhetorik nationaler oder gar weltliterarischer Repräsentanz verpflichtet bleiben, die sie daran hindert, sich gegenüber der neuen Sprache und Umgebung zu öffnen. In der Situation des Exils erscheint jene Behauptung (national-)kultureller Repräsentanz regelrecht ›out of place‹ und damit – wie gezeigt – selbst einer Bewegung der Zerstreuung und Vervielfältigung ausgesetzt. Das wird besonders deutlich in der permanenten Bezugnahme auf die ›Welt‹, die ja bereits in dem Zitat über die Weltumseglung des Thomas Mann’schen RepräsentationsDiktums anklingt. So affirmieren die ins Exil verstoßenen deutschsprachigen Literaten und Künstler einerseits unverdrossen die Vorstellung ihrer umfassenden kulturhistorischen Bedeutsamkeit, etwa wenn Brecht die Überzeugung äußert, ein »weltberühmter deutscher Dramatiker zu sein, der zurzeit wohl bedeutendste Dramatiker überhaupt« (PE 247)22. Gleichzeitig wird die Rede von der ›Welt‹ ironisiert und gebrochen durch die Schilderungen der Reaktion amerikanischer Literatur- und Filmagenten sowie der amerikanischen Öffentlichkeit, denen weder der Name Brecht noch seine vermeintlich weltbedeutenden Theaterkonzepte etwas sagen. Das führt zu widerspruchsvollen Diagnosen und Selbstbestimmungen, die gerade als solche den Bruch mit einem traditionell eurozentrischen Kulturbegriff in Szene setzen. In einer Wiedergabe erlebter Rede Brechts klingt das im Text so: Das ist jetzt schon ein wenig peinlich, dass ich hier so ein wichtigtuerisches Zeug denke, die Selbstbeimessung von kulturhistorischem Wert ist aber eine gängige Krankheit unter Exilanten […]. Also wenn nicht gleich jemand kommt und den Brecht auf sein weltbedeutendes Theater anspricht, kann ihn die Welt hier mal am Arsch lecken. (PE 258)
Die Universalisierung des Eigenen, die dieses vor allem in Zeiten des Exils, in der die (nationale) Geltung des Autors in Frage gestellt ist, zu rechtfertigen und zu stabilisieren verspricht, wird hier offensichtlich durch die willkürliche, subjektive und situationsabhängige Bestimmung dessen, wer oder was überhaupt ›Welt‹ sei und die Andeutung, dass es möglicherweise mehrere oder viele Welten 22 Vgl. die ähnliche Formulierung in einem früheren Brecht-Kapitel: PE S. 177.
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geben könnte, gebrochen. Gegen das traditionelle Selbstverständnis der ›großen‹ Literaten und Künstler als Repräsentanten ›der‹ Kultur, artikuliert sich in der Beschreibung der Exilanten, die, wie es einmal heißt, »aus allen Erdteilen« in Pacific Palisades anlanden (PE 174), hier ein anderer Kosmopolitismus als ein Bezug zur Welt, der nicht mehr das Eigene als repräsentativ für das Ganze setzen kann, sondern der im Gegenteil das Eigene als einer Erfahrung von Vielfalt und Differenz ausgesetzt erlebt. Dass dies von den Exilierten nicht im Sinne einer neu gewonnenen Position oder Einsicht formuliert wird, sondern vielmehr gleichsam durch ihre traditionelle Narrative weiterhin affirmierenden Äußerungen hindurch sichtbar gemacht wird, zeigt, auf welche Weise der Text die Exildokumente und -reden als an der Schwelle eines kulturellen Narrativs stehende lesbar werden lässt. Die Rezeption der Archive des Exils folgt hier also nicht dem Ziel, die Selbstäußerungen der Exilanten einem Geschichtsnarrativ einzufügen, das dessen vergessene und lange verleugneten Teile aufnimmt und einem nationalen Kulturarchiv einfügt. Vielmehr wird die Möglichkeit einer solchen Einfügung als solche durch das Verfahren des Textes grundsätzlich infrage gestellt, Redezitate – ob als zitierte oder erfundene Exildokumente – als gebrochene, auf eine Erschütterung des einen (nationalen) Sinns etwa im Sinne einer Deckerinnerung bezogene vorzuführen. Jedes Exildokument verweist auf das mit seiner Artikulation zugleich verborgene, nicht gesagte andere, kann also nicht einfach ›beim Wort‹ (eines souveränen Autor-Subjekts) genommen, noch auf ein insgesamt kohärentes sinnstiftendes Narrativ bezogen werden. Indem die berühmten Exilanten selbst als »Ausstellungsstücke« (PE 270) figuriert werden, die in der Rezeption des Exils als Denkmäler des ›anderen‹, als Gründungsfiguren eines anderen Deutschlands zu erinnernde Figuren ihren festen Platz behauptet haben, wird die Aufmerksamkeit auf die Konstitution einer solchen Sammlung und Musealisierung des Exils und damit auf kulturelle Diskurse und Archive gerichtet, welche die Wahrnehmung des Exils zum Teil bis heute regeln. Wie bei Gstrein verweist auch bei Lentz die Konstellierung der Erzählanteile von männlichen und weiblichen Figuren auf einen vor allem von der Vorstellung großer männlicher Autorsubjekte dominierten Exildiskurs. Unterläuft Gstrein diesen durch die Dominanz seiner weiblichen Erzählerinnen, so hat bei Lentz die Rahmung des von den männlichen Figuren dominierten Großteils des Romans durch ein einführendes Kapitel23, in dem Marta Feuchtwanger als Ich-Erzählerin
23 Dem Marta-Kapitel vorgeschaltet ist noch ein kurzer Prolog mit dem Titel »Auszug«, der auf einen von Ovid, dem »ans Schwarze Meer Verbannte[n]« (PE 7), gestalteten Mythos Bezug nimmt, in dem sich infolge einer Metamorphose aus dem geopferten toten Stier (lat. apis) Bienen (apis) entwickeln, die, indem sie sich von ihrem sich zersetzenden Ursprungsort entfernen und fortfliegen, mit den Exilautoren, die »nicht mehr heim[finden]« (ebd.), analogisiert werden. Das Motiv der unmöglichen Rückkehr wird am Ende, wiederum in
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und Hauptfigur auftritt und eine Art Postskriptum, als dessen Verfasserin Katia Mann figuriert ist, eine ähnliche Funktion. Bereits das Marta-Kapitel lässt sich als eine Art Exposition lesen, indem hier die persönlich-subjektive Perspektive des Tagebuchs großen Raum einnimmt, noch dazu des Tagebuchs einer Frau, die vor allem als Gattin eines bedeutsamen Autors, nicht aber selbst als eine ihre Zeit deutende Literatin bekannt ist, zumal ihre einzige Publikation den sprechenden Titel Nur eine Frau24 trägt. Sie wird in ausdrücklichen Kontrast zum politischen Zeitgeschehen gesetzt, das aber gerade wegen seiner Unverbundenheit mit dem persönlichen Erleben umso unvermittelter und verstörender in das private Leben einbricht. »Die Nachricht«, so der Titel des Kapitels, ist die von der Machtergreifung Hitlers, die Marta auf einer Skihütte in den österreichischen Alpen erreicht: »plötzlich die Nachricht, dass Hitler an die Macht gekommen ist. Jetzt ist Hitler die Staatssicherheit, die Staatsunsicherheit, der Staatsuntergang. Und dabei sei gerade wieder die herrliche, die friedliche Zeit des Skilaufens ausgebrochen, schreibt Marta.« (PE 34)25 Was angesichts der umstürzenden historischen Ereignisse völlig unangemessen naiv wirkt, fungiert hier erzählstrategisch als ausgesprochen wirksamer Ausgangspunkt einer Perspektivierung der Zeitgeschichte, die sich nicht mehr in den gewohnten Kategorien und tradierten Narrativen beschreiben lässt. Dazu gehört auch, dass die Trennung von Privatheit und Politik, die im bürgerlichen Zeitalter auch mit der Geschlechterdichotomie verschränkt ist,26 angesichts einer radikalen biopolitischen Kontrolle aller menschlichen Bereiche durch rassistische Gesetze und staatsterroristische Aktionen als zentrales Ordnungsmuster grundlegend erschüttert wird. Dass Marta überhaupt schreibt, hat, so wird suggeriert, mit dieser Erschütterung zu tun, die von ihr aufgezeichnet, aber nicht – gekonnt, im Sinne einer souverän deutenden Verknüpfung des Persönlichen mit dem Allgemeinen – gedeutet und mit Sinn versehen wird. Vielmehr bleiben die unterschiedlichen Wahrnehmungen unvermittelt, den Bruch eher ausstellend als transzendierend oder verhüllend, nebeneinander stehen. Genau Bezug auf Ovid, mit Blick auf Thomas Mann Entscheidung, seine letzten Jahre in der Schweiz zu verbringen, noch einmal aufgegriffen. 24 Marta Feuchtwanger, Nur eine Frau. Jahre – Tage – Stunden, München / Wien 1983. 25 Die Textstelle verwendet wörtliche Passagen aus Marta Feuchtwanger, Nur eine Frau, S. 236. 26 Ganz im Sinne des Topos von der nur im Privaten, Familiären wirkenden Haus-Frau, die niemals daran gedacht hat, für die Öffentlichkeit zu schreiben und ›Autors-Künste‹ zu beanspruchen, wie er etwa in der Vorrede des männlichen Herausgebers Wieland zu einem der ersten deutschsprachigen Romane aus weiblicher Feder, der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, ausbuchstabiert ist, beginnt Marta Feuchtwanger ihr Buch mit den Worten: »Wenn ich mit Freunden zusammensitze und sie mich über mein Leben mit Lion ausfragen, erzähle ich von unseren kleinen und manchmal auch nicht so kleinen Erlebnissen oder von turbulenten Ereignissen, die über uns zusammenbrachen, und wie wir sie dann durchgestanden haben. Jedesmal bestürmen mich die Freunde, ich solle das alles niederschreiben. Schließlich tat ich es, aber nur für mich.« Marta Feuchtwanger, Nur eine Frau, S. 5.
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dies wird auch in den folgenden Kapiteln das leitende Strukturprinzip des Erzählens sein, das geeignet ist, das im ersten Kapitel programmatisch eingeführte Erzählen der Erschütterung in unterschiedlichen Varianten fortzuführen, indem es zum Teil berühmte Rede- und Textzitate der ›großen Exilkünstler‹ mit ähnlich disparaten Tagebuchnotaten und Alltagsbeobachtungen kontrastiert. Dabei sticht die Inkohärenz zwischen dem Persönlichen und Öffentlichen im Falle derjenigen besonders hervor, die sich selbst vor 1933 als bedeutende öffentliche Figuren wahrgenommen hatten, deren Repräsentanzanspruch aber nun zu einer leeren Hülse geworden ist, da Hitler den Staat repräsentiert, dessen Untergang er zugleich besiegelt. Auch dieses Bild ist im ersten Kapitel bereits präfiguriert, wenn nämlich die im Schnee die Orientierung verlierende Skifahrerin Marta über einen Zustand nachsinnt, in dem der Körper noch die vertrauten Bewegungen im Raum vollführt, während das Ich mit seinen Gedanken längst ganz woanders ist. Sie erinnert sich an einen Ausspruch der Mutter, diese würde gleich ›aus der Haut fahren‹ und an ihre kindliche Vorstellung von der Haut, die noch eine Weile neben der Mutter steht, um dann in sich zusammenzufallen (PE 26). Weist eine derartige ›Häutung‹ auf die in den folgenden Kapiteln geschilderte Exilsituation als Erfahrung eines Ausgesetztseins, auch des Verlusts eines wichtigen Wahrnehmungsorgans, das zwischen Selbst und Umwelt vermittelt, so figuriert es zugleich die Rollenhaftigkeit der Selbstbehauptungsversuche im Exil, die nur mehr als Hüllen ohne Substanz, als abnehmbare Masken einer theatralen Inszenierung, in Erscheinung treten. Ganz in diesem Sinne formuliert Heinrich Mann einmal, dass er beim Lesen seiner eigenen früheren Tagebücher das Gefühl habe, mit einem anderen konfrontiert zu sein. Das im Vergangenen Notierte lässt sich gerade nicht als früherer Zustands des Selbst wiederentdecken, dessen »Prognose auf die Zukunft« (PE 85) jetzt mit der aktuellen Gegenwart abgeglichen werden könnte. Stattdessen konfrontiert die Lektüre mit einer radikalen Diskontinuität, mit dem Auseinanderfallen zweier Zustände, die sich nicht in einem mehr in einem Zeitkontinuum verorten lassen: Beim Lesen der [eigenen] Tagebücher fragt man sich, ob man sich noch wiedererkennt, ob man nicht ein anderer geworden ist, und stellt erschrocken fest, dass der, den man als sich selbst wiederentdecken soll, längst verblüht ist. Wir sind zwei. Wir sind zwei, die nicht mehr zusammengehören. Ein Zwiespalt – und keine Brücke? (PE 86)
Hitler wird als ein »Sprung in der Geschichte« (PE 86) bezeichnet, wobei der Begriff ausdrücklich auch auf Geschichte als Fiktion bezogen wird: als Sprung oder Riss einer erzählerischen Sinnstiftung, die auch ein mit sich identisches Erzählsubjekt suggerieren konnte. Jetzt hingegen erscheint die Vorstellung von einem souveränen Autorsubjekt fragwürdig: »Plötzlich aufflammende Gewissheit, das alles gar nicht geschrieben zu haben, da hatte mir wer anders die Feder geführt.« (PE 84) Anders als bei Gstrein und doch strukturell mit ähnlicher
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Wirkung wird die Biografie als Ausdrucksform grundsätzlich problematisiert, von der in besonderer Weise erwartet wird, dass sie geschichtliche Ereignisse und Umstürze durch eine Fokussierung individuellen Erlebens erleb- und deutbar erscheinen lässt. Wo die spätere Lektüre eines Tagebucheintrags durch dieselbe Person Zweifel an der Möglichkeit einer kohärenten Lebenserzählung aufwirft, ist erst recht Skepsis und Vorsicht geboten im posthumen Umgang mit Archivmaterialien und sogenannten Ego-Dokumenten. Die in der Erforschung und Rekonstruktion des Exils nicht seltene Tendenz, selbst banalste Lebensäußerungen, die von alltäglichen, durchaus exiltypischen Widrigkeiten, Zwisten und Gebrechen berichten, als für die Nachwelt bedeutungsvolle Geschichtszeugnisse zu hypostasieren, wird damit als Symptom einer Selbstermächtigung der Nachgeborenen angesichts nicht integrierbarer historischer Brüche und Dekompositionen lesbar gemacht. Insofern nimmt der Roman, der selbst aus zahlreichen Briefen, Tagebucheinträgen und Arbeitsjournalen zitiert und Zitate collage- oder kaleidoskopartig arrangiert,27 die historischen Autoren des Exils durchaus auch ›beim Wort‹, spürt jedoch, anstatt sie als mächtige Symbole einer Epoche bzw. Kultur zu inszenieren, den von ihnen kaum verdeckten, ja häufig sogar ausdrücklich markierten Rissen und Inkohärenzen nach. Der Wechsel der Personalpronomina in der oben zitierten Textpassage ist wie bereits in dem Marta-Kapitel und auch sonst im Text symptomatisch für eine Verunsicherung im Hinblick auf die Frage, wer spricht und inwiefern sich in der Rede Gemeinschaft (also ein ›wir‹) bzw. eine Dissoziation einer zentralen Redeinstanz manifestiert. Als »theatralisch in Szene gesetzter Traum« bezeichnet Heinrich Mann denn auch das Wir, das sich offenbar auf die Exilgemeinschaft bezieht: »Wir sind immer beides, gestorben und gegenwärtig entrückt.« (PE 85) Bezieht sich dies einerseits offensichtlich auf die Exilsituation, die ein Absterben eines früheren Ich impliziert und eine Spaltung, einen Bruch im Eigenen impliziert, der das Bild von der abgelegten Haut noch einmal evoziert, so lässt es sich auch, wie schon dargestellt, als Kommentar auf die Rezeption des Exils und seiner Vertreter begreifen. Vor allem im Marta-Kapitel wird die Du-Form intensiv verwendet, die ja auch im Roman von Gstrein eine zentrale Rolle spielt. Offensichtlich wird hier mit der Möglichkeit eines Selbstgesprächs – etwa im Sinne von Selbstbefragung und Selbstvergewisserung – gespielt, aber auch die Möglichkeit angedeutet, dass die Anrede eine Art Apostrophe eines anderen Sprechers darstellt, welche die dargestellte Figur überhaupt erst in und mit Sprache zum Leben erweckt. Während bei Gstrein dadurch ein jüdischer Exilant präsentiert wird, der Opfer nicht nur nationalsozialistischer Gewalt, sondern 27 Vgl. hierzu Agnes Bidmon, »Michael Lentz: ›Pazifik Exil‹«, in Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hrsg. von Bettina Bannasch / Gerhild Rochus, Berlin / Boston 2013, S. 413–420, hier bes. S. 419.
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auch einer instrumentalisierenden Erinnerung an diese Zeit ist, schreibt Lentz’ Roman eine auf ihre Weise bislang stumme weibliche Perspektive auf das Exil in das Narrativ der großen Männer als Repräsentanten der (deutschen) Kultur ein. Bemerkenswert ist dabei, dass in beiden Romanen die Verwendung der DuPerspektive dazu führt, dass die Grenze zwischen intradiegetischem Geschehen und extradiegetischer Welt durchlässig bzw. unzuverlässig wird. Als Leser des Textes fühlt man sich durch das zunächst nicht im Hinblick auf eine bestimmte Figur konkretisierte Du angesprochen und metaleptisch in das Geschehen involviert. Dies hat, wie beschrieben, einerseits den Effekt einer besonderen empathischen Beziehung zu jener Figur, in deren Nähe der Leser zunächst gerückt wird. Darüber hinaus wird die Grenze zwischen faktualer und fiktionaler Welt offensichtlich instabil,28 wodurch die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten und Grenzen ihrer Konstitution und Überschreitung durch Identifikation und sprachlich-literarische Darstellung gelenkt wird. Am Ende des Romans erzählt Katia Mann vom Tod aller namhaften Vertreter des Exils, womit die Frage nach den Formen und Funktionen der Erinnerung an sie in den Vordergrund tritt. Durch seinen eigentümlichen Umgang mit den ikonischen Figuren, Zitaten und Dokumenten des Exils eröffnet Lentz’ Text selbst Möglichkeiten einer literarischen Erinnerung des Exils, die dessen Gegenwärtigkeit akzentuiert, indem er zugleich die in seinen Zeugnissen zutage tretenden Grenzen einer bruchlosen Repräsentation von Kultur und Geschichte vorführt. Während Norbert Gstreins Die englischen Jahre gewissermaßen noch an der Schwelle eines Exildiskurses steht, der vor allem die Notwendigkeit akzentuiert, die Vertriebenen zu erinnern, indem mit ihnen in Zusammenhang stehende Dokumente und Materialien möglichst umfänglich gesichert und dem (national-)kulturellen Gedächtnis einverleibt werden, ist die Abwendung von diesem Narrativ in Michael Lentz’ Pazifik Exil deutlich vollzogen. Das in Fülle vorhandene (Archiv-)Material wird hier spielerisch, mit fiktionalisiertem Material kombiniert, eingesetzt, wodurch erstarrte Exilanten-Hagiografien aufgebrochen und Fragen nach den Bedingungen des Erinnerns jenseits homogenisierender Erzählungen von kultureller Repräsentanz und Tradition neu gestellt werden. Beide Texte problematisieren dabei ausdrücklich Formen und Erscheinungsweisen kultureller Erinnerung, die eine Rhetorik der Selbstvergewisserung und Homogenisierung reproduzieren, auch und gerade wo diese sich auf ein ehemals historisch Ausgegrenztes bezieht. Während sie moralisches und kulturelles Kapitel ansammelt, trägt sie, so wird gezeigt, zu einer Fetischisierung verstreuter Funde und Objekte des Exils bei und tendiert dazu, Brüche im Eigenen zu verdecken. Keiner der beiden Texte nimmt ausdrücklich auf neuere Phänomene 28 Vgl. Fludernik, »You and We Narrative-Multiplicity«, S. 113, 117, 118f., 122.
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von Vertreibung und Exil sowie auf die Frage nach der Möglichkeit Bezug, diese in der Rückschau auf das historische Exil zu deuten. Dennoch laden sie durch die Problematisierung traditioneller Narrative von kultureller Homogenität und Repräsentanz auch zur Reflexion über Wege und Grenzen der Repräsentation aktueller Exilschicksale ein.
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An Flüchtlinge erinnern. Ursula Krechels Shanghai fern von wo als Spurensuche
Flüchtlingsfiguren werden in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur so dargestellt, dass sich Reflexionsräume öffnen für Fragen nach der Umschreibung als Bedingung der Erinnerung an Flüchtlinge. Einerseits handelt es sich um die literarische Bearbeitung der Frage, wie Flüchtlinge von anderen erinnert werden, und um die soziokulturelle Auseinandersetzung mit Darstellungsmitteln bzw. -techniken, die zum Zweck der Identifikation von Flüchtlingen hervorgebracht worden sind. Andererseits kann Literatur die Erinnerung einzelner Flüchtlinge selbst behandeln, wie sie die Welt und andere Personen sehen, hören, erinnern. Genau dieser Perspektivwechsel, das Hineinversetzen in verschiedene Haltungen und deren Narrativierung, ist eine besondere Leistung der Literatur. Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo, der 2008 erschien, modelliert gesellschaftliche und individuelle Erinnerungen von Flüchtlingen auf besondere Weise.1 Das hat unter anderem damit zu tun, dass Krechel mit dem Roman einen diachronen Horizont ins Spiel bringt, insofern der Text als historischer Roman zu verstehen ist, der die Geschichte(n) von historischen Flüchtlingsschicksalen erzählt. Der Roman behandelt die Erinnerung von jüdischen Flüchtlingen, die aufgrund der Verfolgung in NS-Deutschland und Österreich nach Shanghai geflohen waren. Damit entwirft Krechels Erzählverfahren eine zugleich historische und historisierende Perspektivierung des hochaktuellen Flüchtlingsthemas. Der Roman vergegenwärtigt vergangene Flüchtlingsschicksale und historisiert das globale und immer noch gegenwärtige Phänomen der Staatenlosigkeit. In der folgenden Textanalyse möchte ich Krechels raffinierter Rekonstruktion einiger historischen Flüchtlingsschicksale in Shanghai nachgehen. Diese Rekonstruktoon entwickelt sich aus einem Perspektivenensemble, das durch die Figurierung und Narrativierung von staatenlos gewordenen Personen zustande kommt und sich aus dokumentarischer Recherche speist. Die in Archiven gespeicherten und von Krechel aufgefundenen Dokumente bilden die 1 Ursula Krechel, Shanghai fern von wo, München 2010. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
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Medien sowie Vorlagen der daraus resultierenden Erzählung. Diese Erzählung stilisiert sich, so meine These, als eine Spurensuche: als eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Dokumenten, in denen die Spuren der Erinnerungen der betroffenen Flüchtlinge überhaupt noch auffindbar sind und narrativ rekonstruiert werden können. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, führt Krechels Roman außerdem vor, dass das Nacherzählen dieser Flüchtlingsschicksale eine Zeugenschaft ablegen kann, insofern die Niederschrift dieser Geschichte(n) gewissermaßen Zeugnisse nachliefert. In der methodischen Reflexion ihrer Spurensuche entfaltet sich die Komplexität von Zeugenschaft narrativ. Die Aufforderung, diverse Spuren von Fluchtgeschichten zu verfolgen und dadurch in Erinnerung zu bringen, entpuppt sich aber – und das bildet den besonderen Dreh- und Angelpunkt von Krechels Auseinandersetzung – als ein lückenhaftes und heterogenes narratives Verfahren. Das hat unter anderem mit den Aporien einer Zeugenschaft zu tun, die sich auf Papiere stützt und Dokumente erfordert.
Shanghai Historische Ereignisse bilden den Romanstoff, nämlich die Geschichten der ca. 18.000 Juden aus Deutschland, Österreich, Polen, Italien, der Tschechoslowakei oder anderenorts, die ab 1938 infolge der von den Nazis durchgeführten Pogrome nach Shanghai geflohen waren.2 Shanghai vor 1941, Schauplatz der Ereignisse im Roman, stellt aus heutiger Sicht einen längst vergangenen und inzwischen fast unvorstellbaren Zufluchtsort dar. Schon damals war es einer der wenigen Zufluchtsorte in einer modernen Weltordnung, die Enklaven und Asylstätten zunehmend zu ausgeschlossenen Orten der Einschließung umwandelte.3 Nach dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) wurde Shanghai 1843 zur ›offenen Stadt‹ erklärt. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in der chinesischen Hafenstadt offiziell ein ›International Settlement‹ neben einer separaten französischen Konzession, es wurde von internationalen Mächten, vor allem Vertretern aus Großbritannien, den USA, Dänemark, Deutschland sowie Japan in Form eines Municipal Councils verwaltet. Dort lebten Menschen aus 46 Ländern, viele mit dem Status der Extraterritorialität, da im Vertragshafen Händler unter der Gerichtsbarkeit ihres eigenen Landes standen. Unter anderem hatte das zur Folge, dass in Shanghai keine Visumspflicht bestand. Damit ergab sich 2 Einen historischen Überblick liefert Astrid Freyeisen, »Shanghai. Rettung am ›schlechtest möglichen Ort‹ der Welt?«, in Exilforschung 20/2002, S. 269–293, zu den Zahlen S. 269. 3 Joseph Vogl, »Asyl des Politischen. Zur Topologie politischer Gelegenheiten« in Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, hrsg. von Uwe Hebekus / Ethel Matala de Mazza / Albrecht Koschorke, München 2003, S. 23–38, hier S. 35.
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für die jüdischen Flüchtlinge, für die seit Juni 1938 fast alle anderen Länder ihre Grenzen geschlossen hatten, die Möglichkeit einer Einreise nach Shanghai. Viele der jüdischen Flüchtlinge siedelten sich im Stadtteil Hongkew an, wo um 1930 japanische Einwohner die Mehrheit ausmachten. Mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Japan und den USA übernahm Japan 1941 die Kontrolle über Shanghai und damit die Verwaltung der jüdischen Flüchtlinge. Hongkew wurde zum sogenannten Shanghaier Ghetto und für weitere jüdische Einwanderung geschlossen. Außerdem wurde im Herbst 1941 die Elfte Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz in Deutschland beschlossen, die alle Emigranten ausbürgerte. Ab diesem Zeitpunkt wurden die in Shanghai lebenden jüdischen Flüchtlinge staatenlos. Im November 1944 waren 14.046 »Einwohner« – das heißt staatenlose jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich, Ungarn, Polen, Lettland, Litauen und Estland – im am 18. Februar 1943 etablierten Shanghaier Ghetto angemeldet.4 Der Roman ist das Ergebnis von Krechels langjähriger Forschung zur Geschichte der im Exil lebenden Juden in Shanghai. Ihre Forschung bestand aus einer intensiven Recherche zahlreicher Dokumente aus dieser Zeit, mündliche wie veröffentlichte, »in Archiven vergrabene[…]« Lebensberichte, wie es im Nachwort zum Roman (auf einer nicht nummerierten Seite) heißt. Sie recherchierte unter anderem in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und in Yad Vashem in Jerusalem. Darüber hinaus hat sie Akten von internationalen humanitären Hilfsorganisationen und deutschen Behörden gesichtet, die zum Beispiel im Bundesarchiv des Auswärtigen Amts aufbewahrt sind. Ursula Krechel ist jedoch keine Historikerin, sondern war als promovierte Literaturwissenschaftlerin lange in der Theaterbranche tätig und publizierte Lyrik.5 Shanghai fern von wo setzt mit der Einreise einiger Flüchtlinge in Shanghai ein. Der Roman nutzt historische Personen und Geschehnisse, die Krechel im Laufe ihrer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema (unter anderem in diversen Dokumenten) begegnet sind, für eine fiktionale Nacherzählung. Dadurch kommen die verschiedenen Personen als Romanfiguren zu Wort, und werden zueinander in einen neuen Sinnzusammenhang gesetzt. Dieser Sinnzusammenhang ist freilich wiederhergestellt und fiktional, bringt aber als performativer Sprechakt diese Flüchtlingsschicksale wieder ans öffentliche Licht. So gewinnen LeserInnen im Modus der Fiktion Einblicke in die Wirkungen der historischen Geschehnisse auf die Einzelschicksale der betroffenen Flüchtlinge. 4 Krechel gibt diese Informationen aus dem Gedächtnis von Lazarus wieder, S. 305; vgl. die Zahlen für Februar 1943, die ca. 3.000 mehr Angemeldete beträgt: Marcia Reynders Ristaino, Port of Last Resort. The Diaspora Communities of Shanghai, Stanford 2001, S. 195. 5 Dafür arbeitet sie mit einigen Zeugnissen und Lebensberichten, die zum größten Teil auch Historikern sowie einer breiteren Leserschaft bekannt sind, z. B. die Erinnerungen von Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht und Exil einer Wienerin, Wien 1987.
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Durch die Verteilung der Erzählstimmen und den Perspektivenwechsel zwischen handelnden, beobachtenden und reflektierenden Personen werden außerdem mehrere Perspektiven auf die Geschehnisse eröffnet. Akteure, Ereignisse und vor allem Perspektiven werden daraufhin zu einem Erzählteppich verwoben. Zwar verfügt eine in der Vergangenheitsform erzählende heterodiegetische Stimme über eine übergeordnete Erzählinstanz, die den Personalerzählern nicht zur Verfügung steht, aber die meisten Geschehnisse werden so nacherzählt und geschildert, wie die Flüchtlinge sie damals hätten selbst erleben oder sich später in Lebensberichten erinnern können. Dabei hebt die heterodiegetische Erzählstimme hervor, wie sehr die Erzählbarkeit dieser Geschichte von realen Dokumentationen abhängt. Sie etabliert sich als eine forschende Erzählinstanz auf der Spurensuche dieser ansonsten nur teilweise erzählten Einzelgeschichten sowie der historischen Zusammenhänge. Damit wird die heterogene Rekonstruktion als ein Supplement zur Zeugenschaft dargestellt, die aber nicht abgelegt wurde (und nicht ablegbar ist). Das Nacherzählen dieser Fluchtgeschichten erweist sich als eine hochgradig vermittelte Begegnung mit heterogenen und lückenhaften Spuren, die Flüchtlinge in verschiedenen Dokumenten hinterlassen haben. Die Rekonstruktion zeugt für die Flüchtlinge, denen das Hinterlassen eigener Zeugnisse verwehrt blieb.
Papiere – Sprache – Schrift Erinnerung ist in Krechels Roman zutiefst durch Papier und Schrift bedingt. Was von den Flüchtlingen hinterlassen wird, was die Erinnerung an sie bestimmt, hängt meistens davon ab, was auf Papier niedergeschrieben und im besten Fall aufbewahrt wurde. Auch wenn die Einreise und der Aufenthalt in Shanghai ohne Visum möglich waren, findet in Krechels Roman kurz vor Ankunft am Hafen von Shanghai trotzdem eine amtliche Prozedur für die einreisenden Flüchtlinge statt. Schon auf dem Schiff werden Tische aufgestellt und mit Schreibmaschinen, Stempeln sowie Stempelkissen versehen. Mit dem Erscheinen eines Magistratsbeamten und einem begleitenden Dolmetscher entsteht eine provisorische, mobile Einwanderungsbehörde. Dementsprechend werden die auf der Passagierliste eingetragenen Namen aufgerufen (20). Die Passagiere treten mit ihren mitgenommenen Pässen und diversen Zeugnissen vor, aber der Magistrat interessiert sich nur für zwei Sachen: Erstens für die Abgleichung der Namen mit den einreisenden Personen, zweitens für die Antwort auf die Frage: »Was können Sie?« Allen in Pässen festgeschriebenen Berufsbezeichnungen zum Trotz, ist diese nur als eine praktische Frage zu deuten. Obwohl der Passagier Aladar Taussig zum Beispiel Rechtsanwalt im ehemaligen ÖsterreichUngarn (inzwischen Rumänien) war, nutzt es ihm nichts in Shanghai. Seine Frau
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Franziska dagegen, die vorher keinen Beruf ausgeübt hatte, kann zumindest kochen und bekommt dafür vom Magistratsbeamten einen entsprechenden Schein. Eine Gruppe europäischer und chinesischer Arbeitgeber kommt darauf an Bord, ruft die gelisteten Personen auf, schaut sie von Kopf bis Fuß an und fragt weiter nach dem Können. Da ein Arbeitgeber in seinem Restaurant Apfelstrudel anbieten möchte, findet Franziska Taussig Arbeit als Köchin in Shanghai. So werden die Flüchtlinge in Shanghai angemeldet: mit dem Namen und der gerade erst festgelegten und zugeschriebenen Arbeitstätigkeit. Ansonsten, wie ein Sprecher des Hilfskomitees ihnen mitteilt, sind sie »nur noch Juden«, also keine Deutschen oder Österreicher mehr (24).6 Das wurde dann auch 1941 mit der Ausbürgerung aller »Emigranten« unter dem deutschen Reichsgesetz de jure festgeschrieben. Die Bedeutung der Dokumentation für die Sans Papiers findet in der Schilderung der Figuren einen geradezu körperlichen Ausdruck: In der Szene der Einwanderungsbehörde auf dem Schiff zeigt sowohl der Magistratsbeamte ein »papierenes Lächeln« (20) als auch Franziska ein »[p]apierfeines Lächeln« (21). Auf den Gesichtern der Personen wird die prägende Funktion dieser medialen Bedingung der sozialen Interaktion eingeschrieben. An den Gesichtszügen der Figuren wird die vermittelnde bzw. verwaltende Rolle des Papiers bei der Anmeldung der Flüchtlinge in Shanghai ablesbar. Dieses gewissermaßen dokumentale Dasein wird immer wieder Thema im Roman. Es prägt sowohl die rekonstruierten Geschichten der handelnden Personen als auch die Stilisierung des erzählerischen Umgangs mit dem Erzählten. Die Erzählkonstruktion des Romans versucht, ein polyphones Ensemble von Flüchtlingsgeschichten zu einem historischen Panorama zu formen, um ein breites Spektrum von Schicksalen, Sichtweisen und Stimmen zu vereinen. Insofern lenkt das Buch den Blick auf die verwobenen Wege verschiedener Flüchtlinge in Shanghai: die Familie Tausig aus Wien bzw. Ungarn; der mit Walter Benjamin befreundete Kunsthistoriker Lothar Brieger ; der Uhrmacher Kronheim und seine Frau; die Familie Rosenbaum (auf die ich unten weiter zu sprechen kommen werde); Genie und Günter Nobel, zwei deutsche Kommunisten, denen kein Asyl in der Sowjetunion gewährt wurde. Außerdem finden in der Erzählung die Geschichten von SS-Männern in Shanghai Platz, insbesondere diejenige eines ehrgeizigen Rundfunk-Attach8s, der zum Zweck der Verbreitung von NS-Propaganda einen Rundfunksender in Shanghai gründet. Allerdings würde ich Krechels Roman letztendlich nur bedingt als polyphon beschreiben. Zweifellos lässt sich dies zum einen auf ihre frühe Karriere als Lyrikerin zurückführen: Rhythmus und Wortbildlichkeit der Prosa laufen auf 6 Eine Aussage, die in Hannah Arendts Analyse von 1943 anklingt. Siehe »We Refugees«, in Altogether Elsewhere. Writers on Exile, hrsg. von Marc Robinson, Boston / London 1994, S. 110–119.
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eine oft lyrische Sprache hinaus. Die lyrische Sprache als dezidiert poetisches Merkmal in Krechels Roman wirkt dabei gegen dessen Mehrsprachigkeit, weil dieser sprachliche Stil alle Figuren- sowie Erzählerrede durchläuft und dadurch die Wahrnehmbarkeit unterschiedlicher Stimmen unterläuft. Es lässt sich vermuten, dass die Erzählstimme den Flüchtlingen jene Kommunikationskraft oder Sprachfähigkeit wiedergeben soll, die ihnen in manchen Fällen im Exil nicht mehr zur Verfügung stand. Krechels Roman führt vor, wie der Verlust des Sprachzusammenhangs den Ausfall wesentlicher gesellschaftlicher Interaktionen bedeuten kann. Sprache wird im Roman im wahrsten Sinne poetisch – sie bringt einiges hervor, wie die »Unheimlichkeit« einer Begegnung zwischen der Familie Rosenbaum mit einem russischen Flüchtling, der als Pelzhändler in Shanghai arbeitet, veranschaulicht. Die Rosenbaums sind als Hersteller von Handschuhen in Shanghai tätig. Durch eine Zeitungsanzeige erfahren sie von einem gewissen russischen Pelzhändler, den sie als möglichen Konkurrenten oder Lieferanten in seinem Laden besuchen. Ohne eine gemeinsame Sprache, die die Kommunikation zwischen ihnen ermöglichen würde, finden die beiden Parteien allerdings keine Grundlage eines künftigen Handels. Bemerkenswert an dieser Stelle ist die Sprachauffassung, die auf Basis dieser Begegnung entworfen wird. Als eine poetische Tätigkeit ähnelt die Sprache dem Herstellen von denselben Handschuhen, die sie zugleich durch sprachliche Verhandlung zustande bringen soll: Die Sprache hätte ein Faden sein müssen, mit einer Ledernadel in die vorgestanzten Löcher zu platzieren: Wörter wie Hochachtung, Staunen, noch einmal Hochachtung und Konkurrenz, ein Wort, bei dem möglicherweise die Nadel abbrach, Knoten im Garn, Ungeschicklichkeiten, ein Fehler. Die Sprache heftete zusammen und machte aus verschiedenartigen Teilen etwas Unerwartetes. Handwerk des Sprechens, ein begabtes Mundwerk, ein staunenswerter Gegenstand. (188)
Es geht nicht nur um die Sprache als kommunikatives Bindeglied zwischen Personen (und Dingen), sondern darüber hinaus um das Entstehen des Unerwarteten im Ereignis der Sprache. Angedeutet wird hier, dass sich etwas ereignet in und durch die Sprache, dass Sprache selbst ein Ereignis sei, da das Unerwartete durch sie entstehen könne. Den Flüchtlingen wird mangels dieses Fadens der Sprache die Möglichkeit der Ereignishaftigkeit verweigert. Wo aber diese erstaunenswerte poetische Kraft der Sprache fehlte, setzt Krechels verbindende Sprache ein, um narrative Knoten herzustellen, mit denen die verschiedenen Lebenswege der Figuren wieder zusammengeführt und sprachlich erfasst werden können. Damit ereignet sich, wenn auch nachträglich, doch wohl etwas.
