Populäre Musik und Pop-Literatur: Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1. Aufl.] 9783839419991

Populäre Musik ist direkt und stetig präsent. Es verwundert daher nicht, dass sie seit den 1960er Jahren nicht nur den H

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German Pages 318 Year 2014

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Inhalt
Vorbemerkung
1 Auftakt: Auf der Suche nach den „Tonspuren des Lebens“. Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsliteratur
2 Beat und Literatur
2.1 „Es war alles im Jazzstil“ (Jack Kerouac)
2.2 Im Hinterland der Sprache (William S. Burroughs)
2.2.1 Cut-up: Worte auf dem Seziertisch
2.2.2 Sonische Wechselwirkungen: Joujouka-Klänge, Tape-Experimente, Dub-Musik und Industrial-Culture
3 Musik in Worten (Rolf Dieter Brinkmann)
3.1 Die Fiedler-Debatte
3.2 Auf der Suche nach einer multisinnlichen Literatur
3.3 Das „elektrische Versuchslabyrinth“ der Städte: Die Hörspiele und der akustische Nachlass
4 Punk und Literatur
4.1 Wie alles begann: Glamrock, Pop Art, Beat Poetry und Sex Pistols
4.2 Punk in Deutschland: Do-It-Yourself und Kontingenzschub
4.3 Punk-Literatur in Deutschland: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“
5 Vom Punk-Gestus zur DJ-Culture (Rainald Goetz)
5.1 Das „einfache wahre Abschreiben der Welt“
5.2 Die Ankunft von Punk: Poesie der Durchschlagskraft
5.3 Rave-Kultur: Das nichtdiskursive Tanz-Ereignis
5.4 DJ-Culture: Die Abschaffung des Diktats der auktorialen Erzählung
5.5 Ausklang: Text-Sampling, Sonic Fiction und Eventkultur
6 Auslaufrille: Quo vadis Pop?
Literatur
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Populäre Musik und Pop-Literatur: Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1. Aufl.]
 9783839419991

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Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur

Lettre

Markus Tillmann (Dr. phil.) ist als Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Diskurstheorie und Intermedialität.

Markus Tillmann

Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 2011 vom Fachbereich Germanistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Für diese Veröffentlichung wurde das Manuskript leicht überarbeitet und erweitert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Frank Bauer, »Opel Bastards« (2003), Galerie Voss (Düsseldorf) Lektorat & Satz: Dr. Ulrich Schröder, Hermann Schregel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1999-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung | 7 1

Auftakt: Auf der Suche nach den „Tonspuren des Lebens“. Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsliteratur | 11

2

Beat und Literatur | 25

2.1 „Es war alles im Jazzstil“ (Jack Kerouac) | 25 2.2 Im Hinterland der Sprache (William S. Burroughs) | 35 2.2.1 Cut-up: Worte auf dem Seziertisch | 35 2.2.2 Sonische Wechselwirkungen: Joujouka-Klänge, Tape-Experimente, Dub-Musik und Industrial-Culture | 45 3

Musik in Worten (Rolf Dieter Brinkmann) | 65

3.1 Die Fiedler-Debatte | 65 3.2 Auf der Suche nach einer multisinnlichen Literatur | 80 3.3 Das „elektrische Versuchslabyrinth“ der Städte: Die Hörspiele und der akustische Nachlass | 104 4

Punk und Literatur | 115

4.1 Wie alles begann: Glamrock, Pop Art, Beat Poetry und Sex Pistols | 115 4.2 Punk in Deutschland: Do-It-Yourself und Kontingenzschub | 131 4.3 Punk-Literatur in Deutschland: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“ | 147 5

Vom Punk-Gestus zur DJ-Culture (Rainald Goetz) | 169

5.1 Das „einfache wahre Abschreiben der Welt“ | 169 5.2 Die Ankunft von Punk: Poesie der Durchschlagskraft | 181 5.3 Rave-Kultur: Das nichtdiskursive Tanz-Ereignis | 198

5.4 DJ-Culture: Die Abschaffung des Diktats der auktorialen Erzählung | 240 5.5 Ausklang: Text-Sampling, Sonic Fiction und Eventkultur | 267 6

Auslaufrille: Quo vadis Pop? | 287

Literatur | 295

Vorbemerkung „Sei es auch Illusion und die Welt nicht so unermesslich, wie es scheint, was wüssten wir von ihren Wundern ohne Musik.“1

Die populäre Musik, die das zentrale Element der populären Kultur2 bildet, gehört – im positiven wie im negativen Sinne – zu den „Grundgeräuschen der Gegenwart“ 3: Sie begegnet uns als „happy music, die über den Warenregalen schwebt“ (Rolf Dieter Brinkmann)4, schallt uns entgegen, wenn wir den Fahrstuhl eines Bürogebäudes benutzen, ist stetig im Hintergrund präsent und vermischt sich mit einer Vielzahl an Alltagsgeräuschen, wenn wir in einem Café sitzen. Sie füllt den Raum, wenn wir den Lautstärkepegel unserer Hifi-Anlage erhöhen, lässt uns oftmals sprachlos und erschlagen zurück, irritiert und überrascht uns, weckt Erinnerungen an bestimmte Situationen und Erlebnisse oder lässt uns auf einer Dubstep-Party die ganze Nacht durchtanzen. Jeder Leser dieser Ausführungen mag die vorangegangenen Zeilen um seine ganz individuellen Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit der populären Musik erweitern, denn über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Fest steht aber, dass die populäre Musik einen beständigen Begleiter des zeitgenössischen Menschen darstellt und zu einem nicht geringen Teil seine Sozialisation und seinen Habitus bestimmt: Indem sie das Leben „wie eine unablässig in sich selbst kreisende, weich pulsierende, schützende Schicht“ umgibt, hat sie auch

1

Glaser: Geschichten von Nichts, S. 34.

2

Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs der populären Kultur bzw. Populärkultur

3

Steinfeld 2000, S. 7.

4

Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 277.

vgl. Hecken 2007.

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„die Vorstellungen vom Menschen umgeformt“ und „Launen, Stimmungen und Weltanschauungen verändert“.5 Gänzlich still um uns herum scheint es nie zu werden, und es ist kaum möglich, einen Tag ohne Musik zu verleben, da wir unsere Ohren – im Gegensatz zu unseren Augen – nicht verschließen können. Aber genau in dieser Ambivalenz liegt die große Bedeutung der populären Musik: Während wir einerseits unseren Gehörsinn nicht abstellen können, um die Stille zu erfahren und zu genießen, erscheint die populäre Musik uns andererseits in vielen Momenten des Lebens als „absolutes Menschendaseinsexistenzial“ (Rainald Goetz)6, d. h. als unverzichtbares und das Leben in seiner Gänze bestimmendes Medium. Dabei kommt der populären Musik eine Unmittelbarkeit zu, die anderen Künsten (Literatur, bildende Kunst) scheinbar vorenthalten bleibt, da sie direkt unseren Körper umfängt und unsere Sinne stimuliert. So ist es auch nicht verwunderlich, dass diese der populären Musik zugeschriebene Direktheit und stetige Präsenz nicht nur die Lebensweise vieler Menschen, sondern ganz explizit auch die Schreibweisen einer Reihe von Gegenwartsautoren beeinflusst hat. Dies mag auch die Tatsache erklären, dass sich in der Literaturgeschichte der letzten Jahrzehnte eine Vielzahl an Beispielen auffinden lässt, welche die Faszination belegen, welche die populäre Musik auf die Schriftsteller ausgeübt hat und immer noch ausübt. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als eine Suche nach diesen „Tonspuren des Lebens“7, die nicht nur als Anspielung auf der narrativen Ebene seit den 1960er Jahren Eingang in die deutsche Gegenwartsliteratur gefunden haben, sondern seit dieser Zeit auch explizit als Medium der Textkonstitution selbst fungieren. Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 2011 vom Fachbereich Germanistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Für diese Veröffentlichung wurde das Manuskript leicht überarbeitet und erweitert. Zu danken habe ich in erster Linie Dr. Ralph Köhnen, der dieses Unternehmen mehr als vorbildlich förderte und betreute, weder mit Zuspruch noch mit kritischen Einwänden sparte und schließlich auch auf Abschluss drängte. Ebenso danken möchte ich Dr. Thomas Hecken, dessen Fachkenntnisse im Bereich der Literaturwissenschaft und der populären Kultur ich außerordentlich schätze, für seine wertvollen Anregungen sowie die Erstellung eines Zweitgutachtens. Zudem hätten die nachfolgenden Seiten nicht entstehen können ohne die zahlreichen und inspirierenden Gespräche und Diskussionen mit Jörg Arlt, Carsten

5

Steinfeld 2000, S. 8.

6

Goetz: Rave, S. 155.

7

Steinfeld 2000, S. 12.

V ORBEMERKUNG | 9

Marc Pfeffer und Thomas Schlick. Für die unermüdliche Hilfe beim Lektorat und Satz der Arbeit danke ich Dr. Ulrich Schröder und Hermann Schregel. Besonders gefreut hat mich die schnelle Zusage seitens der Galerie Voss (Düsseldorf), Frank Bauers 2003 entstandenes Ölgemälde Opel Bastards für die Umschlaggestaltung dieses Buches verwenden zu dürfen. Frank Bauer, der zudem als DJ aktiv ist, benutzt als Grundlage seiner Bilder oftmals Fotografien aus dem Nachtleben, um aus diesen Momentaufnahmen in einem Akt der Selektion und Transformation großartige Ölgemälde zu schöpfen. Diese Überführung in die bildende Kunst, welche die rein naturalistische bzw. photorealistische Abbildung weit übersteigt, bildet quasi das malerische Pendant zu den in dieser Arbeit vorgestellten Schreibweisen, die u. a. ebenfalls die soziale Praxis, die das Nachtleben prägt, in die literarische Rede zu transponieren versuchen. Ganz besonderer Dank gilt aber meiner Familie: meiner Frau Sandra Tillmann und meiner Tochter Vanessa Mara Tillmann, die während der Abfassung der Dissertation zahlreiche Entbehrungen aushalten mussten, mich dennoch aber mit ihrer unermesslichen Liebe und ihrem Zuspruch jederzeit unterstützt haben; meiner Mutter Anni Tillmann, die das Fortkommen der Arbeit sowohl mit großem Interesse und aufbauenden Worten verfolgt als auch finanziell unterstützt hat. Gewidmet sei diese Arbeit meinem Vater Günter Tillmann, der den Abschluss und die Veröffentlichung der nachfolgenden Ausführungen leider nicht mehr miterleben kann.

1 Auftakt: Auf der Suche nach den „Tonspuren des Lebens“. Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsliteratur „bin schon ganz WUNDGEHÖRT – Musik: beim Musikhören als Lauschen, um zu verstehen, was los ist, was vorgeht, wie es gemacht ist“1

In den Veröffentlichungen von Rolf-Dieter Brinkmann, Peter Glaser, Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister und Benjamin von StuckradBarre, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen, die auch auf den folgenden Seiten von Bedeutung sind, lassen sich immer wieder Belege für ein zum Teil emphatische Verhältnis zur populären Musik finden. Dabei dienen die Interdependenzen zwischen musikalischer Produktionsästhetik und literarischer Rede vielen Autoren oftmals dazu, die eigenen Schreibweisen zu hinterfragen und tradierte Erzählformen aufzulösen: „Hier Worte, dort Töne, hier Geschichtenerzählen, dort die Grundregeln der Tontechnik – die Möglichkeit des virtuosen Umgangs damit reizt dazu, die Grenzen zu sprengen, zu übertreiben, zu verzerren, auf die Spitze zu treiben.“2 Genauer erfassen lässt sich dieser aufscheinende Zusammenhang zwischen musikalischer und literarischer Produktionsästhetik mit der in Versalien geschriebenen Aussage „RHIZOMATIK = POP-ANALYSE“3, die Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Werk Tausend Plateaus tätigen. Deleuze und Guattari beschreiben Pop damit als ein Analyseverfahren, das – jenseits des Gegensatzes

1

Goetz: Abfall für alle, S. 30.

2

Beyer: The Audible Generation, S. 185.

3

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 40.

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von Kritik und Affirmation – kein Zentrum besitzt und sich durch Heterogenität, Mannigfaltigkeit, asignifikante Brüche und Fluchtlinien auszeichnet. Das Rhizom, ein unterirdisch oder dicht unter der Erde wachsendes Wurzelgeflecht, das über keine Hauptwurzel verfügt und stetig Wucherungen treibt, dient Deleuze und Guattari dabei als botanische Metapher für eine „Anti-Wissenschaft“, die u. a. „an der Grenze des Lesens und des Buches operiert – weniger diskursiv als intensiv“.4 Dabei beschreiben Deleuze und Guattari nicht nur ihre eigene Arbeitsweise als ein „Philosophieren im Modus und Milieu des Pop, ohne das, was allgemein unter Pop gehalten wird, zu affirmieren“5; vielmehr beziehen sie ihre rhizomatische Pop-Analyse u. a. auf Texte von Franz Kafka, Friedrich Nietzsche, James Joyce, Louis-Ferdinand Céline, Hermann Melville und William S. Burroughs. Diese Bezüge mögen irritieren, bedenkt man nicht zugleich, dass Deleuze und Guattari das, was „man gemeinhin Pop nennt“ (Popmusik, Popphilosophie, Popliteratur) als „Wörterflucht“ bzw. minoritäres Sprechen kennzeichnen: „Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung sich schließt.“6

Für Deleuze und Guattari stellt das Buch ein rhizomatisches „Gefüge“ dar, das von Deterritorialisierungs- und Reterritorialisierungsbewegungen geprägt ist.7 Zugleich bezeichnen sie den Schriftsteller als einen „Zauberer“, der von einem „seltsamen Werden“ durchdrungen ist, das kein „Schriftsteller-Werden“, sondern u. a. ein „Tier-Werden“, „Frau-Werden“, „Molekular-Werden“ und „MusikWerden“ darstellt.8 Wobei das Verb ‚werden‘ bei Deleuze und Guattari seine ganz eigene Konsistenz besitzt: Es drückt keine Entsprechung von Beziehungen, keine Ähnlichkeit, Imitation oder gar Identifikation aus – vielmehr geht es um eine „Nachbarschaft“ und eine potentielle „Ununterscheidbarkeit“9, die nicht über Begriffe der Signifikation oder Abbildung erfasst werden kann. Dieser Pro-

4

Holert: „Dispell them“, S. 173.

5

Ebd., S. 175.

6

Deleuze/Guattari: Kafka, S. 38f.

7

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 12.

8

Ebd., S. 327.

9

Ebd., S. 380.

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zess dient primär dazu, entgegengesetzte Entitäten wie z. B. Körper und Subjekt in Intensitäten und Flüsse aufzulösen.10 Die dabei entstehende „Konsistenzebene der Mannigfaltigkeiten“11 besitzt somit weder Subjekt noch Objekt, sondern verbindet unaufhörlich „semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen“12, um verschiedene Grade der Intensität und Geschwindigkeiten zu erzeugen. Dabei enthält jedes Rhizom „Segmentierungslinien, die es stratifizieren, territorialisieren, organisieren, bezeichnen, zuordnen etc.“, aber auch „Deterritorialisierungslinien, die jederzeit eine Flucht ermöglichen“.13 Für Deleuze ist das Schreiben untrennbar mit diesem Prozess des Werdens bzw. der Erschaffung eines „organlosen Körpers“ verbunden. Der „organlose Körper“, einen Begriff, den Deleuze und Guattari von Antonin Artaud entlehnt haben14, bezeichnet dabei nicht das Gegenteil der Organe, da die Organe nicht seine Feinde sind. Er widersetzt sich nicht den Organen, sondern vielmehr der Organisation der Organe, die man Organismus nennt.15 Der Organismus stellt dabei eine Schicht auf dem „organlosen Körper“ dar, d. h. ein „Phänomen der Akkumulation, der Gerinnung und der Sedimentierung, die ihm Formen, Funktionen, Verbindungen[,] dominante und hierarchisierte Organisationen und organisierte Transzendenzen aufzwingt, um daraus nützliche Arbeit zu extrahieren“.16 Die Erschaffung eines „organlosen Körpers“ gleicht insofern einem Aufschrei gegen die von der Gesellschaft dem Körper eingeschriebenen Funktionalismen, gegen die historischen und gesellschaftlichen Formationen, die den Körper mit Schichten versehen bzw. ihn durch Stratifizierung organisiert haben. Der Körper, so Deleuze und Guattari, leidet darunter, „auf solche Weise organisiert zu werden, keine andere oder überhaupt eine Organisation zu besitzen“.17 Ebenso wie Michel Foucault, der u. a. in seinem Werk Überwachen und Strafen diese

10 Vgl. ebd., S. 324. 11 Ebd., S. 19. 12 Ebd., S. 17. 13 Ebd., S. 19. 14 „Wenn sie ihm [den Menschen] einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von allen seinen Automatismen befreit und ihn seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben.“ (Artaud: Schluß mit dem Gottesgericht, S. 29). 15 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 218. 16 Ebd. Die zusätzliche Kommatierung wurde in Anbetracht der ansonsten fehlerhaften Grammatik vom Verf. eingefügt. 17 Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 14.

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Subjektivierungsprozesse bzw. Subjektformationen nachzeichnet, geht es auch Deleuze und Guattari darum, aufzuzeigen, dass die Körper z. B. durch die orthopädische Pädagogik, die Kirche und die Medizin organisiert und somit zu signifikanten Körpern werden, die in dem jeweiligen Gesellschaftskontext identifizierbar sind. Um diesem stetigen Bezeichnet-Werden zu entkommen, löst der „organlose Körper“ unaufhörlich den Organismus auf und lässt „asignifikante Teilchen, reine Intensitäten [...] eindringen und zirkulieren“.18 Für Deleuze stellt der Körper somit eine „Kontraktion von Kräften und Flüssen“19 dar, wobei der Körper u. a. auch einen „Textcorpus“ oder einen „Klangkörper“ ausbilden kann20. Die Musik, so Deleuze und Guattari in Bezug auf Pierre Boulez, habe „ihren Fluchtlinien schon immer freien Lauf gelassen, als lauter ‚transformierenden Mannigfaltigkeiten‘, wobei sie sogar ihre eigenen Codes [...] umwarf“. Deshalb sei „die musikalische Form, bis in ihre Brüche und Wucherungen hinein, dem Unkraut vergleichbar, ein Rhizom“.21 Diese Aussage trifft nicht nur für die von Deleuze und Guattari angeführten musikalischen Werke der klassischen Modernisten (Alban Berg, Edgar Varése, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, John Cage, Steve Reich etc.) zu, sondern u. a. auch auf die Free-Jazz-Musik, die Noise- und Industrial-Klänge und die elektronische Tanzmusik, die im Rahmen dieser Arbeit eine entscheidende Rolle spielen. Alle diese Spielarten der populären Musik „deterritorialisieren die musikalische Form und Substanz“22, um rhizomatische Gefüge zu generieren. Gleichfalls wie die Musik einen „organlosen Körper“ erschaffen kann, bedient sich auch der Schriftsteller immer wieder „nomadische[n] und rhizomatische[n] Schreibweise[n]“23, um ein Gefüge zu entwerfen, das „weder Anfang noch Ende“ kennt24, sich oftmals jeder Gattungszuordnung entzieht und eine Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten aufscheinen lässt. Unter diesen Bedingungen lässt das Schreiben jeden lebbaren oder erlebten Stoff hinter sich. Vielmehr stellt es einen Weg dar, der „sich dem Leben öffnet und das Lebbare und Erlebte durchquert“.25 Im Sinne von Deleuze und Guattari könnte man somit von einem

18 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 13. 19 Cox: Wie wird Musik zu einem organlosen Körper?, S. 165. 20 Deleuze: Spinoza, S. 165. 21 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 22f. 22 Cox: Wie wird Musik zu einem organlosen Körper?, S. 162. 23 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 19. 24 Ebd., S. 36. 25 Deleuze: Kritik und Klinik, S. 11.

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„Musik-Werden“ des Schriftstellers sprechen, dessen Zweck es ist, tradierte Formen aufzulösen und Flüsse und Intensitäten zu erzeugen. Bezeichnenderweise lassen sich viele Schreibweisen, die auf den nachfolgenden Seiten von Bedeutung sind, als Versuch deuten, rhizomatische Strukturen auszubilden: Jack Kerouacs Jazz-Anleihen, William S. Burroughs Cut-up-Experimente, Rolf Dieter Brinkmanns Suche nach einer multisinnlichen Literatur, Rainald Goetz’ Beschreibungen der DJ-Culture und Rave-Bewegung sowie sein Internet-Tagebuch Abfall für alle, Thomas Meineckes literarisches Diskurs-Sampling. Deutlich wird dabei, dass der Schriftsteller, der sich in die ,Nachbarschaft‘ der Boxen und Musikmaschinen begibt, sich von der deterritorialisierenden Kraft der Musik irritieren und zu neuen Schreibweisen inspirieren lässt. Einerseits wird seit den sechziger Jahren in der Literatur die populäre Musik mittels Referenzen und Anspielungen bzw. „assoziative[r] Hyperlinks“26 (wie z. B. Musikstile, Bands, Namen, Alben etc.) in die Texte eingearbeitet und bestimmt damit deren narrative und performative Ebene. Dabei greift die literarische Rede auf das Zeichenrepertoire zurück, welches ihr die populäre Kultur zur Verfügung stellt, und bedient sich u. a. deren semiotischen und sozialen Distinktionspotentials, um die Autorrolle zu konstituieren. Dergestalt erscheint z. B. die populäre Musik als unerschöpfliche Symbol- und Klangressource für eine große Anzahl an verschiedenartigen Lebensstilen und Identitätskonstruktionen. Das popkulturelle Zeichenrepertoire entfaltet sein soziales, kulturelles und ästhetisches Potential dabei zum Teil erst in der Neucodierung und Bedeutungszuschreibung durch die Rezipienten und kann u. a. zur symbolischen Abgrenzung und sogar Subversion genutzt werden. Andererseits rücken bis heute neben dieser reinen Symbol- und Bedeutungsebene zugleich auch immer stärker die ästhetischen Verfahren der populären Musik (wie z. B. das Cutten, das Sampling, der Remix und das Scratching) in das Blickfeld der Schriftsteller, da sie in ihnen tendenziell eine Möglichkeit sehen, die tradierten Formen z. B. des Romans zu überschreiten. Diese stetige Ausweitung der literarischen Rede auf die populäre Musik und den Film scheint zunächst Ausdruck eines ,Mangelgefühls‘ zu sein, das die Schriftsteller angesichts der audiovisuellen Medien überkommt: In einer modernen Gesellschaft, die sich durch eine „neue Erlebnisweise“27 auszeichnet, die u. a. durch die rasante Entwicklung der Repräsentationsmedien und die dadurch entstehende Flut an Sinneseindrücken und Informationen gekennzeichnet ist, scheint, wie Rolf Dieter Brinkmann schreibt, das „Rückkopplungssystem der Wörter, das in ge-

26 Uschmann: Vom Umgang mit den Dingen, S. 43. 27 Sontag: Die Einheit der Kultur, S. 342.

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wohnten grammatikalischen Ordnungen wirksam ist, [...] längst nicht mehr tagtäglich zu machender Erfahrung“28 zu entsprechen. Resignierend merkt Brinkmann an: „[S]ollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen, anstatt weiterzutippen...“29 Diese neu aufkommende Fragwürdigkeit traditioneller literarischer Stoffe und Formen führt seit den sechziger Jahren dazu, dass sich die Schriftsteller immer weiter gegenüber der populären Kultur geöffnet und u. a. versucht haben, ästhetische Elemente der populären Musik (wie Aufnahmeverfahren, Materialumgang, Selektionsprozesse, Arbeit im Kollektiv bzw. Interaktion verschiedener Musiker etc.) in die Literatur zu übersetzen. Wie auch Susan Sontag konstatiert, werde die „neue Erlebnisweise“ von der Kunst als Bereicherung empfunden, d. h. als „eine Erweiterung des Lebens, die als Ausdruck (neuer) Formen der Lebendigkeit zu verstehen“ist.30 Dabei sei der „Grundmaßstab“ für die zeitgenössische Kunst nicht die „Idee“, sondern die „Analyse und Erweiterung der Wahrnehmungen“.31 Auf diese Vorstellung, dass die Kunst stets an die Sinne gebunden ist, verweist auch Gero Günther, wenn er schreibt, dass Pop „drastische, somatische Kunst“ sei.32 Dennoch ist der literarischen Rede seit den sechziger Jahren oftmals auch die Überzeugung eingeschrieben, dass Medien wie der Film und die Musik diese Flut an Sinneseindrücken einerseits selbst generieren und andererseits unmittelbarer und direkter darstellen können. Aber gerade dieses schon angesprochene ,Mangelgefühl‘, dieses Gefühl des stetigen Scheiterns, erweist sich für viele Autoren als Inspirationsquelle und als Ursprung des Schreibens. Im Spannungsfeld zwischen literarischer Rede und populärer Musik ergeben sich für den Schriftsteller eine Unzahl Fragen, die ihn stetig umtreiben und die für die Weiterentwicklung und die teilweise Überschreitung der eigenen literarischen Formen konstitutiv wirken: Lässt sich Musik erzählen? Wie kann zudem die soziale Praxis, die z. B. mit dem Nachtleben, den Konzerten, den Clubs und Partys verbunden ist, dieser Rausch und diese Ekstase in der literarischen Rede ihren Ausdruck finden? Wie kann das vitalistische Event, das seine Kraft aus der gemeinschaftlichen Erfahrung vieler Zuhörer und Zuschauer zieht, beschrieben werden, damit der Leser daran teilhaben kann? Wie kann moderne Literatur Wahrnehmung kommunizieren und somit zum „Abenteuer der Sinneswahrneh-

28 Brinkmann: Der Film in Worten, S. 223. 29 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 66. 30 Sontag: Die Einheit der Kultur, S. 349. 31 Ebd., S. 350. 32 Günther 1996, S. 11.

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mungen“ werden?33 Kann sie „wie eine Schocktherapie [wirken], durch die unsere Sinne verwirrt und zugleich geöffnet werden“34, wenn ein Text im Gegensatz zum vitalistischen Ereignis „nur von Fakten, Taten und Ideen“ sprechen kann und „im Club [...] solche Worte stumm und hilflos sind“?35 Lässt sich die Simultanität des Hörens, die Flut von Eindrücken und Wahrnehmungen ohne Reibungsverluste in die Literatur transformieren, d. h. ins Optische übersetzen, um der literarischen Rede die stetige Präsenz und Unmittelbarkeit der populären Musik zu eröffnen? Wie sieht diese Übersetzungsleistung aus, die der Schriftsteller bewältigen muss, will er auch in der Literatur die unmittelbare Audrucksspur generieren, die sich in der Musik und in der Malerei mit einer scheinbaren Leichtigkeit verwirklichen lässt? Sind diese Übersetzungen und Transformationen nicht vielmehr unzulässige Verkürzungen, da sie den Erfahrungen und Wahrnehmungen des Menschen nicht entsprechen bzw. nicht entsprechen können?36 Stehen in diesem Fall der literarischen Rede nicht die Linearität der Zeichen und die Nachzeitigkeit der Schrift entgegen? Um diese Fragen zu beantworten und die Wahrnehmung zu erweitern, greifen viele Schriftsteller, wie oben angedeutet, auf das fast unerschöpfliche Zeichenrepertoire der populären Musik zurück oder bedienen sich ihrer ästhetischen Stilprinzipien. Doch wie gestaltet sich dieses „Musikhören als Lauschen, um zu verstehen, was los ist, was vorgeht, wie es gemacht ist“37, von dem Rainald Goetz in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle spricht? Und wie sehen die sich daraus ergebenden Transformationsleistungen aus, welche die literarische Rede erbringen muss, um, wie von Susan Sontag gefordert, die Wahrnehmung zu erweitern? Um diese Fragen nach intermedialen und akustischen Wechselwirkungen, die im Vordergrund unserer Betrachtungen stehen, zu beantworten, nehmen die folgenden Ausführungen ihren Ausgangspunkt im ersten Kapitel bei den sogenannten Beat-Poets, die sich von der Jazz-Musik und von dem in dieser Zeit aufkommenden Bebop-Stil zu ihren Gedichten und Prosatexten inspirieren ließen. Dabei wird deutlich, dass diese in den 1960er Jahren aufkommende literarische Praxis, bei der eine Gruppe von Autoren (unter anderem William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg) damit begann, verstärkt Motive

33 Sontag: Die Einheit der Kultur, S. 350-352. 34 Ebd. 35 Poschardt 1997, S. 17f. 36 „Auch daß von ,Übersetzungen‘ der Körpervorgänge in Sprache die Rede ist, zeigt die Verkürzungen.“ (Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 283). 37 Goetz: Abfall für alle, S. 30.

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der populären Kultur (Film, Comic und Jazz-Musik) aufzugreifen und in ihre Texte zu implantieren, sich u. a. als Versuch darstellt, die Literatur von ihren tradierten Mustern zu befreien und hin zu einer freien Improvisation nach Vorbild der Jazz-Musik zu lenken. Jack Kerouacs „tiefes Misstrauen gegen alles Geplante, Konstruierte und Rationale“38 fand seinen adäquaten Ausdruck in der Explosivität und Spontaneität der Bebop-Musik und inspirierte ihn zu einer offenen Schreibweise, die alle literarischen, grammatikalischen und syntaktischen Hindernisse beseitigen sollte: „Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche!“39 Von besonderer Bedeutung ist dabei auch William S. Burroughs, der einerseits von der arabischen Musik, die sich durch ein für mitteleuropäische Ohren zuerst fremd klingendes Tonsystem mit ganz eigenen Intervallsprüngen auszeichnet, dazu inspirieren ließ, seine fragmentarischen Texte z. B. zu einem Roman zusammenzustellen. Andererseits hat Burroughs mit seinen Cut-up- und Fold-in-Experimenten im literarischen und audiovisuellen Bereich eine Vielzahl an Musikern aus der Dub-, Industrial- und Elektronik-Musik beeinflusst und sich selber an Aufnahmen beteiligt. Im Zuge dieser neuen literarischen Praxis wurde in den späten 60er Jahren die populäre Kultur in den USA „immer mehr zum Gegenpol der etablierten Kunstformen und in der Folge auch zu einem integralen Element des generationsbedingten sozialen Protestes“. Dabei spielte vor allem „die Popmusik [...] als oppositionelles Element eine große Rolle und wurde von der jugendlichen Gegenkultur als originäre Form des sozialen Protestes rezipiert“.40 Mithilfe des deutschen Autors Rolf Dieter Brinkmann, der 1969 die Sammlung Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik herausgab und später zusammen mit Ralf Rainer Rygulla die Anthologie ACID. Neue Amerikanische Szene veröffentlichte, wurde diese neuartige literarische Ästhetik auch in Deutschland bekannt. Die Anthologien inspirierten eine große Anzahl an jungen Literaten, „im Kontext dieser subkulturellen literarischen Bewegung aus der USA zu schreiben und deren Motive zu adaptieren“.41 Diese sehr kurze historische Skizze macht deutlich, dass die literarischen Referenzen an die populäre Musik in der deutschen Gegenwartsliteratur natürlich keine Erfindung der 90er Jahre darstellen. Dergestalt zeigt neben anderen auch Jörgen Schäfer in seiner Studie Pop-Literatur anhand des literarischen Schaffens

38 Watson: Die Beat Generation, S. VII. 39 Kerouac: Wie schreibe ich moderne Prosa?, S. 283. 40 Seiler 2006, S. 110. 41 Ebd., S. 13.

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Rolf Dieter Brinkmanns auf, dass sich schon in den 1960er Jahren deutsche Autoren dem Projekt gewidmet haben, Literatur im Zeichen von populärer Kultur umzufunktionieren. So verarbeitete z. B. Brinkmann die formalen und inhaltlichen Impulse aus der (amerikanischen) Popkultur vornehmlich in seinen PopGedichten und bezog die dabei angewandten literarischen Verfahren und Stoffe vor allem aus Musik, Film, Werbung und Comics.42 Als in den 1970er Jahren in England die Punk-Bewegung aufkam und mit einiger Verspätung in den frühen 1980er Jahren auch Deutschland erreichte, spielte in ihrem Kontext die literarische Rede zunächst eine marginale Rolle: „Punk-Literatur gab es nie, dazu war Punk zu schnell und ist Literatur zu langweilig“, schreibt auch Peter Glaser.43 In dieser Zeit wanderte, so Glaser, „alle dichterische Kraft ab in Liedtexte und Bandnamen“.44 Erst nach und nach fand das Lebensgefühl dieser Bewegung, die sich durch eine vitalistische und konfrontative Haltung, Rastlosigkeit, Scheinaffirmation und Selbstorganisation auszeichnete, auch Eingang in die literarische Rede. Zunächst spiegelte sich der Punk-Habitus in den Beiträgen zu den sogenannten Fanzines wider, die zum größten Teil aus collagiertem Material bestanden; wenig später jedoch erschienen sowohl Anthologien (wie z. B. der von Jürgen Ploog, Pociao und Walter Hartmann zusammengestellte Auswahlband Amok/Koma und die von Peter Glaser herausgegebene Sammlung Rawumms) und auch Romane (wie z. B. der von Peter Glaser und Niklas Stiller verfasste Text Der grosse Hirnriss. Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit). Der Autor Rainald Goetz und dessen Roman Irre fungiert dabei, wie in dieser Arbeit dargestellt wird, als ,literarischer Link‘ zwischen der Punk-Bewegung und der DJ-Culture. Alle diese oben beschriebenen Entwicklungen haben dazu geführt, dass seit den 1980er Jahren eine große Anzahl an Texten erschienen ist, die sich – trotz ihrer heterogenen Themen- und Formenvielfalt – unter Pop-Literatur subsumieren lassen.45 Ein Begriff, der aufgrund der Flut von Veröffentlichungen in den 1990er Jahren fast inflationär benutzt wurde, um diese Vielzahl an Erzählungen und Romanen unter einer Kategorie fassen zu können. Gemeinsam scheint diesen Werken der Wunsch zu sein, den bis dato eingeschränkten Zuständigkeitsbereich der Literatur auf die schnelllebige populäre Kultur auszuweiten, um die vorherrschende Trennung von Hoch- und Populärkultur aufzuheben bzw. die Grenze zwischen Kunst und angeblicher Nicht-Kunst durchlässig werden zu

42 Vgl. Schäfer: Pop-Literatur, S. 217. 43 Glaser: Geschichte wird gemacht, S. 127. 44 Ebd, S. 125. 45 Vgl. Ernst 2001, S. 6.

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lassen und damit auch Themen, Stile, Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen46: Oasis, Madonna und Techno-Musik werden als literaturwürdig anerkannt und erfahren ihre zumeist überschwengliche Würdigung in den Texten der sogenannten Pop-Literaten. Nach dem Motto von Andy Warhol („Everything is pretty“ bzw. – noch radikaler – „Everything is good“)47 dienen dabei alle Entwicklungen der Popkultur – insbesondere die der Popmusik und des mit ihr einhergehenden Habitus – als Grundlage dafür, die fröhliche Verschaltung von Kunst und Leben zu zelebrieren. Dieser popkulturelle bzw. vorwiegend popmusikalische Blick verdeutlicht, dass Schnelligkeit, Flüchtigkeit und Unmittelbarkeit die Ideale darstellen, welche die Pop-Literatur in den neunziger Jahren anstrebt und mit denen sie gegen die etablierten ästhetischen Normen von Kunst vorzugehen versucht. Die Kunst von Pop-Literatur bestehe zwar darin, merkt Gero Günther an, Texte zu produzieren, die direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen, aber wer „es porentief rein und authentisch mag“, sei bei Pop „an der falschen Adresse“, denn: „Pop wuchert auf den pittoresken Ruinen der sogenannten Hochkultur. Große Ideen werden vulgarisiert und konventionalisiert. Pop ist Abfallprodukt, Kompost, Pilze, Schimmel, Saprophyt. Pop kupfert schamlos ab. Auf wessen Mist das Pop-Unkraut wuchert, kümmert kein Aas. Abschreiben, Hektografieren, Scannen, Tapen, Sampeln, Ausleihen, Tauschen sind gang und gäbe. Pop-Culture ist immer geklaute Kultur. Haarsträubende Mißverständnisse sind das Maggi des Lesens.“48

Umso weniger verwunderlich ist es, dass von den meisten Pop-Literaten wie z. B. Rainald Goetz der rasante Fortschritt im Bereich der modernen Repräsentations- und Informationsmedien emphatisch begrüßt wird: „Hektik, Mobilität, rasende Ortswechsel, Gedränge, Massen, Reize, Reize und ein von keinem Hirn erfahrbares Übermaß an Informationen sind die glühenden Versprechen der Moderne.“49 Im Zuge dieser Entwicklung rückt auch der sogenannte DJ als „Leitfigur, die im Nachtleben alle Fäden in der Hand hält“50 und „als soziale Figur“51 immer stärker in den Fokus ästhetischer bzw. schriftstellerischer Überlegungen:

46 Vgl. ebd., S. 9. 47 Warhol: POPISM, S. 135. 48 Günther 1996, S. 12. 49 Goetz: Hirn, S. 68. 50 Poschardt 1997, S. 320. 51 Ebd., S. 319.

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Wie in dieser Arbeit anhand von Rainald Goetz aufgezeigt wird, wird der Schriftsteller dabei zum „Chronisten des Nachtlebens“52, wobei der „Beat der Musik und die Heftigkeit der Bilder“ als Maßstab herhalten müssen „für den Speed, den die Literatur bekommen soll“.53 Dabei stellt der DJ zugleich – was für die literaturwissenschaftliche Betrachtung der in den 1990er Jahren aufkommenden sogenannten Rave-Literatur von entscheidender Bedeutung ist – den ursprünglichen Begriff des Autors bzw. Schöpfers infrage, indem er musikalische Versatzstücke als Rohstoff für seine Arbeit sammelt und archiviert. Beim Auflegen greift er auf seine Plattenkiste zurück und bringt Sounds, Beats und Melodien aus verschiedenen Stücken, von verschiedenen Komponisten und aus verschiedenen Epochen in Verbindung, stellt sie gegenüber und/oder vermischt sie miteinander. Der Autor, der in die Nähe des Mischpults und der Lautsprecher tritt bzw. dem DJ bei seinem Handwerk zusieht, ihn beobachtet und in den Sog der Musik gerät, wird zum DJ-Literaten, der aus seinem Erfahrungsarchiv das richtige Tempo, den richtigen Rhythmus und den passenden Klang sucht, um das Erlebte nachträglich in der Literatur ausdrücken zu können. Wie Jörgen Schäfer anmerkt, konnte man in den 1960er Jahren noch von einem „Kulturkampf“54 sprechen, da sich die Literatur, die ihre Schreibweisen im Kontext der populären Kultur entwickelte, seinerzeit im literarischen Underground verorten ließ, während heute deutsche Autoren wie Thomas Meinecke, Andreas Neumeister und Rainald Goetz ihre Texte zumeist bei renommierten Verlagen veröffentlichen, auf den Feuilleton-Seiten der überregionalen Zeitungen ausführlich besprochen und mit angesehenen Literaturpreisen ausgezeichnet werden. Diese Tatsachen und die schon oben aufgeführte wachsende literarische Aufarbeitung popkultureller Erfahrungen im Medium der Literatur weisen scheinbar auf ein verändertes gesellschaftliches Verhältnis zur Popkultur hin, wie es seit den 1980er Jahren zu beobachten ist: Pop-Essentials wie Spaßkultur, Konsum, Style, Distinktion und Selbstverwirklichung sind keine jugendkulturelle Angelegenheit mehr, sondern haben sich gesamtgesellschaftlich verallgemeinert.55 Im Zuge dieser Entwicklung scheint die Pop-Literatur zu einer „unterhaltsamen, flotten Literatur“ verkommen, „deren Rebellion eine hohle Geste“ darstellt, wie auch Thomas Ernst in seiner Abhandlung über die Geschichte der Pop-Literatur konstatiert.56 Obwohl die DJ-Culture in ihrer Anfangszeit, wie

52 Ebd., S. 316. 53 Ebd., S. 314. 54 Schäfer: Pop-Literatur, S. 10. 55 Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. 56 Ernst 2001, S. 90.

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Sven von Thülen schreibt, den „alten Do-It-Yourself Punk-Ethos in eine neue aufregende Umlaufbahn aus billigen Drumcomputern, halbwegs erschwinglichen Synthesizern und euphorischer Aufbruchsstimmung katapultierte“57, scheint sich doch ein Paradigmenwechsel in der populären Musik vom Punk zur TechnoMusik vollzogen zu haben, der seinen äquivalenten Ausdruck auch in der PopLiteratur findet. Dieser knapp gefasste Durchlauf durch die einzelnen Kapitel der folgenden Seiten macht deutlich, dass eine Fokussierung auf die populäre Musik, wie sie in dieser Arbeit erfolgt, dazu beiträgt, dass bis dato in der Analyse vernachlässigte Musikstile (z. B. Reggae, Dub, Hip Hop, Industrial, Punk, elektronische Avantgarde) mit in die Betrachtung einbezogen werden können, wenn es darum geht, ästhetische Gemeinsamkeiten zwischen musikalischer und literarischer Produktion aufzuzeigen. Diese selbst auferlegte Beschränkung auf die populäre Musik bietet zudem die Möglichkeit, bestimmte musikalische und literarische Entwicklungslinien nachzuzeichnen und gegenüberzustellen. Um dies leisten zu können, muss der Literaturwissenschaftler jedoch nicht nur seine wissenschaftliche Lektüre verfolgen, sondern auch dem musikalischen Material ein Ohr leihen. Ebenso wie der Schriftsteller Rainald Goetz sich am musikalischen Material und seiner Machart „WUNDGEHÖRT“ hat58, muss auch der Literaturwissenschaftler dazu oftmals die Pfade der eigenen Disziplin verlassen und versuchen, beim Hören bestimmter populärer Musikstile ihren Entstehungsprozess und ihre ganz eigene Stilistik zu erfassen. Genau aus diesem Grunde wird die nachfolgende Arbeit auch immer wieder von längeren musikalischen Intermezzi durchbrochen, die den Sinn verfolgen, die musikalischen Produktionsverfahren genauer zu analysieren, um in einem weiteren Schritt die herausgestellten ästhetischen Prinzipien mit den literarischen Formen zu vergleichen. Zur Darstellung dieser Adaptionsverfahren, derer sich Literatur seit den sechziger Jahren bedient, muss auch immer die technische Entwicklungsgeschichte der Medien mit in die Betrachtung einbezogen werden, zumal eine Literatur, die unter dem Eindruck des Films oder der populären Musik ihre Formen generiert, zugleich auch immer die kulturelle Vorherrschaft der audiovisuellen und neuen Medien im Zeitalter des Medienpluralismus reflektiert. Die nachfolgenden Betrachtungen mögen von jenem Tonfall frei bleiben, den Rolf Dieter Brinkmann einmal wissenschaftlichen Abhandlungen unterstellt hat: „Und dann die Formulierungen in den wissenschaftlichen Büchern, durch die ich schaue, worum gehts da? Erkenntnis? Die schamanistische Arroganz der

57 Thülen: Produzenten aus dem Schatten, S. 15. 58 Goetz: Abfall für alle, S. 30.

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Ausdrücke, der Formulierungen, der Büros und der Schreibassistentinnen, die Menschen, alltägliches Leben zu Material machen, zu Fällen.“59

59 Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 264.

2 Beat und Literatur

2.1 „E S

WAR ALLES IM

J AZZSTIL “ (J ACK K EROUAC )

Über die Beat-Autoren und ihr Verhältnis zur Jazz- und Bebop-Musik ist schon viel geschrieben worden. Dennoch bildet die Beschäftigung mit dieser kleinen Gruppe von Lyrikern und Romanciers, die sich in den 1950er Jahren in den Städten New York und San Francisco zusammengefunden haben, die Grundlage einer Auseinandersetzung mit dem Thema Musik und Literatur insbesondere deshalb, da diese Autoren die erste amerikanische Literaturbewegung bildeten, die in einem populären Musikstil einen wesentlichen Bestandteil ihrer Weltanschauung und Lebensweise artikuliert sahen1 und die – was für die nachfolgenden Ausführungen von ganz besonderer Bedeutung ist – Jazz- und insbesondere die Bebop-Musik zu einem integralen Bestandteil ihrer Kompositionstechnik erklärten.2 Ursprünglich stammt das Wort ,beat‘ aus dem Jargon des Zirkus- und Schaustellergewerbes und beschreibt die bescheidenen Verhältnisse und die schwierigen Lebensumstände dieser umherziehenden Menschen. In der Drogenszene bedeutete der Begriff so viel wie ausgeraubt bzw. gelinkt.3 Doch bezogen auf die sogenannte Beat-Generation besitzt das Wort ,beat‘ nicht nur diese negativen Konnotationen, sondern bezeichnet zudem die Rastlosigkeit, den Erlebnishunger, den Nonkonformismus, von denen die jungen Menschen seinerzeit angetrieben wurden, wie auch Karl O. Paetel in der Einleitung zu der bereits 1962 erschienenen Textsammlung Beat. Die Anthologie konstatiert. 4 Zugleich beschreibt der Begriff ,Beatitude‘ (Glückseligkeit), den Jack Kerouac immer wie-

1

Vgl. Seiler 2006, S. 106.

2

Vgl. ebd., S. 11.

3

Vgl. Watson: Die Beat Generation, S. 3.

4

Paetel: Vorbemerkung und Einleitung zu Beat. Die Anthologie, S. 9.

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der anführt, auch den religiös-spirituellen Habitus, der die Beat-Generation auszeichnete: „Weil ich nämlich beat bin, glaube ich an Beatitude und daß Gott die Welt so sehr geliebt hat, daß er ihr seinen einzigen Sohn gab.“5 Kerouac, der sich zudem als Begründer des Begriffs ,the beaten generation‘ ansah6, beschreibt in seinem Essay Beat-Glückselig eine Situation aus dem Jahre 1948, die den Ursprung für diese Bezeichnung bilden soll: „Damals hockten John Clellon Holmes [...] und ich zusammen herum und versuchten uns über die Bedeutung der Lost Generation und des späteren Existenzialismus klarzuwerden, und ich sagte: ,Weißt du, dies ist wirklich eine geschlagene Generation‘, und er sprang auf und sagte: ,Genau! Das stimmt!‘“7

Alle diese Konnotationen finden sich auch in Karl O. Paetels Feststellung wieder, dass die Beat-Autoren kein „poliertes, kein konventionelles Englisch“ geschrieben, sondern vorwiegend „slang-Ausdrücke“ benutzt, zudem „Worte aus dem Milieu der Rauschgiftsüchtigen“ übernommen und ausgiebig Gebrauch von dem „Jargon der Jazzmusiker“ gemacht hätten.8 Literaturhistorisch betrachtet, lasse sich diese Form der amerikanischen Underground-Literatur, wie auch Andreas Krämer ausführt, „als Radikalisierung bestimmter Beat-Techniken und Sprechweisen“ verstehen: „Sprache und Themen werden direkter, rauer, teilweise obszön.“9 Thomas Ernst weist in seiner kurzen Abhandlung über die Pop-Literatur zudem auf die politische Aussagekraft der Beat-Poets hin, die „eine harte und zornige Literatur in einem Kampf der Hassliebe um das wahre Amerika“ verfasst hätten.10 Dagegen hält Karl O. Paetel diese Attitüde nur für vermeintliches Rebellentum und konstatiert, dass man aus den einzelnen Beat-Derivaten keine einheitliche „Beat-Programmatik“ herauslesen könne.11 Vielmehr sei das, was die Beat-Generation von anderen „Sozialrevolutionären“ unterschieden habe, der „ausgeprägt subjektive Zug ihrer Rebellion“ gewesen. Es sei, erklärt Paetel, nicht darum gegangen, gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen und zu lösen,

5

Kerouac: Beat-Glückselig, S. 26.

6

„[I]ch habe diese Bezeichnung erfunden, und sie hat dem Wesen dieser Generation zum ersten Mal Ausdruck gegeben [...].“ (Kerouac: Beat-Glückselig, S. 26).

7

Ebd., S. 25.

8

Paetel: Vorbemerkung und Einleitung zu Beat. Die Anthologie, S. 5.

9

Kramer 2003, S. 33.

10 Ernst 2001, S. 15. 11 Paetel: Vorbemerkung und Einleitung zu Beat. Die Anthologie, S. 10.

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sondern primär darum, das Geschehen als eigenes, persönliches Problem zu werten und für sich selbst zu lösen12: „Die ,eigene‘ Welt, in der man zu leben versucht, ist keine der gemeinsamen Prinzipien, sondern ein Ort, an dem jeder er selbst sein will und kann.“13 Neben der erwähnten Selbstbestimmung des Individuums weist Paetel auch auf den religiösen Aspekt als ein weiteres Merkmal der Beat-Bewegung hin und erklärt, dass im „inneren Kreis“ der Beat Autoren „eine unbestimmt auf Religiosität zielende Neigung“ vorgeherrscht habe, die „vom ästhetisierenden Katholizismus über pantheistische, panerotische Variationen bis zum buddhistischen Rationalismus mit magischen Einsprengseln“ gereicht habe.14 Ein wesentlicher Bestandteil der Lebensweise dieser modernen Bohémiens sei es jedoch gewesen, so Sascha Seiler, „die Jazzmusik [...] zum Mittelpunkt ihrer kulturellen Artikulation zu stilisieren“.15 Dergestalt lässt sich das Wort ,beat‘ auch auf die Musik beziehen: der Schlag im allgemeinen Sinne, der Trommel-, Takt- oder Pulsschlag, der Jazz.16 Die sogenannten Beatniks oder Hipsters schätzten den Jazz-Stil jener Tage, den Bebop, als eine Musik, die, bezogen auf Melodik, Rhythmus und Harmonie, alle tradierten Formen und Spielweisen zu hinterfragen bzw. aufzulösen schien.17 Zudem zeichneten sich die Auftritte der Bebop-Musiker, bei denen oftmals die Grenze zwischen Bühne und Auditorium aufgehoben wurde, durch Energie, Explosivität und Spontaneität aus und verliehen damit auf sehr intensive Weise den authentischen Erfahrungen der Musiker Ausdruck. Der Bebop galt als ein Medium, das die negativen und positiven Erlebnisse der Jazz-Musiker bündelte und für den Hörer erfahrbar machte. Dabei erzählen die Songs „die durch die Realität beglaubigten tales of joy and suffer, Geschichten der Niederlagen, des Sich-Durchschlagens, der Verletzungen, des Glücks“.18 Die Musik schien für die Bebop-Musiker kein vom wirklichen Leben abgelöstes und rein künstlerisches Ausdrucksmittel zu sein – vielmehr etablierte sich

12 Ebd., S. 15. 13 Ebd., S. 10. 14 Ebd. 15 Seiler 2006, S. 106. 16 Vgl. Ernst 2001, S. 14. Sehr aufschlussreich ist auch, so Ernst, die Nähe des Begriffs ,beat‘ zum Pop-Begriff: „Der aus der Musik stammende Begriff Pop verweist auf das Wort popular (populär = bei der Masse beliebt) wie auch auf den Laut pop, der soviel wie Zusammenstoß, Knall bedeutet.“ (Ernst 2001, S. 7.). 17 Vgl. Jacobs 1996, S. 188. 18 Kohtes/Ritzmann 1987, S. 48.

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die Musik „als realer Teil des Daseins“ und „führte es fort mit anderen Mitteln“.19 So beeindruckte der Altsaxophonist Charlie Parker, der zu den emblematischsten Figuren der Bebop-Szene zählte und „dessen Jazz-Variationen den Beats in Fleisch und Blut übergegangen“ waren20, die Beat-Poets seinerzeit vor allem durch das „atemberaubende Tempo seines Spiels“, wie der in Brooklyn, New York, geborene Schriftsteller Bob Reisner im Mai 1959 in einem Artikel für die Zeitung The Village Voice konstatierte: „Seine technische Vollkommenheit, die Spontaneität seines Spiels und sein lyrischer Ausdruck sind bislang unerreicht geblieben. [...] Er ist einer der großen Götter der Beat Generation, weil er das ganze volle Dasein in sich aufnahm und jeden Moment intensiv erlebte.“21 Dabei diente die Musik nicht primär kommerziellen Zwecken, sondern sollte ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringen, das vom Überdruss an gesellschaftlichen und musikalischen Konventionen bestimmt war.22 Die Beat-Poets waren fasziniert von dem Habitus der Jazz-Musiker und von der Vitalität und Authentizität ihrer Musik. In der nonkonformistischen Haltung der Bebop-Musiker sahen die Beat-Poets ein Pendant zu ihrer eigenen unkonventionellen und exzentrischen Lebensweise. Ebenso waren sie auch von den Beatniks bzw. Hipsters angetan, deren Sprechgestus direkt dem Rhythmus der Jazz-Musik entlehnt war und die Explosivität und Spontaneität der musikalischen Produktion widerspiegelte: „Manche dieser Hipsters“, schreibt Jack Kerouac, „waren völlig irre und sprachen ununterbrochen. Es war alles im Jazzstil.“23 Die Intensität, mit der die Jazz-Musiker die Musik als Fortführung ihres Daseins mit anderen Mitteln ansahen und damit die Grenzen zwischen Kunst und Leben durchlässig werden ließen, wurde für die Beat-Poets zum Maßstab für ihre literarischen Arbeiten: Jazz- und Bebop-Musik galten den Beat-Poets schon bald als „musikalisch-spirituelle Pendants zur eigenen Dichtung“.24 Ebenso wie die Bebop-Musiker „die eigene Seelenlage“ zur Grundlage ihres Spiels verklär-

19 Ebd. 20 Paetel: Vorbemerkung und Einleitung zu Beat. Die Anthologie, S. 18. 21 Reisner: Charlie Parker, S. 46f. 22 Vgl. Jacobs 1996, S. 186. 23 Kerouac: Beat Glückseligkeit, S. 28. Zur Sprache und zum Habitus der Hipsters vgl. Broyard: Bild des „Hipsters“; Mailer: Der weisse Neger. Dergestalt hebt Broyard z. B. den reduzierten Wortschatz der Hipster hervor und bezeichnet ihren SprachDuktus als polemisch und aggressiv, da sich der Hipster „nur in der Form des Angriffs mitteilen konnte“ (Broyard: Bild des „Hipsters“, S. 221). 24 Seiler 2006, S. 106.

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ten25, gerierten sich die Beat-Poets als „Ethnographen des Alltäglichen“26 und versuchten, das damalige Lebensgefühl zu erfassen und die auf sie einströmenden Sinneseindrücke in die Literatur zu transformieren. Deutlich wird dies in einer Anmerkung, die Jack Kerouac seinem Gedicht Mexiko City Blues, von dem mehrere „Chorusse“ Charlie Parker gewidmet sind, vorangestellt hat und die sich fast wie eine „Poetologie des Beats“ liest27: „Als Jazzdichter soll man mich nehmen/ einen langen Blues blasend in einer/ Sonntagnachmittag-jam-session./ Ich nehme 242 Chorusse; meine Ideen schwanken und manchmal/ wechseln sie rüber von Chorus zu Chorus oder/ von mittendrin in einem Chorus bis hinein in die Mitte/ des nächsten.“28

Für die Beat-Poets – allen voran Jack Kerouac – implizierte die Nähe ihrer literarischen Rede zur Jazz- und Bebop-Musik auf ästhetischer Ebene vor allen Dingen den Versuch, die Literatur von ihren tradierten Mustern zu befreien und „hin zu einer freien Improvisation nach Vorbild der Jazzmusik eines Charlie Parkers oder Miles Davis“ zu lenken29. Bereits die ersten Jazzmusiker, so John Litweiler, hätten versucht, sich aus den melodischen, rhythmischen, strukturellen und ausdrucksmäßigen Konventionen der sie umgebenden Musik der Jahrhundertwende zu befreien. Dazu hätten sich die Jazz-Musiker u. a. dem Modell der fließenden Besetzungen und zeitlich begrenzten Formationen bedient.30 Ebenso spielt auch die Improvisation, d. h. die freie Wählbarkeit von Tönen innerhalb verbindlicher oder selbstgesetzter Regeln, bis heute eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Jazz-Musik. Improvisiert wird dabei kollektiv oder solo über die „zyklisch wiederholte Harmoniefolge des gewählten und einleitend vorgestellten Themas [Chorus]“, wobei „die Erscheinungsformen von einer relativ engen über die nur vage Anlehnung an eine Melodie bis hin zur ausschließlichen Verwendung des Akkordgerüstes“ reichen können.31 Dieser Ästhetik der Wiederholung und Variation kam primär die Funktion zu, der „Spontaneität und Vitalität der musikalischen Produktion“32 Ausdruck zu verleihen. Dennoch hat die Jazz-Musik, trotz

25 Kohtes/Ritzmann 1987, S. 137. 26 Ebd., S. 113. 27 Seiler 2006, S. 107. 28 Kerouac: Mexiko City Blues, S. 96. 29 Seiler 2006, S. 106. 30 Vgl. Litweiler 1988, S. 9. 31 Kunzler 1988, S. 593. 32 Berendt 2004, S. 564.

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anderer Bekundungen, vom Swing über den Bebop die gängige funktionale Aufteilung in Vordergrund/Hintergrund sowie Melodie/Harmonie/Rhythmus aufrechterhalten und die Instrumentenrollen entsprechend zugewiesen. Erst namhafte Vertreter des Free-Jazz wie z. B. John Coltrane trugen dazu bei, tradierte Strukturen aufzulösen und den Weg zu einer noch freieren und offeneren Improvisation zu ebnen, die gänzlich ohne harmonisch-melodische Bindung auskommt.33 Zudem war der Jazz-Stil immer auch Bekundung der Zeit, in der die Musiker lebten: Die hektischen, unruhigen Lebensumstände der 1940er Jahre fanden ihren expliziten Ausdruck im Stil der Bebop-Musik34: „Als charakteristisch für die Tonbewegungen des Bebop erschienen dem damaligen Hörer rasende, ‚nervöse‘ Phrasen, die mitunter nur noch wie melodische Fetzen wirkten. Jede unnötige Note wurde fortgelassen.“35 Viele dieser „Phrasen“ wurden darüber „zu Chiffren für größere musikalische Abläufe“: Sie waren das, „was man in der Stenographie Kürzel nennt. Man muss sie hören, wie man Stenogramme liest: indem man aus wenigen hastigen Zeichen ordentliche Zusammenhänge schafft“.36 Dieser stenographische Stil des Bebop steht indikativ für den Schreibprozess, den Jack Kerouacs wohl bekanntester Roman Unterwegs (im Original: On The Road) durchlaufen hat: Im Dezember 1950 erhielt Kerouac einen 23.000 Wörter

33 Noch weiter gingen seit den achtziger Jahren die Musiker der sogenannten No-WaveBewegung bzw. Noise Music, zu denen z. B. der Saxophonist John Zorn gehört. Die Musiker der Noise Music „zertrümmerten und atomisierten die langen Formverläufe des Free Jazz in blitzschnell wechselnde Klangereignisse“. Während der Free Jazz noch an der „Idee des Handwerks und der Virtuosität“ festhielt, betonten die Musiker der Noise Music das „kürzelhafte, isolierte Klangereignis“ und erhoben den „musikalische[n] Bruch“ zum ästhetischen Prinzip. Dabei lösten sie auch die letzten noch vorhandenen musikalischen Hierarchien auf, indem sie mittels der Technik der Collage scheinbar unzusammenhängende musikalische Verläufe und Sounds (wie z. B. Free Jazz, Punk, Minimal Musik, Heavy Metal, Trash, Grindcore, Rock, Death Metal und Soundtrack-Schnipsel) assimilierten und sich damit jeder Kategorisierung entzogen: „Dilettantisches, Kitschiges und Banales aus Protest einbeziehend, den ganzen akustischen Müll, der uns alltäglich umgibt, ironisch brechend, verfremdend und parodierend.“ (Berendt 2004, S. 87). 34 Zu den sozialen Hintergründen der Entstehung des Bebop vgl. auch Jost 2003, S. 105-110. 35 Berendt 2004, S. 36. 36 Ebd.

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langen Brief von Neal Cassady37, den dieser angeblich innerhalb von drei Tagen unter Benzedrin-Einfluss geschrieben und dabei kein Wort redigiert hatte. 38 Cassadys Schreibausbruch verleitete Kerouac dazu, sich im April 1951 an den Schreibtisch zu setzen und drei Wochen durchzuschreiben. Um den Schreibprozess nicht unterbrechen zu müssen, hatte Kerouac einige Papierbögen aneinandergeklebt. 39 Während dieser „dreiwöchigen Schreiberuption“ 40 entstand die ‚Urfassung‘ von Unterwegs: ein absatzloser Text auf einer vierzig Meter langen „Endlosseite“.41 Auch wenn Kerouac immer wieder darauf insistiert hat, dass Texte nicht nachträglich überarbeitet werden dürfen, so hat diese sogenannte ‚Rollen-Version‘ von Unterwegs nachträglich viele sowohl von Kerouac selbst ausgeführte als auch vom Verlag geforderte Änderungen erfahren. Vergleicht man die mittlerweile auch veröffentlichte ‚Urfassung‘42 mit dem veröffentlichten Roman, so tritt deutlich hervor, dass Kerouac im Laufe der Überarbeitungen sowohl die sexuellen Inhalte immer weiter zurückgenommen als auch den Protagonisten Kunstnamen zugeordnet hat. Viele homosexuell konnotierte Szenen entfallen, der Erzähler, der in der Urfassung noch Jack Kerouac hieß, trägt in der Druckfassung den Namen Sal Paradise, aus Neal Cassady wird Dean Moriarty und aus Allen Ginsberg wird Carlo Marx. Doch damit nicht genug: Die raue, ungeschliffene und oftmals redundante Sprache der ‚Urfassung‘ wird für die 1957 erscheinende Druckfassung vom Verlag noch weiter gekürzt und geglättet, indem z. B. Schachtelsätze auseinandergerissen werden und die ungewöhnliche Interpunktion geläufigen Regeln angepasst wird.43 Doch auch die ‚Urfassung‘, die im April 1951 von Kerouac niedergeschrieben wurde, war nicht ex nihilo entstanden und hatte schon einige Vorstufen durchgemacht. Spätestens seit Mitte 1948 sammelte Kerouac Material für seinen Roman, notierte vor, entwarf einzelne Abschnitte, skizzierte Kapitel und verwarf sie wieder. Als er sich dann – fast wie im Rausch – daranmachte, den Roman innerhalb kürzester Zeit niederzuschreiben, war er umgeben von Notizbüchern und Zetteln.44 Aus dem gesammelten Textkonvolut entstand dann durch Selek-

37 Neal Cassady diente Jack Kerouac zudem als Vorbild für seine Figur Dean Moriarty aus dem Roman Unterwegs. 38 Vgl. Watson: Die Beat Generation, S. 139. 39 Vgl. ebd., S. 141. 40 Cunnell: Diesmal schnell, S. 469. 41 Ebd., S. 474. 42 Vgl. Kerouac: On The Road. Die Urfassung. 43 Zur Entstehungsgeschichte der ‚Urfassung‘ vgl. Cunnell: Diesmal schnell. 44 Vgl. ebd., S. 473.