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Zeugnisse In Krechels Roman kommen also einerseits unterschiedliche Flüchtlinge zu Wort, von denen man sonst nicht erfahren hätte. Ein breites Spektrum an sprechenden Figuren wird entworfen, Figuren, die meist auch zu reflektierenden Handlungsträgern erhoben werden, obwohl, wie schon erwähnt, nicht unbedingt von einer regelrechten Mehrsprachigkeit die Rede sein kann. Andererseits geht es Krechels Text um die Wirksamkeit der Sprache als Schrift. Immer wieder werden die für das soziale Leben bestimmenden Funktionen der Schrift hervorgehoben, wenn es bei den Flüchtlingen auch häufig um dysfunktionale Beispiele geht, wie in der Interaktion zwischen Amtspersonen und Flüchtlingen bei der Einreise deutlich wurde. So nimmt Krechel die verschiedenen sozialen Konstellationen sowie Institutionen unter die Lupe, die durch Schrift ermöglicht, aber aus denen die Flüchtlinge ausgeschlossen werden. Gewisse Bedingungen dieser durch Schriftlichkeit entstandenen Sozialität zeigen sich also an den Flüchtlingsschicksalen, die durch Krechels Auseinandersetzung mit deren schriftlich sehr lückenhaft fixierten Spuren rekonstruiert worden sind. Damit geht der Roman den Facetten einer möglichen Zeugenschaft des Flüchtlings nach, deren Grundbedingung eine Niederschrift zu sein scheint. Schon die fehlende Dokumentation der Identität der Flüchtlinge, die wegen der Ausbürgerung in Shanghai zu Staatenlosen gemacht wurden, deutet auf den Bedarf nach einer alternativen Instanz hin, die für die Identität des Flüchtlings bürgen könnte. So war für viele ein Attest durch Dritte eine Voraussetzung (unter anderem) für den Erhalt eines Visums zur Weitereise nach Amerika. Krechels heterodiegetische Erzählstimme beschreibt den Umgang mit den bestehenden und an verschiedenen Orten aufbewahrten Personaldokumenten. Dabei mischt sich die Erzählstimme in die erzählte Geschichte, trotz des vermeintlichen Zeitabstandes, und wird durch diese Erzählertätigkeit gleichsam nachträglicher, aber unabdingbarer Zeuge der Flüchtlingsschicksale. Als Erzählprogramm wird diese Art literarischer Zeugenschaft nicht expliziert, sie bildet sich eher indirekt im Laufe der Erzählung heraus. Hervorgehoben werden gewisse Zwickmühlen der handelnden und erzählenden Flüchtlinge, von denen die heterodiegetische Erzählstimme auch nicht unbelastet bleibt: Wenn die soziale Existenz von Personen weitgehend durch institutionelle Dokumentationspraktiken ermöglicht wird, die aber staatenlose Personen verfehlen, hat das gravierende Folgen für eine Erinnerungskultur, die sich auf die narrative Rekonstruktion der Spuren stützt. Welche Erzähler sind in der Lage, die dadurch entstandenen Lücken auszufüllen? Wer kommt damit zu Wort? Was kann unter diesen Umständen bezeugt werden? Explizit wird die Auseinandersetzung mit der Materialität verschiedener Dokumente der Zeugenschaft thematisiert. Der Bedeutung der dokumentierten
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bzw. dokumentierbaren Identität einer Person waren die Flüchtlinge sich sehr wohl bewusst. So besteht Max Rosenbaum auf der standesamtlichen Anmeldung der Geburt seines Sohnes in Shanghai. Der Jurist Rosenbaum behauptet: »Wer gemeldet ist, kann nicht verlorengehen in der Welt« (176). Rosenbaum hatte kurz davor die Spur eines Bekannten verloren, eines anderen Flüchtlings, der es nicht rechtzeitig nach Shanghai geschafft hatte. Er verschickte zahlreiche Briefe an ihn nach Zürich, die allerdings unbeantwortet blieben. Für seinen Sohn hingegen will er eine Verortbarkeit durch standesamtliche Anmeldung sicherstellen. Diese Festlegung einer Identität erweist sich allerdings als problematisch, als Rosenbaum vom deutschen Konsulatsbeamten in Shanghai erfährt, dass er einen deutschen Pass für seinen Sohn Peter nur beantragen darf, wenn er ihn unter einem Namen, der nicht »arischen Staatsbürgern vorbehalten« sei, registriert (179). Die Familie Rosenbaum meldet Peters Geburt stattdessen beim Shanghai Municipal Council an. In diesem Verfahren einer Geburtsanmeldung kann die bezeichnende Funktion des Eigennamens nicht mehr vorausgesetzt werden. Eigennamen, die gewöhnlich für nicht-indexikalische Zeichen gehalten werden – Peter Rosenbaum ist Peter Rosenbaum, egal wo er ist – hängen nun doch vom Kontext ab. Im NS-Staat darf kein jüdisches Kind »Peter« heißen. Diese radikale Regelung der Namensgebung, die die NS-Regime eingeführt hatte, entspricht keiner herkömmlichen Praxis, weder im deutschsprachigen Raum noch darüber hinaus. Die Eigennamen verlieren nun ihre Selbstverständlichkeit und ihre Bezeichnungskraft: »Peter Rosenbaum« bezeichnet keine neugeborene Person in NS-Deutschland, in Shanghai aber doch. Indem Eigennamen wie indexikalische Zeichen behandelt werden und damit die Diskrepanz zweier Denotationsregimes deutlich wird, rückt das von Walter Benjamin beschriebene »Geheimnis des Personennamens« in den Vordergrund, der fragte, ob der Name an einer Person hängt oder eine Person an einem Namen.7 Benjamins Frage wird vehement, wenn selbst Eigennamen wie sogenannte »Shifters« fungieren.8 Eigenammen hängen nun von bestimmten Kontexten ab, doch selbst das Wissen um diese Kontexte ist für die Flüchtlinge kein allgemein geteiltes. Um ein solches Wissen über und von Flüchtlingen herzustellen, müssen diese Personen immer wieder neu narrativ verankert werden. Anhand der geschilderten
7 Walter Benjamin, »Erste Notizen: Pariser Passagen I«, in Gesammelte Schriften, Frankfurt (Main) 1991, S. 991–1038, hier S. 1036: »Bin ich der, der W. B. heißt? oder heiße ich bloß einfach W. B.? Das ist in der Tat die Frage, die ins Geheimnis des Personennamens einfu¨ hrt und sie ist ganz richtig in einem nachgelassenen ›Fragment‹ von Hermann Ungar formuliert: ›Ha¨ ngt der Name an uns oder ha¨ ngen wir an einem Namen?‹ H. Ungar : Fragment in: Das Stichwort Ztg (Zeitung) d(es) Th(eaters) a(m) Schiffbauer Damm Dezember 1929 p. 4«. 8 Vgl. Monika Fludernik, »Shifters and Deixis: Some reflections on Jakobson, Jespersen and reference«, in Semiotica, Jg. 86 (1991), S. 193–230.
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Flüchtlingsschicksale zeigt uns Krechels Roman aber, dass eine solche Verankerung nicht ohne Rest erfolgen kann. Krechels Roman fragt, inwiefern die amtliche Erfassung einer Identität auf Papier die verwaltete Wiederaufrufbarkeit der Person sowie die Erinnerung an sie wenn nicht zusichert, dann zunächst ermöglicht. An den Flüchtlingsschicksalen wird der prekäre Status der Anmeldung im weiteren Sinne als schriftliche Eintragung auf einem Speichermedium deutlich. Die Dokumentation eines Flüchtlings nimmt über die amtliche Anmeldung hinaus verschiedene Gestalten im Roman an: Lebensberichte, Briefe und nicht zuletzt der Roman selbst als eine Art Dokumentation zweiter Ordnung. Die Erzählung konstituiert sich somit als Verfahren des Sammelns bzw. der Narrativierung der in verschiedenen Dokumenten hinterlassenen Spuren dieser Flüchtlingsschicksale. So werden die vermittelnde Rolle der verschiedenen Erzählinstanzen sowie die nicht übereinstimmende Lückenhaftigkeit von deren Erzählungen hervorgehoben. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Erzählung nimmt der in Nachkriegsdeutschland auf Tonband aufgezeichnete Lebensbericht des Flüchtlings Ludwig Lazarus ein. Der jüdische Buchhändler aus Berlin entkam dem Konzentrationslager Buchenwald und flüchtete 1940 nach Shanghai. Das Tonband mit seinem selbsterzählten Lebensbericht hat Krechel während ihrer Recherche in der Deutschen Nationalbibliothek gefunden. Krechel schreibt diesen Archivfund und die Begegnung mit durch eine aufgezeichnete Stimme vermittelten Wahrnehmungen und Erinnerungen in die Erzählkonstellation ein. Lazarus wird dadurch eine bestimmende Erzählerfunktion zugeschreiben: Da seine Fassung der Geschichte auf dem Tonband aufgezeichnet wurde und somit überhaupt als künftige Wissensquelle dienen kann, prägt seine Erzählung weitgehend das, was Krechel erfährt und dem Leser wiederum weitergibt. Krechel lässt Lazarus dabei viel zu Wort kommen, setzt sich zugleich mit seinen lückenhaften Erinnerungen auseinander. Durch die Begegnung zwischen den zwei primären Erzählinstanzen des Romans, einer homodiegetischen, Lazarus, und einer unbenannten heterodiegetischen, werden epistemologische und ethische Herausforderungen im Umgang mit den dokumentarischen Spuren der Flüchtlingsschicksale verhandelt: Wie werden nämlich die Spuren von persönlichen Katastrophen gesichert, wie wird die Erinnerung an sie aufbewahrt, verwaltet und übermittelt? An einer Schlüsseltextstelle kommentiert die heterodiegetische Erzählstimme die Begegnung mit den Bändern von Ludwig Lazarus. Ich nehme diese lange und dichte Textstelle auseinander, um sie Schritt für Schritt in ihrer Komplexität auszulegen. »Das Tonband« war etwas anderes, eine zum Leben erweckte, am Leben erhaltene Stimme, ein Glücksfall des Archivs. Da waren die Bücher, die Papiere, die geregelten Öffnungszeiten, das Archiv als eine Aufbewahrungsstätte für die persönliche Kata-
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strophe, die sorgsam weggeschlossen, behütet, gehütet wurde, dem Benutzer abgewandt, doch immer gegenwärtig. Trümmer, Fragmente aus früheren Zusammenhängen losgebrochen.
Hier werden einige Rahmenbedingungen für die Begegnung mit dieser Quelle angesprochen. Zunächst setzt die Begegnung mit einem aufbewahrten Selbstzeugnis einer »persönlichen Katastrophe«, wie es hier heißt, eine Auseinandersetzung mit den Ordnungsregeln des Archivs und ihren praktischen Auswirkungen voraus. Im Archiv werden die Spuren dieser persönlichen Katastrophe zugleich versteckt und gegenwärtig gehalten. Das Tonband ist als bestimmte Art eines dokumentierten Selbstzeugnisses aber gleichsam verschlüsselt: kommentarlos vergegenwärtigt dieses aufbewahrte Selbstzeugnis die Erzählstimme eines Augen- und Zeitzeugens und weist dessen Freude am Erzählen wie auch die Lückenhaftigkeit des Wiedergegebenen auf: »Aber etwas fehlte, ein Begleittext, es fehlte jemand, der einen Willen bekundete, zu welchem Zweck er den armen Lazarus in den Winkeln seines Gedächtnisses kramen ließ. (Und warum er selbst schwieg.)« (79). Dafür kann die Tonbandaufzeichnung seiner Erzählung als »am Leben erhaltene Stimme« nun potentiell viele verschiedene Zuhörer erreichen, die mehr oder weniger mit der nacherzählten »Sache« vertraut sind. Über die unmittelbare Kommunikationssituation mit dem schweigenden Interviewer dieses Zeitzeugen hinaus stellt das »imaginäre Gegenüber« (79), dem Lazarus von nun an erzählt, seitdem Krechel seine Tonbanderzählung in ihre fiktionale Erzählwelt transponiert hat, eine zugleich anund abwesende Adressateninstanz dar. Durch das Zitieren von den auf dem Tonband gespeicherten Aussagen von Lazarus versetzt Krechel Lazarus in eine neue Erzählsituation mit Adressaten (den LeserInnen), die er nicht kennen kann. Diese Erzählsituation ist strukturbildend für Lazarus’ eigene Erzählung der Geschichte sowie ihre Weitererzählung im Roman. Genauso prägend sind jene Erinnerungen, die sich im Laufe der Tonbanderzählung als Irrtümer herausstellen und sein Gedächtnis als eine »Dunkelkammer« entlarven (79): Man mußte Lazarus nicht zum Sprechen bringen, er sprach gern, er sprach locker, er fesselte sprechend, aber er verwickelte sich auch in Widersprüche, die schwer aufzulösen waren, ohne ihn hier und da ins Unrecht zu setzen. Und wer wollte einen Mann, der durch die halbe Hölle gegangen war, ernsthaft ins Unrecht setzen? Also ließ man ihn reden, und er redete ja wirklich wie ein Wasserfall, ihn zu korrigieren, ihn einzugrenzen, wäre eine harte Arbeit gewesen, zu der sich ein Interviewer, der einen alten Zeitzeugen gesucht und gefunden hatte, nicht wirklich in der Lage sah. Es wäre übertrieben zu sagen, daß Lazarus »druckreif« sprach, doch er sprach wie jemand, der gern erzählte, vielleicht hatte er den einen oder anderen Splitter, Bruchstein des Erzählens, schon häufiger funkeln lassen. Er sprach wie jemand, der dringend einen Zuhörer brauchte. Es würde Lazarus Freude machen, wenn man ihn hörte aus einem Rundfunkapparat oder notgedrungen aus einem Tonbandgerät, es würde ihm so große
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Freude machen, dass er mehr erzählte, viel mehr, und vielleicht wäre dieses Erzählen genau das, was er sich immer gewünscht hatte, seit er am 8. März 1940 die Grenze des Deutschen Reiches überschritten hatte.
Aus welchen Gründen Lazarus erzählt – warum er sich als »Zeitzeuge« zur Verfügung stellt – kann nicht eruiert, sondern nur spekuliert werden. Seine Erzählung evoziert einzelne Bilder und listet Fakten, die sowohl narrative Zusammenhänge als auch eine mögliche Polyphonie der Erzählung durch das Gleichwertigmachen aller Vorkommnisse ausblenden. Lazarus greift auf die Auflistung diverser Zahlen und Fakten als Verzeichnis des Erinnerten zurück. Die Bilder, die die Dunkelkammer verließen, hatten sich vom Gedächtnis abgelöst, es blieben Namen, Daten, dürre Fakten, Aufzählungen, Listen. In der Liste ist schon die List enthalten. Die Liste ist ein einfacher Lese-Gegenstand. Sie hat die List, alle Gegenstände, alle Wörter, die an den Gegenständen kleben, gleichwertig zu machen. Die Liste ermöglicht das Zählen. (79–80)
Dieser ungewöhnlichen Quelle räumt Krechels Roman einen wichtigen Platz in der Erzählung ein. Die Tonbandaufnahme gibt freilich eine aufgezeichnete Stimme wieder, diese Aufzeichnung kann aber auch als eine Form des Aufschreibens verstanden werden, insofern sie eine Technik darstellt, durch die eine Oberfläche modifiziert wird, um ein Abwesendes durch Aufzeichnung zu vergegenwärtigen: Die Spur einer Stimme wird im Medium des Tonbands gespeichert.9 Zudem wird diese auf Tonband aufgezeichnete Stimme durch Krechel in Form von Notizen und letztendlich einem Roman um- bzw. niedergeschrieben. Dieser Akt des Umschreibens wird weiterhin von der heterodiegetischen Erzählstimme reflektiert. Damit vermengen sich interpretierende und erzählende Instanzen in der Überlagerung von homodiegetischen und heterodiegetischen Erzählern. Zwei Erzähler begegnen sich, beide teilweise archivierend, wobei Lazarus durch das Erzählen Spuren hinterlässt, die die heterodiegetische Erzählstimme verfolgt. Jene Erzählstimme, die als forschende Autorin sehr autofiktional gestaltet ist, geht dem von Lazarus Erzählten nach unter der Leitfrage: »Welche Spur legte er?« (83) Es etabliert sich also eine spurensuchende Erzählstimme. Beide sind kommentierende, nachfragende Erzähler. Die heterodiegetische Erzählstimme spricht an der Stelle der unbenannten forschenden Person als vermeintliche Autorin und expliziter und nicht überlesbarer Bestandteil der Erzählung. Aus dieser Begegnung entsteht ein dynamischer Deutungsrahmen, wo Geschehnisse aus der erzählten Welt immer wieder in den gegenwärtigen (und unerschöpflichen) Kontext der Interpretation eingebettet werden. Die heterodiegetische Erzählstimme legt damit auch Spuren, die im 9 Zu Spuren und Inschriften oder Aufschriften im weiteren Sinne von Inskription siehe Maurizio Ferraris, Documentality. Why It Is Necessary to Leave Traces, New York 2013, S. 175–178.
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Romantext oft, aber nicht immer, in Klammern eingeschoben werden. Es handelt sich um in die Welt verschickte, sich überlappende Signale und Botschaften zwischen abwesenden, zeitlich und räumlich versetzten Sendern und Empfängern, Erzähl- und Adressateninstanzen, deren Begegnungen nie auf ein Gespräch hinauslaufen (könnten). Lazarus spricht ein imaginäres Gegenüber auf das Tonband an; Krechels heterodiegetische Erzählstimme stellt Lazarus Fragen, die der Abwesende nicht beantworten kann, und rekonstruiert lückenhafte Geschichten um Lazarus herum. Eine zeitlich sowie medial verschobene und deshalb imaginäre Begegnung wird erzählerisch in Szene gesetzt. Von Austausch oder Dialog kann allerdings keine Rede sein. Doch der Erzähler Lazarus blendet nicht nur Zusammenhänge zwischen »dürren Fakten« aus, indem er Listen aufstellt, auch verschwinden andere Personen seines Flüchtlingskreises aus seinen Erzählungen. Dafür übernimmt die forschende Erzählinstanz die Verantwortung für das Einschreiben der Spuren dieser ausgeblendeten Personen in das Erzählpanorama, das ansonsten nicht aus Lazarus’ Erzählung allein entstehen kann. So werden Personen vor der Vergessenheit bewahrt. Das betrifft zum Beispiel Amy Rosenbaum, die Frau des ehemaligen Juristen Max Rosenbaum, die mit ihm in Shanghai die Handschuhmacherei führt. Amy stammt aus Karlsbad und ist keine Jüdin. Die heterodiegetische Erzählstimme bemerkt, dass Lazarus in seiner Tonbanderzählung Amy überhaupt nicht erwähnt: »er sprach nur kurz über seinen Freund Max Rosenbaum, voller Hochachtung, über Amy kein Wort« (181). Dagegen bewundert die Erzählstimme Amys Tapferkeit, die in einer eidesstattlichen Erklärung bezeugt wird, welche Amy nach dem Krieg abgelegt hatte. Darin erklärt sie, dass sie vom Deutschen Generalkonsulat zur Scheidung von ihrem Mann aufgefordert wurde und ihr als Belohnung dafür eine Wohnung in der französischen Konzession sowie materielle Unterstützung angeboten wurde (181). Dies hat sie kategorisch abgelehnt (181–182). An dieser Stelle setzt sich die heterodiegetische Erzählstimme gleichsam für Amy ein, indem sie das Panorama weitet und der von Lazarus lückenhaft erzählten Geschichte Amys Flucht- und Exilgeschichte hinzufügt. Insofern legt sie eine gewisse Zeugenschaft für Amy Rosenbaum ab, die trotz amtlich dokumentierter Zeugnisse (etwa in Form der eidesstaatlichen Erklärung) ansonsten in Vergessenheit hätte geraten können. So ergänzt oder gar korrigiert sie bestimmte Lücken in der auf Tonbandaufnahmen gespeicherten Erzählung von Lazarus. Der Gestus mag zum Teil Krechels Feminismus zuzurechnen sein, stellt darüber hinaus jedoch die Frage nach der Möglichkeit, Literatur als Akt der Zeugenschaft zu betrachten.10 Fragen nach 10 So führt der Roman in seinem narrativen Verfahren die Überlappung epistemologischer und ethischer Dimensionen der Zeugenschaft aus: Zeugenschaft abzulegen, das kann heißen: eine Wissensquelle zu liefern (wie z. B. vor Gericht), sowie eine ethische Handlung zu voll-
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dem Verhältnis von Zeugenschaft und Dokumentation als verschiedene Modi des schriftlichen Bezeugens tauchen immer wieder im Roman auf.
Zeugenschaft Eine ergreifende Aporie der Zeugenschaft wird im Zusammenhang mit der Beschreibung der unmenschlichen Zustände im Shanghaier Ghetto, die aus der Sicht des in Shanghai lebenden Kunsthistorikers Lothar Brieger fokalisiert wird, in Worte gefasst. In Folge des Kriegsausbruches zwischen Japan und den USA wurde die internationale Verwaltung der schon seit 1937 von den Japanern besetzten Stadt abgesetzt. Ab Dezember 1941 wurden auch die internationalen Konzessionen von den Japanern besetzt, die gewaltsame Unterdrückung der Chinesen nahm zu und allmählich kam die japanische Verwaltung den ideologischen Wünschen ihrer Nazi-Verbündeten nach. Ab 18. Februar 1943 mussten alle nach 1937 in Shanghai eingereisten staatenlosen Juden in die designated area for stateless refugees, wie es offiziell hieß, also ins Ghetto in Hongkew umziehen. Nur die Wenigen mit nachweisbar fester Arbeit durften zwischen sieben Uhr morgens und abends das Ghetto verlassen. Sie trugen einen besonderen Ausweis aus Papier an ihrem Anzug (282–283). Zu den Demütigungen der staatenlosen Flüchtlinge gehörten auch Armut und Platzmangel. Laut der Statistik des dortigen Flüchtlingshospitals sind rund 1.700 Menschen vor der Befreiung des Shanghaier Ghettos umgekommen.11 Die Erfahrung dieser Zustände wird durch Briegers Erinnerungen an diese Zeit fokalisiert. Die Metapher der »Schule des Selbstverlustes« bringt das Paradox einer Zeugenschaft unter solch lebensbedrohlichen Bedingungen zum Ausdruck. Kurz und knapp gesagt: Das Ghetto war eine Schule des Selbstverlustes, eine Schule, die Realität, die noch im Traum vorhanden war, abzuschließen und zu verlassen, ohne Befähigung zu irgend etwas, auch ohne ein Zeugnis. Denn ein Zeugnis hätte die Zeit ins Spiel gebracht: Ich überlebe, ich überlebte, ich habe überlebt, ich werde überlebt haben. Ich bestätige mir selbst, daß ich ein Überlebender bin. Doch jeder Tag war ein schwankender, gedehnter Tag, der den Gehenden mitriß, leicht zu Fall brachte. Tag, der sein Ende nicht fand, und wenn er es fand, fehlte der Zeuge, der schrieb: Das war der Tag, den zu überleben ich nicht mehr in der Lage war. (309–310)
ziehen. Für eine historische sowie programmatische Skizze dieser zwei Zugänge siehe: Sibylle Schmidt, »Wissensquelle oder ethisch-politische Figur? Zur Synthese zweier Forschungsdiskurse über Zeugenschaft«, in Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, hrsg. von Sibylle Schmidt / Sybille Krämer / Ramon Voges, Bielefeld 2011, S. 47–66. 11 Freyeisen, »Shanghai«, S. 285.
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Es gibt keine Zeugenschaft des Selbstverlustes: der sterbende Flüchtling kann seinen Überlebenskampf nicht mehr bezeugen. Da dem Subjekt keine sprachlichen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen er seinen eigenen Untergang benennen oder beschreiben könnte, entzieht die Sprache sich dem Subjekt im Moment des Ablebens. In der Möglichkeit eines Nicht-Ereignens der Sprache zeigt sich aber die Kontingenz der Sprache: Sprache ist ein Ereignis, insofern sie stattfinden oder nicht stattfinden kann. Hier setzt Giorgio Agambens Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen Zeugenschaft und Archiv an: die Subjektivität hängt von der kontingenten Möglichkeit ab, dass Sprache nicht stattfindet und keine Aussagen gemacht werden. Das fehlende Zeugnis für das Ableben des Subjekts kann als eine Figur dieses möglichen Nicht-Stattfindens gelesen werden, das überhaupt Bedingung eines sprachlichen Ereignisses und daher des Bezeugens als soziales Handeln ist. Dieser Logik zufolge trägt der protokollierende Zeuge Spuren einer Unmöglichkeit der Sprache; somit trägt das Gesagte Spuren der Möglichkeit, dass etwas nicht gesagt wird. Daraus lässt sich folgern, dass nicht nur diejenigen, die nicht selber zu Wort kommen können, auf die angewiesen sind, die zum Sprechen oder Erzählen in der Lage sind, sondern umgekehrt auch, dass das Sprechen-Können im Modus der Zeugenschaft von denjenigen abhängt, denen das Sprechen entzogen worden ist.12 Der (Sprech-)Akt des Bezeugens birgt damit in sich Spuren einer unheimlichen Verbindung zu denjenigen, denen die Stimme versagt worden ist. Brieger ist nicht nur ein bezeugender Beobachter des menschlichen Unvermögens, vom eigenen Tod zu sprechen, sondern evoziert auch das Bild des Zeugen als Protokollanten. Krechels Roman macht immer wieder deutlich, dass es einer narrativen Rekonstruktion bedarf, um die Erinnerungen derjenigen, die den Demütigungen eines undokumentierten Lebens ausgesetzt waren, zu retten. Der Zugehörigkeit zur sozialen Welt geht eine »Inskription« im Sinne des italienischen Philosophen Maurizio Ferraris voraus, der damit eine schriftliche Fixierung meint, die mindestens zwei Personen zugänglich ist.13 Die schriftliche Fixierung verbindet Personen. Sie ist eine materielle Voraussetzung des menschlichen Miteinanders, das sich auch weitgehend auf Erinnerung stützt. Schriftliche Fixierung schafft eine Basis für sowohl die Zeugenschaft als Erinnerungspraxis als auch das amtlich verwaltete System der Produktion und Zirkulation von Zeugnissen. Krechels Flüchtlingsfiguren sind sich schmerzlich bewusst, dass der amtlichen Dokumentation eine erhebliche Bedeutung in einer Welt zukommt, in der so viele Menschen übersehen, missachtet und vergessen werden können, wenn Regierungsvertreter durch Ausbürgerung und Genozid 12 Giorgio Agamben, Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive, New York 2002, S. 146 u. 155. 13 Ferraris, Documentality, S. 178.
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vehement die Spuren von Personen aus den amtlichen Akten zu tilgen versuchen.14
Der Roman als unabschließbare Spurensuche Die im Roman narrativ in Szene gesetzte Begegnung einer bezeugenden Erzählinstanz mit den in Archiven aufbewahrten Spuren mehrerer Flüchtlingsschicksale wird freilich durch die Materialität des auf Papier Aufgezeichneten bestimmt. Während die Stapel von Dokumenten, die in diversen von Krechel besuchten Archiven aufbewahrt sind und von den Identitäten der damals in Shanghai lebenden staatenlosen Flüchtlinge zeugen und damit die Spuren bestimmter Staatenloser der Vergangenheit tragen, werden diese Inskriptionen erst durch Krechels Erzählakte wieder in soziale Zusammenhänge zurückgeführt. Damit erlangen die Schriftspuren vergangener Identitäten wieder den Status von sozialen Objekten, werden die bloßen Inskriptionen wieder zu Dokumenten. Insofern legt Shanghai fern von wo eine Übung in der Interpretation und folglich der Umschreibung der Spuren der Staatenlosen in Erzählungen sowie durch das Erzählen dar. Auf diese Weise ruft der Roman die Worte und Taten der Flüchtlinge wieder ins Gedächtnis, um sie für weitere Deutungshorizonte zu erschließen.15 Die geschilderten Figuren sind durch ihre archivierten Spuren untrennbar mit einander verbunden: Alle die Personen waren miteinander verwoben, obwohl sie einzeln waren, vereinzelt, von einer harten Hand in die Welt hinausgeworfen, sie waren miteinander verbunden, Papiere waren aufgehoben oder vergessen worden, abgeschriebene Bänder, Manuskriptbündel, Blätter ohne Seitenzahlen, die leicht durcheinanderfliegen, vergilbte Papiere, beiseite gelegt in Archiven und wieder hervorgeholt von anderen Händen. (452)
14 Insofern geht es hier nicht um eine Vertrauensfrage der Authentizität bzw. Autorität, wie Andree Michaelis die epistemologischen Anforderungen an Überlebenszeugen erläutert; siehe »Die Autorität und Authentizität der Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Ein Beitrag zur Diskursgeschichte der Figur des Zeugen«, in Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, hrsg. von Sibylle Schmidt / Sybille Krämer / Ramon Voges, Bielefeld 2011, S. 265–284. Der fehlende Zeuge als Protokollant stellt vielmehr eine andere Instanz dar : Nämlich die platzhaltende Leerstelle, die durch schriftliche Inskription als Bedingung des Zeugnisses hervorgebracht wird. 15 Vgl. das philosophisch begründete Argument, keiner sei Urheber der eigenen Lebensgeschichte, das Arendt entwickelt, um zu unterstreichen, wie die Worte und Taten jeder Person nur durch die Erzählungen von anderen in einen Sinnzusammenhang gebracht und somit als Spuren einer Person gelesen werden können: Hannah Arendt, Human Condition, Chicago / London 1998, S. 184.
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Wie die literarische Beschäftigung mit Fluchtgeschichten zeigt, kann eine durch Dokumente nachweisbare Identität für Flüchtlinge überlebensentscheidend sein.16 Allerdings können solche auf Papier eingeschriebenen Spuren auch verloren gehen: Als weder dauerhafte noch selbstevidente Gebilde sind sie im von Derrida geprägten Sinne als iterativ zu verstehen.17 Einerseits streben Techniken der amtlichen Erfassung danach, Zeichen als Spuren der homogenen, einheitlichen Identität einer Person festzuhalten, und daraus die Referenz auf eine wiederaufrufbare Selbstidentität von Personen zu sichern. Andererseits sind Zeichen einer Logik der Differenz verhaftet, die durch Wiederholbarkeit sowie durch Abwesenheit des Bezeichneten gekennzeichnet wird. In der Wiederholung lässt sich nicht ausschließen, dass ein neuer Sinnzusammenhang entstehen kann. Zugleich besteht das wiederholte Zeichen als Simulacrum des Bezeichneten fort: eine Spur deutet auf den abwesenden Teil eines Zeichens. Mit Derrida können wir unseren Blick auf die für Spuren konstitutive Logik der Iterabilität richten, die auch für die narrative Verfolgung von Fluchtgeschichten prägend ist: »As soon as there is a trace, whatever it is, it implies the possibility of its being repeated, of surviving the instant and the subject of its tracing.«18 In Krechels Roman verdeutlicht die Begegnung zwischen homo- und heterodiegetischen Erzählern die iterative Logik der Spuren, die durch Fluchtbewegungen hinterlassen worden sind. Der Roman führt uns eine Forensik vor, die sich mit der narrativen Spurensicherung von vergangenen Flüchtlingsgeschichten beschäftigt: spezifische Orte und Zeiten, hier und jetzt der Handlungen rekonstruieren und in einen neuen Erzählkontext einbetten will. Krechels poetisches Verfahren nutzt dazu die zwei kommentierenden und nachfragenden Erzähler, manchmal klar voneinander abgegrenzte Stimmen, die jedoch in ihrer Verschränkung oft freie indirekte Rede generieren. Daraus ergibt sich ein sehr dynamischer Deutungsrahmen, in dem Ereignisse aus der erzählten Welt wiederholt in die unbestimmte Erzählgegenwart eingebettet werden, die proleptisch durch das Zeitadverb »später« markiert wird (zum Beispiel: »so berichtete es jedenfalls Lazarus später«, sowie »so hat Lazarus es später erzählt«; 178). Solche Prolepsen verweisen auf die Iterabilität der Spur, die laut Derrida im oben angeführten Sinne durch eine unaufhörliche Wiederholbarkeit mit einer Differenz gekennzeichnet ist. Die heterodiegetische Erzählstimme hinterlässt auch Spuren, liefert eine Flut von Erinnerungen, Signalen und Botschaften inmitten von abwesenden, zeitlich wie räumlich versetzten Erzählern und Adressaten. Lazarus 16 Vgl. z. B. die Beiträge zu Abbas Khider in diesem Band. Auch frühere Beispiele aus der Literaturgeschichte der Fluchterzählungen thematisieren immer wieder das Problem; siehe z. B. Charlton Payne, »Der Pass zwischen Dingwanderung und Identitätsübertragung in Remarques Die Nacht von Lissabon«, in Exilforschung, Jg. 31 (2013), S. 335–346. 17 Jacques Derrida, »Signature Event Context«, in Limited Inc, Evanston 1988, S. 7–10. 18 Jacques Derrida, Paper Machine, Stanford 2005, S. 73.
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erzählt einem unbekannten Gegenüber auf einer Tonbandaufzeichnung; die heterodiegetische Erzählstimme in Krechels Roman sucht Jahre später Antworten auf Fragen, die sie sich selbst erst gestellt hat und rekonstruiert dadurch eine lückenhafte Geschichte um Lazarus herum. Eine raumzeitlich sowie medial verschobene Begegnung wird durch eine narrative Spurensuche ermöglicht, in der die Flüchtlingsfiguren nicht fest kontextuell verankert werden können. Shanghai fern von wo verweist intertextuell auf eine andere, spezifisch literarische Überlieferung von Fluchtgeschichten. Im letzten Zitat lesen wir von einer Hand, die Personen in die Welt verstreut: »von einer harten Hand in die Welt hinausgeworfen« heißt es über die Flüchtlinge (452). Damit versinnbildlicht der Roman die gewaltige – nahezu metaphysische – Macht des Krieges, Flüchtlingsschicksale hervorzubringen. Schon kurz nach dem Romananfang wird der Krieg als »eine große, grobe anonyme Hand« beschrieben, die Flüchtlinge von Ort zu Ort versetze (12). Das für Krechels Roman prägende Bild einer über Flüchtlingsschicksale bestimmenden Hand wiederholt ein literarisches Bild von 1951: Die Eröffnung des Romans Sie fielen aus Gottes Hand von Hans Werner Richter. Krechel erzählt von einem kurzen Treffen nach Kriegsende zwischen dem Kunsthistoriker Brieger und Hans Werner Richter in München. Als Berichterstatter einer Zeitung hat Richter damals ein Interview mit Brieger geführt (439–440). In seinem Roman geht es wiederum, wie bei Krechel, um die Konstruktion eines Erzählpanoramas, das verschiedene Flüchtlingsschicksale während und nach dem Zweiten Weltkrieg nachzeichnet. Bei Richter wie bei Krechel handelt es sich zunächst um eine unsichtbare Hand, die über den Verlauf der Welt bestimmt. Bei Richter geht es um die titelgebende Hand Gottes, die die Welt zusammenhält,19 wogegen bei Krechel die Rede ist von einer versetzenden, in die Welt hinauswerfenden Hand. Diese literarische Spur wiederholt sich allerdings auch mit einer Differenz: Wo in Richters Roman ein allwissender Erzähler an die Stelle einer von Gott leergelassenen Zentralmacht tritt, um eine umfassende Erzählperspektive zu artikulieren, bereitet in Krechels Darstellung eine Vielzahl von Händen die in Dokumenten niedergeschriebenen Spuren der Flüchtlingsschicksale auf. Wenn die Papiere beiseitegelegt und wieder hervorgeholt werden, kommt die Zeitlichkeit der Technik einer narrativen Spurensi19 Hans Werner Richter, Sie fielen aus Gottes Hand, München 1976 [1951], S. 8. Zu den ideologischen Auswirkungen dieser Erzählperspektive: Katarzyna S´liwin´ska, »Hans Werner Richters Sie fielen aus Gottes Hand oder wie ›ein europäischer Wirrwarr‹ inszeniert wird«, in »Es sind alles Geschichten aus meinem Leben.« Hans Werner Richter als Erzähler und Zeitzeuge, Netzwerker und Autor, hrsg. von Carsten Gansel / Werner Nell, Berlin 2011, S. 69–81. Im Rahmen einer Spurensicherung der Flüchtlingsschicksale: Charlton Payne, »Post-Imperial Narratives of Displacement in Germany around 1951. The Schieder Commission’s Documentation of Displaced East Prussians and Hans Werner Richter’s Sie fielen aus Gottes Hand«, in SpaceTime of the Imperial, hrsg. von Susanne Rau / Holt Meyer / Katharina Waldner, Oldenbourg 2016, S. 422–445.
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cherung der Flüchtlingsschicksale zum Tragen. Diese Zeitlichkeit des Verfahrens eröffnet zwar neue Deutungszusammenhänge, birgt in sich aber zugleich die Gefahr, dass Spuren dabei auch verloren gehen können. In der Wiederholung bildet sich kein lückenloser, gleichbleibender Vorgang; ganz im Gegenteil können diverse Papiere durcheinanderfliegen oder vergessen werden. In Krechels Roman wird die Lückenhaftigkeit des eigenen Erzählverfahrens reflektiert. Alle schriftlich vermittelten Zeugnisse tragen in sich die Spur dessen, was nicht aufgezeichnet worden ist, aber hätte aufgezeichnet werden können. Die Möglichkeit der An- wie Abwesenheit des Bezeichneten im Zeichen deutet sowohl auf die Gespaltenheit jedes indexikalischen Zeichens hin – womit das DaGewesene in Erinnerung gehalten wird, obwohl es nicht mehr anwesend ist – als auch auf die Relation zu dem, was im Zeichen nicht angezeigt wird. Auch indexikalische Zeichen tragen in sich das mögliche Verlorengehen des durch sie Bezeichneten, nicht zuletzt wenn es sich um Personen und ihre Dokumente handelt. Dies zeigt Krechels Roman auf besonders raffinierte Weise. Der Roman legt nicht nur Zeugenschaft für die im Text vergegenwärtigten Flüchtlinge ab, sondern zeugt darüber hinaus von der aporetischen Deixis, welche die schriftlich geregelten Fixierungen von Identitäten hervorbringt. Shanghai fern von wo rekonstruiert aus ihren Spuren Flüchtlingsschicksale, wobei die Gebrochenheit und Lückenhaftigkeit nicht narrativ geglättet, sondern durch die poetische Anlage des Buches transportiert wird. Der Roman ermöglicht damit, das Zeugnis als Instrument der Spurensicherung zu verstehen: Wir brauchen Dokumente, um individuelle Erinnerung zu vermitteln und Zeugnis abzulegen; andererseits kann das Dokument als Medium einer Kulturtechnik der Identifikation20 die Spuren der Gebrochenheit individueller Erinnerung weder vollkommen verwischen noch lückenlos aufbewahren. Krechels Roman zeigt, in welchem Ausmaß Flüchtlinge von diesen Dynamiken betroffen waren und immer noch sind. Indem er ihre Geschichten erzählt, legt er Zeugnis ab.
20 Vgl. Thomas Macho, »Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität« in Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion, hrsg. von Dirk Baecker / Matthias Kettner / Dirk Rustemeyer, Bielefeld 2008, S. 99–117.
Katrin Max
Integration als Camouflage? Karnevaleske Rollen und biologisch-geographische Verschiebungen in Christoph Heins Roman Landnahme
Welche Aspekte hält das Thema ›Flucht und Vertreibung‹ im Hinblick auf die historische Verortung in der DDR bereit? Geht man vom offiziellen politischen Schrifttum dort aus, entsteht leicht der Eindruck, dass Flüchtlinge in der DDR so gut wie keine Rolle spielten. Es finden sich kaum Dokumente, in denen explizit von ›Flucht‹ oder von ›Flüchtlingen‹, bezogen auf den eigenen Staat, die Rede ist. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Thema für die DDR keine Relevanz besaß. Es gab sehr wohl Erscheinungsformen davon, auch wenn der von politischideologischen Prämissen bestimmte offizielle Sprachgebrauch andere Formulierungen fand und so die Flüchtlingsthematik anders semantisierte. Konkret sind zwei Ausprägungen von Flucht zu nennen: erstens die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den bis dahin deutschen Ostgebieten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (Flucht in die DDR) und zweitens das Verlassen der DDR in Richtung Westen, umgangssprachlich als ›Republikflucht‹ bezeichnet (Flucht aus der DDR). Beide Erscheinungsformen wurden offiziell sprachlich unterschiedlich konturiert: Im ersten Fall der Flucht aus den Ostgebieten sprach man von ›Umsiedelung‹ und bezeichnete die Flüchtlinge entsprechend als ›Umsiedler‹, wodurch vermittelt werden sollte, dass jene östlichen Territorien nun als ›Bruderländer‹ zum sozialistischen Staatenbündnis gehören, aus denen keine Veranlassung bestand zu fliehen. Ähnlich ideologisch geprägt waren die Sprachregelungen zur Republikflucht als zweiter Erscheinungsform der Flucht im Bezug zum Staat DDR. Im Sinne des historischen Materialismus sollte die DDR das fortschrittlichere, bessere System sein. Eine Flucht hieraus war gemäß dieser Auffassung nicht nötig. Das Land unerlaubt in Richtung Westen zu verlassen, wurde daher als ›ungesetzlicher Grenzübertritt‹ bezeichnet, womit der Fokus anders gesetzt wurde: weg von den mit ›Flucht‹ konnotierten ungünstigen Bedingungen am Ausgangsort und hin zum Betroffenen selbst und dessen Kriminalisierung.1 In der Literatur der DDR werden beide Aspekte der Fluchtthematik darge1 Vgl. § 213 StGB-DDR.
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stellt. Allerdings fällt auch hier auf, dass das Thema nur sehr vermittelt angesprochen wurde – musste man doch den Maßgaben des staatlichen Kulturbetriebes und den damit im Zusammenhang stehenden offiziellen Sprachregelungen Rechnung tragen. Als Beispiel für die literarische Thematisierung der Flucht aus den Ostgebieten sei Heiner Müllers Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (gedruckt 1975) genannt. Die Republikflucht ist unter anderem in Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963) und Brigitte Reimanns Die Geschwister (1963) dargestellt. Christoph Hein zählte bereits in der DDR zu den bekannten und viel gelesenen Autoren. Durch seine Theaterstücke, vor allem aber als Autor von Erzähltexten wurde er von einem breiten Publikum wahrgenommen. Spätestens mit seiner Novelle Der fremde Freund (1982) erlangte er auch über die Grenzen der DDR hinaus Beachtung.2 Christoph Heins Biographie ist im Zusammenhang mit bestimmten Fluchterlebnissen zu sehen. Als 1943 in Schlesien Geborener hat er mit seiner Familie nicht nur die Flucht zum Ende des Zweiten Weltkrieges mitgemacht und danach entsprechende Erfahrungen als Umsiedler in der DDRGesellschaft gesammelt, sondern da ihm als Pfarrerssohn der Zugang zur Erweiterten Oberschule in der DDR verwehrt war, musste er als Schüler temporär nach Berlin (West) übersiedeln, um dort sein Abitur abzulegen (womit die Dimension der Republikflucht zumindest eröffnet ist). Bereits in Christoph Heins zu Zeiten der DDR geschriebenen Werken kommt die Flüchtlingsthematik in diesen beiden Ausprägungen zur Sprache: etwa in Der fremde Freund (1982), wo die Ich-Erzählerin von der Entzweiung mit ihrer Jugendfreundin Katharina im Zusammenhang mit dem Dissidententum in deren Familie und Ausreisen in den Westen berichtet,3 oder auch, wenn in Horns Ende (1985) von den »Umsiedler[n] mit der schweren, wortkargen Sprache des Ostens«4 die Rede ist. Christoph Hein hat nach der politischen Wende 1989/90 weiterhin Texte geschrieben und publiziert. Er darf nicht nur als Autor der DDR-Literatur gelten, sondern ist auch ein Vertreter der Gegenwartsliteratur. Dabei sind freilich die Kontinuitäten im Œuvre mit einzubeziehen. Sowohl inhaltlich-thematisch als auch formal lassen sich Bezüge zur DDR-Literatur festmachen. Insbesondere auch dadurch, dass der (freilich kritische) Verweis auf die sozialistische Utopie weiterhin bei ihm von Belang ist, lässt er sich innerhalb der Gegenwartsliteratur als Vertreter der Post-DDR-Literatur einordnen.5 Nach der Wende publizierte 2 Der Text wurde im folgenden Jahr (1983) in der Bundesrepublik publiziert, dort aus Gründen des Titelschutzes als Drachenblut. 3 Vgl. Christoph Hein, Der fremde Freund, Berlin / Weimar 1982, S. 147–149. 4 Christoph Hein, Horns Ende, Berlin / Weimar 1985, S. 196. 5 Zum Begriff Post-DDR-Literatur vgl. Katrin Max, »Zur Standortbestimmung der gegenwärtigen DDR-Literatur-Forschung«, in Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen DDRLiteratur-Forschung, hrsg. von Katrin Max, Würzburg 2016, S. 11–33, hier S. 17f.
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Texte wie Von allem Anfang an (1997), Landnahme (2004) oder Frau Paula Trousseau (2007) verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit der DDR in seinen Texten ebenso anzutreffen ist, wie aktuelle Problem- und Fragestellungen erörtert werden. Wie der Bezug zur DDR bei gleichzeitiger Thematisierung von Fragen der Gegenwart in Landnahme im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik erfolgt, soll im vorliegenden Beitrag betrachtet werden. Der Roman – so meine These – stellt mit Hilfe des Flüchtlingsthemas die Situation in der DDR in einen übergeordneten Zusammenhang und hinterfragt dabei die Möglichkeiten der Identitätswie der Nations- bzw. Staatsbildung am konkreten Beispiel Deutschland. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass die beiden für die DDR-Gesellschaft relevanten Flüchtlingsperspektiven – erstens die Flucht aus den Ostgebieten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (offiziell: ›Umsiedler‹), zweitens die Republikflucht (offiziell: ›unerlaubter Grenzübertritt‹) – um eine dritte Perspektive ergänzt werden. Hierbei handelt es sich um die in der DDR als randständiges Phänomen wahrgenommene Situation der Gastarbeiter als sogenannter Vertragsarbeiter. Auf diese wird in Landnahme ebenfalls Bezug genommen, und so erlangt die historische Schilderung als Lebensgeschichte Bernhard Habers ihren über die DDR hinausweisenden Bezug. Relevant ist hierbei auch die Art der erzählerischen Vermittlung, die für die Interpretation zu berücksichtigen ist. Als Post-DDR-Autor finden sich bei Christoph Hein Erzählstrategien, die die während der Zeit der DDR eingeübten Schreibweisen der diskreten Mitteilung und dezenten Andeutung fortführen. Diese zu Vorwendezeiten in Anbetracht der Zensur notwendigen Formen der literarischen Vermittlung von Problemen des zeitgenössischen historischen Kontexts finden sich bei Hein auch noch nach 1989/90. Bei den im wiedervereinigten Deutschland erschienenen Texten erweist sich, dass es sich hierbei um Literarisierungsstrategien handelt, die weniger den Maßgaben der politischen Umstände geschuldet sind, als dass sie vielmehr ästhetisch-gestalterische Prinzipien fortführen. Das ermöglicht ein Zur-Sprache-Bringen von Themen, die sich auch innerhalb der Gegenwart der Berliner Republik als brisant erweisen und die im Hinblick auf die aus ihnen erwachsenden Konsequenzen nur von einem aufmerksamen, auf die diskreten Textsignale achtenden Leser wahrgenommen werden. Im Falle des Romans Landnahme greifen dabei inhaltliche und formale Aspekte ineinander. Die bereits im Titel als zentral benannte Frage nach der ›Landnahme‹ im Sinne der Aneignung eines neuen Territoriums als Heimat, welcher Flucht und Vertreibung aus dem angestammten Territorium vorausgingen, wird im Zusammenhang mit den offensichtlichen Integrationsbestrebungen des Protagonisten Bernhard Haber thematisiert. Am
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Anfang des Textes erscheint Haber als in seiner neuen Heimat Guldenberg6 Etablierter.7 Er wird sogar als einer der Honoratioren der Stadt vorgestellt. Dass diese Eingangsszene die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Guldenberger Karnevalsumzug beschreibt, ist dabei allerdings bereits als Hinweis auf die Fragwürdigkeit der Integration Habers zu lesen. Hierin ist auch ein inhaltlicher Fingerzeig auf eine »Strategie[] literarischer Maskierung« zu sehen, die unter anderem von Heinrich Detering als »Camouflage« bezeichnet wurde.8 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Heins Roman Landnahme auch im Sinne einer solchen Camouflage gelesen werden kann: als literarische Darstellung eines Themas also, das gesellschaftlich tabuisierte Themen anspricht, indem es sie maskiert. In Landnahme ist die Camouflage sowohl inhaltlich als auch formal auszumachen: inhaltlich mittels der Rahmung durch einen Karnevalsumzug in Prolog und Epilog, formal durch die Fortführung von in der DDR eingeübten Schreibweisen der bloßen Andeutung und indirekten Mitteilung. Zentral ist die Frage nach den Möglichkeiten, im Anschluss an Flucht und Vertreibung eine ›Landnahme‹ im Sinne der Aneignung eines neuen Lebensraumes erfolgreich vornehmen zu können. Das wird sowohl in seiner historischen als auch in der zeitgenössischen Perspektive zur Debatte gestellt. Die in der historischen DDR realisierten Sprachtabus, offiziell nicht von Flucht sprechen zu dürfen, sind dabei als konstitutiv für die Handlungszeit des Romans zu erachten. Sie tragen zu dieser Camouflage bei. Landnahme erzählt die Geschichte des Flüchtlingskindes Bernhard Haber. Sein Werdegang wird von den 1950er Jahren bis in die Nach-Wende-Zeit der späten 1990er Jahre verfolgt, wobei an seiner Person sowohl überindividuell deutsche Geschichte exemplifiziert wird als auch sein individueller Werdegang beschrieben ist. Dieser lässt sich als vermeintliches oder tatsächliches Bestreben nach Integration in die Gesellschaft der fiktiven sächsischen Kleinstadt Guldenberg lesen, und das Ende der Handlung erweckt den Eindruck, als sei eine solche auch erfolgt. In Landnahme sind mehrere für Hein charakteristische Schreibweisen und bekannte Motive vorzufinden. So wird implizit die Frage nach der Motivation für Habers Handeln gestellt und im Kontext der Kohl-
6 Eine Stadt, die schon als G. in Der fremde Freund und als Bad Guldenberg in Horns Ende vorkam und ihre Entsprechung in Bad Düben hat. 7 Vgl. hierzu auch Charlton Payne, »Die Assimilation deutscher Flüchtlinge in die/der Gegenwartskultur. Intransitives Erzählen von Familiengeschichten der Assimilation in HansUlrich Treichels Der Verlorene und Christoph Heins Landnahme«, in Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität. Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft, hrsg. von Özkan Ezli et al., Bielefeld 2013, S. 287–317. 8 Heinrich Detering, »Camouflage«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Klaus Weimar et al., Bd. 1, Berlin 1997, S. 292f., hier S. 292.
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haas’schen Selbstjustiz und Rachemotivik semantisiert.9 In anderen Texten schon aufgeworfene Themen wie die nach der Verknüpfung von privatem und politischem Schicksal, dem Stellenwert der Erinnerung im Kontext von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ebenso wie der Bedeutung und Funktion der Geschichte für die Gesellschaft wie für das Individuum werden auch hier behandelt. Formal ist der Roman so gestaltet, dass Habers Lebensgeschichte im Hauptteil durch fünf verschiedene homodiegetische Erzähler mitgeteilt wird, wodurch ein multiperspektivisches Erzählen realisiert ist. Dabei ist auffällig, dass die Erzähler in der Zusammenschau keineswegs ein komplettes Bild abliefern. Im Gegenteil, sie widersprechen sich, es bleiben Lücken und Leerstellen, und einige Fragen zur berichteten Geschichte werden durch die Vielzahl der Erzähler nur noch größer.10 Die Rahmung durch Vorspann und Epilog verstärkt weiterhin diesen Eindruck. Die Forschung zum Roman hat sich mit der Flüchtlingsthematik bereits auseinandergesetzt und den Fokus auf die Umsiedler-Problematik in der DDR gelegt. So geht z. B. Joanna Oleksiewicz auf die dargestellten Ressentiments der Guldenberger ein und setzt diese in Beziehung zum historischen Kontext.11 Albrecht sieht die geschilderte »Chronik eines Flüchtlingsschicksals«12 in Verbindung mit der fehlenden Aufarbeitung der Geschichte in beiden deutschen Staaten und damit als Beitrag zum Erinnerungsdiskurs. Für Braun ist »das Schicksal der 12 Millionen Deutschen, die ihre Heimat im heutigen Polen verlassen mussten«, zentral.13 Er stellt verschiedene Aspekte des Themas im Buch vor, unter anderem biographische Autorbezüge, aufgeworfene Fragen der Gesellschaftsutopie und Geschichtsdarstellung in der DDR, die Thematisierung von Alteritätserfahrung sowie die bereitgestellte religiöse Motivik und Symbo9 Zum Kohlhaas-Motiv bei Christoph Hein vgl. Jochen Marquardt, »Es war einmal ein Land, das hieß DDR oder Wie Kohlhaas zum Staatsbürger ward. Zu Christoph Heins Kleist-Adaption«, in Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. hrsg. von Klaus Hammer, Berlin / Weimar 1992, S. 56–66; zur Aktualität des Kohlhaas-Stoffes für die Zeit auch nach der politischen Wende hat sich Hein u. a. in Von den unabdingbaren Voraussetzungen beim Kleist-Lesen selbst geäußert, vgl. Christoph Hein, Aber der Narr will nicht. Essais. Frankfurt (Main) 2004, S. 117–126. 10 Vgl. Michaela Wirtz, »Schein und Sein in Christoph Heins Landnahme. Eine Untersuchung zur Fehlbarkeit subjektiver Urteile«, in Literatur in der Moderne. Jahrbuch der WalterHasenclever-Gesellschaft Jg. 6 (2008/09), S. 37–47, hier S. 39–45. 11 Vgl. Joanna Oleksiewicz, »Von den schwierigen Anfängen zur Integration. Das Bild der Umsiedler und ihres Lebens in Christoph Heins Landnahme«, in Studia niemcoznawcze, Jg. 32 (2006), S. 499–507, hier S. 498–502. 12 Terrance Albrecht, »Geschichte und Erinnerung in Christoph Heins Prosawerken Landnahme, Horns Ende und Der fremde Freund«, in Literatur in der Moderne. Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft, Jg. 6 (2008/09), S. 49–66, hier S. 50. 13 Michael Braun, »›da fremdelt man mit Fremden …‹. Zum Vertriebenendiskurs in Christoph Heins Roman Landnahme (2004)«, in Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 37 (2004), Heft 2, S. 103–116, hier S. 104.
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lik.14 Es ist Braun zuzustimmen, dass sich Hein in Landnahme mit Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 einem Thema zuwendet, das zur Entstehungszeit des Textes (also um die Jahrtausendwende) im kulturellen Gedächtnis des wiedervereinigten Deutschland Geltung erlangte.15 Die mediale Aufmerksamkeit, die das Thema z. B. durch andere literarische Texte16 sowie mittels populärer Aufbereitung in Fernsehen und Presse17 erhielt, verweist darauf, dass seit den späten 1990er Jahren im historisch-kulturellen Kontext ein verstärktes Bedürfnis nach einer Neukonturierung der Erinnerung (unter anderem Frage der Opfer-Täter-Rolle der Deutschen) im Zusammenhang mit der Frage der nationalen Identität nach der Wiedervereinigung zu konstatieren ist. Landnahme erweist sich somit als auf in seiner Zeit diskursiv verhandelte Probleme verpflichtet.18 Damit zählt der Roman zur Gegenwartsliteratur, der zugleich in der Tradition der DDR-Literatur steht. Als literarischer Text exemplifiziert Landnahme aber nicht lediglich das Flüchtlingsthema anhand eines konkreten Werdegangs. Der Roman setzt stattdessen Bernhard Habers Geschichte in übergeordnete Kontexte und verknüpft dessen Vita als Umsiedler mit anderen Aspekten, so dass das Thema des Buches nicht allein mit dem ›Schicksal deutscher Vertriebener nach 1945 in der DDR‹ umrissen ist. Vielmehr geht es – wie schon in früheren Texten Heins – um die Fragilität aller zivilisatorischen Strukturen, um die Fragwürdigkeit von Identitäten im Individuellen wie Überindividuellen (etwa im Sinne von Nationalbewusstsein) und um die stete Wiederholung der Geschichte, die so letztlich eine Marginalisierung des Mitgeteilten zur Folge hat.19 Um nun konkret den Text zu betrachten, sei zunächst konstatiert, dass darin sehr ausführliche und realistisch anmutende Schilderungen des Umgangs mit den Umsiedlern in der DDR anzutreffen sind. Sowohl im Allgemeinen wie im Konkreten wird anhand vielerlei Begebenheiten anschaulich dargestellt, wie sich deren durch Armut geprägter Alltag gestaltete, welchen Anfeindungen vonseiten der angestammten Bevölkerung sie sich gegenübersahen, mit welchen Vorur14 15 16 17
Vgl. ebd., S. 105–115. Vgl. ebd., S. 103. Hier ist vor allem zu nennen: Günter Grass, Im Krebsgang, Göttingen 2002. Beispielsweise durch die in jenen Jahren populär werdenden Geschichtsreportagen Guido Knopps, die sich auch dem Thema Flucht widmeten, vgl. das auf der Fernsehreihe basierende Buch: Guido Knopp, Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen, München 2002. 18 Vgl. hierzu grundlegend Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft«, in Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 73 (1999), Heft 1, S. 69–93, hier S. 87; Dirk Werle, »Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte«, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 50 (2006), S. 478–498. 19 Vgl. zur Darstellung von Geschichte bei Hein Antonia Grunenberg, »Geschichte als Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR«, in Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. hrsg. von Klaus Hammer, Berlin / Weimar 1992, S. 67–83; konkret zu Landnahme vgl. Albrecht, »Geschichte und Erinnerung«, S. 52.
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teilen man ihnen begegnete, aber auch, welche Anstrengungen sie unternahmen, um innerhalb ihres neuen Lebensraumes eine Heimat zu finden und integriert zu sein. Der Erzähler Thomas Nicolas erklärt: Die meisten Vertriebenen waren merkwürdige Menschen, sie sprachen eigenartig und betonten die Worte ganz anders als wir, und sie benutzten Ausdrücke, die nicht deutsch klangen und die keiner in der Stadt verstand, und so war es natürlich, dass die Umsiedler und ihre Kinder untereinander befreundet waren. Sie sprachen eben anders und lebten anders, sie hatten andere Dinge erlebt. Irgendwie kamen sie aus einem Deutschland, das nicht unser Deutschland war. Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch.20
Bernd Haber selbst greift Vertriebenen-Ressentiments auf, zum Beispiel als Halbwüchsiger im Zuge der Ereignisse des 17. Juni 1953, als er gegenüber den Bauarbeitern auf die vorherrschende Kartoffelkäferplage zu sprechen kommt: »Sie sind sehr nahrhaft«, warf Bernhard plötzlich ein, »viele Vitamine und Aufbaustoffe.« »Von was redest du, Junge?« »Man kann die Käfer essen. Sie schmecken nicht schlecht. So ein bisschen wie Huhn. Man muss sie in Öl braten, etwas Salz und Pfeffer dazu, dann ist das eine leckere Mahlzeit.« […] »Das ist ja das Ekelhafteste, was ich je gehört habe« […]. »Verschwinde, du kleiner Bastard, eh mir die Hand ausrutscht.« (157)
Und später als Erwachsener, als er nach seiner Motivation für die Rache an einzelnen Bewohnern gefragt wird, erklärt Haber : »Ich habe es ihnen nicht vergessen. Ich weiß noch heute, wie wir hier ankamen. Wie sie uns schon ansahen. Wenn ich in einen Laden ging, schauten sie auf jede meiner Bewegungen, alle, nicht nur die Ladenbesitzerin. […] Für die waren wir die ganzen Jahre die Hungerleider, und so haben sie uns behandelt. […] Wie Dreck hatten sie uns behandelt.« »Griesel auch?« »Er war Gift und Galle. Wir bekamen von Griesel das Zimmer mit der Kammer, in dem vorher die drei Fremdarbeiter hausen mussten. Und genauso wurden wir behandelt.« […] »Die Vertriebenen sollte man gleich weitertreiben, in die Mulde. Das hat Griesel meinem Vater ins Gesicht gesagt.« (239)
20 Christoph Hein, Landnahme, Frankfurt (Main) 2004, S. 33f. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
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In einem Gespräch unter Einheimischen wird folgende Passage wiedergegeben: »Man hätte die Flüchtlinge, als sie damals hier ankamen, gleich in der Mulde ersäufen sollen, allesamt.« »Taugt alles nichts.« »Aus dem hätte man beizeiten ein Pfund Seife21 machen sollen. Dann hätte er wenigstens einen Nutzen.« (91)
Wenn auf diese Weise von Bernhard Habers und seiner Familie Bemühungen um einen Neuanfang in Guldenberg berichtet wird, ist zugleich das Bestreben um Integration und ihre Suche nach einer neuen Heimat erzählt. Das durch die Erzähler forcierte Thema ist dabei, welche Anstrengungen Haber unternimmt, um schließlich Teil der Gesellschaft von Guldenberg zu werden. Mehr oder weniger deutlich kommt dabei auch Habers Bedürfnis nach ›seiner‹ Gerechtigkeit zur Sprache, und zwar im Sinne von Selbstjustiz, die er verübt und die das bei Hein altbekannte Kohlhaas-Motiv bedient. Haber selbst wird dabei zudem so gezeichnet, dass sein Handeln weder einen moralischen Anspruch noch irgendwelche höheren Interessen verfolgt oder im Dienst einer bestimmten Sache steht. Sein Agieren nutzt lediglich ihm selbst. Anderes wird nicht mitgeteilt. Dabei ist er selbst als Protagonist beschrieben, dem der Leser nur schwerlich Sympathie entgegenbringen kann. Auch wenn gerade das multiperspektivische Erzählen eindeutige Aussagen erschwert und die Zuverlässigkeit des Übermittelten ohnehin fragwürdig erscheint, erweisen doch gerade jene Ereignisse, die für die Geschichte der DDR wie Deutschlands von einiger Tragweite sind, dass hier immer Habers Interessenlage überwiegt und die historische Bedeutsamkeit jeweils überlagert. Das zeigt sich insbesondere in Verbindung mit drei historischen Ereignissen, die im kulturellen Gedächtnis als bedeutsame Schlüsselerlebnisse der DDRGeschichte bzw. der deutsch-deutschen Teilung verstanden wurden, welche hier aber vor allem im Hinblick auf Bernhard Habers persönliche Belange erzählt sind:22 erstens die Kollektivierung der Landwirtschaft nach vorausgegangener Bodenreform, zweitens der 17. Juni 1953 und schließlich drittens die Fluchthilfe nach dem Mauerbau am 13. August 1961. 21 Die so hergestellte Verbindung zum Dritten Reich findet sich auch anderswo im Text, vgl. z. B. Hein, Landnahme, S. 239f. 22 Die Forschung hat sich angesichts dieses Umgangs mit solchen »historische[n] Schlüsselereignisse[n]« denn auch irritiert gezeigt, vgl. Andrea Leskovec, »Die Verschränkung von Eigenem und Fremdem in Christoph Heins Roman Landnahme«, in Der deutschsprachige Roman aus interkultureller Sicht, hrsg. von Gabriella R/cz / L#szlj V. Szabj, Veszpr8m 2009, S. 159–173, hier S. 169. Andere betonen, es sei ein Gestaltungsprinzip Heins, individuelle Geschichten statt großer Geschichte mit zufälligen Berührungspunkten zu erzählen, vgl. Fabian Thomas, Neue Leben, neues Schreiben? Die »Wende« 1989/90 bei Jana Hensel, Ingo Schulze und Christoph Hein, München 2009, S. 92f.
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Zum ersten Punkt, der Bodenreform und anschließenden Kollektivierung der Landwirtschaft: Ganz im Sinne des Titels – Landnahme23 – wird davon berichtet, dass Bernhard Haber aktiv als Agitator an der Rückführung der landwirtschaftlichen Nutzfläche zum Zwecke der Kollektivierung beteiligt war. Das zunächst genommene Land wird denen, die es im Zuge der Bodenreform erhielten, nun wiederum genommen. Betroffen sind jetzt auch jene, die die erste Enteignung nicht berührte. Haber gibt sich als Agitator, der die politischen Argumente des jungen Staates DDR vertritt (129). Seine Motivation ist jedoch privat-persönlicher Natur, wie später im Buch berichtet wird. Er begründet sein Auftreten bei Bauer Griesel – jenem also, bei dem die Umsiedlerfamilie Haber die ersten Jahre in Guldenberg verbringen musste – wie folgt: »Sogar bei Griesel warst du dabei. […]« »Sicher. Griesel habe ich mir nicht entgehen lassen.« »Ich dachte damals, du willst Funktionär werden.« »Ich?« […] »Warum hast du mitgemacht?« »Rache ist süß, Koller.« […] »Ich habe es ihnen nicht vergessen. […] Die sollten es mal erleben, alles zu verlieren.« (239)
Auch das zweite bedeutsame Ereignis der DDR-Geschichte, der 17. Juni 1953, wird im Roman als vorrangig persönliche Auseinandersetzung Bernhard Habers beschrieben.24 Nach dem o.g. Streit mit den Brückenbauarbeitern, bei denen Bernhard mit Vertriebenenklischees spielt, wenn er erzählt, dass die Familie Kartoffelkäfer verzehre, nutzt er nicht nur die Gelegenheit, auf der am 17. Juni verlassenen Baustelle Gegenstände zu entwenden, sondern er arrangiert es auch derart, dass die Bauarbeiter glauben, die Polizei hätte mit diesem Diebstahl zu tun (165–174). Sie sagen dies beim Prozess aus und werden so auch »wegen 23 Zur Mehrsinnigkeit des Titels Landnahme und den damit anzitierten historischen Ereignissen von Flucht und Vertreibung wie konkreten Operationen der literarischen Figuren vgl. Hella Ehlers, »Deutscher Guldenberg. Erzählen zwischen ›kleiner‹ und ›grosser‹ Welt in Christoph Heins Roman Landnahme«, in Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (V), hrsg. von Martin Hellström / Edgar Platen, München 2008, S. 90–107, hier S. 90f.; Elizabeth Boa, »Lost Heimat in Generational Novels by Reinhard Jirgl, Christoph Hein, and Angelika Overath«, in Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic, hrsg. von Stuart Taberner / Karina Berger, Rochester 2009, S. 86–101, hier S. 89; Braun, »da fremdelt man mit Fremden ….«, S. 104f. 24 Vgl. hierzu ausführlich Katrin Max, »Den Aufstand erzählen. Christoph Heins Deutungen des 17. Juni 1953 in Der fremde Freund (1982) und Landnahme (2004)«, in Geschichte in Geschichten, hrsg. von Friederike Günther / Markus Hien, Würzburg 2016, S. 183–208 (im Druck).
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Herabwürdigung der Polizei« zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt (173f.). Schien es bei der Bodenreform noch um die Anwendung alttestamentarischer Grundsätze25 in Analogie zur ›Landnahme‹ Kanaans durch das auserwählte Volk Israel zu gehen, wird spätestens hier offensichtlich, dass Haber seine Optionen nutzt, sich gegen Kränkungen zur Wehr zu setzen, ohne dabei auf die Verhältnismäßigkeit zu achten. Zum dritten Punkt, der Fluchthilfe nach dem Mauerbau am 13. August 1961: Dass Bernhard Habers Aktivitäten nicht von moralischen Überlegungen oder gar idealistischen Grundsätzen geleitet sind, wird bei seiner Tätigkeit als Fluchthelfer offenbar. Hierbei findet weniger eine ›Landnahme‹ statt, als dass Haber aktiv an einer ›Verschiebung‹ der Bevölkerung beteiligt ist. Damit wird der Zusammenhang zwischen dem ›Land‹ als geographischem Raum bzw. politischem Territorium und seinen Bewohnern als sowohl sozialem Gefüge als auch biologischem Potential ersichtlich.26 Durch seine Mithilfe bei der Flucht werden dem Land Bewohner genommen und erfolgt eine Destabilisierung der politisch-sozialen Struktur wie seiner biologisch-soziologischen Zusammensetzung. Dies leitet über zu der Frage, auf welche Weise die versuchte Integration Bernhard Habers erzählt ist und inwiefern die beiden für die DDR charakteristischen Fluchtphänomene in einen übergeordneten Kontext gestellt sind. Hierfür ist zum einen der formale Aufbau mit der Rahmung der fünf Erzählerkapitel durch Prolog und Epilog zu beachten, zum anderen die von Peter Koller (einem der fünf Erzähler) mitgeteilte Episode der ›Pigmentverschiebung‹. Zunächst zu letzterem: Koller erzählt ausführlich die Geschichte von Gitti und sich und davon, wie sie schwanger wurde und einen Sohn namens Wilhelm gebar. Sogleich nach der Entbindung fällt Koller die Andersartigkeit ihres Babys auf, was ihn zunächst nicht stört: »Unser Baby hatte […] eine bräunliche Hautfarbe, was mir besser gefiel.« (191) Irgendwann aber doch misstrauisch geworden, da ihr Kind offensichtlich farbig ist und demnach jemand anders als er der Vater sein muss, beteuert Gitti wiederholt, es handele sich um eine »Pigmentverschiebung« (192). Koller glaubt dies zunächst, trennt sich aber schließlich doch, als er einsehen muss, dass Gitti ihn zweifellos betrogen hat. Diese Episode steht scheinbar ohne Zusammenhang zur erzählten Vita Bernhard Habers. Gleichwohl verwundert, dass sie sehr ausführlich geschildert ist. So ist zu fragen, ob sie im Gefüge des Textes nicht doch im Hinblick auf die ›Landnahme‹ semantisiert ist. Auffällig ist zunächst, dass sie mit einer Begebenheit am Schluss des Buches korrespondiert. Dort wird im Zuge des Guldenberger Karnevals im Jahre 1997 davon berichtet, dass Paul, Habers Sohn, 25 Vgl. 2. Mose 21,24 (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«). 26 Zur Stadt auch als sozialem Gefüge vgl. bereits Ehlers, »Deutscher Guldenberg«, S. 93.
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»zwei Fidschis aus dem Festumzug herausgezogen« habe, weil sie seiner Meinung nach »[a]uf unserem Karneval […] nichts verloren [haben]« (352f.). Die als »Fidschis« bezeichneten Vietnamesen waren in der DDR Vertragsarbeiter. Zu vermuten ist, dass der Vater von Gittis farbigem Kind Wilhelm ebenfalls zur Vertragsarbeit in die DDR kam (in seinem Fall aus Afrika).27 Damit wird das Thema ›Flucht und Vertreibung‹ über den nationalen bzw. regionalen Kontext ausgeweitet und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Der Text nimmt dies selbst vor, denn Haber erklärt auf Pauls rassistische Äußerung hin: »Lass die Leute zufrieden, Paul. Es sind arme Flüchtlinge. Ihnen geht es schlecht genug. […] Dein Großvater war auch ein Vertriebener.« (353) Dass in die DDR geholte Gast- bzw. Vertragsarbeiter aus wirtschaftlich schwächeren Ländern als Flüchtlinge beschrieben werden, verweist nicht zuletzt auf etwas, das schon beim Thema Republikflucht angedeutet war. Es geht hierbei nicht allein um politische Belange, sondern auch um wirtschaftliche Motive, die eine Flucht begründen. Im Text erfolgt keine moralische Differenzierung oder Wertung. Flüchtling ist der, der sein Land verließ bzw. verlassen musste und sich anderswo um ›Landnahme‹ bemüht. Dies ist jedoch nur ein Teilaspekt. Die Verknüpfung der Themen Flüchtlinge und Fremdarbeiter bedeutet noch mehr. Die im Titel benannte ›Landnahme‹ korrespondiert mit der von Gitti so bezeichneten ›Pigmentverschiebung‹. Es geht im Roman nicht nur darum, dass neue Territorien eingenommen werden bzw. eine Flucht durch die Wegnahme des eigenen Landes begründet wird (in Entsprechung zur Ambiguität des Wortes Landnahme abhängig von Agens oder Patiens). Nein, das Land selbst als politisch-soziales Territorium erfährt auch Änderungen durch biologisch-soziale ›Verschiebungen‹. Die daraus resultierenden Instabilitäten lassen die Frage aufkommen, inwiefern eine Integration überhaupt erfolgen kann bzw. ob es tatsächlich möglich ist, ein wie auch immer geartetes Heimatgefühl zu entwickeln und daraus seine Identität zu konstruieren. Landnahme thematisiert, dass dies kaum je möglich ist. Jegliche Stabilität wird als Illusion demaskiert – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaft als nationales und/oder politisches Gefüge. Verdeutlicht wird dies neben der erzählerischen Rahmung durch die wiederholte Thematisierung der Bedeutung von Namen, Spitznamen und Funktionsbezeichnungen, die im Text nur allzu oft nicht ihren eigentlichen Zweck – Charakterisierung, Identifizierung – erfüllen können. So bei den Namen: die Mitglieder der Familie Haber sind die Umsiedler und damit die besitzlosen Habenichtse, die Kitzerows hingegen gehören trotz slawisch anmutendem 27 Vgl. Phil McKnight, »How the Past Writes the Future: Social Autobiography and the Dynamics of Discrimination in Christoph Hein’s Landnahme and other Writings«, in The German Quarterly, Jg. 82 (2009), S. 63–89, hier S. 83f.
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Namen zu den alteingesessenen Familien der Stadt.28 Gitti gibt ihrem Sohn, dessen Vater offenkundig ein Schwarzafrikaner ist, den nationalistisch-deutschen Namen Wilhelm. Jenes Guldenberger Kind, das zu Beginn der Erzählung verloren geht, trägt den »wunderschönen Namen« Nadja (355), womit dessen russischer Ursprung die Herkunft des Kindes verschleiert. Nadja selbst hat zu Beginn des Romans einen ersten Fingerzeig gegeben, dass über Namen und Bezeichnungen keine Identität hergestellt werden kann: Von der Bühne soll ihr Großvater ausgerufen werden, um sie abzuholen, und befragt »nach dem Namen des Großvaters«, gibt »[d]as Mädchen […] stockend Antwort, und der Mann sagte in das Mikrofon, der Großvater heiße Opa und möge sich bitte umgehend bei ihm melden.« (11) Dass solche Bezeichnungen ohne Identitätszuschreibung zu Verwechslungen führen, zieht sich durch den gesamten Roman. Auch die eigentliche Initiation zum Erzählen erfolgt im Zusammenhang mit einer Verwechslung. Diese ist hier durch die Spitznamengebung bedingt. »Thomas Nicolas, der Fremde, der seiner Heimatstadt einen kurzen Besuch abstattete« (13) (auch dies ein Verweis auf die Unmöglichkeit, über eine Landnahme Identitätsfindung zu ermöglichen, Nicolas ist in der Heimat der Fremde), meint, unter jenen vier gleichaltrigen Männern, die als Honoratioren Guldenbergs von einem Podest aus den Festzug beobachten (7), seinen alten Schulkameraden entdeckt zu haben. Er spricht ihn mit »Guten Tag, Holzwurm« (11) und damit mit Bernhard Habers altem Spitznamen an (73, 213). Indes, der Angesprochene erinnert sich nicht an Thomas Nicolas, und auch für den Leser ist nicht sogleich ersichtlich, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Der »Fremde« Thomas Nicolas hat Sigurd Kitzerow für Bernhard Haber gehalten und somit den Falschen angesprochen.29 Kitzerow und Haber hatten zu Schulzeiten denselben Spitznamen,30 weshalb das Missverständnis in der Situation selbst nicht aufgeklärt werden kann. Nur dem aufmerksamen Leser erschließt sich, dass die Initiation zur Erzählung auf der falschen Annahme beruht, Thomas Nicolas habe auf der Karnevalsveranstaltung Bernhard Haber wieder getroffen und infolgedessen durch Erinnerung an die gemeinsame Zeit den Erzählvorgang ausgelöst. Diese Verwechslung ist leitgebend für die Erzählung. Damit wird nicht zuletzt aber auch die Frage nach der Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit des Erzählten 28 Vgl. Hein, Landnahme, S. 344, wo von »ursprünglichem Familienbesitz« der Kitzerows in und um Guldenberg die Rede ist, wie aus »uralten Grundbuchauszüge[n]« ersichtlich. Hierzu zählen unter anderem »die beiden Bürgerhäuser am Paradeplatz« im Zentrum Guldenbergs sowie »drei Kiesgruben« im Umland (ebd.). 29 Vgl. Wirtz, »Schein und Sein«, S. 38f. 30 Vgl. Hein, Landnahme, S. 301, wo Kitzerow als Erzähler über Haber sagt: »Sicher hatte auch er in der Schule den Spitznamen Holzwurm bekommen, denn den erhielten alle, deren Väter Tischler waren oder Sägewerksbesitzer wie mein Vater.«
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im Zusammenhang mit der beschriebenen Landnahme als Integration eines Vertriebenen in die Gesellschaft der Stadt Guldenberg aufgeworfen. Dass im Text nichts sein muss, wie es scheint, macht schon der Anfang deutlich. Märchenhaft und unwirklich wirkt der Einstieg in den Roman, der wie folgt lautet: Auf dem Podest am Ende der Freitreppe standen vier Männer und lächelten unbeirrt der Menschenmenge zu, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatte. Einer von ihnen sah mehrmals auf seine Uhr […]. »Länger können wir nicht warten«, sagte der Älteste von ihnen. »Was glauben die, wer sie sind? Königliche Hoheiten? Es ist nur das Prinzenpaar.« (7)31
Erst im weiteren Textverlauf erschließt sich, dass es hier um eine Karnevalsveranstaltung geht und nicht um die Erzählung einer märchenhaften Welt mit einem in dieser Welt realen Prinzenpaar. Karneval aber ist Verkleidung, ist Camouflage. Es herrscht der Grundsatz der Gleichheit vor.32 Dies wiederum birgt zum einen die Voraussetzung für die Verwechslungen, wie sie im Roman thematisiert werden. Darüber hinaus wird zum anderen offenbar, dass alle Identitätszuschreibungen nurmehr bloße Rollen sind – und im Falle von Landnahme diese Rollen nicht einmal zuverlässig eingenommen werden. Das betrifft die Individuen wie das Land selbst. Zur Schlüsselfigur wird hier Bernhards Sohn Paul. Nachdem sein Vater Zeit seines Lebens teils buchstäblich darum gekämpft hat, ein Glied der Gesellschaft Guldenbergs zu sein und so die Integration seiner Familie zu verwirklichen, stellt Paul dies wieder in Frage. Es ist in Erwägung zu ziehen, dass Pauls während des Festzugs stattgehabte Auseinandersetzung mit den als »Fidschis« bezeichneten ehemaligen Vertragsarbeiten dabei weit mehr als nur das Aufkommen einer neuen Fremdenfeindlichkeit thematisiert. Paul hat mit Sigurd folgenden Wortwechsel: »Was war denn vorhin auf dem Platz los? […] Ihr hattet irgendein Gerangel an der Pumpe.« »Ach so. Das war nichts weiter. Wir haben zwei Fidschis aus dem Festumzug herausgezogen.« »Lass sie doch. Wenn sie ein Kostüm haben, ist nichts dagegen zu sagen.« »Karneval ist ein deutsches Fest. Was haben sie da zu suchen?« (352)
Paul plausibilisiert sein Vorgehen, die Gastarbeiter vom Umzug auszuschließen, durch die Feststellung, dass Karneval »ein deutsches Fest« (352) sei. Das ist von der Forschung im Hinblick auf die neue deutschnationale Gesinnung des Sohnes Bernhard Habers gedeutet worden – und mithin als exemplarisch für die Gefahr, 31 Vgl. Wirtz, »Schein und Sein«, S. 37. 32 Vgl. Braun, »da fremdelt man«, S. 111; Ehlers, »Deutscher Guldenberg«, S. 104f. (beide in Anlehnung an Bachtin).
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die eine entsprechend gute Etablierung in der neuen Heimat beinhaltet, nämlich nun selbst zum Fremdenfeind zu werden.33 Mir scheint es aber auch aufschlussreich, Pauls Worte im Kontext des Romans ernst zu nehmen. Wenn Paul vom Karneval als einem deutschen Fest spricht, ist diese Aussage im Hinblick auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Sollte die Rede vom ›deutschen Karneval‹ zutreffend sein, dann ist allerdings die nationale Identität im Zusammenhang mit dem Karneval als Einnehmen einer bloßen Rolle (als Camouflage) zu verstehen. Im Hinblick auf den kulturhistorischen Kontext ist es indes weitaus plausibler, davon auszugehen, dass Pauls Aussage nicht korrekt ist. Karneval ist kein bloß deutscher Brauch bzw. kein deutsches Fest, sondern nationsübergreifend, möglicherweise gar ein anthropologisches Grundbedürfnis repräsentierend. Das bedeutet nicht nur, dass Pauls Schlussfolgerungen, die Gastarbeiter aus dem Festzug entfernen zu müssen, auch gemäß seiner Logik falsch wären und er sein eigenes Nationalbewusstsein auf falschen Prämissen aufbaut. Die Karnevalsszene als durch Prolog und Epilog den Roman umfassende situative Einbettung lässt Schlüsse auf das Romanganze zu und bietet so eine Erweiterung des Themas ›Flucht und Integration‹ über den nationalen Horizont hinaus an. Sie öffnet die Thematik zu übernationalen Grundsatzfragen. Die DDR-Geschichte wird so ebenfalls in einen erweiterten Kontext gestellt, und Bernhard Habers Werdegang ist nicht lediglich als erzählte Ereignisfolge der Flucht aus den ehemals deutschen Ostgebieten nach 1945 zu verstehen. Seine Vita ist im Zusammenhang mit den verschiedensten Flüchtlingsthemen der Vergangenheit wie Gegenwart zu sehen. Das berührt letztlich auch die Frage nach dem Gelingen seiner Ankunft in Guldenberg. Hinsichtlich der Erweiterung des Kontexts über das Deutsche hinaus ist zudem anzumerken, dass im Text wiederholt Betrachtungen dazu angestellt werden, was denn eigentlich ›deutsch‹ ist. Auffällig ist jene oben bereits zitierte Stelle über die Flüchtlinge aus den Ostgebieten: »Irgendwie kamen sie aus einem Deutschland, das nicht unser Deutschland war.« (33) Damit drückt der Erzähler Thomas Nicolas nicht nur Vertriebenen-Ressentiments aus. Er formuliert auch die für die Handlungszeit (1950) wie zur Erscheinungszeit (2004) relevante Frage, wie man Deutschland und das Deutsche genauer bestimmen bzw. erfassen könne. Die jüngere Geschichte erweist, dass hierbei nicht von Konstanten ausgegangen werden kann. Der Erzähler formuliert das Bedürfnis nach stabilen Identitäten, das aber nicht einzulösen ist. Ähnlich verhält es sich mit Paul während des Festumzugs 1997, wenn er Karneval als deutsches Fest bezeichnet.