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tion und Verdichtung innerhalb von drei Wochen die ‚Rollen-Version‘ von Unterwegs. Ein halbes Jahr nach Fertigstellung dieser ‚Rollen-Version‘ besuchte Kerouac ein Konzert des Jazz-Saxophonisten Lee Konitz, als Ed White, ein guter Freund, Kerouac riet, sich beim Schreiben doch an den skizzenhaften und stenographischen Jazz-Stil jener Tage zu halten. Angespornt von Whites Vorschlag versuchte Kerouac in der Folgezeit, die „Kluft zwischen Erfahrung und ihrer Schilderung auf Papier“ zu eliminieren45, indem er sich immer wieder kurzen Schreibausbrüchen hingab. Kerouacs Form der „spontaneous prose“, wie er sie in seinem ästhetischen Essay Essentials Of Spontaneous Prose entworfen hat, ist der Versuch, intensive Erlebnisse ungefiltert und direkt in die Literatur zu übertragen und somit das Problem der Nachzeitigkeit von Schrift zu überwinden: Kerouac selbst bezeichnet diese Schreibweise als „undisturbed flow from the mind of personal secret idea-words, blowing (as per jazz musician) on subject of image“.46 Kerouac selber sehe zudem, so Hans Christian Kirsch, „die Verwandtschaft seiner Schreibe mit dem Jazz auf einer atemtechnischen Ebene angesiedelt. [...] Der Vorrat an vorhandener Luft nach einem Atemzug ist das Maß, in dem sich eine bestimmte Mitteilung vollzogen haben muß“.47 Diese Vorstellung inspirierte Jack Kerouac 1951 zur sogenannten „Bop-Prosodie“, wobei ihm „ein Mann am Tenorsax“ als Vorbild diente, „der Atem holt und dann auf dem Saxophon eine Phrase bläst, bis ihm die Luft ausgeht, und wenn er soweit ist, dann ist sein Satz, seine Aussage gemacht“.48 Aus diesem Grund, erklärt Kerouac, „trenne ich meine Sätze wie durch Atempausen des Geistes“.49 Auch Allen Ginsberg konstatiert in seinen Bemerkungen zu den Plattenaufnahmen seines Gedichtes Howl, dass prinzipiell „jede Langzeile [...] eine einzige Atemeinheit“ darstelle.50 Die Konsequenz einer Ästhetik der Spontaneität als literarisches Kompositionsprinzip ist nicht nur die Abstraktion, sondern die diskontinuierliche, fragmentarische und offene Form, die das in sich geschlossene, totale und sich selbst genügende Kunstwerk radikal infrage stellt. Kerouac glaubte, diese von ihm als „wilde Form“ bezeichnete Schreibpraxis „transzendiere die beschränkte Form

45 Watson: Die Beat Generation, S. 143. 46 Kerouac: Essentials Of Spontaneous Prose, S. 57. Der Essay wurde erstmalig im Jahr 1958 in der Zeitschrift Evergreen Review veröffentlicht. 47 Kirsch 1993, S. 160. 48 Zitiert nach Watson: Die Beat Generation, S. 144. 49 Ebd. 50 Ginsberg: Bemerkungen zur Plattenaufnahme von „Howl“, S. 243.

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des traditionellen Romans“.51 Die neue Methode bestand für Kerouac dabei darin, „die unmittelbare Gegenwart festzuhalten, indem er den Prozeß ihrer Entdeckung aufzeichnete“52 – eine Praxis, die ihren Vorläufer auch im automatischen Schreiben der Surrealisten hatte. Die Nähe Kerouacs zur Bebop-Musik lässt sich aber nicht nur auf der Ebene der Textproduktion feststellen, vielmehr ist auch die narrative Ebene, wie sie in dem Roman Unterwegs aufscheint, primär bestimmt von Verweisen auf die damalige Musiklandschaft und die Lebenswelt der Beatniks. Neben der Darstellung der Sehnsucht der Hipsters nach immer neuen, ekstatischen Zuständen, widmet Kerouac eine Anzahl längerer Passagen des Romans der Beschreibung von Jazz-Konzerten, in denen deutlich wird, welche rauschhafte Erfahrung diese Auftritte den anwesenden Zuhörern bieten: „Der Tenorbläser mit dem Hut auf dem Kopf war auf dem Höhepunkt einer wunderbar beglückenden freien Improvisation angelangt [...] Ein Aufruhr der Musik, und den Tenorbläser hatte es gepackt, und alle wußten es. Dean hielt sich in der Menge den Kopf, und es war eine irrsinnige Menge. Sie alle ermunterten den Tenorbläser mit Schreien und wilden Blicken, durchzuhalten und weiterzumachen, und er erhob sich aus seiner kauernden Stellung und ging wieder nieder mit seinem Horn, um es in einem reinen Schrei über dem Hexenkessel emporzuschwingen. [...] Alle zuckten im Rhythmus und brüllten, Galatea und Maria standen mit ihren Bieren in der Hand auf den Stühlen, sie zuckten und gerieten in Ekstase.“53

Das stark affirmative Verhältnis zur Jazz-Musik (insbesondere der Bebop-Musik) lässt sich zudem an der Tatsache ablesen, dass einige Beat-Poets, allen voran Jack Kerouac, ihre Lesungen mit improvisierter Jazz-Musik verbanden.54 Nachzuhören ist diese direkte Zusammenarbeit auch heute noch auf unzähligen Plattenaufnahmen, die, laut Sascha Seiler, „als erste Dokumente einer organischen Fusion populärer Musik mit Literatur angesehen werden können“.55

51 Watson: Die Beat Generation, S. 143. 52 Ebd., S. 143f. 53 Kerouac: Unterwegs, S. 182. 54 Vgl. Seiler 2006, S. 108. 55 Ebd., S. 108. Viele der alten Aufnahmen gelten heute als Raritäten und sind schwer erhältlich. Einen guten Überblick über die Lesungen, die Kerouac u. a. sowohl mit dem Pianisten Steve Allen als auch den Saxophonisten Al Cohn und Zoot Sims in den Jahren 1958/59 abgehalten hat, bietet die Triple-CD-Box The Jack Kerouac Collection, erschienen 1997 auf dem Label Rhino. Ausgewählte Aufnahmen von den Le-

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Gerade hinsichtlich der enormen technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Abspiel- und Aufnahmegeräte bzw. der MusikstudioPraktiken (wie z. B. Mixen, Remixen und Sampling) scheint es fraglich, das Zusammenspiel von Lesung und Jazzimprovisationen, wie es in jenen Jahren aufgekommen ist, als ‚organische Fusion‘, d. h. als wirkliche Verschmelzung von Literatur und Beat-Musik zu bezeichnen. Vielmehr scheint es angebracht, von einer Koexistenz von Musik und vorgetragenem Text zu sprechen, auch wenn die Lesungen der Beat-Poets oftmals stark von einer Ästhetik der Spontaneität geprägt waren. So berichtet z. B. Lawrence Lipton von einer Lesung mit Allen Ginsberg, bei der dieser reichlich angetrunken sein Gedicht Howl vortrug: „Es verlief stürmisch, wild – und flüssig. [...] Er [Allen Ginsberg] las aus dem Buch, das gerade erschienen war, aber er änderte Worte, improvisierte frei und lieferte auch die obszönen Stellen, die der Drucker hier und da gestrichen hatte.“56 Ein sichtlich angeheiterter Zuhörer störte Ginsbergs Lesung mit Zwischenrufen. Als dann Gregory Corso, ein ‚Schüler‘ Ginsbergs, dazu anhob, seine Gedichte vorzutragen, ließ der Zwischenrufer immer noch nicht davon ab, mit lautstarken Bemerkungen den Vortrag zu unterbrechen. Doch Corso blieb ganz ruhig, selbst nach der Aufforderung des Störenfrieds, „er [Gregory Corso] solle mal mit rauskommen, wo man die Sache unter Männern abmachen würde“: „Gregory grinste. ,Gewiß, mein Junge, ich weiß, du willst dich schlagen. Also schön, schlagen wir uns. Aber hier drinnen. Und nicht mit Fäusten, du Provinzonkel. Das ist was für Anfänger. Schlagen wir uns mit Männerwaffen – mit Worten: Bildern, Metaphern, Magie. Mach den Mund auf, Mann, und speie eine Lokmotive aus, eine rote Lokomotive, die rülpsend obszönen Dampf und schwarze Magie von sich gibt. Und dann sage ich: Anafogasta. Rasselboom. Gnus Milch. Und du sagst: Vierter Juli, Wasserstoffbombe! Benzin! Siehst du? Wirkliche Schweinereien...‘“57

Die Bekanntheit der Beat-Autoren manifestierte sich in Deutschland mit einiger Verspätung: Wie schon in der Einführung dieser Arbeit angedeutet, fingen junge deutsche Autoren erst ab der von Rolf Dieter Brinkmann herausgegebenen Anthologie ACID, die 1969 veröffentlicht wurde und den aktuellen Stand der amerikanischen und britischen Underground-Literatur wiedergab, an, sich für diese

sungen von Ginsberg findet man auf der CD Howl And Other Poems, die 1998 auf dem Label Fan/Fantas veröffentlicht wurde. 56 Lipton: Die neue Apocalypse, S. 34f. 57 Ebd., S. 36f.

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ungewohnte und außergewöhnliche Ästhetik zu interessieren.58 Allein die Tatsache, dass die Beat-Poets die Klänge des Bebop und die Spontaneität und Vitalität dieser Musik zu einem integralen Bestandteil ihrer Schreibweisen und Lesungen stilisiert haben, hat zudem dazu geführt, dass sie bis heute (direkt oder indirekt) einen immensen Einfluss auf zahlreiche Musiker ausüben. Darunter wären Songwriter wie Bob Dylan, der „die Beat Poets als literarischen Haupteinfluss seiner Songs“ ansah59, Leonard Cohen oder Tom Waits zu nennen. Aber auch jüngere Musiker der Avantgarde- oder Underground-Bewegung haben sich immer wieder auf die Beat-Poets und ihre Ästhetik bezogen, wobei es sehr oft sogar zu einer direkten Zusammenarbeit gekommen ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich Avantgarde- bzw. Underground-Musiker (wie z. B. die Industrial-Bands Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire oder DJ Spooky) hauptsächlich auf die Cut-up- und Fold-in-Experimente von William S. Burroughs im Bereich der Literatur und der audiovisuellen Medien beziehen, wie im nachfolgenden Kapitel aufgezeigt wird.

2.2 I M H INTERLAND DER S PRACHE (W ILLIAM S. B URROUGHS ) 2.2.1 Cut-up: Worte auf dem Seziertisch Auch wenn William S. Burroughs zu der Gruppe der Beat-Poets gerechnet wird, so hat er sich nie als Teil dieser literarischen Bewegung gesehen, wie er in einem

58 Schon im Jahr 1959 war im Ullstein-Verlag eine von Walter Hasenclever herausgegebene Anthologie mit dem Titel Junge amerikanische Literatur erschienen, die u. a. sowohl Gedichte von Lawrence Ferlinghetti, Marvin Salomon und Richard Wilbur als auch Prosa von J. D. Salinger, John Hawkes und Jack Kerouac (Auszüge aus Unterwegs) enthielt. Im gleichen Jahr erschienen dann auch die erste deutsche Ausgabe von Kerouacs Roman Unterwegs und Allen Ginsbergs Gedichtband Geheul und andere Gedichte. 1961 wurde im Hanser-Verlag die von Gregory Corso und Walter Höllerer zusammengestellte zweisprachige Sammlung Junge amerikanische Lyrik veröffentlicht, der auch eine Schallplatte mit Aufnahmen von Ferlinghetti, Ginsberg und Corso beigegeben war. Nur ein Jahr später erschien die in dieser Arbeit schon mehrfach zitierte Anthologie Beat, die von Karl Otto Paetel zusammengestellt wurde (vgl. Kramer 2003, S. 27f.). 59 Seiler 2006, S. 109.

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Gespräch mit Daniel Odier für einen Interviewband mit dem bezeichnenden Titel Der Job erklärt: „Ich rechne mich ihr [der Beat-Bewegung] keineswegs zu, ich habe mich weder ihren Zielen noch ihrem literarischen Stil angeschlossen. Ich habe einige enge persönliche Freunde in der Beat-Bewegung: Jack Kerouac und Allen Ginsberg und Gregory Corso sind alle enge persönliche Freunde seit vielen Jahren, doch wir stimmen deswegen keineswegs in allem überein, weder als Schriftsteller, noch in unseren Anschauungen. Man könnte wirklich keine vier Schriftsteller finden, die sich stärker voneinander unterschieden. Ich stimme mit ihnen nicht überein; es ist mehr ein Nebeneinander als eine tatsächliche Übereinstimmung des literarischen Stils und der allgemeinen Ziele.“60

Dennoch verlieh auch William S. Burroughs mit seinen Cut-up- und Fold-in-Experimenten, d. h. Schreibverfahren, die Burroughs zwischen seinen Romanen Naked Lunch und Nova Express entwickelt hatte, dem literarischen Underground eine ganz neuartige Stimme. Die Cut-up- und Fold-in-Techniken entwickelten sich unter anderem aus Burroughs’ Vorstellung, dass die „Zukunft des Romans“ darin bestehe, sich „mit Techniken vertraut [zu] machen, wie sie Malerei, Musik & Film schon seit geraumer Zeit anwenden“.61 Zudem war Burroughs der festen Überzeugung, dass die Kontrolle der Massenmedien u. a. darauf beruhe, dass sie den Menschen zwangsläufig auf bestimmte Denkmuster und „Assoziationsreihen“ festlegen – dieses Kontrollsystem gelte es, laut Burroughs, zu „deaktivieren“, indem man z. B. mittels der Cut-up-Methode die „Assoziationsreihen“ zerhackt („to scramble“)62: „Wenn diese Reihen zerschnitten werden, sind die Assoziationsverbindungen unterbrochen.“63 Beim ursprünglichen Cut-up-Verfahren werden eigene oder fremde Texte zerschnitten und auf eine andere, zufällige Art wieder zusammengesetzt – eine Technik, die Brion Gysin64, Maler, Restaurator, Dichter und Freund von William

60 Burroughs: Der Job, S. 42. 61 Burroughs: Die Zukunft des Romans, S. 145. 62 Burroughs: Die elektronische Revolution, S. 26. 63 Ebd. 64 William S. Brroughs hatte den 1916 geborenen Brion Gysin in Paris auf der Straße kennengelernt. Gysin malte, schrieb und betätigte sich in diesen Jahren zudem als Straßenmusiker. Schon 1934 hatte sich Gysin den Surrealisten angeschlossen, seine Zeichnungen mussten aber auf Anweisung des autoritären André Breton aus der in diesem Jahr stattfindenden Ausstellung entfernt werden (vgl. Kirsch 1993, S. 260).

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S. Burroughs, mehr aus Zufall entdeckt hatte. Laut Steven Watson zerschnitt Gysin eines Nachmittags im Oktober 1959 einen Stapel der New York Herald Tribune, las die willkürlich aus verschiedenen Schichten von Zeitungsseiten zusammengefügten Teile und bekam einen hysterischen Lachanfall.65 Setze man, konstatiert Burroughs, die zerschnittenen Teile auf eine andere Art und Weise als die ursprüngliche zusammen, so könne man beobachten, dass dabei scheinbar neuer Sinn produziert wird, wobei die dabei zufällig entstandenen Sätze subversiven Gehalt besitzen können, indem sie z. B. auf ein zukünftig passierendes Ereignis verweisen. 66 „Manche Wortkombinationen, die sich an ‚Cut-up‘Schnittstellen ergaben, schienen Jahre später als ‚Vorhersagen‘ deutlich zu sein, so daß diese Experimente für Burroughs zwangsläufig auch eine magische Bedeutung bekamen“, schreibt Carl Weissner in seinem Nachwort zu Burroughs’ Roman Western Lands.67 Burroughs sah in dieser Technik primär die Möglichkeit, der Literatur die Arbeitsweise der Collage und Montage zu erschließen, Verfahren, die in der Malerei (z. B. bei Pablo Picasso, bei Max Ernst, Kurt Schwitters oder Paul Klee) entwickelt worden waren.68 Erst kurz zuvor hatte Gysin erklärt, die Literatur habe gegenüber der Malerei einen Rückstand von fünfzig Jahren aufzuholen.69 Der Grund für diese „Lücke“ sei, so Burroughs, dass der Maler im Gegensatz zum Schriftsteller seit jeher „sein Medium berühren und in die Hand nehmen“ könne70: „Der Schriftsteller weiß nicht, was Wörter sind. Er befaßt sich nur mit Abstraktionen vom Ausgangspunkt der Wörter. [...] Es ist zu hoffen, daß die Ausweitung der cut-upTechniken zu präziseren Wortexperimenten führt und so diese Lücke schließt und dem Schreiben eine ganz neue Dimension erschließt. Diese Techniken können dem Schriftsteller zeigen,

65 Vgl. Watson: Die Beat Generation, S. 285. 66 Vgl. Burroughs: Der Job, S. 12. 67 Burroughs: Western Lands, S. 305f. Auch Florian Cramer bezeichnet die Cut-upPoetik von Burroughs als ein “magische[s] und ekstatische[s]” Verfahren (Cramer 2011, S. 175), bei dem „Kunst, Okkultismus und Technik“ koinzidieren (ebd., S. 28). Zu Gysins und Burroughs’ Cut-up-Technik vgl. auch Schulze: Das aleatorische Spiel, S. 234f. Bezeichnenderweise berechnete Gysin 1960 seine sognannten ,permutation poems‘ auf einen Honeywell-Computer, wobei ihm der britische Mathematiker Ian Sommrville half (vgl. Cramer 2011, S. 28; Schulze: Das aleatorische Spiel, S. 246f). 68 Vgl. Wescher 1968. 69 Vgl. Burroughs: Der Job, S. 11. 70 Ebd.

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was Wörter sind und ihm eine greifbare Kommunikation mit seinem Medium vermitteln. Dies wiederum könnte zu einer präzisen Wissenschaft der Wörter führen und aufzeigen, wie bestimmte Wortkombinationen bestimmte Auswirkungen auf das Nervensystem haben.“71

Die Cut-up-Methode schien Burroughs dazu geeignet, Kollektivtexte zu erschaffen, die Ästhetik der Spontaneität in die Literatur einzubringen, die Kontinuität der Texte aufzubrechen sowie alogische Vorgänge und gleichzeitige Ereignisse wiederzugeben: „Wenn Leute von Klarheit in Büchern reden, meinen sie gewöhnlich Handlung, Kontinuität, Anfang, Mitte und Ende, Festhalten an einer ‚logischen‘ Sequenz. Aber Dinge ereignen sich nicht in logischer Sequenz, und die Leute denken nicht in logischer Sequenz. Ein Schriftsteller, der versucht, dem nahe zu kommen, was in Kopf und Körper seiner Figuren vorgeht, kann sich nicht auf eine so zufällige Struktur der ‚logischen‘ Sequenz festlegen lassen. [...] Ich glaube, daß es möglich ist, vielschichtige Vorgänge und Figuren zu schaffen, die ein Leser mit seinem gesamten organischen Wesen begreifen kann.“72

Beim Cut-up bedient sich der Schriftsteller unter anderem eigener oder fremder Texte, greift auf dieses kulturelle Archiv zurück und zerlegt es mittels der ‚Zerschneidemethode‘73 in seine Einzelteile. Im nächsten Schritt konstruiert er aus den entstandenen Grundelementen einen neuen Text oder folgt, wie Burroughs erklärt, „den Kanälen, die sich durch die Umordnung des Textes öffnen“.74 Das sei „die wichtigste Funktion des cut-up. Ich nehme etwa eine Seite, zerschneide sie und bekomme daraus eine ganz neue Idee für eine geradlinige Erzählung, für die ich das Material des cut-up überhaupt nicht benutze, oder ich verwende vom tatsächlichen cut-up vielleicht nur einen oder zwei Sätze“.75 Schon vorhandene Texte sind somit Grundmaterial, das der Schriftsteller nun endlich in die Hand nehmen kann, um im nächsten Schritt mit seinem Seziermesser anzusetzen und neue Formen zu generieren. Bei diesem ‚haptischen‘ Zugriff habe der Literat, erklärt Burroughs, zwar die Kontrolle über das Material, das er in die Montagen einbringe, aber „keine vollständige Kontrolle über

71 Ebd., S. 12. 72 Ebd., S. 19. 73 Vgl. Burroughs: Die Zerschneide-Methode, S. 84-97. 74 Burroughs: Der Job, S. 13. 75 Ebd.

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das, was herauskommt“.76 Bei diesem Verfahren wird das literarische Schreiben scheinbar zu einem selbstreferentiellen Prozess: Texte entstehen nur noch aus Texten und aus nichts anderem mehr. Ebenso beim Fold-in-Verfahren, das Burroughs nach eigener Aussage u. a. beim Verfassen des Romans Nova Express angewandt hat. Dabei werden z. B. zwei Texte genommen, in der Mitte gefaltet und nebeneinander gelegt. Mit dieser Technik ist es, laut Burroughs, zudem möglich, gleichzeitige Handlungsabläufe zu gestalten und literarische Rückblenden zu schaffen, wie sie ansonsten nur im Film möglich sind: „Zum Beispiel : ich nehme Seite 1 und falte sie in Seite 100; den daraus resultierenden Text füge ich als Seite 10 ein – Beim Lesen von Seite 10 blendet der Leser also zeitlich vor zur Seite 100 und zurück zur Seite 1 – Das déjà-vu-Phänomen läßt sich so nach Wunsch & Maß erzeugen (– dieser Effekt begegnet einem natürlich in der Musik, wo man durch Reprisen & Variationen musikalischer Themen ständig auf der Zeitspur vor & zurück bewegt wird) –“77

Erstaunlich jedoch ist, dass schon Burroughs’ Roman Naked Lunch, der im Juli 1959 in einer Startauflage von 10.000 Stück beim Verlag Olympia Press erschien, von einer stark experimentellen und scheinbar zufälligen Form ist, die den zeitgenössischen Leser vor große Rezeptionsschwierigkeiten stellte: Der Roman Naked Lunch besteht nicht aus einer kontinuierlichen Handlung, sondern stellt eine oftmals schwer zu folgende Zusammenstellung aus Dialogfetzen, Monologen, alternativen Handlungssequenzen, wissenschaftlichen Beschreibungen, assoziierten Bildern, stetigen Überschreibungen und endlosen Parenthesen dar. Zudem mischt Burroughs stetig reale Begebenheiten mit phantastischen Elementen, so dass sie für den Leser kaum noch unterscheidbar sind. Diese willkürlich wirkende Anordnung der einzelnen Kapitel und Handlungsstränge bezeichnet Burroughs als ein „Kaleidoskop von Szenerien“ und „Potpourri“ aus allen nur

76 Ebd., S. 14f. 77 Burroughs: Die Zukunft des Romans, S. 146. Ähnlich verhält es sich mit dem von Burroughs und Gysin entwickelten Cross Column-Reading, wobei zwei Zeitungskolumnen nebeneinander gestellt werden, so dass der Leser zwischen den beiden Artikeln schnell hin und her wechseln kann. Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch eine spezielle Art des Cut-up-Verfahrens mit der Bezeichnung Permutation beschrieben, wobei ein Satz in die einzelnen Wörter zerschnitten und nach Zufallsprinzip wieder zusammengefügt wird.

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erdenklichen Alltagsgeräuschen78, wobei der Leser dieses Sprach- und Klangmosaik selbst zusammenfügen muss. Burroughs sieht sich primär, wie er in Naked Lunch konstatiert, als ein „Instrument, das Sinneseindrücke registriert“: „Ein Schriftsteller kann nur über eines schreiben: was seine Sinne im Augenblick des Schreibens wahrnehmen... Ich bin ein Instrument, das Sinneseindrücke registriert… Ich maße mir nicht an, dem Leser eine ,Story‘, eine ,Handlung‘, eine ,Kontinuität‘ aufzunötigen... Nur sofern es mir gelingt, gewisse psychische Vorgänge direkt aufzuzeichnen, mag ich eine begrenzte Funktion haben...“79

Für Burroughs schien diese diskontinuierliche und nichtnarrative Schreibweise die geeignetste Form zu sein, Sinneseindrücke und Körperwahrnehmungen aufzuzeichnen und dem Leser zu vermitteln. Dabei scheint die nichtlineare und offene Form, die dem, wie Susan Sontag konstatiert, „Prinzip einer unbestimmbaren Anzahl von Variationen und Wiederholungen“80 folgt, insbesondere der jazzartigen Improvisation geschuldet zu sein, findet ihr Äquivalent aber auch bei anderen musikalischen Stilen, wie auf den nächsten Seiten dieser Arbeit noch aufgezeigt wird. Dass der Roman Naked Lunch als „großer Strom des Fragmentarischen und Unschematischen“81 erscheint und den Eindruck erweckt, als habe Burroughs schon damals die aus der bildenden Kunst bekannten Prinzipien der Collage auf die Textstruktur übertragen, mag auch auf der Tatsache gegründet sein, dass es bei dem Versuch, das Manuskript in einen druckreifen, satzfertigen Zustand zu bringen, immer wieder zu immensen Schwierigkeiten gekommen war, da Burroughs stetig Änderungen vornahm.82 Wie Steven Watson in seiner Abhandlung über die Beat-Generation schildert, mussten die von Burroughs immer wieder als „Routines“83 bezeichneten Textfragmente innerhalb von nur zehn Tagen zu einer druckfertigen Form zusammengefügt werden. Erst dieser terminliche Druck, so Watson, Burroughs zitierend, „schmiedete das ganze Buch zu einer organischen Folge, die es vorher nie gehabt hatte“; als die Druckfahnen dann vollkom-

78 Burroughs: Naked Lunch, S. 531. 79 Ebd., S. 522. 80 Sontag: William Burroughs und der Roman, S. 162. 81 Kos: Vorwort zu Die Beat Generation, S. VII. 82 Vgl. Kirsch 1993, S. 261. 83 „Routines sind vollkommen spontan und gehen aus von dem fragmentarischen Wissen, das man gerade hat. Eine Routine ist ihrem Wesen nach fragmentarisch und keineswegs wirklichkeitsnah.“ (Burroughs: Briefe an Allen Ginsberg, S. 204).

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men durcheinander aus der Herstellung gekommen seien, führt Watson weiter aus, habe Burroughs die willkürlich entstandene Sequenz für so gut wie jede andere erklärt.84 Dieser Ästhetik des Zufälligen bleibt Burroughs auch bei seinen weiteren Romanen treu. So weiß sein deutscher Übersetzer Carl Weissner zu berichten, dass Burroughs auch in den nachfolgenden Jahren die Rohfassungen seiner Manuskripte mit Absicht nie durchnummerierte und oft kurz vor der Drucklegung noch Umstellungen vornahm.85 Marcel Beyer weist darauf hin, dass Burroughs seine Routines, die zum Teil auf mündlichen Vorträgen basierten und später Bestandteil von Briefwechseln – z. B. mit Allen Ginsberg – waren, zuerst gar nicht als ‚literaturwürdig‘ betrachtet hat und er sich zudem nicht vorstellen konnte, wie sich die große Anzahl entstandener Textfragmente zu einem Roman zusammenfügen lassen: Was in der von Burroughs und seinen Freunden tradierten Erzählung vom Zustandekommen der Schlussfassung von Naked Lunch wie ein willkommenes und wohlüberlegtes Experiment mit dem Zufall erscheine, zeige sich, so Marcel Beyer, mit Blick auf Burroughs’ Korrespondenz, „als ein schmerzlicher, vom Autor immer wieder als defizitär empfundener Vorgang der Manuskriptwerdung“.86 Burroughs hat das Schreiben in Routines oftmals als Zwang und Belastung erfahren: „Gestern wollte ich noch ein paar Sätze hinzufügen, besessen von einer wilden Routine, und ich habe zwei Seiten vollgetippt. Ich lachte, bis mir der Bauch wehtat. Diese Routinen werden mich noch auffressen.“87 Am 6. Dezember 1954 schreibt Burroughs in einem Brief an Allen Ginsberg: „Was ich geschrieben habe, liest sich wie Notizen für einen Roman, nicht wie der Roman selbst. Der kreative Akt, der nötig ist, um aus dem Material ein abgeschlossenes Werk zu machen, scheint für mich unerreichbar zu sein. Ich kann nur Teile eines Romans schreiben, und die Teile gehen nicht zusammen.“88

Erst nach und nach scheint Burroughs erkannt zu haben, dass diese fragmentarische Schreibweise ihm die Möglichkeit bot, mit der Form des traditionellen Romans zu brechen. Dergestalt flossen viele der Manuskriptseiten, Notizen und

84 Watson: Die Beat Generation, S. 287f. 85 Vgl. Burroughs: Western Lands, S. 309. 86 Beyer: The Audible Generation, S. 178. 87 Burroughs: Interzone, S. 161. Vgl. auch S. 163: „Routines sind unkontrollierbar, unvorhersagbar, voll möglicher Gefahren [...].“ 88 Burroughs: Briefe an Allen Ginsberg, S. 201f.

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Routines, die von der Arbeit an Naked Lunch übergeblieben waren, in den darauffolgenden Jahren in Burroughs’ weiteres Erzählwerk ein: „Was ursprünglich unter dem Titel Naked Free Lunch als Fortsetzung geplant war, ging schließlich in gleich drei Romanen auf: The Soft Machine, The Ticket That Exploded und Nova Express. Als Burroughs seinen ,Wortschatz‘ erschöpft hatte, entwickelte er neue Routinen und in den fünfunddreißig Jahren seit Naked Lunch lieferte er besessen Manuskript auf Manuskript: Figuren wurden recycelt, Sätze wiederverwendet, frühere Werke mithilfe der Cut-up-Technik zu neuen Arbeiten ,gemischt‘, während alte Titel umgeschrieben und in neuen Versionen veröffentlicht wurden. [...] So hat er eine nonlineare Karte seines ganz persönlichen Bewußtseins geschaffen und die prophetische Vision einer verdorbenen, geplünderten Welt, jede Episode Teil eines großen alptraumhaften Mosaiks.“89

In diesem Sinne bleibt das, was Burroughs im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit veröffentlicht hat, Teil eines work in progress, wobei einzelne Textteile stetig weiterverarbeitet und auch anderen Texten einverleibt werden können. Burroughs’ Werke seien, wie auch Susan Sontag konstatiert, fragmentarischer Natur, „und sie sind es mehr als in einem Sinne. Er schreibt Teilstücke eines endlosen Riesenwerks. [...] Und jedes einzelne der Bücher besteht wiederum aus Fragmenten; ihre Länge, ihr Aufbau und ihre Komposition folgen keinem sichtbaren Schema.“90 Dennoch kann „die Kultivierung des Zufälligen oder Unerwarteten“, wie sie, laut Susan Sontag, bei Burroughs aufscheint, „nicht einfach als ein Schritt in Richtung auf Unordnung betrachtet werden“; vielmehr sei sie „ein raffiniertes Mittel zur Erreichung eines höheren Abstraktionsgrades des Gegenstandes der Kunst.“91 Wenn ein Text mit einem anderen zusammengeschnitten werde, so Gilles Deleuze und Felix Guattari in Bezug auf die Cut-up-Experimente von Burroughs, „entstehen zahlreiche Wurzeln, sogar wild wachsende (man könnte von Ablegern sprechen), wodurch den jeweiligen Texten eine Dimension hinzugefügt wird. In dieser zusätzlichen Dimension des Zusammenschnitts setzt die Einheit ihre geistige Arbeit fort. So ge-

89 Watson: Die Beat Generation, S. 311. 90 Sontag: William Burroughs und der Roman, S. 161. 91 Ebd., S. 159f.

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sehen kann auch ein äußerst zerstückeltes Werk noch als Gesamtwerk oder Opus Magnum angesehen werden.“92

Folgt man Deleuze und Guattari, so ist auch die literarische Arbeit von Burroughs davon geprägt, rhizomatische Gefüge auszubilden. Dennoch entsteht durch die Cut-up-Technik, laut Deleuze und Guattari, oftmals nur ein „Nebenwurzel-System“93, bei dem die Hauptwurzel verkümmert ist, während eine Vielzahl an Nebenwurzeln wild wuchern. Das ‚Nebenwurzelbuch‘ bricht somit nicht mit dem Dualismus, mit der Komplementarität von Subjekt und Objekt, von natürlicher und geistiger Realtät. Das Buch bleibt Abbild unserer Welt.94 Die Rezeption der Cut-up-Literatur setzte in der deutschsprachigen Literatur mit der 1969 erschienenen und von Carl Weissner herausgegebenen Anthologie mit dem bezeichnenden Titel Cutup. Der sezierte Bildschirm ein, die neben Textbeiträgen von Burroughs, Gysin und Jürgen Ploog unter anderem auch eine programmatische Einleitung des Herausgebers enthält. In diesem im Cut-up-Stil gehaltenen Essay weist Weissner u. a. auf Tristan Tzara, James Joyce, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire, die Surrealisten, die Manieristen, Athanasius Kirchners Wortkombinationsmaschinen und das Cross-Column-Reading Caleb Whitefords hin und entwirft somit eine weit zurückreichende Geschichte der experimentellen Literatur.95 Die Anwendung des Cut-up-Verfahrens auf die literarische Rede bietet, laut Jürgen Ploog, der neben Carl Weissner, Jörg Fauser und Hadayatullah Hübsch zu den wichtigsten deutschen Cut-up-Autoren zählt96, potentiell die Möglichkeit, die Wörter aus ihrem assoziativen Umfeld zu lösen und „die unbewußt eingepflanzten assoziativen Auren dieser Wörter“ zu negieren: „Die Sprache ist ein Kontrollinstrument, und wenn ich sie [...] in konventioneller Form verwende, bin ich Teil dieses Kontrollsystems. Welche Möglichkeit habe ich nun, mich diesem Kontrollsystem zu entziehen oder es umzudrehen, zu analysieren und dadurch zu neutralisieren? Und ein Weg dazu ist halt der Schnitt.“97

92 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 15. 93 Ebd. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. Weissner: Anti-Environment, S. 7-16. 96 Zur Geschichte der Cut-up-Literatur in Deutschland vgl. Fahrer 2009. 97 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 70.

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Ploogs erster Roman Cola-Hinterland erscheint ebenfalls im Jahr 1969 und verdeutlicht – ganz der Cut-up-Literatur von Burroughs verpflichtet – Ploogs Wunsch, die von der Mediengesellschaft geschaffenen ‚Kontrollmechanismen‘ im wahrsten Sinne des Wortes zu ‚zerschneiden‘. Wie Ploog anmerkt, geht es ihm um „die Immunisierung gegen diese Medienwelt“: „Es geht um die Ursachen, nicht um die Oberfläche. Insofern bin ich Anti-Pop. Hinter der Oberfläche stehen die Mechanismen, und die interessieren mich.“98 Im Bereich des modernen Theaters, der bildenden Kunst, des Films und der Performance habe sich, so Ploog in einem Essay aus den Jahr 1972, schon längst ein „lockerer, dekohärenter, polyskopischer, aleatorischer Umgang mit den Darstellungselementen durchgesetzt“, der primär dazu dient, mit den „starren Inhaltsformen“ zu brechen, um u. a. der ‚subliminalen‘ Kontrolle durch die Medien zu entkommen.99 Um diese neuen ästhetischen Verfahren auch in die Literatur zu übertragen, wendet Ploog in Cola-Hinterland das Cut-up-Verfahren an und vermengt u. a. Science-FictionElemente und Topoi der Reiseliteratur zu einer hybriden, oftmals obszön und surreal anmutenden Geschichte. Dabei zeigt er exemplarisch „die Entwicklungsmöglichkeiten des Verfahrens vom harten Text-Schnitt bis zu länger angelegten Bögen und amalgamischen Materialverschleifungen“ auf, die „viel von dem vorwegnehmen, was in jüngster Zeit als ‚literarisches DJ-ing‘ firmiert“, wie auch Johannes Ullmeier konstatiert.100 Der direkte Verweis sowohl auf die Techno-Musik und DJ-Culture als auch auf die im Zuge dieser Entwicklung aufkommenden literarischen Kompositionstechniken mag nur im ersten Moment verwundern. Wie Wolfgang Kos in seinem Vorwort zu Steven Watsons Analyse der Beat-Generation erklärt, führt ein direkter Weg von der in der Beat-Literatur spürbaren „Bereitschaft zur permanenten Zerlegung und Neuzusammensetzung“ zu den heute üblichen „MusikstudioPraktiken wie Mixen, Remixen und Sampling“.101 In Burroughs 1987 im Original erschienenen Roman Western Lands, der den Abschluss einer Trilogie bildet, zu der zudem die Werke Die Städte der Roten Nacht (1981) und Dead Roads (1984) gehören, findet sich eine Passage, die anmutet, als seien die radikalen Sprachexperimente für Burroughs nun an ihr Ende gelangt: „Der alte Schriftsteller konnte nicht mehr schreiben, denn er hatte das Ende aller Worte erreicht, das Ende dessen, was sich mit Worten sagen läßt.“102

98 Zitiert nach ebd.; vgl. auch Ploog: Straßen des Zufalls. 99 Ploog: Die erweiterte Rezeptionstheorie, S. 213. 100 Ullmaier 2001, S. 189. 101 Kos: Vorwort zu Die Beat Generation, S. VII. 102 Burroughs: Western Lands, S. 302.

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2.2.2 Sonische Wechselwirkungen: Joujouka-Klänge, Tape-Experimente, Dub-Musik und Industrial-Culture Susan Sontag sieht in Burroughs’ schriftstellerischem Schaffen zwei scheinbar diametrale literarische Ansätze aufscheinen, die sich zwangsläufig bei seiner Suche nach komplexeren Formen des Romans herausgebildet hätten. Einerseits sei Burroughs, so Sontag, der Überzeugung gewesen, dass „der Roman sich selbst reinigen“ und gleichsam „die streng literarischen Ausdrucksmittel vervollkommnen“ muss, die „der Literatur (im Gegensatz zur Unterhaltung, Ermahnung und ‚Kommunikation‘) eigen sind“; andererseits sei, konstatiert Sontag, Burroughs Werk auch von der Vorstellung geprägt, dass „die Beschränkung auf das rein ‚Literarische‘ stets ein Hindernis für das lange, aus der Einbildungskraft des Autors erwachsene Prosawerk dargestellt hat und daß eine Übernahme von Techniken anderer Medien (die schließlich zu einer Synthese der Künste führt) längst überfällig ist“.103 Wie auch Andreas Kramer ausführt, ist in den von Burroughs angewandten Cut-up- und Fold-in-Techniken der „Schritt zur medialen Grenzüberschreitung“ schon angelegt. 104 Diese Tatsache führte unweigerlich dazu, dass Burroughs die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Verfahren auch auf audiovisuelle Medien (wie z. B. Fotos, Filme, Tonbänder) übertrug, indem er beispielsweise heterogene Stimmen und Geräusche aufnahm und im nachfolgenden Arbeitsgang collagierte oder sogar verzerrte. Vereinfacht wurde diese Arbeitsweise vor allem durch die Einführung der Tonbandkassette Anfang der sechziger Jahre durch die Firma Philips. Das einfachste Cut-up mit dem Tonbandgerät bekomme man, erklärt Burroughs, „wenn man zunächst irgend etwas aufnimmt und das dann aufs Geratewohl zerschneidet – die Wörter an den Schnittstellen werden natürlich gelöscht –, man erhält so sehr interessante Nebeneinanderstellungen“.105 Mit dem Tonband, erklärt Burroughs könne man z. B. „allerlei Dinge tun, die sich auf keine andere Weise erreichen lassen – Effekte der Gleichzeitigkeit, Echos, Beschleunigungen, Verzögerungen, man kann drei Spuren gleichzeitig abspielen und so fort. Mit dem Tonband kann man vieles erreichen, das sich mit dem gedruckten Wort unmöglich ausdrücken läßt. Das Konzept der Gleichzeitigkeit läßt sich mit dem gedruckten Wort nicht verwirklichen, höchstens sehr unvollkommen durch die Verwendung mehrerer Spalten, und selbst dann muß der Leser die einzelnen Spalten

103 Sontag: William Burroughs und der Roman, S. 163f. 104 Kramer 2003, S. 34. 105 Burroughs: Der Job, S. 12.

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nacheinander verfolgen. Wir sind es gewohnt, von links nach rechts zu lesen, und diese Gewohnheit zu durchbrechen, ist schwierig.“106

Mit der Ausweitung der Cut-up-Methode auf audiovisuelle Medien verband Burroughs – ebenso wie bei den literarischen Experimenten – den Wunsch, die eingefahrenen, von den Medien und vom Establishment produzierten Sprach- und Denkmuster zu zerstören. Die Anregung zu dieser medialen Erweiterung der Cut-up-Methode erhielt Burroughs unter anderem von dem schottischen Autor Alexander Trocchi, der unter dem Namen „Projekt SIGMA“ eine schleichende Kulturrevolution plante, die in eben dieser Mediensubversion bestand.107 Primär, so Burroughs, lasse sich z. B. mit einem Tonbandgerät „das hypnotische Gemurmel der Massenmedien schneiden und in veränderter Form auf die Straße bringen“108, so dass „die Massenmedien unter einem Schwall von Fiktionen begraben“ werden.109 In seinem Essay Die elektronische Revolution geht Burroughs sogar so weit, zu behaupten, dass Cut-up-Tonbänder nicht nur dazu verwendet werden, bestimmte von den Massenmedien durch ihre Flut an Bildern und Worten erzeugte „Assoziationsreihen“ zu zerstören, sondern zudem, wenn man sie auf der Straße abspielt, als „revolutionäre Waffe“ dienen können.110 Ausgehend von der Vorstellung, dass die menschliche Sprache einem „Virus“ vergleichbar ist, der sich oftmals unbemerkt in den Wirtskörper einnistet und immer weiter verbreitet, kam Burroughs zu der Überzeugung, dass man diesen ansteckenden Erreger u. a. mittels technischer Medien aktivieren und gezielt einsetzen kann. Allein schon durch „simples Playback“, d. h. Abspielen einer Aufnahme an ihrem Ursprungsort, so Burroughs, könne man einen Effekt auslösen.111 Eine noch stärkere Wirkung erziele man jedoch, erklärt Burroughs, wenn

106 Ebd., S. 13. 107 Vgl. Kramer 2003, S. 35. Mit seinem Roman Kains Buch (erschienen 1967 im InselVerlag) hat Alexander Trocchi zudem ein Pendant zu Burroughs Werk Naked Lunch verfasst. 108 Burroughs: Die elektronische Revolution, S. 27. 109 Ebd., S. 34. 110 Ebd., S. 24. 111 Burroughs: Die elektronische Revolution, S. 17. In Nova Express schreibt Burroughs: „Man nimmt sich zwei feindliche Interessengruppen vor – Von Gruppe 1 zeichnet man die schlimmsten Gewaltandrohungen in bezug auf Gruppe 2 auf, und das spielt man dann der Gruppe 2 vor – Man nimmt deren Antwort auf und spielt sie der Gruppe 1 vor – Ein ständiges Hin und Her zwischen feindlichen Interessengruppen – Der Vorgang ist bekannt als ‚Feedback‘ –“ (S. 625f.).

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man zusätzlich die Aufnahmen bearbeite: So können, laut Burroughs, manipulierte Bänder dazu dienen, Gerüchte zu verbreiten, politische Gegner zu diskreditieren und Krawalle auszulösen. Würde man z. B., laut Burroughs, eine Anzahl sogenannter ‚Tonbandagenten‘ zur Hauptverkehrszeit auf die Straße schicken, könne man beobachten, wie schnell sich Worte verbreiten. Ebenso könne man z. B. die Rede eines Politikers verfremden und ihn in Misskredit bringen. Würde man, so Burroughs, inmitten einer friedlich demonstrierenden Menschenmenge mittels Tape-Rekorder Geräusche von Krawallen abspielen, würde dies zwangsläufig zu einer Eskalation der Situation führen.112 Trotz dieser mediensubversiven Haltung hat Burroughs auch immer wieder auf den Unterhaltungswert von verzerrten Ton- und Filmaufnahmen hingewiesen und beschreibt in Die elektronische Revolution u. a. ein fiktives Musikfestival, bei dem die oben beschriebenen Techniken dazu dienen, den anwesenden Zuschauer und Zuhörer mit einem multimedialen und interaktiven Spektakel ein unvergessliches Vergnügen zu bereiten: „Eine Anzahl von Tonbandgeräten wird im Wald und im Dorf installiert. So viele wie möglich, damit ein Netz von Sound über das ganze Festival gelegt wird. Abgespielt werden Bänder mit Musik, Nachrichtensendungen, Aufnahmen von anderen Festivals usw. Ein Teil der Tonbandgeräte spielt ständig ab, ein Teil nimmt auf. Aufgenommen werden natürlich nicht nur Live-Geräusche des Festivals, sondern auch die abgespielten Konserven. Die Anwesenden werden also in das ganze einbezogen und hören ihre eigenen Stimmen von den Tonbändern wieder. Abspielen, Zurückspulen und Aufnehmen könnte in wechselnden Abständen elektronisch gesteuert werden. Oder die Geräte könnten von Hand bedient werden und jeder könnte selbst entscheiden, wann er aufnehmen, zurückspulen oder abspielen will.“113

112 Burroughs: Die elektronische Revolution, S. 24-26. Dieser Vorstellung bediente sich auch die englische Anarcho-Punk-Band Crass, als sie 1984 anonym Kassetten an Zeitungen verschickte, die mit einem fingierten Telefongespräch zwischen dem damaligen US-Präsidenten Reagan und der englischen Premier-Ministerin Thatcher bespielt waren, in dem Reagan unter anderem den Plan zugab, im Kriegsfall große Teile Europas durch Einsatz von Nuklearwaffen zerstören zu wollen. Diese Aussagen auf den sogenannten Thatchergate-Tapes wurden von staatlicher Seite dementiert. Man verdächtigte den sowjetischen Geheimdienst als Urheber dieser Verschwörung. Die Band Crass bekannte sich zur Herstellung der Tapes und benutzte das große Medieninteresse, um ihre Kritik an der Gesellschaft und dem politischen System in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Sterneck 1998, S. 275f.; Berger 2009). 113 Burroughs: Die elektronische Revolution, S. 36.

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Bei diesen sehr weitreichenden Überlegungen zur Akustik und Musik, die zum Teil auch heute noch als Inspirationsquelle für eine große Anzahl an Musikern dienen, ist es erstaunlich, dass Burroughs in den sechziger und siebziger Jahren kaum Ambitionen zeigte, sich auch im musikalischen Bereich kreativ zu betätigen. Viele Aussagen Burroughs’ weisen darauf hin, dass er sich vielmehr als Außenseiter, Beobachter und Rezipient von musikalischen Entwicklungen verstand, der nach anfänglichem Zögern zwar ein gewisses Interesse an Klangexperimenten entwickelte, dennoch aber die Literatur als seine eigentliche Profession verstand. Die oben beschriebenen Tape-Experimente schienen vorerst für ihn nichts weiter zu sein als der Versuch, seine Arbeit mit den Worten auszuweiten und die daraus resultierenden Erfahrungen für sein weiteres literarisches Werk zu benutzen. Ebenso wie die Cut-up-Experimente mit eigenen und fremden Texten bot auch der Tape-Recorder für Burroughs primär die Möglichkeit, aufgenommene Texte zu zerschneiden und zu verfremden, um in einem weiteren Schritt die neu entstandenen Fragmente als Inspirationsquelle zu benutzen und wieder, sei es auch in abgewandelter Form, in die eigene Textproduktion einfließen zu lassen. Burroughs sah das Tonband als ein Werkzeug an, welches das Seziermesser bzw. die Schere ersetzt und ihm noch weiterführende literarische Experimente ermöglichte. Seine Arbeit mit dem Tape-Recorder diente also zunächst nicht dazu, auch musikalisch aktiv zu werden, sondern verfolgte einzig und allein den Zweck, seine literarischen Experimente voranzutreiben. Diese Vorstellung bestätigt auch das Faktum, dass z. B. ganze Textabschnitte aus dem Roman Nova Express auf Abschriften von Tape-Experimenten basieren.114 An anderer Stelle in Nova Express spricht Burroughs dann auch davon, dass es mit einer gewissen Übung möglich sei, die Ergebnisse der Tape-Experimente auch „mit dem Kopf“ bzw. mit dem „‚Hirn-Band‘“ zu erzeugen, d. h. ganz ohne technische Hilfsmittel, sondern nur mit der reinen Einbildungskraft.115 Auch die ersten Aufnahmen, die Burroughs 1965 unter dem Titel Call Me Burroughs auf dem Label ESP veröffentlichte, beinhalten reines Spoken-WordsMaterial: Burroughs liest auf diesem Album mit ausdrucksstarker und akzentuierter Intonation u. a. Auszüge aus Naked Lunch sowie Nova Express und verzichtet dabei gänzlich auf jedes Tape-Experiment. Was bei diesen Aufnahmen zählt, ist die markante Stimme von Burroughs, die den Text durch Pausensetzung und Betonung strukturiert und transparenter erscheinen lässt.116 Die suggestive Wirkung, die diese Aufnahmen auch noch heute auf den Hörer ausüben,

114 Vgl. z. B.: Burroughs: Nova Express, S. 649. 115 Ebd., S. 643. 116 Vgl. Beyer: The Audible Generation, S. 188.

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lässt sich einerseits erklären durch den vereinnahmenden Klang, den die Stimme von Burroughs besitzt, andererseits aber auch durch die sehr rhythmische und repetitive Struktur der vorgelesenen Textfragmente. Dabei tritt die semantische Bedeutung der Worte oftmals in den Hintergrund und die einzelnen vorgetragenen Textpassagen wirken wie Mantras bzw. Beschwörungsformeln, die auch ohne Kenntnis der einzelnen Wortbedeutungen ihre ganz eigene magische Kraft entfalten, wie auch Marcel Beyer schreibt: „Man hat weniger den Eindruck, daß dort jemand aus einem Manuskript vorlese, als daß ein Sprecher präsent sei. Die Bedeutung der Worte, die dort gesprochen werden, ist erst einmal zweitrangig. Die Stimme wirkt auf den Hörer, ohne daß sie unbedingt [...] verstanden werden muß. [...] Das Zurückdrängen, dann das Verschwinden von Wortbedeutungen zugunsten der Konzentration auf den Klang einer Stimme mag geradezu notwendig sein für das Erleben einer solch suggestiven Wirkung. Indem sich die Sprache aus der Kontrolle der Denotation löst, gerät sie in die Nähe von Musik. Dabei hat sie jedoch weitaus größere Kraft als ein mit Instrumenten geschaffenes musikalisches Geschehen, da sie nicht durch die Manipulierung fremden Materials entsteht, sondern aus dem menschlichen Körper heraus sich entfaltet.“117

Wie diese Ausführungen deutlich machen, war sich Burroughs der suggestiven und magischen Kraft der Stimme durchaus bewusst. Vielleicht erklärt sich dadurch auch, warum er später auf Anregung u. a. von Brion Gysin und dem Schriftsteller Paul Bowles ein ausgesprochenes Interesse an der arabischen Musik entwickelte, die sich durch ein für europäische Ohren fremdartig klingendes Tonsystem auszeichnet, das ganz spezifische Intervallsprünge besitzt. Zudem weist die arabische Musik stark rhythmisch-zeitliche Strukturen auf, die viel Raum für Improvisation bieten, und ihre Aufführung ist durchweg an feste Anlässe (religiöser oder weltlicher Art) gebunden.118 Der Stimme kommt dabei eine ganz besondere Bedeutung zu: Die Intensität, mit welcher der Zuhörer das musikalische Erlebnis erfährt, wird im arabischen als „tarab“ bezeichnet: „Der Intensitätsgrad des tarab hängt in erster Linie von der Stimme und der Vortragsweise des Sängers ab. [...] Die musikalische Gegenüberstellung von Vertrautem und Fixiertem auf der einen und Neuem, frei Gestaltetem, jedoch Verwandtem auf der anderen Seite

117 Ebd., S. 187-189. 118 Vgl. Touma: Die Musik der Araber, S. 16-18.

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schafft im allgemeinen eine Spannung, deren Auf und Ab den tarab beim Zuhörer hervorruft.“119

Marcel Beyer konstatiert, dass sich diese Beschreibung des „tarab“ ohne Umstände sowohl auf die oben beschriebene Vortragsweise von Burroughs als auch auf seine Schreibweisen und seinen Umgang mit den unzähligen Textfragmenten, die im Laufe der Jahre entstanden waren, übertragen lässt.120 Scheinbar begegnete Burroughs der arabischen Musik zunächst mit Unverständnis, empfand ihren stark rhythmisch orientierten Aufbau, ihre Vorliebe für Freiräume und Improvisation und ihre parenthesenhafte, nie enden wollende Struktur aber zugleich als inspirierend für seine literarische Arbeit: „Ein Roman, der aus Fakten besteht, so wie ich sie sehe und fühle. Wie kann er einen Anfang oder ein Ende haben? Er läuft einfach eine Zeitlang dahin und hört dann auf, wie arabische Musik. Ich höre Araber im Nachbarhaus. Diese Musik geht immer weiter, auf und ab. Wieso wird sie ihnen nicht langweilig, so daß sie aufhören. Sie sagt gar nichts, führt nirgendwohin. [...] Ist diese Musik traurig, düster, sentimental? Drückt sie irgendwelche tiefen menschlichen Gefühle aus? Wenn ja, dann empfinde ich sie nicht.“121

Die arabische Musik wird bestimmt von der mosaikartigen Aneinanderreihung musikalischer Formelemente, die stetig wiederholt, kombiniert und vertauscht werden122, was Burroughs auf die Idee brachte, wie er mit seinen unzähligen Routines, die zudem von endlosen Parenthesen und Permutationen geprägt waren, verfahren könnte, um sie zu einem Roman zu verdichten. Sein Interesse an musikalischen Formen, deren Aufbau nicht den mitteleuropäischen Kompositionsprinzipien gehorcht, zeigt sich zudem auch darin, dass er sich, ebenfalls auf Anregung von Brion Gysin, mit dem lokal begrenzten Phänomen der Joujouka-Musik beschäftigte: In dem von Gysin in Tanger eröffneten Restaurant mit dem Namen 1001 Nights hörte Burroughs zum ersten Mal die Master Musicians Of Joujouka spielen, die aus einem kleinen Dorf in den nordmarokkanischen Rifgebirgen stammen und sich dem Sufi-Mystizismus und Paganismus verbunden fühlen. Die Master Musicians Of Joujouka, deren Musik von dem Vater auf den Sohn übergeht, ohne dass sie notiert bzw. in Notenschrift übertragen wird, sehen sich nicht nur als reine Dorfmusiker, sondern als Künst-

119 Ebd., S. 183f. 120 Vgl. Beyer: The Audible Generation, S. 189. 121 Burroughs: Interzone, S. 103. 122 Vgl. Touma: Die Musik der Araber, S. 18.

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lerelite, deren Vorfahren ursprünglich im 9. und 10. Jahrhundert aus Persien kamen und seit dem 13. Jahrhundert das Privileg besaßen, die Hofmusiker der marokkanischen Sultans zu ernennen. Die Musiker sind zudem per Regierungserlass davon befreit, einer regulären Arbeit nachzugehen; vielmehr verbringen sie Zeit damit, sich in ihren musikalischen Fähigkeiten zu schulen. In mehrstündigen rituellen Sequenzen entwickelt die Joujouka-Musik eine hypnotische Wirkung, die sowohl die Musiker als auch die Zuhörer in einen tranceartigen Zustand versetzen soll. Die Musik schreitet endlos fort, besitzt keine Motiventwicklung und folgt keiner Hierarchie, sondern ist von stetigen Einfügungen und Improvisationen bestimmt. Die kaleidoskopartig angeordneten Elemente der Joujouka-Musik scheinen auf ein Jetzt zuzulaufen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen. Ihr wird zudem eine magische und heilende Wirkung zugesprochen und sie ist oftmals an bestimmte Anlässe gebunden, wie z. B. dem einmal im Jahr stattfindenden Bou Jeloud-Fest, dem Fest des Ziegengottes.123 Burroughs’ Interesse an der Joujouka-Musik führte dazu, dass er 1972 zusammen mit Brian Gysin ein Festival der Joujouka-Musik besuchte und dort eigene Aufnahmen machte, die er später u. a. für sein Album Break Through in Grey Room (Sub Rosa 1986) verwendete.124 Ebenso wie bei der arabischen Musik faszinierte Burroughs an der Joujouka-Musik ihre vorwiegend rhythmische, kontinuierliche und repetitive Form sowie ihr magischer und ritueller Charakter. Es ist daher davon auszugehen, dass ihn sowohl die arabische als auch die marokkanische Musik primär dazu angeregt haben, die Auswahl seiner Cut-upFragmente und Routines nach Klangstrukturen bzw. Klangbeziehungen zu treffen, zumal Burroughs' Vortragsweise, wie oben aufgezeigt, stark von seinem Interesse an Rhythmus und Akzent geprägt ist. Seit Burroughs diese für Mitteleuropäer ungewöhnliche Form der Musik für sich entdeckt hat, scheint sie sowohl seine Schreibweisen als auch die klanglichen bzw. akustischen Komponenten seiner Texte zu bestimmen.125 Bisher war nur sehr einseitig davon die Rede, dass Burroughs bestimmte musikalische Stile als Ideengeber für den Aufbau und die literarische Praxis seiner Texte betrachtet hat. Welch starken Einfluss Burroughs’ Tape-Experimente und seine theoretischen Überlegungen zur Akustik auch auf die Entwicklung bestimmter musikalischer Strömungen hatte, zeigt u. a. folgende Begebenheit: Wie Marcel Beyer zu berichten weiß, reiste Burroughs aufgrund seines Interesses am Freibeutertum und an Kolonien, die im siebzehnten Jahrhundert in Mittelamerika

123 Vgl. Wolman/Miller: William Burroughs und die Joujouka-Musik, S. 167-169. 124 Vgl. Beyer: The Audible Generation, S. 190. 125 Vgl. Wolman/Miller: William Burroughs und die Joujouka-Musik, S. 172.