33 Vgl. Boa, »Lost Heimat in Generational Novels«, S. 96; Friedemann Weidauer, »Käferplagen und Kirchenburgen. Defensivhaltungen des Ichs in Wenderomanen Christoph Heins«, in Seminar, Jg. 44 (2008), S. 252–271, hier S. 266.
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Das Verlangen, stabile nationale Bezugspunkte zu haben, wird zum Ausdruck gebracht, ohne dass dies in der Realität eine Entsprechung hätte. Tatsächlich erweisen sich die individuellen wie überindividuellen (nationalstaatlichen) Identitäten als brüchig. Schon die Problematik der Namen und Bezeichnungen verweist im Text darauf. Ebenfalls konturiert wird dieses Thema durch die Frage nach der Heimat als der Zugehörigkeit zum Land im Sinne der Korrelation von Biologie und Geographie. Der Roman thematisiert, dass permanent nicht nur diverse Landnahmen (in der Ambiguität des Begriffes) erfolgen, sondern auch Verschiebungen. Die Fluchthilfe im Sinne der Verschiebung großer Bevölkerungsteile in den Westen und Gittis Geschichte der Pigmentverschiebung als Erklärung der anderen Hautfarbe ihres Sohnes (bei zugleich urdeutschem Namen) sind hier richtungsweisend. Die Nationsbildung bzw. die nationale Identität ist damit sowohl hinsichtlich der geographischen Gegebenheiten (Land) wie auch der biologischen Gegebenheiten (Bevölkerung) thematisiert. Weder das Territorium noch die Bevölkerung Deutschlands haben sich während der Handlungszeit des Romans als stabil erwiesen. Das, was als ›deutsch‹ aufgefasst wird, ist somit ein Konstrukt, das sich aus temporären Bestandsaufnahmen speist. Eine ›Landnahme‹ im Sinne der Inbesitznahme einer neuen Heimat ist somit im Grunde von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Eingedenk dessen ist anzunehmen, dass auch Bernhard Habers Integration nur eine scheinbare ist. Zwar tritt er am Ende der Handlung als Etablierter auf, der es in Guldenberg ›geschafft‹ hat. Möglicherweise ist dies aber nur vordergründig so. Mir scheinen die Hinweise im Text auf Verwechslungen, Verschiebungen und karnevaleske Maskeraden im Zusammenhang mit dem Umstand, dass die Handlung von der Geschichte eines verlorengegangenen Kindes ausgeht, darauf hinzudeuten, dass vor allem über den Sohn Paul Bernhard Habers Integration in Guldenberg angezweifelt wird. Der Text ist nämlich durchaus auch derart lesbar, dass Paul in Wirklichkeit gar nicht Bernhards biologischer Sohn ist, sondern der von Sigurd Kitzerow. Das Thema der Landnahme Bernhard Habers wird so durch die biologische Verschiebung konterkariert. Die vom Erzähler Peter Koller mitgeteilte Geschichte der Pigmentverschiebung seines vermeintlichen Kindes Wilhelm, der in Wirklichkeit aber nicht sein Sohn ist, sondern einen afrikanischen Gastarbeiter als biologischen Vater hat (192f.), erfährt auch auf diese Weise ihre Einbindung in den Gesamtkontext des Romans und ist nicht mehr nur als amüsante Anekdote des naiven und unzuverlässigen Erzählers Koller aufzufassen. Bei Bernhard Haber sind ebenfalls Zweifel an dessen Vaterschaft angebracht – nur sind die Hinweise hier ungleich schwerer zu entschlüsseln als bei Peter Koller und seinem Baby Wilhelm mit der »bräunliche[n] Hautfarbe« (191). Haber wurde, wie gezeigt, schon zu Beginn des Romans mit Kitzerow verwechselt. Beide ähneln sich, haben vergleichbare Berufe und
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trugen zu Schulzeiten denselben Spitznamen. Die Verwechslung Kitzerows mit Haber initiiert überhaupt erst die Erzählung. Es spricht somit bereits die Konzeption beider Figuren dafür, auch hier hinsichtlich der Vaterschaft eine Verwechslung in Erwägung zu ziehen. Kitzerow teilt als Erzähler selbst mit, dass er mit Habers Frau Friederike »einmal […] geschlafen [habe], ein einziges Mal« (326). Seine Einschätzung dieses Vorfalls ist im Hinblick auf das Thema ›biologische Landnahme‹ im Sinne der Vereitelung eines Einbruchs alles Fremden und der Absteckung des eigenen Territoriums aufschlussreich. Er, der mit seiner Familie seit Generationen in Guldenberg ansässig ist, erklärt: »die Geschichten […], wie jene mit Bernhards Frau, hatten nichts mit Erotik und Sex zu tun, das war lediglich ein bisschen Biologie, ein mutwilliges Unternehmen der Natur, an dem ich recht eigentlich fast nicht beteiligt war.« (328) Eine weitere Textstelle ist im Hinblick auf die Frage nach der eigentlichen Vaterschaft von Paul zu erwähnen. Kitzerow erklärt dort, dass ihm seine eigenen Töchter nicht sehr nahe stehen. Ganz anders verhält es sich mit Paul, den er am liebsten als Erben hätte: »Paul würde ich meine Firma von Herzen gern übergeben, und wer weiß, wenn meine Töchter blöd bleiben, werde ich sie vielleicht eines Tages enterben, so dass ihnen gerade noch der Pflichtteil bleibt, und alles Paul schenken.« (349) In diesem Zusammenhang erwähnt Kitzerow auch Pauls Geschäftstüchtigkeit und Gerissenheit – Eigenschaften, die ihn deutlich von Bernhard Haber unterscheiden. Haber wurde des Öfteren als schwerfällig sowie als jemand, der sich alles hart erarbeiten muss, beschrieben, während Paul vom Wesen her ganz anders ist. (349) Am Ende des Romans, als Kitzerow mit Paul das Zwiegespräch über die »Fidschis« führt, wird die Differenz zu Haber nochmals deutlich herausgearbeitet (352). Kitzerow und Paul können sich untereinander besser verständigen als Haber und Paul. Haber bleibt mit seiner Mahnung, dass es sich um »arme Flüchtlinge« handelt, denen es »schlecht genug« geht (353), vom Sohn ungehört. Es ist offensichtlich, dass dieser Kitzerow näher steht als Haber. Für die Flüchtlingsthematik im Allgemeinen wie für die Lebensgeschichte Bernhard Habers im Besonderen bedeutet dies, dass gerade über die diskrete Andeutung der möglicherweise nicht gelungenen biologischen Integration im Sinne einer Landnahme die Unmöglichkeit des Unterfangens vorgeführt wird, die Folgen und Auswirkungen der Flucht durch eine Integration in der neuen Heimat zu heilen. Folglich lebt Haber lediglich die Illusion, als Vertriebener in Guldenberg endlich angekommen zu sein – wie auch alle sonstigen mit Hilfe externer Marker gefundenen Identitäten auf Missverständnissen beruhen bzw. Ausdruck von Verwechslung und Vertauschung sind. Gerade die komplexe Verschränkung und Analogisierung von erstens biologischen und geographischen, zweitens synchronen und diachronen sowie drittens nationalen (deutschen) und internationalen Aspekten der Flucht ver-
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weist dabei auf die Fragilität aller realisierten Ankünfte. Die erfolgte ›Landnahme‹ ist eine trügerische bzw. sie läuft immer Gefahr, wieder rückgängig gemacht zu werden. In Anspielung auf die deutsche Geschichte werden dabei auch Aspekte einer Blut-und-Boden-Ideologie ironisiert, wenn die Landnahme biologisch als Pigmentverschiebung beschrieben ist oder Bernhard Haber sich seiner Vaterschaft nicht gewiss sein kann. Durch die Verknüpfung von zur Entstehungszeit des Textes aktuellen Fragen der (Wirtschafts-)Flüchtlinge mit Aspekten von Flucht und Vertreibung zu Zeiten der SBZ/DDR (Flucht aus den Ostgebieten, Republikflucht) werden bestimmte Kontinuitäten innerhalb der deutschen Geschichte postuliert. Ereignisse der DDR-Geschichte erscheinen so nicht als singuläre Geschehnisse, sondern als Vorkommnisse, die so ähnlich jederzeit wieder stattfinden können. Bezogen auf die Form der literarischen Vermittlung ist festzuhalten, dass Landnahme als Roman der Gegenwartsliteratur dennoch bestimmte Schreibstrategien der DDR-Literatur fortführt, indem gewisse, für die Interpretation relevante Details nur durch äußerst dezente Andeutungen oder gar durch erst zu entschlüsselnde Informationen mitgeteilt werden. Das Prinzip der Camouflage ist hier erkennbar. Dieses hat seine Entsprechungen in der inhaltlichen Gestaltung: wird der Roman doch durch ein Karnevalsgeschehen – und damit durch buchstäbliche Camouflage – gerahmt. Die mangelnde Zuverlässigkeit der fünf Erzähler trägt hierzu ebenso ihren Teil bei, und es ist letztlich die Entscheidung des Lesers, sich auf die vielfältigen Maskierungen einzulassen und die Fluchtgeschichte als kompliziertes Beziehungsgeflecht wahrzunehmen – oder aber diese Hinweise nicht zur Kenntnis zu nehmen und den Roman als geglückte Landnahme Bernhard Habers in Guldenberg zu lesen.
Literatur und Diskurs
Manuel Clemens
Nach dem Künstler. Flüchtlinge und Migranten als neue Sinnstifter
Dieser Beitrag untersucht einige Momentaufnahmen aus der gegenwärtigen Literatur und Literaturkritik, in der Flüchtlinge und Migranten als Sinnstifter betrachtet werden. Meine These ist, dass diese Darstellung einem Bild entspricht, in dem sie – wie ehemals der Künstler – als Erneuerer der Literatur betrachtet werden, weil sie über Geschichten verfügen, die sich außerhalb eines wenig innovativen Literaturbetriebs zu befinden und aufgrund der Dramatik ihrer Erlebnisse über eine unnachahmliche Einmaligkeit zu verfügen scheinen.
Kunst Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden dem Künstler in Deutschland ganz besondere Eigenschaften zugeschrieben. Er ist ein Genie und deshalb soll er nicht nur große Kunstwerke erschaffen, sondern mit seinem ästhetischen Vermögen auch zum Vorbild werden und die Gesellschaft verbessern. Kant prägt in dieser Zeit die zentrale Definition des Genies. Es steht als Ausnahmemensch mit der Natur in Verbindung, ist damit sozusagen ein Naturtalent, und vermag auf diese Weise Kunstwerke zu schaffen, die über das Menschenmögliche hinausgehen: Geniale Kunstwerke sind nicht durch Nachahmung des Bestehenden entstanden, sonders etwas vollkommen Neues. Das Genie selbst weiß nicht, wie es so ein Werk zustande gebracht hat und es lässt sich dafür auch keine Regel ableiten. Nur die Natur kann letztendlich ein solches Werk hervorbringen und somit verdankt das Genie ihr sein Talent.1 Der normal sterbliche Betrachter eines Kunstwerks vernimmt dieses im »freien Spiele«2 seiner Wahrnehmung und – so ließe sich diese Formel Kants verkürzt zusammenfassen – durch diese Kombi-
1 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 2009, § 46, S. 307f. 2 Ebd., § 9, S. 217.
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nation von Freiheit und Spiel ist die ästhetische Betrachtung ein ganz besonders angenehmer Modus in der sinnlichen Anschauung. Schiller geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter. Das freie Spiel der Kunst ist nicht nur eine zweckfreie ästhetische Betrachtung der Welt, sondern auch ein Mittel, um in die Politik einzugreifen. In den Briefen Über die ästhetische Erziehung der Menschheit entwirft er ein Programm, in dem sich die aus der Kunstbetrachtung gewonnene Freiheit des Menschen in einem »Spieltrieb«3 manifestiert. Der Grundgedanke ist folgender : Bei Kant ergibt sich das freie Spiel dadurch, dass die Kunst- bzw. die Weltwahrnehmung nicht eindeutig ist. Die Anschauung findet nicht den entsprechenden Begriff und der Begriff korrespondiert nie so richtig mit der Anschauung, weshalb die ästhetische Betrachtung nie abschließend sein kann und immer wieder neue Möglichkeiten der Wahrnehmung zulässt. Dieses lustvolle Spiel der Interpretation überträgt Schiller auf die Natur des Menschen, die der Spieltrieb wieder in ein harmonisches Gleichgewicht bringen soll. Der durch die Kunstbetrachtung hervorgerufene Spieltrieb gleicht einerseits die rationalen Anforderungen aus, die an den Menschen aus dem Bereich der Gesellschaft und der Ökonomie gestellt werden (arbeiten, sparen, lernen, planen) und belebt andererseits wieder die lustvollen Empfindungen, die er dafür unterdrücken muss (Spontanität, Faulheit, Fantasie, Liebe). Der Mensch führt für Schiller dann ein erfülltes Leben, wenn sich diese beiden Bereiche gegenseitig ausgleichen. Da in der Moderne jedoch rationale Anforderungen dominieren, geschieht dies nicht mehr automatisch, weshalb die Kunst als Helfer einspringen muss. Mit ihrem freien, spielerischen und auf Harmonie bedachten Vermögen, dem Spieltrieb, kann sie das rationale Moment einschränken und auf ein zum Überleben und Glück gleichermaßen notwendiges Maß einpendeln. Schillers Kunstutopie sollte im 19. und 20. Jahrhundert viele Neuauflagen und Bestätigungen erfahren. Nietzsche nahm eine ähnliche Diagnose für seine Gegenwart vor. In Die Geburt der Tragödie machte er ein Missverhältnis zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen aus. Freud übersetzte diese Spannung in einen permanenten Kampf des Individuums zwischen einem Lust- und Realitätsprinzip, die in der Psychoanalyse ausgeglichen werden kann. Kants Bestimmung des Genies erfuhr ebenfalls zahlreiche Neuauflagen und Bestätigungen mit der Konsequenz, dass es schon bald in der Romantik und erst recht im 20. Jahrhundert zahlreiche Varianten des Genies gab: Nicht mehr nur als neoklassizistischer Künstler, sondern auch als Melancholiker, Rebell und unverstandener Außenseiter. Der Kunstbetrachter wird im Laufe der Jahrzehnte dabei zum Melancholiker und Außenseiter, und – im Zusammenhang mit der in 3 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, mit einem Kommentar von Stefan Matuschek, Frankfurt (Main) 2009, 14. Brief, S. 58.
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der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Massenkultur – selbst zum Künstler und Genie. So wirken zwei ästhetische Grundgedanken von Kant und Schiller durch die Jahrhunderte: Der Individualismus des Genies und bald auch der des Kunstbetrachters bzw. Konsumenten (Kant) und die Idee, dass Kunst kreativ und politisch ist und auf die Gesellschaft einwirken kann (Schiller). Beide konnten sich im Zuge der 68er-Bewegung als grundlegende Momente der westlichen Gesellschaften etablieren. Jedoch sind Individualismus und Kunst nicht so unschuldig, wie von Kant und Schiller angenommen. Vor allem Schiller hat das Ästhetische als (unschuldiges) Gegenmittel zum Bestehenden gefordert, jedoch – und das wird für die folgenden Überlegungen ausschlaggebend sein –, wird das Ästhetische im Laufe der Zeit selbst zu etwas, das in den Fokus der Kritik gerät.
Entzauberung An diesem Punkt setzt die jüngste Untersuchung4 von Andreas Reckwitz über Kreativität als ein zentrales Moment gegenwärtiger Lebensstile und Arbeitsbedingungen ein. Überträgt man seine zentrale These des »Kreativitätsimperativs«5 auf den oben skizzierten historischen Überblick, dann ergibt sich folgende Entwicklung: Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beginnt sich unter anderem mit Hilfe von Kant und Schiller ein »Kreativitätsdispositiv« auszuprägen, das in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts vollends zur Entfaltung gekommen ist und dem Menschen das Gebot auferlegt, kreativ zu sein. Kreativität etabliert sich somit nicht nur als etwas singulär Geniales oder politisch Befreiendes, sondern wird für jeden Menschen – egal ob Laie, Konsument, Kunstbetrachter, Künstler, Arbeiter oder Büroangestellter – etwas Unvermeidliches. Von allen Seiten ergeht die Aufforderung an ihn, all das, was er bisher gemacht und hervorgebracht hat, nun kreativer zu entfalten und hervorzubringen. Damit unterliegt die Gesellschaft einer permanenten Innovation, angekurbelt durch eine eigenständige Arbeitsweise. Bildung und Kreativität lassen sich dadurch nicht nur für das freie Spiel der Kunstwahrnehmung, sondern auch für das Berufsleben nutzen, oder anders gesagt, durch Bildung und Kreativität erhält das Berufsleben Zugriff auf die Privatheit. Das Künstlerische, das bei Schiller noch eine »Emanzipationshoffnung«6 gegenüber Rationalität und bürgerlicher Arbeit gewesen ist, verkehrt sich ins Gegenteil: Aus der ästhetischen Kritik am Kapitalismus wurde letzt4 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 5 Ebd., S. 13. 6 Ebd., S. 14.
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endlich ein »ästhetischer Kapitalismus«7, der den ästhetischen Einzelnen gut in den rationalen Produktivitätsprozess einspannen kann. Das Ästhetische wird damit zu einem Dispositiv, das aus allen Richtungen wirkt, Widersprüche verbindet, und hinter dem Rücken der Akteure eine heterogene und unsichtbare ›Ordnung des Wissens‹ zusammensetzt. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit bezieht es die unterschiedlichsten Felder mit ein – wie zum Beispiel Arbeit, Freizeit, Kunst und Erziehung – und verknüpft sie netzartig miteinander. Das Kreativitätsdispositiv antwortet auf ein gesellschaftliches Bedürfnis und organisiert es unbewusst. Die Ästhetik wird zu einem Dispositiv, das den Fortschritts- und Entwicklungsgedanken der Aufklärung und beginnenden Industrialisierung umsetzt. Im Gegensatz zur entfremdeten und den Bedürfnissen des Individuums entgegengesetzten Arbeit vollzieht sich die kreative ›Arbeit‹ unter dem Deckmantel der freien Selbstverwirklichung. Dadurch kommt sie dem Subjekt nicht mehr wie anstrengende und selbstaufopfernde Arbeit vor, sondern wie eine selbstbestimmte und ganzheitliche Ausgestaltung des eigenen Lebens. Wo bleiben unter diesen Bedingungen aber die großen Momente der Kunst, die der Betrachter nicht nachahmen kann, wo ihre authentischen Momente, die ihn aus dem Alltag und der Arbeitswelt herausheben und ein »freies Spiel« (Kant) oder den ausgleichenden »Spieltrieb« (Schiller) ermöglichen?
Literaturkritik Es ist natürlich nicht zu erwarten, dass dieser Aufsatz ästhetische Weltbezüge ausmacht, welche komplett außerhalb des Kreativitätsdispositivs stehen. Aber es soll ein Bereich aufgezeigt werden, der sich den banalen und produktiv vereinnahmten Formen der Kreativität zu entziehen scheint und uns nach dem genialen Künstler einen Protagonisten anbietet, der sich – in Anlehnung an Kants Geniebegriff – nicht imitieren lässt; dessen Erfahrungen, Exotismus und Opferstatus – im Sinne von Schillers ästhetischer Bildungskonzeption – ›pädagogisch wertvoll‹ sind. Die Rede ist von den Flüchtlingen und Migranten in der gegenwärtigen Literaturkritik und Literatur. Drei Momentaufnahmen sollen die Vermutung verdeutlichen, dass sie als Sinnstifter und Erneuerer der Literatur betrachtet werden. Für den Lektor Florian Kessler stimmt mit der deutschen Gegenwartsliteratur etwas nicht. Prominent beklagte er dies in einem ZEIT-Artikel. Gegenwärtig, so Kessler, sei die Literatur lahm und unpolitisch, weil die erfolgreichen Autoren, die es ins Feuilleton schaffen, alle den gleichen Hintergrund hätten: Ein gutes 7 Ebd., S. 11.
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akademisches Elternhaus und danach der Besuch in einer der beiden vielsprechenden Schreibuniversitäten in Hildesheim oder Leipzig: Kreatives Schreiben studiert habe ich meiner Erinnerung nach mit Lehrerkindern und Ärztekindern und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern […]. Insgesamt aber reüssierten meiner Wahrnehmung nach in Hildesheim und Leipzig ganz besonders die Absolventen mit den hochrangigsten bundesrepublikanischen Eltern: Professorenkinder wie Nora Bossong, Paul Brodowsky oder auch ich, eine Bundestagsdirektoren-Tochter wie Juli Zeh, ein Richtersohn wie Thomas Pletzinger, ein Managersohn wie Leif Randt. Zwar mit typisch akademischem Hungergehalt, dafür aber mit sozialem Glanz verbunden sind auch die Stellen als wissenschaftliche Mitarbeiter an den Schreibinstituten. In Hildesheim besetzen diese auffälligerweise von Hunderten Absolventen mit den Autoren Kevin Kuhn und Thomas Klupp zwei Söhne aus allerbesten Familien. Thomas lebt inzwischen in der Nähe von Hildesheim unter letztlich neofeudalen Bedingungen, in einem hinreißenden klassizistischen Herrenhaus mit angeschlossenen Parkanlagen.8
Das Resultat dieser Herkunft sind für Kessler diplomatisch-ironische Schriftsteller, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und das Richtige sagen – und manchmal aber auch nur zum richtigen Zeitpunkt lächeln und damit die mächtigen Kulturredakteure und Juroren für sich gewinnen. Maxim Biller antwortete ein paar Wochen später mit der gleichen Diagnose und bot sogar eine Lösung zur Bekämpfung der »Schlappschwanzliteratur«9 an. Da die Gegenwartsliteratur selbstbezogen, kraftlos und provinziell sei, brauche sie mehr Kosmopolitismus und dieser sei nur bei den Migranten zu finden. Sie sollten, so Biller, ihre »Multilingualität und Fremdperspektive« für die Produktion einer lebendigeren Literatur in Deutschland nutzen. Biller sieht für die Migrantenliteratur zwar auch die Gefahr, vom Literaturbetrieb vereinnahmt zu werden, äußert aber die Hoffnung, dass sich die Migranten, im Gegensatz zu den Deutschen, daraus befreien können: Deutschland war bis jetzt immer sehr erfolgreich, wenn es darum ging, Einwanderer und Fremde bis zur Unkenntlichkeit ihrer eigenen Identität zu integrieren, so wie die Hugenotten und die Polen im Ruhrgebiet, oder sie zu bestehlen, zu verjagen und zu vernichten, so wie die Juden. Es wird Zeit, daran etwas zu ändern – warum also nicht mit Romanen, Stücken und Rezensionen? Ich kann mir weniger unterhaltsame Revolutionen vorstellen.10
Zum Zeitpunkt dieser Debatte veröffentlich Sigrid Löffler ein Buch mit dem Titel Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler.11 Es geht dort um Literatur über Migrationserfahrungen. Und als hätte die Autorin Billers Ratschlag sofort um8 9 10 11
Florian Kessler, »Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn«, in Die Zeit, Nr. 4/2014. Maxim Biller, »Letzte Ausfahrt Uckermark«, in Die Zeit, Nr. 9/2014, S. 46. Ebd. Sigrid Löffler, Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, München 2014.
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gesetzt, bespricht sie Romane, in denen Migranten aus der ersten Generation über die schwierige Ankunft in einem neuen Land schreiben und die folgenden Generationen über das Aufwachsen mit Migrationshintergrund. Für diese Momentaufnahme ist vor allem die Einleitung interessant, denn dort schreibt Löffler, dass die neue und zukunftsweisende Literatur die Literatur der Migranten sein wird. Während Kessler Langeweile beklagt, Biller die Migranten dazu auffordert, mutiger zu sein und sich auf ihre Herkunft zu berufen, ist es für Löffler selbstverständlich, dass das Thema Flucht und Migration, erzählt von Flüchtlingen und Migranten, das Hauptthema der weltweiten Literatur sein wird. Sie verfasst somit ein Plädoyer für eine hybride Form der Literatur : »Indem sie Kulturgrenzen überschritten und damit auch erweiterten, wurden die Zugereisten zu Urhebern einer neuen Literatur des Dazwischen, des Oszillierens zwischen den Kulturen, der mehrfachen Identitäten.«12 Diese Hybridität, so Löffler, ist aufgrund der gewaltigen globalen Migrationsschübe ein »Vorschein«13 der zukünftigen Literatur : »Homi K. Bhabha, einer der führenden Theoretiker des Postkolonialismus, vermutet, dass ›transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen‹ drauf und dran seien, Hauptthema der neuen Weltliteratur zu werden.«14 Auch hier sind es wieder die fremden und außergewöhnlichen Lebenserfahrungen und Weltzugänge, welche die Literatur interessant machen und in die Zukunft führen sollen.
Literatur Während für die Kritiker Literatur von Flüchtlingen im Vordergrund steht, geht es nun um die Literatur über Flüchtlinge. Jenny Erpenbecks jüngster Roman Gehen, Ging, Gegangen zeigt, wie es aussieht, wenn nicht die Flüchtlinge selbst die Literatur erneuern, sondern zu Hauptfiguren in einem Roman werden. Während Biller einfach nur Literatur von Migranten forderte, die mit ihrem anderen Blick tiefgreifende und freche Romane schreiben, so wird deren Schicksal bei Erpenbeck zur Handlung eines Romans. Da bei Erpenbeck der Inhalt im Vordergrund steht, wird nicht die Literatur als solche, sondern das 12 Ebd., S. 8. 13 Ebd., S. 10. 14 Ebd. Das vollständige Zitat von Bhabha lautet: »Das Studium der Weltliteratur könnte das Studium der Art und Weise sein, in der Kulturen sich durch ihre Projektion von ›Andersheit‹ (an-)erkennen. Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, daß transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die Gebiete der Weltliteratur sein könnten.« Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 18.
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Leben des Protagonisten, eines emeritierten Professors für Altphilologie, in dem Sinne ›erneuert‹, dass ihm seine Arbeit mit Flüchtlingen neue Aufgaben gibt. Die Handlung des Romans ist schnell erzählt: Richard, so der Name des Professors, lebt nach dem Tod seiner Frau, dem Ende einer Affäre mit einer Geliebten und seiner Emeritierung ein wenig einsam in einem großen Haus am See. Das Schicksal geduldeter Flüchtlinge geht ihm nahe, er möchte ihre Geschichten aufschreiben und fühlt sich im Laufe der Handlung mehr und mehr verpflichtet, ihnen zu helfen. Und dieses Helfen, das ist im Kontext dieser Untersuchung nicht mehr überraschend, verleiht seinem Leben Sinn und strukturiert seinen Tagesablauf. Jeden Tag muss er aufs Neue irgendwo einspringen und aushelfen und erhält darüber hinaus Einblicke in eine Welt, die er früher nicht kannte. Sein klassischer Bildungskanon verblasst vor der Realität seines Engagements und dem Schicksal der Flüchtlinge. Andererseits wird er durch seine Arbeit und den Austausch mit ihnen wiederbelebt. Einem Flüchtling bringt er das Klavierspielen bei, mit anderen liest er Dante, und nach einem längeren Gespräch mit einem ehemaligen Kamelhändler über seine Arbeit, dem monatelangen Umherziehen und die Bedeutung des Geschichtenerzählens zur Orientierung in der Wüste, geschieht etwas Erstaunliches: Richard gelangt durch diese Geschichte zu einem tieferen Verständnis von Homer als er es durch sein jahrelanges Studieren und Forschen jemals erreichen konnte: Richard verstummt. Natürlich hat er immer gewusst, dass zum Beispiel die ›Odyssee‹ und die ›Illias‹, bevor Homer – oder wer auch immer – sie zum ersten Mal geschrieben hat, mündlich weitergegebene Geschichten waren. Aber noch nie ist ihm der Zusammenhang zwischen Zeit, Raum und Dichtung so klar gewesen wie in diesem Moment. Vor dem Hintergrund einer Wüste sah man es nur besonders deutlich.15
Die Begegnung mit dem Flüchtling wird für Richard an dieser Stelle sogar zu einer wissenschaftlichen Herausforderung. Dem gestandenen Fachmann begegnet hier sein eigenes Spezialgebiet auf eine neue, ungeahnte Weise – und das nicht im Rahmen eines Gelehrtendiskurses, sondern durch einen anderen Zugang zu diesem, in Form des erlebten Wissens und der alltäglichen Erfahrung. Allerdings ist diese Erfahrung, wie auch sein ganzes Engagement, nur von kurzer Dauer, da am Schluss alle von ihm unterstützten Flüchtlinge wieder abgeschoben werden und somit auch er selbst wieder in seine normalen Tagesabläufe zurückkehrt. Eine nachhaltigere Sinnstiftung durch Migranten findet sich in Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung. Auch hier ein Professor für Literatur, der zwar nicht emeritiert ist, dafür aber recht leidenschaftslos beschrieben wird. Die Machtübernahme der französischen Muslime beruhigt zunächst – und das zum 15 Jenny Erpenbeck, Gehen, Ging, Gegangen, München 2015, S. 187f.
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ersten Mal in einem Roman von Houellebecq – die unbändige sexuelle Lust des Protagonisten. Am Schluss ist dieser aufgrund des nun geforderten Lebenswandels selbst der Meinung, dass mit der neuen Regierung und den neuen Geboten und Verboten für ihn nun »die Chance zu einem neuen Leben« beginne.16
Schluss In all diesen Beobachtungen ist über Flüchtlinge und Migranten wenig gesagt worden. Es geht darum, was sich Kritiker und Autoren von ihnen für die Literaturkritik oder in der Literatur erwarten. Es geht um Zuschreibungen. Man hofft auf ihren fremden Blick als Autoren oder den fremden Blick der Protagonisten im Roman auf die Geflüchteten, der für den Leser genauso fremd sein soll wie der Naturzusammenhang des Kant’schen Genies. Dies soll dem Leser eine neuartige Erfahrung ermöglichen, die er sonst nicht gehabt hätte. Diese besondere Form der Erfahrung kann man dann auch als eine singuläre Erfahrung verstehen. Das Kreativitätsdispositiv besagt ja, dass jeder kreativ ist und kreativ sein soll und damit in die Nähe des Künstlers tritt. Die ›wahre‹ Kunst – wie hier die mit Flüchtlingen und Migranten – darf in diesem Sinne dann nicht nur kreativ sein, sondern muss darüber hinausgehen. Nur dieses ›Mehr‹ vermag es, dem Kreativitätsdispositiv zu entwischen und inmitten einer Massenkreativität singulär kreativ zu bleiben. Dafür darf die gegenwärtige ubiquitäre Kreativität jedoch nicht bei sich selbst verweilen. Was sich deshalb einstellt, und wogegen die Kreativgesellschaft wie eine konformistische Massengesellschaft aussieht, ist die Suche nach dem »Singularen«, nach dem »nicht vergleichbaren Besondern«17. Flüchtlinge und Migranten werden somit singulärer wahrgenommen als die Kreativen und schaffen für das Kreativsubjekt eine neue Aufmerksamkeitsordnung, die zu einem neuen Träger von Aura und Authentizität wird. Der Grund für diese neue Aura liegt darin begründet, dass die Kreativen die Flüchtlinge und Migranten nicht nachahmen können. Kunst und Künstler lassen sich nachahmen; das Schicksal und der Leidensweg der Geflüchteten nicht. Kunst, aus dieser Perspektive betrachtet, wird nicht mehr vom Künstler selbst produziert, sondern von Menschen mit authentisch-singulären Erlebnissen und aufgewühlteren Fantasien. Reichte es früher aus, sich einfach nur für den Weg des Künstlers entschieden zu haben, weil man darauf vertrauen konnte, dass der 16 Michel Houellebecq, Unterwerfung, Köln 2015, S. 271. 17 Andreas Reckwitz, »Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen. Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten«, in soziopolis.de (28. 9. 2015), http://www.sozio polis.de/beobachten/kultur/artikel/die-transformation-der-sichtbarkeitsordnungen/ (zuletzt abgerufen am 12. 08. 2016).
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Künstler mehr sieht und das Wahrgenommene auch präziser ausdrücken kann als der Durchschnitt, so gibt es dieses Vertrauen nicht mehr. Im Zeitalter der kreativen Arbeit und Lebensstile unterscheidet sich der Nicht-Künstler viel zu wenig von einem Künstler. Ersterer ist nicht mehr auf den Künstler angewiesen, was die Kunst jedoch auch uninteressanter macht. Den neuen Künstlertypus, also den Migranten oder Flüchtling, kann man dagegen, wie ehemals das Kunstgenie, nicht imitieren, wenn man nicht tatsächlich über diese Erfahrungen im Original verfügt. Die Aussage »Jeder Mensch ist ein Künstler« ist im Bereich der Kunst möglich, nicht aber auf dem Gebiet der Flucht und Vertreibung. Nicht jeder Mensch ist ein Geflüchteter oder hat einen Migrationshintergrund. Somit stellen Migranten und Flüchtlinge wieder den richtigen Abstand zwischen ›Künstler‹ und Nicht-Künstler her, damit erstere etwas Interessanteres als ihre Leser zu erzählen haben.
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Jenny Erpenbecks Roman Gehen, Ging, Gegangen (2015). Eine zeitlose Odyssee und eine zeitspezifische unerhörte Begebenheit Es war noch gar nicht so lange her, […] da war die Geschichte der Auswanderung und der Suche nach Glück eine deutsche Geschichte.1
Wirtschaftliche und soziale Veränderungen haben in den letzten Jahren in Deutschland zunehmend zu einer Entwicklung neuer Formen und Zentren von humanistischem Engagement geführt. Die fast zwei Jahre andauernde Besetzung des Oranienplatzes in Berlin (6. Oktober 2012–8. April 2014) und dessen Nutzung als Zeltlager für Flüchtlinge ist in diesem Zusammenhang als Teil einer urbanen Protestkultur zu verorten.2 Die Anwesenheit der Demonstranten wie der Flüchtlinge, die zu Solidaritätsbekundungen und Spenden animierte, verwandelte – wie bereits anderenorts geschehen – einen Allgemeinplatz in einen politischen »commons«.3 Das hat zur Sichtbarmachung eines Problems beigetragen, das in den Folgejahren nicht nur in den Großstädten unübersehbar werden sollte: der Umgang mit mehr als einer Million Asylsuchenden und deren Versorgung sowie Integration in Deutschland. Der Kreuzberger Oranienplatz als Protestinsel geriet jüngst in den Fokus von Film und Bühne.4 Er diente zudem der Autorin Jenny Erpenbeck als Schreibanlass für ihren Roman Gehen, Ging, Gegangen (2015). In diesem Roman wird der pensionierte Ostberliner Altertumswissenschaftler Richard für eine Gruppe 1 Jenny Erpenbeck, Gehen, Ging, Gegangen. Roman, München 2015, S. 222. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe. 2 Olivia Landry, »›Wir sind alle Oranienplatz!‹ Spaces for Refugees and Social Justice in Berlin«, in Seminar, Jg. 51 (2015), Heft 4, S. 398–413, hier S. 399. 3 David Harvey, Rebel Cities: From the Right to the City to the Urban Revolution, London 2012, S. 161. 4 Zum Beispiel: Aslı Özarslan, Insel 36 (Dokumentarfilm), 2014, sowie Elfriede Jelinek, »Die Schutzbefohlenen«, in Theater heute, Jg. 55 (2014), Heft 7, S. 3–19. Beim 52. Berliner Theatertreffen 2015 hat Nicolas Stemann Elfriede Jelineks Schutzbefohlene mit professionellen Schauspielern, aber auch Asylsuchenden und Flüchtlingen inszeniert. Siehe auch die Stücke Grenzfa(e)lle von Katharina Schröder (Heimathafen Neukölln 2014), Asyl-Monologe und Asyl-Dialoge der Bühne für Menschenrechte (Heimathafen Neukölln 2015).
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junger Asylsuchender vom Oranienplatz, besonders für Yussuf aus Mali, Raschid aus Nigeria, Awad aus Ghana und Osarobo aus der »Wüste« (66), zum Ersatz-Vater oder Großvater. In diesem Beitrag werde ich die Figur des Ersatzvaters als kritischen Repräsentanten von »Vater Staat« interpretieren und werde analysieren, inwiefern Erpenbeck an Richard einen Bürgerlichkeitsdiskurs festmacht, der klare Parallelen zu derzeitigen Entwicklungen in der gesellschaftlichen Mitte aufweist. Erpenbecks Roman thematisiert in vielerlei Hinsicht menschliche Annäherung über Generationen und Kulturen hinweg, einschließlich des fortdauernden Integrationsprozesses von Ost- und Westdeutschland. Ihre Hauptperson Richard macht deutlich, dass selbst 25 Jahre nach dem Niedergang der DDR immer noch viele ihrer Bürger versuchen, in der BRD anzukommen. Richard ist einer von ihnen, denn »seit die Mauer weg ist, kennt er sich […] nicht mehr aus. Seit die Mauer weg ist, ist die Stadt doppelt so groß und hat sich so sehr verändert« (40). Er hat noch seine Berührungsängste im Umgang mit dem neuen Land und der neuen Kultur, obwohl er den Vorteil hatte, dass er sich sowohl beruflich als auch privat nicht gravierend verändern musste. Das Mietshaus wurde Eigentum, und der Beruf blieb ihm. Für ihn war es somit eine Migrationserfahrung ohne geographische Komponente. Viele hatten dieses Glück nicht. Insofern kann Richard nur annähernd nachvollziehen, was es heißen muss, alles hinter sich zu lassen und neu anfangen zu müssen, so wie die Flüchtlinge, denen er sich ab Oktober 2012 annähert. Sein Ruhestand erlaubt dem Bildungsbürger, der sich von der übrigen Gesellschaft mit seinem Spezialgebiet Altertumsgeschichte scheinbar zurückziehen konnte, nun Gedankenspielereien, die ihn von seinen eigentlichen Forschungsgegenständen aus der Antike in die Jetzt-Zeit katapultieren. Er wird – der Idee des Bürgerlichkeitsdiskurses folgend – wieder zur politischen Teilhabe hingeführt, zur Sorge um öffentliche Belange, wenn die Umstände ihn zwingen, zu sehen, was er bislang ausblenden konnte, da er anderweitig vollkommen gedanklich investiert und absorbiert. Er geht nun behutsamer vor, statt Dinge zu übergehen, geht er sie gründlich durch und schließlich sogar auf die Menschen zu. Der Roman nutzt die Figur des kürzlich pensionierten Professors für Altphilologie als bürgerlichen Repräsentanten einer breiten Mittelschicht, da Richard als Hochschullehrer zum Träger der bürgerlichen Kultur zählt.5 Sein Ausscheiden könnte ihn zum gesellschaftlichen Rückzug und zur Konzentration auf Privatinteressen verleiten. Stattdessen zeigt Richard sich als Staatsbürger, der sein Umfeld sozial und kulturell mitbestimmen will. Der Weg zu seiner
5 Ich danke Katrin Max für die Hinweise auf die Bürgerlichkeitsthematik.
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Bürgerinitiative wird dabei mit all seinen Stolpersteinen nachgezeichnet, denn gerade der Anfang dieses neuen Lebensabschnittes ist ihm schwergefallen. An der Universität hat man Richard gern verabschiedet. So leicht es seinen Kollegen zu fallen scheint, ihn gehen zu lassen, so sehr ist es für ihn allein »ein Ende« (14). Er fühlt sich wie aus der Zeit gefallen und muss einsehen, dass diese Zeit »ohne ihn auskommen würde« (13). Der frisch emeritierte Professor erkennt allmählich, dass er sich – so wie die afrikanischen Flüchtlinge – in einer Lebensphase befindet, in der er zum Nichtstun verdammt ist, keine klare Vorstellung von der Zukunft hat und daher seine Tage relativ sinnlos verbringt. Ob rasiert oder unrasiert, mit Sakko oder Strickjacke, mit oder ohne Frühstücksei, das Leben in Richards Haus am See, im Speckgürtel von Berlin, ist einsam geworden. Wie seine Stasi-Akte ihm bescheinigt, hatte er zum weiblichen Geschlecht »im allgemeinen große Neigung und ist kontaktfreudig« (160), doch seit seine Frau vor fünf Jahren verstarb und ihn die Geliebte für einen Jüngeren verließ, ist auch das Geschichte. Selbst der schöne Ausblick auf den See ist ihm zur Qual geworden, seit dort vor wenigen Wochen ein Mann beim Baden ertrunken ist, dessen Leichnam noch nicht geborgen wurde. Dem Ertrinkenden »hätte geholfen werden können«, wenn man erkannt hätte, dass er wirklich um Hilfe winkte (12). Dieser eine Leichnam wird kontrastiert mit hunderten von anderen Wasserleichen: Flüchtenden, denen das Mittelmeer zum Massengrab wurde. In seiner anfänglichen Fixierung auf den einen Toten, der ihm und den anderen Anrainern die gute Wohnlage und viele liebgewonnene Freizeitmöglichkeiten verleidet, wird deutlich, dass der Verlust eines weißen mitteleuropäischen Lebens betrauernswerter und belastender zu sein scheint, als hundert afrikanische. »Vielleicht kann man sagen – Erpenbeck gestaltet das subtil –, dass die Nähe einer fremden privaten Tragödie [d. h. der Leiche im See] Richard durchlässiger macht.«6 Seine privilegierte Stellung wird dem »höflichen, älteren Herrn« (164) in seiner Dünnhäutigkeit zunehmend bewusst: »Richard weiß, dass er zu den wenigen Menschen auf dieser Welt gehört, die sich die Wirklichkeit, in der sie mitspielen wollen, aussuchen können.« (271) Bis zu dieser beschämenden Erkenntnis und seinem Versuch eines wiedergutmachenden Handelns liegen viele Spazier- und Behördengänge. Die Annäherung an das Eingeständnis seiner Wohlstandsbigotterie erfolgt wiederum in vorsichtigem Kreisen um des Pudels Kern: »Wer weiß« (12), »ihm schien« (12). »Jetzt müsste er« (15), dennoch verschiebt und verdrängt er die Dinge, »Vielleicht morgen? Oder später« (15). 6 Judith von Sternburg, »Jedermann und die Afrikaner. Jenny Erpenbeck Gehen, ging, gegangen« (17. September 2015), http://www.fr-online.de/deutscher-buchpreis/jenny-erpenbeckgehen-ging-gegangen-jedermann-und-die-afrikaner,24520012,31836132.html (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
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»Vielleicht wird es ihm besser gehen, wenn der Tote endlich gefunden ist?« (17) Doch der Tote bleibt verschollen, taucht nicht aus den Tiefen des Wassers auf, er meldet sich jedoch immer wieder aus den Abgründen von Richards Bewusstsein. Novellenartig kreist die Handlung um die unerhörte Begebenheit: das Verschwinden dieses Mannes im See, der im Vergleich zu den Mittelmeeropfern eine unverhältnismäßige gesellschaftliche Erhöhung erfährt, die Erpenbeck auf der extradiegetischen Ebene mit ihrer Ausgangsfrage beim Schreibanlass vergleicht: Als am 3. Oktober 2013 im Mittelmeer fast 400 Menschen vor Lampedusa ertranken, erschien der Autorin diese Nachrichtenmeldung novellenhaft, einzigartig und wie ein Fanal. »Damals war man an solche Nachrichten noch nicht gewöhnt«, es schien »eine einmalige Sache«.7 In diesem Moment fragte sich Erpenbeck, »Was passiert eigentlich mit den Überlebenden?«8 und begann mit ihren eigenen Nachforschungen. Auch Richard fühlt sich aufgrund einer unerhörten Begebenheit9 zum Sehen und Handeln (im Sinne von »die Sache angehen«) provoziert. Er hatte diejenigen, die gesehen werden wollten, übersehen. Das Paradox, eine Demonstration auf dem Alexanderplatz nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er zeitgleich dort war, wird für ihn gerade wegen des Mottos der Demonstrierenden unerträglich: »We become visible.« (27) »Die Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen. Odysseus hatte sich Niemand genannt, um aus der Höhle des Zyklopen zu entweichen.« (31–32) Genauso paradox mutet ihn nun an, dass er zwar nicht weiß, wo Burkina Faso liegt, oder was die Hauptstädte von Ghana, Niger und Sierra Leone sind, dass er sich jedoch über jeden Studierenden ereifert hätte, der die ersten vier Zeilen von Homers Odyssee nicht auf Griechisch hersagen konnte (33). Deshalb wird der Bildungsbürger, der seinen Lebensabend eigentlich mit Proust und Dostojewski, Seneca und Lukrez, Ovid und Merseburger Zaubersprüchen verbringen könnte, aktiv und verlässt sein Arbeitszimmer. Sein Wandel vom Denker zum Aktivisten ist bemerkenswert, denn Richard ist nicht besonders moralisch, ein wenig sexistisch, einfältig, zerstreut und weltfremd. 7 Jenny Erpenbeck, zitiert in Denis Scheck, »Druckfrisch«, ARD-Fernsehen, http://www.das erste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/videos/jenny-erpenbeck-gehen-ging-gegan gen-100.html (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015). 8 Erpenbeck in Scheck. 9 Als Johann Wolfgang von Goethe in seiner Korrespondenz mit seinem Freund Johann Peter Eckermann die wesentlichen Merkmale einer Novelle benannte und »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit« in deren Mittelpunkt stellt (1827), schwebte ihm – wie später auch in seinem Text Novelle – ein »seltsame[s], unerhörte[s] Ereignis« vor, das oft zum Wendepunkt einer Handlung wird. Das unerwartete, rätselhafte bis skandalträchtige Faktum wurde zumeist in straffer, überwiegend linearer Handlungsführung wiedergegeben, wobei nur die Höhe- und Wendepunkten im Detail dargestellt wurden und die Handlung am Schluss zumeist die Zukunft der Figuren nur andeutet. Vgl. Hugo Aust, Novelle, Stuttgart 2006, S. 8–14.
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Der lebensferne Akademiker, der seinen Rassismus, Chauvinismus, Euro- und Germanozentrismus nicht zu reflektieren in der Lage scheint, begegnet dem Leser zunächst als paradigmatischer Theoretiker und Fachidiot, in seinen Speise- und Einkaufsroutinen gefangen, mit schwacher Blase, und als alter Ostler immer noch mit mangelnder Kenntnis von Westberlin (35). »Er will niemandem helfen […]. Er will einfach nur sehen, und beim Sehen in Ruhe gelassen werden. Er gehört zu keiner Gruppe, sein Interesse gehört ihm ganz allein« (42). Trotzig beginnt er, die Flüchtlingssituation zu hinterfragen und geht dabei vor wie bei einem Forschungsprojekt. Er möchte herausfinden, was die Geflüchteten denken und was sie geprägt hat. Zugleich beschäftigt Richard aber auch, was Zeit bedeutet, wenn man sie im Überfluss hat und »das Nichtstun zu schlimm wird« (51). Daher verfällt er auf die Idee, dass man dazu am besten mit denen spricht, »die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will.« (51) Er erstellt einen Fragenkatalog, wie es die empirische Forschung erfordert, und recherchiert. Zuerst liest er nur, wälzt Geschichtsbücher, versucht die Kolonialzeit zu überblicken, erkennt an den schnurgeraden Grenzlinien im Atlas die Willkür der Kolonialmächte (66) und lässt, bevor er einen ersten Schritt auf die Flüchtlinge zugeht, viel Zeit verstreichen, er will der Sache gründlich nachgehen, bevor er sie angeht. Richard sieht anfänglich nur Schwarz und Weiß (44–45), schwarzhäutige Männer (58), erkennt in den Bezeichnungen von Stammesgruppen wie zum Beispiel der Tuareg primär nur Automarken (67) und dupliziert seine dichotomen Weltbilder von Ost und West, gut und schlecht. Tristan, Apoll und Hermes nennt er die Männer, als er sie endlich kennen lernt, denn »[e]s fällt Richard schwer, sich die fremden Namen der Afrikaner zu merken« (84). »Überhaupt ist es schwer für Richard, sich an irgendwen zu erinnern, die Haare und die Gesichter sind ja alle so schwarz.« (93) Raschid nennt er den Blitzeschleuderer, weil er ihn an Zeus erinnert, den Olympier (115). Einen weiteren jungen Mann tituliert er Schwarzer Mond von Wismar, »weil es in Wismar eine Kirche gibt, in der die Madonna mit ihrem Fuß den Kopf eines Mohren niederhält. Das jedenfalls dachte Richard, bis er erfuhr, dass das Gesicht des Mannes ursprünglich den Mond darstellen sollte und erst mit der Zeit schwarz geworden war.« (158) Der Homer-Leser wird so als Philister entlarvt10 und damit seine bildungsbürgerliche Fassade blessiert. Richard selbst ertappt sich zunehmend bei seinen gedanklichen Entgleisungen: »Dann geht es also doch nicht allen Flüchtlingen schlecht, wenn der Kerl 10 Vgl. Ulrike S#rk#ny, »Apoll und Tristan am Oranienplatz. Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen«, Norddeutscher Rundfunk – Kultur (16. 9. 2015), http://www.ndr.de/kultur/buch/ tipps/Jenny-Erpenbeck-Gehen-ging-gegangen,erpenbeck120.html (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
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so massig ist.« (60) Derartige Vorstellungen sind vertraut bis akzeptiert. »Dass er so etwas denkt, ist nun natürlich nicht schön, und es ist auch rassistisch, aber es tut nicht weh. Soll es auch nicht.«11 Richard erkennt die Ignoranz seiner Gedanken und die Respektlosigkeit vieler seiner Worte: So duzt er zum Beispiel die Geflüchteten, im Italienischen wie im Deutschen (66), dabei muss er sich eingestehen: »Nicht einmal seine Studenten hat er jemals geduzt.« (63) Auch wundert sich Richard über die Kostspieligkeit von internetfähigen Handys unter den Flüchtlingen (69): »Luxus […]. Einer der keine Arbeit hat und kein Geld fürs Museum?« (222) Wohlstandsgesättigt sind Richard die existentiellen Bedürfnisse und Wünsche der afrikanischen Flüchtlinge in Berlin anfänglich fremd. Keiner von den Männern trinkt hier je Alkohol. Keiner raucht. Keiner von ihnen hat eine eigene Wohnung oder auch nur ein eigenes Bett, die Kleidung stammt aus der Kleidersammlung, es gibt kein Auto, keine Stereoanlage, keine Mitgliedschaft in einem Sportclub, keinen Ausflug, keine Reise. Es gibt keine Frau und keine Kinder. Und auch keine Aussicht auf eine Frau und auf Kinder. Tatsächlich ist das Einzige, was jeder von den Flüchtlingen besitzt, ein Handy, manche haben eines mit zersplittertem Display, manche ein neueres Modell, manche eines mit Internetzugang, manche eins ohne – aber jeder besitzt irgendeines. (219)
Richards Sprache verrät, dass er seine neuen Gesprächspartner noch als homogene Masse wahrnimmt, obwohl er im Umgang mit ihnen eigentlich schon diverse Einzelschicksale kennengelernt hat. Viele seiner Pauschalurteile spiegeln die Einstellung der breiten Bevölkerung wider. Vielleicht kann er sich gerade deshalb so gut in die Köpfe seiner deutschen Mitbürger hineinversetzen: »Der Beamte sieht nicht so aus, als sei er sehr glücklich über seine Entsendung zu diesen Dahergelaufenen, die immer nur Forderungen haben und nie zufrieden sein können. […] Querulanten« (101). Der Leser soll sich in den Vorurteilen von Richard und seinem Freundeskreis teilweise wiederfinden können. Kommentare von anderen Berlinern sind da schon drastischer und rufen bei Richard Ablehnung und Befremden hervor, zum Beispiel wenn sie die Flüchtlinge »Schwarzis« (121) nennen und vermuten, »jeder Schwarze« sei »kriminell« (245) und »schleppe […] Krankheiten ein, Hepatitis, Typhus und Aids« (243). Gleichzeitig freuen sie sich als Touristen jedoch an der »Gastfreundschaft des Mohren« (204) und sind erstaunt darüber, dass ein Schwarzer so »erstaunlich gut Deutsch« spricht (216 und 242). Mit dieser Haltung stehen sie stellvertretend für viele namenlos bleibende »ausländerfeindliche Berliner« (225), die unter den »übergeschnappten Negern« nur »Drogenhändler« und die »afrikanische Mafia« vermuten (226). Bei älteren Menschen wird die Ablehnung der Afrikaner und die 11 Hannah Lühmann, »Ein Roman als Crashkurs in Flüchtlingskunde«, Die Welt (31. 8. 2015), http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article145830887/Ein-Roman-als-Crashkurs-inFluechtlingskunde.html (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
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Angst vor der Hautfarbe mit der »verdammte[n] Nazierziehung« (229), die diese Generation noch geprägt hat, begründet und entschuldigt. Mit dieser Urteils- und Meinungsvielfalt werden in Erpenbecks Text diverse Figuren als Rassisten mit Vorurteilen, Missverständnissen und Korrekturen des eigenen Weltbildes vorgeführt. So werden selbst in Richards Freundeskreis Gespräche geführt wie das folgende: »Ach so, sagt Jörg plötzlich, das ist ein Neger, verstehe. […] Na, dann ist doch alles ganz einfach: Die Kerle glauben noch an den Medizinmann! Du tanzt ein paar mal im Kreis um den herum – und schon ist er wieder gesund!« (287) Es mutet doppelt ironisch an, dass die westliche Schulmedizin wegen einer Falschdiagnose gerade diesen erkrankten Mann unvorstellbare Schmerzen leiden lässt (291). Auch Richards Freunde, die ansonsten so viele bürgerliche Tugenden aufweisen (wie Pflichtbewusstsein, Sparsamkeit, Aufstiegsstreben, Leistungsbereitschaft, Rationalität), werden als Philister dargestellt. Ihre Abendgesellschaften, die sich als kultivierte und kulturelle Zirkel einer gutbürgerlichen Gesellschaftsschicht gestalteten, haben damit etwas Zeremonielles wie etwas Vulgäres und erinnern bisweilen an das Haus des Phaiakenkönigs. Richards Lieblingskapitel, der elfte von insgesamt 24 Gesängen aus der Odyssee, in welchem Odysseus im Haus des Phaiakenkönigs die Geschichte seiner Irrfahrten erzählt, findet seine real existierende Entsprechung im Flüchtlingsalltag in seinem Berlin. Die Erzählungen der Männer thematisieren die Flucht über das Meer, so wie es in der Odyssee zu finden ist: Als wir das Schiff und des Meeres Ufer erreichten, Zogen wir erstlich das Schiff hinab in die heilige Meersflut, Stellten die Masten empor und die Segel im schwärzlichen Schiffe, Brachten darauf die Schafe hinein, und traten dann selber Herzlich bekümmert ins Schiff, und viele Tränen vergießend.12
Auch die Zwiesprache in der Odyssee hat in Richards Interviews ihre Entsprechung: Lass nicht unbeweinet und unbegraben mich liegen, […] Häufe mir dann am Gestade des grauen Meeres ein Grabmal, Dass die Enkel noch hören von mir unglücklichem Manne! […] Also sprach er ; und ich antwortete wieder und sagte: Dies, unglücklicher Freund, will ich dir alles vollenden. Also saßen wir dort und redeten traurige Worte, Ich an der einen Seite, […], Und an der andern der Geist des kummervollen Gefährten.13 12 Homer, Die Odyssee, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, 11. Gesang, Vers 1–5. 13 Homer, Die Odyssee, 11. Gesang, Vers 72–83.
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Anfänglich versucht Richard die Geschichten der Geflüchteten in seine gutbürgerliche Lebens- und Leserwelt zu integrieren: Auch Blanscheflur starb bei Tristans Geburt (75), konstatiert er, als ein verwaister Flüchtling ihm seine Geschichte erzählt. Der Altphilologe, der ein quälendes Herumirren durch die Welt bislang primär mit Homers Odyssee und mit der Ilias verband, erkennt jedoch zunehmend, getreu der Einsicht Fausts aus dessen innerem Monolog, seine Torheit: »Habe nun, ach […] Philosophie, Juristerei und Medicin, / und leider auch Theologie! / Durchaus studirt, mit heißem Bemühn. […] Und sehe, dass wir nichts wissen können!« (36–37). Der Feldforscher, der mit Fragebogen ausgerüstet zum ersten Treffen mit den Flüchtlingen aufbricht, entspricht noch dem Klischee vom nach Wissen und Erkenntnis strebenden Professor. Doch nicht mehr lange: »Richard hat Foucault gelesen und Baudrillard und auch Hegel und Nietzsche. Aber was man essen soll, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen, weiß er auch nicht.« (81) Richards Vorname (den Nachnamen erfährt der Leser nicht) ist Programm: abgeleitet vom germanischen »richi« / reich, mächtig und »hard« / stark, bedeutet Richard »Der Reiche und Starke«. Seine Bodenständigkeit, sein Wertkonservatismus und sein Hadern mit der Vergangenheit machen ihn zu einem Symbol für sein Land. Aus einem Humanismus heraus, der durch seine Bildung verstärkt wird, zeigt Richard Großzügigkeit und blindes Vertrauen in die Menschen um ihn herum. Dies verkehrt die Logik der Fremdenfeindlichkeit, nach einer Befragung und Reflektion der Situation, in eine ausgesprochene Fremdenfreundlichkeit: »Würdet ihr denn, wenn ihr an unserer Stelle wärt, einen Gast aufnehmen, den ihr nicht kennt«, ohne zu prüfen »ob ihr wirklich in Not seid […] Vielleicht […] seid ihr Verbrecher, das müssen wir prüfen. […] Oder einfach Schmarotzer.« (18) Schon Jacques Derrida formulierte diese Zwickmühlenfrage: »ist die Frage des Fremden eine Frage des Fremden, eine Frage, die vom Fremden her kommt« oder »eine Frage an den Fremden, eine Frage, die an den Fremden gerichtet wird«?14 Der Umgang mit Flüchtlingen stellt damit in jeder Gesellschaft grundlegende Werte in Frage und erinnert an die Zufälligkeit von Situationen. Richards Name, der fast als Anagramm in Raschids Namen wiederzufinden ist, verweist auf diese nicht ganz deckungsgleiche Austauschbarkeit. Das Schicksal des Einzelnen ist das Resultat vieler kleiner Zufälle, die Rolle von Gast und Gastgeber immer wieder auswechselbar. Das Hinterfragen klassifikatorischer Grenzen in Bezug auf das Aufnehmen oder Ausschließen von Fremden soll genau diese pseudo-dichotomen Polaritäten überwinden. Laut Derrida müssen Gastfreundschaft (hospitalit8) und Feindschaft (hostilit8) zusammen gedacht werden.15 Er schlägt dafür den Terminus 14 Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 38. 15 Derrida, Gastfreundschaft, S. 38.
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hostipitalit8 vor – Gastfeindschaft,16 und verweist so auf die Ambivalenz einer temporären Zuwendung, die im Alltag oft nach einer mehr oder weniger ausgedehnten Zeitspanne an ihre Grenzen stößt und so Gastfreundschaft in ihr Gegenteil umschlägt. In der Odyssee sagt Arete, die lilienarmige Fürstin: »Seht, das ist mein Gast«17 und Alkinoos gibt seinem Gast zu verstehen, dass er und seine Geschichten geschätzt werden: Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündet mit nichten Einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer ; wie viele Sonst die verbreiteten Völker der schwarzen Erde durchstreifen, Welche Lügen erdichten, woher sie keiner vermutet. Aber in deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung; Gleich dem weisesten Sänger, erzähltest du die Geschichte Von des argeiischen Heers und deinen traurigen Leiden. […] Erzähle mir Wundergeschichten. Selbst bis zur heiligen Frühe vermöcht’ ich zu hören.18
So wie Alkinoos zeigt Richard Gastfreundschaft, auch wenn er gewillt ist, diese für einen unbegrenzten Zeitraum einzuräumen und nicht nur wie bei Alkinoos auf eine klar begrenzte Zeit. Derrida zufolge bedeutet unbedingte Gastfreundschaft: Nicht zu wissen, wer der Gast ist, nicht »nach seinem Namen zu fragen« – und sein »Zuhause […] auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen« anzubieten.19 Richard weiß um diese Haltung in der Odyssee so wie bei Tacitus, wo es heißt: »Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; […] zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein.« (309f.) Was Richard bislang nur als literarisches Motiv kannte, muss er nun praktisch deuten. So kommt »Literatur als Medium des Verstehens zur Geltung, indem sich das Fremde und das Eigene als zwei Seiten eines Zusammenhangs erweisen.«20 Ein befreundeter Anwalt, der sich pro bono für die Flüchtlinge einsetzt, zitiert die alten Römer : »Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an« (303), als Hilfe, aber auch als Selbsthilfe. Aber es geht nicht nur um Richard als Gastgeber, sondern um Gastfreund16 17 18 19 20
Derrida, Gastfreundschaft, S. 38. Homer, Die Odyssee, 11. Gesang, Vers 338. Homer, Die Odyssee, 11. Gesang, Vers 363–376. Derrida, Gastfreundschaft, S. 27. Friedmar Apel, »Wir wurden, werden, sind sichtbar. Roman: Gehen, Ging, Gegangen«, 16. 9. 2015, Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezen sionen/belletristik/gehen-ging-gegangen-von-jenny-erpenbeck-13770081.html?printPaged Article=true#pageIndex_2 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
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schaft bzw. Asyl als Institution überhaupt. Die Grenzen des Staates als asylgewährende Institution und die Bedingungen der Asylgewährung werden hiermit zum Thema. Wer darf laut Dublin I überhaupt an welcher Stelle zu Wort kommen? Ist es überhaupt möglich, dass unter den Bedingungen der Verwaltung von Asylanträgen in den »Worten« moderner Fluchtgeschichten wie bei Odysseus »Anmut und edle Gesinnung« durchklingen können? Richards Antwort auf das Versagen von Politkern und Institutionen ist seine Eigeninitiative, wobei der mündige Bürger selbst Verantwortung übernimmt, bürgt und mobilisiert, um öffentliche Belange zum Wohle des Gemeinwesens in Ordnung zu bringen. Richards sukzessiv wachsendes Interesse wird somit schlussendlich zur bedingungslosen Gastfreundschaft, besonders da die offizielle (staatliche / gesetzliche) Logik seiner gefühlsmäßigen zunehmend widerspricht. Seine menschliche Haltung kontrastiert Richard mit dem Gebaren der Nazis in der deutschen Geschichte (227). Auf dem Alexanderplatz, wo er das erste Mal der Schwarzafrikaner gewahr wird, erinnern ihn unterirdische Tunnelsysteme an die Fluchtstätten der jüdischen Bevölkerung und an das Verhalten der Nazis, die Rauch in die Gänge leiteten. Ihre Perversitäten richteten sich auch gegen die vor den Bombenangriffen in die Berliner U-Bahn-Schächte flüchtenden Berliner, als die Nazis in den letzten Tagen des Weltkrieges diese Tunnel fluteten (20). Richard ist sich zudem schmerzlich bewusst, dass sein eigener Vater ein Nazi war und »als Soldat an der Front in Norwegen und in Russland« selbst »wahrscheinlich ein Erzeuger von Kriegswirren« gewesen sein muss (26). Wie Archimedes, der, geometrische Figuren in den Sand zeichnend, darum bat, »Störe meine Kreise nicht«, hat sein Vater sich Fragen über den Krieg verweigert, er war »einfach nur still« (26). Diese Gnade des Vergessens lässt man den Flüchtlingen nicht zukommen. Um sich zu legitimieren, müssen ihre Traumata zur Schau getragen werden. Getreu dem protestantischen Erbe seiner Mutter, das ihm diese Grundhaltung der Reue auferlegt hat, versucht Richard sich – auch in Anbetracht des nationalsozialistischen Erbes – in Wiedergutmachung und macht diese Demonstranten und ihr Anliegen für sich selbst sichtbar und zum Handlungsanlass. Der Mediendarstellung misstraut er, wie er jedem Bild und seiner Oberfläche mit Skepsis begegnet: »Konnte ein Bild ein Beweis sein?« (28) Platos Höhlengleichnis folgend versucht Richard, die Wirklichkeit außerhalb seiner eigenen Höhle zu verstehen und wird sich dabei zunehmend seiner eigenen Schuld und seines Erbes bewusst. Aus seiner Nachkriegskindheit ist ihm noch ein sogenanntes Negerbuch vertraut, mit Abbildungen von »Menschenfresserfrau« und »Menschenfresserkind«, »die Knöchelchen vom letzten Essen quer ins Haar gesteckt« (34). Dank politisch korrekter Neuauflagen ist mittlerweile das Original zum Sammlerobjekt geworden. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt realisiert Richard Spuren
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aus der Zeit der deutschen Kolonien ebenso wie der des Zweiten Weltkrieges (49). Politische Korrektheit konnte Richard jedoch noch keine Grenzen in seinen immer noch kolonialen Denkmustern verhafteten Wahrnehmungen setzen, zum Beispiel wenn er sich fragt, ob in dem Berliner Kaufhaus vormals auch Sklaven zum Verkauf angeboten wurden (50). Doch mit der Zeit versteht er, dass die industrielle Ausbeutung Afrikas durch westliche Konzerne eine Art der Fortsetzung der Kolonialverhältnisse bedeutet (182), dass Standards, die in DIN und TÜV ihren Ausdruck finden, ein »Herrschaftsinstrument« (148) sind, und dass auch die internationalen Gesetze dazu benutzt werden, Machtverhältnisse festzuschreiben: »Die geschriebenen Gesetze treten, je höher entwickelt eine Gesellschaft ist, an die Stelle des common sense.« (308f.) Seine naiven Fragen und Annäherungen an die Geschichte versuchen Aufklärung zu bringen. Der leidenschaftliche Sprachexeget muss sich mit termini technici vertraut machen und mit Gesetzen, die ihm bislang fremd waren: Bleibeperspektive und Vorrangregelung (305), Engpassberufe (307), Armutsflüchtlinge (252), Asylbetrüger (85, 252), sichere Herkunftsländer, Abschiebung (212) und Duldung: »So eine Duldung ist kein Aufenthaltsstatus« (307), sondern lediglich »eine Aussetzung der Abschiebung« (308). Richard erkennt die perfide Logik von »Dublin II«, wonach alle Länder, die keine Mittelmeerküste haben, für diese Flüchtlinge nicht zuständig sind. Die Existenz der Afrikaner ist durch das ständige Bewusstsein des Provisorischen ihres Aufenthalts bestimmt, von der Erkenntnis abgeleitet, dass sie eventuell wieder gehen müssen. Der junge Tuareg, den Richard zuerst befragt, interpretiert das stolz als Freiheit: »Wenn ich gehen muss, kann ich gehen« (211). Das unregelmäßige Verb »gehen« ist synonym für ihr Schicksal, für ihre Vergangenheit, aber auch für ihre Zukunft und ihre Gegenwart. Der Titel, der das Verb durchkonjugiert, wird im Roman verschiedentlich aufgegriffen, zum Beispiel im Sprachunterricht: Denn obwohl die afrikanischen Flüchtlinge gesetzlich nur temporär geduldet sind, erhalten sie Deutschunterricht und konjugieren an den wechselnden Orten ihrer Duldung stets von neuem das Basisverb der Bewegung. Bis ihnen die Aufforderung zum Gehen behördlich zugestellt wird.21
Doch das Paradoxon bleibt: »Wohin geht jemand, der nicht weiß, wo er hingehen soll?« Zweimal, auf zwei ansonsten leeren Seiten, lässt Erpenbeck diesen Satz je einmal drucken. Eine Antwort gibt es jedoch nicht. Für Ulrich Seiler dienen das Versinken, das Graben, die Oberfläche, die 21 Sibylle Bierer, »Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen. Gestrandet in der Warteschlaufe«, Neue Zürcher Zeitung (10. 10. 2015), http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/gestrandet-inder-warteschlaufe-1.18627304 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
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Sprachforschung, das Schweigen und das Verstehen als Reflexionsmotive.22 Das erste Leitmotiv, das aufgegriffen wird, ist jedoch das des Ertrinkens. Der Ertrunkene im See wird bisweilen als im Schlamm versunken vermutet, »leise schaukelnd, irgendwo da unten im See« schwebend (40). Richard sorgt sich um ihn, wie um einen Lebenden: »Wie wird es dem Mann im See gehen, wenn der See nun bald gefriert?« (75). »Der Ertrunkene würde vielleicht versuchen, von unter dem Eis zu rufen […] mit offenem Mund, mit den Händen von unten das Eis abtastend« (294). Im Gegensatz zu den 550 von 800, die allein ertranken, als Raschid und Zair nach Europa übersetzten (62 und 240), nimmt sich diese eine Wasserleiche fast belanglos aus. Die Männer, derer Richard sich annimmt, könnten »genauso auch am Grund des Mittelmeers liegen« (274). Das Mittelmeer als Massengrab für Flüchtlinge zwingt ihm nun die Erkenntnis auf: Die längste Zeit seines Lebens hat er im hintersten Winkel seiner Seele gehofft, dass die Menschen aus Afrika weniger um ihre Toten trauern, weil das Sterben dort schon von jeher so massenhaft auftritt. Jetzt saß in diesem hintersten Winkel seiner Seele stattdessen die Scham darüber, dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leicht gemacht hatte. (209)
Doch auch die Überlebenden und Lebenden werden zu Ertrinkenden. Diejenigen, welche die Überquerung des Mittelmeers überlebt haben, müssen nun in »Meeren aus Akten ertrinken« (310), denkt Richard. So wie ihm diese Erkenntnis den Spiegel vorhält, so sieht sich Richard immer wieder mit schwarzen Spiegeln, reflektierenden dunklen Schreibtischplatten und deshalb mit seinem schwarzen Spiegelbild konfrontiert. Der See und seine gefrorene Oberfläche liegen vor ihm, »das Eis klar […] wie schwarzes Glas« (293). Dieser Wechsel der Perspektive und diese Selbstreflexion unter negativen oder schwarzen Vorzeichen machen aus seiner Methode der teilnehmenden Beobachtung eine Art Selbsttherapie und Selbsthilfe. Richard »versucht […] nicht nur ihnen zu helfen, sondern auch sich selbst, dessen Leben aus der Bahn geraten ist«.23 Folglich gibt es viele Momente der Selbstbespiegelung, insbesondere um den Advent (232) und an Weihnachten (230): »das hat so ein Nigerianer sicher noch nie im Leben gesehen« (231). Begeistert präsentiert Richard seinen Reichtum und seine Traditionen und Riten: »wie durch ein Weihnachtsmuseum« führt er seine Gäste (235) und freut sich an deren Entdeckung, dass einer der Heiligen Drei Könige auf seiner Weihnachtspyramide, Caspar, »schwarz« ist (235). Diese Momente ermöglichen 22 Ulrich Seiler, »Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck: Ein Roman, der das Schicksal von Berliner Flüchtlingen sichtbar macht«, Literatur – Berliner Zeitung (15. 9. 2015), http:// www.berliner-zeitung.de/literatur/-gehen-ging-gegangen-von-jenny-erpenbeck-ein-roman -der-das-schicksal-von-berliner-fluechtlingen-sichtbar-macht,10809200,31816924.html#pl x538593455 (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015). 23 Erpenbeck in Scheck.
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gegenseitigen Wissenszuwachs, und der Perspektivenwechsel wird zur Denkfigur : »Wenn es […] nicht ihr eigenes Verdienst war, dass es ihnen [Richards Nachbarschaft und Freundeskreis] so gut ging, war es andererseits auch nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass es denen so schlecht ging. Ebenso gut könnte es umgekehrt sein.« (120) So gesteht sich Richard das reine »Glück des Paralleluniversums« (152) ein: »Während Richard von den Auseinandersetzungen der Tuareg mit Al-Qaida-Gruppen in der Wüste von Mali und Niger spricht, sieht er draußen im Garten ein Eichhörnchen laufen« (118). Die Katastrophen des Flüchtlingsalltags werden mit Fernsehzeitungsidylle und Sofakissenecke kontrastiert (118). »Apoll, Tristan und der Olympier bekommen nun ihren Platz in einem deutschen Wohnzimmer mit Couchecke, Fernseher, Obstschale und Bücherregal« (117), das heißt in seiner Mittelstandsidylle, in die sie mit ihren Traumata so gar nicht passen wollen. Für Richard wird das Unglück der Afrikaner zur »Projektions- und Reflexionsfläche für die Ambivalenzen seiner eigenen Existenz«.24 Schon Goethe erkannte: »Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste? / Der Unmensch ohne Zweck und Ruh, / der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste, / begierig wütend, nach dem Abgrund zu?«25 Diese Einsicht lässt Richard immer wieder gedanklich die Rollen tauschen. Wie wäre es, wenn ihm jemand Gesetze auf Arabisch erklären müsste? (87) Stattdessen bekommt Richard geduldig und verständlich die fünf Grundpfeiler des Islams dargelegt,26 wobei Richard sich in seinem Unwissen ernst genommen fühlt und das Gefühl des Fremdseins von seinen eigenen Reisen im Ausland kennt: »auf Dienstreise in Amerika« fühlte Richard sich nach wenigen Tagen »ganz durcheinander vom Fremdsein« (230). In letzter Instanz stellt Richard sich die Verkitschung und Exotisierung der Weißen vor, wären sie von den Schwarzen als edle Wilde gesehen worden und in musealen Schaukabinetten ausgestellt und entfremdet worden, so wie seinerzeit Angelo Soliman27 als exemplarischer Sklave niederer Rasse: »Das Federröckchen, mit dem man den Mohren ausstattete, stammte zwar, wissenschaftlich nicht ganzkorrekt, von südamerikanischen Indianern, aber der exotische Aspekt des Präparats kam dadurch viel besser zur Geltung.« (289) Das Pendant dazu wäre »der ausgestopfte Archäologe Heinrich Schliemann, gekleidet in ein spa24 Bierer, »Gestrandet in der Warteschlaufe«. 25 Johann Wolfgang von Goethe, Faust 1, Vers 3348ff. 26 »Erstens das Vertrauen auf Gott, zweitens das Beten, drittens das Teilen mit den Armen, viertens das Fasten während des Ramadans, und fünftens, wenn man es sich leisten kann, wenigstens einmal im Leben das Pilgern nach Mekka. […] Wer tötet, ist kein Muslim.« (107) 27 Der Schwarzafrikaner wurde als edler Wilder einem österreichischen Feldmarschall als Kammerdiener und Reisebegleiter geschenkt und später einer Trophäe gleich als Gesellschafter, Prinzenerzieher und Freimaurer im absolutistischen Europa herumgereicht. Nach seinem Tod im Jahre 1796 wurde Solimans Haut präpariert und mit Muschelkette und Federröckchen dekoriert halbnackt im Kaiserlichen Naturalienkabinett ausgestellt.
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nisches Stierkämpfergewand oder eine mongolische Tracht aus Schafsleder und Seide.« (289) Wie absurd diese Art der Darstellung anmutet, verdeutlicht gleichzeitig die immer noch latent bis unverhohlen kolonial-westliche Haltung dem Kontinent Afrika gegenüber, denn Richard kann sich der Exotisierung nur schwer erwehren: Als er die Zustimmung eines ghanaischen Kings benötigt, um einen Grundstückkauf zu legalisieren, stellt Richard sich diesen Lokalmonarchen »als einen Häuptling mit Speer in der Hand und rasselnden Fußbändern vor, dabei weiß er doch: Wenn der King wirklich mächtig ist, trägt er sicher ein Trikot des Fußballvereins Barcelona.« (278) Richard arbeitet sich vorsichtig an ein differenzierteres Weltbild heran und versucht, umsichtiger zu denken, sehen und reden. »Vielleicht« ist demnach auch das erste Wort des Romans (9), eines sich vorsichtig an die Realität herantastenden Textes, der mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert und sich im Konjunktiv der Wirklichkeit annähert. Vorsichtige Formulierungen, die Gegebenheiten beschreiben, immer aber auch gleich deren Gegenteil oder Verneinung mitdenken, bestimmen den Denk- und Sprachduktus des inneren Monologs, aber auch die Reflexionen der Dialoge und theoretischen Diskurse: Den Unterschied zwischen den Flüchtlingen, die heutzutage auf dem Meer irgendwo zwischen Afrika und Europa ertrinken, und denen, die nicht ertrinken, macht allein der Zufall. In diesem Sinne ist auch jeder von den afrikanischen Flüchtlingen hier, denkt Richard, gleichzeitig ein Lebendiger und ein Toter. (208)
Dieser Zufälligkeit stellt Richard sich mit seiner vergleichenden, aber bisweilen auch relativierenden Annäherung. Als teilnehmender Beobachter erwägt er das Schicksal der Geflüchteten als dramatische Szenenfolge. Der Oranienplatz ist in dieser Konstellation »nur eine Station auf einem langen Weg, ein vorläufiger Ort, der zum nächsten vorläufigen Ort führt« (70). So wie Odysseus flieht, zum »Fremdling«28 wird und über zehn Jahre braucht, bevor er an dem Ort ankommt, den er wieder seine Heimat nennen kann, so irren die Flüchtlinge in Gehen, Ging, Gegangen auf unabsehbare Zeit. Richard versteht, dass Migration eine Konstante der Menschheitsgeschichte ist, sozusagen ein »Naturgesetz« (178): Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an, und niemals hat es Stillstand gegeben. Es gab Handel, Kriege, Vertreibungen, auf der Suche nach Wasser und Nahrung sind die Menschen oft dem Vieh, das sie besaßen, gefolgt, es gab Flucht vor Dürre und Plagen, Suche nach Gold, Salz oder Eisen, oder es konnte dem Glauben an den eigenen Gott nur in der Diaspora die Treue gehalten werden, es gab Verfall, Verwandlung, Wiederaufbau und Siedler, es gab bessere und schlechtere Wege, niemals aber Stillstand. (178)
28 Homer, Die Odyssee, 11. Gesang, Vers 350.
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Derridas Logik folgend ist die »Endlichkeit« ihrer Situation für die Flüchtlinge paradox und pervers.29 »Das Zu-Gast-Sein ist ein vorübergehender, endlicher Zustand«, denn Gast zu sein, bedeutet auch das Temporäre, die Unstetigkeit und das Zeitweilige, das Vorübergehende.30 Andererseits gibt es ganz praktische Restriktionen, aufgrund der »Notwendigkeit für den Gastgeber, also den Empfangenden, die Eingeladenen, seine Besucher oder Gäste, all die, denen er Asyl-, Besuchs- oder Gastrecht zu gewähren beschließt, zu wählen, auszuwählen, zu filtern, zu selektieren«.31 Sich für den Einen zu öffnen bedeutet gleichzeitig, sich vor jemand anderem zu verschließen. Bis zu diesem Punkt stimmt Richards Verhalten mit Derridas Überlegungen überein. Doch Richards Sachverstand und Gerechtigkeitssinn machen ihm bewusst: Risiko und potentielle Folgen sind dabei schwer abzuschätzen. »Indirekt sind die Wirkungen, nicht direkt« (250), ist ein Lieblingsgedanke des Wissenschaftlers Richard, und ähnlich verhält es sich mit dem Erzählstil des Romans. Aus der anfänglichen Unsicherheit wird eine tastende Annäherung, bevor dem bedingungslosen Bekenntnis erste Taten folgen. Richards Privathaus wird zum Aufnahmelager, seine Gastfreundschaft kennt keine Grenzen mehr, auch wenn es immer noch viele Anzeichen von Gastfeindlichkeit gibt. Das Buch erzählt im Kleinen eine positive, realistisch-utopische Geschichte, […]: Die Deutschen schalten um auf Willkommenskultur, aus Flüchtlingen werden Individuen, die Begegnungen finden auf Augenhöhe statt, die Bereicherung ist gegenseitig. Erpenbeck findet für Richard ein philosophisches Motiv, das seine wissenschaftliche und auch ratsuchende Neugier weckt: Er, der aus der Zeit fällt, sucht Hilfe bei denen, die schon außerhalb der Zeit sind.32
Einige Kritikerstimmen bemängelten, dass das Buch eine zu idealisierte Darstellung der Umstände biete, so etwa Hannah Lühmann in der Welt: Vieles ist falsch an diesem Buch, unter den jungen Männern, den Flüchtlingen: kein einziger Antisemit, kein einziger Gewalttäter, keiner, der übergriffig wird, vielleicht einer, der stiehlt. Sie sind alle nett und verloren, traurig und traumatisiert, manchmal ein bisschen aggressiv und übermütig. Sie sind Platzhalter in einem Lehrstück über die Welt, wie sie sein könnte. Richards Gedanken sind politisch so wenig inkorrekt wie eine Diversitätskampagne der Grünen.33
29 Derrida, Gastfreundschaft, S. 45, Kursivierung im Original. 30 Evi Fountoulakis / Boris Previsˇic´, »Gesetz, Politik und Erzählung der Gastlichkeit«, in Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, hrsg. von Evi Fountoulakis / Boris Previsˇic´, Bielefeld 2011, S. 7–30, hier S. 11. 31 Derrida, Gastfreundschaft, S. 45. 32 Seiler, »Gehen ging gegangen«. 33 Lühmann, »Crashkurs in Flüchtlingskunde«.