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von Piraten gegründet wurden, schon Mitte der sechziger Jahre nach Jamaika. Die Westindischen Inseln boten dabei ein ideales Reiseziel, da sich dort abtrünnige Piraten gegen Engländer und Spanier behauptet hatten. Bei seinem Besuch in Jamaika, so Marcel Beyer, fand sich Burroughs schon bald von sogenannten Rude Boys, die aus den Ghettos von Kingston stammten und sich trotz ihres niedrigen sozialen Status immer nach den neuesten modischen Trends kleideten, umringt, die mit großem Interesse seinen kurz zuvor in London mit Ian Sommerville erstellten Tonband-Experimenten und seinen Theorien lauschten. Unter den Zuhörern sollen sich seinerzeit auch Lee ‚Scratch‘ Perry und der ReggaeToningenieur King Tubby befunden haben, die in den folgenden Jahren aufgrund ihres experimentellen und sehr exzentrischen Umgangs mit dem musikalischen Material und der Studiotechnik maßgeblich die Entwicklung der jamaikanischen Sound-Systems und der Dub-Musik vorangetrieben haben.126 Jamaikanische Sound-Systems waren und sind mobile Diskotheken, die sowohl aus einer Anzahl sogenannter Deejays und Selektors bestand als auch aus einer Crew, die sich um die Boxen und Effektgeräte kümmerte. Während der Selektor die entsprechenden Platten auflegte, animierte der Deejay durch seine Sprüche bzw. Toasts das tanzende Publikum. Dieser über den musikalischen Hintergrund gelegte Sprechgesang, den die Deejays immer weiterentwickelten, bildete später auch die Grundlage für die Musikstile Rap und Hip Hop. Die ersten jamaikanischen Sound-Systems formierten sich schon Anfang der sechziger Jahre und veranstalteten Dances oder Bashments in entsprechenden Räumlichkeiten oder auf freien Plätzen, wobei es oftmals darum ging, die konkurrierenden Sound-Systems sowohl in der Lautstärke als auch in der Klangqualität und in der Musikauswahl zu übertreffen. Die Musik, die dabei gespielt wurde, war eine Mischung aus Ska, Rocksteady, Reggae und Dub. Burroughs literarische Technik des Cut-ups und seine Tonband-Experimente scheinen auch Lee ‚Scratch‘ Perry und King Tubby dazu inspiriert zu haben, sich in ihr zu jener Zeit noch recht spartanisch eingerichtetes Studio zu begeben und mit der vorhandenen Technik und dem musikalischen Material zu experimentieren. Unter dem Begriff Dub versteht man einen auf Reduktion angelegten Musikstil, bei dem es, im Gegensatz zu der in der populären Musik bis dahin üblichen Vorgehensweise, immer mehr Aufnahmespuren hinzuzufügen, darauf ankommt, die musikalische Textur auszudünnen und Songstrukturen aufzulösen. Dies wird durch Aus- oder Einblenden eines Tonsignals oder einer ganzen Tonspur erreicht, so dass oftmals nur noch Bass und Schlagzeug übrig bleiben. Dieses rhythmisch-melodische Grundgerüst, auch Riddim genannt, kann dann bei Live-

126 Vgl. Beyer: William S. Burroughs. Der Achtzigste Geburtstag, S.17.

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Auftritten oder bei Studioproduktionen entsprechend effektvoll mit weiteren Geräuschen, Stimm-Fetzen und Instrumenten angereichert werden.127 Diese Ästhetik der Reduktion führt letztendlich auch dazu, dass man eine große Anzahl an musikalischen Modulen erhält, die man immer wieder neu kombinieren kann, um weitere Tracks zu produzieren oder eine musikalische Sequenz zu verlängern. In seinem Buch Ocean Of Sound erklärt der Musikjournalist David Toop, dass z. B. die Dub-Idee, verschiedene Versionen eines Stückes anzufertigen bzw. fertig aufgenommene Musik immer wieder mit Effekten zu bearbeiten, die „Kultur der Remixe“, wie sie heute in der populären Musik üblich ist, vorweggenommen hat. Die Dub-Produzenten, so Toop, würden ihre Stücke so behandeln, als sei „Musik nicht Gegenstand des Copyrights, sondern Modelliermasse, die man nach Lust und Laune formen kann“.128 Oftmals wird die Dub-Musik deshalb auch als „Mutter aller Remixe“ bezeichnet129, was zudem darauf hinweist, welche Bedeutung diese spezielle Mixtechnik auch für die weitere Entwicklung der populären Musik besaß.130 Aber nicht nur der Umgang mit dem musikalischen Material, sondern auch mit Gesang und Stimme in der Dub-Musik gleicht dabei auffallend der Cut-upTechnik, wie sie von Burroughs bei der Produktion von Texten angewandt wurde: In der Dub-Musik wird die Stimme fast durchweg nur bruchstückhaft eingesetzt. Oftmals werden dabei bestimmte Textzeilen nur angespielt und mittendrin abgeschnitten, so dass eine Leere entsteht, die der Hörer selber füllen kann. Besonderen Reiz besäßen zudem, so Marcel Beyer, „bis zur Unkenntlichkeit zerstückelte Wortfetzen, die über das gesamte Dub verteilt sind“.131 Wie weit Burroughs’ Einfluss bei dem Umgang mit Stimme und Worten im Bereich der Dub-

127 Vgl. Bade: Worte wie Feuer, S. 70. 128 Toop: Ocean Of Sound, S. 135. 129 Beyer: Dub. Die Mutter aller Remixe, S. 40. 130 Dub als Methode der Klangmanipulation – radikale Neubearbeitung fertig produzierter Vokal-Stücke und Instrumentals durch z. B. Echo- und Hall-Effekte, den Einsatz von Flanger- und Phasing-Effekten, der Manipulation von Höhen und Tiefen etc. – hat u. a. so unterschiedliche Musikstile wie Disco, Punk und Postpunk, Krautrock, Afrobeat, HipHop, Ambient, Techno, Postrock, TripHop, Jungle und Dubstep beeinflusst. Zudem bestimmt Dub bis dato auch die Gestaltung des Sound-Designs elektronischer Instrumente und findet Eingang in der Ausstattung von digitaler Musiksoftware. Dergestalt beschreibt z. B. Christopher Partridge in seinem Werk Dub in Babylon ausführlich, welchen Einfluss die jamaikanischen Dub-Kultur auf den britischen Post-Punk und die britischen Sound-Systems ausgeübt hat (vgl. Partridge 2010). 131 Beyer: Dub. Die Mutter aller Remixe, S. 42.

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Musik reichte, zeigt z. B. auch das von Lee ‚Scratch‘ Perry und King Tubby aufgenommene Album Black Board Jungle Dub (Jet Star 1998): „Hier gibt es einen Track mit dem Titel ,Rubba, Rubba Words‘. Dabei handelt es sich um [...] eine Reminiszenz an den von Burroughs in den Sechzigern häufig verwendeten Schlachtruf ,Rub out the words‘. Ziemlich subtil gingen Tubby und Perry hier mit Burroughs’ theoretischem Erbe um: Burroughs wollte die Wörter ausradieren, um der menschlichen Sprache zu entgehen und in den Bereich des Schweigens vorzudringen. ,Rubba, Rubba Words‘ ist nun die Dub-Version zu dem von Perry produzierten AnthonyDavis-Stück ,Words‘. Die Gesangsspur wurde hierfür gelöscht.“132

Aufgrund der hohen Anzahl an jamaikanischen Immigranten entwickelte sich in Großbritannien schon in den sechziger Jahren eine Musikkultur aus SoundSystems und Plattenimporten aus Jamaika, die unter den englischen Jugendlichen sehr populär waren.133 Von dieser Entwicklung zeigt sich auch der englische Produzent und Toningenieur Adrian Sherwood beeinflusst, der seit den achtziger Jahren die Dub-Techniken vorantreibt und einer stilistischen Öffnung unterzieht: Auf seinen Alben fusioniert er den Dub-Reggae mit Industrial-, Postpunk-, World Music- und Dancefloor-Elementen. Erstaunlich ist dabei nicht nur, mit welcher Vehemenz Sherwood verschiedene musikalische Elemente kreuzt, sondern auch die Tatsache, dass auf unzähligen Produktionen von Sherwood verschiedene Versatzstücke von Burroughs-Aufnahmen Verwendung finden. 134 Obwohl Sherwood angeblich die Romane und Cut-up-Theorien von Burroughs nicht kennt, lassen sich sowohl in der Handhabung und Bearbeitung als auch beim Entstehungsprozess des musikalischen bzw. literarischen Materials erstaunliche Äquivalenzen zwischen Sherwood und Burroughs aufzeigen. Sherwoods Arbeitsweise scheint dabei wie eine direkte Anwendung verschiedener Thesen von Burroughs bzw. die Anwendung seiner Schreibtechniken auf die Musik zu sein.135 Ebenso wie Burroughs stetig einzelne Figuren, Sätze oder ganze Textabschnitte recycelt und alte Arbeiten mittels der Cut-up-Methode remixt, wobei er immer wieder auf ein umfangreiches, nie in seiner ursprünglichen Form veröffentlichtes Manuskript zurückgreift, schöpft Sherwood für seine musikalischen Produktionen aus einem Reservoir an Aufnahmen, die bei ihrer Entstehung noch gar nicht für einen bestimmten Track oder ein bestimmtes Album

132 Beyer: William S. Burroughs. Der Achtzigste Geburtstag, S.17. 133 Vgl. Hebdige: Cut’n’Mix. Culture, Identity and Caribbean Music, S. 92. 134 Vgl. Beyer: The Audible Generation, S. 181. 135 Vgl. ebd., S. 185.

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gedacht waren. Während Burroughs regelmäßig eine große Anzahl an Routines verfasst, die er dann bei entsprechender Gelegenheit und oftmals unter großer Mühe z. B. zu einem Roman zusammenstellt, nimmt Sherwood stetig immer neue Riddims auf, um die dabei entstehenden musikalischen Patterns erst später für einen Track zu verwenden. Beim Abmischen des musikalischen Materials geht Sherwood dabei ähnlich intuitiv vor wie Burroughs beim Verfassen einzelner Routines oder beim Zusammenstellen eines Romans. Die oben beschriebenen Arbeitsweisen haben zur Folge, dass in Burroughs Texten (wenn auch oftmals in abgewandelter Form) bestimmte Schlüsselsätze oder ganze Textsegmente wiederkehren und dem literarischen Material einen repetitiven Charakter verleihen, während auf den musikalischen Veröffentlichungen von Sherwood immer wieder eine Anzahl an musikalischen Mustern Verwendung findet.136 Doch damit nicht genug: Ähnlichkeiten ergeben sich auch noch bei der Erstellung der musikalischen bzw. literarischen Muster. Viele Textfragmente, die Burroughs für seine Romane und Erzählungen verwendet hat, sind im Gespräch oder innerhalb der Zusammenarbeit mit z. B. Brion Gysin, Ian Sommerville oder Kells Elvins entstanden.137 In seinem Vorwort zu dem Roman Nova Express erklärt Burroughs zudem, dass er zur Erstellung des Textes auf „zahlreiche Quellen“ zurückgegriffen habe und das Buch deshalb „das ‚Produkt‘ einer Vielzahl von lebenden und toten Autoren“ sei.138 Ebenso wie Sherwood, der stetig Musiker in sein Studio einlädt, damit diese ihm für sein umfangreiches Archiv z. B. weitere Riddims einspielen, greift auch Burroughs immer wieder auf im Kollektiv entstandene Textfragmente zu oder bearbeitet mit seiner Cut-up-Technik fremde Texte. Aber auch die Verwendung von Alltagsgeräuschen in der Dub-Musik gleicht frappierend dem Versuch Burroughs’, in seinen Romanen u. a. auch alle akustischen Sinneseindrücke (urbaner Krach, Umgebungslärm, Musik etc.) aufzuzeichnen bzw. in die Schrift zu transformieren. Marcel Beyer weist auch darauf hin, dass viele Dub-Stücke oftmals Hörspielcharakter besitzen, indem sie „Überraschungs-Gimmicks“ wie z. B. „Kuckucksuhren, Büffelherden, Weihnachtslieder auf der Hammondorgel“ in ihre Stücke integrierten oder durch geschickten Einsatz von Geräuschen und Effekten (wie z. B. Schüsse oder Polizeisirenen) „Real Life Situationen“ simulierten.139

136 Vgl. ebd. 137 Vgl. Burroughs: Nova Express, S. 575. 138 Ebd. 139 Beyer: Dub. Die Mutter aller Remixe, S. 42.

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Diese Technik, urbanen Krach zu sammeln und zu benutzen, um die Grenzen zwischen Musik und Umgebungsgeräuschen durchlässig werden zu lassen, findet ihr Äquivalent in dem 1964 erschienenen Roman Nova Express von Burroughs. Er erzählt dort die Geschichte von „Der Unterschwellige Kid“ [im Orginal: The Subliminal Kid], dessen „Agenten“ auf der Straße „Verkehrslärm und Unterhaltungen und Musik“ auf Tonband sammeln, um in einem weiteren Schritt diesen urbanen Lärm über eine große Anzahl an Abspielgeräten, die in der ganzen Stadt angebracht sind, dem System wieder zuzuführen: „[U]nd damit ließ er [,Der Unterschwellige Kid‘] in euren Straßen und unten am Fluß lang einen Schwall von Stimmen in sämtlichen Sprachen und einen Tornado von Geräuschen los – Wortstaub wirbelte durch Musikfetzen Autohupen und Preßlufthämmer in den Straßen – Das Wort, zerfetzt, zerstampft und zermahlen, explodierte und löste sich in Rauch auf –“140

Der ein oder andere Leser dieser Passagen mag sich vielleicht an das intensive Hörerlebnis erinnert fühlen, das ihm z. B. das 1990 auf dem Label Def Jam erschienene Album Fear Of A Black Planet der Hip Hop-Band Public Enemy aufgrund seiner enervierenden und verstörenden Cut-up-Geräuschkulisse aus Sirenen, Schüssen, Radioaufnahmen und Stimmfetzen vermittelt hat. Auch auf dem 1996 auf dem Label Asphodel veröffentlichten Album Songs Of A Dead Dreamer von DJ Spooky (bürgerlicher Name Paul D. Miller) scheint sich der ganze sonore Lärm einer Großstadt zu spiegeln: Wie der Klang von Hupen, Sirenen, Schreien etc. schießen einzelne Sounds aus dem organischen Fluss der Musik hervor und erzeugen im Hörer das Gefühl, durch eine urbane Landschaft zu wandern. Zu diesem Zweck verbindet DJ Spooky, laut eigener Aussage, oftmals eine Vielzahl von Stilen und Soundfragmenten zu einem rauhen und oftmals enervierenden Klanggebilde: „Mein Stil ist die Migration zwischen verschiedenen Einflüssen. Heraus kommt dieser seltsame, schwierig einzuordnende, chaotische Sound, den ich so mag. Die meisten DJs arbeiten sehr sauber, das ist okay, aber nicht meine Sache. Ich will mit meiner Art von DJing, das sich zusammensetzt aus unzähligen Cut-Ups und Scratches, versuchen, kulturelle Barrieren zu überwinden.“141

140 Burroughs: Nova Express, S. 714. 141 Zitiert nach Hartmann/Pettauer: DJ Spooky the subliminal Kid.

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DJ Spooky, der eine akademische Ausbildung in Philosophie und französischer Literatur besitzt und sowohl als Musiker als auch als Autor, Multimediakünstler und Dozent tätig ist142, bezeichnet sich in den Booklets zu seinen musikalischen Veröffentlichungen und in diversen Interviews und eigenen Texten selber oft als „The Subliminal Kid“ und verweist damit ganz direkt auf die Nähe zu den ästhetischen Verfahren, die Burroughs in Nova Express und in vielen anderen seiner Erzählungen und Romane beschrieben hat. In dem Booklet zur CD Songs Of A Dead Dreamer erklärt DJ Spooky, dass es seine Intention gewesen sei, ein hybrides musikalisches Gebilde zu erschaffen, „that would reflect the extreme density of the urban landscape“.143 Laut DJ Spooky ist die elektronische Musik „die Folkmusik der industriellen Welt. Der DJ führt sozusagen das Erbe des mittelalterlichen Barden fort, nur mit dem Unterschied, daß die Geschichten heute mit Rhythmen und Beats erzählt werden“.144 Dabei sieht DJ Spooky seine Arbeit vor allen Dingen darin, akustische Versatzstücke neu zusammenzufügen: „DJ culture – urban youth culture – is about recombinant potential. [...] Each and every source sample is fragmented and bereft of prior meaning – kind of like a future without a past. The samples are given a meaning only when re-presented in the assemblage of the mix.“145 DJ Spooky bezeichnet sich selbst als Grenzgänger zwischen bildender Kunst, Medientheorie und urbaner DJ-Culture, wobei er keinen Unterschied zwischen musikalischer und textlicher Produktion sieht: „DJing ist Schreiben und umgekehrt. Der einzige Unterschied liegt vielleicht in den historisch gewachsenen Arten des Zugangs: Lesen erfordert mehr Aufwand, du mußt lesen können, ein Buch nehmen, dich damit beschäftigen – aber das betrifft nicht die Sache selbst, sondern nur den Zugang. Wir haben mehrere Kulturtechniken nebeneinander, Lesen, Musik, Fernsehen... man muß dazwischen hin- und herschalten, statt sich auf eines zu beschränken.“146

Dergestalt finden sich auch heute noch u. a. im Bereich der elektronischen Musik viele Künstler, die sich direkt auf William S. Burroughs beziehen und ihre Inspiration sowohl aus seinem literarischen Werk als auch aus seinen Tonband-

142 Vgl. auch www.djspooky.com 143 Zitiert nach dem Booklet der CD Songs Of A Dead Dreamer. 144 Zitiert nach Christoph: DJ Spooky. Der Geist in der Maschine, S. 33. 145 Zitiert nach dem Booklet der CD Songs Of A Dead Dreamer. 146 Zitiert nach Hartmann/Pettauer: DJ Spooky the subliminal Kid. Vgl. auch Miller: Rhythm Science, S. 56-60; Miller: In Through the Out Door, S. 5-19.

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Experimenten erhalten. Zudem entlehnen bis dato nicht nur Bands verschiedener Stilrichtung ihre Namen147 oder den Titel ihrer Alben den Werken von Burroughs148, und immer wieder finden sich auch auf aktuellen Veröffentlichungen direkte Verbindungen zu der Ästhetik der Cut-up-Technik: 2011 brachte der Jazz-Saxophonist John Zorn in Anlehnung an das Textkonvolut Interzone, das Burroughs als Quelle seiner weiteren Veröffentlichungen diente und seinem Roman Naked Lunch vorausging, ein gleichnamiges Album auf dem Label Tzadick heraus. Die dreiteilige Suite, die Zorn zusammen mit einem Sextett eingespielt hat, ist sowohl mit ihren rasanten Schnitten und enervierenden Klängen als auch durch ihren Stileklektizismus eine direkte Hommage an Burroughs. Noch im gleichen Jahr erscheint auch die CD Nova Express auf dem Label Tzadick, deren Titel schon allein daruf verweist, dass sowohl die wüste Schnitt-Technik als auch die damit einhergehende Ästhetik des Partikularen, die Zorn seit jeher bei seiner musikalischen Arbeit betreibt, direkt der Cut-up-Technik von Burroughs abgeschaut ist. Nicht ohne Grund bezogen sich neben vielen Dub-Musikern und DJs auch sogenannte Industrial-Bands wie z. B. Throbbing Gristle oder Cabaret Voltaire mit ihrer zum Teil in Cut-up-Manier entstandenen Musik (einer Mischung aus elektronischen Klängen, verzerrten Rhythmen, Geräuschcollagen und dokumentarischen Aufnahmen) und ihren Performances immer wieder auf Burroughs’ Essay Die elektronische Revolution.149 Die Anfang der 1970er Jahre aufkommende sogenannte Industrial-Culture, zu der neben den obengenannten Bands auch SPK oder NON zählten, zeichnete sich unter anderem durch ihre autonomen Strukturen, den Einsatz von elektronischen Instrumenten und „non-musicalsounds“ (z. B. Industrie- und Alltagsgeräusche), die Verwendung von Video und Filmsequenzen, eine Schock-Ästhetik 150 und eine mediensubversive Haltung

147 So die 1972 gegründete amerikanische Band Steely Dan, die einen Stilmix aus Blues, Jazz, Rock und Funk spielte, oder die britische Artrock-Band Soft Machine. 148 Dergestalt betitelte die aus Bristol stammende Band Gravenhurst ihr 2007 auf Warp erschienenes Album The Western Lands. 149 Über den Zusammenhang von Industrial-Musik und Cut-up-Technik vgl. Valo/Juno: Burroughs, Gysin, Throbbing Gristle. 150 „Throbbing-Gristle-Konzerte gingen an die Grenzen des Erträglichen. Videoprojektionen zeigten Menschenversuche von KZ-Ärzten in direkter Verbindung mit Pornofilmen, während Peter Christopherson seinen eigens konstruierten Geräten sägende Sounds entlockte, die mit den Schmerzensschreien von Genesis P-Orridge eine so verstörende Mischung ergaben, dass das Publikum die Auftritte oft eigenhändig sabotierte [...].“ (Büsser: On the Wild Side, S. 112).

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aus.151 Die Industrial-Bands „adaptierten Strategien der modernen AvantgardeBewegungen“ und ihre Musik bot „Dokumente auditiver Destruktion“, wie auch Marcus Stiglegger konstatiert: „Tonspuren nahezu physisch wahrnehmbaren Lärms, kaum Struktur, kaum Variation, nur auditiver Schmerz.“152 Zudem gehörte, laut Wolfgang Sterneck, die „Auseinandersetzung mit gesellschaftlich tabuisierten Themen wie Perversion, Gewalt und Tod“ zum ästhetischen Programm der Industrial-Bands.153 Mit dieser „direkte[n], besonders extreme[n] Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit“ versuchten die IndustrialBands, laut Sterneck, die Menschen aufzurütteln und einer „Abstumpfung“ entgegenzuwirken.154 Throbbing Gristle „klangen zersetzend“ und sahen sich, nach eigenem Bekunden, als „musikalische Stadtguerilla“, der es – in direkter Anlehnung an Burroughs – vorwiegend darum ging, die „Mechanismen der Macht“ durchzuspielen, um „sie zu begreifen und sich gegenüber ihrer Verführung zu immunisieren“.155 Dergestalt erklärt auch Genesis P-Orridge, Sänger der Band Throbbing Gristle, dass ihre Musik und Auftritte vorwiegend dazu dienten, die von den Massenmedien vorgegebenen Denkmuster „kurzzuschließen“, um sich somit dem Kontrollprozess zu entziehen: „Der Feind ist [...] der Kontrollprozeß [...] Der Kontrollprozeß entwickelt Techniken und Geräte, die wir spielerisch zu unseren eigenen Zwecken einsetzen können. [...] Wir brauchen dieses System als Zielscheibe, als stimulierenden Gegenpol, gegen den wir ankämpfen können, und das System braucht eine skeptische, rebellische Minderheit, um deren flexible Perspektive ausbeuten zu können – eine Flexibilität, die ihm selbst aufgrund seiner rigiden Form nie möglich wäre.“156

Die Band Throbbing Gristle war aus dem 1969 in London gegründeten Performance-Projekt COUM Transmissions hervorgegangen, dessen Aktionen ganz in der Tradition des Wiener Aktionismus standen und mit denen die Gruppe versuchte, die Grenzen der Kunstszene auszuloten und zu verschieben. Doch nach und nach stellten die Mitglieder von COUM Transmissions fest, dass ihnen „die Abgrenzung der Kunst von der Populären Kultur und den Massenmedien“ nicht

151 Vgl. Valo/Juno: Industrial Culture Handbook, S. 5. 152 Stiglegger: Ästhetik der Auflösung. 153 Sterneck 1998, S. 135. 154 Ebd., S. 136. 155 Büsser: On the Wild Side, S. 111. 156 P-Orridge: Die Verbreitung von Information, S. 33.

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behagte; die Kunstwelt erschien ihnen als zu eng und zudem „weniger befriedigend als das wirkliche Leben“: „Für jeden interessanten Performance-Künstler gab es einen Psychopathen, Fetischisten oder verrückten Individualisten von der Straße, der etwas Ausdrucksstärkeres mit einem größeren sozialen Bezug kreierte.“157 Diese resignative Haltung mag dazu geführt haben, dass sich COUM Transmissions Mitte der siebziger Jahre endgültig auflösten. P-Orridge gründete zusammen mit Peter Sleazy Christopherson und Cosey Fanny Tutti die Industrial-Band Throbbing Gristle sowie das Plattenlabel Industrial Records158, um ihre Aktionen „in die bürgerlichen Medien zu tragen“ und „innerhalb dieser Öffentlichkeit ein[en] Gegenpol zu den herkömmlichen Berichten zu bilden“.159 In vielen Essays und Interviews behauptete P-Orridge immer wieder, dass man nicht an der Musik als solcher interessiert gewesen sei, sondern vielmehr an der Information, da die „Macht über diese Welt [...] in den Händen derjenigen“ läge, „die Zugang zur größtmöglichen Information haben und diese Information kontrollieren“.160 An anderer Stelle schreibt P-Orridge, dass das Hauptinteresse von Throbbing Christle der „metabolische[n] Musik“ gelte, d. h. den Klangcollagen, die auf den Stoffwechsel und die Körperfunktionen einwirken, mit dem Ziel, „soziale Zwänge im Denken und Körperverhalten zu dekonditionieren“.161 Aufgrund dieser Vorstellung habe sich seinerzeit, laut P-Orridge, von ganz alleine die Aufgabe ergeben, ihre eigene Musik so zu strukturieren, dass z. B. jene „Kontroll-Imprints kurzgeschlossen werden, welche uns die kommerzielle Musik aufgeprägt

157 Zitiert nach Sterneck 1998, S. 137f. 158 In einem Interview erklärt P-Orridge, dass man zuerst daran gedacht habe, das Label Factory Records zu nennen, „named after Warhol’s Factory and his idea of silkscreening painted pictures and then signing them. But we decided that was to obvious and that Warhol wasn’t really good enough!“ (Zitiert nach Valo/Juno: Industrial Culture Handbook, S. 11). 159 Sterneck 1998, S. 138. Von einer starken Verbindung von Throbbing Gristle zu Burroughs zeugt auch die Tatsache, dass Burroughs 1981 auf Wunsch von P-Orridge das Album Nothing Here But The Rcordings auf dem Label Industrial Records veröffentlichte, das frühe Tape-Experimente aus den Jahren 1959 bis 1978 enthält. 160 P-Orridge: Die Verbreitung von Information, S. 33. 161 P-Orridge: MUZAK, S. 5. Diese Aussage erklärt zudem das Interesse von P-Orridge an dem sogenannten Muzak-Konzept, das von der Vorstellung ausgeht, dass es möglich ist, eine Musik zu generieren, die angenehme Umgebungen simuliert oder das Leben in unangenehmen Umgebungen durch bestimmte, auf diese Umgebung abgestimmte Klänge angenehmer macht.

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hat“.162 Um die neurologische und physische Wirkung von Musik aufscheinen zu lassen und für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen, greifen Throbbing Gristle einerseits ganz bewusst die von Burroughs und Gysin entwickelte Cutup-Technik auf und experimentieren andererseits mit hochfrequenten Tönen, die beim Zuhörer starkes Unwohlsein (wie z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit) hervorrufen können.163 Auch Burroughs, der ein großes Interesse an den subtilen Klangexperimenten von Throbbing Gristle zeigte, weist in einem Essay, angeregt durch einen 1967 in der Sunday Times erschienenen Artikel, in dem von streng vertraulichen, elektroakustischen Experimenten im Hochfrequenzbereich berichtet wird, darauf hin, dass „der Grenzbereich zum Infraschall der Popmusik eine neue Dimension verleihen“ könnte.164 Auch Cabaret Voltaire, die aus Sheffield – einer von der Eisengießerei geprägten Industriestadt – stammten und sich nach dem Entstehungsort der DadaBewegung in Zürich benannten, fühlten sich, wie alle Vertreter der IndustrialCulture, einem „ästhetischen Terrorismus“ verbunden165: Die Band arbeitete dabei „radikal avantgardistisch und stellte archaische Musikformen immer wieder in Kontrast zu einer westlichen Kultur, die in ihrer Musik entweder als zerfahrener Lärm oder als kommerzielles Gedudel herbeizitiert wurde“.166 Durch die Verwendung von Industrie- und Baumaterial (wie z. B. Blech und Stahl), collagierten Originaltönen, ungewöhnlichen Aufnahmeverfahren und Tonbandloops produzierten sie „kühle Prä-Techno-Platten“167 und wurden so zu Pionieren der in den 1990er Jahren aufkommenden Bewegung.168 Mit ihrer mediensubversiven Haltung, dem Einsatz von elektronischen Instrumenten, der Ausschöpfung aller möglichen Studio-Praktiken und der Verwendung der Cut-up-Technik haben Bands wie Throbbing Christle oder Cabaret Voltaire einerseits den Techno-Underground beeinflusst, andererseits aber auch der experimentellen elektronischen Musik der 1980er und der 1990er Jahre (da-

162 Ebd. 163 Vgl. ebd. 164 William S. Burroughs: Infraschall, S. 17. 165 Büsser 2004, S. 114f. 166 Ebd., S. 115. 167 Ebd. 168 Vgl. ebd., S. 116f. Insbesondere die frühen, zwischen 1974 und 1978 entstandenen Aufnahmen von Cabaret Voltaire, die sehr rauh und minimalistisch anmuten, zeugen davon, wie sehr die Cut-up-Methode und die medienkritische Haltung von Burroughs als Inspirationsquelle für das musikalische Schaffen der Band diente. Nachzuhören auf der Triple-CD-Box Methodology ‘74/’78. Attic Tapes (Mute 2003).

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runter Musiker wie Aphex Twin, Squarepusher, Autechre, Mouse On Mars, Prefuse 73 alias Scott Herren und Underground Resistance169) und der extremen Spielart der Rock- und Crossovermusik (Nine Inch Nails, Ministry) maßgebliche Impulse verliehen. Auch Burroughs erkannte, dass sowohl in der Malerei als auch in der Musik die Cut-up-Methode von vielen Künstlern sehr weit vorangetrieben worden war und die Literatur dieser Entwicklung immer noch hinterherlief.170 Zwar hatte die Übertragung der Cut-up-Methode auf die Arbeit mit Texten der Literatur neue Wege eröffnet, aber zwangsläufig war sie dabei auch an ihre Grenzen gestoßen. So ist es nicht verwunderlich, dass Burroughs sich in den 1980er und ‘90er Jahren verstärkt der Malerei und der direkten Zusammenarbeit mit Musikern aus der Avantgarde-Szene widmete. Das führte dazu, dass Burroughs über Jahre mehr auf CD als gedruckt präsent war: Im Jahr 1990 erschien ein Album mit dem Titel Dead City Radio (Island Records), auf dem Burroughs’ Stimme hauptsächlich von orchestraler Musik begleitet wird. 1992 spricht Burroughs auf dem Stück Just One Fix (Sire Records) der amerikanischen Band Ministry171 und nimmt gegen Ende des Jahres zusammen mit Kurt Cobain von der Band Nirvana den fast zehnmütigen Track The „Priest“ They Called Him auf. Dabei liest Burroughs seine gleichnamige Weihnachtsgeschichte, während Kurt Cobain auf der

169 Gerade bei Underground Resistance, einem aus Detroit stammenden Label- bzw. DJKollektiv, das für die Ende der 1980er Jahre aufkommende Techno-Bewegung von entscheidender Bedeutung war, tritt das Verhältnis zu Burroughs’ mediensubversiver Haltung deutlich hervor: Underground Resistance setzen nicht nur ihre Musik als ‚sonische Waffe‘ ein, um die ‚Programmiertheit‘ des Menschen durch die Medien zu destruieren, sondern benutzten exzessiv auch das Trägermedium der Musik, die Vinylplatte, um über schriftlich eingeritzte Botschaften eine Dekonditionierung zu erreichen (vgl. Eshun: Heller als die Sonne, S. 136-150). Dergestalt heißt es in einem manifestartigen Text, der dem Album Revolution For Change (Network Records 1992) beigegeben ist: „Underground Resistance is a label for a movement. A movement that wants change by Sonic Revolution. We urge you to join the Resistance and help us to combat the mediocre audio and visual programming that is being fed to the inhabitants of earth, this programming is stagnating the minds of the people; building a wall between races and preventing world peace. It is this wall we are going to smash.“ 170 Vgl. Burroughs: Der Job, S. 17. 171 Die EP enthält zudem das Stück Quick Fix, dem Burroughs ebenfalls seine Stimme leiht.

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Gitarre eine stark verzerrte Version von „Silent Night, Holy Night“ („Stille Nacht, heilige Nacht“) improvisiert.172 Ein Jahr später zieht es Burroughs mit der experimentellen Industrial-PunkRap-Band The Disposable Heroes of Hiphoprisy wieder ins Studio, um das Album Spare Ass Annie And Other Tales (Island Records 1993) einzuspielen: Burroughs' rauhe Stimme, mit der er unter anderem Auszüge aus Naked Lunch, Nova Express und Interzone vorträgt, fügt sich mit Leichtigkeit in die (teils hektischen, teils dahinfließenden) Beats ein und wird selbst zu einem Teil der Instrumentierung. Mal gibt Burroughs mit seiner Stimme, ganz der Jazz-Improvisation verpflichtet, den Rhythmus vor, mal passt er sich im Tempo und in der Modulation seines Vortrags den anderen Mitspielern an. Burroughs nimmt dabei „dieselbe Position ein wie sonst ein Sänger oder Rapper, er macht seine Stimme hörbar“173. Die Stilvielfalt der auf Spare Ass Annie And Other Tales zu hörenden Musik reicht dabei von Jazz, Rap, HipHop und Funk bis hin zu Industrial, Hardcore und Punk. Dass es in diesem Fall angebracht erscheint, von einer ‚organischen Fusion‘ von Musik und Literatur zu sprechen, mag der Tatsache geschuldet sein, dass die auf der CD zu hörende Musik nach den Regeln der vom HipHop entwickelten Produktionsverfahren verwirklicht wurde und die Musiker zudem HipHop-Stilmittel (wie z. B. Sprechgesang, geloopte Geräusche, Breakbeats, Samples, Scratching etc.) verwendet haben. Die oben aufgeführten Beispiele bilden nur eine Auswahl aus einer kaum noch zu überblickenden Anzahl an musikalischen Veröffentlichungen, an denen Burroughs mitgearbeitet hat. Es ließen sich noch viele Belege anführen (Burroughs’ Zusammenarbeit mit dem Regisseur Robert Wilson und dem Musiker Tom Waits am Hamburger Thalia Theater, wo sie gemeinsam das Stück The Black Rider inszenierten174; seine Mitarbeit an einer von der Künstlerin und Sängerin Lauri Anderson initiierten Performance Home Of The Brave, die später sowohl als Film als auch als Album veröffentlicht worden ist175; seine Kollaboration mit dem Bassisten und Produzenten Bill Laswell für das Album Seven Souls, auf dem er Ausschnitte aus The Western Lands vorträgt176 etc.), die nahelegen, dass sich Burroughs nach und nach doch mit seiner Rolle als Vorbild für viele Künstler aus dem Bereich der populären Kultur abfand bzw. die Zusammenar-

172 Zu hören auf dem gleichnamigen Album, das 1993 durch das Label Tim/Kerr Records veröffentlicht wurde. 173 Beyer: The Audible Generation, S. 189. 174 Nachzuhören auf Tom Waits: The Black Rider, WEA 1995. Vgl. auch Breger 1995. 175 Nachzuhören auf Lauri Anderson: Home Of The Brave, Warner 1986. 176 Nachzuhören auf Material: Seven Souls, Virgin 1989.

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beit mit diesen als Bereicherung und als Möglichkeit der Erschaffung eines multimedialen Kunstwerkes ansah. Mittlerweile wird das „Cut and Paste“-Prinzip, d. h. das Schneiden und Zusammenkleben, sogar als „das Grundprinzip der populären Musik, wenn nicht gar des Populären überhaupt“ angesehen, wie Dietrich Helms und Thomas Phleps im Editorial des Sammelbandes Cut and Paste. Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart konstatieren: „Ganz gegenständlich fing es an: populäre Musik ist eine Konsequenz der Erfindung des Tonbandgeräts mit seinen unendlichen Möglichkeiten der Montage, die die Wirklichkeit zerteilen und immer wieder neu – und für den Hörer ebenso wirklich – zusammensetzen. Der Sound war geboren. Natürlich wurde auch davor kopiert und neu zusammengesetzt: als Zitat mit tiefer Verbeugung gegenüber dem Zitierten oder auch als klammheimliche Entlehnung zur Beschleunigung kreativer Prozesse. Doch was man heraustrennte und als Ornament in das eigene musikalische Gewebe einsetzte, war lediglich das geistige Eigentum eines anderen. Das Tonband und sein virtuelles Kind, der Sampler, machen es möglich, den Zitierten selbst herbei zu zitieren, dem Bestohlenen nicht nur die Seele, sondern auch die Stimme und so den Körper zu nehmen, um damit ein eigenes Image zu basteln.“177

Das Prinzip der Cut-up-Ästhetik hat sich zudem in vielen weiteren Bereichen als grundlegende Verfahrensweise durchgesetzt: „‚Hart‘ geschnittene Musikclips, Trailer, Werbespots, Computerspiele, Actionfilme, fragmentierte Arbeitsoberflächen, Split-Screen Settings, Web-Sites, SMS- und Chat-Botschaften, Layout-Styles, abrupte Zap- und Surfgewohnheiten – je neuer und populärer ein Format, eine Kulturtechnik, desto höher ist, so scheint es, die Systemanforderung an Perzeption und Akzeptanz von Schnitten.“178

177 Helms/Phleps 2006, S. 7. 178 Ullmaier: Cut-Up, S. 133.

3 Musik in Worten (Rolf Dieter Brinkmann)

3.1 D IE F IEDLER -D EBATTE „Warum hier haltmachen? Warum irgendwo haltmachen?“1

Zeit seines Lebens war der deutsche Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann davon getrieben, neue „‚Verkehrsformen‘ für Literatur zu entwickeln“2, um der literarischen Rede eine neue Vitalität und Mobilität zu verleihen. Brinkmann trachtete danach, im Medium Schrift die Kluft zwischen angeblich „‚hohen Kulturleistungen‘ für eine kleinere Elite und ‚niederen‘ Unterhaltungsprodukten“ zu überwinden, um zugleich die Grenze zwischen Autor und Leser, zwischen Kunst und Leben zu negieren; die Notwendigkeit, die „Literatur zu popularisieren“3 und damit die Grenzen der literarischen Praxis neu auszuloten und gegebenenfalls sogar zu überschreiten, ergebe sich, wie Brinkmann in seinem aus dem Jahr 1969 stammenden Essay Der Film in Worten anmerkt, zudem schon aus der nicht zu leugnenden Tatsache, dass das „Rückkopplungssystem der Wörter, das in gewohnten grammatikalischen Ordnungen wirksam ist, [...] längst nicht mehr tagtäglich zu machender Erfahrung“ entspreche.4 Das Aufkommen der Repräsentationsmedien hat, wie schon im Vorwort dieser Arbeit angedeutet, eine ‚neue Erlebnisweise‘5 konstituiert und die Hör- und Sehgewohnheiten des Menschen radikal verändert. Diese z. B. durch den Film

1

Brinkmann: Film in Worten, S. 224.

2

Ebd., S. 261.

3

Ebd.

4

Ebd., S. 223.

5

Vgl. auch Sontag: Die Einheit der Kultur, S. 342-354.

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und die Musik hervorgerufenen neuen Wahrnehmungsstrukturen zeichnen sich primär durch eine sinnliche Präsenz aus, deren Unmittelbarkeit und Intensität den traditionellen literarischen Stoffen und Formen scheinbar verschlossen bleibt. Eine Möglichkeit, „das tradierte Verständnis von Formen [...] aufzulösen“ und „die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich zu lassen“6, um diese neue Form des sinnlichen Erlebens in die Literatur zu transformieren, sah Brinkmann in der Erweiterung bzw. Ausweitung der vorhandenen starren Formen der literarischen Rede auf die populäre Kultur in allen ihren Ausprägungen (Film, Musik, Comics etc.). „Kunst schreitet nicht fort, Kunst erweitert sich“, schreibt Brinkmann demgemäß auch in seinem Essay Film in Worten.7 Brinkmanns Vorstellung, durch „das Verfolgen privater Vorlieben und Interessen den literarischen Ausdruck mit anderen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten (Musik, Malerei) zu verbinden“8, führt jedoch nicht zwangsweise dazu, dass der Künstler einen multimedialen Ansatz verfolgt und stetig zwischen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten auswählt oder diese sogar zugleich in seine Arbeit einbringt. Vielmehr geht es Brinkmann um die ,Nachbildung‘ der Reizmuster der populären Musik und des Films und um die direkte „Hereinnahme populären Materials“. 9 Nur durch diese Verfahrensweisen kann der Schriftsteller, laut Brinkmann, dem „Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter, der in tradierten Ausdrucksformen steckt“10, entkommen. Immer wieder spricht Brinkmann über die stimulierende Wirkung der populären Kultur, die auch der literarischen Rede neue, bis dato unentdeckte Wahrnehmungsformen erschließt und somit der überall in der literarischen Rede vorherrschenden „Lustfeindlichkeit und Unsinnlichkeit“11 entgegenarbeiten kann: „Nehmen Sie die Rock-Musik! (Durch Handhabung hochtechnischer Geräte provoziertes sinnliches Erleben: die Erschließung neuer Gefühlsqualitäten im Menschen.)“12 Es wäre verfehlt, wenn man Brinkmanns Plädoyer für eine Literatur, die sich an der populären Kultur orientiert und diese nicht abwertend beurteilt, sondern als Bestandteil des menschlichen Daseins begreift, als Aufforderung zu einer rein medialen Imitation versteht. Vielmehr dienen, so Brinkmann, z. B. filmische oder musikalische Verfahrensweisen zur Umwälzung der bis dato üblichen

6

Brinkmann: Film in Worten, S. 223.

7

Ebd., S. 232.

8

Ebd., S. 229.

9

Ebd., S.236.

10 Ebd., S. 246. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 239.

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Schreibweisen. Wobei seit jeher die populäre Musik als künstlerische Ausdrucksform gilt, die sich durch die Entgrenzung der bis dahin möglichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsstrukturen auszeichnet, da sie im Gegensatz zur Sprache zugleich mehrere Inhalte kommunizieren kann und in ihrer Bedeutungsfülle stärker von der subjektiven Betrachtung des Rezipienten abhängig ist. Die Musik scheint unmittelbarer sowohl auf den Körper als auch auf das Unterbewusstsein einzuwirken, zumal sie ein gegenwartsbezogenes Ereignis darstellt, das ganz und gar im Hier und Jetzt verankert und oftmals mit einer sozialen Praxis verbunden ist. Diese besondere sinnliche Qualität, die durch die Vielzahl an Bedeutungsebenen und die direkte physische Präsenz der Musik hervorgerufen wird, scheint dem Medium Sprache allgemein und der literarischen Rede im Speziellen zu entgehen. Eine Einbindung der besonderen Gefühlsqualitäten der Musik in die Literatur scheint nur durch eine Umformung bestimmter ästhetischer Prinzipien von einem Medium in das andere zu gelingen. Dementsprechend bezeichnet Jörgen Schäfer die sogenannte Pop-Literatur auch als „Resultat einer Transformation der Literatur im Zeichen von Pop, sie entsteht an der Schnittstelle, an der die Pop-Signifikanten im literarischen Text neu kodiert werden“.13 Bei diesen „intermedialen Austauschprozesse[n]“14 werden, so Schäfer, popkulturelle Prätexte – d. h. nichtliterarische Zeichensysteme aus anderen Medien – in die der Literatur übersetzt. Die populäre Kultur diene somit als Quelle und Ursprung für eine „subjektive Bedeutungsproduktion“, die zunächst „keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur erhebt, sondern sie als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens nutzt“.15 Jörgen Schäfer spricht von zwei Formen der Intermedialität, die dabei wirksam werden können: Da wäre, so Schäfer, zum einen die „Thematisierung“ von Populärkultur im literarischen Text hervorzuheben, die sich an einer Vielzahl semantischer Bezugnahmen festmachen lasse; zum anderen aber auch die „Realisierung“, welche sich durch die – versuchte und tatsächliche – Übernahme von strukturellen Prinzipien auszeichne.16 Verwirklicht sah Brinkmann diese Formen der Aneignung populärer Kultur vor allen Dingen in der amerikanischen Underground-Literatur, die mit ihren „Themen, Vorstellungen, Arbeitsmethoden“ schon „direkt oder indirekt auf die elektrifizierte, durch Elektronik veränderte Großzivilisation“ und die damit einhergehende Veränderung der menschlichen Wahrnehmung und Kommunika-

13 Schäfer: Pop-Literatur, S. 11. 14 Ebd., S. 24. 15 Ebd., S. 25. 16 Ebd. S. 26.

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tionsweisen reagiert habe.17 Mit Vehemenz grenzt Brinkmann die amerikanische Underground-Literaturszene (wie z. B. Burroughs und Kerouac) und ihr neuartiges Verständnis für Formen gegen die europäische Literatur ab, die, laut Brinkmann, „für Lebensersatz statt für Lebenserweiterung“18 stehe. So ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff Literatur bei Brinkmann durchweg negativ konnotiert erscheint19, denn das: „Wort Literatur ist in das Bewußtsein eingebaut, es saugt Energie, Lebendigkeit aus dem Körper, es ist ein künstliches Erzeugnis, das sich vor die wahrzunehmende Einzelheit schiebt. Es bestimmt beim Schriftsteller die Wahrnehmung und beim Leser das Erfassen des Wahrgenommenen“.20

Erst wenn sich der Schriftsteller, so Brinkmanns Vorstellung, endlich von den Fesseln befreit habe, welche die Begriffe Werk, Stil und Form in ihm angelegt haben21, entfalle der Hang mancher Autoren zur „Mystifizierung des Schreibens“: „[M]an stelle sich einmal vor, die Rolling Stones erklärten ihre Musik mit dem Hinweis, die Musik habe sich auf ihr erstes Material, die Töne besonnen, oder Jim Morrison gäbe bekannt, das schönste Musikstück sei doch eben nur ein Laut…“22 Indem der Schriftsteller z. B. die ästhetischen Prinzipien des Films adaptiert, werden zugleich die tradierten Vorstellungen von Form, Stil und Werk obsolet. Dieses poetologische Prinzip findet Brinkmann unter anderem bei Jack Kerouac zum Ausdruck gebracht: „,Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‘ (Kerouac)... ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster... Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität –“23

17 Brinkmann: Film in Worten, S. 225. 18 Ebd., S. 226. 19 Brinkmann spricht z. B. von dem „Käfig ‚Literatur‘“ (ebd., S.238), der „Konvention ‚Literatur‘“ (ebd., S. 215) oder der „Abstraktion ‚Literatur‘“ (ebd., S. 278). 20 Ebd., S. 277. 21 Brinkmann spricht z. B. von einem „künstlich am Leben gehaltenen Werkbegriff“ (ebd., S. 230), von einer „Sakralisierung der bloßen Form“ (ebd, S. 210) und von einem „im ‚Stil‘ angelegte[n] Verständigungsmechanismus“ (ebd., S. 257). 22 Ebd., S. 214. 23 Ebd., S. 223. Das Zitat von Jack Kerouac entstammt dem Artikel Wie schreibe ich moderne Prosa? Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber.

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Brinkmanns Bestimmung der Literatur als „Film in Worten“ impliziert einerseits, dass durch das Aufkommen von Fotoapparat und Filmkamera auch der literarischen Rede neue Darstellungsformen eröffnet wurden, die den Schriftsteller herausfordern und ihn dazu anhalten, die filmische Sprache zum Strukturprinzip seiner Texte zu erheben, wie auch Eckhard Schuhmacher schreibt: „Brinkmann löst syntaktische Strukturen auf, präsentiert Zitate, Satzfragmente, heterogenes Material, aneinandergefügt durch Montagetechniken, Schnitte und andere auf die Form der Schrift übertragene ‚filmische‘ Verfahren.“24 Auch Olaf Selg hebt hervor, dass Brinkmanns stetige Bezugnahme auf das Kino die Wichtigkeit dieses Mediums als Teil der Alltagskultur verdeutliche: „Das Zusammenspiel von Wort und Bild bestärkt Brinkmanns Interesse an Möglichkeiten, die ‚reine‘ Literatur aufzubrechen. Der Film dient sowohl als Materialquelle als auch als Orientierung für neue Formen, wobei u. a. wohl gleichzeitig versucht werden soll, etwas von der Bewegung des Films bzw. im Film, bspw. mithilfe assoziativer Sprünge, auch in die Sprache zu transportieren.“25

Dabei betone Brinkmann, laut Selg, bei „aller Verschiedenheit der möglichen Materialquellen und der daraus resultierenden Verschiedenheit der sensuellen Aufnahme“ vor allem die „visuelle Wahrnehmung“.26 Zwar spricht der Film primär die visuelle Perzeption an, bündelt zugleich aber auch eine Vielzahl an akustischen Reizen. Wie der französische Schriftsteller und Filmemacher Alain Robbe-Grillet, der als einer der Begründer des sogenannten Nouveau Roman gilt, schreibt, ist es gerade diese „Bewegung der Bilder und Klänge“27, welche die Literaten fasziniert: „Sie [die Romanciers] werden nicht von der Objektivität der Kamera angelockt, sondern von Möglichkeiten im Bereich des Subjektiven, des Imaginären. Sie verstehen den Film nicht als ein Ausdrucksmittel, sondern als ein Mittel der Suche, und ihre Aufmerksamkeit wird auf ganz natürliche Weise durch das gefesselt, was der Macht der Literatur am meisten entging, das heißt weniger durch das Bild als den Ton – den Klang der Stimmen, der Geräusche, der Musik – und insbesondere durch die Möglichkeit, auf beide Sinne, auf Auge und Ohr, gleichzeitig zu wirken, außerdem schließlich durch die Möglichkeit, sowohl im Bild als im Ton mit dem ganzen Anschein der am wenigsten bezweifelbaren Objektivi-

24 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 78. 25 Selg 2001, S. 42. 26 Ebd., S. 37. 27 Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman, S. 100.

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tät das darzustellen, was ebenfalls nur Traum oder Erinnerung, in einem Wort, was Imaginäres ist. Der Ton, den der Zuschauer hört, und das Bild, was er sieht, haben eine bevorzugte Eigenschaft: beide sind da, beide sind gegenwärtig. Die Unterbrechungen durch den Schnitt, die Wiederholung von Szenen, die Widersprüchlichkeiten, die plötzlich wie auf Amateurfotos erstarrten Personen geben dieser fortdauernden Präsenz ihre ganze Kraft und Heftigkeit. Es handelt sich dann nicht mehr um die Art der Bilder, sondern um ihre Komposition, nur darin vermag der Romancier einige seiner Bemühungen beim Schreiben, wenngleich in verwandelter Form, wiederzufinden.“28

Auch der Schriftsteller, Maler und Experimentalfilmer Peter Weiss konstatiert in seinen Anmerkungen zu seinem Buch über den Avantgarde-Film, dass keine Kunstrichtung „so überzeugend die unendliche Zusammengesetztheit eines Erlebnisses wiedergeben [kann] wie der Film“: „Der Schriftsteller kann Kontinuitäten aufbauen mit seinen Worten. Er kann den Leser in alle Richtungen hinführen und ihm sagen, was er sieht, hört, denkt, empfindet. Der Schriftsteller versucht, seinen Worten die größte Wirklichkeit zu geben, eine Wirklichkeit, die jedoch immer nur Suggestion bleibt. Diese Suggestion nimmt im Film Gestalt an.“29

Mittels der Ausführungen von Robbe-Grillet und Peter Weiss lässt sich genauer eruieren, was Brinkmann damit bezweckt, wenn er seine literarischen Werke als eine „Blitzlichtaufnahme“30 bzw. als eine Momentaufnahme der Gegenwart tituliert. Hinter dieser Aussage verbirgt sich der Wunsch, alle auf den Schreibenden einstürzenden sinnlichen Reize und die damit verbundenen Erinnerungen, Träume und Halluzinationen zu bündeln, um der literarischen Rede eine imaginäre und suggestive Kraft zu verleihen und auch die unbewussten Prozesse menschlicher Wahrnehmungsverarbeitung einzuverleiben. In Anlehnung an William S. Borroughs’ Ausspruch „Life is a cut up“, vertritt auch Brinkmann die Vorstellung, dass sich das Leben als ein „komplexer Bildzusammenhang“ darstellt31 und die „Welt [...] als eine Art Film erlebt“ wird32: „Cut up! Denn die Blicke machen ja ständig cut ups! Also hat der Burroughs gar nichts Neues erfunden.“33 Aufgrund des Aufkommens der neuen Massenmedien

28 Ebd., S. 99f. 29 Weiss: Avantgarde Film, S. 149. 30 Brinkmann: Film in Worten, S. 249. 31 Ebd. 32 Urbe 1985, S. 33. 33 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 93.

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wird die Gegenwart nicht mehr als Einheit empfunden, sondern setzt sich aus einer kaum noch zu verarbeitenden Anzahl an Sinneseindrücken zusammen. Die literarische Praxis muss sich, laut Brinkmann, durch das unmerkliche Hin- und Herspringen zwischen Raum- und Zeitbezügen, Erzählebenen und -perspektiven, durch „Zooms auf winzige, banale Gegenstände, [...] Überbelichtungen, Doppelbelichtungen, [...] unvorhersehbare Schwenks (Gedanken-Schwenks), Schnitte“ dieser momentanen, ausschnitthaften und wandelbaren Realität anpassen.34 Diese literarischen Verfahren dienen „nicht mehr dazu, bloß die bestehenden Perspektiven weiterzuentwickeln oder neue zu provozieren, sondern die im Laufe der westlichen Literaturgeschichte sich verfestigte negative Programmierung der Sprache aufzuweichen“.35 Immer wieder bekennt sich Brinkmann in seinen Essays klar zu einer literarischen Rede, welche die starren und analytischen Sprachstrukturen auflöst, indem sie, im Sinne Burroughs, vorhandene „Assoziationsmuster“36 durchbricht und auf eine „erweiterte Sinnlichkeit drängt“.37 In Anlehnung an Alain Robbe-Grillet, der als Ziel des „Neuen Romans“ die „totale Subjektivität“38 ansah und konstatierte, dass „der Romancier [...] sich allein seiner Sensibilität anvertrauen kann“39, spricht auch Brinkmann von einer „neuen Sensibilität“40, die sich aber nicht in einer neuen Innerlichkeit verliert, sondern sich an dem Jetzt und der Außenwelt orientiert. Diese neue Sensibilität zeichne sich, so Brinkmann, vor allem dadurch aus, dass sich der Schriftsteller vorbehaltlos auf die Gegenwart und auf die „riesige Materialfülle“41, die jeder Augenblick seines Lebens ihm bietet, einlässt. Auch wenn Brinkmann in seinem Essay Einübung einer neuen Sensibilität schreibt, die Literatur müsse „verschwinden, damit sie um ein Stückchen realer für jeden einzelnen von uns wird“42, geht es ihm nicht um einen radikalen Abgesang auf die literarische Rede. Vielmehr ist es sein Wunsch, die Literatur z. B. mittels Ausrichtung auf die populäre Kultur zu erweitern, um ihr eine neue Intensität und Lebendigkeit zu verleihen. In der amerikanischen Underground-Li-

34 Brinkmann: Film in Worten, S. 267. 35 Ebd., S. 267f. 36 Ebd., S. 231. 37 Ebd., S. 227. 38 Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman, S. 86. 39 Ebd., S. 93. 40 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 147. 41 Ebd., S. 153. 42 Ebd., S. 147.

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teratur fänden, laut Brinkmann, schon längst die notwendigen „Vermischungen [...] statt – Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild-(Vorstellungs-)zusammenhängen, Schallplattenalben, aufgemacht wie Bücher... etc.“43 Während die Literaturprodukte der BRD gegen Ende der 1950er Jahre, so Brinkmann, „nicht einmal Verweise auf aktuelle Gegenstände enthalten, die genormtes Verhalten löchrig machten“44, arbeite die amerikanische Underground-Literatur seit längerem intensiv mit „zeitgenössischem Material“45 und lasse sich ohne Vorurteile auf das Dasein und die sich daraus ergebenden neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten ein, um Genregrenzen durchlässig werden zu lassen. So ließ sich, wie Brinkmann anmerkt, die Beat-Generation primär „von den Stars der Jazz-Szene anregen“: „Miles Davis, mit dem Rücken zum Publikum, Thelonius Monk, leicht irr und wie weggetreten... Kerouac schrieb Bop-Prosodien, eine Prosa, die das starre grammatikalische Gerüst wegschwemmte, den Mexiko-City-Blues, Lyrik, die nach Jazz-Arrangement strukturiert war, oder nehmen Sie die rhapsodischen Ausschweifungen des frühen Allen Ginsberg, die im Kühlschrank gefrorenen Bilder bei Burroughs... eine sich andeutende Erweiterung der Kunst, deren Formen sich nach dem vorgefundenen Material richteten. Gleichzeitig wurde der aus Europa importierte, künstlich am Leben gehaltene Werkbegriff aufgegeben. Die Genres wurden von den einzelnen Autoren gewechselt. Der Typus Schriftsteller selber veränderte sich: Vielseitigkeit wurde zu einem erstrebenswerteren Ideal als Einsichtigkeit, d. h. die Beschränkung der Begabung, auf einem Gebiet ausschließlich tätig zu sein, denn die Festlegung auf eine Gattung (Roman, Lyrik, Essay) – wodurch sollte sie begründet sein außer durch eine leichtere wirtschaftliche Verwertung? Warum irgendwo haltmachen? Warum sich beschränken?“46

Die neue amerikanische Literatur habe zudem, so Brinkmann, mit großer Selbstverständlichkeit die Erfahrungen, die sich aus dem Umgang mit den neu aufkommenden technischen Geräten ergaben, in ihre Literatur integriert und wäre „über den Gebrauch der Technik zur Radikalisierung der Phantasien auf eine Zukunft hin gekommen“.47 Der für den europäischen Bereich „charakteristische, anerzogene anti-technische Affekt“ sei der amerikanischen Szene vollkommen

43 Brinkmann: Film in Worten, S. 228. 44 Ebd., S. 229. 45 Ebd., S. 224. 46 Ebd., S. 230. 47 Ebd., S. 224.

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fremd – wobei, wie Brinkmann konstatiert, „durchaus nicht Euphorie vorherrscht angesichts technischer Möglichkeiten“.48 Das Verhältnis zu den neu aufkommenden elektronischen Medien ist, wie schon anhand von William S. Burroughs und der Industrial Culture aufgezeigt, von einer starken Ambivalenz geprägt. Einerseits eröffnet der technische Fortschritt immer neue Möglichkeiten, den Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren; andererseits bieten die neu aufkommenden technischen Geräte den subkulturellen Strömungen die Chance, dieses Kontrollsystem mit seinen eigenen Mitteln zu negieren und obsolet werden zu lassen. Die neuen technischen Medien scheinen zudem adäquater dazu geeignet, die komplexen Strukturen des menschlichen Bewusstseins und der Wahrnehmung, die bislang durch sprachliche Konstitution und Repräsentanz kaum erfasst werden konnten, darzustellen. Für diese literarischen Formexperimente, die den Versuch darstellen, die ehemals linearen Schreibweisen durch z. B. die Assimilation audiovisueller Verfahren aufzubrechen, um der literarischen Rede innovative und bislang fremde Darstellungsformen einzuverleiben und dem Text selbst eine neue Qualität der sinnlichen Wahrnehmung zu eröffnen, findet Brinkmann zudem Vorbilder in der postmodernen Literaturtheorie. In seinem Essay Überquert die Grenze, schließt den Graben. Über die Postmoderne, der bezeichnenderweise nicht in einer Fachzeitung, sondern im amerikanischen Playboy und in der deutschen Zeitung Christ und Welt veröffentlicht wurde49, spricht der amerikanische Literaturwissenschaftler und -kritiker Leslie A. Fiedler von der Notwendigkeit, die „Lücke [...] zwischen hoher Kultur und niederer, belles-lettres und pop art“ zu schließen.50

48 Ebd., S. 225. 49 Fiedlers Text ist, nachdem er als Vortrag unter dem Titel Das Zeitalter der neuen Literatur in Freiburg gehalten worden war, zuerst in zwei Ausgaben des Magazins Christ und Welt erschienen (13.09. und 20.09.1968). Fiedlers Thesen haben in der deutschen Literaturlandschaft eine zum Teil sehr heftige Debatte ausgelöst, deren Beiträge von z. B. Jürgen Becker, Reinhard Baumgart und Martin Walser nachzulesen sind in: Wittstock 1994. In diesem Aufsatzband befindet sich unter dem Titel Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne auch eine überarbeitete Fassung von Fiedlers Vortrag, aus der die nachfolgenden Zitate entlehnt sind (vgl. auch Schäfer: Pop-Literatur, S. 29-47). 50 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 21.

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In der sogenannten Pop Art51, deren Strömungen sich unabhängig voneinander sowohl in Amerika als auch in England entwickelt haben, waren schon längst Motive der Alltagskultur, des Konsums, der Massenmedien und der Werbung in die künstlerische Produktion eingebracht worden. So war z. B. Andy Warhol, der am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh Design und Malerei studiert hatte, 1949 nach New York gezogen, wo er zunächst als erfolgreicher Werbegraphiker für Modezeitschriften wie Glamour und Vogue arbeitete und sich immer mehr auch als Maler, Fotograf, Zeitungsherausgeber (Interview) und Autor (POPism, Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, a. Ein Roman, Das Tagebuch etc.) hervortat. Bekannt wurde Warhol aber durch seine Multiples von Coca-Cola-Flaschen, Brillo-Boxen und Campbell’s Suppendosen, seine Siebdrucke von bekannten Persönlichkeiten (Marylin Monroe, Liz Taylor, Elvis Presley, Mao etc.) und seine Comic- und Cartoon-Motive. Schon 1962 entstanden zudem die heute berühmten Desaster- und Do-it-yourself-Bilder. Bezeichnend für die Pop Art war ihr Bestreben, eine der Konsumwelt und der populären Kultur entlehnte Ikonographie zu einer neuen Ästhetik umzuformulieren. Wie Stefana Sabin schreibt, wurde die „Popkunst“ somit „geradezu zur Metapher der Konsum- und Mediengesellschaft“, wobei sich der Pop Art-Künstler sowohl als affirmativer als auch als ironisch-distanzierter Beobachter gerierte.52 In dieser Hinwendung zum Populären lag zudem der Wunsch, die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen high art und low art durchlässig werden zu lassen, Unterhaltung mit Reflexion zu verbinden und jedem Menschen die potentielle Möglichkeit zuzuschreiben, ein Künstler oder Star zu sein: „In the future everyone will be famous for fifteen minutes.“53 Eine besondere Rolle spielten für Warhol dabei auch die modernen Vervielfältigungstechniken, die ihm die Möglichkeit boten, dem Kunstwerk seine Aura zu nehmen und auf den seriellen Herstellungscharakter seiner Arbeiten hinzuweisen.

51 Der Begriff Pop Art wird oftmals dem Kunstkritiker Lawrence Alloway zugeschrieben. In Lucy R. Lippards Buch Pop-Art äußert sich Lawrence Alloway zu dieser Urheberschaft wie folgt: „Der Ausdruck ‚Pop Art‘ wird mir zugeschrieben, doch ich weiß nicht mehr genau, wann er das erste Mal gebraucht wurde. [...] Ich benutze den Begriff, ebenso wie ‚Pop-Culture‘, um ein Produkt der Massenmedien zu kennzeichnen und nicht die Kunstwerke, für die Elemente dieser ‚Volkskultur‘ Verwendung finden.“ (Lippard: Pop Art, S. 25f.) Zur Geschichte und Entwicklung des Begriffs vgl. auch Hecken 2009, S. 51-92. 52 Sabin 1992, S. 9. 53 Warhol: POPism, S. 130.

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Eine Ausprägung dieser Kunstrichtung war es zudem, heterogene Dinge mit dem Ziel einer poetischen Umdeutung zusammenzufügen. Ziel war es dabei, mithilfe der durch unsere Gewöhnung unbeachteten standardisierten Dinge und der banalen visuellen Wirklichkeit des Alltäglichen ein Gegenbild zu montieren, das der Simultaneität unseres Lebens entspricht und aus ihm die überraschenden, erhellenden oder das wache beobachtende Auge reizende Aspekte hervorholt. Die auf den Menschen gleichzeitig einströmende Überzahl an Eindrücken und Bildern hat die Pop-Art-Künstler dazu animiert, diese in etwas Synthetisches zu verwandeln, das dieser Inflation der Bilder entspricht. Das naheliegendste Mittel ist die Collage aus Bildern und evokativen Wirklichkeitsfragmenten. In dieser Herangehensweise drückt sich der Wunsch aus, wieder näher an die zeitgenössische Wirklichkeit bzw. an ihre optischen Befunde heranzukommen. Doch scheinbar hat diese Zuwendung fragmentarischen Charakter, da sich das Ganze der Wirklichkeit entzieht. Für die Pop Art sei dabei, wie Hermann Pfütze anmerkt, die Nähe zum Gebrauch charakteristisch gewesen, allerdings auf eine Weise, die zur traditionellen Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst diametral entgegengesetzt stehe: „Während die moderne Kunst ihre Autonomie bislang stets verteidigen mußte gegen die Gefahren der Indienstnahme durch nichtkünstlerische Interessen, geht die Pop Art umgekehrt vor: Sie popularisiert und betont die ästhetische Qualität unkünstlerischer Dinge.“54 Sie müsse weder, wie Marcel Duchamp, angestrengt trennen zwischen Form und Zweck, noch, wie die abstrakten Expressionisten, alles Weltliche restlos sublimieren. Für die Pop Art sei die ästhetische Autonomie nichts Seltenes und Gefährdetes, sondern etwas Robustes und Selbstverständliches, das alle Formen an sich haben, die gut gemacht sind. Pop-Art verlasse sich auf ihre „roots“: das seien vor allem die Denaturierungsrituale der Körperkultur (Mode, Genießen etc.) und das moderne Industriedesign.55 Über die Pop Art könne kein Kunstbegriff verordnet werden, könne kein herrschender Geschmack und keine Kunstrichtlinie sich potenzieren, denn sie formuliere mit jeder Geste Widerstand gegen ästhetische Totalitarismen.56 Wie Marco Livingstone in der Einleitung zum Katalog der 1992 in Köln gezeigten Pop Art-Show schreibt, besaßen diese Kunstrichtungen „kein normatives Programm und es wäre daher irreführend, all den Künstlern, die unter diesen Begriff subsumiert worden sind, identische Intentionen zuzuschreiben“.57 Ebenso

54 Pfütze 1999, S. 100. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 101. 57 Livingstone 1992, S. 10.

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insistiert auch Leslie A. Fiedler auf den subversiven Gehalt der Pop Art, der seiner Ansicht nach „eine Bedrohung für alle Hierarchien“ darstellt.58 An Fiedler knüpft auch Jim Collins an, wenn er postmoderne Kunst und Literatur als einen Versuch tituliert, der keinen Originalitätsanspruch anstrebt, sondern dadurch erneuernd wirkt, dass er sich alle, auch einander widersprechende, Stilarten einverleibt.59 Dieser Vielfalt und Heterogenität der Stile und Schreibweisen entspricht laut Collins ein postmodern entdifferenziertes Publikum. Collins spricht von der Zersplitterung der einheitlichen Öffentlichkeitssphäre in „multiple reading publics“.60 „Pure pop culls its techniques from all the presentday communicative processes“, schreibt Ellen H. Johnson in ihrem Sammelband über die amerikanischen Künstler von 1940 bis 1980.61 Daraus ergibt sich, dass die Wirklichkeit, auf die der Pop-Art-Künstler referiert, sich als bereits medial vermittelt darstellt: „Wahrnehmung von Wirklichkeiten erfolgt immer mehr durch die Brillen der medialen Bilderwelten, oder andersherum formuliert: die Bilderwelten schieben sich vor die Wirklichkeit und verschmelzen mit ihnen. Die Medien stehen nicht mehr dem Menschen gegenüber; vielmehr sind die medialen Welten längst Bestandteile der Lebenswelten, der Identitätskonstrukte und der Handlungsmuster geworden.“62

Ebenso bezeichnet Roland Barthes den Text auch als ein „Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen“ bzw. als „einen mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen“.63 In der Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur, wie sie in der Pop Art schon längst vollzogen worden ist, sieht Fiedler „die exakte Funktion des Romans heute“.64 Der „wirklich neue Neue Roman“ müsse, erklärt Fiedler, sowohl „anti-künstlerisch“ als auch „anti-seriös“ sein65 und sich „offen der Formen des Pop bedienen“.66 Diese postmodernen Schreibweisen haben ihren

58 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 31. 59 Vgl. Collins 1989, S. 115. 60 Ebd., S. 7. 61 Johnson 1982, S. 82. 62 Klein: Electronic Vibration, S. 225. 63 Barthes: Der Tod des Autors, S. 61. 64 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 21. 65 Ebd., S. 20. 66 Ebd., S. 21f.

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Ursprung in der Heterogenität der Lebenswelten und der sich daraus ergebenden disparaten Erfahrungen des einzelnen Menschen, wie auch Jörgen Schäfer erklärt: „Während die Diskurse des Modernismus weitgehend von eindeutigen Dichotomien geprägt sind – in Kunst und Literatur etwa durch den Gegensatz von Hoch- und Populärkultur –, zeichnet sich der Postmodernismus durch ein Denken in nicht-hierarchischen Differenzen aus. Pluralität hat sich in allen gesellschaftlichen Systemen etabliert, so daß verschiedene künstlerische Ausdrucksformen, Wissensformen und Lebensstile legitimerweise koexistierten.“67

Die sich aus diesen differenten Lebensentwürfen und Ästhetiken ergebenden Schreibweisen würden sich, so Fiedler, sowohl durch „Parodie oder Übertreibung oder groteske Imitation klassischer Vorbilder“ als auch durch die „Übernahme und Verfeinerung von Pop-Formen“ auszeichnen.68 Dabei kommt es zwangsweise zu einem performativen Schub: In seinem Essay Postmoderne heute erklärt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Ihab Hassan, dass eine derartige Ausweitung auf die Alltagskultur „ihre Verwundbarkeit gegenüber Zeit, Tod, dem Publikum, dem schlichtweg Anderen“ erkläre und sich somit dem Ewigkeitsanspruch entziehe.69 Derart verstanden bedeutet diese Öffnung zugleich, dass die Kunst im Rahmen der Alltagskultur auch nutz- und veränderbar ist, d. h. die literarische Rede wird zu einem Teil des sozialen Lebens und der sozialen Praxis, wobei der Leser als Co-Autor fungiert. Dieser performative Charakter, den Hassan als ein wesentliches Merkmal der postmodernen Kunst ansieht, ergibt sich zwangsläufig daraus, dass die Kunst die Alltagskultur radikal vereinnahmt: „Der postmoderne Text, verbal oder nicht, lädt ein zur Performanz: er will geschrieben, verändert, beantwortet, ausgelebt werden, und ein großer Teil postmoderner Kunst bezeichnet sich ausdrücklich als Performanz und überschreitet damit die Genre-Abgrenzung.“70 Als Referenzsysteme, die es in der Literatur zu rezipieren gelte, nennt Fiedler gleich eingangs seines Essays drei populäre Genres (den Western, die Science Fiction und die Pornographie)71, fügt dieser Auflistung im Laufe seiner Ausfüh-

67 Schäfer: Pop-Literatur, S. 75. Zur Ästhetik der Postmoderne vgl. auch Lyotard 1999; Welsch 1988. 68 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 31. 69 Hassan: Postmoderne heute, S.53. 70 Ebd. 71 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 22.

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rungen aber noch die Comic Books sowie die Jazz- und Rockmusik hinzu. Nur indem die Literatur sich der populären Kultur nicht verweigere, sich vielmehr radikal gegenüber der Alltagskultur öffne und auf die alltägliche Lebenswelt des Lesers beziehe, könne sie sich, laut Fiedler, auch ihre Relevanz weiterhin erhalten. Im Kontext der populären Musik spricht Fiedler vom Künstler als „Doppelagent“, der stetig die „Grenzlinie“ zwischen den Künsten überschreite und sich, wie dies John Lennon getan habe, „Stufe um Stufe als Prosaschreiber, Stückeschreiber, Filmemacher, Guru, Bildhauer usw.“ entpuppe; oder auch Bob Dylan, der, wie Fiedler ausführt, seine „Folk-Music mit linken Untertönen zugunsten des elektrischen Rock’n’Roll“ aufgegeben habe, schließlich bei einer „surrealistischen Pop-Poesie“ angelangt sei, um sich in einer überraschenden Wendung doch wieder der akustischen Instrumentierung zuzuwenden.72 Fiedlers Essay veranlasste Brinkmann dazu, nur wenige Wochen später in der Zeitung Christ und Welt eine Replik mit dem Titel Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter zu veröffentlichen, das sich in Form, Duktus und Inhalt an Fiedlers Text anlehnt und seine Thesen auf die deutsche Literatur ausweitet. Brinkmann nimmt emphatisch Stellung für Fiedlers Literaturkonzept und erklärt, dass Autoren wie z. B. Jürgen Becker, Reinhard Baumgart und Martin Walser, die sich durchweg negativ über Fiedlers Thesen geäußert hatten, einfach „zu faul [sind] im Vergleich zu den Musikern, die probieren, die technischen Apparaturen auszunutzen zur Realisierung ihrer Vorstellung“.73 Ebenso wie Fiedler sieht Brinkmann in der schnell voranschreitenden Expansion der elektronischen Technik eine die Gegenwart und die menschliche Wahrnehmung revolutionierende und modifizierende Kraft, der sich sowohl die Literatur als auch die Literaturkritik nicht entziehen können. Fiedler selbst hatte in seinem Essay erklärt, dass die „neueste Kritik [...] ästhetisch und poetisch in Form und Inhalt“ sein müsse, gleichzeitig aber auch „komisch, respektlos und vulgär“, um den postmodernen Schreibweisen eine adäquate Entsprechung zu bieten.74 Brinkmanns affirmativer Kommentar schließt sich dieser Vorstellung an, indem er seinen Beitrag zur Debatte als eine bewusste Mischung von verschiedenen Erzählperspektiven gestaltet und dabei z. B. theoretische Ausführungen mit literarischen Einschüben und Alltagswahrnehmungen vermengt. Indem Brinkmann in seinen Essays heterogenes Material sammelt bzw. eine sehr fragmentarische und diskontinuierliche Schreibweise wählt, eröffnet er der literarischen Rede auch einen Raum für das

72 Ebd., S. 33. 73 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 66. 74 Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 17.

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„Improvisierte, Zufällige“.75 Hinzu kommt, dass Brinkmann beim Erstellen seiner Essays oftmals ganz direkt auf das Umweltgeschehen reagiert und damit sowohl den Schreibanlass als auch den Schreibprozess hervorhebt, was diesen Texten einen stark unmittelbaren, performativen und selbstreflexiven Charakter verleiht. Dergestalt heißt es gleich eingangs von Angriff aufs Monopol: „Ich schreibe das hier, während auf meinem Dual-Plattenspieler HS 11 eine Platte der DOORS läuft [...] und sollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen, anstatt weiterzutippen...“76 Die sinnliche Wahrnehmung, das Lauschen auf die Musik, wird hier von Brinkmann ganz bewusst der sprachlichen Erkenntnis gegenübergestellt. Indem Brinkmann die Intensität der Musik hervorhebt, bringt er zugleich auch das Mangelgefühl zur Sprache, das den Schriftsteller bei seiner Tätigkeit um- bzw. antreibt. Brinkmann entwirft an dieser Stelle ein Bild des Schriftstellers und Essayisten, der im Spannungsfeld der populären Musik seinen Text erstellt und sich dabei sowohl von seinen Erinnerungen und Assoziationen als auch vom Rhythmus und Klang der Musik leiten lässt. Die Intensität der musikalischen Darbietung bringt den Schriftsteller dabei oftmals zum Verstummen, da es die literarische Rede scheinbar nicht vermag, eine gewisse Unmittelbarkeit und Präsenz zu erzeugen. Dabei werde das Schreiben, wie der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher konstatiert, als ein „Notbehelf inszeniert, dessen Schwerfälligkeit Brinkmann [...] als Konsequenz einer Restriktion auf und durch das Medium der Sprache beschreibt“.77 Brinkmanns Streben, die durch die Repräsentationsmedien wie z. B. Film oder Schallplatte hervorgerufenen Präsenzeffekte auch der literarischen Rede zu eröffnen, ist scheinbar zum Scheitern verurteilt. Aber genau dieses stetige Abarbeiten an dieser Problematik, diese stetige Suche nach neuen literarischen Darstellungsformen, die es schaffen, das sinnliche Erleben schriftlich zu fixieren, lässt innovative und offene Schreibformen entstehen, die sich jeglicher Stiloder Gattungseinteilung entziehen; „alle Stile sind verfügbar geworden, und so kann auf einen Stil verzichtet werden“.78 Dabei benutzt Brinkmann, laut Schumacher, immer neue Wendungen, um den Anstieg der Lautstärke, die der Medien- und Szenenwechsel verspricht, über verbale Attacken, Wutausbrüche und Hasstriaden in die literarische Rede zu übersetzen:

75 Brinkmann: Film in Worten, S. 218. 76 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 66. 77 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 72. 78 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 152.

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„Brinkmann hört nicht auf weiterzutippen, sondern trägt den Konflikt, der die Literatur in seiner Lesart vom Leben trennt, sprachlich aus, in dem Medium, in dem er ihn als Konflikt formuliert hat. Erst die Unmöglichkeit, in einem Buch tatsächlich den Ton aufzudrehen, gibt diesem Versuch seine Brisanz und Relevanz.“79

Brinkmanns „Vereinnahmung von Leben, Lautstärke und Lärm“ läßt sich, laut Schumacher, nicht nur als eine „vitalistische Geste“ deuten, welche an die Stelle der literarischen Tätigkeit tritt, sondern zugleich auch als ein „Moment des Schreibens, das gerade dadurch, daß die Möglichkeiten und Grenzen seiner performativen Kraft im Kontrast zu den Präsenzeffekten anderer Medien- und Darstellungsformen markiert werden, immer neu herausgefordert wird“.80 Dergestalt bilden die Repräsentationsmedien und die populäre Kultur für Brinkmann eine produktive Projektionsfläche, an der sich die literarische Rede immer wieder aufs Neue reibt; auch auf die Gefahr hin, zu scheitern und gänzlich zu verstummen, wie der folgende Durchlauf durchs literarische Werk Brinkmanns deutlich macht.

3.2 AUF

DER S UCHE NACH EINER MULTISINNLICHEN

L ITERATUR

„Die Wahrnehmung auf mehreren Spuren fahren!“81

Obwohl viele der im vorangegangenen Kapitel angesprochenen Essays erst Ende der 60er Jahre entstanden sind, finden sich schon in den frühen Gedichten und Kurzgeschichten von Brinkmann erstaunlich viele Anleihen bei der populären Kultur: Im Vorwort seiner 1968 erschienenen Gedicht-Sammlung Die Piloten schreibt Brinkmann, dass ein Gedicht nur das alltägliche Material aufnehmen könne. Es gebe, so Brinkmann „kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht“.82 „Material“ ist somit für Brinkmann das Schlüsselwort für eine, wie Olaf Selg schreibt, „Sammlung von Ein-

79 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 67f. 80 Ebd., S. 68. 81 Brinkmann: Erkundungen, S. 289. 82 Brinkmann: Standphotos, S. 186.

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drücken, die bei der Perzeption der eigenen Umwelt entstehen“.83 Zu dem alltäglichen Material, das den Schriftsteller bei seiner Arbeit inspiriert und durch direkte Hereinnahme in das Gedicht zum Bestandteil der literarischen Rede wird, gehören neben den Eindrücken aus der privaten Umwelt auch Elemente aus der Werbung, den Zeitungen und Magazinen, den Comic Books, den Kinofilmen und der populären Musik: „Der grundlegende Unterschied der neuen amerikanischen Gedichte zu den derzeitig noch üblichen Gedichten abendländischer Machart ist, daß nicht mehr in Wörtern gedacht (und gelebt) wird, sondern in Bildern.“84 Die populäre Musik ist Bestandteil des alltäglichen Inventars, mit dem sich der Mensch umgibt und das seine Sinne stimuliert, wie auch in der folgenden Aufzählung deutlich wird: „Ein Bleistift/ ein Blatt Papier/ eine Tasse Kaffee/ eine Zigarette/ der letzte Schlager/ der Rolling Stones/ der kommende Frühling/ das Familienbild“.85 Die Erwähnung der Rolling Stones im gleichen Atemzug mit fast banal wirkenden Alltagsgegenständen zeigt deutlich, wie sehr auch die populäre Musik zum täglichen Gebrauchsgegenstand geworden ist und einen Bestandteil der sinnlichen Alltagswahrnehmung bildet.86 Die literarische Produktion „entzündet“ sich, so Brinkmann, an eben jener sinnlichen Alltagswahrnehmung und verarbeitet ganz direkt das zufällig auf die Sinne des Schriftstellers einwirkende „Reiz-Material“.87 Das Gedicht sei laut Brinkmann „die geeignetste Form [...], spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten“.88 In dieser „Versprachlichung des bildhaften Ausdrucks“ vermengt sich das vorgefundene Bild-Material aus verschiedenen Medien (Fotos, Zeitungen, Film, Fernsehen, Werbung etc.) mit den Vorstellungen, Assoziationen und Erinnerungen des Schriftstellers.89 Brinkmanns Forderung, alles ‚Reiz-Material‘ in der literarischen Rede zu verarbeiten und somit multisinnlich-synergetische Texte zu formen90, hat ihren Ursprung in Brinkmanns immer wieder geäußerter Vorstellung, dass der Schriftsteller alle Sinneseindrücke aufnehmen und zum Anlass für seine Schreibweisen

83 Selg 2001, S. 34. 84 Brinkmann: Film in Worten, S. 268. 85 Brinkmann: Standphotos, S. 45. 86 Vgl. Seiler 2006, S. 148. 87 Brinkmann: Film in Worten, S. 255. 88 Brinkmann: Standphotos, S. 185. 89 Selg 2001, S. 39. 90 Vgl. Selg 2001, S. 158.

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nehmen soll: als „die neuerliche Aktivierung der durch das Denken in Abstraktion weggerückten übrigen Schichten des Menschen, hören, tasten, sehen, die helle Sensibilität der Haut, ein Sehen, das nicht zuerst über die kuriosen Balanceakte der Grammatik geschieht“.91 Brinkmanns Postulat einer Literatur, die „auf erweiterte Sinnlichkeit drängt“ und dabei zugleich „ganz selbstverständlich auch das Denken und die Reflexionsfähigkeit in sich aufgenommen hat“92, findet seine Umsetzung in den Gedichten, indem der Autor zum einen alle alltäglichen Eindrücke schriftlich fixiert, zum anderen aber auch vorgefundenes Material unverändert in die Texte einfügt: Diese Fundstücke, die z. B. aus Zeitungs- bzw. Werbeanzeigen, Artikeln, Fotos, Comic-Bildern, Songtexten oder der Nennung von Band- und Plattennamen bestehen, stehen in den Gedichten neben subjektiv gefärbten Passagen und führen stellenweise zu einer Überschreitung und Hybridisierung der Form. Dergestalt ließ Brinkmann die Gedichte, die er für den Lyrikband Godzilla geschrieben hatte, auf Werbefotos von spärlich bekleideten jungen Frauen drucken. Die drei Kapitel von Die Piloten werden jeweils von einem verfremdeten Comic eingeleitet, wo die bekannten amerikanischen Comic-Figuren Nancy, Yogi-Bär, Fred Feuerstein und Dick Tracy auftreten.93 In dem 1969 entstandenen Gedicht Vanille vermengt Brinkmann u. a. Werbetexte für Kosmetikartikel, Zeitungstexte und obszöne Fotos mit Eindrücken aus seinem Familienleben, was dem Text eine große Unmittelbarkeit verleiht, die noch durch die ungewöhnliche typographische Gestaltung verstärkt wird. Dabei geht es Brinkmann nicht nur darum, sogenannte objets trouvés aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herauszulösen und in einen neuen zu stellen. Vielmehr müsse, so Brinkmann in seinen Anmerkungen zu seinem Gedicht Vanille, bei der Gestaltung immer auch „die psychische Dimension dessen hinzukommen, der das ‚vorgefundene Gedicht‘ entdeckt hat“.94 Und nur wenige Zeilen später schreibt Brinkmann erläuternd: „In ‚Vanille‘ geht es mir nicht um ‚found poetry‘ oder ‚objet trouvés‘ oder ‚ready mades‘, meine Einstellung ist: wenn es sich in seiner Attraktivität für mich als etwas derartiges anbietet, so benutze ich es, wenn nicht – dann nicht.“95 Was Brinkmann genau unter der „psychische[n] Dimension“ versteht, die beim Umgang mit dem ausgewählten Material hinzutritt, wird auch im folgenden Zitat deutlich: „Die Frage heißt: Was schreibe ich auf das Blatt Papier? Das ge-

91 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 148. 92 Brinkmann: Film in Worten, S. 227. 93 Vgl. Seiler 2006, S. 151 und 154. 94 Brinkmann: Anmerkungen, S. 143. 95 Ebd., S. 144.

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schieht in dem einen Augenblick, wo das Gedicht hingeschrieben wird. Wie das geschieht [...], ergibt sich aus der Intensität des Autors, dem Grad seiner Beteiligung an dem vorhandenen Material; es ist eine momentane Kombination.“96 Dabei ist, wie Brinkmann hervorhebt, „unter Pop hier nicht die seinerzeitig aufgekommene Arbeitsrichtung der Malerei eines Wesselmann, Warhol etc. zu verstehen, vielmehr jene Sensibilität, die den schöpferischen Produkten jeder Kunstart – Schreiben, Malen, Filmen, Musikmachen – die billigen gedanklichen Alternativen verweigert: hier Natur – da Kunst und hier Natur – da Gesellschaft, woraus bisher alle Problematik genommen wurde“.97

Während Brinkmanns frühe Gedichte durch die direkte Hereinnahme popkultureller Elemente geprägt sind, finden sich in seinen seit den 1960er Jahren entstandenen Erzählungen ebenfalls eine Vielzahl an Verweisen auf die populäre Kultur, insbesondere auf die Jazz-Musik. In der Kurzgeschichte Wenn sie morgens singen erinnert sich die Ich-Figur auf dem Nachhauseweg an den vergangenen Tanzabend. Noch leicht angetrunken, resümiert der Erzähler seine Erlebnisse in der Nacht, in der er eine junge Frau angesprochen hat, während im Hintergrund eine Band „immerzu Chachacha“ gespielt hat: „[A]ber mir war doch mehr nach Jazz zu Mute, solch einen Jazz wie ihn Art Blakey spielt, ein zündender, provokativerischer Jazz – hart geschlagen und unmittelbar, Tiefschläge und mit einer schwarzen Trauer im Blues, in dem man versinkt und tief fällt, das Bewußtsein verliert und neu und noch einmal geboren wird, besser und eines anderen Glaubens angehörig –“98

Während der Ich-Erzähler versucht, die genauen Geschehnisse des Abends zu rekonstruieren, beginnen plötzlich die Vögel ihren morgendlichen Gesang. In der Wahrnehmung des Erzählers vermischt sich das „Gekreisch“ der Vögel mit seiner Erinnerung an die Chachacha-Musik, die den ganzen vergangenen Abend gespielt worden war: „Das Vogelsingen war in der Luft. Unsichtbare, aufgeschlagene Partituren, Coloratursopran: denke an Vogelstimmen, worauf nur Oberstimmen verzeichnet sind, Fistelstimmen. Die band hatte immerzu Chachacha gespielt.“99 Die akustischen Elemente in der Erzählung dienen Brinkmann vor-

96 Brinkmann: Film in Worten, S. 249. 97 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 71. 98 Brinkmann: Erzählungen, S. 364. 99 Ebd., S. 365.

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wiegend dazu, wie auch das obige Zitat verdeutlicht, den zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Wunschdenken hin- und hergleitenden Gedankenstrom des Erzählers zu verdeutlichen. Olaf Selg sieht in dieser literarischen Verfahrensweise eine Analogie zum Hörspiel, in dem „verschiedene Zeiten und Räume durch symbol- und signalträchtige Laute unterlegt werden“.100 Dieses stetige und fast unmerkliche Springen zwischen Raum- und Zeitbezügen, Erzählebenen und – perspektiven, das fast alle Kurzgeschichten Brinkmanns auszeichnet, hat seinen primären Ursprung aber auch, wie Sibylle Späth anmerkt, in der Anlehnung an filmische Darstellungstechniken wie z. B. gleitende Kamerafahrten, Nah- und Detailaufahmen, Rückblenden, Montagen, Auf- und Abblenden usw.: „Hier macht sich der Text die besonderen Fähigkeiten des Films zunutze, der die vielfältige und pausenlose Arbeit des Bewußtseins wie des Unbewußten problemlos in Bilder verwandeln kann. Erinnerungen, Träume, Visionen, Halluzinationen und Obsessionen parallelisiert er auf einer einzigen Zeitspur.“101 Diese z.T. an filmische und musikalische Verfahrenstechniken angelehnten Schreibweisen finden sich auch in Brinkmanns Kurzgeschichte Wurlitzer, in der die Geschehnisse in einer Kneipe erzählt werden, wobei die Beschreibung akustischer Eindrücke gleich eingangs einen großen Raum generiert und einen unmittelbaren und intensiven Eindruck des Lärms vermittelt, der den Schankraum stetig erfüllt: „Durch den Wirrwarr der Stimmen und das Gedränge, dem zusammengeschobenen Gewoge von Köpfen, Armen, Rücken und Beinen war die Musik in dem kleinen Raum eine zerstoßene Masse von Tönen, die sich durcheinanderbewegten und ineinander übergingen, die sich andauernd vermischten, sich klumpten und wieder auseinanderfielen, auseinandergerissen von einzelnen Stimmen, von Gelächter, das sich vorschob, von Rufen und Schreien, Musik, die sich damit aufblähte, die anschwoll und sich hochwölbte, und in der sich zeitweilig die durcheinanderwirbelnden Stimmen, der allgemeine kreisende Wirrwarr auflöste, sich darin verlor oder damit verschmolz zu einem Wust [...].“102

Im Mittelpunkt der akustischen Eindrücke aus Stimmengewirr und Musik steht dabei eine an der Wand zwischen Theke und Toilette stehende Musikbox, die von der Firma Wurlitzer produziert wurde. Mit Akribie beschreibt der anonyme Hauptprotagonist, der das Szenario im Schankraum vollkommen passiv beobachtet, ihr Aussehen:

100 Selg 2001, S. 165f. 101 Späth 1989, S. 27. 102 Brinkmann: Erzählungen, S. 253.

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„Die Musik hörte nicht auf. Es machte den Eindruck, als drehe sich alles um diesen blockartigen, halbhohen Musikautomaten, dieser Maschine, verchromt, Wurlitzer, mit gewölbter Plexiglasscheibe, die sich bis zu den Tasten herunterbog und unter der die Drehscheibe offenlag, der Plattenteller, der Tonarm und Greifer, sichelförmig gekrümmt und an der Rückwand der Halbkreis, das Rad mit den gespeicherten Schallplatten, gleich unter der Scheibe war eine Reihe von rechteckigen, schräggestellten Kästchen, in denen die Titel der Platten standen, darunter war jeweils eine Drucktaste, unterteilt für Vorder- und Rückseite der Schallplatte, und tiefer, etwas zurückliegend waren die Lautsprecher angebracht.“103

Dabei sind die Lautsprecherboxen der Musikbox, aus denen vorwiegend Schlager- und Jazz-Musik erklingt, laut Erzähler, immer „voll aufgedreht“, so dass „die Musik einen hohlen, zittrigen Beiklang“ bekommt: Die Musik „dröhnte und war unscharf, was in dem allgemeinen Lärm, in dem Gewoge von Stimmen aber nicht weiter auffiel“.104 Das „Auf und Ab von Worten, von Lauten, Rufen und Gelächter“ vermengt sich mit der Musik.105 Nur für kurze Zeit versiegt diese, wenn am Ende eines Stücks die Platte gewechselt wird. Doch sobald sie wieder einsetzt, lösen sich die „Wortflocken“ im „Wabern der Musik, im Mischmasch von Tönen“ auf.106 Die Besucher der Kneipe drängt es, so der Erzähler, danach, immer wieder ein bekanntes Jazzstück zu hören: „Aus dem Lärm drang jetzt wieder scharf das Trompetensolo vor, klar und ruhig und dann einige schnelle Takte, nervös, nervöse, fiebrige Stöße, unruhige Notenfolgen, Töne, Punkte, die dichtgedrängt aufeinanderfolgten, daruntergelegt Klavieranschläge, roh, und dumpf das Schwingen des Schlagzeugs, der Baß [...].“107 Mehr als deutlich wird gerade in diesen Passagen der Erzählung, wie sehr der Erzähler darauf bedacht ist, die Intensität der optischen und akustischen Eindrücke und die dabei stattfindenden Vermischungen unmittelbar einzufangen, wobei augenfällig ist, wie sehr die Beschreibung des im Schankraum vorherrschenden Stimmen- und Körpergewoges der Charakteristik der Jazz-Musik ähnelt. Analog zu den nervösen Klängen der Jazz-Musik und zu dem „summenden Gewirr von Stimmen“ entwickelt Brinkmann eine adäquate literarische Form108, die in vielerlei Hinsicht an Jack Kerouacs Beschreibungen in seinem Roman Unterwegs

103 Ebd., S. 254. 104 Ebd., S. 254f. 105 Ebd., S. 261. 106 Ebd., S. 254. 107 Ebd., S. 257. 108 Ebd., S. 256.

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erinnert. Um die Intensität der Sinneseindrücke, die auf den Erzähler einströmen, zu beschreiben, arbeitet Brinkmann mit endlosen Schachtelsätzen und Iterationen, die von einer fiebrigen Atemlosigkeit und Beschreibungsakribie gekennzeichnet sind. Dabei werde, wie Olaf Selg konstatiert, die hektische Jazz-Musik in einem ebenso nervös-abgehackten Stil gespiegelt, wobei die Begriffspaare und die sich ergänzenden Wort-Reihungen, die den ganzen Text durchziehen, ebenso viel „Beat“ wie die Musik entwickeln sollen: „Diese Transformationsversuche durchsetzen den ganzen Text und geben einen kraftvoll-dynamischen und emotionalisierten Wirkungseindruck.“109 Während Brinkmann sich in seinen Gedichten oftmals mit der Nennung einzelner Bandnamen, Song- oder LP-Titel begnügt hat, d. h. mit der Inventarisierung populärer Musik, scheinen seine Kurzgeschichten vielmehr von der Überzeugung geprägt zu sein, dass durch bestimmte Schreibweisen auch der Klang der Musik schriftlich fixiert und dem Leser mitgeteilt werden kann. Die dabei vorherrschende Passivität des Erzählers trägt zudem dazu bei, dass dieser oftmals gänzlich hinter diesem endlosen und monomanischen Wahrnehmungsstrom zurücktritt und einzig und allein die Evokation von akustischen und optischen Reizen in den Vordergrund tritt. Das hat zur Folge, dass der Leser selbst in die Rolle des passiven Beobachters gedrängt und unmittelbar in das Geschehen hineinversetzt wird. Ebenso wie in vielen Kurzgeschichten Brinkmanns ist dabei die Musik wiederum Anlass für irritierende und unmerkliche Ort- und Zeitwechsel, was dem Wahrnehmungsstrom die Charakteristik eines Wachtraums verleiht: So findet sich der Leser urplötzlich in eine Konzerthalle katapultiert, wobei scheinbar das aus der Musikbox erklingende Jazz-Thema den Ausgang für diese Assoziationen geliefert hat. Detailversessen beschreibt der Erzähler, wie der in New York aufgewachsene Jazz-Pianist Thelonious Monk, der für seine Vorliebe für harte Dissonanzen, neuartige Harmonien und rhythmische Verschiebungen bekannt war, die Bühne betritt und sein bekanntes Stück Blue Monk anstimmt: „Mit dem Unterarm schlug er blind eine Reihe von Tönen an, ein Block blinder Töne, den er stehenließ, der von neuen anderen Klängen weggedrückt wurde, die Töne, die Klänge falsch, quergestellt, wirr, ein Gewirr von falschen, schrägen Tönen, die durcheinandertanzten, die rollten, ausrollten und verschwanden und sich immer mehr zusammenfügten zu einem fast einheitlichen Spiel, das ein seltsam geschlossenes Gefüge ergab.“110

109 Selg 2001, S. 167. 110 Brinkmann: Erzählungen, S. 261. Nachzuhören ist das Stück Blue Monk u. a. auf der aus dem Jahre 1957 stammenden Live-Aufnahme Thelonious Monk Quartett With John Coltrane At Carnegie Hall, die 2005 als CD auf dem Label Blue Note veröffent-

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Fast nahtlos geht die Beschreibung des Auftritts von Thelonious Monk über in die Schilderung der Ereignisse im Schankraum, wobei das letzte Bild der Erzählung wiederum der Musikbox gilt und verdeutlicht, dass der auf den Erzähler einströmende Sinnesstrom scheinbar nie zum Erliegen kommt: „Ein knisterndes, elektrisches Rauschen kam aus den Lautsprechern, der Lärm in der Wirtschaft legte sich etwas und schwoll dann wieder an.“111 Während Brinkmann in den frühen Erzählungen ganz unmittelbar versucht, die Intensität der Jazz- bzw. Beat-Musik in die Texte zu integrieren und aus dieser Transformation neue Schreibweisen schöpft, spielt die populäre Kultur in Brinkmanns 1968 erschienenem Roman Keiner weiß mehr erstaunlicherweise nur eine marginale Rolle. Vielmehr beschreibt Brinkmann in dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte sehr detailliert die krisenhafte Situation einer Kleinfamilie, die in sehr beengten Verhältnissen in einer Kölner Wohnung haust und deren Alltag von Erstarrung und Lähmung gekennzeichnet ist. Unschwer lässt sich erkennen, dass Brinkmann mit diesem Roman seine eigenen Lebensumstände im Herbst 1967 nachzeichnet und damit zugleich auch die Situation seiner Generation zu diesem Zeitpunkt mitreflektiert. Sybille Späth bezeichnet diese in dem Roman spürbaren autobiographischen Bezüge sogar als einen weiteren Schritt Brinkmanns zur „Entfiktionalisierung seines Schreibens“112, wobei die in späteren Jahren von Brinkmann collagierten Materialbände und Tagebücher den Höhepunkt dieser Entwicklung darstellen. In Keiner weiß mehr beschreibt Brinkmann den männlichen Hauptprotagonisten des Romans als eine lethargische Person, die oftmals untätig in der Küche oder an seinem Arbeitstisch sitzt. Die Gedanken des Erzählers sind von einer „diffuse[n] Orientierungslosigkeit“ geprägt113 und schweifen in stetigen Kreisbewegungen um die immergleichen Themen: „Gerede, Gerede, fortlaufend im Kreis um sich selbst drehend, ohne viel Sinn [...].“114 Der ereignislose Alltag mit Frau und Kind wird von der Hauptfigur in einem endlos-suggestiven Wahrnehmungsstrom geschildert, der von einer Beschreibungs-Obsession gegenüber Körperregungen und -bewegungen gekennzeichnet ist und aus verschachtelten und fragmentarischen Satzgebilden besteht. Der Gedankenstrom des Protagonisten ist zudem von gewalttätigen Phantasien und sexuellen Obsessionen bestimmt,

licht wurde. Interessant ist dabei auch, dass Brinkmann den Namen des bekannten Jazz-Pianisten durchweg falsch schreibt. 111 Brinkmann: Erzählungen, S. 267. 112 Späth 1989, S. 38. 113 Ebd., S. 40. 114 Brinkmann: Keiner weiß mehr, S. 30.

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wobei die Grenze zur Obszönität oftmals überschritten wird. Nur an wenigen Stellen der Handlung wird die Untätigkeit des Erzählers durchbrochen. Der Hauptprotagonist versucht aus dem starren Alltagstrott auszubrechen, indem er sich z. B. auf Spaziergänge durch die Stadt Köln begibt oder nach London und Hannover reist. Diese Fluchtbewegungen des Erzählers, die u. a. dazu dienen, der Enge des alltäglichen Daseins zu entkommen und das Familienleben hinter sich zu lassen, scheitern jedoch an seiner Unfähigkeit, die eingefahrenen Strukturen zu durchbrechen. Insofern gleicht auch der Aufbau des Romans einer großen Kreisbewegung: Die Reise nach London, bei der welcher Erzähler seinen Freund Rainer besucht, wobei dieser ihm seine Homosexualität offenbart, sowie die Reise des Erzählers nach Stuttgart, die u. a. dazu dient, eine Prostituierte aufzusuchen, um seine sexuellen Obsessionen auszuleben, erweisen sich als Fehlschläge. Immer wieder kehrt der Hauptprotagonist nach diesen Fluchtversuchen nach Köln zurück – in der Hoffnung, alles werde nun besser. Diese Vorstellung erweist sich jedoch als Trugschluss, da der Erzähler nach jeder Heimkehr wieder in depressive und destruktive Gedanken versinkt. Ebenso wie sich die Gedanken des Erzählers in stetigen Kreisbewegungen verlieren, findet auch während des Fortschreitens der Handlung keine kontinuierliche Entwicklung des Hauptprotagonisten statt. Vielmehr folgt jeder Fluchtbewegung die „desillusionierende Rückkehr in eine unveränderte Realität“.115 Analog dazu schreibt Brinkmann in seinem späteren Gedicht Chevaux de Trait: „Der Entwicklungsroman, Köln, ist verreckt.“116 Die populäre Kultur taucht im Rahmen des Romans Keiner weiß mehr als Element des endlosen Wahrnehmungsstroms des Erzählers auf, da sie einen integralen Bestandteil alltäglicher Sinneseindrücke darstellt, denen sich der Mensch nicht entziehen kann. Zuhause, bei seinen Streifzügen durch die Kölner Innenstadt und bei seinen Reisen nach London und Hannover, ist der Erzähler stetig audiovisuellen Eindrücken aus Werbung, Film und Musik ausgesetzt, wobei sich diese aus der populären Kultur stammenden Sinnesreize oftmals mit den Alltagsgeräuschen mischen und zu einer Reizüberflutung führen. Das Verhältnis der Hauptfigur zur populären Kultur kann ohne Umschweife als ambivalent bezeichnet werden: Einerseits akzeptiert der Protagonist die populäre Kultur als unverzichtbaren Teil des alltäglichen Daseins, als Unterhaltungsmedium und Stimulans für seine sexuellen Phantasien. Andererseits begegnet er der populären Kultur, dem von Konventionen geprägten Gesellschaftsleben und dem urbanen

115 Späth 1989, S. 40. 116 Brinkmann: Westwärts 1&2, S. 16.

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Raum mit Abscheu und Ekel und steigert sich in endlose Hasstiraden hinein, wie im folgenden Zitat deutlich wird: „Deutschland, verrecke. Mit deinen ordentlichen Leuten in Massen sonntags auf den Straßen. Deinen Hausfrauen. Deinen Kindern, Säuglingen, sauber und weich eingewickelt in sauberstes Weiß. Mit den langweiligen Büchern, den langweiligen Filmen. Mit Roy Black und Udo Jürgens. Mit Thomas Fritsch. Verrecke mit deinen Wein-Königinnen Jahr für Jahr und mit Thomas Liessem. Mit dem Kölner Dom. Verrecke, auf der Stelle, sofort.“117

Fast manisch ergeht sich der Protagonist in immer weiteren Aufzählungen von Prominenten aus der Werbe-, Film- und Musikbranche, um mit den Worten „Argumentieren lohnt sich nicht mehr. Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken“ seine wütende Rede abzuschließen. 118 Diesen gegen die populäre Kultur gerichteten Ausbrüchen stehen immer wieder kurze Romanpassagen gegenüber, in denen z. B. das Erklingen von populärer Musik im Erzähler eine Anzahl an Erinnerungen und Assoziationen auslöst, die zunächst positiv konnotiert erscheinen, wobei diesmal nicht, wie in den Erzählungen, die Jazz-Musik im Mittelpunkt der Betrachtung steht, sondern vorwiegend die Rock- bzw. Popmusik. Brinkmanns intensives Interesse an der Rockmusik begann, laut eigener Aussage, erst im Jahr 1967, als Brinkmann schon 27 Jahr alt war.119 Laut der Erinnerung von Ralph-Rainer Rygulla, Mitherausgeber der Sammlung Acid, hat Brinkmann bis dahin sowohl klassische Musik als auch Jazz gehört und Konzerte von amerikanischen Bebop-Musikern wie z. B. Thelonious Monk, Max Roach und Gerry Mulligan besucht.120 Oftmals erschöpft sich die Thematisierung von populärer Musik in dem Roman Keiner weiß mehr jedoch, wie auch Sascha Seiler anmerkt, in der „Beschreibung alltäglicher Rituale“121, die z. B. darin bestehen, dass der Erzähler sich gemeinsam mit seinen Freunden in seiner Wohnung trifft, endlos redet und dabei Rockmusik hört: „Sie saßen vorne bei ihm im Zimmer und hörten Schall-

117 Brinkmann: Keiner weiß mehr, S. 132f. 118 Ebd., S. 133. 119 In einem Brief an den Studenten Hartmut Schnell vom 23.12.1974 schreibt Brinkmann: „Zwischen 1960 und 1969: leidenschaftlicher Nachtkinogänger, amerikanische B-Filme/ ab 1970 kein Interesse mehr an Kino und Filmen/ seit 1967: Beschäftigung mit Rock’n’Roll-Musik (ab 1972 abgebrochen) [...].“ (Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 114). 120 Vgl. Schäfer: Pop-Literatur, S. 110. 121 Seiler 2006, S. 169.

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platten, neue, die er sich auf einem seiner Gänge durch die Stadt gekauft hatte.“122 Die Erwähnung populärer Musik diene dabei vorwiegend, so Seiler, der „Illustration von gewissen Situationen innerhalb eines sozialen Raums, in dem die Musik immer gleichmäßig weiterläuft“.123 Diese „leitmotivische Funktion“124, die laut Seiler die populäre Musik innerhalb des Romans einnimmt, zeigt sich auch deutlich an der stetigen Erwähnung der Rockband Rolling Stones, deren Musik oftmals bei den Treffen zwischen dem Erzähler und seinem Freund Gerald aufgelegt wird.125 Die mit dem Hören von populärer Musik verbundene soziale Praxis (Ausgehen, Tanzen etc.) ist dem Hauptprotagonisten oftmals nur noch als Erinnerung präsent, da er sich schon längst seiner eigenen Lethargie ergeben hat. Das alltägliche Dasein und die Enge des Familienlebens scheinen das intensive Lebensgefühl, das der Erzähler u. a. mit der populären Musik verbindet, abgetötet zu haben. Die populäre Musik dient dem Erzähler oftmals dazu, den permanent auf ihn einströmenden Alltagslärm zu verbannen und aus der als beengend empfundenen Realität zu fliehen: „Er drehte die Musik lauter, so daß die Geräusche in der Wohnung dahinter verschwanden.“126 Doch auch diese Vorstellung bleibt illusorisch, da die Musik ‚aus der Konserve‘ auf Dauer nicht als Ersatz für das eigentliche Leben dienen kann, was auch dem Erzähler deutlich wird. So sitzt der Erzähler oftmals „untätig mitten in den Erinnerungen“ in seinem Zimmer und denkt darüber nach, „wie es denn vorher war“: „[B]esser als jetzt, mußte er zugeben. Sie waren alle zusammen weggegangen, irgendwohin, tanzen, Musik hören in dem Keller oder italienisch essen.“127 Immer wieder überkommt den Erzähler auch auf seinen Spaziergängen durch die Stadt der Wunsch, „Musik zu hören, R&B-Musik, Otis Redding, Otis Redding, Otis Redding, immerzu“128, um der Enge und Trostlosigkeit des urbanen Raums etwas entgegenzusetzen, das Vitalität ausstrahlt und eine gewisse stimulierende Wirkung besitzt. Doch auch dieses fast mystisch anmutende Potential, das der Erzähler der populären Musik zuschreibt, erweist sich als trügerisch, da der Erzähler, wie aufgezeigt, schon längst von einer Abscheu gegenüber der Entwicklung der populären Kultur erfasst worden ist.

122 Brinkmann: Keiner weiß mehr, S. 69. 123 Seiler 2006, S. 171. 124 Ebd., S. 168. 125 Vgl. ebd, S. 169. 126 Brinkmann: Keiner weiß mehr, S. 54. 127 Ebd., S. 68. 128 Ebd., S. 141.

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Seit der Veröffentlichung seines Romans und seiner Gedichtsammlung Gras, die 1971 erschien, hat Rolf Dieter Brinkmann bis zu seinem tragischen Unfalltod im April 1975 in London kein weiteres literarisches Werk mehr publiziert. Welcher Arbeit er sich in der Zwischenzeit widmete, ist erst durch die Herausgabe seiner Tagebücher bzw. Materialsammlungen bekannt geworden: Es handelt sich dabei um die 1971 bis 1973 von Brinkmann geführten Tagebücher, die unter dem Titel Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin erschienen sind, das Reisetagebuch Rom, Blicke, das u. a. Brinkmanns zehn Monate währenden Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom schildert, sowie den Band Schnitte, den Brinkmann seit 1972 zusammengestellt hat. Gerade die in Köln entstandenen Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, die ein dichtes und verwirrendes Konglomerat aus collagierten Textstücken, Zeitungsausschnitten und Fotos darstellen, geben sehr genau Auskunft darüber, wie sein zweiter Roman, dessen Anfertigung ihm große Angst bereitete, hätte aussehen sollen. Brinkmann schwebte wiederum ein „Entwicklungsroman“ vor – „mit Reisen, Orten, Menschen, Situationen, ein Delirium, durcheinanderwirbelnde Szenen von 1940 bis 1970“.129 Wobei, so Brinkmann, die Handlung sowohl von „Panik“ und „Ich-Zersplitterung“ geprägt sein130 und eine ganz im Jetzt verankerte Reise „in die elektrifizierte, kontrollierte, von ständigen gleichen Impulsen als künstliches Labyrinth angelegte Tagund Nachtwelt“ schildern sollte.131 Dabei wollte Brinkmann weitestgehend auf Personen verzichten: „Ich finde widerlich, sobald jemand mit Personen! in einem Roman anfängt!!! Ich weiß, wie stark das einengt! Legt aber alles auch fest. Deswegen kann ich nicht mehr schreiben. Ich will von diesen Scheiß-Personen weg!!!“132 Dennoch sollte, nach Brinkmanns Vorstellung, am Ende des Romans ein „selbstbewußte[s] Ich“133 stehen, das durch die ganzen Irrungen und Wirrungen gegangen ist und sich dadurch eine neue „selbstbewußte Klarheit vor den Dingen, Menschen, unter den Dingen, Menschen, Orten“ erworben hat.134 Die Schreibtechniken des Romans sollten, laut Brinkmann, „exakt nach Filmtechniken arbeiten, mit Rückblende, Überblendung, Szeneneinfärbung, Schnitte, Gegenschnitte, Ton gemischt, ausgefilterten Geräuschen, Gesamtszenen und De-

129 Brinkmann: Erkundungen, S. 250. 130 Ebd., S. 236. 131 Ebd., S. 285. 132 Ebd., S. 197. 133 Ebd., S. 193. 134 Ebd., S. 281.

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tails, Schwenks, Rundschwenks usw.“135 Um zu erreichen, dass „die Figuren und Szenen und Gedanken des Romans immer mehrwertig sind“, sei es zudem notwendig, so Brinkmann, „permanent die Szenen herumzuwirbeln und zu rotieren“.136 Nicht unähnlich den Problemen, denen sich William S. Burroughs beim Selektieren und Zusammenfügen seiner umfangreichen Notizen zu einem Roman gegenübersah, ist auch Brinkmann von der schieren Materialfülle seiner Aufzeichnungen überfordert: „Ja, ich schreibe seit ganz langer Zeit an einem Buch, aber ich bin so hilflos, daß ich nicht weiß, wie ich alle die Sachen, die einzelnen Fotos, Erlebnisse, Gedanken, Projektionen, Halluzinationen, Ängste zusammenbündeln kann [...] Und ich kann dich jetzt hören, wie Du sagst, einfach anfangen. Ja, das kannst du leicht sagen. Nur Wie??“137

Dergestalt heißt es dann auch: „Scheiß was auf den Roman! Den Zwang. [...] Und sobald ich mir das sage, werde ich sehr leicht und klar und freue mich und eine angenehme Entspannung strömt durch meinen Körper [...].“138 Man mag lange darüber spekulieren, ob es Brinkmann jemals geschafft hätte, aus den angehäuften Notizen einen Roman zu formen; dennoch spiegeln seine späteren Tagebücher und Materialbände aufgrund ihres Collage-Charakters sehr genau wider, was Brinkmann unter seinem Vorhaben, den „gegenwärtigen Bewußtseinsraum zu erkunden“139, verstanden hat: Die ab 1971 in Köln und zum Teil auch in Longkamp an der Mosel entstandenen Tagebücher zeigen einen Schriftsteller, der von existentiellen Ängsten betroffen ist, sich aber dennoch daran macht, das „elektrische Versuchslabyrinth“140 der Städte zu durchschreiten und „das Gespenstische, Phantomhafte der Gegenwart“141 zu beschreiben – analog zu Brinkmanns früheren literarischen Versuchen, alle auf ihn einströmenden Sinneseindrücke zu verarbeiten. Wobei Brinkmanns „Feldversuche“ 142 aufgrund ihres zum Teil halluzinatorischen Charakters oftmals die Form einer Phantasmagorie annehmen, die zum Teil groteske und obszöne Züge aufweist und an Burroughs’

135 Ebd., S. 261. 136 Ebd., S. 194. 137 Ebd., S. 209. 138 Ebd., S. 305f. 139 Ebd., S. 106. 140 Ebd., S. 127. 141 Ebd., S. 57. 142 Ebd., S. 227.

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Werke erinnert.143 Brinkmanns „Suche nach Intensität“144 führt ihn in eine Gegenwart, die von Verfallserscheinungen gekennzeichnet ist: „[J]eden Tag flimmern Verbrechen, Morde, Verstümmelungen über die Netzhaut/ jeden Tag werden die Geruchsnerven verstümmelt, die Hautempfindungen abgetötet/ jeden Tag werden nackte Frauenköper in die Straßen gepumpt/ jeden Tag nimmt die Apathie und Abwesenheit zu/ gespenstische Unfälle ereignen sich/ jeden Tag verwahrloste Plätze und Straßenzüge/ [...] Kneipen, aus denen endloses Gerede bricht/ musikalisches Gewimmere / lebender Abfall kriecht herumm //“145

Die populäre Musik, die Brinkmann einst als stimulierend empfand, findet in seinen Tagebüchern kaum Erwähnung – vielmehr glaubt er sich in „Diskotheken gleich Gaskammern voll Musik“146 versetzt und bezeichnet die auf ihn einstür-

143 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Brinkmanns Tagebücher und Materialbände immer wieder Zeugnis über sein Interesse an der phantastischen Literatur geben – ein Faktum, das bis dato keine Beachtung bei der literaturwissenschaftlichen Analyse gefunden hat. So liest Brinkmann, laut eigener Auskunft, u. a. Theodore Sturgeons Horror-Thriller Some Of Your Blood (Deutsch: Blutige Küsse), Thomas M. Dischs pessimistische Gesellschaftsutopie Camp Concentration und eine Anzahl an sogenannten SF-Groschenheften (vgl. u. a.: Erkundungen, S. 187f.). Zudem erwähnt Brinkmann u. a. Eric Frank Russells Zukunftsroman Gedanken-Vampire und den Roman Die Seelenfresser des englischen SF-Autors Colin Wilson (vgl. Rom, Blicke, S. 32). Auffällig bei dieser Auflistung von Werken, die heute als Klassiker der phantastischen Literatur gelten, ist, dass in ihnen durchweg ein negatives Gesellschaftsbild gezeichnet wird und psychologische sowie soziale Themen im Vordergrund stehen: Dergestalt beschreibt der amerikanische Autor Thomas M. Disch in Camp Concentration ein totalitäres Regime, das medizinische Experimente mit Syphiliserregern an missliebigen Personen durchführen lässt. In Russells Roman Gedanken-Vampire dienen die Nervenströme des Menschen den sogenannten Vitonen als Nahrungsquelle. Colin Wilson erzählt von ‚Bewußtseins-Parasiten‘, die seit langer Zeit vollkommen unbemerkt das menschliche Verhalten beeinflussen und Angst, Paranoia, Depression und Selbstzweifel schüren. Brinkmanns Lektüre dieser Romane, die zwar zum Bereich der Trivialliteratur zählen, aber erstaunlich experimentelle Schreibweisen beinhalten, weist deutlich auf sein fortwährendes Interesse an der populären Kultur hin. 144 Brinkmann: Erkundungen, S. 112. 145 Ebd., S. 136. 146 Ebd., S. 38f.

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zenden akustischen Eindrücke u. a. als „Lärm rasender Musikboxen und endloser Tonschleifen“.147 Auch Brinkmanns Aufenthalt in Rom als Stipendiat der Villa Massimo ist von der gleichen Grundstimmung geprägt, wie die von Oktober 1972 bis Januar 1973 von Brinkmann geführten Aufzeichnungen Rom, Blicke deutlich machen. Brinkmann bezeichnet Rom u. a. als „Toten-Stadt“148, die von einer „schmutzigen Verwahrlosung“ geprägt sei.149 Seine Aktivitäten während des Rom-Aufenthalts sind von sozialer Isolation gekennzeichnet, wobei Brinkmanns selbstgewählte Abschottung fast selbstzerstörerische Züge trägt.150 Nur unwillig nimmt er an den Zusammenkünften und Aktivitäten seiner Mitstipendiaten teil, die er zudem in seinen Aufzeichnungen mit viel Hass belegt. Seine Spaziergänge durch die Innenstadt von Rom versetzen Brinkmann in einen „Zustand der Verwirrung“151, da er alle auf ihn einströmenden Reize als „Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen“ erfährt: „Die Sinne werden verstümmelt, der Geschmack wird verstümmelt, der Blick und das Empfinden, jede zarte oder zärtliche Regung. Nach der Verstümmelung der Landschaft die Selbstverstümmelung des Menschen [...].“152 Obwohl Brinkmann die Gegenwart als fragmentarisch empfindet, dokumentiert er u. a. in Briefen an seine Frau Maleen pedantisch seinen Tagesablauf und fügt seinen Beschreibungen Fotos, Postkarten, Rechnungen, Zugfahrscheine, Zeitungsartikel und mit Anmerkungen versehene Stadtpläne bei. Aber nicht nur die diffizile Rekonstruktion seiner Bewegungen bzw. Aktivitäten steht dabei im Vordergrund; vielmehr geht es Brinkmann um die Darstellung aller sinnlichen Eindrücke – egal ob diese negativ oder positiv konnotiert sind. Oberflächlich betrachtet, lässt sich somit kein Bruch mit Brinkmanns früheren Werken feststellen, in denen die unmittelbare Darstellung einer Alltagsästhetik im Fokus stand, obwohl Brinkmann die Beschreibungen in seinen Tagebüchern und Materialbänden nicht in einen fiktiven Rahmen einbettet.153 Bei genauerer Betrachtung jedoch tritt auch in Rom, Blicke Brinkmanns stetig sich verstärkende Ablehnung der neuesten Entwicklungen der populären Kultur hervor:

147 Ebd., S. 127. 148 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 69. 149 Ebd., S. 16. 150 Vgl. Späth 1989, S. 107. 151 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 26. 152 Ebd., S. 34. 153 Vgl. Seiler 2006, S. 173.

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„Kunst: ist keine mehr. Brüchige Reste./ Man hat nach dem Krieg doch nie wieder überraschend vitale Leistungen hervorgebracht, weder in der Literatur, alles brav bis in die Kritik am Zustand, weil sehr human, das verkauft sich gut in den öffentlichen Medien, noch in der Malerei, alles Fusch, weder in der Musik, blödes Gestöpsel von Stockhausen bis zu den dumpfen Kopien der Rock’n’Roll-Musik, noch im Film, versaut von didaktischen Ansprüchen [...].“154

Immer häufiger löst das Hören von ganz bestimmten Songs bei ihm nur noch zum Teil schmerzhafte Erinnerungen an seine Jugendzeit aus oder ist es Anlass für längere Assoziationsketten. Während Brinkmann in seinen früheren Werken immer wieder auf die stimulierende Wirkung z. B. der Jazz- und Rockmusik insistiert hat, sieht er sich in Rom nur noch vom „durchschnittlichen spätvergammelten Pop-Muff der braven kleinkarierten Bürgerkinder“ umgeben.155 Die „Pop-Euphorie“156, die Brinkmann – in Anlehnung an Leslie A. Fiedler – noch in seinen Essays verbreitet hat, ist in seinen Tagebüchern vielmehr einer pessimistischen Sichtweise auf die Konsum- und Unterhaltungswelt gewichen. Brinkmann sieht sich auch in Rom einer Flut von Sinnesreizen ausgesetzt, die, laut seiner Vorstellung, ganz unmittelbar einen psychischen und physischen Effekt auf den Menschen ausüben: „Seelenerweiterung? Auf der Straße passiert eben ständig Seelenverkürzung.“157 Gegen diese den Menschen konditionierende Reizüberflutung schreibt Brinkmann an, wie schon in der folgenden Bemerkung aus dem Jahr 1971 deutlich hervortritt: „Wenn heute schreiben noch einen Sinn hat, dann den, gegen den von außen einem aufgedrängten psychosomatischen Selbstmord zu schreiben.“158 In Anlehnung an William S. Burroughs ist Brinkmann der Überzeugung, dass z. B. staatliche Institutionen und die Massenmedien den Menschen manipulieren. Dieser „Abrichtung der Gedanken und Einfälle durch ein erstarrtes kulturelles Bewußtsein, da[s] von Massenmedien verwaltet wird“159, gelte es, so Brinkmann, zu entkommen: „Massenmedien betreiben bewußt Verwirrung und Wahnsinn/ psychischer Krieg auf der Ebene des Nervensystems gegen das Nervensystem!“160 Um dieses „vorprogrammierte[...]

154 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 158. 155 Ebd., S. 322. 156 Schäfer: Pop-Literatur, S. 257. 157 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 76. 158 Brinkmann: Erkundungen, S. 180. 159 Ebd., S. 187f. 160 Ebd., S. 231.

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Reizreaktionsschema“ zu durchbrechen161, bedient sich Brinkmann in seinen Materialbänden und Tagebüchern vorwiegend einer fragmentarischen Schreibweise bzw. der Collage-Technik.162 Schon in seiner Rezension von William S. Burroughs’ Roman Nova Express hatte Brinkmann angemerkt: „Wörter rufen bestimmte Vorstellungen hervor, die wieder zu Wörtern gerinnen. Das ist das alltägliche Gefängnis, eine schmierige, heruntergekommene Schaubude, die den Körper festhält, hier in der Zeit. Wörter reagieren auf Wörter, und diese Klamotte wird jeden Tag in den Massenmedien aufgeführt.“163 Während es Brinkmann u. a. in seinen frühen Kurzgeschichten darum ging, die Intensität der populären Musik schriftlich zu fixieren, dient Brinkmann nun der harte Schnitt der CollageTechnik dazu, „das Fragmentarische und Zersplitterte im sozialen Raum, in dem er sich bewegt, in eine literarische Form zu bringen“164: „So also zerfällt bei mir das Gesamte und Panorama in lauter Einzelheiten.“165 Wie sehr sich Brinkmann von Burroughs beeinflussen ließ, zeigt auch sehr deutlich der Materialband mit dem bezeichnenden Titel Schnitte, an dem Brinkmann seit 1972 arbeitete und in dem er ein defätistisches Bild seiner Generation zeichnet: Brinkmann schrieb und montierte dieses u. a. aus eigener Prosa, Fremdtexten, Comics, Fotos und Zeitungsmaterial bestehende Buch sowohl in Rom und in Olevano in den Albaner Bergen als auch in Köln. 166 Um das „zwanghafte Muster bloßen Reagierens auf Wörter“ zu durchbrechen167, sucht Brinkmann, ebenso wie Burroughs, nach „Schnittpunkte[n] in der Stille“168, indem er zum größten Teil mit „Wortblöcken und Vorstellungsfeldern“ hantiert.169 In Rom, Blicke schreibt Brinkmann demgemäß: „[R]ichtiger wäre eine Stille, ein Schweigen, sie wären angemessener angesichts des tatsächlichen Kultur-Zustandes.“170 In Schnitte werden die Text- und Bildebenen „nicht nur jeweils selbst, sondern auch zueinander durch Schnitte montiert“, wobei „der Titel des Bandes [...] auch den Grund für das Zerreißen des Text-Bild-Kontinuums“ an-

161 Brinkmann: Film in Worten, S. 205. 162 Zur Cut-up- bzw. Collage- und Montage-Technik bei Brinkmann vgl. auch Strauch 1998; Herrmann 1999; Groß 1993. 163 Brinkmann: Film in Worten, S. 205. 164 Seiler 2006, S. 179. 165 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 184. 166 Vgl. Brinkmann: Schnitte, S. 158. 167 Brinkmann: Spirituel Addiction, S. 204. 168 Ebd., S. 203. 169 Ebd., S. 204. 170 Brinkmann: Rom, Blicke, S. 65.