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Wie falsch Lühmanns Darstellung ist, soll die folgende kurze Aufzählung beweisen. Schon bei der ersten Versammlung mit Flüchtlingen in Kreuzberg, die Richard besucht, wird ein Laptop gestohlen, offensichtlich von einem der anwesenden Ausländer (37). Es gibt Randalierer und Vandalen (262), die mit der scheinbaren Willkür der Behörden nicht anders umgehen können, und es gibt auch in Richards Interaktion mit den Geflüchteten Momente, in denen er sich des Verdachts von Diebstahl und Sachbeschädigung nicht erwehren kann, zum Beispiel an einer Supermarktkasse (161) und nach dem Einbruch (320). Seine Freunde werfen ihm vor, dass er die Schattenseiten der menschlichen Existenz nicht wahrhaben will: »Wenn du seinen [Osarobos] Verrat [Diebstahl / Einbruch] entschuldigst, bist und bleibst Du der großkotzige Europäer.« (317) Der Roman thematisiert diese Ambivalenz also sehr wohl. Er sieht aber auch die Gründe differenziert. Die Männer sind traumatisiert und isoliert, verunsichert und »haben nichts zu verlieren« (270). Richard sieht diese Gratwanderung zwischen Legalität und Illegalität in seinem persönlichen Umgang mit den Flüchtlingen: »wo es keine Regeln mehr gibt, wo man auf niemanden Rücksicht nehmen muss, aber dafür auch für immer und ganz und gar und unumkehrbar allein ist« (323), ist der gesellschaftliche Ausstieg und Abstieg schon vorprogrammiert. Dieser traurigen Erkenntnis verschließt sich Richard nicht und lässt sich von seinen emotionalen Erfahrungen erweichen. Die Läuterung des alten Mannes steht stellvertretend für die der bürgerlichen Kultur in Deutschland. Er kommt am Ende des Romans zu zwei bitteren Einsichten: »Ein Leben, in dem eine leere Gegenwart besetzt ist von einer Erinnerung, die man nicht aushält, und dessen Zukunft sich nicht zeigen will, muss sehr anstrengend sein, denkt Richard, denn da ist, wenn man so will, nirgends ein Ufer.« (340f.) Er findet auf seine Frage »Wohin geht ein Mensch, der nicht weiß, wo er hingehen soll« (328), der aber ironischerweise »gehen muss« (327), erschreckende Antworten: von Selbstmord bis Psychiatrie (327ff.). Erpenbeck hat, ganz entgegen der Fehllektüre Lühmanns, die negativen Aspekte einer Massenflucht von jungen Männern ungeschönt gezeigt, sie aber in einen Kontext gestellt, der Gewalt, Radikalisierung und Fundamentalisierung als mögliche Folgen von Verhältnissen zeigt, die die Flüchtlinge selbst nicht kontrollieren können. In seiner Ohnmacht, helfen zu wollen, ohne helfen zu können, bleibt Richard bedächtig. Der Roman setzt dabei nicht auf effekthascherische Akzente und die Wiederholung plakativer Sprüche wie »Kein Mensch ist illegal« oder »Abschiebung ist Mord«, vielmehr bleibt er im Ton und Tenor so unspektakulär und bieder wie Richard. Er bietet Einsichten in das Naturgesetz der »Bewegung« (178): Migration, Handel, Kriege, Vertreibung.34 Aber auch Erkenntnisse in das 34 Vgl. Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. von
Jenny Erpenbecks Roman Gehen, Ging, Gegangen (2015)
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eigene Land und seine Gesetzgebung werden klar formuliert: Die institutionelle Gewalt und juristische Härte, mit der gegen die Flüchtlinge vorgegangen wird, hat – so Richard – »ihre Wurzeln in der Inzucht, die die Gesetze mit ihrer Auslegung treiben« (301). Das Verb »gehen« mit all seinen möglichen Präfixen wird so immer wieder in Richards Vorgehen durchexerziert. Jenny Erpenbeck mahnt: »Ich habe mit Flüchtlingen gesprochen und deren Geschichten im Buch verarbeitet, aber dokumentarisch ist der Roman nicht.«35 Trotzdem leistet Gehen, Ging, Gegangen mit seinen semi-dokumentarisch anmutenden Passagen einen Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdebatte. Der Roman liefert den Beweis, dass ein Umdenken notwendig ist, auch wenn die richtigen Antworten noch in weiter Ferne zu sein scheinen. Richard, der vorurteilsbehaftete Bildungsbürger mit dem schweren historischen Erbe, steht für die tonangebende Mitte der deutschen Gesellschaft. Er ist dabei, wie seine Heimat, reich und stark, und doch überfordert, denn er wird Gastgeber aus der Not heraus und als Reaktion auf eine unerhörte Begebenheit. Doch Richard ist nur ein provisorischer Ersatzvater und bloß ein temporärer Gastgeber. In seiner Situation spiegelt sich das Schicksal eines Landes mit all seinen Ambivalenzen und Widersprüchen, denn Gastfreundschaft bleibt ein Simulakrum. Die Geflüchteten werden zumeist wieder zu Flüchtlingen gemacht in einem Kreislauf aus »gehen, ging, gegangen, gehen …«.
Klaus Bade et al., München 2010. 35 Jenny Erpenbeck, zitiert in Sebastian Naumann, »Flüchtlinge sind zu Freunden geworden«, Berliner Zeitung, 11. Oktober 2015, http://www.bz-berlin.de/kultur/literatur/jenny-erpen beck-fluechtlinge-sind-zu-freunden-geworden (zuletzt abgerufen am 22. 12. 2015).
Ivo Theele
Der ›Schlepper‹, das unbekannte Wesen. Formen der Fluchthilfe in Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen und Illegale Helfer
Begriffliche Schwierigkeiten ›Schlepper‹, ›Schleuser‹, ›Menschenhändler‹ – im Zuge der Debatte um die so genannte ›Flüchtlingskrise‹ wurden diese und ähnliche Begriffe zuletzt sehr unreflektiert benutzt. Zwar ist stets von Flüchtlingen die Rede (was den Umstand der Flucht betont), nur selten jedoch von Fluchthelfern. Die vielfältigen und teils fragwürdigen Bezeichnungen für jene Personengruppe, die Menschen beim illegalen Grenzübertritt unterstützt, zeigen neben dem offensichtlichen Wunsch nach einfachen Erklärungsmustern eines komplexen Sachverhaltes und stereotypisierter Vorstellungen vor allem eine begriffliche Schwierigkeit: Es erscheint fraglich, ob die deutsche Sprache überhaupt einen vollkommen wertfreien Begriff für diese Figur bereithält. Begriffe wie ›Schleuser‹, ›Schlepper‹ oder gar ›Menschenhändler‹ jedenfalls legen nahe, dass nicht Hilfe das Motiv der Fluchthelfer ist, also nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern einzig das finanzielle Geschäft, das aus der Not des Flüchtlings geschlagen werden kann. Der Begriff ›Menschenhändler‹ setzt gar voraus, dass der Flüchtling eine Art Ware darstellt, mit der nach Belieben gehandelt werden kann. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Begriffe ›Schlepper‹ und ›Schleuser‹, beide der Verkehrstechnik entlehnt, eine ›ideologische Vergangenheit‹ haben: Der Soziologe Florian Schneider weist darauf hin, dass sie zuerst im Kontext der illegalen Flucht im DDR-Strafgesetzbuch verwendet wurden.1 Dort ist die Rede vom ›Verschleppen‹ und ›Ausschleusen‹ von DDR-Bürgern. Nach der Wende haben dann die bundesdeutschen Behörden »einigermaßen bruchlos die DDR-Terminologie vom ›Schleppen‹ und ›Schleusen‹ [übernommen] und wandten sie für einen Tatbestand an, der im Westen bis 1989 [noch] konsequent als ›Fluchthilfe‹
1 Vgl. Florian Schneider, »Der Fluchthelfer«, in Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, hrsg. von Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling, Berlin 2002, S. 41–57, hier S. 42.
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Ivo Theele
geadelt war.«2 Neben der Herkunft der Begriffe sowie ihres Bedeutungswandels ist also zu betonen, dass die Hilfe zum illegalen Grenzbetritt »nicht immer verpönt und kriminalisiert war, sondern dass ihre Bewertung stark von den historisch-politischen Gegebenheiten abhängt.«3 Als begrifflicher Gegenpol zum ›Schlepper‹ und ›Schleuser‹ bietet sich der ›Fluchthelfer‹ an. Hier wird zwar die Hilfe (ob ohne oder für Bezahlung), die zweifellos positiv konnotiert und somit ebenfalls wertend ist, hervorgehoben und als Handlungsmotiv impliziert. Es spricht dennoch einiges für die Verwendung des Begriffs Fluchthelfer. Entscheidend ist dabei weniger die Motivation der Helfer, sondern vielmehr die Perspektive der Geflüchteten selbst – und die ist oft davon geprägt, dass Unterstützung für die Flucht unbedingt erforderlich ist.4 So ist letztlich auch von untergeordneter Bedeutung, ob diese Unterstützung selbstlos erfolgt oder eine bezahlte Dienstleistung darstellt. Für die geflüchtete Person stellt die Tätigkeit der Fluchthilfe in erster Linie eine (übrigens moralisch nur schwer zu bewertende) Hilfe dar, die sie ihrem Ziel (vermeintlich oder tatsächlich) näher kommen lässt. Der Fluchthelfer ist im Kontext der aktuellen Migrationsdebatte zu einer dämonisierten Figur geworden. Diese Zuschreibung zielt jedoch zu kurz, sie beraubt uns zudem der Möglichkeit, Differenziertes über die Flucht der Migranten und deren Umstände zu erfahren, denn in den Fluchtgeschichten spielt der Fluchthelfer eine oft zentrale Rolle. Dabei ist der Fluchthelfer, das machen auch die begrifflichen Schwierigkeiten deutlich, ein noch immer weitgehend unbekanntes Wesen – der Politik dient er nicht selten als Sündenbock für eigenes politisches Versagen, und in einzelnen Medien wird er als diabolische Figur im Flüchtlingsdrama inszeniert.5 Die Gegenwartsliteratur führt den Diskurs über 2 Ebd., S. 51. 3 Johannes Stiegler, »Helfer oder Halunken? Eine Betrachtung des Wandels von der Figur des ›Fluchthelfers‹ zur Figur des ›Schleusers‹«, in Hinterland, Jg. 9 (2014), Heft 27, S. 10–14, hier S. 11. 4 Schloenhardt merkt zu diesem Aspekt an, dass »[v]iele Menschen, die politischer Verfolgung ausgesetzt sind, […] keinerlei Möglichkeit [haben], sich und ihre Familie durch einen legalen Grenzübertritt in Sicherheit zu bringen.« Andreas Schloenhardt, »Samariter, Schlepper, Straftäter : Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert«, in Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 65 (2015), Heft 25, S. 38–43, hier S. 40. Das europäische Asylrecht hält zudem für Asylsuchende praktisch keine Möglichkeit bereit, außerhalb von Europa einen Antrag auf Asyl zu stellen. Dieser Umstand führt dazu, dass Asylsuchende gezwungen sind, illegal die Grenzen Europas zu überschreiten. 5 So schreibt der Spiegel in seiner Printversion auf der Titelseite: »Erbarmungslos. Das tödliche Geschäft der Schlepper-Mafia.« (Der Spiegel, Nr. 37, 5. 9. 2015), um im dazugehörigen Artikel die These, dass der Fluchthilfe mafiöse Strukturen mitgegeben sind, von Fachleuten widerlegen zu lassen. Die BILD-Zeitung titelt ihrerseits: »Polizei schnappt immer mehr SchlepperTeufel« (BILD, 2. 9. 2015) Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet über »Das Geschäft mit dem Menschenschmuggel« (FAZ Online, 8. 9. 2014, zuletzt aufgerufen am 25. 7. 2016). Die Liste an Beispielen ließe sich noch beliebig mit weiteren Medien ergänzen, ebenso
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die Figur des Fluchthelfers zumeist deutlich differenzierter, unterläuft Stereotypen, berücksichtigt bei der Betrachtung seiner Tätigkeit die Abhängigkeit von historisch-politischen Begebenheiten und reflektiert die durchaus differente Motivlage ebenso wie Wechselwirkungen und Abhängigkeitsverhältnisse mit der Figur des Flüchtlings. Hier liegt das außerordentliche Potential der Literatur, einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte um den Fluchthelfer zu leisten und dessen Figur differenzierter wahrzunehmen. Der Diskurs kann in diesem Aufsatz nicht erschöpfend dargestellt werden, weshalb ich mich auf zwei Werke der Autorin Maxi Obexer beschränken werde. Sowohl im Roman Wenn gefährliche Hunde lachen (2011) als auch im Hörspiel Illegale Helfer (2015; hier existiert auch eine Theaterfassung) steht die differenzierte Auseinandersetzung mit der Figur des Fluchthelfers im Zentrum.
Fluchthilfe im Roman Wenn gefährliche Hunde lachen In ihrem Debütroman Wenn gefährliche Hunde lachen erzählt die Autorin aus der Perspektive von Helen, einer jungen Frau aus Nigeria, deren langen und beschwerlichen Weg von Afrika nach Deutschland. Neben der Schilderung der Flucht stehen Helens utopische Vorstellung von Europa sowie ihre Desillusionierung nach der Ankunft im Zentrum. Als wichtiger Bestandteil der Flucht werden dem Leser im Verlauf des Romans grundlegend verschiedene Formen der Fluchthilfe erfahrbar gemacht. Zunächst dominiert eine Erscheinungsform der Fluchthilfe, die recht eindimensional gezeichnet ist und sämtliche Vorurteile gegenüber der Figur des ›Schleppers‹ zu bestätigen scheint. Helen und ihr Begleiter Benjamin begegnen dieser Art Fluchthelfer auf ihrer Reise durch den afrikanischen Kontinent immer wieder, das Handlungsmuster wird dabei nur leicht variiert: Sie sind stets korrupt und auf ihren eigenen Vorteil bedacht, die Sicherheit der von ihnen organisierten Flucht sowie das Erreichen des Ziels der Flüchtlinge spielt für sie keine Rolle. Dies wird vor allem an den ausführlichen Schilderungen von Benjamin, Helens Begleiter auf der Flucht, deutlich, der, als er auf Helen trifft, bereits zweimal erfolglos die lange Fluchtroute quer durch Afrika absolviert hat. Seine Beschreibungen der von ihm dabei erfahrenen Fluchthilfe lesen sich wie folgt: Als wir endlich in Kufrah angekommen und kaum vom Wagen geklettert waren, da kamen schon die Polizisten auf uns zu. Sie hatten genau gewusst, dass wir ankommen würden, auf die Minute genau waren sie informiert worden. Wir verbrachten zehn Tage gibt es aber auch seriöse Berichterstattungen zum Thema Fluchthilfe. Die Beispiele zeigen jedoch, dass eine stereotype, auf Aufmerksamkeit zielende Berichterstattung durchaus verbreitet ist.
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im Gefängnis, in einem feuchten dunklen Loch […]. Bis wir von einem Händler freigekauft wurden, der für jeden 100 Dollar an den Gefängnisdirektor bezahlte. Dreihundert verlangte er dann nochmal von jedem von uns. Er packte uns in verschiedene Autos, dann ging alles sehr schnell, sodass einige […] ihre Taschen zurücklassen mussten. […] Die Fahrt ging über zwanzig Stunden. Mitten in der Wüste öffneten die Fahrer die Türen und verlangten je dreihundert Dollar von uns, damit sie weiterfahren bis an die sudanesische Grenze, andernfalls hätten wir aussteigen müssen. Die Schakale verlangten auch noch Geld dafür, dass sie uns zurückbrachten an die Grenze, also dorthin, wo wir gestartet waren.6
Doch damit nimmt der Kreislauf von vermeintlicher Fluchthilfe und eigentlicher Ausbeutung erst richtig Fahrt auf: An einer Sammelstelle in der Nähe der Grenze ließen sie uns raus. Dort warteten schon die Fahrer, die sich anboten, uns wieder zurück nach Kufrah zu bringen, für fünfhundert Dollar. Spätestens da hatte jeder kapiert, dass das alles untereinander abgesprochen war, die Fahrer, die uns nach Kufrah fuhren, die Soldaten, die uns dort empfingen und uns in den Kerker warfen, die Gefängniswärter, die uns an die Schmuggler verkauften, die Schmuggler, die uns freikauften und uns das Dreifache dafür abnahmen und so weiter. Und das machen sie mit allen so, solange, bis nichts mehr zu holen ist, bis sie alle restlos ausgenommen haben, Eltern, Verwandte, Dorfbewohner, ganze Familien und Dörfer saugen sie bis zum letzten Tropfen aus. (HUN 17)
Die Grenzen der vermeintlichen Fluchthilfe7 zum Menschenhandel sind hier fließend und werden zum Teil eindeutig überschritten. Deutlich wird an der Schilderung allerdings auch, dass sie Teil eines komplexeren und gesellschaftlich bzw. politisch bedingten Systems von Korruption sind. Diese Fluchthelfer arbeiten eng mit staatlichen Institutionen wie Polizei und Militär zusammen und werden in ihrer Tätigkeit nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt, sofern die staatlichen Angestellten ebenfalls davon profitieren. Bezeichnend ist, dass Benjamins Schilderungen vor allem Libyen und den Sudan betreffen, Staaten also, die als ›failed states‹ gelten können, weil sie kaum noch funktionierende staatliche Strukturen aufweisen, die dieser korrupten Erscheinungsform der ›Fluchthilfe‹ entgegenwirken könnten. Entsprechend beschreibt Benjamin Libyen für die Flüchtlinge als »ein System, das dich zwischen ihren Gefängnissen und der Sahara solange hin- und hertransportiert, bis nichts mehr von dir übrig bleibt, um anschließend deine Reste in der Wüste zu entsorgen, oder deine Fingernägel von den Wänden ihrer Gefängnisse zu kratzen.« (HUN 18–19) 6 Maxi Obexer, Wenn gefährliche Hunde lachen. Roman, Wien / Bozen 2011, S. 16–17. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle HUN auf diese Ausgabe. 7 Zwar wird die Fluchthilfe in Aussicht gestellt, eigentliches Ziel ist aber vielmehr, den Flüchtling nicht nach Europa zu befördern, sondern so lange im korrupten System zu halten, bis nichts mehr an ihm zu verdienen und er somit wertlos geworden ist.
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Doch nicht nur Benjamin muss diese Form des Menschenhandels auf seinen ersten beiden Versuchen erleiden, auch bei seinem dritten Versuch, den er gemeinsam mit Helen unternimmt, begegnet er dieser besonders skrupellosen Erscheinungsform: Mitten in der Wüste halten die vermeintlichen Fluchthelfer plötzlich an und zwingen die Flüchtlinge auszusteigen. Zunächst geschieht lange nichts, dann aber springt [plötzlich] der Motor an. Ohne dass einer es bemerkt hätte, sind die beiden Fahrer in den Wagen gesprungen. Sie geben ein paar Mal kräftig Gas, legen den Gang ein und stieben volltourig davon. Einige springen auf, sie stolpern dem Wagen nach, noch bevor sie es ganz begriffen haben. Dann bleiben sie stehen und starren ungläubig dem Fahrzeug hinterher, das langsam aus ihrer Sicht verschwindet, während sein übertouriges Motorengeräusch noch lange zu hören ist. (HUN 21)
Der Roman lässt keinen Zweifel daran, dass es einem Todesurteil gleichkommt, hilflos in der Wüste zurückgelassen zu werden. Helen überlebt nur, weil ihr Begleiter Benjamin sie zeitig antreibt, den nächsten Ort, den er zufällig in der Nähe weiß, zu Fuß zu erreichen. Auf dem Weg dorthin durchwandern sie »Totenfelder« (HUN 38) und »leben sie von den Resten der Toten, die [ihnen] den Straßenverlauf anzeigen« (HUN 35). Mit ihrem Handeln lindern die hier beschriebenen vermeintlichen Fluchthelfer das Elend der Flüchtlinge demnach nicht, sondern vermehren es vielmehr. Im Roman sind sie ursächlich dafür verantwortlich, dass viele der Flüchtlinge ihr Ziel Europa gar nicht erst erreichen und stattdessen in der Wüste verdursten, weil sie dort zurückgelassen wurden, oder an die libysche Regierung ausgeliefert in Gefängnissen dahinvegetieren. Helen selbst nimmt sich nach diesen Erfahrungen vor, dass sie, in Europa angekommen, »ein zuständiges Amt aufsuchen« will, um dieser Art von Menschenhändlern das Handwerk zu legen. [I]ch werde ihnen erzählen, wie sie uns ausnehmen, bis nichts mehr zum Ausnehmen da ist. […] Ich werde beschreiben, was ich gesehen habe, Peitschen, Peitschen, wie man sie fürs Vieh verwendet, liegen bei denen auf dem Armaturenbrett, um sie bei ihren Fahrgästen einzusetzen. Ich werde dem europäischen Amt meine gesamten Berichte übergeben und dann wird man dafür sorgen, dass diese Leute nicht mehr so primitiv und abscheulich ihr Geld verdienen können. (HUN 41)
Diese naive Vorstellung von Gerechtigkeit, die den vermeintlichen Fluchthelfern widerfahren soll, ist Teil einer Utopie von Europa, die Helen der grausamen Realität ihrer Flucht durch Afrika entgegensetzt, um sie überstehen zu können. Als sie Europa schließlich erreicht, muss sie realisieren, dass niemand an ihren Fluchterlebnissen und dementsprechend auch nicht an einer strafrechtlichen Verfolgung der Menschenhändler interessiert ist. Den staatlichen Instanzen, von denen Helen idealisierte Vorstellungen hat, ist völlig gleichgültig, dass sie
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»Menschen einfach [in der Wüste] aussetzen wie wertlose Tiere« (HUN 42). Helens illegale Einwanderung hingegen wird strafrechtlich verfolgt. Die zweite Erscheinungsform der Fluchthilfe repräsentiert im Roman die ambivalente Figur Benjamin, ein junger Mann aus Eritrea. Er gibt Helen gegenüber an, beim Militär desertiert und somit politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein. Zunächst sieht Helen Benjamin, der sich zu Beginn von Helens Reise einfach »an [ihre] Seite [setzte]«, als ihren »persönliche[n] Engel« (HUN 44)8 an. Für sie ist er »ein älterer Bruder, ein Vater, ein Freund und einer, dem sie voll vertraut« (HUN 87). Nur durch ihn ist es für sie möglich, den überaus beschwerlichen Weg nach Europa, den »Trip durch die Hölle« (ebd.), überhaupt zu bewältigen. Die Tatsache, dass sie »eine Reise durch die Sahara und durch Länder, in denen sie nicht gerade willkommen waren und in denen sie jeder ungeniert ausnehmen konnte, zusammen überstanden haben«, ist für Helen Beweis genug, dass sie »zusammengehörten« (ebd.). Auch der Leser nimmt Benjamin zunächst als jemanden wahr, der sich überaus fürsorglich um die junge Helen kümmert: Gleich im ersten Kapitel (»Razzia«) drückt er sie an sich, um sie zu beruhigen und küsst ihr die Tränen weg (vgl. HUN 8). Zudem zeigt er ihr auf, wie es gelingen kann, die unsagbar schlimmen Erfahrungen der Flucht zu verkraften. So gibt er ihr den Ratschlag: »Du musst dir vornehmen, anders zu sehen. Du musst sehen, was du sehen willst!« (HUN 36). Neben der emotionalen Fürsorge kümmert sich Benjamin aber immer wieder auch ganz pragmatisch um Helen und bewahrt sie unter anderem vor dem drohenden Tod in der Wüste (vgl. HUN 24). Helen profitiert zunächst von Benjamins Erfahrungen, da er bereits zweimal versucht hat, durch Nordafrika zu flüchten. Im Verlauf des Romans wird jedoch auch deutlich, dass Benjamin sie zunehmend in die Prostitution drängt. Weil den Grenzposten Geld nicht genügt, zahlt Helen den Grenzübertritt nach Marokko für beide mit ihrem Körper. Nachdem sie aus Angst um ihr Leben das überfüllte Boot, das beide von Tanger nach Europa bringen sollte, wieder verlassen hat, überreicht ihr Benjamin am nächsten Tag wortlos ein »paar Strümpfe, einen BH, einen kurzen Rock, weiße hohe Schuhe und einen Lippenstift« (HUN 78) – damit sie die zweitausend Dollar für die Überfahrt erneut verdienen kann. Helen verlässt Benjamin daraufhin und ist schockiert über das (vermeintlich) wahre Gesicht, dass ihr Fluchthelfer nun offenbart: Aufgrund der Auskunft einer anderen Frau aus dem 8 Die im zweiten Teil des Romans vorherrschende Erzählinstanz ist die der fiktiven Figur Grace, der auch diese Äußerungen zuzuordnen sind. Aufgrund der Unerträglichkeit der Erfahrungen, die Helen auf der Flucht erleiden musste, findet im Verlauf des Romans eine Art Abspaltung ihrer Persönlichkeit statt, die sich in der Person Grace figuralisiert. Es ist aus dem Kontext der Handlung heraus jedoch mehr als offensichtlich, dass die vermeintliche Freundin Grace, von der Helen ihrer Schwester in den Briefen berichtet, dazu dient, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten.
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Flüchtlingslager in Tanger glaubt sie nun zu wissen, dass »dieser Engel einer von jenen Gangstern ist, die gegen Bezahlung Frauen nach Europa begleiten, um sie direkt ins Bordell zu bringen.« Und sie schlussfolgert: »Auf diese Weise hat er sich seine eigene Reise nach Europa finanziert.« (HUN 88) Ob diese Vermutung jedoch den Tatsachen entspricht, bleibt bis zuletzt offen. Zwar deutet einiges darauf hin, wirkliche Gewissheit aber bekommen weder Helen, die sich daraufhin aus ihrer Abhängigkeit von Benjamin befreit und den Kontakt zu ihm abbricht, noch der Leser des Romans. Dieser erfährt lediglich durch einen Brief von Helen an ihre Schwester, wie sich ein solches Abhängigkeitsverhältnis grundsätzlich gestalten kann: [F]ast jede kommt in Begleitung eines jungen Mannes nach Tanger, diese jungen Männer sind nur zur Hälfte ihre Freunde, sie sorgen dafür, dass die Mädchen nicht verloren gehen auf der mühsamen Fahrt durch die Sahara, und vor allem nicht verloren gehen in den Kellern, in denen sie sich während dieser Fahrt immer wieder aufhalten, in Kellern, wo man sie ihr Reisegeld abbezahlen lässt. Die jungen Männer sorgen dafür, dass sie weiterkommen, dass sie nicht zurückbleiben oder liegen bleiben, wie es anderen geschehen kann. Sie lassen sie nicht ein einziges Mal aus den Augen. Sie bringen sie durch Niger, Mali, Mauretanien, Algerien, Marokko, durch sämtliche west- und nordafrikanische Länder, durch alle Passkontrollen. Sie schaffen es über Grenzen, wo es offiziell keine Grenzübertritte gibt, und an allen Grenzen und Kontrollen lassen sie die Mädchen dafür zahlen. (HUN 91)
Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen erscheint es durchaus denkbar, dass sich auch Benjamin Helen als erfahrener Begleiter angeboten und sich auf diese Weise ihr Vertrauen erworben hat, um selbst eine Fluchtmöglichkeit nach Europa zu bekommen. Letztlich aber lässt der Roman dies offen, überträgt also Helens Unwissenheit auch auf den Leser. Benjamin wehrt sich gegen den Vorwurf von Helen nur halbherzig. Zwar bezeichnet er ihn als »Bullshit« (HUN 82), fügt aber vieldeutig hinzu: »Du musst selbst wissen, was du glauben willst.« (HUN 83) Auf Helens drängende Aufforderung, mit der »Wahrheit« rauszurücken, entgegnet Benjamin lapidar : »Du solltest inzwischen wissen, dass es die für uns nicht gibt.« (ebd.) Diese Einsicht eröffnet sich auch für den Leser hinsichtlich der Erscheinungsform der Fluchthilfe, die mittels der Figur Benjamin in Obexers Roman zur Debatte gestellt wird. Ihre Ambivalenz wird gleich in doppelter Hinsicht deutlich: Zum einen bleibt bis zuletzt offen, ob Benjamin Helen wirklich nur hilft, um mit ihrem Körper seine eigene Flucht zu bezahlen. Zum anderen verzichtet der Roman in Bezug auf Benjamins Handeln weitgehend auf moralische Kategorien – stattdessen werden auch seine Fluchterfahrungen und das damit verbundene Leid eindrücklich thematisiert. Es wird deutlich, in welch verzweifelter Situation sich auch Benjamin befindet: Als Grundlage für sein Handeln, das Helen (geplant oder nicht) in die Prostitution treibt, erscheint nun das Scheitern seiner bisherigen Fluchtversuche und die leidvolle Erfahrung,
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dass die Fluchtroute nach Europa für ihn als allein reisenden männlichen Flüchtling offenbar nachhaltig versperrt ist. So zeigt der Roman hinsichtlich dieser Erscheinungsform der Fluchthilfe vor allem dessen Ambivalenzen auf und verweigert sich deutlich einer moralischen Bewertung. Die Erfahrungen mit den ersten beiden Erscheinungsformen der Fluchthilfe prägen schließlich Helens Begegnung mit der dritten, grundlegend anderen auf dem europäischen Kontinent. Nachdem Helen mit Unterstützung eines Fluchthelfers mit dem Boot von Tanger nach Spanien übersetzen konnte, flieht sie ganz bewusst nicht wie viele andere Flüchtlinge in die Wälder, denn, wie sie an ihre Schwester später schreibt: »[L]ieber als mit den Schleppern wollte ich es mit der Polizei zu tun bekommen« (HUN 110). Hier klingt noch das Vertrauen in die staatlichen Institutionen in Europa und ihren Umgang mit Flüchtlingen durch – das allerdings bereits im Auffanglager, in das Helen zunächst gebracht wird, auf eine harte Probe gestellt wird. Helen, die inzwischen ein Kind erwartet, bekommt von der Schwester Lucia eine Tablette »zur Stärkung der Gebärmutter« (HUN 120), die jedoch dazu führt, dass sie in der folgenden Nacht eine quälend schmerzhafte Fehlgeburt erleidet. Das Verhalten von Schwester Lucia, aus deren plötzlicher Fürsorge und ungewöhnlicher Trauer offensichtliche Reue spricht, sowie ihre Äußerung, dass Helens Antrag auf Asyl nun, da sie kein Kind mehr erwarte, auch keine Aussicht auf Erfolg habe (vgl. HUN 124), lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Fehlgeburt um eine erzwungene Abtreibung handelt. Dies würde jedoch einen groben Verstoß gegen das europäische Recht darstellen. Reue und schlechtes Gewissen lassen Schwester Lucia zu Helens Fluchthelferin werden, dank ihr gelingt eine gut durchdachte und organisierte Flucht aus dem Krankenhaus sowie die Weiterfahrt nach Deutschland. Dabei gibt Lucia ihr den dringenden Rat, »nochmal neu an[zu]fangen, mit einem neuen Namen und einer neuen Geschichte«, einer, die »asylversprechender ist« (HUN 127). Als Teil der von Lucia organisierten Flucht wird Helen auch ein LKW-Fahrer vermittelt, der offenbar ganz ohne Hintergedanken hin und wieder Flüchtlinge von Spanien nach Deutschland mitnimmt. Obwohl objektiv nichts darauf hindeutet, dass der LKW-Fahrer für seine Fluchthilfe eine Gegenleistung erwartet, ist es Helen unmöglich, ihm Vertrauen entgegenzubringen. Metaphorisch wird der grundlegende Unterschied in der nun menschlichen Behandlung, die Helen als Flüchtling von ihrem Fluchthelfer widerfährt, dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Fahrer sie während einer Pause auf einen anderen Lastwagen aufmerksam macht, der tatsächlich Schweine transportiert, während nach Helens bisheriger Erfahrung die vermeintlichen Fluchthelfer in Afrika Flüchtlinge zumeist wie »Vieh« bzw. »wertlose Tiere« (HUN 41 u. 42) behandelt haben. Dabei bringt der Fahrer, über den der Roman sonst nicht viel verrät, Helen immer wieder Kaffee und Croissants von der Raststätte mit und bemüht sich trotz kaum vorhandener Englischkenntnisse um eine freundliche Konversation.
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Dennoch beobachtet sie während der weiteren Fahrt verängstigt seine Arme, »die sie fast schon mag, weil sie das, was sie täglich, stündlich, in jeder Minute und in jeder Sekunde von ihnen befürchtet, noch nie getan haben, es wie selbstverständlich nicht getan haben« (HUN 130). Zugleich aber befürchtet Helen, dass sie »irgendwann ihren Tribut verlangen und zupacken und ihre Gewalt zeigen [werden].« In den Armen des LKW-Fahrers sieht sie immerzu die Arme des Grenzsoldaten, der sie mit einem Griff im Nacken vor sich her in die Toilette schob, es sind die Arme des Freiers, der sie, während er sie bäuchlings an die Wand presste, ihren Kopf an den Haaren nach hinten riss, es sind die Arme des Marokkaners, der sie ins Gesicht schlug, während er sich in sie hineinrammte, es sind die Hände von Ben, der ihre Beine wusch, nachdem sie sie vor Schmerzen nicht mehr bewegen konnte. (HUN 130)
So klingt es fast wie ein Vorwurf, als sie an ihre Eltern schreibt: »[I]hr habt mir beigebracht, an Engel zu glauben; warum aber habt ihr mir nicht beigebracht, wie ich mit Gewissheit Engel von Teufeln unterscheiden kann?« (HUN 133) Weil Helen diese Unterscheidung hinsichtlich ihrer Fluchthelfer nicht möglich ist, nutzt sie in Deutschland die erste Gelegenheit, um sich in den Wald zu schlagen und sich wenig später der Polizei zu stellen. Diese Entscheidung entbehrt jedoch nicht einer gewissen Tragik, denn der deutsche Staat ist es schließlich, der ihr vermutlich (das offene Ende deutet dies an) kein Asyl gewähren wird, weil ihr Fluchtgrund als nicht ausreichend erachtet wird.
Fluchthilfe im Hörspiel Illegale Helfer Obexer greift die Erscheinungsform der Fluchthilfe, die aus einer zumeist gesicherten bürgerlichen Existenz heraus in Europa geleistet wird, in ihrem Werk Illegale Helfer, das sie zunächst als Theaterstück und wenig später leicht variiert auch als Hörspiel veröffentlicht9, erneut auf. Dabei ist die Hörspielbearbeitung formal stark am Dokumentarhörspiel orientiert (und die Theaterfassung entsprechend am Dokumentartheater). Die Aussagen der Figuren basieren, wie die Vorbemerkung angibt, auf von der Autorin geführten Interviews mit Personen, die in der Fluchthilfe aktiv und teilweise deshalb vorbestraft sind. Der literarische Anteil des Textes besteht zunächst darin, dass Obexer die Interviews umformuliert, gekürzt und (um-)montiert hat, hinzu kommt noch ein offensichtlich fiktionaler Anteil, der vor allem in der Figur Lukas realisiert wird. Indem die 9 Ich habe mich hier für die Beschäftigung mit dem Hörspiel entschieden, weil an dem Werk auch die performative Seite von Interesse ist und diese (im Gegensatz zum Theaterstück, dessen performative Umsetzung von der jeweiligen Inszenierung abhängt) in der Hörspielversion von der Autorin selbst festgelegt wurde.
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Interview-Form jedoch weitgehend beibehalten wurde (die Fluchthelfer befragen sich teils auch untereinander), stellt Illegale Helfer auch eine Inszenierung des authentischen Fluchthelfers dar10, die sich, da explizit auf real geführte Interviews verwiesen wird, von der Repräsentation in rein fiktionalen Werken entsprechend abgrenzt. Darüber hinaus entsteht in Illegale Helfer ein vielstimmiger Dialog, der seinen Schwerpunkt insbesondere in der moralischen Bewertung dieser Tätigkeit ansiedelt11 und sich deutlich in den bestehenden gesellschaftlichen Diskurs über die Fluchthilfe einordnet. So äußert sich Genner, ein 70-jähriger Österreicher, in der ersten Szene wie folgt: Vor jedem ehrlichen Schlepper, der saubere Arbeit macht, der seine Kunden sicher aus dem Land des Elends und Hungers, des Terrors und der Verfolgung herausführt, der sie sicher hereinbringt, den Grenzkontrollen zum Trotz, in unser ›freies‹ Europa, habe ich Achtung. Er ist ein Dienstleister, der eine sozial nützliche Tätigkeit verrichtet und dafür auch Anspruch hat auf ein angemessenes Honorar. (ILL 6)
Die Aussage setzt gleich zu Beginn des Hörspiels einen deutlichen Kontrapunkt zur weit verbreiteten, überwiegend negativen Auffassung über das Tätigkeitsfeld des Fluchthelfers. Der »ehrliche Schlepper« ist jemand, vor dem Genner »Achtung« hat. Bereits die Kombination der Worte »ehrlich« und »Schlepper« stellt einen gedanklichen Stolperstein für die verbreitete Auffassung über Fluchthelfer dar. Er ist für ihn zudem ein »Dienstleister«, der, da er eine »sozial nützliche Tätigkeit verrichtet«, auch einen »Anspruch […] auf ein angemessenes Honorar« hat. Genners Aussage ist ein Statement, das in den meisten medialen Debatten über die Tätigkeit der Fluchthilfe zweifellos eine Sonderstellung einnehmen würde. Innerhalb des Diskurses im Hörspiel jedoch entspricht es der grundsätzlichen Argumentationslinie, was allerdings angesichts der Tatsache, dass fast ausschließlich Personen zu Wort kommen, die selbst in der Fluchthilfe aktiv sind, nicht verwundert. Der inszenierten Debatte wird von der Autorin im Hörspiel nur eine grobe Struktur mitgegeben: Eine wichtige Rolle und Funktion erfüllt hier die bereits erwähnte fiktive Figur Lukas, ein etwa 45-jähriger Deutsch-Schweizer, der (ab10 Zum Aspekt der inszenierten Authentizität, die der Textsorte Interview traditionell mitgegeben ist, vgl. Torsten Hoffmann / Gerhard Kaiser, »Echt inszeniert. Schriftstellerinterviews als Forschungsgegenstand«, in Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb, hrsg. von Torsten Hoffmann / Gerhard Kaiser, Paderborn 2014, S. 9–25, hier besonders S. 17. 11 Im Grunde wird der moralische Diskurs über die Tätigkeit der Fluchthilfe innerhalb des Hörspiels bereits seitens der Autorin mit der Vorbemerkung eröffnet (die jedoch nur mit dem Skript veröffentlicht wurde und nicht Teil des Hörspiels selbst ist). Darin dankt Obexer »all den Vielen, die uns mit ihren Berichten in die verborgene Welt der Menschlichkeit geführt haben.« Maxi Obexer, Illegale Helfer (Sendemanuskript), S. 6 (Hervorhebung I.T.). Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen mit der Sigle ILL auf diese Ausgabe.