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gibt: „Der zerstückelte Bildtext verweist auf reale Verletzungen, für die Brinkmann die schmerzhaft erfahrenen physischen und psychischen Zumutungen der Realität verantwortlich macht.“171 Brinkmanns fatalistische Sicht auf die gesellschaftlichen Zustände wird auch in der posthum veröffentlichten Gedichtsammlung Westwärts 1&2 deutlich. Sibylle Späth bezeichnet dieses große Prosagedicht Brinkmanns als „lyrisches Gemälde“, das den „Zustand der westlichen Zivilisation im Stadium ihres Zerfalls“ nachzeichne, indem es in zyklischen Wiederholungen und Variationen die Einzelelemente dieses Verfalls isoliere und somit für alle deutlich ausstelle.172 Brinkmann beschreibe in Westwärts 1&2, so Späth, die zweitausendjährige Geschichte der abendländischen Kultur als „fortlaufenden Entwicklungsprozess der Selbstzerstörung“: „Der Schreibende ist das exemplarische Subjekt, das [...] die Deformation seiner selbst wortwörtlich am eigenen Leib nachbuchstabiert. Seine Geschichte, die eine Geschichte der fortschreitenden Verstümmelung ist, wird zum Paradigma dieses heillosen Weltzustandes.“173 Ebenso wie in seinen Tagebüchern und Materialbänden sieht Brinkmann den primären Grund für diese traumatische Gegenwartserfahrung darin, dass der Staat, die Wirtschaft, die Kirche und die Massenmedien den Menschen u. .a. über die Sprache konditionieren und somit bis hinein in seine Träume und Vorstellungen beherrschen. Diese „installierten Kontrollmaschinen“174, so Brinkmann in seinem Nachwort zu dem Gedichtband Westwärts 1&2, würden zu einer Zerstörung des Ausdrucks und einer Verarmung der Empfindungen führen, wobei diese überall spürbaren Verfallserscheinungen auch die literarische Rede erfasst hätten: „Die westdeutsche (& vermutlich überhaupt deutschsprachige) Poesie nahezu abgestorben, überlastet, ausgeräubert von den politischen Begriffen (was ist darin begriffen?), eine Hinwendung zur Politik, die zweifelsohne die ehemals mächtige Religion ersetzt hat, der Glaube an Politik, an den Staat, die staatliche Form, und was sich zeigt, an jeder Straßenecke, in jeder Zeitungsspalte, ein emotional ausgeräubertes, lahmgeschlagenes Sprachterritorium von 60 Millionen, Zäune, Mauern, Verbote und Ordnungsschilder, aufgeteiltes Land.“175

171 Späth 1989, S. 115. 172 Ebd., S. 74. 173 Ebd., S. 74f. 174 Brinkmann: Westwärts 1&2, S. 269. 175 Ebd., S. 279.

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Auch in seinen späten Gedichten schreibt Brinkmann somit gegen diese Vorherrschaft der Sprache über die Wahrnehmung und Erfahrung des Individuums an und postuliert eine Auflösung sprachlicher Strukturen, die bis zum gänzlichen Verzicht auf Wörter führen kann: „Stell dir vor, in diesem Moment gäbs keine Wörter mehr, überall, nirgendwo, was für eine fantastische Stille [...].“176 In seinem Gedicht Eine Komposition, für M. erklärt Brinkmann – in Anlehnung an den südafrikanischen Psychiater David Cooper – den Schriftsteller zum „‚Athleten des Extraverbalen‘“177, der nicht nur Sprachakrobatik betreibt, sondern nichtsprachliche Aspekte der Kommunikation wie Gestik, nonverbale phonetische Laute und soziokulturelle Fakten in den Vordergrund seiner literarischen Tätigkeit stellt – ein schier unmögliches Unterfangen, da die Kritik an der sprachlichen Konditionierung des Menschen wiederum nur mittels Sprache formuliert werden kann. Brinkmanns Suche nach der Transformation sinnlicher Wahrnehmungen in die literarische Rede lässt sich also zugleich auch als ein stetiges Abarbeiten an dieser Problematik lesen, wobei der Schriftsteller die Sprache oftmals bis an ihre Grenzen oder sogar darüber hinaus führt. Ebenso wie in seinen Collage-Bänden bedient sich Brinkmann bei der Erstellung seiner späten Gedichte der offenen und fragmentarischen Form, um, wie er selber im Nachwort zu Westwärts 1&2 konstatiert, „dem Zwang, jede Einzelheit, jedes Wort, jeden Satz hintereinander zu lesen, und damit logische Abfolgen zu machen“, zu entgehen.178 Die „springende Form“179 bietet Brinkmann die Gelegenheit, immer wieder neu anzusetzen und damit sprachliches Territorium zurückzuerobern, das vormals von z. B. den Massenmedien oder einem repressiven Staat okkupiert wurde. Indem Brinkmann mit Brüchen und Rissen im Sprachgeflecht arbeitet, löst er semantische Ordnungen auf und durchbricht die Erwartungshaltung des Lesers. Zugleich zeichnet die literarische Collage das Abbild einer subjektiven Realität nach, die den tradierten Formen scheinbar nicht zugänglich war. Ebenso wie Brinkmanns vorangegangenen Werke ist auch seine späte Lyrik davon getrieben, alle auf das Individuum einstürzenden sinnlichen Reize zu einem subjektiven Wahrnehmungsstrom zu verarbeiten, wobei Brinkmanns sprachkritische Arbeit diesmal nicht durch die direkte Hereinnahme von z. B. Fotos oder Zeitungsartikeln bestimmt ist. Zudem verzichtet Brinkmann auf typographische Besonderheiten (Fettdruck, Veränderung der Schriftart und Zeichen-

176 Ebd., S. 261. 177 Ebd., S. 143. 178 Ebd., S. 263. 179 Ebd.

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größe etc.), die in seinem Gedicht Vanille noch das Schriftbild geprägt hatten. Die Gleichzeitigkeit vieler audiovisueller Reize findet ihr Äquivalent vielmehr darin, dass Brinkmann einzelne Textblöcke, Sätze oder Wörter im Schriftbild gegenüberstellt, was frappierend an die Fold-in-Methode von William S. Burroughs erinnert. Wie aufgezeigt, galt Brinkmann vormals insbesondere die populäre Musik aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und Präsenz als Garant für ein sinnliches Erleben, das sich durch einen hohen Grad an Intensität auszeichnet, so dass er sie oftmals zum Strukturprinzip seiner literarischen Produktion erhob. In Westwärts 1&2 bilden zwar die alltäglichen sinnlichen Eindrücke immer noch das primäre Element, aber insbesondere die wenigen Gedichtabschnitte, die sich mit der populären Musik auseinandersetzen, zeigen deutlich, wie sehr sowohl der Jazz als auch die Rockmusik von Verfallserscheinungen betroffen ist. Die Jazzmusik hat, folgt man Brinkmanns Beschreibungen in seinem Gedicht Ein Abend, schon längst ihren revolutionären Impetus abgelegt und ist zu einem Bestandteil der Musikgeschichte geworden: „Die Jazz/ Männer sind alt geworden, die/ nachts in The Voice of America Jazz/ Hour zu hören waren,/ leergeblasene Blue Notes verstimmte Klaviere,/ verblichenes Elfenbein, mühsame/ Blues & Improvisationen, das Verlassen/ des Themas, so gingen sie fort,/ verlängert in die knisternden Archive,/ einer nach dem anderen stirbt [...].“180 Ebenso gibt sich die Rockmusik, laut Brinkmann, damit zufrieden, tradierte musikalische Strukturen zu übernehmen und keinen innovativen Schub mehr zu leisten: „Als ich vor fast zwanzig Jahren die ersten Rock’n’Roll Schlager aus der Musikbox, die einzige des Ortes, hörte, waren sie Überraschungen, jähe Schübe einer lebendigeren Welt, Aufbrüche, nun, 1974, sind es die Schlager und endlose Wiederholungen, Bandschleifen, sobald das Tonband durchgelaufen ist, beginnt automatisch Rückspulung.“181

Demgemäß beschreibt Brinkmann in dem Gedicht Ein gewöhnliches Lied die wütende Performance eines Rockmusikers, der sich einem phlegmatischen Publikum gegenübersieht, das aus dem dunklen Zuschauerraum den Auftritt still beobachtet und nur darauf wartet, für sein Eintrittsgeld gut unterhalten zu werden. Hasserfüllt schreit der Rockmusiker den Zuschauern seine Frustration ins Gesicht: „‚Ich schlage euch nieder,/ ich weiß nicht, ob aus Wut,/ dann kommen die Lieder/ besonders gut.‘“182 Doch die Zuhörer verharren in ihrer Lethargie: „Sie

180 Ebd., S. 191f. 181 Ebd., S. 279. 182 Ebd., S. 11.

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schauten ihm bei dieser Arbeit zu,/ von den bezahlten Sitzen aus, stumm, eine Art/ der Wiederholung [...].“183 Die letzten Zeilen des Gedichts entlarven den provozierenden Gestus des Musikers jedoch als reine Maskerade, hinter der sich u. a. ökonomische Gründe verbergen: „‚Mein Lied/ ist gewöhnlich, mein Lied ist/ ein Dreck, und ihr sitzt da/ und seit ganz weg. Am besten/ ist, ich geh nach Haus, wenn der/ Weg nicht zu lang wär./ Also gebt mir das Geld, ich muß den/ Flug bezahlen, das Hotel,/ und die Band.‘“184 In nur wenigen Zeilen offenbart Brinkmann den Auftritt des Rockstars als verlogenes und „sinnentleerte[s] Ritual“185, das mit dem aufrührerischen Gestus der Rockmusik spielt, realiter jedoch nur den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage folgt.186 Während in den 1960er Jahren britische Rockbands wie Pink Floyd und Soft Machine versuchten, das Klangspektrum zu erweitern, kamen aus der Tradition der amerikanischen Folkmusik und der in ihrem Rahmen entstandenen Protestsong-Bewegung (z. B. Bob Dylan) neue musikalische und inhaltliche Impulse, die u. a. auch eine Politisierung der Rockmusik zur Folge hatten. Schon Ende der 1960er Jahren erfuhr die Rockmusik jedoch immer stärker eine gesellschaftliche Akzeptanz, was die Vermarktung von Rockbands auch für die Plattenindustrie lukrativ erscheinen ließ und zu einer stetigen Kommerzialisierung führte. In der Folge entstanden eine Vielzahl an Spielweisen und Stilkonzeptionen, welche die andauernde Nachfrage der Hörer befriedigen sollten. Auch Jörgen Schäfer sieht Brinkmanns vehemente Abrechnung mit der populären Musik, die sowohl in seinen Tagebüchern als auch im Gedichtband Westwärts 1&2 spürbar wird, darin begründet, dass es in den frühen 70er Jahren zu einer „soziale[n] Etablierung des Pop“ und zu einem „Verlust seiner Verwurzelung in den diversen Subkulturen“ gekommen sei.187 Im Zuge dieser Entwicklung bezeichnet Brinkmann zudem die deutschen Autoren als Plagiatoren, die, anstatt neue Impulse zu setzen, einfach amerikanischen Trends nacheifern würden: „[A]lso wieder Importe, wieder eine neue Welle, so rotten sie hier das Bewußtsein aus, das gar nicht merkt, wie vergammelt amerikanisch es wird/ : also wieder farbloser Stil, wieder Gemachtes an Stelle von [G]esehenem, nie eine Rebellion der sogen. Avantgarde,

183 Ebd. 184 Ebd. 185 Seiler 2006, S. 181. 186 Vgl. Seiler 2006, S. 182. 187 Schäfer 1998, S. 254.

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weder in den 50ern (Beat-Generation, noch in den 60ern Nouveau Roman, noch Ende der 60er Pop, alles bloß importiert)/“188

Im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, in denen Brinkmann vehement dafür plädierte, den innovativen Schreibweisen, die sich in Amerika im Zusammenhang mit der populären Kultur herausgebildet haben, mehr Beachtung zu schenken, sieht er scheinbar nun darin keine adäquate Möglichkeit mehr, eingefahrene literarische Formen aufzulösen und der Literatur eine neue Sensibilität zu erschließen. Demgegenüber steht aber das von Brinkmann im Vorwort zu seinem Gedichtband Westwärts1&2 geäußerte Bestreben, die sinnliche Direktheit des Ausdrucks populärer Songs zu adaptieren: „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.“189

Spürbar wird dieser Wunsch Brinkmanns sowohl in der Wahl der Titel für die einzelnen Gedichte (Donnerstagabend-Blues, Ballade, Nach einem alten Tanzlied geschrieben, Lied am Samstagabend in Köln etc.) als auch anhand der direkten Übernahme von Zeilen aus Rock’n’Roll-Liedern von z. B. Chuck Berry und Little Richard in die Gedichte. Gleich eingangs von Westwärts 1&2 stellt Brinkmann den Songtext Plane, Too des amerikanischen Songwriters Loudon Wainwright III seinem Gedicht Ein gewöhnliches Lied gegenüber. Brinkmann hat sich beim Verfassen seines Gedichtes scheinbar vom Klang und der repetitiven Struktur von Wainwrights Text leiten lassen. Doch in der direkten Gegenüberstellung liegt auch eine gewisse Ambivalenz, da Brinkmann, wie aufgezeigt, gerade in dem Gedicht Ein gewöhnliches Lied die Vereinnahmung und Vermarktung der populären Musik durch die Musikindustrie anprangert. Viele Bemerkungen Brinkmanns, in denen er unumwunden seine Vorliebe für Wainwright III kundtut, weisen jedoch darauf hin, dass er den amerikanischen Sänger für ein positives Beispiel eines Musikers hält, der sich nicht den Marktgesetzen untergeordnet hat. Scheinbar hat sich Brinkmann, trotz seiner fatalistischen Sicht sowohl auf gesellschaftliche Zustände als auch auf die Entwicklung der populären Kultur, seine Begeisterung insbesondere für die Intensität und die subversive Kraft der

188 Brinkmann: Erkundungen, S. 213. 189 Brinkmann: Westwärts 1&2, S. 8f.

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amerikanischen Rockmusik bis zu seinem tragischen Unfalltod im Jahr 1975 erhalten. Dies belegt u. a. seine Freundschaft zu dem aus Deutschland ausgewanderten Studenten Hartmut Schnell, den Brinkmann erst Anfang 1974 bei seinem Aufenthalt als Gastdozent an der Universität Texas in Austin, USA, kennenlernte. In seinen Erinnerungen an Brinkmanns USA-Reise berichtet Schnell: „Was mich an Brinkmann so faszinierte, war sein ungemein scharfes Beobachtungsvermögen, seine Fähigkeit, die Fassade seiner Umwelt zu durchschauen und aufzudecken. Seine Liebe zur Rockmusik war ein weiterer Berührungspunkt für uns, und wir ließen die ‚großen Boxen‘, wie er meine Lautsprecher nannte, schon öfter mit einer Lou Reed-Platte dröhnen.“190

Nachdem Brinkmann nach Köln zurückgekehrt war, entwickelte sich zwischen ihm und Schnell ein reger Briefwechsel, in dem Brinkmann zunächst ausführlich Stellung zu seinem lyrischen Werk nimmt und zudem eine detaillierte Auflistung seiner Werke erstellt, da Schnell beabsichtigte, eine Magisterarbeit zu diesem Thema zu verfassen. Zudem berichtet Brinkmann sowohl über sein Leben in Köln als auch über Kinofilme und Rockmusik, die ihn beeindruckt haben. Dabei führt er auch an, dass ihm insbesondere die „amerikanische Sprachhaltung, einfach und direkt etwas zu sagen“, sehr gefallen und ihn beeindruckt habe: „Vor allem die überflüssigen intellektuellen, nur von gesetzten Begriffen ausgehenden Skrupel des Ausdrucks fielen einfach in meiner Auffassung von der amerik. Sprache weg.“191 Brinkmanns Ausführungen über den amerikanischen Sprachgestus und die amerikanische Lebensweise verbinden sich dabei immer wieder unmittelbar mit längeren Ausführungen über die amerikanische Rockmusik, ausgelöst z. B. durch das Abspielen einer Platte von The Velvet Underground. Gerade in diesen Passagen wird deutlich, dass Brinkmann der populären Musik immer noch eine enorme Lebendigkeit und ein starkes subversives Potential zuschreibt, das sie vor Vereinnahmung seitens der Musikindustrie schützt: „Und beim Anhören begriff ich noch einmal, [...] daß die Musik die überhaupt in den Staaten gemacht wird, egal zunächst auf welcher Ebene, einfach mit der Umgebung und zu der Umgebung stimmt, sie ist ein authentischer amerikanischer Ausdruck, so in der Art, wie sie gemacht wird, mit all den verschiedenen Variationen, sie ist eine authentische Selbstaussage des Landes und des Zivilisationsstandes, daran kann kein Zweifel bestehen,

190 Schnell 1995, S. 123. 191 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 40.

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und selbst die Verwertung, die Industrie, hat es bis heute tatsächlich nicht geschafft, eine Auszehrung dieser Musik zu bewirken, – das sehe ich als etwas sehr Vitales an!“192

Fast wehmütig heißt es dann auch in einem Brief Brinkmanns an Hartmut Schnell, der auf den 23.12.1974 datiert ist: „[I]ch wüßte, daß ich hübsche Rock’n’Roll Lieder schreiben könnte, lebte ich länger in den USA [...].“193

192 Ebd., S. 90f. 193 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 107. Man kann Brinkmanns Haltung zur Entwicklung der populären Musik ohne Umschweife als konservativ bezeichnen, da er einerseits angloamerikanische Rockmusiker und Songwriter wie z. B. die Doors, die Rolling Stones, The Who, Bob Dylan, Leonard Cohen, Soft Machine, Frank Zappa, David Bowie, Greezy Wheel und Velvet Underground lobt, anderseits viele musikalische Entwicklungen in Deutschland mit Nichtbeachtung straft. Schon ab Ende der 60er Jahre hatten aus Deutschland stammende Gruppen wie Kraftwerk, Kluster (ab 1971 Cluster), Amon Düül, Can, Neu! und Faust ihre experimentellen Alben veröffentlicht und damit den sogenannten Krautrock begründet. Allen diesen Gruppen war, trotz unterschiedlicher musikalischer Zugänge, der Wunsch gemein, eine „neue, nicht rein angloamerikanisch geprägte populäre Musik zu schaffen“, die radikal mit den tradierten Formen bricht und eine musikalische Bewusstseinserweiterung generiert (Dedekind 2008, S. 50). Die Krautrock-Bands fanden zum Teil sowohl aufgrund ihrer sehr komplexen und hybriden Klangstrukturen als auch aufgrund ihres affirmativen Umgangs mit technischen Neuerungen auch international Beachtung: „Als Antithese jeglicher Heterogenität pendelt die Musik zwischen ohrenbetäubendem Lärm und ausladenden Melodien wild hin und her und verbindet dabei Psychedelic Rock, Jazz und Ethno spielerisch mit elektronischen Avantgardeklängen.“ (Ebd., S. 55.) In Anlehnung an den Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen ging es den Krautrock-Bands um die „radikale Auflösung traditioneller musikalischer Ordnungen zugunsten einer Konzentration auf den Klang an sich“: „Jedes Geräusch ist Klang, jeder Klang ist Musik. Die Befreiung der Klänge wird zum zentralen Element einer Rockmusik, in der die strenge Zäsur zwischen Ton und Geräusch fortan abgeschafft ist.“ (Ebd., S. 52f.) Insbesondere der Gesang büßt in einem solchen hybriden Klanggefüge, das kein musikalisches Zentrum und keine Hierarchien mehr kennt, seine ansonsten dominierende Position ein: „Texte werden in einzelne Wortfetzen zerstückelt, die menschliche Stimme nur als zusätzliches Instrument eingesetzt: Flüstern, Schreien, Stöhnen, Sprechen – die Möglichkeiten emotionalen Ausdrucks sind beinahe unerschöpflich.“ (Ebd., S. 57.) Es ist erstaunlich, dass Brinkmann die KrautrockBewegung scheinbar nicht zur Kenntnis genommen bzw. als nicht erwähnenswert erachtet hat, obwohl ihr Prinzip der Collage unterschiedlicher musikalischer und nicht-

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3.3 D AS „ ELEKTRISCHE V ERSUCHSLABYRINTH “ DER S TÄDTE : D IE H ÖRSPIELE UND DER AKUSTISCHE N ACHLASS Obwohl Brinkmann, wie aufgezeigt, in seinen Essays immer wieder einen affirmativen Umgang mit den technischen Möglichkeiten der neuen Repräsentationsmedien einforderte, hat er nicht schon frühzeitig diese Errungenschaften für weitere experimentelle Arbeiten genutzt. Brinkmann fertigte zwar, laut eigener Angabe, schon seit 1967 eine Anzahl Super8-Filme an, die durch die filmischen Experimente der New Yorker Underground-Filmszene inspiriert waren, aber diese Arbeiten schienen für ihn nicht den Stellenwert zu besitzen, den er seinen literarischen Texten zuschrieb.194 Anfang der siebziger Jahre wendet sich Brinkmann dem Medium Rundfunk zu und schreibt in schneller Abfolge drei Hörspiele: Auf der Schwelle (entstanden 1970), Der Tierplanet (entstanden 1971) und Besuch in einer sterbenden Stadt (entstanden 1972/73).195 Alle drei Hörspiele wurden nur kurze Zeit nach ihrer Niederschrift als Stereohörspiele vom Westdeutschen Rundfunk produziert und gesendet.196 Einerseits mögen für Brinkmann finanzielle Belange ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass er sich dem Medium Rundfunk zugewandt hat, da sich mit dem Verfassen eines Hörspiels unmittelbar Geld verdienen ließ. Andererseits erscheint die Ausweitung seiner literarischen Produktion auf das Hörspiel, betrachtet man den Raum, den das akustische „Reiz Material“ in den Gedichten und Prosatexten Brinkmanns einnimmt, als logischer Schritt: Insbesondere die Form des Hörspiels kommt dabei Brinkmanns Bemühen, die „akustische Präsenz des Geschehensraumes“ in die literarische Rede zu transformieren, entgegen.197

musikalischer Elemente, ihr Bruch mit tradierten Formen, ihr unvoreingenommener Umgang mit technischen Neuerungen, ihre Stilvielfalt und ihr Einsatz der Stimme analog zu den von Brinkmann in seinen Essays immer wieder aufgestellten Forderungen an die Literatur stehen. 194 Vgl. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 113. 195 Vgl. Selg 2001, S. 281. Olaf Selg weist an gleicher Stelle auch darauf hin, dass sich Brinkmanns Interesse am Hörspiel bis in das Jahr 1957 zurückverfolgen lässt. 196 Auf der Schwelle, Regie: Raoul Schnell, Erstsendung: 14.07.1971, Spieldauer: ca. 35. Minuten; Der Tierplanet, Regie: Raoul Wolfgang Schnell, Erstsendung: 23.04.1972, Spieldauer: ca. 49 Minuten; Besuch in einer sterbenden Stadt, Regie: Ulrich Gerhardt, Erstsendung: 28.06.1973, Spieldauer: ca. 46 Minuten (vgl. Selg 2001, S. 322). 197 Ebd., S. 281.

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Ein weiterer Aspekt dafür, dass Brinkmann das Hörspiel als neue Herausforderung für sich entdeckte, scheint zu sein, dass es zu dieser Zeit keinen klaren, fest umrissenen und einheitlichen Begriff des Hörspiels mehr gab. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre hatte sich das sogenannte Neue Hörspiel entwickelt, das dem Medium Rundfunk ganz neue und experimentellere Formen erschloss, indem es sich exzessiv der Collage-Technik bediente. Wie Antje Vowinckel in ihrer umfassenden Analyse Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst ausführt, zeichnete sich das aufkommende Neue Hörspiel vor allem dadurch aus, dass es sich von den bis dato üblichen Formen (Figurenspiel, sprachbetonte Inszenierung, geschlossene Handlung etc.) emanzipierte und diese z. B. zugunsten eines mehr materiellen Umgangs mit der Sprache aufgab. Die sich rasant entwickelnde Studio- und Aufnahmetechnik bot, laut Vowinckel, den Realisatoren des Neuen Hörspiels immer größere Spielräume, in denen sie mit dem akustischen Material experimentieren konnten. Zudem, so Vowinckel, verstanden die Macher des Neuen Hörspiels die Sprache als ein eigenständiges klangliches Ausdrucksmittel, das musikalische Qualitäten besitze und auf nonverbaler Ebene sehr individuelle Empfindungen vermitteln könne. Im Neuen Hörspiel werde die Sprache, laut Vowinckel, oftmals genau so behandelt wie Musik und Geräusche, so dass viele Hörspiele im Grenzbereich zwischen Literatur und Musik anzusiedeln seien.198 Das Neue Hörspiel präsentierte sich nicht mehr primär als eine literarische Gattung, in der Geräusche und Musik nur zur Untermalung, Verdeutlichung und Dramatisierung der Handlung dienten, sondern als ein, wie Gerhard Rühm in seinen Anmerkungen zu seinen auditiven Texten schreibt, „Hörereignis, in dem alle schallphänomene, ob laute, wörter, geräusche oder klänge, prinzipiell gleichwertig sind: verfügbares material“.199 Die Gleichwertigkeit des akustischen Materials, so Rühm, annulliere zudem „die grenze zwischen musik und literatur“.200 Dieser materielle und experimentelle Umgang mit der Sprache machte das Neue Hörspiel besonders für Künstler interessant, die, laut Vowinckel, eine gewisse Sprachskepsis reklamierten und längst an den Vermittlungsfunktionen des Zeichensystems Sprache zweifelten.201 Ziel des Neuen Hörspiels war es zudem, den Hörer zu verstören, da es mittels Collage-Technik gesellschaftliche bzw. sprachliche Konditionierungen dekonstruiert und damit zugleich die Abhängigkeit jedes Menschen von Denk- und

198 Vgl. Vowinckel 1995, S. 150. 199 Rühm 1970, S. 46. 200 Ebd. 201 Vgl. Vowinckel 1995, S. 151.

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Sprechmustern offenbart.202 Dieser destruktive Habitus führt im Extremfall zu dem sogenannten „Schallspiel“, das allein auf der Generierung, Transformation und Kombination von Geräuschen basiert und dabei, wie der Dramatiker, Lyriker und Hörspielmacher Paul Pörtner konstatiert, versucht, „die immanente Musikalität, die den Geräuschen innewohnt, herauszufiltern“.203 Dabei werde der Autor, so Pörtner, zum Hörspielmacher, der seinen Sitz am Schreibtisch mit dem Sitz am Mischpult des Toningeneurs vertauscht und dessen „neue Syntax [...] der Schnitt“ sei204: „Bloßes Schallspiel ist ebenso abstrakt wie bloßes Wortspiel. Aber mittels Schall den Gehörsinn zu mobilisieren, mittels kalkulierter Impulse Inspiration zu erzielen: mit einem ausgestrahlten Hörspiel das Selbstbewußtsein des Hörers zu bewegen, das bedeutet eine Steigerung der Wirkung, die aus dem Literarischen stammt, aber über die reine Vermittlung des Sprachlichen ins Unmittelbar-Sinnliche des Hörens vordringt.“205

Sibylle Späth beschreibt Brinkmanns Arbeiten für den Rundfunk als „konsequente Verlängerung der Ausweitung künstlerischer Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten“ und als „Zumutungen an das Gehör“: „Weder sind sie [die Hörspiele] dramatisierte Erzählungen im herkömmlichen Sinn noch werden die gesprochenen Worte zu einer Sinnvermittlung genutzt.“206 So bestehe, schreibt Späth, das Hörspiel Auf der Schwelle aus einer „Stimmcollage aus der Welt des Verbrechens“ und richte sich nicht an die „sprachliche Reflexionsfähigkeit des Hörers“, sondern funktioniere als „aggressive, akustische Reizung des Nervensystems seines Zuhörers“. 207 Brinkmann selbst bezeichnet sein Hörspiel Auf der Schwelle als einen „flackernde[n] imäginäre[n] Bilderbogen“ bzw. als eine „Revue aus Stimmen und Handlungsfetzen“208, die

202 „Das neue Hörspiel deckt vorwiegend Prozesse auf, die den heutigen Menschen manipulieren und beeinflussen und nicht mehr eigentlich Mensch sein lassen. Es zeigt die Realitäten der gesellschaftlichen Konditionierung, der Abhängigkeit jedes einzelnen von Meinungen und Überzeugungen, von Denk- und damit von Sprechmustern, die nicht die seinen sind, die er nicht zu kontrollieren vermag und denen er deshalb unterliegt.“ (Lermen 1975, S. 155). 203 Pörtner 1970, S. 65. 204 Ebd., S. 62. 205 Ebd., S. 59. 206 Späth 1989, S. 69. 207 Ebd. 208 Brinkmann: Film in Worten, S. 5.

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alle Charakteristika des Kriminalromans wie „Mord, Reisen, körperliche Motorik, schnelle Wagen, Schüsse, Vernehmungen, Schläge, die Verurteilung durch den Tod in der Gaskammer“ enthalte, aber nicht nach der „vorgegebenen Logik der gewohnten Sprach- und Verständnisordnung“ zusammengestellt sei. 209 Brinkmann gibt in seinem Hörspiel Auf der Schwelle zudem für den Einsatz von Geräuschen (Schüsse, Schläge, Verkehrslärm, Vogelrufe etc.) und den Einsatz von populärer Musik entsprechende Regieanweisungen, wobei sich die Alltagsgeräusche immer wieder mit den musikalischen Elementen zu einer hybriden Form vermengen: „Das Geräusch eines schnell vorüberfahrenden Zuges ist zu hören, das zu der weichen, treibenden Orchestermusik wird, die in einigen Takten Glenn Miller gerinnt, aus denen der Schlager Big Boss Man von Jerry Lee Lewis hervorkommt, der zu Buddy Hollies Peggy Sue wird, überlagert vom Gesang Frank Sinatras, My Funny Valentine, der abrupt unterbrochen wird von dem Geräusch eines Schusses, der in nächster Nähe abgefeuert wird.“210

Oftmals wirken Brinkmanns musikalische Regieanweisungen in Auf der Schwelle ausgesprochen abstrakt und verbinden direkte Hinweise auf Songs mit weit über den Musikeinsatz hinausgehenden optischen Vorstellungen, die stark halluzinatorischen Charakter besitzen: „Hier ist die Musik My Funny Valentine zu hören, gesungen von Frank Sinatra. Die Musik scheint in einer grauen Leere zu entstehen, die grau und leer deutlicher vorhanden ist als die Musik. Die Musik ist wie ein unangenehmer Traum, an den man beim Erwachen keine Erinnerung mehr haben möchte.“211 In seinen Anmerkungen beschreibt Brinkmann sein zweites Hörspiel Der Tierplanet als „Erweiterung eines gewöhnlichen, alltäglichen Alptraums“.212 Zu diesem Zweck collagiert Brinkmann in Der Tierplanet u. a. eine große Anzahl an zum Teil anonymen Sprecherstimmen zu einem vielstimmigen Chor. Die dabei entstehenden „schwebende[n], flackrige[n] Textflächen“ werden immer wieder von „Geräuschfolgen unterbrochen, die sich mehr oder weniger ruhig und klar abwickeln“.213 Während in dem Hörspiel Auf der Schwelle noch sprechende, scheinbar individuelle Charaktere verifizierbar waren, löst Brinkmann nun

209 Ebd., S. 6. 210 Ebd., S. 15. 211 Ebd., S. 9. 212 Ebd., S. 150. 213 Ebd., S. 153.

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jegliche Figurenkonstellation und Narrativität auf und rückt damit den Inhalt und die Materialität der Rede in den Vordergrund. Dabei gleicht Brinkmanns Vorlage für das Hörspiel einer Partitur, die, wie Brinkmann in seinen Anmerkungen schreibt, von „sprunghaftem Rhythmus“ gekennzeichnet sei; „die Sätze laufen gegeneinander, verklammern sich, ergänzen sich, treiben sich weiter, stehen isoliert und werden abgewandelt, ziehen sich hin und wieder zu einer bröckeligen Geschichte auf einer Stimme zusammen“.214 Nur zwei Sprechern ordnet Brinkmann Namen zu: So tauchen in dem endlosen Strom an Stimmen auch der Linguist Alfred Korzybski und der Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich auf, deren monologische Passagen Brinkmann dazu dienen, sprachtheoretische und verhaltenspsychologische Ansätze zu veranschaulichen. Wie auch Sibylle Späth konstatiert, werden dabei Korzybski und Reich zu Vertretern einer wissenschaftlichen Erneuerung, die Möglichkeiten aufzeigt, die an sprachliche Strukturen gefesselten Denk- und Verhaltensweisen zu unterminieren.215 Dagegen beruht Brinkmanns aus fünf männlichen Sprecherstimmen bestehendes Hörspiel Besuch in einer sterbenden Stadt nach eigener Aussage zum einen auf einer „Reihe von Eindrücken, die gelegentlich halluzinativen Charakter annehmen“, zum anderen auch auf „Bruchstücken von Erinnerungen, die sich mit einer mehr oder weniger deutlichen Gegenwart mischen“.216 Immer wieder wird der Text durch ein „kurzes knackendes, unauffälliges Geräusch“ unterbrochen, das, laut Brinkmann, so klingen soll wie die Schnittgeräusche, die beim Schneiden von Bändern im Tonstudio Studio entstehen: „Oder den technisch klingenden knackenden Geräuschen eines Funkgerätes. Ein ‚elektrisches Gewitter‘.“217 Die von Brinkmann im Textmanuskript vorgenommene Einfügung von Schnittgeräuschen als „hörbarem, kompositorischen Element“, erfolge dabei, so Olaf Selg, vollkommen unregelmäßig und lasse keinen zugrunde liegenden Rhythmus erkennen.218 Die explizite Hervorhebung von Schnittgeräuschen verleiht Brinkmanns Hörspiel zudem einen stark mechanischen und selbstreflexiven Charakter, zumal der Schnitt, wie Olaf Selg konstatiert, als „technisches Mittel zur Zusammenstellung bzw. Nachbearbeitung eines Hörspiels [...] in der Regel kein Eigengeräusch“ besitze und sich vielmehr aus dem Inhalt erschließe: „Das ‚Wie‘ der Hörspieltechnik wird ganz im Sinne des Neuen Hörspiels hervorgehoben. Damit verbunden ist eine illusionsbrechende Wirkung hinsichtlich der Ge-

214 Ebd. 215 Vgl. Späth 1989, S. 71. 216 Brinkmann: Film in Worten, S. 154. 217 Ebd. 218 Selg 2001, S. 340.

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schlossenheit einer Hörspielfiktion.“219 Nach Brinkmanns Vorstellung sollte zudem ein Stück des Barock-Komponisten Pietro Alessandro Gaspare Scarlatti an bestimmten Stellen des Hörspiels eingespielt werden, wobei diese musikalischen Einschübe, wie Brinkmann in seinen Anmerkungen konstatiert, „als Fortsetzung gedacht [sind], so daß am Ende des Hörspiels auch ein wenn auch vager zusammenhängender Eindruck von Musik steht; anzustreben ist auf jeden Fall eine ruhige, genaue, wenig ‚geräuschvolle‘ Inszenierung“.220 Während Brinkmann mit seinen Hörspielen nur die textliche Vorlage für die zu produzierende Rundfunksendung gestaltete, sammelte er im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1973 für die Sendereihe Autorenalltag des Westdeutschen Rundfunks selbstständig O-Ton-Aufnahmen, um aus diesen eine Radiosendung zu schneiden. Für die Aufzeichnungen bekam Brinkmann vom Sender ein mobiles Aufnahmegerät gestellt, das er gleichsam als „akustisches Notizbuch“221 verwenden konnte. Man kann davon ausgehen, dass Brinkmann die Arbeit mit dem Tonband als Bereicherung empfunden hat, da sie ihm die Möglichkeit eröffnete, vollkommen autonom und außerhalb eines Studios in den verschiedensten Situationen selbst zu entscheiden, was er aufzeichnen bzw. festhalten wollte. Zudem konnte er nun, analog zu seinen literarischen Bestrebungen, die Simultaneität des Hörens in die Schrift zu transformieren bzw. ins Optische zu übersetzen, alle akustischen Eindrücke direkt dokumentieren und Sprache mit Außersprachlichem (Musik, Alltagsgeräuschen etc.) verbinden. Erstaunlich ist die marginale Rolle, die der populären Musik in den O-Ton-Aufnahmen zukommt, obwohl Brinkmann, wie Olaf Selg anmerkt, durch das vom Rundfunksender gestellte Tonband die Möglichkeit besaß, „Musik jetzt tatsächlich akustisch einzubinden als rein technisch sehr leicht zitierbares und für seine Verwendung im Radio geradezu prädestiniertes Element“.222 Ebenso wie u. a. in Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr werde die Musik in den Tonbandaufnahmen, so Selg, zum „Bestandteil der Erinnerung an vergangene, schöne Zeiten“.223 In den drei Monaten nahm Brinkmann unter Einbeziehung von zufälligen Alltagssituationen knapp elf Stunden Material auf neunundzwanzig Magnetspulbändern auf. Die WDR-Sendung, die auf dem von Brinkmann gesammelten akustischen Material basierte und den Titel Die Wörter sind böse trug, wurde am 26.01.1974 ausgestrahlt und besaß gerade mal eine Laufzeit von neunundvierzig

219 Ebd. 220 Brinkmann: Film in Worten, S. 154. 221 Selg 2007, S. 47. 222 Ebd, S. 52f. 223 Ebd., S. 52.

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Minuten. Wie Antje Vowinckel schreibt, ist das „Aufnahme-Verfahren O-Ton“ im Hörspielbereich oft eng verknüpft mit dem „Herstellungs-Verfahren Collage“: „Die Verbindung von O-Ton und Collage drängt sich auf, weil in beinahe allen Fällen, das ergibt sich aus dem Verfahren selbst, das gewonnene Band-Material zeitlich die Dauer einer Sendung übersteigt und deshalb notwendigerweise geschnitten werden muß. Insofern sind alle O-Ton-Hörspiele ‚manipuliert‘.“224 Ein Teil von Brinkmanns Audio-Nachlass, wie er sich auf den neunundzwanzig Bändern vorfindet, wurde erst 2005 zugänglich, als auf dem Label Intermedium die 5-fach-CD-Box Wörter Sex Schnitt erschien, zusammen mit einer sechsten CD, The Last One, die eine Lesung Brinkmanns auf dem Cambridge Poetry Festival von 1975 enthält. Die fünf CDs Wörter Sex Schnitt besitzen eine Spielzeit von 360 Minuten und 40 Sekunden und geben damit nur gut die Hälfte des von Brinkmann festgehaltenen O-Ton-Materials wieder. Im Booklet der CDBox begründet Herbert Kapfer die editorische Entscheidung, die Aufnahmen nicht als „readytapes“ zu belassen, damit, dass bei der Auswahl musikrechtliche, juristische und persönliche Gründe mitbedacht werden mussten. Zudem hätten auch inhaltliche Erwägungen für eine Auswahl gesprochen, da es sich „beim intensiven und mehrmaligen Hören der Bänder [...] als sinnvoll [erwies], stark ähnliche Sequenzen mit immer wiederkehrenden Formulierungen etc. nicht als Varianten nebeneinander zu stellen oder aufeinander folgen zu lassen, sondern auszuwählen“.225 Dennoch transportieren auch diese ausgewählten Tondokumente sehr genau die unterschiedlichen Stimmungen und Gefühle, die Brinkmann während seiner Streifzüge durch den urbanen Raum und im Rahmen seines Familienlebens mit seiner Frau Maleen und seinem Sohn Robert durchlaufen hat. Im Booklet der CD-Box bezeichnet Herbert Kapfer Brinkmanns experimentellen Umgang mit der Stimme, dem Mikrofon und den tragbaren Tonbandgeräten als eine „Arbeit im Orginalton-Raum, dem Raum des Authentischen, in dem die Äußerungen und Akionen des Autors bzw. des Aufnehmenden auf die akustischen Bedingungen der Umwelt treffen“: „Brinkmann operierte mit allen denkbaren Formen der Tonbandaufnahme bzw. -arbeit und produzierte eine Vielzahl von Textsorten: Monologisches Sprechen und Flüstern in der

224 Vowinckel 1995, S. 204. 225 Zitiert nach Booklet der CD Wörter Sex Schnitt. Man kann die Vermutung hegen, dass die schon angesprochene geringe Rolle, welche die populäre Musik in Brinkmanns O-Ton-Aufnahmen spielt, auf eben jene musikrechtlichen Gründe zurückzuführen ist, die Herbert Kapfer im Booklet der CD anspricht.

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Wohnung und im Freien; Aufnahmen von Geräuschen und Geräuschabfolgen; Lesung von Postkarten, Gedichten, Notizen; Straßenatmosphäre mit Passanten; Partymitschnitte; spontane und reflektierende Musik-Kommentierung; Befragung von Maleen und Robert Brinkmann; aktionistische Interviews mit Unbekannten, Kneipengästen etc.; lautpoetische Improvisationen; Telefon-Aktionen; Band-Montagen mit zwei Geräten usw.“226

Dabei sind Brinkmanns Tonband-Versuche, ebenso wie seine literarische Arbeit, primär davon geprägt, eine gewisse Unmittelbarkeit und Präsenz zu erzeugen und sich ganz dem Augenblick und der Gegenwart zu verschreiben. Das Aufnahmegerät bot Brinkmann dabei die Gelegenheit, direkt alle akustischen Reize einzufangen und mit dem aufgenommenen Material zu experimentieren. Der Wunsch nach einer „neuen Sensibilität“ bzw. „multisinnlichen Literatur“, der in Brinkmanns Werken immer wieder aufscheint, findet somit in dem O-Ton-Matrial seine direkte Fortführung bzw. Erweiterung – zumal Brinkmann, wie auch schon in seinen Essays deutlich wird, von einer gewissen Literatur- und Sprachskepsis getrieben war. Viele Tondokumente auf den CDs belegen Brinkmanns Zweifel an seiner literarischen Arbeit und seine Abkehr vom „Geisterschiff der Literatur“227: „Nein, an Literatur bin ich nicht mehr so wild interessiert. Ich bin [...] der Ansicht, daß Sprache, Wörter, Sätze zur Welterkenntnis völlig untauglich sind.“228 Das Tonband kann dabei, ebenso wie der Film und die Musik, zu einem „technischen Mittel der Bewußtseinschaffung oder Bewußtseinserweiterung“229 werden und neue Ansätze eröffnen, indem es z. B. die Möglichkeit bietet, akustische Sinnesreize ohne Umweg über die Sprache bzw. die literarische Fixierung zu memorieren. So dient Brinkmann das Tonband u. a. dazu, Straßenlärm, selbsterzeugte Kratz- und Atemgeräusche, Musikeinspielungen usw. mit den aufgenommenen Gesprächen und Selbstreflexionen zu einem akustischen Wahrnehmungsstrom zu collagieren, der dem Zuhörer das Gefühl vermittelt, Brinkmann beim allmählichen Verfertigen seiner Gedanken zu belauschen.230 Dabei ging Brinkmann, wie auch seine Frau Maleen zu berichten weiß, nicht immer schonend mit dem von der Rundfunkanstalt zur Verfügung gestellten technischen Gerät um: „Er benutzte das Mikrofon zum Schlagen und Hämmern, schlug auf seinen Schreibtisch und Papierstapel ein, er klopfte und kratzte am Mikrofon. Dabei versuchte

226 Zitiert nach Booklet der CD Wörter Sex Schnitt. 227 Wörter Sex Schnitt, CD4, Track 7. 228 Wörter Sex Schnitt, CD1, Track 1. 229 Selg 2007, S. 50. 230 Vgl. ebd., S. 49.

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er einen Rhythmus der Atemlosigkeit und Musik mit Alltagsgeräten zu erzeugen.“231 Wobei jedoch die auf Brinkmanns Tonbändern zu hörenden Aufzeichnungen durch die Anbindung an eine subjektive Entität, d. h. an einen Beobachter, der auswählt, welches akustische Material festgehalten oder kombiniert werden soll, zu einem Anhängsel der selektiven Wahrnehmung werden. Dabei kommt die Produktion der Aufnahmen mitunter als Prozess zur Geltung, indem Brinkmann Interviewpartner immer wieder mit der mitgeführten Aufnahmetechnik konfrontiert und dadurch neue und spontane Situationen schafft.232 Zudem sind Brinkmanns aufs Band gesprochene Reflexionen von stark zufälliger Art und können als unmittelbare Reaktion auf das Umweltgeschehen gedeutet werden. Es scheint, als begleite man den Schriftsteller auf seinem Gang durch die Stadt und höre ihm bei seinen Wut- und Hassattacken auf die Außenwelt zu. Gerade diese Erkundungen im urbanen Raum, die Brinkmann mitsamt seinem Tonbandgerät unternimmt, gleichen oftmals einer Kamerafahrt, wobei das aufgenommene Material die akustische Grundlage für die Bilder darstellt, die im Kopf des Zuhörers entstehen. Ebenso wie Brinkmann in der Literatur das Ziel verfolgt hat, einen „Film in Worten“ zu schaffen, wirken auch seine Tondokumente wie eine Tonspur für einen nicht existenten Film, d. h. einen Film, der erst in den Gedanken des Hörers seine Umsetzung erfährt. Im Jahr 2006 griff der deutsche Regisseur Harald Bergmann auf Brinkmanns akustischen Nachlass und einen Teil seiner Super8-Aufnahmen zurück, um unter dem Titel Brinkmanns Zorn ein filmisches Experiment zu wagen. Dabei begleitete Bergmann den deutschen Schriftsteller Eckhard Rhode mit der Kamera, während dieser durch Köln streifte und lippensynchron zu den Originalaufnahmen von Brinkmann agierte. Bergmanns filmische Herangehensweise ist dabei in vielerlei Hinsicht sehr konsequent. Er bebildert das akustische Material aus Sprach- und Geräuschfetzen und überführt es wieder in Handlung und Bewegung. Dabei geht es Bergmann primär um die „Aufzeichnung und Sichtbarmachung eines Wahrnehmungsstroms“233; ein Projekt, das auch Brinkmann sowohl mit seiner literarischen Arbeit als auch mit seinen Tonband- und Filmaufnahmen verfolgt hat: „Ein Mann geht durch die Stadt mit einem portablen Tonband und versucht, was er sieht und hört in Worte zu fassen und seine Stimme mitten in diesem akustischen Raum des Geschehens aufzunehmen. Wir haben 30 Jahre später versucht, das, was ein Wort und ein

231 Booklet der CD Wörter Sex Schnitt. 232 Vgl. Selg 2007, S. 50. 233 Theweleit 2008, S. 134.

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Geräusch auf einem Band geworden ist, wieder zu einer lebendigen, sinnlichen Erfahrung zu machen, indem wir die visuelle Ebene wieder hinzufügen, den Stimmen einen Körper geben usw.“234

Aber Bergmann belässt es nicht dabei, Brinkmanns Audio-Nachlass einfach zu bebildern; vielmehr rhythmisiert er den Sprach-, Geräusch- bzw. Bilderstrom und verleiht dem Film durch Hinzufügen von weiteren, sehr stark repetitiven Klangspuren eine hypnotische Wirkung, die den Zuschauer in den Wahrnehmungsstrom hineinzieht. Dabei gelingt es Bergmann, das soziale und sprachliche Umfeld eines Schriftstellers nachzuzeichnen, der oftmals wütend und manisch agiert und von einer enormen Sprachskepsis getrieben ist. Insofern ist Bergmanns Film, indem er den Autor auf seinen „medialen Streif- und sprachlichen Raubzügen durch die hassgeliebte Kölner Innenstadt“ begleitet235, eine gelungene Fortführung bzw. Weiterführung von Brinkmanns Vorstellung einer „neuen Sensibilität“, die sich ganz dem Dasein und der Gegenwart verschrieben hat und unmittelbar alle optischen und akustischen Eindrücke in sich aufnimmt. Bezeichnenderweise endet Bergmanns Film mit einer Szene, die zeigt, wie Brinkmann im April 1975 nach seinem Auftritt bei einem Lyrikertreffen in Cambridge bei einem Autounfall in London ums Leben kommt: Die Kamera fokussiert den schwer verletzten Schriftsteller und bewegt sich langsam fort, während der monomanische Wahrnehmungsstrom für immer versiegt.

234 Zit. nach www.wdr.de/themen/kultur/film/brinkmanns_zorn/070104_interview.html 235 Zitiert nach Booklet zur Triple-DVD-Box Brinkmanns Zorn, erschienen 2007 bei good! movies.

4 Punk und Literatur

4.1 W IE ALLES BEGANN : G LAMROCK , P OP ART , B EAT P OETRY UND S EX P ISTOLS „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran.“1 „Für jede Generation gibt es einen Moment, in dem sie zur Unschuld einer neuen Epoche finden muß.“2

Die Beschäftigung mit den Interdependenzen zwischen der Punk-Bewegung und der literarischen Rede, die im Kontext dieser subkulturellen Bewegung entstanden sind, bildet in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung eine Leerstelle, was primär seinen Grund darin hat, dass die Punks alles infrage stellten, was bis dahin u. a. zum musikalischen und literarischen Kanon gezählt wurde. Eine solche alles negierende und somit latent nihilistische Haltung hat scheinbar zu Berührungsängsten seitens der Wissenschaft geführt, die bis heute noch nicht abgebaut worden sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, finden literarische Schreibweisen, die im Kontext der Punk- und New-Wave-Bewegung bzw. aus ihr heraus entstanden sind, in wissenschaftlichen Texten kaum Erwähnung, obwohl, wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch aufgezeigt wird, die PunkBewegung starke Bezüge zu gegenkulturellen und avantgardistischen Strömungen – wie z. B. Dadaismus, Situationismus, Beatniks, Pop Art etc. – aufweist

1

Zitiert nach dem Song Ein Jahr (Es geht voran) der deutschen Band Fehlfarben. Nachzuhören ist der Track auf dem Album Monarchie und Alltag (EMI 1980).

2

Glaser: Geschichte wird gemacht, S. 121.

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und daraus sowohl im Bereich der Musik und Mode als auch im Bereich der Literatur eine ganz eigene Stil- und Formensprache entwickelt hat. Der raue und spielerisch-dilettantische Ton, den die Punks bei allen ihren künstlerischen Aktivitäten anschlugen, wie auch ihr Streben nach Autonomie und Grenzüberschreitung, hat zunächst dazu geführt, dass die musikalischen und literarischen Zeugnisse der Bewegung als laien- bzw. amateurhaft abgetan und mit Nichtbeachtung gestraft wurden. Doch schon Anfang der 1980er Jahre rückte die Punk-Bewegung immer stärker in das Blickfeld subkultureller und ästhetischer Analysen, wobei aus heutiger Sicht deutlich hervortritt, wie sehr ihr Habitus bis heute u. a. die musikalische und literarische Produktion vieler Künstler bestimmt und Autoren wie z. B. Peter Glaser und Rainald Goetz beeinflusst hat. In der Punk-Bewegung kulminierte der Wunsch nach Intensität und Lebendigkeit mit der rastlosen Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die davon bestimmt waren, Kunst und Alltagsleben kurzzuschließen. Dabei fungierten, wie schon erwähnt, die avantgardistischen Strömungen – zum Teil unbewusst und unbeabsichtigt – als Pate. Um aufzuzeigen, wie sehr die Punk-Bewegung und ihre künstlerischen Ausdrucksformen – neben den literarischen Erzeugnissen der Beat-Poets und deutscher Autoren wie z. B. Rolf Dieter Brinkmann – die Keimzelle dessen bildet, was heute oftmals mit dem Begriff Pop-Literatur belegt wird, ist es zunächst notwendig, ausführlich die Entstehung der Punk-Bewegung sowie ihre Bezüge zu den avantgardistischen Strömungen zu beschreiben, um in einem weiteren Schritt genauer die literarischen Schreibweisen und Erzählhaltungen zu analysieren, die sich insbesondere Anfang der 1980er Jahre in Deutschland aus diesem Verhältnis herausgebildet haben. Punk sei, wie auch Jon Savage in seinem Buch England’s Dreaming anmerkt, eine „Außenseiter-Ästhetik: dunkel, entfremdet, fremd, voll schwarzen Humors“ gewesen, die sich ab 1975 von den Vereinigten Staaten über Großbritannien und Frankreich nach Europa, Japan und Australien ausgebreitet habe.3 Damit scheint Savage zunächst der gängigen Vorstellung zu widersprechen, dass die Punk-Bewegung in England ihre Wurzeln hat. Savage beschreibt detailreich, welchen nicht unerheblichen Anteil z. B. der ehemalige Kunststudent und spätere Manager der englischen Punk-Band Sex-Pistols, Malcom McLaren, am Aufkommen dieser Legende besaß. Dieser führte seit Anfang der 1970er Jahre in der Londoner King’s Road ein Modegeschäft, in dem er zusammen mit seiner Lebenspartnerin Vivienne Westwood selbstgestaltete und provozierende Kleidungsstücke anbot. Zum Repertoire gehörten alsbald z. B. selbstbedruckte T-

3

Savage 2001, S. 10.

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Shirts mit Karl-Marx- und Mao-Motiven sowie Fetischkleidung aus Gummi, Leder und Vinyl. An den Wänden hingen zudem Peitschen, Ketten, spitzenartige Gummipetticoats und Stiefel mit hohen Absätzen.4 Eine Reise nach New York hatte McLaren die Anregung für diesen sexuell abwegigen und auf viele Menschen abstoßend wirkenden Stil-Mix geliefert: In Amerika lernte er die 1972 von Johnny Thunder gegründete Band New York Dolls kennen, die einen hochenergetischen, exzessiven Rock’n’Roll spielten und deren männliche Musiker geschminkt und mit hohen Absätzen und Frauenkleidern aus dem SecondhandLaden bekleidet die Bühne betraten.5 Der ganze Habitus der New York Dolls zeigt deutlich, wie sehr Bands, die heute zu den Geburtshelfern der Punk-Bewegung gerechnet werden, vom sogenannten Glamrock beeinflusst waren. Diese Spielart der Rockmusik, zu der neben den New York Dolls seinerzeit auch David Bowie und T. Rex zählten, zeichnete sich sowohl durch die musikalische Referenz an den Rock’n’Roll der 50er Jahre als auch durch schillernde, feminine Bühnenkostüme aus, wobei die Musiker oftmals androgyn wirkendes Make-up trugen. Dieses ironische Spiel mit den Geschlechterrollen und der Rolle des Stars war bezeichnend für den Glamrock und diente u. a. dazu, tradierte Formen der musikalischen Darbietung zu durchbrechen.6 Zudem teilten sich die New York Dolls zu dieser Zeit „den Raum mit den Ausläufen der 60er Jahre Warhol-Szene, die der Treffpunkt für alle Drag Queens, Speed Freaks, jede Art von gesellschaftlichem Ausschuss war“7. Dass die von Andy Warhol geprägte Bohème fast nahtlos in dieser neuen Außenseitergeneration aufging, kann als Beleg dafür gelten, welchen Einfluss – neben dem Glamrock – auch die Pop Art auf die aufkommende Punk-Bewegung besaß; insbesondere auch Andy Warhols Vorstellung, dass jeder Mensch ein Künstler sein könne. Im Jahr 1963 bezog Warhol in New York ein neues Atelier mit dem Namen Factory. Dieser Ort wurde schon bald zu einer Arbeits- und Begegnungsstätte, an der sich bekannte Künstler, Berühmtheiten aus Film, Mode und Musik, Sammler und Kritiker trafen:

4

Vgl. Savage Berlin 2001, S. 65. McLarens Boutique hatte bis dahin mehrere Metamorphosen durchlaufen. Von 1971 bis 1976 änderten sich der Name und die Auswahl der Kleidungsstücke gleich mehrfach: ,Let It Rock‘ (Teddy-Boy-Anzüge), ,To Fast to Live, Too young to Die‘ (Rocker-Ausstattung), ,Sex‘ (Fetischkleidung) (vgl. Savage 2008, S. 8).

5

Vgl. ebd., S. 57f.

6

Vgl. Hoskins 1999.

7

Savage 2001, S. 57.

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„Die Leute, die dort mit ihm zusammenarbeiteten oder herumhingen, gehörten zur härtesten Szene, die es zu jener Zeit in New York gab. Alle trugen schwarze Jeans und schwarze T-Shirts. Amphetamin war die bevorzugte Droge. In der Mehrzahl waren sie schwul. Es waren exotische, talentierte Leute, jung, voller Energie und Ideen, allesamt seine Satelliten.“8

Es erscheint zwangsläufig, dass Warhol seine künstlerischen Aktivitäten immer mehr ausweitete; neben einer Anzahl an Filmen und Fotos fertigte er auch stetig Tape-Aufnahmen an, die im Nachhinein oftmals die materielle Basis für seine Bücher bildeten. Film- und Foto-Kamera sowie Tape-Recorder wurden zu ständigen Begleitern von Warhol: „I was taping and Polaroiding everything in sight [...]“.9 Zudem schien die populäre Musik aufgrund ihrer massenmedialen Verbreitung, ihrer kommerziellen Verwertbarkeit und ihres Reproduktionscharakters für Warhol ein passendes Sujet für seine weiteren Aktionen: „The Pop idea, after all, was that everybody could do anything, so naturally we were all trying to do it all. Nobody wanted to stay in one category; we all wanted to branch out into every creative thing we could – that’s why when we met the Velvet Underground at the end of ’65, we were all for getting into the music scene, too.”10

Warhol buchte die Gruppe The Velvet Underground, die er im New Yorker Café Bizarre kennengelernt hatte und die u. a. aus John Cale und Lou Reed bestand, zunächst für einige Veranstaltungen in der Film-Makers’ Cinematheque in New York. Bei diesem Multi-Media-Event mit dem Namen Andy Warhol's Up-Tight sollten The Velvet Underground zusammen mit der Sängerin Nico, die in Deutschland geboren war und zuvor als Mannequin gearbeitet hatte, die Musik zu einigen Filmen von Warhol liefern, wobei sie zudem von Tänzern, die eine Art improvisierten Jazz-Dance aufführten, begleitet wurden. Liest man heute Beschreibungen dieser multimedialen Performances, kann man erahnen, welche irritierende Wirkung diese Auftritte auf die Zuhörer bzw. Zuschauer hatten: The Velvet Underground spielten in einer enormen Lautstärke eine enervierende Mischung aus Rockmusik, monoton-repetitiven Rhythmusstrukturen und dissonantem Lärm, während Nico – im eleganten weißen Hosenanzug und nur von einem grellen Scheinwerfer angestrahlt – in der Mitte der Bühne stand und mit ihrer vereinnahmenden Stimme die Besucher in den Bann schlug. Währenddessen

8

Bockris 2001, S. 118.

9

Warhol: POPism, S. 290.

10 Ebd., S. 134; vgl auch Bockris 1988, S. 14.

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projizierte Danny Williams, der Elektriker der Factory, Farbdias auf die Filme und die Gruppe11, was durchaus im Sinne Arthur Rimbauds, zu einer „Verwirrung aller Sinne“ führte12, nun aber medial aufgeladen war. Die verstörende Kraft der Musik von The Velvet Underground, die auch auf ihrem 1967 veröffentlichten Album The Velvet Underground & Nico (Verve Records 1967), das mit einem von Warhol gestalteten Cover ausgestattet war und auch von Warhol produziert wurde, zu spüren ist, basierte u. a. darauf, dass John Cale Klavier, Viola und Komposition studiert hatte und sich für die Klang-Experimente der klassischen Avantgarde interessierte. Zudem spielte Cale eine elektrisch verstärkte Geige, die mit Gitarrensaiten bezogen war und der er für die Rockmusik ungewöhnliche Klänge entlockte. Lou Reed fühlte sich dagegen der Rockmusik zugetan und schrieb zudem Songtexte, die fast ausschließlich um Tabuthemen kreisten wie z. B. Drogen, Tod, Verzweiflung, sexuelle Rollenspiele, Okkultismus. Dergestalt bezeichnet Lou Reed Warhol auch als „Katalysator“, der diese „gegensätzliche[n] Elemente“ zusammengeführt habe13, um Grenzen zu überschreiten und etwas Neues zu schaffen, auch wenn Reed aufgrund seines großen Egos zunächst Nico als Sängerin abgelehnt hatte. In der Factory fand Reed, wie Victor Bockris schreibt, „ein Laboratorium für seine künstlerischen und sexuellen Streifzüge, ein Milieu voller Psychodramen, das ihm endlosen Stoff für seine Songs verschaffte, und einen förderlichen Nährboden, mit dessen Hilfe er seine Musik nach außen bringen konnte“.14 Warhols Zusammenarbeit mit The Velvet Underground währte nur anderthalb Jahre und war ein stetiges work in progress: Neben Filmprojekten und Aufnahmesessions ging die Band mit ihrer Multimedia-Show auch auf Tour und absolvierte u. a. nach ihrer Rückkehr unter dem Namen Exploding Plastic Inevitable einige Auftritte im New Yorker Club The Dome. Bald verlor Warhol sein Interesse an The Velvet Underground, und auch John Cale verließ die Band nach den Aufnahmen ihres zweiten Albums White Light/White Heat (Verve Records 1967/68), das nicht mehr unter der Schirmherrschaft von Andy Warhol entstanden war.15 Lou Reed startete Anfang der 1970er Jahre ebenfalls eine Solokarrie-

11 Vgl. Bockris 1988, S. 9. 12 Rimbaud: Sämtliche Dichtungen, S. 367. 13 Zitiert nach Bockris 2001, S. 111. 14 Bockris 2001, S. 122. 15 Erst 1990, d. h. kurz nach dem Tod von Andy Warhol, veröffentlichte Lou Reed in Zusammenarbeit mit John Cale auf dem Label Sire das Album Songs for Drella, wobei sich der Begriff Drella ganz unmittelbar auf Andy Warhol bezieht: Andy Warhol trug als Spitznamen den Namen Drella, der sich aus Dracula und Cinderella zusam-

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re, wobei insbesondere sein 1975 veröffentlichtes Album Metal Machine Music (RCA), eine über sechzig Minuten andauernde Kakophonie aus Feedback und elektronischem Krach, als Initialzündung für die Punk-Bewegung gilt: Nachdem Reed einige kommerzielle Rockalben veröffentlicht hatte, wirkte Metal Machine Music wie ein Abgesang auf die im Musikgeschäft gängigen Marktmechanismen und -strukturen. Nicht ohne Grund wurde Reed auch zum Stammgast im New Yorker Punk-Club GBGB’s und brachte den dort auftretenden, musikalisch sehr verschiedenartigen Bands – wie z. B. Television, Patti Smith Group, The Ramones etc. – ein starkes Interesse entgegen.16 Sängerin Patti Smith, die zunächst als Journalistin und Lyrikerin aktiv war, hatte sich immer intensiver der Rockmusik zugewandt, in der sie ein adäquates Mittel sah, ihre Texte aufzuführen. Nachdem sie sich zunächst beim Vortrag ihrer stark von den Beat-Poets und den französischen Dichtern Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire beeinflussten Verse von dem Gitarristen Lenny Kaye hatte begleiten lassen, gründete sie schließlich die Patti Smith Group, deren 1975 erschienenes Debüt-Album Horses (Arista Records) von Ex-Velvet-Underground-Mitglied John Cale produziert wurde. Aus den Vorträgen eigener poetischer Texte wurden so musikalische Performances, die dem repetitiven Charakter der Gedichte sehr entgegenkamen. In einem Interview berichtet Patti Smith emphatisch davon, wie sehr sie seinerzeit bei dem Besuch eines Rolling-Stones-Konzertes die „Präsenz und Kraft“ von Sänger Mick Jagger beeindruckt habe: „Das hat mich so angeregt, dass es mich beinahe zerrissen hätte, weil ich in dem Augenblick die gesamte Zukunft der Poesie vor Augen hatte. Ich konnte sie wirklich sehen und fühlen. Ich war dermaßen aufgeregt, dass ich es in meiner eigenen Haut kaum mehr aushalten konnte, und es gab mir das Vertrauen, meinen Weg weiterzuverfolgen.“17

mensetzte. Songs for Drella lässt sich somit als Rückblick und Hommage an die Zusammenarbeit und das Werk von Andy Warhol verstehen (vgl. Bockris 2001, S. 120 sowie S. 417f.); Lou Reed und John Cale bezeichnen im Booklet der CD das Album als „a brief musical look at the life of Andy Warhol“, der aber fiktional geraten sei. 16 Wie sehr die Punks von der Musik von The Velvet Underground und Lou Reeds Album Metal Machine Music angetan waren, zeigt auch, dass die erste Ausgabe des Fanzines Punk, die Anfang 1976 erschien, Lou Reed auf dem Cover trug und sowohl ein in Cartoon-Art gehaltenes Interview als auch eine enthusiastische Besprechung von Metal Machine Music enthielt (vgl. Bockris 2001, S. 311ff.). 17 Zitiert nach McNeil/McCain 2004, S. 196.

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Auch Lou Reed, der zunächst an der Syracuse University Literaturgeschichte studiert hatte und, angeregt durch die Beat-Poets, eigentlich Schriftsteller werden wollte, war nach und nach zu der Überzeugung gelangt, dass man, anstatt „zwischen einem Popsong und einer richtigen Geschichte oder einem richtigen Gedicht zu unterscheiden“, Poesie und populäre Musik mischen müsse, da diese Trennung zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen schon längst obsolet sei: „Das Vergnügen, das mir das Schreiben einer wirklich guten Kurzgeschichte oder eines Gedichts bereitete, unterschied sich nicht von der Freude an einem Song.“18 Deutlich wird diese Nähe der sich in Amerika entwickelnden neuen Musikszene zu den Beat-Poets auch durch die Tatsache, dass William S. Burroughs, als er 1974 von London nach New York zog, von vielen Musikern enthusiastisch begrüßt wurde. Burroughs mietete sich in einem ehemaligen Umkleideraum einer Turnhalle ein, die den Namen Bunker trug und nur wenige Häuserblocks vom GBGB’s entfernt lag. Der Bunker war stets künstlich beleuchtet, da er keine Fenster besaß. Um in den Bunker zu gelangen, mussten die Besucher sich per Telefon anmelden und so lange warten, bis Burroughs das Metallgitter öffnete. Um den großen Raum zu erreichen, mussten zudem drei weitere, gut gesicherte Türen passiert werden.19 Trotz dieser Abschottung empfing Burroughs im Laufe der Zeit eine große Anzahl an berühmten Persönlichkeiten wie z. B. Andy Warhol, Joe Strummer, David Bowie, Susan Sontag, Mick Jagger, Lou Reed, Patti Smith, Debbie Harry und Tennessee Williams. Der Autor und zeitweilige Wegbegleiter von Burroughs, Victor Bockris, hat in diversen Zeitungsartikeln und in seinem Buch Bericht aus dem Bunker einige dieser Begegnungen und Gespräche festgehalten und dabei deutlich hervorgehoben, welchen Einfluss die literarischen Werke von Burroughs auf die jeweiligen Künstler besaßen. Burroughs war zudem stetig bei Konzerten und Lesungen im GBGB's anzutreffen und wurde von den dort aktiven Künstlern schnell aufgrund seiner anarchischen und mediensubversiven Haltung zum Idol der aufkommenden Punk- und New-Wave-Bewegung stilisiert. Obwohl Burroughs von der Intensität und Innovation der Konzerte im GBGB’s angetan war 20 und viele

18 Zitiert nach Bockris 2001, S. 237f. 19 Vgl. Miles 1999, S. 315. 20 „[I]ch hatte stets das Gefühl, daß man wesentlich mehr davon hat, wenn man dabei ist, als wenn man sich eine Platte anhört, weil man die eigentliche Wirkung von Patti Smith und die Vitalität, die sie dem Publikum rüberbringt, nicht so sehr spürt und die ganze Elektrizität, die bei einem Konzert freigesetzt wird, bei einer Schallplatte nicht immer zum Tragen kommt.“ (Zitiert nach Bockris 1999, S. 207).

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freundschaftliche Beziehungen zu Musikern unterhielt, sah er sich selber jedoch nie als Vorreiter der dortigen Szene: „Ich bin kein Punk und ich weiß nicht, weshalb man mich als den Paten des Punks betrachtet. Wie definieren Sie Punk? Die einzige allgemeingültige Definition ist die, die auf einen jungen Menschen zutreffen könnte, der einfach nur deshalb Punk genannt wird, weil er jung oder eine Art Kleinkrimineller ist. In diesem Sinne könnten einige meiner Romanfiguren als Punks bezeichnet werden.“21

Wie dieses Zitat nahelegt, war sich Burroughs scheinbar nicht bewusst, wie sehr der Ausspruch „Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt“, den er wie ein Mantra immer wieder in seinen Briefen, Essays, Erzählungen und Romanen wiederholt und zum Credo seiner Schreibweisen erhoben hat22, den Habitus der aufkommenden Punk-Szene (Autonomie, Do-It-Yourself-Gestus, Provokation und Tabubruch, Anti-Ästhetik etc.) bestimmt bzw. geformt hat. Burroughs hielt die Punk-Bewegung, wie er Bockris offenbarte, für eine „Erfindung der Medien“ – andererseits bezeichnete Burroughs die Punk-Bewegung jedoch auch als ein „interessantes und wichtiges Phänomen“, das in politischer, musikalischer und visueller Hinsicht notwendige Grenzüberschreitungen und Tabubrüche geleistet habe; er habe auch, so Burroughs zu Bockris, an die Adresse der englischen Punk-Band The Sex Pistols ein „Unterstützungsschreiben“ geschickt, als diese 1977 den Song God Save The Queen veröffentlichten, „weil ich immer gesagt habe, daß das Land nicht die geringste Chance hat, solange es nicht 20 000 Leute gibt, die sagen: PIMPERT DIE QUEEN!“23 Punk sei ursprünglich eine britische Jugendbewegung gewesen, die USamerikanische Impulse sowohl aufgenommen, gebündelt und transformiert als

21 Zitiert nach Bockris 1999, S. 206f. 22 Vgl. z. B.: William S. Burroughs: Auf der Suche nach Yage, S. 281. Burroughs hat diesen Auspruch Hassan i-Sabbath, dem Gründer der unter dem Namen Assassinen bekannten Ismaeliten-Sekte, entlehnt. Dieses Zitat scheint schon seit jeher eine Faszination auf Philosophen und Künstler jeder Stilrichtung ausgeübt zu haben. So legt z. B. auch Friedrich Nietzsche seinem Zarathustra diese Worte in den Mund (vgl. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 340.), um zugleich an anderen Stellen in seinem Werk auf die gefährlichen Implikationen, die dieser Ausspruch birgt, hinzuweisen: „Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt?“ (Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 399). 23 Zitiert nach Bockris 1999, S. 207.

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auch zu einer eigenständigen Ideologie zusammengefasst habe, konstatiert der freie Autor und Lektor Frank Apunkt Schneider. Der frühe New-York-Punk, so Schneider, sei noch zu sehr einer gewissen Rocktradition verhaftet gewesen und habe nicht die Radikalität besessen, die z. B. die Musik der englischen Band Sex Pistols auszeichnete, die von eben jenem Malcom McLaren gemanagt wurde, der sich beim Besuch in New York von der dortigen Außenseiter-Szene und dem Habitus der New York Dolls zu seinen mit Vivienne Westwood entworfenen Kleidungsstücken hatte inspirieren lassen. Die Gründung der Sex Pistols habe erst, laut Schneider, zu eben jenem musikalischen ‚Urknall‘ geführt, der alle bis dato üblichen ästhetischen Werte und Vorstellungen infrage stellte und obsolet werden ließ.24 Wobei für die rasante Entwicklung der Punk-Bewegung auch die desolate ökonomische und politische Lage (hohe Arbeitslosigkeit, steigende Inflationsrate, staatliche Repressalien etc.), die in den 1970er Jahren in England vorherrschte, von großer Bedeutung war. Nachdem McLaren den New York Dolls zeitweise auf ihrer Tour gefolgt war und auch für ein neues Bühnenoutfit der Band gesorgt hatte, entwarf er in London zusammen mit Gitarrist Steve Jones das Konzept für eine anarchistische Rock’n’Roll-Band namens Sex Pistols, die als Vehikel für seine Vorstellung von einer Schockästhetik, die bestimmend war für die von ihm und Westwood entworfenen Kleidungsstücke, dienen sollte.25 In der „Vermarktung des Schocks“ sah McLaren, laut Martin Büsser, eine Möglichkeit, „dem Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu begegnen“26 und „das System der Unterhaltungsindustrie von innen heraus zu sprengen“.27 Das Verhältnis von McLaren und den Mitgliedern der Sex Pistols – u. a. Sänger John „Johnny Rotten“ Lydon und Bassist Sid Vicious, der 1977 zu der Band stieß – war jedoch von Beginn an von einem fatalen Missverständnis geprägt gewesen: Für McLaren waren die Sex Pistols primär ein „kommerzielles Unternehmen“ bzw. „eine kulturelle Verschwörung“, die das Ziel verfolgte, „das Musikgeschäft zu verändern und daran Geld zu verdienen“.28 Die Sex Pistols konnten jedoch sowohl mit ihrem „Image fremdgesteuerter Anarcho-Puppen“ als auch mit McLarens Vorliebe für die Schriften und Aktionen der Situationistischen Internationale, einer 1957 in Paris gegründeten Gruppe aus linken Künstlern und Bohemiens, die in der Tradition von Dada und Sur-

24 Vgl. Schneider 2007, S. 41. 25 Vgl. Büsser 2004, S. 84f. 26 Ebd., S. 84. 27 Ebd. S. 86. 28 Marcus 1992, S. 8.

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realismus stand, wenig anfangen.29 In ihren unzähligen Manifesten plädierten die Situationisten u. a. dafür, die Arbeit abzuschaffen und „die Kunst endgültig ins Leben zu überführen“30, indem man sich z. B. „ständig in neue, ungewohnte Situationen“ begibt und den urbanen Raum zu einem „freien Spielfeld von intensiven Erlebnismomenten“ macht.31 Diese „aktive Umgestaltung der Lebensumgebung“32 diente in dieser Vorstellung primär dazu, sich der Rolle des passiven Konsumenten zu entledigen und gegen das in der modernen Warengesellschaft vorherrschende Gefühl der Langeweile und Erstarrung anzukämpfen.33 Zudem scheint McLaren Gefallen am subversiven und emanzipatorischen Umgang mit den Medien, den die Situationisten z. B. beim Verfassen von Flugschriften und Manifesten, bei der Anwendung der Montage- bzw. Collage-Technik und beim bewussten Streuen von Fehlinformationen pflegten, gefunden zu haben. Während Arbeit und Unterhaltung, laut den Situationisten, durch das ziellose Umherschweifen durch die Stadt (dérive) ersetzt werden sollte, sollte die Kunst von der Zweckentfremdung (détournement) bestimmt werden. Unter détournement verstanden die Situationisten „eine Politik des subversiven Zitats“, d. h. die widerrechtliche Aneignung von Wörtern und Bildern, um deren Bedeutungen teilweise bis ins Gegenteil zu verkehren.34 McLaren hatte sich im Laufe seines Studiums sowohl mit diesen avantgardistischen Theorien als auch mit der Kunstgeschichte auseinandergesetzt: „Ich habe meine ganzen politischen Ansichten, mein Verständnis der Welt aus der Kunstgeschichte. In der Welt geht es ums Plagiieren. Wenn man nicht anfängt, die Dinge zu klauen, weil sie einen inspirieren, bleibt man dumm.“35 Zudem zeigte er großes Interesse an „Ideen, die gerade im Umlauf waren, und verwarf sie wieder: Fluxus, Pop Art, Andy Warhol. Sie alle hatten gemeinsam, dass die Vorstellung von Kunst untrennbar mit dem Alltagsleben verbunden war, untrennbar vor allem von Kommerz und Umwelt.“36 Die Sex Pistols sollten dazu dienen, McLarens ästhetische, politische und weltanschauliche Vorstellungen auf subversive Weise in die populäre Kultur einzuschleusen, um eine „Bresche in das Pop-Milieu, in die Mauer überkommener kultureller Voraussetzungen“ zu

29 Büsser 2004, S. 86. 30 Hecken 2006, S. 23. 31 Büsser 2004, S. 85f. 32 Hecken 2006, S. 28. 33 Vgl. ebd., S. 27. 34 Marcus 1992, S.184. 35 Zitiert nach Savage 2001, S. 31. 36 Savage 2001, S. 32.

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schlagen37, die seinerzeit die Erwartungshaltung vieler Konsumenten bestimmten. So erklärt auch der spanische Künstler Theodore Ramos: „Malcom experimentierte mit lebenden Subjekten, als wären sie graphische Elemente. Viele seiner Ideen waren irre, aufgeschnappt in der Kunsthochschule. Viele sind literarisch: Er hatte die Fähigkeit, eine Idee zu verfolgen und umzusetzen. Dann wurde er ein echter Impresario. Ein Katalysator, der Aktionen hervorrufen konnte.“38

Um die Aufmerksamkeit der Medien und der Konsumenten zu erhalten, schuf McLaren zusammen mit Vivienne Westwood eine visuelle Corporate Identity für die Sex Pistols und die aufkommende Punkbewegung: Er gestaltete in Zusammenarbeit mit Jamie Reid Kleidungsstücke, Single- und Plattencover, Flyer und Plakate, die sich durch optische Schocks auszeichneten, verfasste Manifeste und provozierte Aktionen. Dieses semiotische Spiel mit Zeichen und Emblemen, das vorwiegend den urbanen Raum betraf, sollte dabei sowohl der Umwertung von bis dato gängigen künstlerischen Ausdrucksformen als auch der Auflösung ideologisch geformter Bedeutungen dienen, um produktive Irritation zu schaffen.39 Bei der Bildung ihres auffälligen Stils bedienen sich die subkulturellen Bewegungen dabei, wie John Clarke konstatiert, der bereits existierenden Warenformen und ideologischen Formen der Massenkultur, wobei die kommerziellen Angebote von den Jugendlichen nicht mehr nur passiv konsumiert, sondern aktiv in ihre Lebenswelt überführt und in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt werden. Diesen Vorgang bezeichnet Clarke, in Anlehnung an den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, als ‚bricolage‘40, d. h. als „Bastelei“ bzw. „Neuordnung und Rekontextualisierung von Objekten, um neue Bedeutungen zu kommunizieren“: „Ähnlich wie bei Lévi-Strauss’ Mythen-bricoleur ist auch der Praktiker einer subkulturellen bricolage den vorhandenen Bedeutungen der Zeichen innerhalb eines Diskurses unterworfen – die Objekte – das ,Rohmaterial‘, aus dem ein neuer subkultureller Stil zusam-

37 Marcus 1992, S.9. 38 Zitiert nach Savage 2001, S. 94. 39 Vgl. auch Baudrillard 1978. 40 Unter ‚bricolage‘ versteht Lévi-Strauss eine Art ,intellektuelle Bastelei‘, die besonders von Kulturen ohne Schriftsprache angewandt wird, um ihrer Welt einen Sinn zu verleihen. Über die ‚bricolage‘ wird das in der Natur Gefundene in magischen Systemen wie Aberglaube und Hexerei zusammengebracht (vgl. Lévi-Stauss 1973, S. 2948).

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mengesetzt wird – müssen nicht nur bereits existieren, sondern sie müssen auch Bedeutungen enthalten, die in einem so kohärenten System organisiert sind, daß die Art, in der sie umgestellt und transformiert werden, auch als Transformation begriffen werden kann.“41

Auch Dick Hebdige zeigt in seinem Essay Subculture auf, wie diese soziale und ästhetische Praxis der „subkulturellen bricolage“, der Stilschöpfung und Identitätsarbeit von jugendlichen Subkulturen der Nachkriegszeit, in Auseinandersetzung mit der herrschenden Kultur entwickelt wurde. Indem die Punks, Mods, Teds oder Skinheads die Zeichen der Mainstream-Kultur aufgreifen, so Hebdige, würden sie subversiv auf das bestehende Werte- und Bedeutungssystem einwirken. In Anlehnung an Umberto Eco spricht Hebdige von einem „semiotischen Guerillakrieg“42, d. h. von einem symbolischen Kampf um die Vorherrschaft über die linguistischen und ideologischen Kategorien. Subkulturen seien „Lärm – nicht Klang, sondern Mißklang: Eingriffe in die ordnungsgemäße Reihenfolge, die von realen Ereignissen und Phänomenen zu ihrer Darstellung in den Medien führt“; dabei seien Subkulturen nicht nur „Metaphern für potentielle Anarchie irgendwo draußen vor der Tür“, sondern zugleich „Mechanismen semantischer Unordnung: eine Art zeitweilige Blockade in den gewohnten Darstellungssystemen“.43 Die von der Massenkultur vorgegebenen Diskurs-Formen würden, laut Hebdige, vom sogenannten „Subkultur-Bricoleur radikal umgestellt, unterminiert und erweitert“.44 Wobei den ästhetischen Praktiken von Dada und Surrealismus (wie z. B. Traumarbeit, Collage und Ready Mades) eine entscheidende Rolle zukomme: „Mit ‚Die Krise des Objekts‘ schrieb Breton eine umfassende Theorie dieser Collagen-Ästhetik. Er vertritt dort die optimistische These, ein Angriff auf die Syntax des Alltagslebens, auf diese Vorschrift für die Benutzung der simpelsten Dinge, könne der Auslöser sein für eine ,totale Revolution des Objekts: man muß das Objekt mit einem neuen Namen verkoppeln und bezeichnen und so von seinen Zwecken befreien. Verwirrung und Verunstaltung werden hier zu ihren eigenen Zwecken eingesetzt... Den so wieder zusammengesetzten Objekten ist gemeinsam, daß sie von den Objekten unserer Umgebung abstammen und sich doch durch einfache Rollenveränderung von ihnen unterscheiden.‘“45

41 Clarke 1998, S. 376. Vgl. auch Lyotard 1977 ; De Certeau 1988. 42 Hebdige: Subculture, S. 96. 43 Ebd., S. 82. 44 Ebd., S. 95. 45 Ebd., S. 96f.

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Auch die Punks hätten versucht, insbesondere im Bereich der Mode, Bedeutungen durch Collage-Techniken zu destruieren und neu zu bilden.46 Aber natürlich hätten sich die Punks nicht nur darauf beschränkt, die „bürgerliche Garderobe

46 „Objekte aus den ekeligsten und banalsten Bereichen fanden ihren Platz im Punk-Ensemble: Lokusketten spannten sich in kunstvollen Bögen auf müllsack-bespannten Oberkörpern; Sicherheitsnadeln, aus ihrem häuslichen Zweckzusammenhang befreit, stachen als makabre Ornamente durch Wangen, Ohren und Lippen. Billige Ramschtextilien (PVC, Plastik, Lurex) mit vulgärem Design (falsches Leopardenmuster) und grellen Farben, die die bessere Modeindustrie längst als veralteten Kitsch über Bord geworfen hatte, wurden von den Punks geborgen und wieder zu Kleidungsstücken gemacht, die selbstbewußte Kommentare zu den üblichen Geschmacks- und Modevorstellungen boten. Konventionelle Schönheitsvorstellungen und Make-up-Regeln wurden gemeinsam auf den Müllhaufen geschickt. Gegen den Rat sämtlicher Frauenmagazine trugen Männer wie Frauen Schminke, die nicht dezent sein, sondern gesehen werden wollte. Gesichter wurden zu abstrakten Porträts: zu scharf beobachteten und genau einstudierten Bildern der Entfremdung. Die Haare trug man offensichtlich gefärbt (wasserstoffblond, blauschwarz oder leuchtorange mit grünen Tupfern oder eingebleichten Fragezeichen), und T-Shirts und Hosen erzählen die Geschichte ihres eigenen Zustandekommens mit tausend Reißverschlüssen und zur Schau gestellten Nähten. Ähnlich wurden Teilstücke aus Schuluniformen (weiße Nyltest-Hemden, Schulkrawatten) symbolisch geschändet (die Hemden mit Graffiti oder falschem Blut bedeckt, die Krawatte ungebunden) und mit engen Lederhosen oder schockrosa Mohair-Oberteilen gekontert. Das Perverse und Anormale an sich war sehr beliebt. Besonders die verbotene Bildersprache sexueller Fetischismen setzte man kalkulierbar effektvoll ein. Frauenschändermasken und Gummidress, Lederzeug und Netzstrümpfe, unglaublich spitze und hohe Pfennigabsätze, das ganze Sado-Maso-Zubehör – Riemen, Strapse und Ketten –, all diese Utensilien wurden aus Geheimfächern und Pornofilmen exhumiert und auf die Straße gebracht, wo sie ihre verbotenen Konnotationen entfalten konnten. Einige Punks streiften gar den schmutzigen Regenmantel über – dieses alltäglichste Symbol sexueller ‚Abartigkeit‘ – und drückten so ihre Abweichung in angemessenem Proletenstil aus.“ (Hebdige: Subculture, S. 98.) Vgl. auch: „Mäntel waren nicht mehr angesagt, also zogen sich die Leute Risse und Löcher an, Sicherheitsnadeln und Heftklammern durch Fleisch und wie Kleidung, sie wickelten ihre Beine in Abfallsäcke aus Plastik und Mülltüten, drapierten Vorhangreste und weggeworfene Sofastoffe um die Schultern. Nach dem Vorbild von McLarens Entwürfen für die Sex Pistols und die Clash malten sich die Leute Parolen auf Ärmel und Hosenbeine, quer über Jacken, Schlipse und Schuhe [...].“ (Marcus 1992, S. 73f.).

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umzukippen“47; vielmehr hätten sie auch durch ihr provozierendes Auftreten, ihren aggressiven Tanzstil, ihre radikale Musik und die Gestaltung ihrer Plattenhüllen und Fanzines jeden relevanten Diskurs unterminiert.48 Der offensive Stil, mit dem die Punks autorisierte Kodes bzw. linguistische und ideologische Kategorien verletzten, habe, konstatiert Hebdige, zudem den Zweck verfolgt, „tiefgehende Verwirrung und Desorientierung“ hervorzurufen; denn, so Hebdige, „diese Abweichungen enthüllen schlagartig, wie willkürlich die zugrundeliegenden Kodes sind, die allen Diskurs-Formen ihre Gestalt geben“.49 Auch wenn die Sex Pistols bereitwillig die von McLaren gestalteten Kleidungsstücke trugen und sich seinem intellektuellen bzw. subversiven Spiel mit den Mechanismen der Massenmedien unterordneten, wollten sie sich dennoch „nicht als verlängerter Arm avantgardistisch-revolutionärer Theorien verstanden wissen“50, sondern sahen sich „als eine ganz der Arbeiterklasse verpflichtete Rock’n’Roll-Band“51. Zwar verkündete Johnny Rotten, dass der Rock’n’Roll „nur das erste von vielen Dingen [sei], die die Sex Pistols vernichten würden. Doch weil die Sex Pistols keine anderen Waffen hatten, weil sie nicht anders konnten, als Fans zu sein, spielten sie Rock’n’Roll, reduzierten ihn wie niemand vor ihnen auf die Grundelemente Geschwindigkeit, Lärm, Zorn und irrwitzige Ausgelassenheit.“52 Auch Simon Frith erklärte schon 1978, dass Punk-Musik „formal gesehen Rock’n’Roll“ gewesen [ist] – er ist technisch unkompliziert, aufgebaut auf einem einfachen harten Beat, Ursache und Garant spontaner Freude“; dabei habe der Punk-Rock, so Frith, u. a. seine Einflüsse auch aus dem sogenannten Pub-Rock bezogen, einer Spielart des Rock, der stark von der englischen Club-Atmosphäre und von der Herkunft der Musiker aus der Arbeiterklasse geprägt war.53 Viele Musiker, die vormals dem Pub-Rock zugeordnet wurden, wandten sich später dem Punk-Rock zu, wie z. B. Joe Strummer, der zunächst mit der Band The 101ers Pub-Rock spielte und später mit The Clash zu einer Ikone des Punk-Rock wurde. „Punk veränderte alles. Nicht nur unsere Hosen. Unser Leben“, schreibt auch John Robb, der 1977 die Punk-Band The Membranes gründete: Punk-Rock sei, so Robb, ein „Kulturkrieg“ gewesen und habe die jungen Menschen wie ein „irr-

47 Hebdige: Subculture, S. 98. 48 Vgl. ebd., S. 98-104. 49 Ebd., S. 82. 50 Büsser 2004, S. 86. 51 Ebd., S. 87. 52 Marcus 1992, S. 62. 53 Frith 1998, S. 226.

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sinniger Blitzschlag“ getroffen und infiziert.54 Die Rohheit und Ungeschliffenheit der frühen Punk-Musik, die das zentrale Element der Punk-Bewegung bildete, elektrifizierte innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl Jugendlicher. Sowohl Punkals auch New-Wave-Musik seien, so Martin Büsser, „popinterne Reaktionen auf eine als saturiert, ästhetisch wie weltanschaulich verbraucht empfundene Vorgängergeneration“ gewesen: Mit ihrer „offensiven Kriegserklärung an die Vorgängergeneration“ verbanden die Punks primär den Wunsch, sich nicht mehr nur als passive Konsumenten zu fühlen, deren Leben fast ausschließlich durch die Medien oder staatliche und kirchliche Institutionen bestimmt wird, sondern vollkommen autonom zu agieren; während Mitte der 1970er Jahre Bands wie Pink Floyd oder Genesis sowohl musikalisch als auch bei ihren aufwändigen Bühnenshows einen „ebenso epischen wie eskapistischen Ansatz pflegten“, brachen Punk und New Wave „mit einer neuen Direktheit, Einfachheit und provokativen Drastik in das Geschehen ein“.55 Das Aufkommen der Punk-Bewegung lässt sich somit als direkte Reaktion auf das Paradox einer ‚konformistischen Zügellosigkeit‘ lesen, die sich in der Rockmusik immer weiter auszubreiten und zu einer Stagnation zu führen schien. Gegen diesen Hang zum Perfektionismus setzte die Punk-Bewegung ihre schnellen, kurzen und einfachen Songs, in denen das Fehlerhafte keinen Mangel darstellte, sondern erst das „krachige und intensive Moment“ erzeugte, das die Punk-Musik von der kontrollierten Rockmusik abhob: „[H]ier darf – oder muß sogar – der Sound schlecht sein, das Schlagzeug holprig, die Gitarre verstimmt.“56 In ihrer Verweigerungshaltung und ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung und Autonomie schien die Punk-Musik wesentlich unverfälschter und unmittelbarer dem damaligen Lebensgefühl der Jugendlichen bzw. ihren Gefühlen und Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen: „So verschieden die Herkunft der Punkbands auch war – manche kamen aus der Arbeiterklasse, andere hatten einen akademischen Hintergrund [...] –, verband sie doch alle ein gewisser vitalistischer Hang, mithilfe der musikalischen Intensität und des subkulturellen Lebensalltags so etwas wie ein ‚eigentliches‘, nämlich nicht-entfremdetes Leben zu proklamieren.“57

54 Robb 2007, S. 13. 55 Büsser 2003, S. 149. 56 Büsser 2000, S. 77; vgl. auch Frith 1981, S. 69-71. 57 Büsser 2003, S. 151.

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Im Rückblick darf man, wie dies auch Martin Büsser tut, vermuten, dass der Erfolg der Sex Pistols vor allem dem „Widerspruch zwischen Rock-Demontage und Rückkehr zum schlichten, rebellischen Rock’n’Roll“ geschuldet war.58 Das im November 1977 auf dem Label Virgin erscheinende Album Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols bündelte diese nihilistische und alles negierende Kraft, die der Musik der Sex Pistols innewohnte: „Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst, und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ.“59 Zugleich bildete aber auch McLarens Gestaltung einer visuellen Corporate Identity und sein massenwirksames Spiel mit den Medien die Grundlage dafür, dass eine große Anzahl an Jugendlichen sich der Punk-Bewegung anschloss und zum Teil auch eigene Bands gründete. Dennoch existierten die Sex Pistols als ‚kommerzielles Unternehmen‘ nur neun Monate und erlebten ihre Auflösung Anfang 1978, als Johnny Rotten im Anschluss an eine Amerika-Tour aus der Band ausstieg und behauptete, McLaren habe durch seine Gier nach Ruhm und Geld die Ideale der Band verraten.60 Der Punk-Bewegung sei, wie John Savage schreibt, „von Beginn an [...] nicht nur die Tendenz zur Selbstzerstörung, sondern eine kurze Haltbarkeitsdauer eingeschrieben“ gewesen61, da sie einerseits versucht habe, sich als Außenseiter-Szene zu stilisieren und „Konsum und Medien von innen heraus zu kritisieren“, andererseits den Medien aber auch eine gewisse Faszination entgegengebracht habe.62 Dieser Antagonismus führte dazu, dass die Punk-Bewegung ihren Scheitelpunkt erreichte, als viele Bands ihre ersten Alben veröffentlichten und damit einen gewissen kommerziellen Erfolg erzielten. Schon 1978 gehörte PunkMusik zum festen Bestandteil des Repertoires größerer Plattenfirmen und schon Jahre zuvor hatten Bands wie die Patti Smith Group, Television und die Ramones die Aufmerksamkeit der Musikindustrie auf sich gezogen.63 Der Journalist und Buchautor Simon Reynolds geht sogar so weit, zu behaupten, dass der Punk schon im Sommer 1977 „zu einer Parodie seiner selbst geworden“ sei: „Viele ursprünglich an der Bewegung Beteiligten hatten das Gefühl, etwas Offenes, das

58 Büsser 2004, S. 87. 59 Marcus 1992, S.12. 60 Vgl. ebd., S. 39. 61 Savage 2001, S. 128. 62 Ebd., S. 11. 63 Vgl. ebd., S. 128.

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einst voller Möglichkeiten zu stecken schien, sei zur kommerziellen Formel verkommen.“64 Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich aus dieser Vorstellung eine große Anzahl an sogenannten Postpunk-Bands, die eine – eigentlich im Punk schon angelegte – musikalische Öffnung bzw. Ausweitung betrieben und sowohl Electronic-, Dub-, Reggae-, Noise-, Disco- und Jazz-Elemente als auch Formen der klassischen Avantgarde aufgriffen, um neue musikalische Möglichkeiten auszuprobieren.65

4.2 P UNK IN D EUTSCHLAND : D O -I T -Y OURSELF UND K ONTINGENZSCHUB Als am 7. Juli 2002 in der Kunsthalle Düsseldorf die Ausstellung Zurück zum Beton ihre Pforten öffnete, wurde aufgrund der großen Anzahl an Exponaten (Platten- und Kassettencover, Fanzines, Flyer, Manifeste, Filme, Fotodokumentationen etc.) deutlich, dass die seit Mitte der 1970er Jahren in Deutschland aufkommende Punk- und New-Wave-Bewegung keine einheitlich fassbare und programmatisch in sich geschlossene Ästhetik hervorgebracht hat, sondern primär, ganz dem amerikanischen und englischen Punk- und Postpunk-Gestus verpflichtet, eine Vielzahl an neuen Ausdrucksmöglichkeiten erprobte, indem sie sich rigoros des Prinzips der Selbstbestimmung bediente und mediale Grenzen immer wieder überschritt. Drei Monate lang konnten sich die Besucher der Ausstellung davon überzeugen, dass die Punk-Bewegung inzwischen eine Historisierung erfahren hat und sich ohne Umschweife in die Reihe der Avantgarde-Bewegungen einordnen lässt. Zudem machte die Ausstellung deutlich, dass der sogenannte Do-It-Yourself-Habitus, ebenso wie in England und Amerika, alle kreativen Aktivitäten der deutschen Punk-Szene bestimmte und primär dazu diente, tradierte Werte und Normen zu zerstören und sich jeglichem Fremdeinfluss zu entziehen. Der Journalist Jürgen Teipel führte eine große Anzahl an Interviews mit den ehemaligen Protagonisten der frühen deutschen Punk- und New-Wave-Generation, von denen viele auch heute noch im Musikgeschäft aktiv sind, und montierte, ganz dem Punk-Gestus verpflichtet, die fast 1000 Interviewstunden zu einem aufschlussreichen „Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave“ mit dem bezeichnenden Titel Verschwende Deine Jugend.66 Dabei wird

64 Reynolds 2007, S. 22. 65 Vgl. ebd. 66 Teipel 2001. Der Titel dieses aufschlussreichen Sekundärwerks ist dem ebenso betitelten Song der deutschen Band DAF entlehnt.

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deutlich, wie der DIY-Habitus ab 1976 viele junge Menschen in den Bann schlägt. Beeindruckt von Bands wie z. B. den Sex Pistols, The Damned, The Clash oder den Ramones, deren Platten von deutschen Jugendlichen bei Besuchen in London oder New York entdeckt und mitgebracht wurden, griffen die Punks auch in Deutschland zu den Instrumenten, gründeten Bands, organisierten Festivals, gestalteten Flyer, Plakate und Fanzines, nahmen Platten auf und gründeten Labels. Unterstützt wurde dieser Kontingenzschub besonders durch neuartige Formen der Vervielfältigungs- und Produktionsmittel wie Fotokopiergeräte, Super8-, Polaroid- und erste VHS-Kameras, Doppel-Kassettendecks und Heimstudios. Diese neuen und zudem erstmals erschwinglichen ‚Instrumente‘ ermöglichten es vielen Jugendlichen, sich neue Ausdrucksmöglichkeiten anzueignen, eine ganz neue Ästhetik zu entwickeln und die selbstorganisierten Provokationen und Experimente hervorzubringen, die den Punk auszeichneten. Der deutsche Punk bot, wie auch Carmen Knoebel erklärt, „etwas, was dagegenhielt – und zeigte, dass es auch andere Formen und Ausdrucksweisen gibt“.67 „Das war der Versuch, dem Alltag ein Stück Pop abzuringen. Kratz- und Klopfzeichen auf der Suche nach einer eigenen Sprache“, schreibt Jürgen Ziemer über die ersten Gehversuche deutscher Punkbands wie z. B. S.Y.P.H., Abwärts, Mittagspause, Palais Schaumburg, Die Radierer, Der Plan und Deutsch-Amerikanische Freundschaft, kurz DAF genannt: „Musikalischer Stil war Punk nicht, vielmehr eine Lizenz zum Selbermachen. 1977 bis 1981 hieß das: Fanzines, Klamotten, Konzerte, Musik und nicht zuletzt die Gründung von eigenen Plattenfirmen.“68 Diese intensiven Suchbewegungen nach neuen Formen und Ausdrucksweisen seien, wie der deutsche Autor Peter Glaser in seinem Beitrag zum Katalog der Düsseldorfer Ausstellung erklärt, einer „Krise des Ausdrucks“ geschuldet gewesen, die zu dieser Zeit die Musik, die bildende Kunst und die Sprache erfasst habe: Wie Glaser konstatiert, habe sich seit den 1970er Jahren sowohl die deutschsprachige Prosa als auch die Lyrik „in Innerlichkeit verloren“, d. h. „man befaßte sich durch literarische Mittel damit, seine eigene große Zehe mit einem Teleobjektiv zu fotografieren“.69 Diese bedächtige Innerlichkeitskultur galt es zu überwinden; dennoch spielte die literarische Rede zu Beginn der Punk-Explosion in Deutschland vorerst eine eher marginale Rolle. „Punk-Literatur gab es nie, dazu war Punk zu schnell und ist Literatur zu langweilig“, schreibt auch

67 Zitiert nach Teipel 2001, S. 94. 68 Ziemer 2006. 69 Glaser: Geschichte wird gemacht, S. 121.

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Peter Glaser.70 In dieser Zeit, so Glaser, sei „alle dichterische Kraft“ zunächst dazu aufgewendet worden, Songtexte zu schreiben und Bandnamen zu entwerfen.71 Das Schreiben von Lyrics, das Gestalten von Logos und Slogans, das Berichten über Konzerte und Plattenveröffentlichungen etc. schienen geeignetere Mittel, sich von den tradierten literarischen Formen abzusetzen oder sogar ganz zu lösen. So kam es im Rahmen der DIY-Idee zunächst zur Gründung einer Anzahl von Plattenlabels mit unabhängigen Produktions- und Vertriebsstrukturen wie z. B. Pure Freude oder Rondo, die in Düsseldorf beheimatet waren. Die „Möglichkeit, vom Markt unzensiert und unkontrolliert zu veröffentlichen“, sei, wie Frank Apunkt Schneider konstatiert, „schon immer die Grundvoraussetzung für die Entstehung und Verbreitung auf Musik basierender Gegenkulturen“ gewesen.72 Als „Emanzipationsmedium schlechthin“ bezeichnet Schneider jedoch die Kassette, da ihre Herstellung nicht von Presswerken abhängig war und „schnell, unbürokratisch, kostengünstig und vor allem privat und selbstbestimmt“ fabriziert werden konnte; die Kassette, so Schneider, „emanzipierte von den Strukturzwängen des Musikgeschäftes ebenso wie vom Publikum als internalisiertem Zwang“: „Niemand musste mehr mit den EigentümerInnen der Produktionsmittel und der öffentlichen Meinung aushandeln, wie radikal, fremdartig, verstörend, eigenweltlich seine/ihre Musik noch sein darf und wie viel Übersteuerung und Rauschen gerade noch erlaubt ist. Einer Studie zufolge soll es 1979 in der Bundesrepublik in jedem Haushalt mindestens ei-

70 Ebd., S. 127. 71 Ebd., S. 125. 72 Schneider 2007, S. 120. Wie Martin Büsser schreibt, hat die Idee, Rock-Musik aus dem Zirkel massenwirksamer Manipulation zu befreien und somit Kontrolle über das eigene Produkt zu haben, ihren Ursprung schon zu Beginn der 1970er Jahre mit der sogenannten „Rock in Opposition“-Bewegung rund um die Mitglieder der Alternative Band Henry Cow, deren Ziel es war, Entstehung und Vertrieb ihrer Musik frei zu gestalten und somit frei von Marktinteressen agieren zu können. Damit nahm, wie Martin Büsser konstatiert, die „Rock in Opposition“-Bewegung zwar einige Grundideale von Punk – wie z. B. Autonomie, Unkommerzialität, Kompromisslosigkeit – vorweg, bediente sich dieser Form der Selbstverwaltung allerdings weniger aus libertärer, antikapitalistischer Überzeugung, sondern benötigte die Selbstorganisation vielmehr dazu, um ohne marktwirtschaftlichen Druck ihre zumeist sehr sperrige und komplexe Musik, die aus Versatzstücken von Free Jazz, Psychodelic Rock und Musique Concrète bestand, veröffentlichen zu können (vgl. Büsser 2000, S. 71).

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nen Kassetten-Rekorder gegeben haben. Ein allen zur Verfügung stehendes Produktionsund Reproduktionsmedium also und demzufolge ästhetische Basisdemokratie.“73

Ebenso entstand zur Zeit der Punk-Explosion in Deutschland eine große Anzahl an Underground-Filmen. Video- und Super-8-Aufnahmen stellten, so Schneider, „geeignete Dokumentationsmedien für die oft spontane Kreativität der Szene“ dar und waren von einer „Wegwerfästhetik“ geprägt. Die Filme waren „verwackelt“, „falsch oder schlecht beleuchtet und belichtet“, besaßen eine „miserable Tonqualität“ und bestanden oftmals aus „zerfetzte[n] Bilder[n], unklare[n] Handlungsstränge[n] und schwer verständliche[n] Dialoge[n]“.74 Hinzu kamen viele unregelmäßig und in kleiner Auflage erscheinende Printmedien, die sogenannten Fanzines, die oftmals im Collage- und Montage-Stil gestaltet waren und der aufkommenden deutschen Punk-Szene als Kommunikations- und Ausdrucksmittel dienten. Die ersten Fanzines waren schon in der Anfangszeit der Punk-Bewegung in Amerika und England entstanden, darunter Hefte wie z. B. Sniffin’ Glue und Ripped & Torn. Als erstes deutsches Fanzine gilt das Heft The Ostrich, das ab März 1977 von Franz Bielmeier veröffentlicht wurde, der seinerzeit auch Gitarrist bei den Düsseldorfer Punk-Bands Charley’s Girl und Mittagspause war.75 Das Layout von The Ostrich war im „Stil von Erpresserbriefen“ gehalten, was „eine Menge Schneide und Klebearbeiten“ erforderte76, wie Franz Bielmeier erklärt: „Wir haben alles ausgeschnitten, was uns woanders toll gefallen hat. Und dann im Ostrich wieder zusammengeklebt. Ich mochte öde Sachen: mehr Halle als Mensch und so. Mir hat das Nichtreparierte gefallen. Nicht diese heile Welt, wo überall Schaumgummi dazwischen ist. Die Energie kam aus den nichtreparierten Stellen.“77

Im Laufe der Jahre 1977 bis 1981 sollen in der BRD dann an die zweihundert verschiedene Hefte erschienen sein, wobei die wirkliche Zahl weitaus höher gewesen sein dürfte, da aufgrund der sehr geringen Auflage und Verbreitung heute kaum noch nachvollziehbar ist, wann und wo seinerzeit neue Fanzines produziert worden sind.78 Begünstigt wurde diese schnelle und kostengünstige Publikation

73 Schneider 2007, S. 137. 74 Ebd., S. 144. 75 Vgl. Hoffmann: Do it yourself, S. 163f. 76 Ebd., S. 164. 77 Zitiert nach Teipel 2001, S. 39. 78 Vgl. Ott/Skai 1985, S. 239 u. S. 246-258.

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eigener Medien, die den Machern ebenso wie bei der Herstellung von Kassetten und Platten eine gewisse Autonomie sicherte, durch das Aufkommen der Fotokopiergeräte und der Verbreitung von Copyshops: „Rasch getippt, geklebt und fotokopiert, ließen sich in den eigenen Fanzines Nachrichten und Ideen, die unter den Nägeln brannten, umgehend und ohne eine redigierende Zwischeninstanz, die sowieso nichts verstand, verbreiten. Aus Schlagzeilenmontagen und Illustriertenschnipselcollagen hingeknallt, entstand eine widerborstige und fetzige Gegenschönheit zur gängigen Zeitschriftenästhetik.“79

Die Fanzines waren somit „wüste Collagen bis intelligente Dekonstruktionen der bürgerlichen Medienwelt“ und „produzierten Informationen zweiter Ordnung, indem sie aus ‚den Medien‘ Informationspartikel entwendeten und sie in einem freien Spiel der Deformation neu zusammenfügten“.80 Dabei seien, wie Peter Glaser schreibt, bei der Herstellung der Fanzines die Mediengrenzen keineswegs bindend gewesen und wurden oftmals überschritten: „So fanden sich neben den klassischen Papierausgaben auch Exoten wie Rainer Rabowskis brauchbar/unbrauchbar, dessen erste Ausgabe im Tiefkühlbeutel, fast 100 Blätter mit Texten, Handarbeiten und Materialien, sich jeder anthologischen Zuordnung entzog.“81 Dreh- und Angelpunkt für den kreativen Aktionismus der aufkommenden Punk- und New-Wave-Bewegung bildeten dabei insbesondere die Städte Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Schon Ende 1976 spielte die deutschsprachige Band Male erste Punkstücke, aber erst 1977, als Carmen Knoebel den Ratinger Hof in Düsseldorf renovierte, war eine wirkliche Anlaufstelle für die Punk-Bewegung geschaffen. Die dort auftretenden englischen und amerikanischen PunkBands wirkten als „Katalysator für das Entstehen einer eigenständigen deutschen Variante dieser Musik“82 und das von Carmen Knoebel und dem Musiker Harry Rag gegründete Label Pure Freude bot Bands wie SYPH oder Mittagspause die Möglichkeit, selbstgestaltete und selbstproduzierte Singles und Alben zu veröffentlichen. In kürzester Zeit wurden der Ratinger Hof in Düsseldorf oder auch das SO36 in Berlin zu Versammlungsstätten von jugendlichen Punks und der Kunst-Szene: Künstler wie z. B. der 1956 in Krefeld geborene Markus Oehlen

79 Glaser: Geschichte wird gemacht, S. 123. 80 Schneider 2007, S. 119. 81 Glaser: Geschichte wird gemacht, S. 124. 82 Groetz 2002, S. 121.

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spielten in Bands83, gestalteten Plattencover, Flyer und Fanzines, dokumentierten Auftritte und organisierten Ausstellungen. In Berlin kümmerte sich seinerzeit der Maler, Installationskünstler, Performancekünstler, Bildhauer und Fotograf Martin Kippenberger, der an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studiert hatte, um die Veranstaltungen im Szenetreffpunkt SO3684 und betätigte sich u. a. ebenfalls als Musiker.85 Was Kippenberger damals an der im SO36 zusammenkommenden Szene gefallen habe, so seine Schwester Susanne Kippenberger, sei „die Intensität der Konzerte, das Wilde und Anarchische der Punker, das Chaotische und Unverdauliche ihrer Musik“ gewesen86: „Martin war immer da, begrüßte die Gäste, es wurde getanzt, gepinkelt, auch gegen Bilder, natürlich auch Musik gemacht, neben deutschen Bands wie Mittagspause, PVC, DINA Testbild kamen Bands aus der ganzen Welt.“87 Durch diese besonders deutlich in Berlin und Düsseldorf aufscheinende Vermengung von Punkjugend und Kunst-Szene sei, wie Frank Apunkt Schneider konstatiert, der „Kunstbetrieb für einen kurzen historischen Moment in der Lage“ gewesen, „via Punk zugeschärfte und ungerichtete Biografiensplitter in sich aufzunehmen, diese zu transformieren bzw. sie mit künstlerischen Traditionen abzugleichen und so in die offizielle Kunstgeschichtsschreibung der BRD einzuschleusen“: Die Punkszene, so Schneider, erhielt mit der Verbindung zur Kunstszene eine „Reflexionsfläche“ und „einen subkulturell erfahrenen Resonanzraum“.88 Über ein „Patchwork aus Treffpunkten, Szenen, Schnittstellen, Einzelpersonen und Institutionen“ waren die Kunst- und die Punk-Szene sowie die später entstehende New-Wave-Szene „über eine gewisse Wegstrecke unauflöslich miteinander verbunden“, und „Bandgründungen wurden als Möglichkeit angesehen, den Stereotypen des Kunstbetriebs und seiner institutionellen Veranke-

83 Markus Oehlen studierte von 1976 bis 1982 an der Kunstakademie Düsseldorf und spielte zugleich in der 1977 gegründeten Punk-Band Charley’s Girls und der Nachfolgeband Mittagspause. 84 Vgl. Kippenberger 2007, 168-185. 85 Eine Anzahl an Aufnahmen spielte Kippenberger z. B. mit Markus Oehlen und seinem Bruder Albert, Werner Büttner, Jörg Immendorff, A. R. Penck, Diedrich Diederichsen und dem Freejazz-Musiker Rüdiger Carl ein. Nachzuhören sind diese musikalischen Arbeiten von Martin Kippenberger auf der CD-Box Musik/1979-1995 (Edition Kroethenhayn 2010). 86 Kippenberger 2007, S. 174. 87 Ebd., S. 171. 88 Schneider 2007, S. 63.

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rung im Gesellschaftssystem zu entkommen“.89 Die Veröffentlichung von Platten war Teil der künstlerischen Produktion, ebenso wie auch Einladungskarten, Plakate und Kataloge. Viele der im Punkumfeld tätigen Künstler – wie z. B. Markus und Albert Oehlen, Markus Lüpertz, Martin Kippenberger, Rainer Fetting, Helmut Middendorf – wurden damals gerne als Vertreter der sogenannten ‚heftigen Malerei‘ bzw. ‚Neuen Wilden‘ oder ‚Jungen Wilden‘ bezeichnet, wobei diese Stilrichtung sich u. a. durch den Wunsch auszeichnete, bürgerliche Werte und Normen bloßzulegen, bis dato gängige Vorstellungen des Kunstbetriebes zu demontieren sowie Kunst und Leben zu verschalten. Dies erreichten die ‚Jungen Wilden‘ u. a. dadurch, dass sie großformatige Leinwände benutzten, auf denen sie nicht vermalte Farbstriemen auftrugen, die sich durch eine kräftige Farbigkeit auszeichneten. Diese rohe und obsessive Malweise sollte den Materialcharakter der Farbe und die Bewegungsspur der pinselführenden Hand erhalten bzw. die Zeichen der Herstellung und des Malaktes hervorheben.90 Die dabei entstandenen Bilder zeichneten sich primär dadurch aus, dass die Künstler ihre eigenen Lebenserfahrungen direkt und unmittelbar in die Malerei einbrachten. Man findet bei den Künstlern Rainer Fetting und Helmut Middendorf eine Anzahl an Bildern, die sich direkt mit ihren intensiven Konzert-Erlebnissen im Musikschuppen SO36 in Berlin auseinandersetzen: „Die Musik ist das Thema dieser Malerei, die als Klangenergetik die Gestalten in Ekstase versetzt und die Räume in farbensprühende Bewegung bringt.“91 Überdeutlich wird der Zusammenhang zwischen Punk-Musik und den „Neuen Wilden“ auch in einer Äußerung von Helmut Middendorf, der schon 1977 zusammen mit Rainer Fetting und dem Berliner Maler Salomé die „Künstlerselbsthilfegalerie“ Galerie am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg gründete: „Die ersten Konzerte damals im ‚So36‘ und in New York, die hatten eine solche Intensität, daß ich in der Malerei darauf reagieren mußte. Diese Intensität gab es in der Kunst nirgendwo, die mußte man erst herstellen. [...] Sie [die Punk-Musik] hatte etwas Reduziertes, Nacktes, Direktes, und das hatte auch eine Parallele zu den Bildern, die man malen wollte, nämlich auch pur, direkt und geradeaus. Man wollte elementar auf das zugehen, was einen wirklich interessiert.“92

89 Ebd., S. 66f. 90 Vgl. Klotz 1984, S. 100. 91 Ebd., S. 121f. 92 Zitiert nach Klotz 1984, S. 143.

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Dass sich die Wege von Punks und Künstlern in diesen Szenetreffpunkten kreuzten und vermischten, führte schnell zu einem enormen kreativen Output, und fast stündlich entstanden neue Bands, bei denen die bildenden Künstler aktiv mitwirkten: „Die ‚Jungen Wilden‘ bildeten plötzlich Musikgruppen oder waren mit diesen vernetzt oder nahmen [...] Platten auf [...].“93 Bandgründungen wurden „als Möglichkeit angesehen, den Stereotypen des Kunstbetriebs und seiner institutionellen Verankerung im Gesellschaftssystem zu entkommen“.94 Dergestalt spielte z. B. auch Helmut Middendorf Schlagzeug und Gitarre im SO36 und der Maler Salomé trat mit der New Wave-Band Geile Tiere auf. Insbesondere in Düsseldorf und Umgebung wird dabei zudem die Nähe zu Joseph Beuys deutlich, der bis Oktober 1972 an der Kunstakademie Düsseldorf lehrte, aber dann aufgrund interner Auseinandersetzungen entlassen wurde.95 Den Unmut vieler Kollegen der Akademie hatte Beuys sich zugezogen, als er aufgrund seiner Vorstellung, dass jeder Mensch ein Künstler sei, für eine uneingeschränkte Aufnahme von Studienbewerbern eintrat. Beuys’ Bemühen um eine Umstrukturierung der künstlerischen Ausbildung hatte seinen Ursprung in seiner stark anthroposophisch gefärbten Theorie einer Sozialen Plastik als gesellschaftlichem Gesamtkunstwerk, um die Trennung von Kunst und Leben zu überwinden. Zentrales Thema dieses universellen und von einem stetigen Werden durchdrungenen Kreativitätsprinzips bildete dabei der erweiterte Kunstbegriff, der den Menschen und sein kreatives Potential, das erkannt und ausgebildet werden muss, in den Mittelpunkt jedweder Tätigkeit stellt.96 An den künstlerischen Aktionen, die Beuys veranstaltete, waren mehrfach auch Künstler und Fluxus-Komponisten wie Henning Christiansen und Nam June Paik beteiligt. Der Einsatz klanglicher und musikalischer Mittel diente dabei dazu, „ein durch die Zivilisation verschüttetes, kreatives Potential freizusetzen und als energetisches Potential zur Verfügung zu stellen“: „Der Umgang mit Geräuschen und Klängen stand während Beuys’ Aktionen immer im Zusammenhang mit anderen kreativen Aspekten: mit dem Verwenden von Gegenständen, mit dem Sprechen, Schreiben und Handeln von Beuys selbst. Als Folge dieses interdisziplinären, grenzüberschreitenden Agierens, das für das ganze Werk von Joseph Beuys cha-

93 Schneider 2007, S. 66. 94 Ebd., S. 67. 95 Nach seiner Entlassung erlaubte es ihm ein gerichtlicher Vergleich, auch weiterhin seinen Professorentitel zu führen und bis zu seinem 65. Lebensjahr sein Akademieatelier zu nutzen (vgl. Ermen 2007, S. 95). 96 Vgl. Stachelhaus 1987, S. 79ff; Oman 1988, S. 96ff.

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rakteristisch ist, ergaben sich Neubestimmungen und Transformationen: als Klangerzeuger benutzte Gegenstände wurden nicht selten zu selbstständigen Plastiken, Multiples und Rauminstallationen.“97

Dergestalt konstatiert der Beuys-Schüler Jürgen Kramer, dass ihn der Kontakt mit der aus England kommenden Punk-Musik dazu gebracht habe, „mich wieder an meinen Anfang, meinen Ursprung zurückzubesinnen, und der lag im Zusammenhang mit Beuys in einer existentiellen Fragestellung. Daraufhin habe ich die Musik nur so wahrgenommen, wie sie nicht nur innovativ, sondern auch in der Lage war, ein neues Modell oder Menschenbild anzubieten.“98 Nachdem Jürgen Kramer seit seinem 1973 erfolgten Abschluss an der Kunstakademie Düsseldorf zunächst nur theoretisch-konzeptionell gearbeitet und einige Schriften herausgegeben hatte, veranlasste ihn die in Deutschland aufkommende Punk-Bewegung jedoch dazu, auch künstlerisch-praktisch in Aktion zu treten.99 Zugleich betätigte er sich als Herausgeber des im spontanen Collage-Stil gehaltenen Fanzines Die 80er Jahre und spielte zudem zusammen mit Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt, die beide auch Autodidakten im musikalischen Bereich waren, in der Band Weltende. Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt betrieben seit 1978 zugleich in Wuppertal die Galerie Art Attack, in der sie junge Künstler präsentierten, die „bewußt oder unbewußt den herkömmlichen Kunstbetrieb attackierten“ und „vom Punk-Impuls berührt waren“.100 Zu den Merkmalen dieser Kunst, die ihre Inspiration aus der Intensität der Punk-Musik bezog, gehörten „eine schnelle, direkte Produktion (ein möglichst kurzer Weg von der Idee zur Ausführung), eine provokative, impulsive Äußerungsweise in Schlagworten, Bild-Zeichen und Kürzeln, die statt einer ausformulierten Formsprache benutzt wird, eine Beschränkung auf minimale Mittel und einen im Zuge des akuten, aggressiv sich äußernden Kommunikationsdranges bisweilen überzeichneten Realismus“. 101 Die in der Art-Attack-Galerie ausgestellten Kunstwerke bestanden, ganz diesem Punk-Habitus verpflichtet, zum großen Teil aus „Copy Art“, d. h. „aus schnellen, mit dem Photokopierer hergestellten, bzw. verfremdeten Bildern, sowie aus Collagen und Assemblagen, die auf direkte Wirkung und Provokation aus waren“.102

97 Groetz 2002, S. 81. 98 Zitiert nach Groetz 2002, S. 20. 99 Vgl. Groetz 2002, S. 19. 100 Ebd., S. 120. 101 Ebd., S. 120f. 102 Ebd., S. 121.

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Bei Ausstellungseröffnungen fanden in den Räumen der Art-Attack-Galerie zudem oftmals Konzerte mit Punk-Bands statt oder es erklang Punk-Musik von Tonträgern.103 Die Band Weltende löste sich schon nach kurzer Zeit auf und Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt gründeten zusammen mit Kurt Dahlke alias Der Pyrolator die Formation Der Plan, die sich bei ihrer musikalischen Produktion, bei ihren Auftritten und bei der Gestaltung ihrer Tonträger dem DIY-Gestus verpflichtet fühlten und einer großen Medien- und Stilvielfalt bedienten. Besonders deutlich wird dieser starke Hang zur Selbstbestimmung und Selbstverwaltung auch bei dem im Frühjahr 1980 auf dem Label Ata Tak veröffentlichten ersten Album der Gruppe Der Plan, das den bezeichnenden Titel Geri Reig trug. Der Begriff leitet sich, so Moritz Reichelt, von dem englischsprachigen Ausdruck ‚to jerry-reeg‘ ab, „was so viel bedeutet wie etwas provisorisch reparieren, improvisieren“.104 Dabei fand das Geri-Reig-Prinzip sein Äquivalent sowohl in der musikalischen Produktion – d. h. in der Handhabung der Instrumente und dem Zugriff auf bereits vorhandene Musikquellen, der Erstellung von Textmaterial etc. – als auch bei der Gestaltung der Plattenhülle.105 Besonders deutlich wird dieser Geri-Reig- bzw. Do-It-Yourself-Gestus an der spielerisch-naiven Art, mit der sich Der Plan auf ihren ersten Alben u. a. den Möglichkeiten annähern, die ihnen der Synthesizer bot. Auf den Platten Geri Reig und Normalette Surprise (Ata Tak 1981) experimentierte die Band mit elektronischen Klängen und entwarf fast kinderliedartige Songstrukturen, die immer wieder von verstörenden und düsteren Klängen durchbrochen wurden. Jürgen Kramer gründete indes die Gruppe Das 20. Jahrhundert, deren „abstrakte, brachiale Klangästhetik“ an die Industrial Music erinnert106, und arbeitete als bildender Künstler, dessen Werke sich durch „Disparatheit und Vielfalt der [...] behandelten Themen, Stile und künstlerischen Techniken“ auszeichneten.107 Ebenso wie Der Plan und Jürgen Kramer bediente sich auch das Künstlerkollektiv Die Tödliche Doris, das aus Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und Käthe Kruse bestand, einer Vielzahl an Medien und Stilen und sah in dieser die Grenzen durchlässig machenden Arbeit eine Möglichkeit, jeder Erwartungshaltung und Festlegung zu entfliehen, Irritationen zu erzeugen und einer Stagnation vorzubeugen: „Wir sind bewusst in verschiedene Systeme hineingegangen, und

103 Vgl. ebd. 104 Reichelt 1993, S. 38. 105 Vgl. Groetz 2002, S. 134ff. 106 Ebd., S. 84f. 107 Ebd., S. 100.

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wenn uns ein System schlucken wollte, versuchten wir aktiv gegenzusteuern.“108 Dergestalt hat die Formation Die Tödliche Doris im Rahmen des Bandprojekts eine Anzahl an Singles und Alben auf dem Label Ata Tak veröffentlicht, aber auch Gemälde gestaltet und Kurzfilme produziert.109 Dabei wird deutlich, dass die Gruppe Die Tödliche Doris bei ihren damaligen künstlerischen Aktivitäten ganz bewusst den DIY-Habitus der Punk-Bewegung mit – wie der Kunstwissenschaftler Thomas Groetz schreibt – „einem konzeptionellen Operieren, das mit den bildenden Künsten der damaligen Zeit in Verbindung steht“, verknüpft hat, wobei sich die Formation deutlich in die „Tradition eines offenen, immateriellen Kunstbegriffes“ gestellt habe, „der sich, in mancher Hinsicht mit Fluxus vergleichbar, nicht an einem Gegenstand oder einem künstlerischen Medium manifestiert, sondern zwischen verschiedenen definierten Eckpunkten erscheint“.110 In diesem Rahmen kommt sowohl der musikalischen und bildnerischen Produktion als auch dem sprachlichen Ausdruck die Funktion zu, jeglicher Stilbildung und jeglichem Klischee entgegenzuarbeiten. Wie Wolfgang Müller erklärt, sehe er auch die Sprache als geeignetes Instrumentarium an, um neue Möglichkeiten zu erforschen: „Die tödliche Doris war von Anfang an geprägt von diesem Bewußtsein: Nie sollte es passieren, dass die Sprache bei uns zur Masche verkommt. Muster sind nichts anderes als Stereotypen.“111 Dabei böten, so Müller, u. a. gerade „Beschädigungen“, die zu einer Verstümmelung der Sprache, zu einem Stottern und Stammeln führen würden, „immer auch eine Chance“: „Man kann oder muss sie umformen und daraus einen Wert machen.“112 In der 1982 im Merve-Verlag veröffentlichten Anthologie Geniale Dilletanten deutet Herausgeber Wolfgang Müller dementsprechend das „Ver-spielen“ und das „Ver-schreiben“ als einen „positive[n] Wert“ bzw. als eine Möglichkeit, „zu neuen, noch unbekannten Ausdrucksformen zu gelangen“: „‚Fehlerhafte‘ sprachliche Ausdrucksformen, wie Stottern, das Verschlucken von Wörtern, Vergessen von Textteilen bei Gesangseinlagen“, seien, so Müller, „für den Dil-

108 Zitiert nach Groetz 1999, S. 222. 109 Eine umfassende Übersicht über die musikalischen Arbeiten von Die Tödliche Doris bietet Groetz 2000. 110 Groetz 2002, S. 166. Deutlich wird dies vor allem an der 1985 erschienenen Album Unser Debut (Ata Tak) und der ein Jahr später veröffentlichten Platte sechs (Ata Tak): Parallel abgespielt ergaben die beiden Werke die sogenannte Die unsichtbare 5. LP, die 1993 dann regulär auf dem Label Ata Tak erscheint. 111 Zitiert nach Dax: Auf der Suche nach einer eigenen Kunstsprache: Dirk von Lowtzow, Kristof Schreuf, Antye Greie, Wolfgang Müller, S. 84. 112 Zitiert nach Groetz 1999, S. 222.