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gesehen von Susanna, die ohne legalen Status in Deutschland lebt) als einziger der zu Wort kommenden Personen selbst nicht in der Fluchthilfe aktiv ist, aber nach zwei einschneidenden Erfahrungen hinsichtlich des Umgangs mit illegalen Einwanderern seitens der Gesellschaft bzw. des Staates nach Möglichkeiten der Unterstützung sucht und im weiteren Verlauf eigene Werte gegen gesellschaftliche Normen abwägt. So fragt er sich etwa: »Wir hätten ihm [dem Flüchtling, Anm. I.T.] einfach helfen können. War das nicht unterlassene Hilfeleistung?« (ILL 6) Oder : »Haben die Gesetze mich gehindert? Mich zögern lassen? Gesetze, die meine Hilfe bestrafen würden?« (ILL 7) Lukas erfragt daraufhin im Austausch mit den erfahrenen Fluchthelfern Motivation und Beweggründe für deren Handeln, so auch bei Genner : Bürgerrechtsvereinigungen behängen dich mit Medaillen für couragiertes Handeln. Von der Staatsanwaltschaft aber wirst du pausenlos vorgeladen. Du bist ein Straffälliger, weil du Gesetze verletzt, während du anderen hilfst. […] Leidest du unter einem Helfersyndrom? (ILL 8–9)
Genner gibt daraufhin zunächst »Hass« als Motivation an, »Hass gegen das Unrecht und gegen diejenigen, die Unrecht tun.« (ILL 9) Erst als zweiten Beweggrund führt er humanitäre Motive an: »[D]as andere ist der Wunsch, Menschen zu helfen, ich freue mich über jeden Flüchtling, der durch mich Asyl erhalten hat.« (ebd.) Der Eindruck, dass bei der Legitimation der Fluchthilfe schnell mit Kategorien wie ›Recht‹ und ›Unrecht‹ gearbeitet wird, bestätigt sich im Verlauf des Hörspiels: ›Unrecht‹ üben der Staat und seine Angestellten aus, die Flüchtlinge abschieben bzw. ihnen das Asyl verwehren wollen – zunächst grundsätzlich, weil der jeweilige Staat bzw. die Europäische Union rechtlich die entsprechenden Grundlagen hierfür geschaffen hat, aber auch im Einzelfall, indem, wie der Fluchthelfer Florian anmerkt, »Vollzugsbeamten so Manches tun, was gar nicht erlaubt ist« (ILL 16). Vor allem im moralischen ›Recht‹ sehen sich daher Genner und andere im Hörspiel zu Wort kommende Fluchthelfer, weil sie sogenannte ›Illegale‹ vor dem Staat verstecken und ihnen helfen, über Grenzen nach Europa zu gelangen. Daher gibt Genner auch unumwunden seine Freude zu, »über die wenigen Schweine [gemeint sind Mitarbeiter staatlicher Institutionen, die am Entscheidungsprozess des Asylverfahrens beteiligt sind, Anm. I.T.], die wir aus dem Apparat herausschießen konnten. Sind viel zu wenige, aber manche sind es doch.« (ebd.) So fragt denn auch Lukas, der in zwei alltäglichen Szenen mit schutzbedürftigen Flüchtlingen konfrontiert wird und demnach für den Hörer durchaus als eine Figur mit Identifikationspotential angelegt ist: »Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist? Und wir aufhören, menschlich zu empfinden? Und wir es gar nicht bemerken?« (ILL 21) Entsprechend wird von einigen der Fluchthelfer auch die Missachtung der Menschenrechte seitens des Staates betont und als Motivation für ihr Handeln angeführt.
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So äußert sich Ulrike, eine 80-jährige Schweizerin, hinsichtlich der Gefahr, Privilegien wie beispielsweise den Beamtenstatus zu verlieren: »[A]ufgrund der Menschenrechte muss man […] in solchen Situationen einfach handeln. Es geht nicht anders.« (ILL 11) An Äußerungen wie dieser wird auch deutlich, dass es offenbar eine Art »Esoterik der Fluchthilfe« zu geben scheint, die »im Widerspruch zur recht banalen Pragmatik der Flucht steht« und die »Grenze unmittelbarer, eigener Betroffenheit überschreitet und bis an den Punkt persönlicher Aufopferung geht.«12 Geradezu beispielhaft für diesen »Punkt [der] persönliche[n] Aufopferung« erscheint Genner, der, wie Lukas anmerkt, »angegriffen [wird]. Bedroht. Angezeigt. […] Von der Staatsanwaltschaft […] pausenlos vorgeladen.« Zudem ist er »bettelarm, weil die Arbeit für Asylsuchende nichts abwirft.« (ILL 8) Aber auch Jos8, ein deutsch-spanischer Rechtsanwalt, der Workshops gibt, um Asylbewerber juristisch zu beraten, hat sich offenbar einer »Esoterik der Fluchthilfe« hingegeben: Nachdem er »seine feste Anstellung in einer gut laufenden Wirtschaftskanzlei aufgegeben [hat]«, ist sein neues »Reich« nun eine »Mini-Büro-Zelle […], die wahrscheinlich nicht größer ist als die Besenkammer seiner früheren Kanzlei.« Für seine Workshops nimmt Jos8 keine Gebühren, die Teilnehmer können vielmehr »freiwillig spenden« (ILL 25). Bemerkenswert an Illegale Helfer ist, dass die Tätigkeit der Fluchthilfe immer wieder mit der Fluchthilfe während der NS-Zeit in Bezug gesetzt wird. So beschreibt Ulrike, dass sie während ihrer langjährigen Arbeit als ›Illegale Helferin‹ Eva Fogelmans Wir waren keine Helden geprägt hat.13 Mit dieser Äußerung ordnet sie die eigene Fluchthilfe in einen historischen Kontext ein, in der die Tätigkeit als moralisch vorbildliches Handeln gilt – hier herrscht, anders als in der gegenwärtigen Situation, inzwischen gesellschaftlicher Konsens. Auch Genner stellt diesen Bezug gezielt her : »Ich komme aus einer Familie, die in der Nazizeit politisch und auch rassisch verfolgt wurde, das hat mich geprägt.« (ILL 9) Eine 55-jährige Lehrerin, die drei minderjährige unbegleitete Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen hat, stellt ihr Handeln ebenfalls in diesen Kontext, indem sie ihren familiären Hintergrund erläutert: »Mein Vater war Deserteur. Er war der Volksverräter. Darüber gesprochen hat er nie und er war auch nie stolz darauf. Ich aber wollte auf ihn stolz sein, für mich war er derjenige, der richtig gehandelt hat.« (ILL 14) 12 Schneider, »Der Fluchthelfer«, S. 48. 13 Eva Fogelman, »Wir waren keine Helden«: Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe, München 1998. Das Buch stellt eine umfangreiche Sammlung von Geschichten über Menschen dar, die während des Nationalsozialismus trotz Inkaufnahme teils großer persönlicher Gefahren Juden und andere Angehörige vom NS-Regime verfolgter Bevölkerungsgruppen vor dem Tod gerettet haben. Die Bezugnahme ist der Theaterfassung von Illegale Helfer entnommen, in der verkürzten Hörspielbearbeitung ist sie nicht mehr enthalten. Vgl. Maxi Obexer, Illegale Helfer (Theatermanuskript), S. 12.
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Besonders eindrücklich jedoch ist die Bezugnahme eines 60-jährigen Verwaltungsrichters, der beruflich Abschiebeurteile unterschreibt. Dieser schildert zunächst ausführlich das Wirken eines portugiesischen Diplomaten, der direkt nach dem von den Nationalsozialisten gefassten Beschluss der Endlösung für die Juden in Warschau anfing, unzählige Visa für Juden zur Einreise nach Portugal auszustellen. »Für Tausende war das die Rettung. Wenn seine Hand nicht mehr konnte, massierte sie ihm seine Frau, seine Kinder schleppten das Papier herbei, er unterschrieb, was er konnte, vierundzwanzig Stunden am Tag.« (ILL 15) Sein eigenes berufliches Handeln setzt er bewusst in einen Gegensatz hierzu: »Und meine Unterschrift? Zerstört Tausenden von Menschen wenn nicht ihr Leben, so doch ihren Entwurf.« (ILL 15) Das offensichtlich ausgeprägte schlechte Gewissen sorgt dafür, dass der Verwaltungsrichter nach einiger Zeit privat ein Handlungsmuster entwickelt, dass seinem (vorgeschriebenen) beruflichen diametral entgegensteht: Er wird selbst zum Fluchthelfer, verhilft einer älteren Frau zur illegalen Einwanderung nach Italien. Dabei hatte er »nie vor, die Grenzen des Gesetzes zu verlassen. Ich glaube ja an ihren Sinn. Und ich werde ja dafür bezahlt, dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden.« (ebd.) Nun aber merkt er an: »Dennoch verstoße ich inzwischen regelmäßig dagegen.« (ILL 18) Auch Florian, ein 25-jähriger Student, beschreibt, wie er einen von der Abschiebung bedrohten jungen Mann im letzten Moment zum illegalen Grenzübertritt verholfen hat. Im Gegensatz zu Ulrike distanziert er sich jedoch im Epilog des Hörspiels von einem Vergleich zur Fluchthilfe im Nationalsozialismus. Fluchthilfe wie er sie betreibt, sei für ihn »nicht der Stoff um ein HeldenEpos draus zu stricken.« Vielmehr laufe seiner Ansicht nach eigentlich alles wie folgt ab: Man beschäftigt sich ein paar Stunden am Tag mit Menschen, die all diese beschissenen existenziellen Gefühle durchlaufen: Angst, Wut, Hass, Sorge, Desillusionierung. Und ja: Das nimmt einen mit. Das lässt nicht kalt. Aber man selbst ist eben nicht davon betroffen. Ich kann mir immer noch abends die Birne wegknallen oder sonst wie aus dem Problem-Kontext aussteigen. Die Betroffenen nicht. Das hat nichts mit Widerstand zu tun, wie ich ihn verstehe. Damit verbinde ich vor allem Menschen, die während der NS-Zeit anderen geholfen haben. Für mich ist dieser Begriff für diese Leute reserviert. (ILL 28–29)
Interessant hinsichtlich der moralischen Verhandlung der Fluchthilfe sind überdies die Äußerungen des Verwaltungsrichters: Spätestens in fünfzig Jahren wird uns das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgelegt werden, wie wir heute mit Asylsuchenden umgehen. Wir tun es mit offenen Augen, mit Kugelschreibern, Paragraphen, mit Vollzugsbeamten und manchen abscheulichen Tricks. […] Eines Tages wird das vors Menschengericht kommen, und unsere Kinder oder Enkelkinder werden entsetzt sein. Und wir werden sagen: ausdrücklich genehmigt war das von unserer Seite ja nicht. (ILL 17)
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Die Legitimation seiner privaten Tätigkeit geschieht hier mit dem abstrakten und selbstgerechten Verweis auf die Geschichte, die »in fünfzig Jahren« ihr moralisches Urteil fällen wird sowie der Hoffnung auf ein zukünftiges »Menschengericht« (ebd.), das allerdings nicht weiter konkretisiert wird. Spätestens hier wird nun auch das Dilemma deutlich, das mit dem Versuch einer moralischen Bewertung der Fluchthilfe einhergeht. So meint auch Schneider, dass es eine abschließende moralische Bewertung gar nicht geben kann: »Fluchthilfe als solche entzieht sich nicht nur einer klaren begrifflichen Definition und objektiven Beurteilung, sondern vor allem einer generellen moralischen Bewertung.« Den Grund hierfür macht er auch deutlich: »Es handelt sich um absolut singuläre, nicht wiederholbare und verallgemeinerbare Ereignisse. […] Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, daß der Fluchthelfer im Unterschied zum Schmuggler keine Waren transportiert, sondern ein lebendiges, ganz besonderes Gut: Menschen.«14 Da die Fluchthilfe im aktuellen politischen Kontext aber weder staatlich bzw. juristisch noch gesellschaftlich legitimiert ist, erscheint es den im Hörspiel zu Wort kommenden Fluchthelfern offenbar notwendig, gegenüber sich selbst und anderen Legitimationsstrategien für ihr Handeln anzuführen. Im Hörspiel sehen sich alle Fluchthelfer moralisch im ›Recht‹ – im Gegensatz zum Staat, der ›unrecht‹ handelt, etwa wenn seitens der Verwaltung gegen geltendes Recht verstoßen wird, um Abschiebungen zu erreichen (vgl. ILL 12 u. 16). Darüber hinaus wird die Fluchthilfe häufig mit Verweis auf die Menschenrechte legitimiert. So merkt Susanna, eine sogenannte ›Illegale‹, an: »[D]er Staat ist vergesslich wenn es um die Menschenrechte geht, aber sehr penibel, wenn es um seine Gesetze geht.« (ILL 21) Eine weitere Strategie, die beim Verwaltungsrichter offenbar wird, ist schließlich die der Bagatellisierung. So beschreibt er seine erste illegale Grenzüberquerung wie folgt: »Wenn ich über den Rückspiegel auf die Frau sah, die […] mit weit geöffneten Augen die Gegenden bestaunte, durch die wir fuhren, schien es mir ohne Arg und etwas, was die Menschen ständig tun: sie reisen.« (ILL 15) Mit dem Verweis auf freies Reisen, das den meisten Europäern zu einem selbstverständlichen Privileg geworden ist, stellen sich im Subtext seiner Schilderung die Fragen: Warum gilt das Privileg nur für bestimmte Menschen? Und wer oder was entscheidet darüber, für wen diese Reisefreiheit gilt? Nicht zuletzt klingt hier auch ein Verweis auf die Geschichte der Menschheit mit, in der es zu allen Zeiten Völkerwanderungen gab – Grenzen und Grenzkontrollen jedoch ein vergleichsweise junges Phänomen darstellen.15 Zwischen den dialogischen Äußerungen der ›Illegalen Helfer‹ sind an ausgewählten Stellen Fragmente von Gesetzestexten eingestreut. In der Hörspiel14 Schneider, »Der Fluchthelfer«, S. 55. 15 Ebd., S. 44–45.
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version von Illegale Helfer ist damit besonders in performativer Hinsicht ein interessanter Effekt verbunden: Die Auszüge aus dem europäischen und dem deutschen Gesetzbuch, die durch ihre spezifisch juristische Sprache für den nicht geschulten Hörer bereits ein hohes Maß an Abstraktheit enthalten, werden jeweils von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen, was einen holprigen und hörbar mühsamen Sprechakt zur Folge hat und den Grad der Abstraktheit nochmals erhöht. Auf der performativen Ebene wird dadurch erfahrbar gemacht, was für ein undurchdringliches Dickicht die juristisch-bürokratische Sprache für Zuwanderer darstellen muss. Nicht zuletzt auch durch die Unterlegung mit monotoner elektronischer Musik stehen die Gesetzestexte letztlich als eine Art ›Fremdkörper‹ inmitten der von den Fluchthelfern geäußerten humanistischen Motive – was besonders interessant ist, wenn man bedenkt, dass ansonsten Flüchtlingen (und deren Fluchthelfern) der Status des Fremdkörpers, der ins Eigene, Vertraute eindringt, zugeschrieben wird. Die performative Ebene des Hörspiels verdeutlicht vor allem das Nebeneinander von ›menschlichem‹ und ›unmenschlichem‹ Wirken und kommt dabei den Erläuterungen der Fluchthelfer argumentativ entgegen.
Personalisierte Fluchthilfe, anonymisierte Fluchtverhinderung Es fällt auf, dass der Diskurs über die Fluchthilfe in Illegale Helfer ausschließlich von Personen geführt wird, die selbst in der Fluchthilfe tätig sind oder dieser zumindest sehr nahestehen, weil sie entweder selbst einen illegalen Status besitzen oder mit dem Gedanken spielen, künftig aktive Fluchthilfe zu leisten. Ihre Äußerungen geben detailliert Einblick in die jeweilige Motivlage, zeigen unterschiedliche Erfahrungen auf und machen darüber hinaus deutlich, dass die ›Illegalen Helfer‹ im Hinblick auf ihre Tätigkeit auch nicht frei von Zweifeln sind.16 Sieht man davon ab, dass der Darstellung der Personen nur wenige biographische Daten mitgegeben werden (was, wie das Vorwort deutlich macht, der Tatsache geschuldet ist, dass ihnen ein strafrechtlicher Prozess droht), wird die Tätigkeit der Fluchthilfe in Illegale Helfer aufgrund der durchaus privaten und detaillierten Einblicke überaus personalisiert dargestellt. Der ›Schlepper‹, oder besser gesagt: der Fluchthelfer, bleibt hier alles andere als ein unbekanntes Wesen. Im Gegenteil: Der Hörer lernt ihn hinsichtlich vieler Aspekte gut kennen, sein Handeln wird erfahrbar und nachvollziehbar gemacht. Mögliche Anonymisierungsprozesse werden dabei aufs Notwendigste reduziert (die erwähnte 16 Vgl. die Äußerungen der Figur Florian, der sein Verhalten hinterfragt, als er hört, dass der Person, der er über die Grenze verholfen hat, von anderen Fluchthelfern geraten wurde, sich die Fingerkuppen abzuhobeln (ILL, 14).
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drohende strafrechtliche Relevanz). Es ist also durchaus ein Verdienst des Hörspiels, das bisher in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Phänomen der aus einer gesicherten bürgerlichen Existenz heraus ohne finanzielle Interessen geleisteten Fluchthilfe durchschaubarer gemacht zu haben. Damit wird, wie eingangs in diesem Aufsatz erwähnt, auch der Erfahrungshorizont vieler geflüchteter Menschen verständlicher. Im Gegensatz dazu werden jedoch die Instanzen und Mechanismen der Fluchtverhinderung, der Grenzziehung und -sicherung, mit denen Flüchtlinge auf ihrer Flucht in noch viel umfangreicherem Maße konfrontiert sind, kaum thematisiert. Verhindert werden Flucht und Fluchthilfe in Illegale Helfer in erster Linie durch den »Gesetzgeber« (u. a. ILL 6). Wer genau sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt, wird jedoch ebenso wenig erläutert wie die Zuständigkeit der Vollstreckung entsprechender Gesetze. Eine Ausnahme bildet der Verwaltungsrichter, dessen Zweifel am Erstellen von Abschiebebescheiden bereits erwähnt wurden. Über die Schilderung seines schlechten Gewissens hinaus beschreibt er in erster Linie seinen Wandel zum ›Illegalen Helfer‹, dramaturgisch ist er offensichtlich besonders in dieser Hinsicht für die Autorin von Interesse. Die für das Hörspiel festgestellten Personalisierungs- und Anonymisierungsstrategien können größtenteils auch für Obexers Roman Wenn gefährliche Hunde lachen geltend gemacht werden. Hier wird insbesondere die durch die Figur Benjamin repräsentierte ambivalente Fluchthilfe in einem hohen Maße personalisiert dargestellt. Der Leser erfährt den biographischen Hintergrund (Desertion) ebenso wie eine womöglich mehrschichtige Motivation der geleisteten Fluchthilfe (der eigene Wunsch nach Europa zu gelangen ist evident, der Vorwurf, Helen dort in einem Bordell abliefern zu wollen, bleibt bis zuletzt unbestätigt). Was die anderen beiden Erscheinungsformen betrifft, wird die Fluchthilfe nur geringfügig an Personen und deren Hintergrund gebunden. Die als korrupt dargestellten ›Fluchthelfer‹ zu Beginn des Romans bleiben nahezu anonym, dennoch lässt sich aufgrund ihres Handelns wohl mit Sicherheit finanzielles Interesse als Motivation der von ihr geleisteten vermeintlichen Fluchthilfe ausmachen. Wenig bzw. gar nicht personalisiert erscheint auch die Darstellung der Schwester Lucia und des namenlosen LKW-Fahrers, mit deren Hilfe Helen nach Deutschland gelangt. Zu deren Hintergrund erfährt der Leser kaum etwas, immerhin Lucias Motivation für die durch sie geleistete Fluchthilfe wird durch ihr Verhalten und ihre Äußerungen angedeutet. Bemerkenswert ist jedoch die durchweg anonymisierte Darstellung der Mechanismen der Fluchtverhinderung in Wenn gefährliche Hunde lachen. Sämtliche Instanzen und die in ihnen wirkenden Personengruppen (die Grenzposten an der marokkanischen Grenze, die Polizei in Tanger, das Sicherheitspersonal im Auffanglager bis hin zu den Sachbearbeitern in der deutschen Asylbehörde) werden weitgehend ohne individuelle Züge dargestellt. Das hat zur Folge, dass der Text Fluchtverhinde-
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rung entweder gar nicht an das Handeln einzelner Personen bindet (so etwa das Festhalten im Auffanglager, das Interview in der Asylbehörde) oder aber, wenn doch, keinerlei Erkenntnisse hinsichtlich des Hintergrundes und der Beweggründe für entsprechendes Handeln liefert, etwa bei den korrupten Grenzposten an der marokkanischen Grenze. Fluchtverhinderung erscheint in beiden in diesem Aufsatz behandelten Werken vor allem als ein strukturelles Phänomen, dem die Fluchthilfe als individualisiertes Phänomen gegenübergestellt wird. Es bleibt zu untersuchen, ob sich diese Erkenntnis auch auf andere Werke der Gegenwartsliteratur übertragen lässt oder ob sich diese Strategien auf Obexers Beschäftigung mit dem Thema beschränken.
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Der Flüchtling als Grenzgestalter? Zur Dialektik des Grenzverletzers in Abbas Khiders Debütroman Der falsche Inder
In medias res: Zur Aktualität von Grenzen Die gegenwärtigen Fluchtdramen inner- und außerhalb von Europa haben dem Begriff der Grenze in der hiesigen politischen Diskussion wieder eine brisante Aktualität verliehen. Die Bilder von den Eskalationen am serbisch-ungarischen Grenzübergang in Röszke vom September 2015, wo die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen Geflüchtete einsetzte, und solche von den seit Januar 2016 durchgeführten Grenzkontrollen an der Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden machen Staatsgrenzen in ihrer Ambivalenz als zugleich ein- und ausgrenzende politische Linien, gezogen von einer Macht, die diese zuallererst räumlich fixiert, wieder sichtbar. An den territorialen Markierungen staatlicher Hoheitsgebiete haben einige EU-Mitgliedsstaaten nun wieder Passkontrollen eingeführt. Mehr als zwanzig Jahre nach den Schengener Abkommen wird mit verschärften Grenzkontrollen und -schließungen ein unkontrollierter Zustrom von Geflüchteten nach Europa zu verhindern versucht. Dass sich auch in Deutschland vor dem Hintergrund der täglich ankommenden Asylsuchenden der Wunsch nach Kontrolle und öffentlicher Markierung der Staatsgrenzen verfestigt, zeigen erste Umfrageergebnisse von 2016: 57 Prozent der Befragten stimmten im Januar einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen zu. Im Herbst 2015 lag die Zustimmung noch zwölf Prozentpunkte niedriger.1 Auch die Stimmen, die eine Obergrenze für Geflüchtete fordern – wie Österreich sie Anfang 2016 beschlossen hat –, werden in Deutschland immer lauter. Lauter werden aber auch die Stimmen des deutschsprachigen Kulturbetriebs: So konstatierte das größte deutsche Online-Kulturmagazin Perlentaucher im Mai 2015: »Der Flüchtling ist der neue Held des Kulturbetriebs.«2 Seismogra1 »Zustimmung zu mehr Grenzkontrollen wächst«, http://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2016-01/ard-deutschlandtrend-grenzkontrollen-videoueberwachung-mehrheit-zustimmung (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016). 2 »Unendliche Kettenreaktion der Terzinen«, https://www.perlentaucher.de/efeu/2015-05-26. html (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016).
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fisch nehmen Filme, Hörspiele, Theaterstücke und Bücher die politischen Debatten um die bereits an den Staatsgrenzen fallenden Entscheidungen über die Ex- oder Inklusion der Geflüchteten in die europäische Gesellschaft auf. Die aktuellen kulturellen Produktionen zu gegenwärtigen Fluchtbewegungen lassen sich dabei ebenso als ästhetische Transformationen des politischen Diskurses lesen wie auch als kritisierende und impulsgebende Kommentare dazu. Für die im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren veröffentlichten literarischen Fluchtgeschichten kann festgehalten werden, dass sie nicht nur aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft erzählen, sondern Geflüchtete selbst zum Sprechen kommen. So werden auf struktureller Ebene durch den gewählten Erzählmodus tradierte Grenzen zwischen fiktionalem und faktualem Schreiben aufgeweicht. Zudem zeichnet sich eine innovative Form der ›Co-Autorschaft‹ ab, wenn AutorInnen über das Ausstellen ihres Montage- und Recherchematerials hinaus bestimmte Textteile als von Geflüchteten selbst geschrieben kenntlich machen. Das Agieren der Schreibenden als teilnehmende BeobachterInnen bei ihren Recherchearbeiten sowie ihr Umgang mit ›der Stimme des Anderen‹ regen dazu an, die entstandenen Texte als faktische Fiktionen zu bezeichnen. Auch die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit des ›Stimme-Verleihens‹ erfährt dabei in Paratexten, beispielsweise in Interviews der SchriftstellerInnen, sowie auch in den literarischen Texten selbst Berücksichtigung. Zudem schreiben sich aktuell vermehrt immer mehr auch solche AutorInnen in den literarischen ›Flucht-Diskurs‹ ein, deren (familiäre) Biografien von Grenz- und Entortungserfahrungen geprägt sind. Jenseits der Thematik um den persönlichen biografischen ›Betroffenheitsgrad‹ der Schreibenden zeigt sich im Hinblick auf die literarische Inszenierung von territorialen Grenzen, dass diese motivisch in die Texte eingelassen sind. Hier werden sie statt als geografische Gegebenheiten als politisch konstruierte Manifestationen von Macht enttarnt. Literarische Fluchttexte fragen sowohl nach der Notwendigkeit einer von Grenzen durchzogenen Welt als auch nach der moralischen Legitimität des ausschließenden Charakters von Nationalstaaten. Dieser Beitrag spürt der literarischen Verhandlung der Grenzthematik in Abbas Khiders 2008 veröffentlichtem Debütroman Der falsche Inder nach. Dabei werden, einem diskurs- und rezeptionsanalytischen Ansatz folgend, auch die Stellungnahmen des Autors in Interviews herangezogen bzw. als den Text flankierende Epitexte verstanden, die Aufschluss darüber geben, warum Grenzen in diesem ersten Roman Khiders (und darüber hinaus auch in den drei folgenden) von so zentraler Bedeutung sind. Besonderes Interesse kommt der Frage zu, welche Räume in Der falsche Inder im Spannungsverhältnis von Grenzziehung und Grenzüberschreitung entstehen. Zu untersuchen ist auch, wie der Autor seine Flüchtlingsfigur diesen Räumen gegenüber positioniert bzw. wie er seinen Zuflucht suchenden Ich-Erzähler diese Zwischen-Räume erleben lässt.
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Obwohl Khider in seinem Debüt mit seiner narrativen Aushandlung der politischen Grenzthematik auch Michel Foucaults prononciertes Diktum, wonach Grenze und Übertretung einander die Dichte ihres Seins verdanken, zu reflektieren scheint,3 steht bei ihm nicht die Grenze als eine dialektische Figur im Fokus. Es ist vielmehr der Grenzverletzer selbst – der Flüchtende –, der in Der falsche Inder als eine dialektische Figur Darstellung findet. Als ein Typus des Grenzverletzers ist der Flüchtling »[i]n seinem gewalttätigen oder phantasievollen, listigen oder rücksichtlosen Aufsuchen und Ausnutzen der Schwachstellen von Grenzregimes […] wider Willen ein kompetenter und innovativer Sicherheitsberater in Sachen Grenzbefestigung«4. Der vorliegende Beitrag möchte den Flüchtling als eine Grenzverletzerfigur und hinsichtlich ihrer Möglichkeit beleuchten, (politische) Souveränität zeitgleich zu subvertieren wie auch zu affirmieren. In Der falsche Inder stellt der Flüchtling Rasul mit seinen unzähligen illegalen Grenzübertritten die Macht souveräner Grenzsetzungen infrage, bringt damit zugleich aber auch Praktiken territorialer Staatlichkeit an den Tag. Khider überführt ebendiese Praktiken ins Bewusstsein seiner LeserInnen und erinnert diese damit an ihre eigenen, weniger eingeschränkten Zugangsberechtigungen zu Aufenthaltsgenehmigungen im Speziellen und Möglichkeiten der Welterkundung im Allgemeinen. Indem Khider auch auf historisch anders gelagerte Fluchtbewegungen eingeht, zeigt er zudem, dass (nicht nur nationalstaatliche) Grenzen im Verlauf der Geschichte immer wieder neu und anders justiert wurden und werden, und folglich auch immer wieder neu darüber entschieden wird, auf welcher Seite welcher Grenze man steht. Indem auf Khiders intertextuelle Bezugnahmen sowie seine ex post formulierten Stellungnahmen zu seinen vier Prosatexten eingegangen wird, wird die Analyse der Flüchtlingsfigur in diesem Beitrag hinsichtlich ihrer transhistorischen und transnationalen kulturgeschichtlichen Dimension ergänzt.
Abbas Khiders Fluchtgeschichten: Literatur als Ort des Asyls Für sein mittlerweile vier Romane umfassendes literarische Œuvre erhielt Abbas Khider 2010 den Adelbert-von-Chamisso-Preis, 2013 den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil und den Nelly-Sachs-Preis sowie zahlreiche Arbeitsstipendien wie zum Beispiel das der Künstlerresidenz Villa Aurora in Los Angeles. Sein im Februar 2016 veröffentlichter Roman Ohrfeige wurde in nahezu allen Feuilletons 3 Vgl. Michel Foucault, »Vorrede zur Überschreitung«, in: Schriften zur Literatur, hrsg. von Daniel Defert / FranÅois Ewald, Frankfurt (Main) 2003, S. 64–85, hier S. 69. 4 Stefan Kaufmann et al., »Einleitung«, in Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, hrsg. von Stefan Kaufmann et al. Berlin 2002, S. 7–22, hier S. 9.
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deutscher Tages- und Wochenzeitschriften als »Buch der Stunde«5 und als »erster deutscher Roman über ein Asylbewerberheim«6 gefeiert. Allen vier Romanen ist gemein, dass sie Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und politischer Verfolgung zum Sujet haben. »Jeder Autor hat ein bestimmtes literarisches Programm, mein Thema ist Flucht, Exil, die Zerstörung der Person. Das wird auch bleiben«7, so der Autor 2016 im Spiegel-Interview. Khider selbst kam mit 19 Jahren aufgrund von politischen Aktivitäten gegen das Al-Baath-Regime unter Saddam Hussein ins Gefängnis, wo er zwei Jahre lang gefoltert wurde. Nach seiner Entlassung 1996 floh er Richtung Europa und fand 2000 in Deutschland Asyl, wo er 2007 auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. In München und Potsdam studierte er Literatur und Philosophie. Durch das Erlernen der deutschen Sprache fand Khider mit der Zeit in ihr eine Art ›kulturelles Asyl‹. Ein solches Verständnis von Sprache bzw. von Literatur als einem Ort des Asyls geht aus Khiders Rede anlässlich der Verleihung des Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil hervor. Hier sagt er : »In der Literatur braucht man kein Visum, keine Aufenthaltserlaubnis, keine Staatsbürgerschaft um anzukommen.«8 Literatur fragt nicht nach Papieren. Die aktuellen literarischen Fluchtverhandlungen, wie etwa die von Khider vorgelegten, befüllen vielmehr Seite um Seite mit ebenjenen biografischen Daten von Geflüchteten, die sonst auf einem Pass auf engstem Raum zusammengekürzt sind. Die Bedeutung der Literatur als einem Ort des Asyls erklärt sich vor allem aber auch aus dem Umstand, dass der bereits in seiner Heimat als Schriftsteller tätige Khider in der deutschsprachigen Literatur einen Ort des künstlerischen Ausdrucks fand – frei von der ihn im Irak in seiner Kunst beschneidenden Zensur.
Der falsche Inder: Zur mise en abyme-Struktur Bei der literarischen Darstellung von Grenzerfahrungen im Leben von Menschen entwickelt Khider in allen seinen vier Romanen eine Rahmenhandlung, mit deren Hilfe er die Geschichte gleich doppelt fiktionalisiert. Von Der falsche Inder an arbeitet Khider bewusst mit dem an ihn als Autor und Geflüchteten 5 Michael Bartle, »Das Buch der Stunde«, http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuend funk/netz-kultur/buch/spaziergang-mit-abbas-khider-100.html (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016). 6 Wolfgang Seibel, »›Ohrfeige‹ – Roman über Leben eines Asylwerbers«, http://oe1.orf.at/arti kel/431014 (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016). 7 Sebastian Hammelehle, »Opfer und Täter«, in Der Spiegel, Nr. 5 (30. 01. 2016), S. 130. 8 Zitiert nach »Hilde-Domin-Preis 2013 für Abbas Khider: ›Er hat uns den Irak nähergebracht‹«, http://www.heidelberg.de/hd,Lde/18_09_2013+Hilde_Domin_Preis+2013+fuer+ Abbas+Khider_.html (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016).
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gerichteten Interesse an real verbürgten Geschichten. Auf der Frontseite des bei Edition Nautilus 2008 veröffentlichten ersten Prosatextes wird dieser dem Genre Roman zugeordnet. Auch der Name des auf der Rückseite des Schutzumschlages genannten Protagonisten, Rasul Hamid, spricht zunächst für eine fiktionale Lektüre des (mit 156 Seiten für einen Roman recht kurzen) Prosatextes. Doch eine fiktionale Lesart wird, wie Annika Jensen und Jutta Müller-Tamm betonen, noch von diesem »Paratext selbst relativiert und ergänzt um die Suggestion einer autobiographischen Lesart«9, wenn es auf der Rückseite des Schutzumschlages heißt: »Ein Roman mit starken autobiografischen Elementen«10. Das damit ausgestellte ›doppelte Leseangebot‹ wird im Text selbst dann gezielt und konsequent zur Unentscheidbarkeit ausgebaut. »Entscheidend zur Verunklärung trägt hierzu auch die Erzählstruktur bei, die vorführt, wie eine hauptsächlich in fiktionalen Texten auftretende Manuskriptfiktion durch die Identifizierung von Erzähler und Hauptfigur gesprengt wird.«11 In der Rahmenhandlung nämlich findet ein namenloser Ich-Erzähler im Zug zwischen Berlin und München ein auf Arabisch verfasstes Manuskript mit dem Titel »Erinnerungen« aus der Feder eines gewissen Rasul Hamid. Nach nur vier Seiten unter Römisch I erblickt der Leser das Titelblatt des oben genannten Manuskripts und liest mit dem Erzähler der Rahmenhandlung von der jahrelangen Flucht Rasuls nach Europa. Die Zugfahrt als Transitbewegung wird mit dem Leseprozess parallelisiert. Nach den acht arabisch bezifferten Kapiteln der Binnenerzählung eröffnen sich den LeserInnen unter Römisch II schließlich die Parallelen der Schicksale von Rasul und dem namenlosen Erzähler der Rahmenhandlung – beide teilen sie die Erfahrung der Flucht vor dem Al-Baath-Regime. Mittels dieses Verfahrens der Spiegelung löst sich die Fluchtgeschichte Rasuls von ihrer Gebundenheit an seine Person: Die Verwirrung des namenlosen IchErzählers ist groß, wenn er feststellt, dass Rasuls Flucht über Libyen, Tschad, Tunesien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Türkei, Griechenland und Italien seiner eigenen Odyssee bis ins kleinste Detail gleicht. Auch der Erzähler der Rahmenhandlung versuchte sich immer wieder an der Niederschrift seiner eigenen Grenzerfahrungen, fand aber nie zu einer treffenden Struktur. Die doppelte Fiktionalisierung der Fluchtgeschichte zeigt auf, dass es nicht jedem Geflüchteten möglich ist, von seinen Fluchterfahrungen Zeugnis abzulegen. Und so kann Khiders Fluchtgeschichte auch als Appell an SchriftstellerInnen gelesen 9 Annika Jensen / Jutta Müller-Tamm, »Echte Wiener und falsche Inder. Strategien und Effekte autofiktionalen Schreibens in der Gegenwartsliteratur« in Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013, S. 315–328, hier S. 322. 10 Abbas Khider, Der falsche Inder, Hamburg 2008, Rückseite des Schutzumschlags. Im folgenden Text beziehen sich alle in Klammern stehenden Seitenzahlen auf diese Ausgabe. 11 Jensen / Müller-Tamm, Echte Wiener und falsche Inder, S. 322.
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werden, mit und in ihren Texten jenen ihre Sprache zu leihen, denen – nicht zuletzt aufgrund von Traumata – noch keine oder zumindest nicht die deutsche Sprache zur Verfügung steht, um von ihren Entortungs- und Grenzerfahrungen zu berichten. Auch Khider, der seinen eigenen Status als mittlerweile deutscher Staatsbürger und in deutscher Sprache schreibender Schriftsteller als einen Glücksfall reflektiert, bezieht zum Aspekt des ›Sprache-Leihens‹ Stellung: »Ich schreibe Literatur. Ich schreibe über eine bestimmte Zeit und die will ich darstellen. Und auch die bestimmte Seite der Gesellschaft und bestimmte Leute, die keine Stimme haben, denen möchte ich eine Stimme geben.«12 In den Binnenerzählungen unternimmt der Erzähler und Protagonist Rasul immer neue Anläufe, um von seiner Flucht zu erzählen. Abgebildet wird damit, wie unterschiedlich ein und dieselbe Geschichte erzählt werden kann. Zudem wird dem Wunsch des Protagonisten, seine eigene Lebensgeschichte auszuschmücken, Ausdruck verliehen, wenn Rasul seine Flucht als »Wunder« (99) in den Bereich des Märchenhaften setzt. Die acht Versionen von Rasul unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich der jeweiligen Bewertung der Flucht als Wunder, Fluch oder Segen, sie greifen auch unterschiedlich weit in die Biografie Rasuls und in die Landesgeschichte des Iraks zurück. So arbeitet sich Rasuls erster Bericht vom achten Jahrhundert bis zur Fluchtgegenwart des Protagonisten vor. Mit »Der falsche Inder« ist der erste Bericht überschrieben mit dem Titel des gesamten Romans und liest sich somit als mise en abyme. Im Text findet sich zudem ein weiterer Text, der die Differenz zwischen dem Erzähler Rasul und dem Autor Khider verschwimmen lässt. Rasul, dessen lyrische Ambitionen in nahezu allen Kapiteln der Binnenerzählungen verhandelt werden, nennt seinen ersten Gedichtband »Chronik der verlorenen Zeit«. Diesen Titel trägt auch ein auf Arabisch verfasster Gedichtband, den Khider 2002 veröffentlicht hat.13 Dieses Zusammenfallen oder Ineinandergreifen von Texten betrachten Jensen und Müller-Tamm als denjenigen Punkt, an dem »jeder Versuch einer eindeutigen Zuweisung in einer unendlichen Verweisungsschleife [endet]«14. Solche literarischen Spiele mit der Autorschaft werden in der Literaturwissenschaft als häufiges aufzufindendes Element der Migrationsliteratur, als Zeichen der »Affinität zwischen literarischer Interkulturalität und Autofiktionalität«15 beschrieben; sie scheinen mir aber darüber hinaus auch von Texten bzw. Erzählverfahren inspiriert zu sein, wie sie beispielsweise der französische Schriftsteller Raymond Queneau 1947 in Exercices de style oder aber auch der japanische
12 13 14 15
Michael Bartle, »Das Buch der Stunde«. Vgl. Jensen / Müller-Tamm, Echte Wiener und falsche Inder, S. 322. Ebd., S. 322. Ebd., S. 315.
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Schriftsteller Akutagawa Ryu¯nosuke in seinem Kurzgeschichten-Band Rasho¯mon (1915) vorgelegt haben. Erzählen bzw. die Wiederholung des Erzählten in leicht abgewandelten Form wird in Der falsche Inder auf Ebene der Rahmen- wie auch der Binnenhandlung zugleich aber auch als literarisch-therapeutisches Programm der Überwindung von Traumata lesbar, als ein Versuch, sich ein brüchig gewordenes Ich zu ›erschreiben‹ und zugleich Distanz zum Erlebten zu schaffen. So zeugt der gleich achtfach unternommene Versuch Rasuls, von seiner Flucht zu berichten, von der Schwierigkeit, sein von Traumata und Brüchen geprägtes Ich ›zusammenzuhalten‹. Die permanenten Wiederholungen können dabei als Versuche der Vergewisserung der eigenen Geschichte bzw. der eigenen Identität gedeutet werden. Eine solche psychoanalytisch motivierte Lesart regt auch der zweite Teil der Rahmenhandlung an, wenn der namenlose Ich-Erzähler dort seiner Freundin den Fund des Manuskripts von Rasul Hamid aus Angst verschweigt, diese würde ihn – einem »kategorische[n] Imperativ« (153) gleich – sofort dazu auffordern, endlich einen Psychiater aufzusuchen. Wenn der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung sich dann, statt mit seiner Freundin zu Abend zu essen, auf eine Couch legt, um über das nachzudenken, was er während der Zugreise gelesen hat, findet das Symbol für die Psychoanalyse schlechthin Eingang in den Text (153). Auch der durchgängig schelmenhafte Erzählgestus in der Binnenhandlung kann zudem als vom Erzähler erarbeitete Möglichkeit interpretiert werden, über das Erlebte lachen zu können. So deuten auch Jensen und MüllerTamm die Einführung des pikaresken Erzählers Rasul: Mittels eines naiven Tons versuche dieser, »eine distanzierende und humoristische Erzählhaltung zu den Grausamkeiten des Flüchtlingsalltags einzunehmen«16.