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letanten eben Realität und interessantes Forschungsgebiet, das bei eingehender Betrachtung neue Formen und Inhalte erzeugt.“113 Der Ausdruck ‚Geniale Dilletanten‘ wurde – ebenso wie die Bezeichnung ‚Geri Reig‘ – zu einem Schlüsselbegriff bzw. Schlachtruf der Bewegung, wobei die eigentümliche Schreibweise schon andeutete, dass man sich bewusst von der lexikalischen Definition und der heute üblichen negativen Konnotation (dilettantisch = laienhaft, stümperhaft, unsachgemäß, oberflächlich etc.) absetzen wollte. Dieser „Prozeß des absichtlichen Verlernens“114, der bezeichnend für die PunkBewegung war, ließe sich mit Gilles Deleuze als ein „Stottern in der Sprache selbst“ bezeichnen115, das erlaubt, einen minoritären Sprachstil zu erschaffen, der aus dem herrschenden System ausbricht und sich jeder Identitätspolitik widersetzt: „Fremder, Ausländer sein in seiner Muttersprache, eine Fluchtlinie ziehen.“116 Der Künstler wird, so Deleuze, zum „Stotterer der Sprache“117, indem er Wörter aus der Standardsprache so verwendet, dass neue grammatikalische und syntaktische Ordnungen zutage treten und die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen gerissen wird.118 In der Anthologie Geniale Dilletanten rückt Müller zugleich die kulturhistorische Figur des Dilettanten ins Blickfeld der Punk-Bewegung. Als „frühe Form von unfreiwilliger Popsubversion“ erregte seinerzeit der Dilettant, wie auch Frank Apunkt Schneider konstatiert, das Interesse des Undergrounds: „Das Wirken der DilettantInnen war meist eine Huldigung verkappter Nachstellung einer Form von rezeptionsästhetischem Stalking. Sie bemächtigten sich der Formen und Formeln, die sie bei den Klassikern gelernt hatten, ohne die kulturell veredelte Disziplin wirklich diszipliniert, also ,gut-schön-wahr‘, eben klassisch reproduzieren zu können. [...] Sie waren Pop, indem sie kulturelle Werte auflösten, nicht als aggressiver Akt, sondern vielmehr in der genuinen Gedankenlosigkeit von Masse, als die sie über das Hohe und Edle herfielen. Sie begingen Massentourismus an der Idee der Tiefe und der Höhe! So wurden sie zu DekonstrukteurInnen kultureller Macht aus reiner Freude und schierem Eifer an ihr.“119

113 Müller: Geniale Dilletanten, S. 10. 114 Savage 2001, S. 79. 115 Deleuze/Parnet: Dialoge, S 12. 116 Ebd. 117 Deleuze: Kritik und Klinik, S. 145. 118 Vgl. ebd., S. 9. 119 Schneider 2007, S. 156.

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Diese „ästhetische Zersetzungsarbeit“120, welche die DilettantInnen geleistet hatten, ließ sie als Inspirationsquelle für die Punk-Bewegung interessant werden. Das interdisziplinäre Projekt der ‚Genialen Dilletanten‘ manifestierte sich sowohl am 4. September 1981 in einem Konzert im Berliner Tempodrom (bei dem z. B. die Einstürzenden Neubauten, Gudrun Gut, Die Tödliche Doris und Sentimentale Jugend auftraten)121 als auch in der schon erwähnten Anthologie Geniale Dilletanten, deren Texte wie Manifeste wirken. Wolfgang Müller selbst bezeichnet das Konzept der „Geniale[n] Dilletanten“ als „Konstruktion einer Bewegung“, da es nur auf einem Konzert basiert habe und viele Texte des Sammelbandes unter Pseudonym von ihm selbst verfasst worden seien.122 Diese von Müller in seiner Anthologie entworfene Ästhetik der Norm- und Regellosigkeit entzieht sich ganz bewusst den bis dato üblichen Kategorien (‚richtig‘ oder ‚falsch‘, ‚schön‘ oder ‚häßlich‘ etc.), um eine neue Herangehensweise zu erproben, die niemanden ausschließt und die Grenzen zwischen elitärem Kunstbetrieb und autodidaktischem Handeln durchlässig werden lässt. Dabei habe der „Dilletantismus“, so Müller, nichts mit „Stillstand durch Nicht-Professionalität“ zu tun; vielmehr könne er „in provozierender Form einen Schock auslösen“, indem er den Glauben an einen Fortschritt durch die stetige „Verfeinerung und Ver-Komplizierung von Instrumenten/Aufnahmetechniken“ mit „Lärm und Krach attackiert“: „Heilsamer Lärm“ sei immer „ein Konzentrat verschiedenster Inhalte“; „Medikament und Genußmittel zugleich, kann er Befreiung anregen.“123 Dabei brauche man, konstatiert Müller, „die Tatsache der verfeinerten Technik und der damit verbundenen Möglichkeiten [keinesfalls] zu verschmähen, wo sie nun schon da ist, kann sie auch benutzt werden, wenn es notwendig erscheint“: Der „Dilletantismus“ leide dabei, so Müller, „keinen Schaden; die Bedeutung, die im Schönklang liegt – sei es eine treffende Persiflage desselben – entscheidet über den Wert der Information“.124 Die 1980 gegründete Band Einstürzende Neubauten kann als einer der direkten Stichwortgeber für Müllers Buch Geniale Dilletanten gelten, da sie mit ihrem ersten Album Kollaps (Zickzack 1981) die Grenzen zwischen Musik und Geräusch auszuloten versuchte, indem sie ihre ‚Instrumente‘ aus Schrott und Alltagsgegenständen zusammensuchte und den Hohlraum im Inneren einer Au-

120 Ebd., S. 157. 121 Vgl. Maeck 1982, S. 104-115. 122 Dax: Auf der Suche nach einer eigenen Kunstsprache: Dirk von Lowtzow, Kristof Schreuf, Antye Greie, Wolfgang Müller, S. 83. 123 Müller: Geniale Dilletanten, S. 12. 124 Ebd.

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tobahnbrücke als Auftritts- bzw. Aufnahmeort benutzte. So heißt es in einem Bericht über einen Besuch im Proberaum der Band, der auch in Müllers Anthologie abgedruckt ist: „Hier wird keine Musik mehr produziert, hier wird richtig gearbeitet und durch Arbeit entsteht Krach. [...] Krach im besten Sinne ist ein gutes Stück Arbeit, intensive, meditative, konzentrierte Arbeit.“125 Krach sei, schreibt auch der Einstürzende-Neubauten-Sänger Blixa Bargeld in seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1982 bis 1983, „die moderne Melodie“126: „Ein Hammer ist wesentlich mehr Musikinstrument als die Gitarre. Weil ein Hammer etwas tut (verändert, bewirken kann), während eine Gitarre nur Schwingungen verstärken kann, Töne produziert, die nicht einmal Abdrücke in der Wand hinterlassen, geschweige denn einen Nagel einschlagen könnten.“127 Diese „Guerilla-Taktik“128, die ihre Nähe zum Dadaismus, zum Surrealismus und zur Fluxus-Bewegung nicht verleugnet, bestimmte die frühen Auftritte und Aufnahmen der Band und ist bis dato in ihrer musikalischen und textlichen Produktion zu spüren, wenn auch in wesentlich abgemilderterer Form. Dazu merkt Blixa Bargeld an: „Bei uns sind in diesem Sinne aus dem Chaos Strukturen entstanden – und nicht umgekehrt. Wir haben nicht mit Strukturen angefangen, die wir dann wild zerschlagen haben. Im griechischen, philosophischen, originalen Sinne bedeutet Chaos: der Zustand des Universums vor der Erschaffung. Es ist also im Prinzip die größtmögliche Unordnung der Partikel. Und das ist immer noch ein ganz großer musikalischer Bestandteil dessen, was wir machen. Das Chaos, das Ungeschaffene, das Durcheinanderwirbeln – und dabei niemals die Erwartungshaltungen bedienen. Selbst, wenn man sich dafür verändern muß.“129

Dieser von Chaos, Improvisation und Zufall geprägte Produktionsprozess spiegelt sich auch in der seriellen Ästhetik der Songtexte der Einstürzenden Neubauten wider, die z. B. Architektur und Architekturkritik thematisieren und eine industrialisierte und entfremdete Gesellschaft beschreiben, in welcher der Mensch auf sich selbst und seine vitalen Körperfunktionen zurückgeworfen ist.130 Seit 2003 betreiben die Einstürzenden Neubauten zudem eine interaktive Internet-Plattform, die interessierten Besuchern die Möglichkeit bietet, exklusive

125 Ebd., S. 23. 126 Bargeld: Stimme frißt Feuer, S. 101. 127 Ebd, S. 98. 128 Ebd. 129 Zitiert nach Dax: Dreißig Gespräche, S 127f. 130 Vgl. Seiler 2006, S. 262. Einen ausführlichen Überblick über die Geschichte der Einstürzenden Neubauten bieten zudem: Borchart 2003; Maeck 1989.

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Aufnahmen der Einstürzenden Neubauten (wie z. B. die sogenannten SupporterAlben) zu erwerben, indem sie sich auf der Website anmelden und die Produktion vorfinanzieren. Dabei können die Fans außerdem den Entstehungsprozess via Internet-Live-Übertragung beobachten oder sogar direkt durch Kommentare beeinflussen. Im Rahmen des Supporter-Projekts entstanden auch die sogenannten „Jewels“ – musikalische Miniaturen, die jeden Monat ganz spontan komponiert und eingespielt wurden. Als „divinatorische[n] Ratgeber“ bzw. „Navigationssystem“ für diesen experimentellen, spielerischen und improvisierten Schaffensprozess dienten dabei, laut Bargeld, über sechshundert Karten, die mit Stichworten wie z. B. „Resonanzkörper“, „Vibrator“, „eine hohe Note“, „Holz“, „Kunststoff“, „Wasser“, „Andrew fängt an“ und „unten abschneiden“ beschrieben waren.131 Jedes Bandmitglied zog drei oder vier Karten, die dann als persönliche Anweisungen bzw. als musikalische Vorgaben für den folgenden Song dienten. Die oftmals diffusen Angaben auf den Karten ließen genügend Interpretationsspielraum und Möglichkeiten für den kreativen Umgang. Zudem erhielt der Entstehungsprozess eine ganz besondere Spannung aufgrund der Tatsache, dass jedes Bandmitglied die Karten für sich behielt und somit niemand wusste, welche Karten seine Mitspieler gezogen hatten.132 Noch radikaler beim Überschreiten von medialen Grenzen ging die Künstlerund Performancegruppe Minus Delta t vor, die 1978 vom in Prag geborenen Karel Kaja Dudesek und dem aus den USA stammenden Mike Andrew Hentz gegründet wurde. Minus Delta t vertraten einen prozesshaften und partizipatorischen Kunstbegriff, der zunehmend den emanzipatorischen Gebrauch der Medien umfasste. Schon 1978 kam es zu einer Reihe von Performances in Frankreich, Österreich und Deutschland (u. a. auch im Ratinger Hof in Düsseldorf), wobei die Formation mit ihrer Kompromisslosigkeit oftmals ganz bewusst die Erwartungshaltung des Punk-Publikums unterlief.133 Anfang der 1980er Jahre widmete sich die Gruppe dem sogenannten Bangkok-Projekt, wobei man einen Felsblock auf dem Landweg nach Bangkok transportierte. Dieser „Steintransport“

131 Text von Blixa Bargeld im Booklet der Einstürzenden Neubauten-CD Jewels (Potomak 2008). 132 Vgl. ebd. 133 Bei ihrem Auftritt im Ratinger Hof 1978 gossen Minus Delta t den Boden des Clubs mit Beton aus und garnierten diesen mit stinkenden Fischkadavern. Bei ihrer Performance beim 1979 in der Hamburger Markthalle stattfindenden Festival Geräusche für die 80er trieben sie die Verweigerungshaltung und Provokation bis auf die Spitze: Statt Musik aufzuführen, spielte man einfach den Polizeifunk über die Anlage ab, was zu Tumult im Publikum führte (vgl. Schneider 2007, S. 64).

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sollte dabei als „Katalysator im Sinne von Feldforschung“ dienen: „Der Stein wird im Himalaya abgeladen. Der Transport macht den Stein zur Skulptur. Die Kilometer, die zu bewältigen sind, werden als Aktien verkauft. Der Stein findet so seine Besitzer und gehört dem europäischen Kunstmarkt an.“134 Verbunden war diese ein halbes Jahr dauernde Aktion mit einer großen Anzahl an Auftritten und spontanen Experimenten, die Minus Delta t in den zu durchquerenden Ländern zelebrierten. Zugleich baute man eine ‚Informationszentrale‘ auf, welche Dokumente und Produkte, die auf der Reise entstanden waren, vertrieb.135 Basierend auf dem Bangkok-Projekt brachten Minus Delta t 1984 zudem einen Tonträger unter der Bezeichnung Das Projekt auf dem Label Ata Tak heraus. Das mit einer aufwendig gestalteten Klapphülle ausgestattete Album enthält u. a. akustische Dokumente, die während des Steintransportes entstanden sind, wie z. B. Geräusch- und Feldaufnahmen sowie Sprach- und Musikdarbietungen. Auch der 1982 von Minus Delta t bei Merve herausgegebene Sammelband Das Bangkok-Projekt besitzt rein dokumentarischen und programmatischen Charakter. Die Anthologie enthält – neben der Bandgeschichte, den Lebensläufen einzelner Mitglieder des Künstlerkollektivs und Fotodokumentationen – auch konzeptionelle Texte und Essays, welche die theoretische Grundlage zu den vielfältigen Aktionen der Gruppe bilden. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche und Gilles Deleuze sprechen Minus Delta t z. B. von einer Form des Nomadentums, das sich aufgrund seiner Nichtsesshaftigkeit bzw. Mobilität jeder Kategorisierung, jeglicher fixierter Subjektdefinition und jeglichem herrschenden System entzieht. In dem im Original 1980 erschienenen Buch Tausend Plateaus entwirft Deleuze zusammen mit dem Psychologen Felix Guattari das Konzept einer „Nomadologie“, in der nomadischen Gruppen (Ausgestoßene, Einwanderer, Homosexuelle, Wahnsinnige etc.) die Bedeutung zukommt, durch ihr strategisches Handeln jegliche Hegemonien aufzulösen: „Niemals Wurzeln schlagen oder anpflanzen, wie schwierig es auch sein mag, nicht auf diese alten Verfahrensweisen zurückgreifen.“136 Als ein Modell des Werdens und der Heterogenität stellen Deleuze und Guattari das nomadische Denken einem Feststehenden und Immergleichen gegenüber.137 Das nomadische Denken, das laut Deleuze und Guattari u. a. dazu dient, durch Ambivalenz geprägte (kulturelle) Positionierungen affirmativ handhaben zu können, wird von Minus Delta t unmittelbar auf die Aktionen der Punk-Bewegung übertragen:

134 Minus Delta t: Das Bangkok-Projekt, S.64. 135 Vgl. ebd., S.64f. 136 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 38. 137 Vgl. ebd., S. 495.

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„Punk ist Aufbegehren, existenzielle Wut gegen ein System der falschen Hoffnungen, Punk ist der Kampf gegen die ideologischen Apparate des Rockgeschäfts. Es ist, innerhalb der Geschichte der Jugendidiome des Nachkriegskapitalismus, das erste Mal, daß eine politische Offensive sich ihrer eigenen politischen Intensität in nichts mehr versichert. Stattfindet, auf der Seite der Punks, lediglich eine ungefähre Uniformisierung. Die Musik wird auf das Ereignis reduziert, das sie im Rock darstellt: die Bühne, die Verstärker, laut aufgerissen, die schrillen ungefüg[t]en Klänge, das Zitat eines Rhythmus, schnell und kurz; unten, die ,Kids‘, drängend, sich durchschlagend zur Bühne, das Verhältnis Bühne/Publikum durch Verletzung überwinden wollend, – Punk ist ein körperliches Ereignis, das sich durch seine permanente, imaginäre und reale, also: symbolische Verletzung herstellt. Punks, schließlich, leben dieses Ereignis nomadisch. Von dem, was sie kriegen können. Wohnen, wo gerade Platz ist. Spielen auf allem, was sie in die Finger kriegen. Punk ist der moderne Gesang der Nomaden: No Future. Was aber, und das wird minus Delta t nicht müde zu betonen, nicht auch heißt: no past, no presence.“138

Mitte der 80er Jahre wandten sich Minus Delta t verstärkt den Medien zu, wobei sie einen Bus als mobiles Medienlabor benutzten. Zudem erschien 1987 auf dem Ata Tak-Label das Dreifach-Plattenalbum Opera Death, welches eine irritierende Mischung aus martialischem Lärm, tribalartigem Drumming, hörspielartigen Parts, Schreikaskaden, irritierenden Sound- und Bandmanipulationen etc. enthält und zudem von einem stark ironischen Unterton geprägt ist. Der multimediale Ansatz vieler Künstlergruppen, die dem Punk-Kontext entstammen, diente dabei nicht dem Selbstzweck oder der Anbiederung an Crossover-Konzepte, die gerade en vogue waren; vielmehr gewährte das Überschreiten bzw. Auflösen medialer Grenzen die notwendige künstlerische Freiheit, um neue Ausdrucksformen zu erproben und Stagnation vorzubeugen.

4.3 P UNK -L ITERATUR IN D EUTSCHLAND : „N EUE M ITTEILUNGEN AUS DER W IRKLICHKEIT “ Obwohl viele Künstler aus dem Punk-Umfeld einen multimedialen Ansatz pflegten, lässt sich die literarische Rede, wie schon angedeutet, in diesem Zusammenhang zunächst eher als randständiges Phänomen bezeichnen. Wie die vorangegangene Beschreibung der Entwicklung der deutschen Punk-Bewegung deutlich macht, hatten Punk und auch New Wave ihre „besten literarischen Momente –

138 Minus Delta t: Das Bangkok-Projekt, S.108f.

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weil fast jeder mit Musikprojekten reüssierte – in den Songs“.139 Und so bezeichnet Peter Glaser das 1980 erschienene Album Monarchie und Alltag von der aus Düsseldorf stammenden Band Fehlfarben als das „beste Buch des Jahres ’81“. 140 Wie auch Martin Büsser konstatiert, neigten Punk und New Wave „nicht zu großen Erzählungen“, sondern arbeiteten „kurzatmig“, d. h. in Form von „sloganhaften Schnellschüssen“: „Lange bevor Punk und New Wave als Sujet oder auch nur als Haltung zum Bestandteil von Romanen werden sollen, blieb Punk-Literatur auf Songtexte und Beiträge in Fanzines beschränkt. Vor allem das Schnipsellayout dieser Zeitschriften, collagiert aus vorgefundenem Material – Bilder und Überschriften aus Zeitungen und Zeitschriften, bevorzugt aus der Boulevardpresse – das mit eigenen Texten vermischt wurde, stand ganz in dadaistischer Tradition: Über die Anordnung des Vorgefundenen sollte nicht zuletzt die vermeintliche Dummheit und Verkommenheit der populären Printmedien – und mit ihr die der Gesellschaft – aus sich selbst heraus entlarvt werden.“141

Es ist daher bezeichnend, dass die ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen, die im Rahmen der Punk- und New-Wave-Bewegung erschienen bzw. aus dieser selbst heraus entstanden, keine Romane waren, sondern Sammelbände und Anthologien. Darunter auch das von Jürgen Ploog, Pociao und Wolfgang Hartmann herausgegebene und schon 1980 erschienene Buch Amok/Koma, das aus Manifesten, Songtexten, Comics, Zeichnungen, Fotos, Collagen und Kurzprosa besteht und von der Zusammenstellung und vom Aufbau her an die von Rolf Dieter Brinkmann herausgegebene Sammlung Acid erinnert, was deutlich hervorhebt, dass die im Kontext der Punk- und New-Wave-Bewegung entstehende Literatur thematisch wie formal vorerst noch starke Bezüge zu den Beat-Poets und zu den Cut-up-Experimenten von William S. Burroughs aufweist. Die Sammlung Amok/Koma beinhaltet einerseits z. B. Arbeiten von Kiev Stingl, Jürgen Ploog, Carl Weissner, Minus Delta t und Throbbing Gristle. Andererseits finden sich in der Anthologie aber auch Beiträge von Brion Gysin, William S. Burroughs und Timothy Leary, was noch einmal zeigt, wie sehr sich seinerzeit junge Künstler, die im Kontext der Punk- und New-Wave-Bewegung ihre Werke generierten, mit der nonkonformistischen und mediensubversiven Haltung der Beat-Poets identifizierten.

139 Ullmaier 2001, S. 88. 140 Glaser: Rawums, S. 14. 141 Büsser 2003, S. 152.

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Geprägt sind die ersten literarischen Versuche, einen Roman im Kontext der Punk- und New-Wave-Bewegung und ihrer musikalischen Produktion zu schreiben, von einer „Abneigung gegenüber stringent erzählender Prosa“142, wie auch die Texte von Kiev Stingl zeigen, der schon in der Amok/Koma-Sammlung vertreten war und sich im Sinne Leslie A. Fiedlers als ‚Doppelagent‘ betätigte, indem er sowohl als Schriftsteller, als auch als Musiker143, Fotograf und Maler aktiv wurde. So besteht Kievs 1984 veröffentlichtes Buch Die besoffene Schlägerei sowohl aus essayistischen, tagebuchartigen und literarischen Textfragmenten als auch – ganz dem Collage- und Montage-Prinzip der Punk-Bewegung verpflichtet – aus einer Vielzahl an Fotos. Kievs erste Veröffentlichung lässt sich somit als „eines der wenigen deutschsprachigen Dokumente authentischer Punk-Literatur“ bezeichnen: „Die sexuelle Deutlichkeit eines Charles Bukowski wird hier an Hass- und EntfremdungsAusbrüche in der Manier eines Rolf Dieter Brinkmann gekoppelt [...] Die für Punk so charakteristische Sehnsucht nach dem ‚eigentlichen‘ Leben findet allein noch im Ekel gegenüber dem Bestehenden ihren Ausdruck und panzert sich mit scheinbarer Emotions- und Teilnahmslosigkeit [...].“144

Erst mit „Erkalten [...] des Punk-Ausbruchs“ wuchs „alsbald der Drall zum reinen Text“, wie auch Johannes Ullmaier in seinem Buch Von ACID nach Adlon konstatiert; seither, so Ullmaier, „spannten und spannen vom Punk und New Wave kommende Autoren [...] einen heterogenen Kosmos hochgradig individueller, dem Beat-Ursprung teils endgültig entwachsener Entwürfe auf“.145 Dergestalt erschien 1984 z. B. unter dem Titel Rawums. Texte zum Thema eine Ansammlung von kurzen Texten, die, wie Peter Glaser in einem einführenden „Explosé“ erklärt, von dem Wunsch getragen seien, „Strategien zwischen rabiater Ablehnung und offensiver Affirmation“ zu erproben und dem „zunehmenden

142 Ebd., S. 154. 143 1975 veröffentlichte Kiev Stingl auf dem Ahorn-Label sein erstes Album Teuflisch: Während die Musik an z. B. Velvet Underground und Lou Reed angelehnt war, erinnerten die Songtexte stark an die literarischen Arbeiten der Beat-Poets. Ebenfalls auf Ahorn erschienen die Platten Hart wie Mozart (1979) und Einsam weiß boy (1981). Erst 1989 veröffentlichte Kiev Stingl auf dem Hamburger Label What’s so funny about sein viertes Album Grausam das Gold und jubelnd die Pest, an dessen Aufnahme u. a. auch Musiker der Einstürzenden Neubauten beteilig waren. 144 Büsser 2003, S. 154. 145 Ullmaier 2001, S. 88.

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Schwinden von Wirklichkeit“ in der Literatur entgegenzuwirken.146 In der PunkMusik, konstatiert Peter Glaser, habe sich dieser Schritt schon längst vollzogen, indem Musiker „wüstes, unverblümtes Getöse“ erzeugten, das „unmittelbar aus den Zentren des Geschehens“ zu stammen scheine.147 Die „Songtexter“ seien die „ersten Schreibenden zum Ende der literarisch dahinsiechenden 70er“ gewesen, denen „der Kragen platzt: Rawums“.148 Nun sei es, so Glaser, Aufgabe der Schriftsteller, „lange eingedämmte Eigenschaften wieder glasklar zum Ausdruck“149 zu bringen und gegen die vorherrschende Langeweile, Körperlosigkeit und Selbstbespiegelung in der Literatur vorzugehen150. „Adrenalintreibend, störend und ungehalten“ sowie „schnittig“ und „schräg“151 soll nach Peter Glasers Vorstellung die neue Literatur gegen den Literaturbetrieb, der zu einer „Institution für kulturelle Zeitlupe“ verkommen sei152, anschreiben: „Und er [der Erzähler] findet prächtige Stücke im Keller:/ Spannung,/ Verständlichkeit,/ Unterhaltungswert,/ Esprit,/ Thrills:/ Rawums./ Der Erzähler ist achtsam,/ gründlich,/ straight und präzise,/ ein Weltspion in niemandes Auftrag,/ und doch für viele unterwegs (nicht für alle)./ Es ist scharf an der Zeit,/davon schreibt er und weiß,/ daß es,/ nämlich Sehnsucht zu wecken/ und ein Bild von Befreiung zu geben,/ immer noch wirkt.“153

Die von Peter Glaser in Rawums vorgetragene Forderung nach Schnelligkeit, Präsenz und Unmittelbarkeit in der Literatur findet ihre direkte Umsetzung in dem 1983 veröffentlichten Episoden-Roman Der grosse Hirnriss, ein „Roman in Geschichten und Bildern“, wie es im Klappentext heißt, den Glaser zusammen mit dem Mediziner und Literaten Niklas Stiller geschrieben hat. In Der grosse Hirnriss schreiben Glaser und Stiller ganz bewusst gegen ein Gefühl der Langeweile und Entfremdung an, das für die Punk-Bewegung bezeichnend war. Schon der erste Absatz des Romans hebt deutlich hervor, dass hier ein neuer literarischer Ton angeschlagen und ein neuer Zugriff auf die Wirklichkeit postuliert werden soll: „Das hier ist kein langweiliges Buch. Es startet gleich richtig weg

146 Glaser: Rawums, S. 16f. 147 Ebd., S. 13. 148 Ebd., S. 14. 149 Ebd., S. 15. 150 Vgl. ebd, S. 9-12. 151 Ebd., S. 15. 152 Ebd., S. 18. 153 Ebd., S. 20.

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und Wutsch!, da stand eine junge Frau in der inneren Stadt an einem belebten Straßenstern. Sie lächelte natürlich.“154 In greller, karikierender und fast comicartiger Manier zeichnen Peter Glaser und Niklas Stiller das Bild einer Gesellschaft von Großstadtvagabunden, wobei dieses Verfahren der Überzeichnung und Ironisierung oftmals dazu dient, sich dem vorherrschenden Gefühl der Entfremdung entgegenzustemmen und durch einen affirmativen Gestus Sentimentalitäten zu vermeiden.155 Die Hauptprotagonisten des Romans, der zweiundzwanzigjährige Heiza und der zehn Jahre ältere Dr. Rupprecht, sind von einem „dumpfen Erfahrungshunger“ 156 , einem kaum zu stillenden „Sinnesdurst“157 und einer schmerzenden „Sehnsucht nach Leben“ getrieben158, so dass sich aus ihrer ersten zufälligen Begegnung schon bald eine Freundschaft entwickelt. Gemeinsam ist Dr. Rupprecht und Heiza das alles bestimmende Gefühl „des nicht gelebten Lebens, nicht zugelassenen Lebens, vergeudeten Lebens“159, da sie in einer Gesellschaft voller Normen und Gebote leben, in einem „Schmerzvermeidungssystem“160, wie es Dr. Rupprecht nennt, das sie stetig dazu zwingt, sich „Panzerungen“161 zuzulegen: „[D]a spürt man, wie man abstirbt innen drin, wie einen das vom Leben trennt, von der Wirklichkeit, von der Wahrheit, von der Existenz [...].“162 Während der zweiundzwanzigjährige Heiza zwar von einem „unaufhörlichen kleinen Unbehagen, das durch alles hindurchflüsterte“ spricht163, sich dennoch aber als „seelisches Stehaufmännchen“164 bezeichnet und dem Leben in allen seinen Facetten mit Staunen und Neugier entgegentritt, hat Dr. Rupprecht seinen Beruf als Arzt aufgegeben, weil seine Arbeit im Krankenhaus ihm das Gefühl vermittelte, vom wirklichen Dasein abgeschnitten und entfremdet zu sein: „Es [das Leben] schien wie ausgesperrt aus diesen langen bleichen Fluren und den stillen Krankenzim-

154 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 9. 155 Vgl. Winkels: Einschnitte, S. 192. 156 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 71. 157 Ebd., S. 72. 158 Ebd., S. 109. 159 Ebd., S. 71. 160 Ebd., S. 73. 161 Ebd., S. 70. 162 Ebd., S. 71. 163 Ebd., S. 53. 164 Ebd., S. 131.

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mern, und auch in seinen eigenen Bewegungen und Gedanken schien es immer weniger vorzukommen.“165 Unverkennbar trägt der Roman autobiographische Züge: Während Niklas Stiller promovierter Arzt ist, der sich bis heute zudem als wissenschaftlicher Autor und Schriftsteller betätigt, war der aus Graz stammende Autor Peter Glaser Ende der 1970er Jahre nach Düsseldorf umgezogen. Dort lebte er mit dem aus der Punk-Szene stammenden Musiker Xao Seffcheque in dessen zum Tonstudio umgebauten Wohnzimmer: „Das Tolle an der Zeit damals war: Man stand morgens auf, und man hatte das Gefühl, die Luft ist geliert, voller neuer Möglichkeiten.“166 Der Grund für diese neue Sensibilität und das daraus erwachsende kreative Potential war, laut Glaser, das Aufkommen der Punk-Bewegung: „Plötzlich waren da Jugendliche, deren Frisuren an die Kristallisation einer Fontäne erinnerten, wie sie hochfährt, wenn man einen Stein oder einen Stapel Siebzigerjahre-Singles in schmutziges Wasser schmeißt. Plötzlich gab es in Kneipen Metalltische, deren Anschliff aussah wie Schneeblumen. Und draußen auf der Straße stand die Nachrüstungsdebatte und traute sich nicht herein, weil sie nicht gut genug angezogen war. Punk in Düsseldorf, das war nicht nur der Hauch von detoniertem Altkleidercontainer, sondern es waren 400-Mark-Lederjacken oder neu aufgelegte fesche Fünfzigerjahre in der Oberbekleidung – Wave. Punk war das Brennende an der Bewegung, die Neue Deutsche Welle der Löschzug, der mit Tatütata und diesen geilen roten Autos ausrückte. Nichts lag perfekter in der Zeit als gluthelle Lieder und schöne (ein ganz bißchen abgründige) Oberflächen. [...] Oberflächlichkeit ist banal: Damals führte etwas darüber hinaus. Aus Not, aus Wut, zum Spaß wurde Oberflächlichkeit in eine kunstvolle Persiflage von Oberfläche verwandelt.“167

Demgemäß strahlen auch die einzelnen kleinen Episoden des Romans Der grosse Hirnriss trotz ihrer pessimistischen Grundhaltung oftmals eine große Bildlichkeit und Unbekümmertheit aus und spiegeln damit das damalige Lebensgefühl wider. Indem der Roman den Hauptfiguren einzelne Episoden zuordnet, treten diese in einen Dialog, der die verschiedenen Lebenseinstellungen, die in dieser Zeit kursierten, deutlich hervorhebt. Während Heiza dem Großstadtleben mit einer affirmativen und sorgenlosen Haltung begegnet und Industrieareale und urbane Zeichenräume als Flaneur erkundet168, ist Dr. Rupprechts Alltag zunächst

165 Ebd., S. 109. 166 Zitiert nach Schäfer: Vom Neanderthal zum Cyberspace, S. 48. 167 Glaser: Vorwärts in die Kuhzunft. 168 Vgl. Winkels: Einschnitte, S. 192.

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von einer medialen Überreizung und Desillusionierung geprägt. Nach und nach jedoch löst sich auch Dr. Rupprecht aus dieser Lethargie und gewinnt, vielleicht auch durch Heizas unbeschwerte und zuversichtliche Art angesteckt, seine Neugier und seine Kreativität zurück. Dergestalt führt er z. B. ein sogenanntes „akustisches Tagebuch“, indem er durch die Stadt schlendert und sowohl eigene Gedanken und Beobachtungen auf Tonband aufspricht als auch Umweltgeräusche und Stimmfetzen aufzeichnet: „‚Diese Wahrnehmungsgier – im Wahrnehmen selber wahr werden. Wenn ein Bild ganz frei bis nach innen durchkommt, dann ist das so, als nähme die Welt auch mich wahr – und nicht nur ich die Dinge – und dann will die Welt in die Worte.‘“169 Rupprechts Ringen um Selbsterkenntnis, reine Wahrnehmung und Authentizität ist jedoch von einem fatalen Missverständnis geprägt. Da Rupprecht, laut Hubert Winkels, „jedes Natursegment, das er wahrnimmt, uno actu bespricht“ und es damit „hilflos kultisch übercodiert“, sind seine Tonbandaufzeichnungen von dem Zwang bestimmt, „jedes Wahrnehmungsereignis simultan zu verdoppeln“; damit exemplifiziere Rupprecht, so Winkels, „wie die transzendentale Funktion des Verstandes unter medientechnischen Bedingungen an Aufzeichnungsapparate gebunden ist“.170 Heiza dagegen erkundet unbedarft den urbanen Raum, begrüßt emphatisch die semiotische Dynamik der Großstadt und geht ganz auf in der reinen Betrachtung: „Mein Territorium, dachte er, ging ohne Erwartung durch die Straßen. Es war ein enttäuschungsfreier Raum. Nur ja nicht reden.“171 In einem Interview erklärt Peter Glaser dazu: „Ich hatte das Bedürfnis nach Klarheit. Ich wollte die Wirklichkeit erzählen. Ich wollte sie aber auch schön finden. Ich wollte aber nicht diesen Atompessimismus. Das hing mir zum Hals raus. Man spürte natürlich diese ganze Fremdartigkeit, dass sich der Mensch so total gegen die Natur stemmt. Aber ich wollte eben klarstellen: So ist es eben – mit dieser künstlichen Überhöhung, dass alles ganz toll ist. Damit konntest du die Leute richtig erschrecken. Aber das war befreiend. Wir sagten: Beton ist schön. Großstadt ist schön. Wirklichkeit ist schön. Etwas zu sehen ist schön. Dadurch ging man auf alles zu.“172

Dabei bietet der urbane Raum, laut Glaser, eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich stetig neu zu erschaffen: „Es gibt ein Geschenk, das jede Stadt bereithält: eine

169 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 163. 170 Winkels: Einschnitte, S. 194. 171 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 195. 172 Zitiert nach Teipel 2001, S. 262.

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neue Identität. [...] Man verdeckt seine Herkunft, literarisiert sich, verleiht sich einen Kampfnamen.“173 Nicht ohne Grund ist auch der Fehlfarben-Sänger Peter Hein auf dem Buchumschlag von Der grosse Hirnriss abgebildet, wie er vor dem Bürohochhaus des Mannesmann-Konzerns einen Tanzschritt vollführt: „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“, intoniert Hein auf dem schon erwähnten Album Monarchie und Alltag. Die Singles und Platten der Fehlfarben scheinen, neben den ersten Aufnahmen von Der Plan und den elektronisch-verspielten Soloalben von Kurt ‚Pyrolator‘ Dahlke, als musikalische Vorlage für den Roman Der grosse Hirnriss gedient zu haben. Die Musik der Fehlfarben beschreibt treffend das damals vorherrschende Gefühl, dass sich, bei genauerer Betrachtung, das eigentliche Leben als trist und farblos darstellt, da der Welt jegliche Lebendigkeit entzogen worden ist. Gegen dieses Gefühl der Langeweile und Entfremdung setzten die Punks, wie oben aufgezeigt, ihre Neugier und Ungetrübtheit sowie den Versuch, sich über Mode, Musik, tänzerischen Ausdruck, Graffiti etc. die Welt anzueignen und umzudeuten, um das Alltagsleben und den urbanen Raum farbiger und bunter zu gestalteten. Mit dem Slogan „Ablehnen wird abgelehnt“174 beschreibt Peter Glaser in einem Interview diese Einstellung. Ironie und Affirmation, die zwei Leitbegriffe der Provokations- und Aneignungs-Ästhetik der Punk-Bewegung, werden zu den vorherrschenden Stilmitteln, die jegliche Kreativität bestimmen. „Was ich will, ist Ironie und Schönheit. [...] Was ich nicht will, ist eine Bestimmung im voraus“, erklärt auch der Protagonist Heiza jedem, der etwas über seine Lebenseinstellung erfahren möchte.175 Wie sehr die Beschreibungen des Großstadtlebens in Der grosse Hirnriss zudem von der ästhetischen Praxis der Punk- und New-Wave-Szene beeinflusst sind, zeigt sich auch an der Figur des Musikers Walzer, der zusammen mit Heiza und seiner Freundin Julia in der kleinen Kellerwohnung haust und dort, von einer großen Unruhe und einer Angst vor der Stille getrieben, seiner musikalischen Leidenschaft nachgeht: Die ästhetische Grundlage seiner „musikalischen Erbringungen“ bildet dabei, wie es im Roman heißt, „der Diebstahl fremder Ideen“: „Seine Stücke waren meist Stilmontagen oder Arrangements fremder Einfälle und somit treffend in einer Zeit, in der das Zusammenführen und Verschneiden musikalischer Stile zum eigentlichen Stil geworden ist, das Spiel mit Richtungen.“176

173 Glaser: Vorwärts in die Kuhzunft. 174 Zitiert nach Schürmann: Zurück aus dem Cyberspace. 175 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 37. 176 Ebd., S. 88.

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Doch nicht nur auf der narrativen Ebene des Romans lassen sich Bezüge zu der damaligen Punk- und New-Wave-Bewegung aufzeigen: Zeitgleich zur Veröffentlichung von Der grosse Hirnriss konnte man sowohl eine Musikkassette erwerben, auf der sechs Musiker bzw. Bands (wie z. B. Thomas Schwebel von der Band Fehlfarben, Pyrolator von Der Plan und Rainer Rabowski von Roter Stern Belgrad) einzelne Kapitel des Buchs „in Klang und Gesang“ fortgesetzt hatten, als auch einen „Ausschneidebogen“ bestellen, der „ergänzendes Bildmaterial zum Layout“ enthielt.177 Der Leser konnte einerseits der Vertonung einzelner Episoden lauschen und andererseits selbst aktiv werden und zu Schere und Kleber greifen, um nach dem Cut-and-paste-Prinzip die ausgeschnittenen Bilder in die dafür vorgesehenen Felder im Buch einzufügen. Mit ironischem Unterton hat Peter Glaser in einer E-Mail an den Autor dieser Zeilen sein Werk Der grosse Hirnriss als ‚interaktiven Roman‘ bezeichnet, was deutlich hervorhebt, wie sehr das Buch sowohl dem DIY-Habitus der Punk-Bewegung verpflichtet ist als auch den Versuch darstellt, die Grenzen der Literatur auszuweiten bzw. zu überschreiten, um eine Brücke zwischen Kunst und Alltagsleben zu schlagen. Treffend heißt es an einer Stelle des Romans dann auch: „Empfehlung: Nach längerer sitzender Beschäftigung sollte ein wenig Lockerung und Entspannung betrieben werden. Es wäre den Versuch wert, mal zu einem Buch zu tanzen.“178 Während der nächsten Jahre wandte sich Peter Glaser verstärkt anderen Medien als der Schrift zu und inszenierte seine Lesungen als Multimedia-Spektakel, d. h. als akustisches und optisches Ereignis. Diese ungewöhnliche und gegen den Literaturbetrieb gerichtete Textpräsentation beschreibt Hubert Winkels wie folgt: „Wenn der Veranstalter über das entsprechende Equipment verfügte, kann man in abgedunkeltem Raum eine spröde, rostig klingende Stimme hören und graphische und typographische Zeichengebilde über einen Screen flimmern sehen. [...] Pausen mit Musik, dem Inhalationsgeräusch einer Zigarette oder Räuspern unterbrechen den Wortfluß. Unterlegt ist er mit Verkehrsrauschen oder dem Gebrumm eines technischen Geräts. [...] Die Worte wirken wie freigeschlagen aus einem dichten Geräuschfeld. Glaser reintegriert das Rauschen und den Zufall, an deren Eliminierung sich in der Regel die Qualität des Rundfunks bemißt. Die Artikulation scheint dem akustischen Chaos, dem Lärm abgerungen.“179

177 Glaser: Der grosse Hirnriss, S. 248. 178 Ebd., S. 159. 179 Winkels: Einschnitte, S. 175.

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Anfang der 80er Jahre betätigte sich Peter Glaser auch als ‚literarische Musicbox‘: Unter dem bezeichnenden Pseudonym Poetronic las er den anwesenden Besuchern des Düsseldorfer Literaturbüros minutenweise aus seinen eigenen Texten vor, je nach Münzeinwurf. Noch exzessiver betrieb Glaser dieses Spiel mit den Medien und der Identität, als er einige Jahre später seine Lesungen durch die Präsenz eines Computers, der ihn als Vortragenden ersetzte, ent- bzw. depersonalisierte.180 Diese Vorgehensweise erinnert nicht umsonst an die aus Düsseldorf stammende Elektropop-Band Kraftwerk, deren Mitglieder auf Fotos und bei LiveAuftritten oftmals eine leblose Pose einnehmen und sich als Roboter ausgeben. Dieses Konzept, das insbesondere auf dem Album Die Mensch-Maschine (Kling Klang 1978) und in dem darauf enthaltenen Track Die Roboter deutlich hervortritt, führte dazu, dass die Band beschloss, ein Gros der Promotionarbeit (Pressekonferenzen, Fotoshootings etc.) von sogenannten ‚Dummies‘ bestreiten zu lassen. Ihren Einsatz fanden diese Puppen oftmals auch zum Abschluss der Konzerte, zumal die Performance der Band davon geprägt war und ist, sich kaum zu bewegen und nur wenig mit dem Publikum zu kommunizieren. Dergestalt gaben sich Kraftwerk den Habitus von Toningenieuren, die in perfekter Symbiose mit ihren Musikmaschinen leben und Klangmaterial generieren, das aus sehr reduzierten Melodiefragmenten und Soundeffekten besteht. Zu diesem Bild trug zudem bei, dass Kraftwerk die Idee eines mobilen Studios verwirklichten und dieses bei Tourneen einfach auf die Bühne stellten, damit sich die einzelnen Bandmitglieder beim Auftritt nur noch vor ihren Monitoren aufzustellen brauchten.181 Peter Glaser bezeichnet in einem Interview den Besuch eines KraftwerkKonzertes in der Düsseldorfer Philippshalle im Jahr 1980 als „Schlüsselerlebnis“ bzw. „Erweckungserlebnis“, da die Band schon frühzeitig das Thema Informationsgesellschaft und ihre Handhabung thematisiert habe: „Als in den 70ern die Synthis aufkamen, haben alle ihre Geräte aufgedreht, und da gab es dann diese Waber-Musik. Und dann kamen Kraftwerk und haben gesagt: ‚Okay, da ist eine Maschine, die bietet mir 100 Milliarden Variationen von einem Ton an, und ich möchte gerne diese fünf, danke.‘ [...] Die kamen mit einem Studio auf die Bühne! Da habe ich begriffen, dass ein Studio ein Instrument ist. Es hat dann 20 Jahre gedauert, bis das handhabbar geworden ist für viele.“182

180 Vgl. www2.onb.ac.at/sammlungen/litarchiv/bestand/sg/nl/glaser_poetronic.htm 181 Vgl. Bussy 2006. 182 Zitiert nach Schäfer: Vom Neanderthal zum Cyberspace, S. 48.

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Der Hang zur Verschaltung verschiedener Medien bzw. zur medialen Grenzüberschreitung bestimmt auch Glasers weitere Aktivitäten: Er schrieb unter dem Titel Glasers heile Welt Kolumnen für die Zeitgeist-Illustrierte Tempo, die auch Schriftstellern wie Christian Kracht oder Maxim Biller die Möglichkeit bot, journalistische Erfahrungen zu sammeln bzw. die Grenze zwischen journalistischer und literarischer Rede durchlässig werden zu lassen. „Sie waren wie ein guter Popsong, ohne Sinn und Verstand, aber schön“, sagt Peter Glaser heute über seine seinerzeit für Tempo verfassten Texte.183 Eigentlich sei er, so Glaser, ein „verhinderter Musiker“: „Ich glaube, man merkt meinen Sachen an, dass ich viel mit Musik zu tun habe, weil ich mehr an Stimmungen und Assoziationen interessiert bin. Auch meine Kolumnen waren eher wie eine Single, also etwas, das man in drei oder fünf Minuten mitnehmen kann, und hinterher ist man in einer anderen Stimmung.“184 Diese Hinwendung zu den Zeitungen und Magazinen sei, so Glaser, primär davon geprägt gewesen, dem Medium Text eine gewisse ‚Umschlagsgeschwindigkeit‘ und ‚aktuelle Präsenz‘ zu verleihen, die der literarischen Rede aufgrund ihrer Langsamkeit abgeht.185 Gab man sich damals als Schriftsteller zu erkennen, konstatiert Glaser, habe man sofort den Status einer „alten Dame“ besessen, der über die Straße geholfen werden müsse: „Literatur war das Letzte, das Allerletzte. Wenn man sagte, man ist Schriftsteller, dann konnte man von Glück sprechen, wenn man nicht einen in die Fresse gekriegt hat. Aber Musikjournalismus war absolut respektiert.“186 Die Möglichkeit, unmittelbar auf bestimmte Geschehnisse mit kurzen und prägnanten Texten reagieren zu können, die zudem zeitnah einer großen Anzahl an Lesern zur Verfügung stehen, fasziniert bis heute Autoren, die im Kontext der sogenannten Pop-Literatur rezipiert werden. Ihren Widerhall findet dieser Wunsch nach Präsenz, Intensität und Unmittelbarkeit inzwischen in der großen Anzahl an sogenannten Internet-Blogs, die Schriftsteller wie z. B. Peter Glaser, Rainald Goetz oder Joachim Lottmann eingerichtet haben, um fast tagtäglich ihre Erlebnisse und Gedanken aufzuschreiben. Peter Glasers affirmatives Verhältnis zu den neuen Repräsentationsmedien führte zudem dazu, dass er als Mitglied des 1981 gegründeten Chaos Computer Clubs (CCC) die rasante Entwicklung der digitalen Welt direkt verfolgte und als Co-Redakteur der CCC-Zeitschrift Die Datenschleuder fungierte. Glasers multimediale Lesungen, seine

183 Zitiert nach Tempo Jubiläumsausgabe. 20 Jahre Tempo, Dezember 2006, S. 27. 184 Zitiert nach Schäfer: Vom Neanderthal zum Cyberspace, S. 48. 185 Vgl. ebd., S. 48. 186 Zitiert nach Schäfer: Vom Neanderthal zum Cyberspace, S. 49.

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journalistische Arbeit und seine unmittelbare Nähe zur digitalen Welt beeinflusste in den folgenden Jahren immer stärker auch seine literarische Arbeit. Glasers in dieser Zeit entstehende Texte sind davon geprägt, die technischen Entwicklungen und die sich daraus ergebenden Fragen nach Repräsentation, Sinnlichkeit und Mensch-Maschine-Verhältnissen in der literarischen Rede selbst zu verarbeiten.187 Dabei spielt die populäre Musik durchweg eine tragende Rolle, indem Glaser ihr eine starke emotionale und subversive Kraft zuschreibt. In der futuristischen Erzählung Die rote Präzision, welche die zentrale Geschichte in seinem 1985 erschienenen Erzählband Schönheit in Waffen bildet, berichtet Glaser von der Band Die Melodiemänner, deren Gitarrist Matic mit einem sprach- und handlungsfähigen Computer namens Winston koexistiert: „Das erste Wichtige ist, wie jeder von uns mit der Maschine lebt; wie sein Empfinden und sein Verhalten sich färbt; wie neue Mythen entstehen, neuer Alltag vorgeht.“188 Zusammen mit zwei weiteren Bandmitgliedern arbeitet Matic in einem Tonstudio, das über Fernleitung mit Winston verbunden ist: „Anders als die ganze Unterhaltungselektronik aus den Jahren zuvor macht einen der Computer produktiv. Online geht es in die Welt hinaus.“189 Dabei dient Winston nicht nur als praktisches Werkzeug zur Klangerzeugung, sondern einem weitaus größeren Forschungsvorhaben, das aufzeigen soll, wie sehr die Musik auch das soziale Verhalten der Menschen bestimmt und ein Erkenntnismittel darstellt: „Und mit Winston erforschen wir unsere Zeit mit den Mitteln der Musik: Museum und Tagesschau der Gefühle; Werkstatt der Ahnungen und Stimmungen; Startplatz der Taten. [...] Wir forschen nach Frequenzen und Schwingungen, die einen Menschen kräftigen, etwas zu unternehmen. Musik sagt ihm nicht, was er zu tun hat. Sie sagt ihm, daß er mehr kann, als er denkt. Sie ist eine schöne Art der Information.“190

Basierend auf diesen Vorstellungen starten Die Melodiemänner das Projekt ‚Orpheus‘, bei dem sie zunächst in mehr als hundert über der ganzen Welt verteilten Großrechnern die Betriebsprogramme und sämtliche zugänglichen Datenbestände durch selbstkomponierte Musik ersetzen wollen. In einem weiteren Schritt sollen die Betriebsprogramme der besetzten Rechner zudem in „Kompositionsfelder und Soundgeneratoren“ umgewandelt werden, damit jeder einzelne Rechner als ein „unabhängiges Konzert“ fungieren kann; in einem allerletzten Schritt

187 Vgl. Winkels: Einschnitte, S. 176. 188 Glaser: Schönheit in Waffen, S. 77. 189 Ebd. 190 Ebd., S. 78.

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wollen Die Melodiemänner ein „großes Konzert spielen: auf den Nerven der Macht“.191 Gegen die anonyme Vernetzung von Datenströmen und der Zirkulation von Macht in den Medien setzen die Bandmitglieder mithilfe von Winston die populäre Musik als subversive Strategie ein. Wie ein Virus sollen sich die Musik und die Musikprogramme im Netz verbreiten und ein Eigenleben entwickeln, um die machtbesetzten Strukturen zu unterlaufen bzw. zu zerstören. Dieser spielerische und affirmative Umgang mit den technologischen Neuerungen sowie der populären Kultur ähnelt nicht ohne Grund der Vorstellung der PunkBewegung, durch den emanzipatorischen Gebrauch der Medien und durch die Aneignung von Elementen der populären Kultur subversiv auf das bestehende Werte- und Bedeutungssystem einzuwirken, um vorgegebene Diskurs-Formen und Machtkonstellationen zu zerstören. Das dabei angewandte Prinzip der subkulturellen Bricolage findet ihr Äquivalent auch in den Schreibweisen, die Glaser ganz bewusst für seine literarischen Arbeiten wählt. Ebenso wie der Roman Der grosse Hirnriss sind auch Glasers Erzählungen in der Kurzgeschichtensammlung Schönheit in Waffen von einer humoristischsatirischen Haltung gekennzeichnet, wobei Glaser die Handlung oft ins Groteske und Karikaturhafte steigert und Identitätskonstrukte auflöst. Dabei bedient er sich der Elemente der Science-Fiction- oder Krimi-Literatur, verweist immer wieder auf die populäre Musik, greift auf Szenejargon zurück und benutzt häufig Neologismen, Anagramme und Metonymien. Insbesondere in Glasers Erzählung Die rote Präzision finden sich zudem eine Vielzahl an Sprechblasenonomatopoeien, wobei diese an die Comicsprache angelehnte Verschriftlichung von Alltagslärm und Ausrufen, laut Hubert Winkels, von dem Wunsch geprägt ist, „die Signifikanten ans Geräusch zu führen, sie aus dem Geräusch hervorgehen zu lassen“.192 Dieser forcierte Umgang mit den Formen der populären Kultur, der zudem dazu dient, die Grenzen zwischen hoher und niederer Kultur aufzulösen, bleibt dabei oftmals als Collage sichtbar, da Glaser das zitierte bzw. verarbeitete Material zum Teil offenlegt. So findet sich im Anschluss an die Erzählung Die rote Präzision ein zweiseitiger ‚Appendix‘, d. h. ein ‚Verzeichnis der Print-Quellen‘, die Glaser beim Schreiben der Geschichte verwendet hat. Neben Ausgaben von Computer-, Mode-, Musik- und Einrichtungsmagazinen finden sich in der Liste auch Comics des Donald-Duck-Zeichners Carl Barks, Romane von Raymond Chandler, James Joyce, Peter Handke und des Perry-Rhodan-Autors William Voltz sowie Aufsätze und Essays von Marshall McLuhan.193 Die aus die-

191 Ebd., S. 79. 192 Winkels: Einschnitte, S. 181. 193 Vgl. Glaser: Schönheit in Waffen, S. 95f.

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sem Referenzsystem sich speisende Geschichte lässt sich somit auch als erste Erzählung bezeichnen, die ganz bewusst die aus der populären Musik bekannte Sample-Technik, d. h. das Verwenden einer Ton- oder Musikaufnahme, in einem neuen Kontext zum literarischen Prinzip erhebt und explizit darauf verweist, wie sehr das Zeichenrepertoire der populären Kultur zur Konstitution der Autorenrolle bzw. zur Identitätsbildung und medialen Selbstinszenierung dienen kann.194 Dazu trägt auch bei, dass Glasers literarische Arbeit von einer stark selbstreflexiven Art ist, indem er immer wieder den Akt des Schreibens bzw. den Entstehungsprozess zum erzählerischen Element erhebt; in der Kurzgeschichte Die Heldin, die einen Schriftsteller als Hauptprotagonisten besitzt, entwickeln die literarischen Figuren, die der Ich-Erzähler in rastloser Tätigkeit erfindet, ein Eigenleben, treten aus ihren Geschichten heraus und bedrängen ihren Schöpfer, sie nicht als ‚Duchlauferhitzer‘ für seine Vorstellungen zu benutzen195: „Ich war außer mir. Die story geriet aus den Fugen.“196 Die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit wird durchlässig und zuvor geschilderte Geschehnisse werden immer wieder um- bzw. überschrieben: „Alles erfunden, nichts stimmt. Nicht gelogen. Manches ist wahr, aber alles ist erfunden“197, konstatiert demgemäß der IchErzähler der Geschichte Die Heldin, um im Anschluss gleich eine neue Variation der Vorkommnisse zu schildern. Dieses stetige Spiel mit den Metaebenen und den Identitäten bestimmt durchweg Glasers literarische Arbeiten und erinnert nicht umsonst an die Strategien der Punk-Bewegung, sich aus den kulturellen Zeichensplittern in souveräner Manier ein stilisiertes Ich zu erschaffen, indem sie die Kodes der populären Kultur – u. a. musikalische Versatzstücke, Mode-

194 Diese direkte Übertragung von Sampling-Techniken in die Literatur zeichnet auch Marcel Beyers im Jahr 1991 veröffentlichten Roman Das Menschenfleisch aus. Im Anhang listet Beyer über fünfzig Werke auf, die er „zitiert und verwendet“ (Beyer: Menschenfleisch, S. 160) hat. Dabei beschränkt sich Beyer nicht nur auf literarische oder wissenschaftliche Texte, sondern nennt u. a. auch Filme von Alfred Hitchcock und Pier Paolo Pasolini sowie Musik von Prince und der Berliner Band Einstürende Neubauten als Inspirationsquelle bzw. als Ausgangsmaterial für die eigene Textprodution. Diese „Erzählhaltung“, die Beyer als „parasitäres Schreiben“ (Beyer: Menschenfleisch, S. 159) bezeichnet, scheint u. a. Beyers Vorliebe für die Dub-Musik, die er immer wieder in Interviews betont, geschuldet zu sein: „Ich bin mehr interessiert an Rhythmen als an Melodie. Die lassen sich auf literarische Techniken besser übertragen.“ (Zitiert nach Wichmann: Von K zu Karnau.) 195 Ebd., S. 195. 196 Ebd., S. 196. 197 Ebd., S. 205.

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trends, Filme, Fernsehen und Zeitschriften – benutzt bzw. an ihnen partizipiert, sie zugleich aber auch re- bzw. dekomponiert. Dieses Verfahren, auf die literarische Rede übertragen, führt oftmals dazu, dass der Schriftsteller gänzlich hinter den Text zurücktritt bzw. hinter ihm verschwindet. Insbesondere in Glasers Erzählung Die rote Präzision kündige sich, laut Hubert Winkels, aufgrund der Drastik der synkretistischen Erzählweise eine „‚Mechanisierung‘ des Textes selber an“, wobei einzig die gekonnte Vernetzung der Zeichen der zeitgenössischen Massenkultur, d. h. das Gelingen dieser Montage, zählt.198 In diesem Zusammenhang ist nicht nur Peter Glasers emphatischer Umgang mit den neuen Repräsentationsmedien zu verstehen, sondern auch seine im Jahr 2007 erfolgte Reaktion auf den Wikipedia-Eintrag über seine Person: „Ich mag Kurzbiografien seit jeher nicht besonders, weil sie oft eitel, uninformativ oder schlichtweg absurd sind in dem Versuch, ein Leben in ein paar Zeilen zu skizzieren. Aus diesem Grund habe ich eine Kurzbemerkung zu meiner Person gedichtet: ‚1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden; lebt als Schreibprogramm in Berlin.‘ Alles drin, was man braucht. Vor allem sagt dieser Schnipsel im angewandten Sinn etwas über mich und meine Arbeit.“199

Auch der 1996 – also zwanzig Jahre nach Beginn der Punk-Bewegung – erschienene Roman Autobigophonie von Françoise Cactusist ist, wenn auch weniger radikal als die literarischen Arbeiten von Peter Glaser, von Formen der Selbststilisierung geprägt, die im Kontext der Punk- und New-Wave-Bewegung stehen und das semiotische und soziale Distinktionspotential der populären Kultur zur Selbstbeschreibung nutzen: Joachim Ullmaier bezeichnet den Roman der aus Frankreich stammenden und heute in Deutschland lebenden Musikerin und Schriftstellerin Françoise Cactus treffend als „etwas derangierte Autobiographie“, die „im Grunde faktentreu, doch en detail durchgängig – oft ins Comichafte – fiktionalisiert“ sei.200 In kurzen, sehr überzeichnet und karikaturhaft wirkenden Episoden beschreibt Cactus die musikalische Sozialisation, welche die weibliche Ich-Figur durch ihre Bekanntschaft mit der Punk-Bewegung erfährt. Zunächst in der französischen Provinz groß geworden, besucht die Ich-Figur, die

198 Winkels: Einschnitte, S. 190. 199 Zitiert nach www.heise.de/tr/blog/artikel/Crowd-und-Rueben-273148.html 200 Ullmaier 2001, S. 110. Die spielerisch-naive Grundhaltung des Romans mag auch dazu geführt haben, dass das Buch 1999 in einer entschärften und gekürzten Fassung unter dem Titel Abenteuer einer Provinzblume als Kinderbuch veröffentlicht wurde (vgl. ebd.).