Von Osten nach Westen: Grenzerfahrungen So wie Grenzen von Autor- und Zeugenschaft in Der falsche Inder als durchlässig inszeniert werden, werden auch territoriale Grenzen als potenziell permeabel dargestellt. Schließlich ermöglicht erst die Durchlässigkeit von Staatsgrenzen Rasuls Weiterkommen auf der Flucht. Grenzen entscheiden dabei nicht nur über Drinnen und Draußen, sondern (mit Khider gesprochen) auch über Leben und Tod. Die Grenzüberschreitungen von Geflüchteten sind zwar Akte politischer Subversion, doch liegt die Motivation der Grenzüberschreitung nicht oder zumindest nicht immer in einer Subversion der politischen Ordnung begründet, sondern entspringt dem Wunsch des Flüchtigen, sein Überleben und/oder finanzielles Auskommen zu sichern. Folglich kommt der Grenze im Kontext von 16 Ebd., S. 322.
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Flucht und Vertreibung primär eine existenzielle Bedeutung zu, die Khider im Gespräch mit Wolfert von Rahden wie folgt thematisiert: Auch Grenzen können uns vergewaltigen, innerlich vergewaltigen. Es ist eine Art Neugeburt, wenn man diese Linie überquert, und ebenso ist es ein unendlicher Tod, wenn man es nicht schafft. Jede Grenze, die ich überquert habe, war ein neuer Anfang, jede Grenzüberwindung war ein Ziel im Leben.17
Auffällig ist hier Khiders Wahl des Reflexivpronomens »uns«. Diese Wahl kann einerseits als Impuls des Autors gedeutet werden, mit seiner Stimme den Stimmen vieler Geflüchteter Gehör zu verschaffen; andererseits kann diese Wahl auch als Insistieren des Schriftstellers darauf gedeutet werden, dass territoriale wie auch kulturelle, religiöse, soziale und mentale Grenzziehungen für jeden Menschen zu einer existenziellen Erfahrung werden können. Dafür spricht, dass Khider zunächst auch nicht explizit von territorialen Grenzen spricht und somit die RezipientInnen des Interviews die vieldeutige Semantik dieses Begriffs assoziieren lässt. Obwohl dem Erzähler Rasul in Der falsche Inder gleich dem Autor Khider das Überschreiten vieler Grenzen auf seiner Flucht aus dem Irak Richtung Westeuropa gelingt, lässt er nicht unbeachtet, dass vielen auf der Flucht territoriale Grenzen zur Endstation ihrer Odyssee – oder gar ihres Lebens – werden. Der Grenzfluss Ebrus, der durch das Grenzgebiet der Türkei mit Griechenland verläuft, wird nicht nur als »Fluss der Verdammung« (62), sondern darüber hinaus zynisch als »internationaler Wasserfriedhof und Treffpunkt der Kulturen« bezeichnet, dem »unzählige Menschen verschiedenster Nationen ihre Körper und ihre Seelen überlassen« haben (62). Rasul wurde an diesem Fluss bereits drei Mal von der türkischen Polizei festgenommen. Auch das aus dem Arabischen übersetzte Zitat eines in einen Baum geritzten Satzes klärt den Lesenden in diesem Kapitel pointiert über die Bedeutung dieses Grenzortes für die Flüchtenden auf: »Hier ist der Platz, an dem sie Sonne im Osten untergeht und im Westen aufgeht.« (63) Der Sonne als Symbol des Urquells von Licht und somit von Leben wird hier die vollkommene Finsternis, der Tod, gegenübergestellt. Im vierten Anlauf schließlich gelingt Rasul die Überquerung des Grenzflusses. Auf der griechischen Seite angekommen wird er von der Polizei überrascht und in ein Gefängnis gebracht. Dort steht an einer Wand der in englischer Sprache geschriebene Satz »Welcome to Istanbul« (63). Verwirrt fragt Rasul einen kurdischen Mitinsassen, ob sie denn nicht in Griechenland seien. Dieser äußert daraufhin seine Vermutung, dass es sich bei diesem Satz um einen Scherz 17 Abbas Khider / Wolfert von Rahden, »›Die fremde Sprache bedeutet Freiheit‹. Ein Dialog mit Wolfert von Rahden über Grenzgänge zwischen Sprachen, Staaten und Kulturen«, in Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Heft 27 (Frühjahr 2012), S. 79–81, hier S. 80.
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der Polizei handle, der die Flüchtlinge darüber informiert, dass sie ohnehin zurück nach Istanbul abgeschoben werden, da sie noch vor der Stadt Thessaloniki festgenommen wurden. Auf Rasuls Nachfrage, ob das denn ein Gesetz sei, antwortet der Mitinsasse: »Es ist Tatsache!« (63) Diese eigentümliche Grenzpolitik, die sich über die Asylsuchenden lustig macht, erniedrigt die Schutzsuchenden und macht sie zu Spielbällen im Netz von Polizei und Schleppern. Khider lässt Rasul dessen Erfahrung, dass Schlepper weitaus seltener als Geflüchtete von der Polizei verhaftet werden, als Indiz für eine illegale Zusammenarbeit beider Gruppen interpretieren: Einige Flüchtlinge behaupten sogar, die Schlepper hätten eine Art Vereinbarung mit der Grenzpolizei. Eine Gruppe [Flüchtlinge] gelangt ungehindert nach Athen, die nächste ist für die Polizei. Deswegen gelinge ihnen auch immer der rechtzeitige Rückzug. Wer weiß? In der vergessenen Grenzwelt zwischen der Türkei und Griechenland ist nichts unmöglich. (87)
Rasuls Erfahrungen an diesem »vergessenen« Ort zeigen somit auch, dass an und vor allem in Grenzräumen jene rechtlichen Beziehungen zwischen demokratischen Ordnungen und den Geflüchteten, wie sie mit der Genfer Flüchtlingskonvention vor 65 Jahren eingerichtet wurden, brüchig werden, wenn Grenzräume wie im Zitat geschildert ihre eigene ›Rechts‹-Ordnung entwickeln. Die hier für den Raum zwischen der Türkei und Griechenland gewählte Bezeichnung »Grenzwelt« zeigt darüber hinaus, dass eine bis dato gemeinhin mit dem Begriff ›Grenze‹ einhergehende Vorstellung vom Ende eines Raumes und dem Anfang eines anderen im Zuge gegenwärtiger Fluchtbewegungen nach Europa zunehmend abgelöst wird vom Verständnis der Grenze als einem Raum an sich – als Raum, der sich durch eigentümliche Regeln und vor allem durch Gewalt auszeichnet. Im Gespräch mit von Rahden führt Khider den GewaltAspekt wie folgt aus: Ist man illegal unterwegs, dann erfährt man, dass die Grenze eine Welt an sich ist: Minenfelder, Polizei, Armee, Schlepper und Kriminalität – ein ganz spezielles Leben spielt sich da ab, eines, in dem die Menschenwürde nicht zählt. Flüchtlinge werden von der Polizei und von der Armee misshandelt, von Banditen, die sich in den Grenzgebieten aufhalten, und von Schleppern werden sie bestohlen und vergewaltigt. Die Flüchtlinge werden gedemütigt, verletzt, und nicht wenige verlieren ihr Leben.18
18 Ebd., S. 81.
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Zwischen der Türkei und Griechenland: Grenzgestaltungen In Der falsche Inder stellt Khider eindrücklich heraus, dass Grenzen weitaus mehr sind als geografische Gegebenheiten: Als politisch konstruierte und geschützte Linien bestimmen sie über die Routen und das Weiterkommen der Flüchtigen. Für Letztere werden Grenzen konkret, sind »in den Gesichtern der Polizisten verkörpert […]«19, so Khider im Interview. Grenzen erweisen sich als Bruchstellen, als Orte, an denen über Lebensrealitäten entschieden wird, als Orte, an denen Lebensrealitäten auseinanderklaffen. Ein solches Auseinanderklaffen von Lebenswelten beschreibt der Erzähler Rasul in Der falsche Inder wie folgt: An der Grenze zwischen Libyen und Tunesien, in Ras-Ajdir, trifft man zwei verschiedene Jahrhunderte gleichzeitig. Auf der libyschen Seite blickt man ins 18. oder 19. Jahrhundert, auf der tunesischen ins 20. Auf der Fahrt von Tripolis nach Ras-Ajdir betrachten wir durchs Fenster unseres Sammeltaxis die Landschaft: alte Autos, alte Häuser, Sand, die gelbe Farbe des Landes, die Gesichter von traurigen Männern. Frauen ohne Gesichter, versteckt hinter einem Gewand, als seien sie bewegliche Mumien. Die ungeordnete Welt, die Plakate der Regierung, die Bilder des Präsidenten, leere Plastikflaschen, Konservendosen, Zeitungsfetzen und Papier, das in unermesslichen Mengen am Straßenrand lag. […] Die andere Seite der Welt, Tunesien, war vollkommen anders. Die Straßen sauber, die Frauen mit Gesichtern. Und es gab tatsächlich grüne Plätze. Wenige Bilder vom Präsidenten und wenige Plakate. (79)
Khiders Verweise auf eine Zweiteilung der Welt gehen nicht selten mit einer Kenntnis und einer Vermittlung von Geschichte einher. Im Kapitel »Der falsche Inder« lässt der Autor seinen Erzähler Rasul beispielsweise die Landesgeschichte des Iraks ausgehend vom Jahr 762 skizzieren. Derlei historische Exkurse führen den LeserInnen vor Augen, wie sehr das Land und seine Geschichte von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet sind und wie diese Auseinandersetzungen Grenzziehungen, unter denen Rasul in seiner Heimat leidet, perpetuiert haben. Wissen um soziohistorische Kontexte wird in Der falsche Inder allerdings nicht nur in transhistorischer Perspektive vermittelt, sondern erfährt auch auf transnationaler Ebene durch die Einbindung von interexilischen Versatzstücken Berücksichtigung. Die intertextuellen Bezüge des Prosatextes beispielsweise zu Texten der ›klassischen‹ Exilliteratur scheinen dabei mit Blick auf Khiders Biografie auch seinem Literaturstudium geschuldet, sind aber vor allem als Indiz für ein Phänomen zu deuten, das Anne Benteler und Sandra Narloch als »[i]nterexilische Korrespondenzen«20 bezeichnet haben: »Zahlreiche Exil19 Ebd., S. 80. 20 So der Titel des Editorials von Anne Benteler und Sandra Narloch im exilograph, Nr. 23: Anne Benteler / Sandra Narloch, »Interexilische Korrespondenzen. Exilliteratur(en) und
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schriftstellerinnen und -schriftsteller setzen sich in ihren Texten […] nicht nur mit exilierten Zeitgenossen auseinander, sondern wenden sich verstärkt auch Vertretern früherer Exile zu und suchen diese in Beziehung zu ihrer eigenen Exilsituation zu setzen.«21 Transhistorische Bezüge beispielsweise zur Flucht aus Nazi-Deutschland zeigen sich in Khiders Œuvre vor allem in seinem zweitem und auch in seinem drittem Roman: Der Binnenerzählung von Die Orangen des Präsidenten (2011) stellt der Autor das Gedicht »Versprechen an eine Taube« der Exillyrikerin Hilde Domin voran, und in Brief in die Auberginenrepublik (2013) wird die Handlung mit dem als Motto verwendeten Gedicht »Nichts bleibt« von Rose Ausländer eingeleitet. Diese intertextuellen Bezüge können als Verweis Khiders gedeutet werden, dass staatenüberschreitende Wanderungen bzw. Entortungs- und Grenzerfahrungen nicht erst Erscheinungen der Gegenwart sind. Zwischen historischen Verweisen auf die ›klassische‹ Exilzeit einerseits22 und dem Abbilden aktueller Grenz- und Asylpolitik andererseits changierend, lässt sich Der falsche Inder als Dokumentation einer sich verändernden Welt samt ihrer politischen Grenzen deuten. Grenzen werden dabei von Khider literarisch nicht oder nicht nur als von Nationalstaaten geschaffene unverrückbare, feste Größen ausgestellt, sondern der Autor führt über seinen flüchtigen Ich-Erzähler vor, inwiefern territoriale Grenzziehungen durch Fliehende Destabilisierung erfahren. Flüchtlinge wie Rasul treten in Khiders Texten und vor allem in Der falsche Inder als Grenzgestalter in Erscheinung. Insofern kann argumentiert werden, dass Khider mit seinem Debüt subkutan auch aktuelle Thesen der Politischen Theorie transportiert. Julia Schulze-Wessel hat in zahlreichen Beiträgen darauf hingewiesen, dass das Aufeinandertreffen von Kontrollen und Fliehenden nicht mehr nur oder erst an territorialen Landesgrenzen stattfindet, da diese Kontrollen bereits viel früher beginnen – beispielsweise mitten auf dem Mittelmeer.23 Linear und territorial gefasste Grenzen haben ihr zufolge in ihrer traditionellen Funktion als Landesgrenzen, als Umgrenzung eines Gebiets einheitlicher Rechtsgeltung, an Bedeutung verloren. Grenzen sind folglich keine vom menschlichen Handeln unabhängigen Größen. Auch Schulze-Wessel bezeichnet Zufluchtsuchende als Grenzfiguren, als Personen, »die tradierte Grenzziehungen auf unterschiedlichen Ebenen herausfordern, bekämpfen und so zu ihrer Transformation beitragen«24. Von diesen ›Möglich-
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Intertextualtität«, in exilograph. Interexilische Korrespondenzen. Exilliteratur(en) und Intertextualtität, Newsletter Nr. 23 (Frühjahr 2015), S. 1–3. Ebd., S. 1. Vgl. dazu den Beitrag von Hanna Maria Hofmann in diesem Band. Julia Schulze Wessel, »Flüchtlinge als Herausforderer tradierter Grenzziehungen«, http:// fluechtlingsforschung.net/fluchtlinge-als-herausforderer-tradierter-grenzziehungen/ (zuletzt abgerufen am 01. 05. 2016). Ebd.
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keiten‹ macht Rasul in Der falsche Inder Gebrauch: Weil ihm der Grenzraum zwischen der Türkei und Griechenland sowie die in ihm waltenden ›Gesetze‹ schon vertraut sind, kann er es sich erlauben, beim vierten Fluchtversuch während eines Aufenthaltes mit über hundert Mitinsassen im griechischen Gefängnis einen Witz auf Kosten des Grenzschutzbeamten zu machen. Er denkt sich bei der Angabe seiner Personalien einen arabischen Namen aus, der eigentlich kein Name ist, sondern ein Satz mit der Bedeutung »Ich bin ein Arschloch« (89). Wenn der Beamte diesen vermeintlichen Namen später wiederholt aufruft, brechen alle Gefängnisinsassen in schallendes Gelächter aus. Für einen kurzen Augenblick werden durch das Aus- und Verlachen des Beamten die hierarchischen Verhältnisse im Grenzraum verkehrt. Das Lachen kann dabei als psychologischer Prozess der Entgrenzung, als Enthemmer und Gemeinschaftsstifter interpretiert werden. Wenngleich Rasul durch sein Verhalten für einen Moment eine Verkehrung der Verhältnisse gelingt, bleibt er als Flüchtling letztlich doch aber abhängig von der Willkür der Grenzbeamten und ihrer Auslegung, Einschränkung und Erweiterung der für ihn als Geflüchteten geltenden Gesetze. Rasul tritt auch an anderer Stelle als Grenzgestalter in Erscheinung. Dass in Auseinandersetzung mit den substantiellen Grenzen der Existenz ein kreatives Schreiben entwickelt werden kann, zeigt Khider, wenn er Rasul bei der Beschaffung und Auswahl von Schreibmaterialien und deren Einsatzorten politische Grenzen überschreiten lässt. Victoria Pöhls geht auf diese ungewöhnlichen Schreibmaterialien Rasuls ein und liest sein Schreiben unter Rekurs auf Schreibbedingungen und Publikationsmöglichkeiten von Exilanten in der Zeit von 1933 bis 1945 »als Technik […], diese Welt und die scheinbar festgesetzten Bedeutungen, ihre Grenzen, Regeln und Zwänge zu subvertieren«25. Denn im Gefängnis beschreibt Rasul die Wände derjenigen Institution mit seinen Gedichten, die ihn in seiner Freiheit beschränkt – sie werden ihm also zum Werkzeug der Kreativität. Wenn Rasul später in Deutschland an der Wand eines Asylbewerberheims ein von ihm andernorts niedergeschriebenes Gedicht findet, zeigt sich: »[S]ein Wort hat Grenzen überschritten, ihn auf der Flucht überholt, hat Gehör und vor ihm Exil gefunden.«26 Im Irak konnte für Rasul »unter Saddams Herrschaft ein einziges Wort Grund genug sein, das Leben zu verlieren.« (26) Dennoch hat er sich nicht an seinen schriftstellerischen Ambitionen hindern lassen. Er, der sich als »echte Schreibmaschine« (24) versteht, entwickelt vor dem Hintergrund der Zensur in seiner Jugend ein eigenes Al25 Victoria Pöhls, »›Im Gefängnis gab es weder Blätter noch Stifte‹. Reflexionen zu ungewöhnlichen Schreibmaterialien eines Flüchtlings in Abbas Khiders Der falsche Inder«, in exilograph. Die Gegenwart des Exils. Zur Konjunktur von Exilerzählungen in der neueren Literatur, Newsletter Nr. 21 (Winter 2013/14), S. 11–12, hier S. 12. 26 Ebd., S. 11.
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phabet, dass ihm viel später, auf der Flucht, ermöglicht, »Namen von Präsidenten, ihre Grausamkeiten, ihre Schlächtereien, aber auch unbekannte Widerstandsaktionen [zu] notieren, ohne dass irgendeiner auch nur das Geringste hätte ahnen können.« (26) Durch die Geheimsprache und seine kreative Idee, auf der Flucht Steine zum Schreiben zu nutzen, ist es ihm möglich, die ihn umschließenden Gefängnisgrenzen im doppelten Wortsinn zu beschreiben.
Überwinden von Grenzen: Zur intertextuellen Tauben-Metaphorik Khider inszeniert Rasul als eine Person, die bereits seit frühester Kindheit Praktiken der Grenzziehungen hinterfragt hat – und somit zum Grenzgänger wurde. Zu Schulzeiten bereits hat der Protagonist aufgrund seiner Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensgemeinschaft sowie seiner dunkleren Hautfarbe soziale Ausgrenzung erfahren. »[I]ch sehe so anders aus, dass man an meiner irakischen Herkunft zweifelte« (14), so Rasul, der bei Fahrkartenkontrollen auf Englisch angesprochen wird und bei Polizeikontrollen eine lange Liste von Fragen beantworten muss, deren Beantwortung seine Nationalität sicherstellen soll. Derlei von außen an Rasul herangetragene Zweifel an seiner Herkunft übernimmt er zunächst, wenn er in Kindheitstagen der Erzählung seines Vater Glauben schenkt, er sei der Sohn einer »Zigeunerin«. (14) Später, im Jugendalter, parodiert Rasul dann aber gewitzt nationale und kulturelle Zuschreibungspraktiken, wenn er mit seinen Freunden eine »Analyse weiblicher Hinterteile« betreibt und diese als »Wissenschaft« bezeichnet. Seine Untersuchungsergebnisse führen dabei zur »grundlegende[n] Theorie, […] dass die einzelnen Hinterteile ohne große Anstrengung der Nationalität ihrer jeweiligen Besitzerin zugeordnet werden« können (43). Diese Spielszene liest sich als Kritik des Autors an der unhinterfragten Dreieinigkeit von Volk, Territorium und Staat: So versucht sich Rasul schließlich während seiner Flucht an einem Selbst- bzw. Identitätsverständnis, das sich nicht an nationalen, kulturellen oder religiösen Zuschreibungs- und Grenzziehungspraktiken orientiert. Rasuls Selbstverständnis ist immer in Bewegung, ist hybrid. Gleichwohl wird ihm aber, in Deutschland angekommen, nur dann Asyl gewährt, wenn er Nachweis über seine irakische Herkunft liefern kann. Das hybride Selbst- und Weltverständnis Rasuls kann als Ausdruck seiner Utopie von einer grenzenlosen Welt gedeutet werden. In der häufig thematisierten Identifizierung des Protagonisten mit dem Tiersymbol Taube verdichtet sich sein utopischer Wunsch nach einer Welt ohne Grenzen. Er möchte gleich einem Vogel über Grenzen hinweg fliegen. Doch die Taube, als die er sich selbst bezeichnet, ist blind, was ihr das konkrete ›Anfliegen‹ eines sicheren Territoriums unmöglich macht. So konstatiert Rasul: »Ich glaube, mein Problem bestand darin, dass ich nicht freiwillig gereist bin. Ich war kein
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Tourist. Nur ein Flüchtling. Eine fliehende Taube, die vollkommen blind war. Sie konnte zwar fliegen, wusste aber nicht genau wohin.« (72) Diese Metapher liest sich als Anleitung zur Dechiffrierung der Widmung des Romans. Er ist den verletzten, den blinden oder einflügeligen Tauben dieser Welt gewidmet: »Für die, die eine Sekunde vor dem Tod noch von zwei Flügeln träumen.«27 Der Text ist also jenen Personen zugeeignet, die fliehen wollen, denen zur Flucht aber Flügel oder zumindest ein zweiter Flügel fehlt. Flügel tauchen dann als intertextuelles Versatzstück auch in Khiders zweitem Roman auf: Wie bereits erwähnt wird der Binnenhandlung Hilde Domins Gedicht »Versprechen an eine Taube« vorangestellt. In Die Orangen des Präsidenten ist die Taube von zentraler Bedeutung, wenn der Protagonist und Erzähler Mahdi von seiner Freundschaft zum Taubenzüchter Sami erzählt und diese Geschichte als Binnenhandlung unter dem Titel »Der Taubenzüchter« in den Text eingelassen ist. Im Intertext von Domin verspricht das lyrische Ich der nur einen Flügel tragenden Taube, sie überall mit hinzunehmen. Verhandelt wird hier folglich die Schutzbedürftigkeit der Taube. Als bekanntes Friedensymbol scheint es Khider hier aber auch um Wunsch nach Frieden an sich zu gehen. Ausgehend also von der Metapher des Geflüchteten als Taube lässt sich Der falsche Inder auch als Appell an die Politik für einen anderen – einen besseren – Umgang mit Geflüchteten lesen.28
Der Flüchtling: Zur Dialektik des Grenzverletzers Rasuls Flucht endet früher als geplant. Nach unzähligen Überschreitungen staatlicher Grenzen findet seine Odyssee in Deutschland, und nicht wie geplant in Schweden, ein jähes Ende. Wenngleich er in Deutschland nicht in seinem schriftstellerischen Schaffen begrenzt wird, stößt er hier an andere Grenzen im Sinne von Bestimmungen: Ich versuchte alles Mögliche und Unmögliche, mein Leben in geordnete Bahnen zu lenken, scheiterte aber oft an den zahlreichen Paragrafen und bürokratischen Vorschriften, die dieses Land unter sich begraben. Deutschland schien mir wie eine Stadt, die hinter einer Mauer versteckt ist. Wer hinein will, muss ein Loch in die Mauer brechen. Die Mauer aber ist aus Eisen. (98)
27 Vgl. die Widmung auf unbezifferter Seite. 28 Khider überschreitet mit dem Tauben-Motiv die tradierte Friedenssymbolik dieses Tieres. Eine genauere Analyse dieses Motivs auch hinsichtlich der Bedeutung dieses Tieres im arabischen Raum steht noch aus, drängt sich aber gerade auch mit Verweis auf die Eingangspassage des Textes auf, wo der Erzähler der Rahmenhandlung auf dem Bahnsteig wartend ausführlich das Balzverhalten von Tauben beschreibt (8).
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So gesteht der Protagonist sich schließlich seinen Wunsch nach einem grenzenlosen Leben als Utopie ein und findet sich damit ab, dass sich sein Leben im Spannungsverhältnis von Be- und Entgrenzung abspielt. Dieses Verhältnis ist unauflösbar. Er selbst hat mit seiner Flucht gewissermaßen zu einer stärkeren Kontrolle und Undurchlässigkeit der Grenzen beigetragen. Erst das Handeln von Menschen, die Grenzkontrollen der Polizei sowie das Überschreiten der Grenzen durch Flüchtende, machen die Grenze zur Grenze. Es ist erst diese Grenzverletzung, die auf Lücken der Grenze aufmerksam macht und damit zugleich schärfere Kontrollen evoziert und bestehende Kontrollen dieser territorialen Linie legitimiert. Rasuls wiederholte Versuche, ein und denselben Grenzübergang zu passieren, zeigen, wie viel Geschick und strategische Vorbereitung ein illegaler Übertritt bedarf. Die Verstärkung von Kontrolle und Überwachung einer bestimmten Grenze führt nun dazu, dass andere Grenzen von Grenzverletzerfiguren wie dem Flüchtling (oder auch dem Fluchthelfer) auf Lücken und Möglichkeiten der Überschreitung hin geprüft werden und neue Fluchtrouten entstehen. Solche unterschiedlichen Fluchtrouten illustriert Khider in Der falsche Inder, wenn er Rasul auf den verschiedenen Stationen seiner Flucht Bekannte treffen lässt, die andere Wege von Ost nach West gewählt haben. Der Flüchtling mit seinen Grenzüberschreitungen verletzt folglich nicht nur das Gesetz, sondern affirmiert es zugleich – »[w]ie der Diebstahl die Eigentumsordnung, so bestätigt jedes Überwinden der Kontrollen deren vermeintliche Notwendigkeit.«29 Mit ihren Fluchtrouten verschieben Obdachsuchende folglich indirekt territorial markierte Begrenzungen von Staatshoheit und fordern die Politik zugleich heraus, neue grenzpolitische Maßnahmen zu entwickeln. Die aktuellen Fluchtrouten von Geflüchteten verschieben so die Kontrollen von nationalstaatlichen Territorien vermehrt hin zu den Außengrenzen der EU.
Abbas Khider als Grenzgänger Wie Rasul ordnende Grenzen durchbricht, überwindet auch Khider mit seinem Debüt Grenzen: Mit Der falsche Inder hat der irakisch-stämmige Schriftsteller einen Text vorgelegt, der Roman, Märchen, Kurzgeschichte und Autobiografie in einem ist. Das genreübergreifende beziehungsweise Genregrenzen sprengende Schreiben befindet auch der Erzähler der Rahmenhandlung am Ende des Romans als die seiner Fluchterfahrungen am ehesten gerecht werdende Form. Für ihn wie auch für Rasul vermag eine von unzähligen Brüchen und Grenzüberschreitungen gekennzeichnete, nur flüchtig greifbare, nie ganz zu fassende Erzählung die Erfahrung der Flucht am besten abzubilden. Und so führt uns der 29 Stefan Kaufmann et al., »Einleitung«, S. 9.
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Autor vor Augen, dass sich mit solchen flüchtigen Existenzen seit jeher niemals nur die territorialen Grenzen unserer Welt in Bewegung setzen, sondern immer auch unsere Welt an sich. Der Text lädt dazu ein, Grenzen – seien es territoriale Staatsgrenzen oder literarische Genregrenzen – nicht als gegeben, sondern als von uns gemacht zu begreifen und damit immer auch die Möglichkeiten ihrer Neuverhandlung zu bedenken.
Autorinnen und Autoren
Stefan Alker, Dr. phil., Leiter der Fachbereichsbibliothek Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literaturwissenschaft und Bibliotheken, Medien- und Wissenschaftsgeschichte. Wichtige Veröffentlichungen: Entronnensein – Zur Poetik des Ortes. Internationale Orte in der österreichischen Gegenwartsliteratur (Braumüller, 2005); Das Andere nicht zu kurz kommen lassen. Werk und Wirken von Gerhard Fritsch (Braumüller, 2007); Literaturwissenschaft und Bibliotheken, hrsg. mit Achim Hölter (V& R unipress, 2015). Svetlana Arnaudova, Dr. habil., Dozentin für deutschsprachige Literatur an der St. Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts (Kleist, Böll, Arno Schmidt), Migrationsliteratur, Literatur im intertextuellen Diskurs. Wichtige Veröffentlichungen: Untersuchungen zur Poetik von Heinrich Böll (auf Bulgarisch, Pelikan Alpha, 1997), »Die Überwindung der Fremdheit durch Sprache. Die Prosa von Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Dimitr8 Dinev«, in Sprachen und Kulturen in (Inter)Aktion, Teil 1: Literatur- und Kulturwissenschaft, hrsg. von Elke Sturm-Trigonakis und Simela Delianidou (Peter Lang, 2013). Hansjörg Bay, Dr. phil., Vertretung der Professor für Neuere Deutsche Literatur, Mediengeschichte und deren Didaktik an der Universität Flensburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und kulturelle Differenz, Migration, Globalisierung, Postkolonialismus, Welt- und Entdeckungsreisen, Raumpoetik, Narrativität und Wissen. Wichtige Veröffentlichungen: ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozess in Hölderlins ›Hyperion‹ (Fink 2003); Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen in Europa 1750–1850, hrsg. mit Kai Merten (Königshausen & Neumann, 2006); Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, hrsg. mit Christof Hamann (Rombach 2006); Literatur und Migration, hrsg. von Heinz
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Autorinnen und Autoren
Ludwig Arnold, Gastredaktion mit Julia Abel u. a. (Ed. Text& Kritik 2006); Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen, hrsg. mit Wolfgang Struck (Böhlau, 2012); »Postkoloniales Begehren«, in Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren, hrsg. von Gabriele Dürbeck und Axel Dunker (Aisthesis 2014), S. 457–578 (zusammen mit Wolfgang Struck). Doerte Bischoff, Dr. phil, Professorin für neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg und Leiterin der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Exil, Deutsch-jüdische Literatur und Shoah-Erinnerung, Literatur und materielle Kultur, Gender Studies. Wichtige Veröffentlichungen: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert (Fink 2013); Literatur und Exil. Neue Perspektiven, hrsg. mit Susanne Komfort-Hein (De Gruyter, 2012); Exil – Literatur – Judentum, Hrsg. (text & kritik, 2016). Manuel Clemens, PhD, Lecturer für German Studies an der Rutgers University, NJ. Forschungsschwerpunkte: Romane und Theorien der Bildung, sowie Darstellungen von Toleranz und Populismus. Wichtige Veröffentlichungen: Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Eine kleine Theorie der Bildung (Königshausen & Neumann, 2015), »Dumme Fragen beantworten. Für einen populistischen Turn in der Literaturwissenschaft«, in Kulturpoetik, Heft 16, Bd. 2 (2016). Warda El-Kaddouri, Doktorandin an der Universität Gent und Assistentin für Forschung des Fonds für Wissenschaftliche Forschung – Flandern (FWO). Sie arbeitet an einer Dissertation über die narrative Konstruktion religiöser Identitäten im Werk von Navid Kermani, SAID, Sherko Fatah und Abbas Khider. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literaturwissenschaft, Religion und Literatur im 21. Jahrhundert, Narratologie. Wichtige Veröffentlichungen: »Islam und Transnationalität bei SAID und Kermani«, in Migration in Deutschland und Europa. Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität, hrsg. von Christian Rink et al. (Frank und Timme, 2016). Thomas Hardtke, Studienrat am Hölderlin-Gymnasium Nürtingen. Abgeschlossenes Promotionsprojekt zu ›Glaube – Wahn – Fiktion: Die Pathologie devianter Religiosität im medizinischen, religiösen und literarischen Diskurs seit 1800‹. Forschungsschwerpunkte: Erzähltheorie und -didaktik, Literatur und Religion, Weltliteraturunterricht. Wichtige Veröffentlichungen: Religious Experience Revisited. Expressing the Inexpressible?, hrsg. mit Ulrich Schmiedel und Tobias Tan (Brill, 2016); »Weltliteratur in der deutschdidakti-
Autorinnen und Autoren
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schen Kanondebatte«, in Komparatistik und Didaktik. Möglichkeiten eines vergleichenden Literaturunterrichts, hrsg. von Michael Eggers und Christof Hamann (Aisthesis, 2016). Hanna Maria Hofmann, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen University. Sie arbeitet an einer Dissertation über literarische und kulturelle Polarphantasien des 19. und 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Literatur der klassischen Moderne (Heym, Döblin), Phantastik, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Reiseliteratur und Kolonialismus, Exilliteratur. Wichtige Veröffentlichungen: »No place for such beasts. Japan, China und die Pole im europäischen Diskurs um 1900«, in Poetiken des Pazifiks, hrsg. von Johannes Görbert, Mario Kumekawa und Thomas Schwarz (Königshausen & Neumann, in Vorbereitung); »Mann-Weiber im Technikstaat. Geschlechterkampf und Zivilisationskritik in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten«, in Technik und Gender. Technikzukünfte als geschlechtlich codierte Ordnungen in Literatur und Film, hrsg. von Marie-H8lHne Adam und Katrin Schneider-Özbek (KIT Scientific Publishing, 2016). Ren8 Kegelmann, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle und intermediale Aspekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (u. a. Mora, Müller), Literaturdidaktik und literarisches Lernen. Wichtige Veröffentlichungen: »›Ein Deutsch schreibender jüdischer Russe, der zur Zeit in Österreich lebt‹ – Vladimir Vertlib im literarischen Leben der Bundesrepublik Deutschland«, in Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten, hrsg. von Jürgen Joachimsthaler und Katharina Keim (Lang, 2015); »›An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun.‹ Figurenkonstellationen in Herta Müllers Roman Atemschaukel«, in Kann Literatur Zeuge sein? Politische und poetologische Aspekte im Werk Herta Müllers, hrsg. von Steffen Höhne, Jacques Lajarrige und Dorothee Merchiers (Lang, 2013). Johannes Kleine, M.A., Doktorand an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. Er arbeitet an einer Dissertation über jüdische und muslimische Religionsreflexionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, Literatur der Migration, Literatur und Religion. Wichtige Veröffentlichungen: »Navid Kermani’s Poetic Hermeneutics to Religious Experiences«, in Religious Experience Revisited. Expressing the Inexpres-
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sable?, hrsg. von Thomas Hardtke, Ulrich Schmiedel und Tobias Tan (Brill, 2016); »Jan Faktor und Georgs Sorgen um die Grenzen Mitteleuropas in seiner Wohnung«, in Erzählte Grenzräume in der Literatur Mitteleuropas, hrsg. von Andree Michaelis (Neofelis, 2017). Christian Luckscheiter, Dr. phil., derzeit freier Lektor in Berlin, arbeitet an einer Habilitation über elsässische Literatur zwischen 1870 und 1960. Forschungsschwerpunkte: Topographisches Schreiben, Raum und Gefühl, Grenzliteraturen, Europa in der Literatur, Deutsch-Französische Literaturbeziehungen, jüdisches Schreiben nach 1945. Wichtige Veröffentlichungen: Ortsschriften Peter Handkes (Kadmos, 2012); »Noch einmal: Thomas Mann und die Intertextualität (am Beispiel des Erwählten)«, in Weimarer Beiträge 61 (2015), Heft 2. Alexandra Ludewig, Dr. phil., Professorin für German Studies an der University of Western Australia. Forschungsschwerpunkte: Heimat, Migration und Mobilität. Wichtige Veröffentlichungen: 175 Years of German Settlement in Western Australia (UWAP, 2016); Interniert auf Rotnest Island 1914–15 (Lang 2015); 100 Years of German Heimat Film (transcript, 2011). Katrin Max, PD Dr. phil., Vertretungsprofessur für Neuere deutsche Literatur (Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur) am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts (Thomas Mann, DDR-Literatur), Literatur und Medizin, Literaturwissenschaft und Linguistik. Wichtige Veröffentlichungen: Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in »Buddenbrooks« (Klostermann, 2008); Liegekur und Bakterienrausch. Literarische Deutungen der Tuberkulose im »Zauberberg« und anderswo (Königshausen & Neumann, 2013); Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur in der Literatur der DDR (Habilitationsschrift Universität Würzburg 2015). David Österle, Mag. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie. Er arbeitet an einer Dissertation zu Räume und Raumkonstellationen in Leben und Werk von Hugo von Hofmannsthal. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Biographie, Literatur der Wiener Moderne, Raumtheorie. Wichtige Veröffentlichungen: »›… so grundfalsch war alles Weitere‹: Zur Geschichte des Nachlasses von Arthur Schnitzler«, mit Wilhelm Hemecker, in Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58 (2014); »The Stranger in the Self. Hofmannsthal’s Relationship to Jewishness«, in European Journal of Life Writing 5 (2016).
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Charlton Payne, Dr. phil., Visiting Assistant Professor am Department of German, UC Berkeley. Forschungsschwerpunkte: Flucht und Literatur, das Epos, Erzähltheorie, Literaturgeschichte des 18.–21. Jahrhunderts. Aktuelles Forschungsprojekt: On the Trail of Refugees: Documentality and Narrative in Twentieth and Twenty-First Century German-Language Literature and Culture. Wichtige Veröffentlichungen: The Epic Imaginary. Political Power and Its Legitimations in Eighteenth-Century German Literatur (De Gruyter, 2012); Kant and the Concept of Community, Hrsg. (Univ. of Rochester Press, 2011). Martin Sablotny, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Technischen Universität Dresden. Aktuelles Forschungsvorhaben über den Naturforscher der frühen Neuzeit als Risikofiguration. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literatur, Narrativität inner- und außerhalb der Literatur, Risikokommunikation und Risikonarrative. Sarah Steidl, M.A., Stipendiatin im Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Sie arbeitet an einer Dissertation über Visualisierung und Narrativierung von aktuellen Fluchtbewegungen in der deutschsprachigen Literatur. Forschungsschwerpunkte: Balkan-Narrative (Handke, Zeh, Stanisˇic´ u. a.), Transnationalität und Transkulturalität in der Literatur, Bild-TextVerhältnisse (z. B. in Graphic Novels). Wichtige Veröffentlichungen: Im literarischen Grenzland Europas? Der Balkan in deutschsprachigen Texten der Gegenwart (Neofelis, 2017); »Jenny Erpenbecks Roman ›Gehen, ging, gegangen‹ (2015). Crashkurs in ›Flüchtlingskunde‹?«, in: Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht, Bd. 2: Sekundarstufe II, hrsg. von Dieter Wrobel und Jana Mikota (Schneider, 2017). Ivo Theele, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. Aktuelles Forschungsprojekt zur Figur des Fluchthelfers in der Gegenwartsliteratur. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Narratologie, Intermedialität, Kinder- und Jugendliteratur. Wichtige Veröffentlichungen: Inszenierte Weiblichkeit in Rainer Maria Rilkes Frühwerk (Weidler, 2015); »›Warteraum‹ Exil – Raum als Narrativ eines Krisenzustandes«, in Warten als Kulturmuster, hrsg. von Daniel Kazmaier u. a. (Königshausen & Neumann, 2016); »Ethnopoetische Streifzüge – Hubert Fichtes Interviews im horizontalen Gewerbe«, in Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb, hrsg. von Torsten Hofmann u. a. (Fink,, 2014). Sabine Zubarik, Dr. phil., Projektleiterin am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungspro-
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jekt zu gleichzeitigen Materialanordnungen in zeitgenössischen Romanen und Filmen, Mitglied im DFG-Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten. Forschungsschwerpunkte: Paratextualität, Chronographie und Temporalität, Gegenwartsroman, Inseln und Insularitäten, Tango Argentino. Wichtige Veröffentlichungen: Die Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman (Aisthesis, 2014); Inseln und Insularitäten: Ästhetisierungen von Heterochronie und Chronotopie seit 1960, hrsg. mit Michael Ostheimer (Wehrhahn, 2016); Zeiten der Form, Formen der Zeit, hrsg. mit Michael Gamper et al. (Wehrhahn, 2016).
Weitere Bände dieser Reihe Band 21: Miriam Schumacher
Band 18: Carolin Führer (Hg.)
Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft
Die andere deutsche Erinnerung
Literarische Repräsentationen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in (West-) Deutschland (1945–1989)
Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens
2016. 375 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0585-5
Band 20: Bianca Weyers
Autobiographische Narration und das Ende der DDR Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller 2016. 412 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0572-5
Band 19: Aija Sakova
Ausgraben und Erinnern Denkbilder des Erinnerns und der moralischen Zeugenschaft im Werk von Christa Wolf und Ene Mihkelson
2016. 422 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-0502-2
Band 17: Birgitta Krumrey
Der Autor in seinem Text Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-) postmodernes Phänomen 2015. 221 Seiten, gebunden € 40,– D ISBN 978-3-8471-0464-3
Band 16: Carsten Gansel/Monika Wolting (Hg.)
Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989 2015. 405 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0459-9
2016. 177 Seiten, gebunden € 35,– D ISBN 978-3-8471-0557-2
www.v-r.de