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sich rühmt, alle Texte der New York Dolls und der Sex Pistols auswendig zu können und sich als „Wochenendpunkerin“ tituliert, auch Punk-Konzerte in den größeren Städten Frankreichs: „In einer Warteschlange vor dem ,Destroy-Club‘ überholte uns ein mieser Kerl mit blutbeschmiertem T-Shirt. Seine Freundin hatte er in Ketten gelegt, und er schleppte sie wie einen toten Hund hinter sich her. Dann ließ er sie auf dem Asphalt liegen, um eine Passantin zu verfolgen, die sehr elegant angezogen war. Er nahm eine Spraydose aus seiner Plastiktüte und sprühte ein Hakenkreuz auf den Pelzmantel der schicken Dame. Der ,Irokese‘ des Bassisten reichte bis zur Decke. Nach dem zweiten Stück kippte er seitlich weg und lag wie eine Baskenmütze auf dem Schädel. Unmengen von Rotze schleuderte der englische Sänger um sich, und zwischen zwei Liedern brüllte er ,Fuck!‘ Sein Hals war geschwollen. Die grünen Sehnen explodierten fast.“201

Nachdem die Ich-Figur einen deutschen Jungen namens Igor geheiratet hat, zieht es sie in den 1980er Jahren nach Berlin, wo sie Bekanntschaft mit der dortigen Underground-Szene aus Musikern, Filmemachern und Malern macht und eine eigene Band, Die Bomben genannt, gründet. Obwohl Françoise Cactus, wie Joachim Ullmaier konstatiert, in ihren detaillierten Beschreibungen „Harmloses mit Abgründigem, Teenie-Fasziniertheit mit ironischer Distanz und surreale Übertreibungen mit kühlem Understatement“ verbinde202, ist das Buch Autobigophonie eine sehr genaue Beschreibung der damaligen Punk-Bewegung. In einem Interview erklärt Françoise Cactus dementsprechend, dass ihr Buch eigentlich ein „Anti-Creative-Writing-Buch“ sei: „Es gibt darin viel zu viele Personen, zu viele und nicht vernetzte Handlungsstränge, es werden verschiedene Genres vermischt, es gibt ewige Dialoge, eingestreute Lieder, Traumsequenzen, verschiedene Realitätsebenen, nichts ist logisch, alles ist absurd – genau wie das Leben, wie ich es sehe.“203 Wie sehr beim Aufbau und der Form des Buches insbesondere popmusikalische Referenzen von Bedeutung waren, macht die Aussage der Autorin deutlich, dass die einzelnen Episoden des Romans sich mit Liedern vergleichen ließen, wobei die vielen, in verschiedenartigen Typographien gesetzten Überschriften die Songtitel bilden würden: „Wenn ich ein Thema habe, das mich interessiert, habe ich nachher ein paar Lieder oder eben ein paar Kapitel.“204

201 Cactus: Autobigophonie, S. 143. 202 Ullmaier 2001, S. 111. 203 Zitiert nach ebd. 204 Zitiert nach ebd.

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Auf ganz eigene Art und Weise verarbeitet der 1962 in DuisburgRheinhausen geborene Schriftsteller, Essayist und Performer Enno Stahl seine Punk-Sozialisation. Schon ab Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht er Romane, Novellen und Gedichte, die rigoros mit den konventionellen Erzählformen brechen und den Versuch darstellen, Kunst und Leben zu verschalten. Ende der 1980er Jahre untermalt er seine Lesungen mit rhythmischem Trommeln auf Schrottelementen und/oder verzerrten Klängen einer E-Gitarre. Von 1985-91 war Stahl zudem Mitherausgeber der Literaturzeitschrift ZeilenSprung, aus der 1988 der KRASH-Verlag hervorging, dessen Programm z. B. ‚Literatur-Tapes‘, ‚Multiples‘, ,Buch- und Textobjekte‘ und die ‚Kartonromane‘ beinhaltete.205 Mit Trash me! erscheint 1992 eine Sammlung von Kurzprosa, in der sich Stahl – in Anlehnung an die Punk-, Trash- und Indie-Musik der damaligen Zeit – „der rauhen Straßenwirklichkeit deutscher Städte, dem elementaren Sein und Lebensentwürfen ‚close to the edge‘“ widmet.206 Im Anschluss an die Dadaisten und Beat-Poets habe sich, laut Stahl, schon Ende der 1960er Jahre eine gänzlich eigenständige deutsche Underground-Literaturszene entwickelt, zu der u. a. auch Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser zählten. Deren Bestreben war es, die literarische Rede aus „ihrem abgehobenen Nicht-Lebens-Zusammenhang (= Autonomie-Status) zu befreien“ und sie „zu einer (handelnden) Tatsache des Lebens (selbst) zu machen“. Mit Aufkommen der Punk- und Indie-Musik der 1980er Jahre, so Stahl, haben „diese Unternehmungen eine zunehmende Verschärfung erfahren: mehr Tempo, mehr Härte & noch mehr Schnörkelosigkeit“.207 Stahl bezeichnet diese ungeschönte Abschrift der Wirklichkeit, bei der kein Bereich der Sprache ausgeklammert wird, als ‚Trash-Literatur‘ und setzt sich damit zugleich vom gängigen Begriff der PopLiteratur ab: „,Trash Stories‘ – das sind Geschichten, die äquivalent zu ebensogenannter Musik unprätentiös & direkt, hart & unmittelbar am Lebenspuls berichten, was ist. Was uns so passiert. In diesen Nächten. Oder Nicht-Nächten, in diesen Städten, die immer größer werden & so fast ganz & gar ohne menschliche Identifikationsmöglichkeiten. ‚Trash‘ als klarer Abgleich der Lebenstatsachen, Naturalismus pur, oder zumindest der Sprache nach colloquial, d. h. ungekünstelter Stil – praktisch nur das, was passiert.“208

205 Vgl. www.krash.de 206 Stahl: Trash, Social Beat und Slam Poetry, S. 268. 207 Stahl: Vorwort zu German Trash, S. 4. 208 Ebd. Vgl. Auch die von Heiner Link herausgegebene Anthologie Trash-Piloten. Texte für die 90er.

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Die Forderung nach einem ‚ungekünstelten Stil‘, der die Lebenswirklichkeit angemessen erfasst, bedeutet nicht zugleich, so Stahl, den Verzicht auf experimentelle Schreibweisen. Trash-Literatur könne einerseits „traumatisch verzerrt, halluzinogen (= supra-naturalistisch)“ daherkommen, denn „auch Derartiges liegt im Bereich des Wahrnehmbaren, im Bereich alltäglicher Paranoia, des mentalen ‚Hyperraums‘“; andererseits könne sich Trash-Literatur auch komplexer Montage-Verfahren bedienen, denn diese seien längst nicht mehr nur eine „verstiegene Avantgarde-Technik“, sondern „Montage ist 1 Zeiterfahrung“.209 Nach der Vorstellung Stahls unterscheiden sich die Werke der „sogenannten Pop-Literatur“ von denen der Trash-Literatur primär durch die „Haltung“ gegenüber der Lebenswirklichkeit: Während Pop-Autoren wie Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters und Alexa Henning von Lange, laut Stahl, ein kritikloses und affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit pflegen und sich nur mit den Oberflächen beschäftigen würden, zeichne sich Trash-Literatur durch „eine andere, negative Wirklichkeitserfahrung aus, irgendwo zwischen schwarzer Romantik und Tragikomödie“.210 Zwar würden, laut Stahl, sowohl die Pop- als auch die Trash-Autoren einen Unterhaltungsanspruch besitzen, auf eine traditionelle, literarische Kunstsprache verzichten und Elemente der populären Kultur und Musik in ihre Texte implantieren. Die Herangehensweise der Trash-Literatur sei jedoch von einem anderen, stark subkulturellen Habitus geprägt. Für die Trash-Literatur sei eine gewisse „Gegen-Position zu literarischen und gesellschaftlichen Normen“211 entscheidend: „Während sich Stuckrad-Barre mit Oasis bewusst auf eine Band bezieht, die postmoderne Resteverwertung betreibt, ist für Trash-Autoren eher der Verweis auf Punk- und ‚Independent‘-Musik charakteristisch, also zumindest die Behauptung von Authentizität.“212 Ebenso wie die Punk-Musik verschiedene Stile aufweist, finden sich auch im Bereich der Trash-Literatur eine Vielzahl an verschiedenartigen ästhetischen Ausprägungen eines, wie Stahl es nennt, „Ultra-Naturalismus“.213 Gemeinsam ist allen diesen Texten, laut Stahl, jedoch sowohl die Verwendung einer kolloquialen Sprache als auch eine starke Gegenwartsfixierung.214 Dergestalt besteht auch Stahls Roman Peewee rocks (erschienen 1997) aus „3 Gossenheften“ im Pappschuber und zeichnet sich durch eine atemberaubende

209 Ebd. 210 Stahl: Trash, Social Beat und Slam Poetry, S. 273. 211 Ebd., S. 269. 212 Ebd., S. 274. 213 Stahl: Vorwort zu German Trash, S. 6. 214 Vgl. Stahl: Trash, Social Beat und Slam Poetry, S. 270.

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„High Speed Prosa im Steno-Stil“ aus215, die primär dazu dient, die Rasanz der (Sinnes-)Eindrücke, die auf den in der Punk- und Künstler-Szene umtriebigen Protagonisten Peewee einströmen, sprachlich abzubilden. Bei Peewee rocks handelt es sich, so Stahl, um „1 (Kurz-)Roman“, der „aus 3 in sich abgeschlossenen Erzählungen“ besteht und „die seelische Entwicklung des Protagonisten Peewee im Verlaufe mehrerer Jahre“ darstellt; dabei soll der Roman, laut Stahl, „exemplarisch die deutsche Zeitgeschichte der letzten Jahre abgleichen“.216 Zu diesem Zweck siedelt er die Geschehnisse des ersten Teil seines Romans im Jahr 1991 an, d. h. zu einer Zeit einer „gewisse[n] Aufbruchsstimmung“ in Ostdeutschland, die es Peewee ermöglicht, „1 freiheitlichen, kreativen & wahrhaft ‚alternativen‘ Lebensideal zu fröhnen“; im zweiten Teil, in dem Peewee nach Köln zurückkehrt, hat die „Utopie [...] längst Risse“ bekommen und es gibt „kaum mehr Hoffnung, sie im Gegenwartsdeutschland umzusetzen“.217 Seine Suche nach „1 Scheibchen vom Glück“218 scheint hoffnungslos, zumal er immer stärker einer Heroinsucht anheimfällt. Im abschließenden dritten Teil, der 1994 spielt, setzt sich „die resignative Erkenntnis einer grundsätzlichen ‚Baisse‘ der westlichen Welt“, die schon im zweiten Teil spürbar wurde, weiter fort – die Trostlosigkeit einer zukünftigen Welt „mit wenigen sehr reichen Leuten“219, die einer großen Anzahl an mittellosen Menschen gegenüberstehen, lässt Peewee verzweifeln und sein Leben zum „Existenzkampf pur“ werden.220 Die prekären Lebensverhältnisse, die durch die sozialen Verwerfungen hervorgerufen werden, lassen Peewee immer weniger die Freiheit, seiner Kreativität Ausdruck zu geben und sein Leben aktiv zu gestalten. Wie ersichtlich, bedient sich Stahl bei der Beschreibung der inneren und äußeren Dynamik der Ereignisse ungewöhnlicher Schreibweisen, welche die konventionellen Regeln der Orthographie und Interpunktion außer Acht lassen, um der Schrift eine gewisse Rasanz und Unmittelbarkeit zu verleihen. So verzichtet Stahl in Peewee rocks oftmals auf Kommata oder andere Pausenzeichen, bedient sich Abkürzungen, ersetzt das Wort ‚und‘ durch das Kürzel ‚&‘, benutzt statt Zahlwörtern die entsprechende numerische Ziffer und hebt durch den exzessiven Einsatz des Doppelpunktes die Simultaneität der Ereignisse bzw. Wahrnehmungen hervor. Das hat einerseits zur Folge, dass Stahl das direkte Zusammenspiel

215 Stahl: Peewee Rocks, Heftumschlag. 216 Ebd., S. 2. 217 Ebd. 218 Ebd., Heftumschlag. 219 Ebd., S.2. 220 Ebd., Heftumschlag.

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von äußeren Geschehnissen und subjektivem Gedankenstrom unmittelbar abbilden kann. Andererseits beeinflussen diese experimentellen Schreibweisen auch den Lesevorgang, indem sie ihn beschleunigen und damit den geschilderten Vorgängen anpassen. Verstärkt wird der Eindruck von Präsenz und Geschwindigkeit noch durch die Tatsache, dass Stahl in seinem Text umgangssprachliche Elemente und subkulturellen Szene-Slang verarbeitet, Neologismen kreiert und onomatopoetische Wörter einfügt. Sowohl der Gebrauch von Alltagssprache, Wortneuschöpfungen und Lautsprache als auch die Kurzschrift, die serielle Ästhetik und der Parallelismus der Sätze dienen Stahl primär dazu, dem Text ein gewisses ‚Tempo‘ zu verleihen und die Geschehnisse direkt zu verschriftlichen bzw. der Nachzeitigkeit sprachlicher Performanzen entgegenzuarbeiten. Insbesondere die serielle und prozessuale Struktur von Peewee rocks hat ihren Ursprung aber nicht nur in der PunkMusik, sondern auch in der Ende der 1980er Jahre aufkommenden Techno-Bewegung. Diese Form der elektronischen Tanzmusik fndet u. a. auch in Peewee Rocks Erwähnung, wobei ihr subversives Potential hervorgehoben wird. Damit reflektiert Stahl in diesem Roman auch die Tatsache, dass sich viele Musiker der Punk-Bewegung – wie z. B. Holger Hiller und Thomas Fehlmann von Palais Schaumburg – in den 1990er Jahren verstärkt der elektronischen Musikproduktion zugewandt haben.221 Sowohl in Stahls ‚3 Gossenheften‘ als auch – wie im

221 Die Band Palais Schaumburg wurde 1980 von Thomas Fehlmann und Holger Hiller gegründet. Beide hatten zuvor an der Hamburger Kunsthochschule studiert und sich immer stärker der Musik zugewandt, wobei Fehlmann schon sehr früh mit Synthesizern zu experimentieren begann. Bis 1981 gehörte der Gruppe u. a. auch der Schlagzeuger FM Einheit an, der danach zu den Einstürzenden Neubauten wechselte. In Anlehnung an die amerikanische Avantgarde-Band The Residents und an den Dadaismus produzierten Palais Schaumburg im Laufe ihrer vierjährigen Bestehensphase ausgesprochen sperrige, stark rhytmisierte und hypnotische Songs. Bezeichnenderweise fanden ihre ersten Auftritte auch im Rahmen von Kunstausstellungen statt. So spielten sie z. B. in der Stuttgarter Galerie Max Hetzler im Rahmen einer Ausstellung von Martin Kippenberger und Albert Oehlen. Nach der Veröffentlichung des ersten Albums Palais Schaumburg (Phonogram 1981) verließ Hiller die Band, um fortan als einer der ersten Musiker in Deutschland mit dem Sampler als einzigem oder hauptsächlichem Instrument zu arbeiten. Auch Fehlmann baute sich nach dem Zusammenbruch der Band im Jahr 1984 ein eigenes Heimstudio auf, um im Laufe der nächsten Jahre sowohl als Produzent und Remixer elektronischer Tanzmusik als auch als DJ bekannt zu werden. Dergestalt gründete er z. B. das Label Teutonic Beats, auf dem u. a. Wolfgang Voigt, Westbam und Moritz von Oswald veröffentlichten. Zudem a-

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nächsten Kapitel nachgezeichnet wird – in den Texten des Schriftstellers Rainald Goetz findet dieser musikalische Paradigmawechsel seinen literarischen Ausdruck.

gierte Fehlmann im Berliner Techno-Club Tresor und arbeitete unter dem Projektnamen 3MB mit Juan Atkins und anderen Größen der Detroiter Techno-Szene zusammen. Moritz von Oswald, der zudem einige Zeit als Schlagzeuger bei der Band Palais Schaumburg aktiv gewesen war, schloss sich Anfang der 1990er Jahre mit Mark Ernestus zu dem Musiker- und Labelkollektiv Basic Channel zusammen, um minimalistische Techno- und Dub-Musik zu produzieren. Bezeichnend an dieser Beschreibung von musikalischen Werdegängen ist, dass sowohl Fehlmann und Hiller als auch von Oswald den Paradigmenwechsel von der Punk- und Wave-Musik hin zur elektronischen Tanzmusik vollziehen.

5 Vom Punk-Gestus zur DJ-Culture (Rainald Goetz)

5.1 D AS „ EINFACHE

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„Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn, totalitär, roh, kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. [...] Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.“1

Es wäre verfehlt, würde man die zahlreichen Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Tagebuchaufzeichnungen von Rainald Goetz unter dem Begriff Pop-Literatur subsumieren, auch wenn die populäre Kultur und die Verschaltung von Kunst und Leben, wie obiges Zitat verdeutlicht, ein zentrales Element seiner literarischen Arbeit bilden. Vielmehr erweist sich Goetz als rastloser und akribischer Stenograph der Gegenwart, der, mit Notizblock und Fotoapparat bewaffnet, immer auf der Suche nach neuen Sinneseindrücken und Erfahrungen ist, um das gesammelte Material als Ausgangsbasis für seine Texte zu nutzen. Wobei die bei der Verschriftlichung stattfindenden Reduktionsverfahren und Gestaltungsprozesse – wie im weiteren Verlauf dieser Ausführungen noch dargestellt wird – das eigentliche ästhetische Prinzip seiner literarischen Arbeit bilden.

1

Goetz: Hirn, S. 20.

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Dabei nimmt Goetz, wie er in einem Interview erklärt, den „Status des Beobachters“ ein2, der durchweg affirmativ über z. B. die Entwicklungen der populären Musik und den damit einhergehenden Habitus schreibt: „Die da wirkenden Diskursregeln beobachte ich dauernd und bin unendlich bezaubert von direkter mündlicher Sprache.“3 Die Formenentscheidungen und die sich daraus ergebende literarische Verarbeitung des gesammelten Materials besitzen bei Goetz vorwiegend selektiven Charakter und kommen – im Sinne des Systemtheoretikers Niklas Luhmann – „einer Art Selbstlimitierung gleich“4, die dazu dient, komplexe Eindrücke überhaupt in die literarische Rede transformieren zu können. Der Schriftsteller Goetz agiert u. a. bei der Verarbeitung populärkultureller Phänomene als ordnende, sich selbst disziplinierende Instanz, die emphatisch die gesammelten Sinneseindrücke nach sinnlicher Qualität und Stimmigkeit zu einem Textkorpus collagiert. Wie schon im Vorwort dieser Arbeit angemerkt, lassen sich die literarischen Arbeiten des deutschen Autors Rainald Goetz dabei sowohl im Umfeld der Punk-Bewegung als auch im Kontext der Techno-Musik verorten. Während insbesondere Goetz’ Romane Irre (1983) und Kontrolliert (1988) ganz explizit ihren schriftstellerischen Impetus durch die sich in Deutschland in dieser Zeit immer weiter ausdifferenzierende Punk-Bewegung erhielt, sind speziell die in den 1990er Jahren von Goetz verfassten Werke (der Roman Rave, der Interview- und Gedichtband Jahrzehnt der schönen Frauen, die Erzählung Dekonspiratione, die Essay- und Interviewsammlung Celebration, das Theaterstück Jeff Koons, das Internet-Tagebuch Abfall für alle), die, laut Goetz, eine mehrbändige „Geschichte der Gegenwart“5 bilden sollen und aus einer „Mixtur verschiedener Textfor-

2

Goetz: Celebration, S. 262. Der Journalist und Kritiker Harald Fricke beschreibt das literarische Verfahren von Goetz in einem Artikel für die taz vom 02.05.1998 als „teilnehmende[...] Beobachtung“ (Fricke 2010, S. 29), was sehr deutlich die Involviertheit des Schriftstellers in die entsprechenden musikalischen Szenen hervorhebt.

3 4

Goetz: Celebration, S. 262. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 146. Rainald Goetz bezeichnet in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle sowohl die systemtheoretischen Werke von Niklas Luhmann als auch die diskursanalytischen Betrachtungen des französischen Intellektuellen Michel Foucault als „Fixsterne meiner Arbeit“ (Goetz: Abfall für alle, S. 232). Die Einflussnahme beider Denkrichtungen auf die literarische Produktion von Goetz ist immer wieder spürbar und wird oftmals von Goetz selbst thematisiert.

5

Goetz: Abfall für alle, Klappentext.

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men“6 bestehen, hinsichtlich ihrer Schreibweisen von der Ästhetik der sogenannten DJ-Culture geprägt. Aufgrund dieses musikalischen Paradigmenwechsels, den Goetz in seiner literarischen Rede mit viel Emphase mitvollzieht, ist es nicht zu weit gegriffen, wenn man konstatiert, dass seine Werke als ‚literarischer Link‘ zwischen Punk-Habitus und Techno- bzw. Rave-Ästhetik bezeichnet werden können. Im Nachfolgenden werden die ästhetischen Prinzipien und sozialen Praktiken nachgezeichnet, die in den Werken von Goetz aufscheinen und im direkten Zusammenhang sowohl mit der Punk- als auch der Techno-Musik stehen. Goetz’ schriftstellerischer Versuch, die Gegenwart mittels verschiedenartigen Schreibweisen zu erfassen, ist dabei einerseits vom Wissen geprägt, dass ein solches Projekt generell unmöglich bzw. unabschließbar ist. Andererseits sind schon die frühen Werke von Goetz, ebenso wie die Schriften Brinkmanns, von der Vorstellung beeinflusst, dass die Lebensweise des modernen Menschen maßgeblich von den neuen Medien und insbesondere von der populären Kultur geprägt wird, ein Aspekt, den die Literatur nicht leugnen darf. Diese Pop-Sozialisation findet bei Goetz ihren direkten Niederschlag in der Thematik seiner Werke und in den Schreibweisen. Analog erklärt Goetz in einem Interview mit dem Magazin Texte zur Kunst, dass es beim Punk primär „um Abgrenzung und um Spaß an einer solchen Drastik“ gegangen sei7, wobei dieses ästhetische Prinzip auch in seinen Texten Anwendung finde. Noch in einem 1999 mit Dietmar Dath und Diedrich Diederichsen geführten Interview spricht er vom „argumentativen Punkgestus“, der für seine Schreibweisen konstitutiv gewesen sei: Dabei gehe es, laut Goetz, darum, „zerstörerisch, spalterisch tätig zu werden“, um „Differenz zu stärken“.8 Ein Text solle, so Goetz, primär „Widerspruch erzeugen, und die Methode dazu ist die Differenz, das ist die Basis“ – vom „Text selber her“, konstatiert Goetz, „ergeht an den Textproduzenten der Appell, den Widerspruch zu suchen, zu produzieren“ anstatt auf Zustimmung und Gemeinsamkeit zu setzen; dabei könnten Texte „auch bösartig, und überklar“ formuliert sein, um ganz bewusst Irritationen und Dynamik zu erzeugen.9 Aber es ist nicht nur diese Anti-Haltung, die unmittelbar der Punk-Bewegung abgeschaut und den Texten von Rainald Goetz bis heute eingeschrieben ist. Sowohl das unmittelbare Aufgreifen und Verarbeiten von Alltagskultur – insbesondere popmusikalischer Referenzen – als auch der damit verbundene Hang zur Selbststilisierung und -inszenierung zeichnen die literarische Produktion von

6

Ebd., S. 654.

7

Goetz: Celebration, S. 244.

8

Zitiert nach Dath: Politik fürs Publikum, S. 98.

9

Ebd.

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Rainald Goetz bis dato aus. Dabei spielen im Rahmen von Goetz’ Projekt der Selbstverschriftlichung auch autobiographische Einflüsse eine entscheidende Rolle. Von 1974 bis 1982 studierte Goetz in München Geschichte und Medizin. Er promovierte in beiden Fächern, 1978 mit einer Dissertation über den römischen Kaiser Domitian und vier Jahre später mit einer Untersuchung zu Hirnfunktionsstörungen; sein Soziologiestudium in Berlin brach Goetz – angeblich aus Zeitmangel – ab. Ab 1976 verfasste er bereits Kinder- und Jugendbuchrezensionen sowie die dreiteilige Artikelserie Aus dem Tagebuch eines Medizinstudenten für die Süddeutsche Zeitung; es folgten diverse essayistische Arbeiten, u. a. für das Magazin Spex, zu dessen damaligem Chefredakteur, dem Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, Goetz bis dato ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, das trotz häufiger Meinungsverschiedenheiten auf gegenseitigem Respekt beruht. 1978 verfasst Goetz den Beitrag Der macht seinen Weg für das Konkursbuch, wobei recht deutlich wird, dass sich in dieser Zeit auch sein Wunsch verstärkte, sich ganz und gar der Literatur zuzuwenden: „Die Geschichte meiner Anpassung ist die Geschichte meiner Flucht aus der Universität und die gleichzeitige Erfüllung der im Rahmen des Studiums geforderten Leistungen. Aus einem Medizinstudium bin ich in ein Geschichtsstudium geflohen, von dort in die Literatur und ins Schreiben. Weder das Geschichts- noch das Medizinstudium habe ich aufgegeben; das ist die Feigheit, die Anpassung. [...] Die Flucht geht weiter. In die Literatur hinein, in die Bücher, ins Theater, ins Schreiben. Was mache ich eigentlich wirklich? Das einzige, was ich mache und ernst meine, ist Schreiben. Alles andere nebenher.“10

Auch an dem Curriculum Vitae, das Goetz anlässlich seiner medizinischen Promotion anfertigte, zeigen sich erste Tendenzen einer spezifischen Autopoesis, die zudem geprägt ist von dem subkulturellen Habitus der Punk-Bewegung: „Seit 1976 literaturkritische und essayistische Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Seit Winter 1979 DAMAGE. 1980 sehr viel Bier und Blut. 1981 Freizeit 81, LIPSTICK, Tempo Tempo (a), Anarchie. Derzeit Frechheit 82, es geht voran, aufwiedaschann.“11 Schon mit seinem skandalträchtigen Auftritt beim Klagenfurter IngeborgBachmann-Wettbewerb im Jahr 1983 hat sich Rainald Goetz in die Medienwelt eingeschrieben: Im Punk-Outfit (gefärbte Haare, Turnschuhe, Nietenarmband) las er den Text Subito, der mit dem eingangs dieses Kapitels zitierten Pop-Manifest endet. Nicht umsonst erinnert die Forderung nach „Pop und nochmal Pop“,

10 Goetz: Der macht seinen Weg, S. 34. 11 Goetz: Das Reaktionszeit-Paradigma, S. 57.

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die Rainald Goetz bei seiner Lesung dem etablierten Literaturbetrieb entgegenhält, an Rolf Dieter Brinkmanns in Anschluss an Leslie A. Fiedler entworfenes Postulat, die literarische Rede solle sich mit „aktuelle[n] Gegenstände[n]“ beschäftigen12 und „Dasein, einfach nur Dasein“ abbilden, um dem „Totstell-Reflex“, der in der deutschen Literatur vorherrsche und sich in „überanstrengter Reflexion“ und der Ausblendung der Alltagswelt manifestiere, entgegenzuarbeiten.13 Brinkmanns Absicht, durch gleichzeitiges Aufgreifen und Transzendieren von „Reiz-Material“ gegen die bis dahin übliche Grenzziehung zwischen Hochund Alltagskultur zu opponieren, um der literarischen Rede eine neue Lebendigkeit bzw. Intensität zu erschließen, findet bei Goetz ihr Äquivalent in seiner Forderung nach immer mehr stimulierenden Eindrücken aus der populären Kultur. Wie auch Peter Glaser schreibt, stelle die Erzählung Subito „ein wildes und leidenschaftliches Aufbegehren gegen die Blutleere und Verzweiflungslosigkeit der zeitgenössischen Literatur“ dar.14 Dabei erinnert der Ruf von Goetz nach „kühn[en], totalitär[en], roh[en], kämpferisch[en] und lustig[en]“ Schreibweisen zugleich unmittelbar an den transgressiven und zerstörerischen Gestus der PunkBewegung.15 Diese neuen Denk- und Umgangsformen, die den Habitus der jungen Generation seit Aufkommen der Punk-Bewegung bestimmten, sollten auch in der literarischen Rede ihren Niederschlag finden. Erwartungsgemäß begann Rainald Goetz seine Lesung von Subito mit einem kurzen Auszug aus dem bis dahin noch nicht veröffentlichten Roman Irre, in dem er die Auseinandersetzung des Protagonisten, des Krankenhausarztes Raspe, mit dem Klinikdirektor schildert. Doch schon nach wenigen Zeilen brach Goetz dieses Irre-Zitat mit folgenden Worten ab: „Das ist doch Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das, die ich mitbringen täte und hier voll tot auf den Tisch hin legen täte, ich bin doch kein Blödel nicht, ich lege denen doch keinen faulig totig stinkenden Kadaver da vor sie hin, von dem sie eine Schlafvergiftung kriegen müssen [...], es muß doch BLUTEN, ein lebendiges, echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt, dann ist es bloß ein Pippifax oder ein ausgelutschter Büstenhalterträger, aber logisch nichts Gescheites, ein Blut, ein Blut ein Blut ein Blut, das müßte raus fließen, Spritz Quill Ström, so müßte es voll echt spritzen, am besten aus so einem fetten Direktor, das täte mir gefallen,

12 Brinkmann: Film in Worten, S. 229. 13 Ebd., S. 246. 14 Zurück zum Beton, S. 128. 15 Goetz: Hirn, S. 20.

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in dem sein Fleisch hinein zumschneiden, den zumfoltern, und während er blutüberströmtmundig um Gnade winseln täte, täte er logisch gefilmt werden, wie dann hinein geschnitten wird in das nächste Fleisch, alles logisch in Farbe, das bleiche weiße fette Fleisch und das schöne rote Blut, alles blutig voll Blut, bis es enden täte, zum Schluß, er dauernd schon, Röchel Röchel – .“16

Erzähltechnisch arbeitet Rainald Goetz, wie das Langzitat verdeutlicht, mit einer Unzahl an Neologismen, lautmalerischen Elementen und umgangssprachlichen Ausdrücken, um die innere und äußere Dynamik der Ereignisse in die Schrift zu transformieren. Zudem oszilliert der Text stetig zwischen der fiktiven Rede der Figur Raspe, die sich voller Hass über den Klinikdirektor äußert, und der Rede des lesenden Rainald Goetz, der sich gegen den Lesekontext wendet, wobei das komplexe Satzgefüge die Übergänge zwischen Figurenrede und Lesendenrede oftmals verschwimmen lässt. 17 Dabei verweist er während seines Vortrags gleich mehrfach unmittelbar auf die gegenwärtige Lesesituation und auf den Literaturbetrieb und desavouiert dabei sowohl die Jury als auch die im Saal anwesenden Zuhörer und die Fernsehzuschauer. Dergestalt antizipiert Goetz z. B. das Desinteresse der Juroren („Schon schläft der erste Kritiker ein“18) und ihre Empörung („Das ist doch keine Literatur. Wir wollen doch die Kunst vorgelesen kriegen“19) in seinem Text, was der Lesung einen improvisierten und zufälligen Charakter verleiht, Irritationen hervorruft und der nachfolgenden Kritik jegliche Grundlage entzieht. Goetz wettert zudem gegen die „professionellen Politflaschen“ und bezeichnet Heinrich Böll und Günter Grass als „Peinsackschriftsteller“, die „von Friedenskongreß zu Friedenskongreß [...] ziehen und dabei den geistigen Schlamm“ ihres „Weltverantwortungsdenken[s] [...] absondern“; dagegen setzt Goetz seine vitalistische Programmatik und plädiert für „das einfache wahre Abschreiben der Welt“, wofür es zudem notwendig sei, den „BIG SINN“, den „blöde[n] Sausinn“ zu zerstören: Um ja kein „Literaturblödel“ zu werden, sei es, so Goetz, unabdingbar, alle Konventionen hinter sich zu lassen und „das Erreichte sofort immer wieder in Klump und kaputt und mausetot [zu] schlagen“.20

16 Goetz: Hirn, S. 9f. 17 Vgl. Doktor/Spies 1997, S. 97f. 18 Goetz: Hirn, S. 12. 19 Ebd., S. 15. 20 Ebd., S. 19.

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Die von Goetz ersehnte „sauberne Apokalypse“21 lässt sich dabei aber nicht nur auf den etablierten Literaturbetrieb beziehen, sondern ist vielmehr einem allgemeinen Lebensgefühl geschuldet, das von Überdruss, Langeweile und Aggression gekennzeichnet ist. Goetz’ Hasstiraden, die oftmals an die Wutausbrüche von Rolf Dieter Brinkmann erinnern, kulminierten während der Subito-Lesung jedoch nicht in einem gewalttätigen Ausbruch, der sich gegen die Zuhörer und Juroren gewendetet hätte, sondern fanden ihren unmittelbaren Ausdruck in einem Akt der Selbstverstümmelung: Während der Lesung fuhr sich Rainald Goetz mit einer Rasierklinge schroff über die Stirn; das Blut strömte über das Gesicht des Lesenden, tropfte auf das Hemd, den Anzug und auf das Manuskript – der multimediale Skandal war perfekt. Dieser autoaggressive Gestus beglaubigte auf irritierende Weise sowohl das im Text vorherrschende Entfremdungsgefühl als auch die Obsessivität des Vortrags und verlieh der Lesung eine gesteigerte Präsenz und Intensität: „Ohne Blut logisch kein Sinn. Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden.“22 Indem er während der Lesung seinen eigenen Körper zur Oberfläche der Selbsteinschreibung und zur Resonanzfläche des vorgetragenen Textes stilisierte, verlieh er seinem Wunsch Ausdruck, die strategische Benachteiligung der Literatur in ihrer Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit für kurze Zeit aufzuheben und in ein sinnliches Moment zu transferieren. Damit verwies Goetz zugleich auch auf die Grenzen dieses vitalistischen Ansatzes. Die außergewöhnlichen Charakteristika des vorgetragenen Manuskripts weisen darauf hin, dass der Text Subito ganz bewusst auf den Akt der öffentlichen Lesung hin konzipiert wurde und erst in diesem Kontext seine eigentliche Intensität entfaltet.23

21 Ebd., S. 14. 22 Ebd, S. 16. In der medizinischen bzw. psychotherapeutischen Diagnostik wird autoaggressives Verhalten oftmals mit einer Dissoziativen Identitätsstörung, bei der die Wahrnehmung, das Erinnern und Erleben in Mitleidenschaft gezogen worden sind, in Verbindung gebracht. Folgewirkung dieser Identitätsstörung können – neben der Selbstverletzung – sein: Angst, Entfremdungsgefühl, psychosomatische Körperbeschwerden, Depressionen (vgl. Deistler/Vogler 2005). Aber auch die Performances von Musikern wie z. B. dem Stooges-Sänger Iggy Pop oder dem Sex-Pistols-Bassisten Sid Vicious waren oder sind von Selbstverstümmlungsgesten geprägt. 23 Auch wenn Goetz Jahre später insbesondere das Internet als Plattform seiner literarischen Arbeit nutzt, bleibt sein Auftritt in Klagenfurt jedoch ein einmaliges Ereignis. Während z. B. der deutsche Autor Peter Glaser eine Zeit lang verstärkt einen multimedialen Ansatz vertrat und Lesungen mit Musik zu verbinden versuchte, bilden bei

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Noch bevor sich Rainald Goetz Erste Hilfe angedeihen ließ, forderte er, wie nach der Lesung üblich, das Urteil der um ihn versammelten Jury – unter der sich so namhafte Persönlichkeiten wie z. B. der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki befanden, der Rainald Goetz zu dieser Lesung eingeladen hatte – ein. Die bei diesem bewusst inszenierten Skandal24 entstandenen medialen Verschachtelungen sind kaum noch zu überblicken und verdeutlichen nicht nur, dass sich die literarische Produktion von Rainald Goetz als „eine Reproduktion eines komplexen Systems medialer Bündelungen“ darstellt25, sondern ebenso, welche Irritationen (z. B. im Literaturbetrieb26) dabei hervorgerufen werden können. Goetz’

Goetz Lesungen, öffentliche Auftritte und Interviews die seltene Ausnahme. Zudem ist bemerkenswert, dass Goetz, trotz seiner Pop-Euphorie, bis heute nicht zugleich auf mehreren künstlerischen Gebieten aktiv ist, sondern vielmehr die schriftstellerische Arbeit als ausschließliches Betätigungsfeld ansieht. Dementsprechend schreibt Goetz im Februar 1984 in dem Spex-Artikel Gewinner und Verlierer: „Aber die Literatur muß nicht auf die Bühne, in Pop-Konzert-Hallen, oder gar auf den Modernen Jungen Menschen zu gehen.“ (Goetz: Hirn, S. 51.) Diese ambivalente Haltung bildet zugleich das eigentliche konstitutive Element der literarischen Arbeiten von Goetz: Die Forderung nach „Pop und nochmal Pop“, die Goetz gegen Ende seiner Subito-Lesung den Zuhörern entgegenschleudert, beinhaltet sowohl die Auffassung, dass die literarische Tätigkeit sich dem eigentlichen Dasein nicht verschließen darf, als auch die Vorstellung, dass die schriftstellerische Praxis immer zugleich auch eine kontemplative und ordnende Tätigkeit darstellt: „Man will doch keine Diskussionen anzetteln, man stellt bestenfalls eine Ruhe her, mit der Arbeit, eine Pause von Geschwätz, aber das ist eine Geschichte auf dem Papier und sonst nirgends. Das ist die Scheiße am Schreiben. Hilft aber nichts dagegen.“ (Goetz: Hirn, S. 51.) 24 Thomas Doktor und Carla Spies zeigen deutlich auf, dass diese Lesung nicht ohne Vorbedingungen war. Durch vorab gestreute Gerüchte (wie z. B., dass sich unter den Lesenden ein ,Genie‘ befände) und durch das Versenden von Vorabexemplaren des Romans an ausgewählte Redaktionen und Kritiker glich dieser Auftritt mehr einer gut vorbereiteten Inszenierung als einer voraussetzungslosen Lesung (vgl. Doktor/Spies 1997, 88-90). Thomas Doktor und Carla Spies sprechen deshalb auch von einem „kontrollierten Skandal“ (ebd., S. 91). 25 Ebd., S. 110. 26 Grundtenor der meisten Rezensionen sei gewesen, schreiben Thomas Doktor und Carla Spies, die Aktion (Schnitt in die Stirn) und den Text gesondert zu behandeln. In den Kritiken hätte diese Trennung weitestgehend zum „Verschwinden des Textes“ geführt; der Text selber würde sich dieser „Nicht-Lesart“ aber, wie aufgezeigt, widersetzen (Doktor/Spies 1997, S. 97).

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Auftritt in Klagenfurt ist gerade deshalb aufschlussreich, da das Kunstwerk hier vorerst nur als Ereignissequenz existiert, die sich zudem in der nachfolgenden Berichterstattung noch vervielfältigt. Die synchronisierte Sequenz von Lesung und Miterleben erzeugt (nicht nur bei den im Saal Anwesenden, sondern auch, über den verlängerten Arm der Medien, bei den Fernsehzuschauern) ein intensives Erleben von Gleichzeitigkeit.27 Wie Niklas Luhmann schreibt, sei es die Funktion von Kunst, „Welt in der Welt erscheinen zu lassen – und dies im Blick auf die Ambivalenz, daß alles Beobachtbarmachen etwas der Beobachtung entzieht, also alles Unterscheiden und Bezeichnen in der Welt auch Welt verdeckt“.28 Die Herstellung eines Kunstwerks, so Luhmann, habe den Sinn, spezifische Formen für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt zu setzen. Und nur dafür werde es „hergestellt“: „Das Kunstwerk selbst leistet unter diesem Gesichtspunkt gesehen die strukturelle Kopplung des Beobachtens erster und zweiter Ordnung für den Bereich der Kunst. Und wie immer heißt strukturelle Kopplung auch hier: daß Irritierbarkeit verstärkt, kanalisiert, spezifiziert und mit Indifferenzen gegen alles andere ausgestattet wird.“29

Analog schreibt Goetz in seinem Roman Irre: „Das täte mit dem Schreiben zusammenhängen, so hat er es mir jedenfalls erklärt, weil da das Schwierigste zum lernen und das Wichtigste zugleich wäre, daß man das meiste verschweigt. Aber eben nur das meiste und nicht alles, und das wenige Ausgewählte, das man hinschreibt, müsse einfürallemal den ganzen meisten Rest enthalten.“30 Dieser „Wiedereintritt der Welt in die Welt“31 wird von Goetz bei seinem Auftritt in Klagenfurt noch gesteigert, indem er sich selbst sowie den realen Hintergrund der Lesung in den Text mit einbringt und dem Vortrag somit einen stark performativen und selbstreflexiven Charakter verleiht. Unter den Augen der Zuschauer und der Fernsehkameras, die dieses Ereignis beobachten bzw. einfangen, vervielfältigt sich das Geschehen und die Grenzen zwischen Realität und literarischer Fiktion scheinen fließend zu werden. Thomas Doktor und Carla Spies sprechen von einer „Grenzüberschreitung von textueller Fiktion und lesender – respektive hörender – Realität“. 32 Thomas Steinfeld steigert diese Deutung,

27 Vgl. Luhmann 1999, S. 38. 28 Ebd., S. 241. 29 Ebd., S. 115. 30 Goetz: Irre, S. 280f. 31 Luhmann 1999, S. 241. 32 Doktor/Spies 1997, S. 98.

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wenn er den Schnitt in die Stirn als einen „blindwütige[n] Versuch“ bezeichnet, „aus der Exklusivität der Literatur zur authentischen Tat vorzustoßen“.33 Was vordergründig als ein ausgebufftes Spiel mit den Medien erscheint, erweist sich, bei näherer Betrachtung, als direkter Hinweis auf die Problematik von Authentizität und Simultaneität, die das Werk von Goetz schon immer bestimmt. Es ist zugleich auch, im Sinne Niklas Luhmanns, ein Problem von Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Laut Luhmann fänden sich sowohl der Künstler als auch der Betrachter auf verschiedene Weise „im Modus des Beobachtens zweiter Ordnung integriert“; beide, so Luhmann, fänden sich „aufgefordert, ans Werk zu gehen“: „Es ist diese Möglichkeit, ein Beobachtetwerden zu erzeugen, mit dem der Künstler sein Werk von sich selbst ablöst. Denn er selbst kann nicht (oder nur mit unerträglichen Vereinfachungen) beobachtet werden. Wenn der Künstler sich selbst dann trotzdem in sein Werk einbringt, etwa als Autor [...], copiert er sich selbst in sein Werk hinein. Damit entsteht ein Problem der Authentizität – nicht zuletzt auch das zeitliche Problem der Authentizität, daß der Künstler sich als wiederholt beobachtbar zur Verfügung stellt, obwohl er immer schon wieder ein anderer ist. Die alte Regel war, daß ein Künstler jedes Sichtbarwerden seines Könnens im Kunstwerk selbst vermeiden müsse. [...] Jedenfalls erzeugt das re-entry der Erzeugungsoperation in das erzeugte Werk die Paradoxie, daß das authentische weil unmittelbare Handeln als inauthentisch beobachtbar wird – und dies durch den Betrachter und durch den Künstler, der es darauf anlegt, selbst.“34

Das von Luhmann hier angedeutete zeitliche Problem der Authentizität betrifft also nicht nur den Betrachter des Kunstwerkes, der z. B. eine gewisse Zeit braucht, um einen Text zu lesen oder ein Bild zu betrachten, sondern auch den Künstler selbst, wobei beim Schriftsteller z. B. die beim Herstellungsprozess vergehende Zeit, die Gleichzeitigkeit von Geschehnissen und die Nachzeitigkeit der Schrift eine Rolle spielen. Die Lesung in Klagenfurt kann also ebenfalls als Versuch gedeutet werden, „Simultaneität in auf Nachzeitigkeit hin organisierte textuelle Darstellung zu bannen“.35 Dergestalt lassen sich die Werke von Goetz, wie auch Thomas Doktor und Carla Spies aufzeigen, in die Reihe einer geschichtlich verifizierbaren Ästhetik des 20. Jahrhunderts einordnen, die ein „Theorem der Simultaneität“ vertritt, dessen Thema ein ästhetisches Phänomen ist, welches als Pop die „zeitlich begrenzte, attraktive Verschaltung von Welt

33 Steinfeld 2000, S. 254. 34 Luhmann 1999, S. 123. 35 Doktor/Spies 1997, S. 111.

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und Kunst propagiert“.36 Der ‚popkulturelle Blick‘ auf die Wirklichkeit, den Goetz am Schluss seiner Lesung auch für die Literatur einfordert, scheint für ihn eine adäquate Möglichkeit, die Informations- und Eindrucksflut, welche für die heutige Gesellschaft – durch z. B. das Aufkommen der neuen Repräsentationsmedien – zum Alltag gehört, zu beschreiben. Der eingangs dieses Kapitels zitierte Schlusspart von Subito legt diesen Bezug zur PopArt nahe. Thomas Doktor und Carla Spies sprechen von einer „medialen Rückbindung“ der Texte von Rainald Goetz an Andy Warhol und an die Konzeptkunst.37 Zwar gehe es ihm um das „Abschreiben der Wirklichkeit“ – diese Wirklichkeit aber sei, konstatieren Doktor und Spies, „keine allgemeinverbindliche a priori gegebene Referenz, sondern vielmehr selbst bereits in einem hohen Grad medialisiert“.38 Die versuchten Reproduktionen anderer medialer Bedingungen in und mittels der Literatur würden dabei laut Spies und Doktor der „Darstellung der Unmöglichkeit [...] dienen, durch einen Text andere Mediensysteme zu rekonstruieren“.39 Der sowohl bei der Bachmann-Lesung als auch in seinen späteren Werken aufscheinende Versuch von Goetz, die (medialisierte) Wirklichkeit literarisch zu reproduzieren, verlangt zudem nach bestimmten Formfindungs- und Selektionsprozessen, um der Materialfülle, die alltäglich abfällt, Herr zu werden.40 Diese strenge Auswahl, die notwendig ist, um einen literarischen Text erst wirklich entstehen zu lassen, sei, so Goetz in seinem Roman Irre, die „HauptSauArbeit an der ganzen Arbeit“.41 Die Rolle des Autors ergibt sich dann maßgeblich aus der Möglichkeit heraus, sich den fachdiskursiven (wie auch allen anderen) Medien gegenüber selektiv verhalten zu können, bzw. sie ausschnitthaft zu reproduzieren und zugleich die Autorenrolle selbst zu konstituieren.42 Besonders deutlich wird diese intensive und extensive Medienpraxis in Rainald Goetz’ dreibändiger „Zeitmitschrift der großen öffentlichen Rede in den Medien“43 mit dem Titel 1989: Bei diesem literarischen Experiment sei es ihm darum gegangen, wie Rainald Goetz im Beiheft zur Neuausgabe der Materialsammlung im Jahr 2004 schreibt, die „Realität der täglichen Welterzählung in den Medien“ in der Literatur zu fingieren, indem er einfach damit begann, eine

36 Ebd. 37 Ebd., S. 123. 38 Ebd., S. 125. 39 Ebd., S. 129. 40 Vgl. ebd. 41 Goetz: Irre, S. 281. 42 Vgl. Doktor/Spies 1997, S. 130. 43 Goetz: 1989/1, S. 2.

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obsessive Medienmitschrift anzufertigen.44 Zugleich wollte Rainald Goetz, laut eigener Aussage, das „Problem der sich selbst bewußtwerdenden Form mitdokumentieren“45: „Die Idee war, das ursprüngliche Gefühl der Naivität des Entstehungsvorgangs zu erhalten und trotzdem eine auch künstliche Form für das Material zu finden, manche Redundanzen rauszunehmen, allzu Penetrantes zu entpenetrantifizieren, die Sache für Leser zugänglicher, benutzbarer zu machen, und trotzdem ein Moment des Autistischen, der absoluten Autonomie des Textlichen nicht ganz zu zerstören.“46

Allen drei Bänden habe er dabei ganz bewusst Andy Warhols Motto „and trying to figure out what was happening – and taping it all“ vorangestellt, um noch einmal die „Grundorientierung [des Textes] auf Alltag, Material, Konkretes, Gegenwart, Banales, Populäres usw. als eine explizit künstliche, abstrakte, eben in der Logik der Kunst begründete Formentscheidung vorzuführen“.47 Indem Goetz diese Selektions- und Formfindungsprozesse, die seine literarischen Arbeiten prägen, zum Bestandteil seiner Werke erhebt, postuliert er eine ‚realistische‘ bzw. ‚authentische‘ Schreibweise, die aber um die grundsätzliche Differenz von Literatur und Leben weiß. So antwortet Rainald Goetz Jahre später auf die Frage, ob er an so etwas wie Authentizität glaube: „Ja, natürlich. Also ich glaube an die Konstruktion dieser Form, an konstruierte Authentizität. Ich glaube natürlich nicht, daß es je im Text eine wirkliche, wahre Authentizität geben könnte. Aber ich glaube daran, daß es richtig ist, daß man als einzelner Leser, als Schreiber genau diese Frage sich stellt: wer bist du? Ganz direkt. Andere sagen, hör mal, ich habe mir da eine Geschichte ausgedacht, folgendermaßen; das geht natürlich auch.

44 Goetz: 1989, Beiheft, S. 1. 45 Ebd., S. 4. 46 Ebd., S. 5. 47 Ebd., S. 6. Der Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker Jürgen Link konstatiert in seinem Werk Versuch über den Normalismus dagegen, dass die „artistische Meisterschaft“ des von Goetz in seiner Medienmitschrift angewandten Auswahlbzw. Montage-Prinzips gerade darin bestehe, „den perfekten Effekt eines zufälligen Samples“ zu suggerieren, das „auf der Signifikanten-Ebene die Struktur zufällig vor und zurückgespulter Video- bzw. Tonbänder, die nach dem Zufallsprinzip gestoppt und wieder eingeschaltet werden bzw. eines nach Zufallsprinzip vorgenommen Zapping einer ‚Auswahl‘ von TV- bzw. Radiokanälen“ zeige (Link 1999, S. 67).

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Aber die Idee Authentizität ist von etwas anderem fasziniert, von Problemen wie: wie kriegen die Leute ihr Leben hin in echt.“48

Analog schreibt Goetz am 26. Oktober 1998 in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle: „Je authentischer man zu werden versucht, je genauer an den Erlebnissen der Realität dran man erzählt und berichtet, umso stärker merkt man die Diskrepanz zum Wirklichen, die Unfaßbarkeit des Geschehenen, die Konstruktion, die Auswahl, das, zugespitzt gesagt, schlicht FIKTIVE des Resultats, der Darstellung in ihrer schriftlich fixierten Form.“49

Diese „konstruierte Authentizität“, die sich allein aus den Formfindungs- und Selektionsprozessen ergibt, welche die literarische Tätigkeit von Goetz bestimmen, hat ihren Ursprung, wie obiges Zitat andeutet, im wirklichen Leben und in der Sozialisation, die der einzelne Mensch erfährt. Sie basiert auf den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen und ist ganz unmittelbar dem Habitus abgeschaut, der z. B. die Punk- und Rave-Bewegung prägt.

5.2 D IE ANKUNFT VON P UNK : P OESIE DER D URCHSCHLAGSKRAFT „Denken ist Krieg, eine Frage von Tempo, Sieg oder Niederlage. Das Schlimme ist, daß dem kein Ende ist. Die Waffen, die im gestrigen Gefecht triumphiert haben, sind heute schon stumpf. [...] Es geht nur um Sieg oder Niederlage, also um Tempo, richtig oder falsch.“50

Schon in seinen früheren Arbeiten bedient sich Rainald Goetz sowohl filmischer Motive und Techniken als auch der Comic- und Cartoon-Ästhetik, fügt seinen Texten zudem eigene Collagen aus Zeitungsartikeln und Fotos bei, verweist auf literarische und wissenschaftliche Werke und erwähnt Bandnamen, Songtexte und Konzerte. Dabei bietet die populäre Musik – insbesondere die Punk- und

48 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 147. 49 Goetz. Abfall für alle, S. 685. 50 Goetz: Hirn, S. 54.

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Techno-Musik – für Rainald Goetz ein großes Zeichenreservoir, auf das er mittels literarischer Aneignung zurückgreift, um seine Autorenrolle zu entwerfen. Sowohl in den Romanen Irre (1983) und Kontrolliert (1988) als auch in der Sammlung von Theaterstücken mit dem Titel Krieg und dem Materialband Hirn (beide 1986) kommt die Pop-Kultur vor allem in der Beschreibung des Nachtlebens bzw. der Kneipen-, Disko-, Club-, und Konzertwelt zum Tragen. Als „ästhetische Chiffre“ für die frühen 1980er Jahre fungiert dabei die Punk-Bewegung51, deren Ankunft in Deutschland Rainald Goetz schon in seinem im Mai 1984 für das Magazin Spex verfassten Artikel Fleisch mit viel Emphase begrüßt: „Und 77, England, Kraft, Schlag, Härte, ist dieser Jahre hier endgültig angekommen und wir wollen uns an diesem Moment der Ankunft freuen, unseren Respekt vor Bewegung und den Haß auf Stillstand feiern, indem wir ihn kräftig zu Stück hacken.“52 Was Rainald Goetz hier beschwört, ist das der populären Kultur inhärente Prinzip der Geschwindigkeit, der stetigen Umwälzung und Erneuerung, das dazu dient, jeglicher Stagnation zu entgehen. Was heute noch neu und angesagt ist, kann morgen schon überholt und uninteressant sein: „Außerdem sind Hits von einer prächtigen Kurzlebigkeit, ein Hit stürzt in den nächsten Hit, was insgesamt das totale Vollgastempo ergibt, in jeder Bewegung dieses Tempo, das es nicht gäbe, gäbe es keine Hits. Und, man kommt immer wieder zu ihnen zurück, insbesondere in Zeiten der Schwäche und Mutlosigkeit.“53 Der ‚Haß auf Stillstand‘, welcher der Punk-Bewegung laut Goetz eingeschrieben war, findet seinen überschwänglichen Ausdruck in einer wild pogenden Besuchermasse54, die zudem beim sogenannten ‚stage-diving‘ die Bühne erstürmt und sich von dort wieder in die Menge fallenlässt. Diese vitalistische Form der Überschreitung von räumlichen Grenzen bzw. diese ausgelassene In-

51 Doktor/Spies 1997, S. 113. 52 Goetz: Hirn, S. 81. 53 Ebd., S. 24. An anderer Stelle bezeichnet Goetz die Hitparade, die Diskotheken und die dazugehörige Musik als das einzige wirklich weltumspannende und sich rasend schnell selbst erneuernde Kulturphänomen (ebd., S. 32). 54 In dem Roman Irre wird der Hauptprotagonist Raspe Stammgast im Punk-Schuppen Damage und besucht zahlreiche Konzerte. In seinen Schilderungen wird deutlich, was man sich unter dem bei den Punks verbreiteten Tanz-Stil Pogo vorzustellen hat: „Wenn nur ein Krach in rasendem Rhythmus von der Bühne kam. Wenn der Krach nur laut genug krachte. Wenn der Sänger wild genug tobte. Wenn das Wogen und Rasen und Hin und Her und ZuBodenGerissenWerden und das Reißen und Stoßen und Keuchen das Einzige war.“ (Goetz: Irre, S. 223).

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besitznahme der Bühne beschreibt Rainald Goetz ebenfalls in seinem Artikel Fleisch: „Noch extremere Bühnengrenzenniederhauer als die Fleshtones sind die U.K. Subs gewesen, in New Yorks Only Rock Hotel in der Janestreet, wo die Bühne von Kinderskins und Kinderpunks immer wieder gestürmt wurde, um sie dann nach der Eroberung mit einem Hechtsprung in das Publikum drunter sogleich wieder aufzugeben, um sie neu stürmen zu können.“55

Vergleichbar findet sich in Goetz’ Theaterstück Krieg (1986), das aus drei Einzelstücken (Heiliger Krieg, Schlachten, Kolik) besteht und eine strenge Tektonik besitzt56, unter dem Abschnitt mit dem bezeichnenden Titel The Texas Chainsaw Massacre57 die Beschreibung eines Konzertes, bei dem als Instrumentarium zur Lärmerzeugung u. a. auch eine Flex, ein Preßlufthammer, Stahlrohre und Wellbleche zum Einsatz kommen. Die über mehrere Seiten reichende Schilderung der „Arbeit der stampfenden Leiber und metallenen Maschinen“58, die damit endet, dass die Bühne in Flammen aufgeht59, erinnert frappierend an die frühen Performances der Einstürzenden Neubauten, bei denen oftmals auch Bühne, Publikum und Musiker in Mitleidenschaft gezogen wurden. Goetz bezeichnet diesen bei vielen Punk-Konzerten spürbaren Zerstörungsakt als notwendige „Arbeit an der Abschaffung der Bühne“, die für die kurze Zeit des Auftritts dazu dient, sich der Illusion hinzugeben, dass die übliche Grenze zwischen Produzenten und Rezipienten sich auflösen lässt: „Der Effekt nach

55 Goetz: Hirn, S. 71f. 56 Vgl. Weber 1992. 57 Mit dem Titel nimmt Rainald Goetz Bezug auf den gleichnamigen, mit wenig Budget gedrehten Horror-Film von Regisseur Tobe Hooper aus dem Jahr 1974, in dem sich fünf junge Menschen bei ihrer Reise durch Texas heillos verirren und fernab jeglicher Großzivilisation von den Mitgliedern einer restlos pervertierten Familie gejagt werden, die auf einem heruntergekommenen Landsitz haust. Unter den degenerierten Familienmitgliedern befindet sich auch ein infantiler Hüne, der eine Maske aus Menschenhaut trägt und vorzugsweise mit einer Kettensäge auf Menschenjagd geht. Hoopers Film ‚besticht‘ durch seine explizite Gewaltdarstellung und seine klaustrophobische Atmosphäre, was zu vielen Diskussionen und zur zeitweiligen Indizierung des Films geführt hat. 58 Goetz: Krieg, S. 82. 59 Vgl. ebd., S. 84f.

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verlorenem Kampf ist ein erschöpfter Optimismus.“60 Spürbar wird in diesen Beschreibungen die Sehnsucht von Goetz, der literarischen Rede die physische Intensität und Zuversichtlichkeit zu verleihen, die der Besuch eines Punk-Konzertes vermittelt. Sein Wunsch, einen Text zu generieren, der „wie eine Rhythmusmaschine auf Leiber trifft“, ist zugleich von der Vorstellung geprägt, dass die literarische Tätigkeit immer „Aufschub, Nachträglichkeit, Sinnzuweisung“ impliziert61, wobei zudem die Gefahr besteht, dass der Text bei reiner Zurschaustellung des (Sprach-)Materials keine (Anschluss-)Kommunikation mehr ermöglicht. Kunst muss, laut Goetz, kommunizieren, denn dort wo sie zu abstrakt und damit unzugänglich für den Rezipienten wird, verliert sie ihre Bestimmung. Dieses verzweifelte Ringen um Kommunizierbarkeit stellt die treibende Kraft hinter den Texten von Rainald Goetz dar.62 Diesen emphatischen Kommunikationsbegriff teilt Rainald Goetz z. B. mit dem deutschen Pop-Literaten Andreas Neumeister: „Pop ist Kommunikation. Selbst noch das winzigste Popgedicht will kommunizieren. Pop ist Kommunikation, die sich über Kommunikationsverbote lässig hinwegsetzt. Pop ist Kommunikation, die Inhalte kommuniziert, die sonst nicht kommuniziert werden würden. Im Idealfall ist Pop subversiv. Im Idealfall ist Pop populär. Im Idealfall ist Pop populär und subversiv zugleich.“63

Daher muss, wie Hubert Winkels schreibt, auch immer wieder „die Vorstellungskraft bedient, überfordert, zum Exzess getrieben werden. Das Ereignis, die Opazität des Ereignisses ist das Ideal des Textes, die Erledigung der Wörtlichkeit in der Intensität, in der Fülle des Realen. Das Ideal des Textes? Das eben, daß sie ein Ideal, also eine Differenz, einen Abstand kennen, macht die Texte von Rainald Goetz verzweifelt literarisch“.64 Der Punk-Bewegung komme, so Goetz, aufgrund ihres umstürzlerischen Gestus der Verdienst zu, der populären Kultur einen neuen Impetus verliehen zu haben, der „in der nach wie vor gültigen Allianz aus Populismus (Liebe zu Verkaufe, Charts, Prollkultur, Ja zum Debilja) und radikalem Denken samt Einsamkeit und Isolation (Liebe zu Underground, Geheimtip, elitäre Arroganz, Ausgedreht-

60 Goetz: Hirn, S. 71. 61 Winkels: The Texas Chainsaw Textmassacre, S. 63. 62 Vgl. Poschardt 1997, S. 318. 63 Neumeister: Pop als Wille und Vorstellung, S. 23. 64 Winkels: Einschnitte, S. 63f.

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heit)“ zu „progressive[r] Verwirrung, Desorientierung“ geführt habe.65 Die Irritationen, welche die Punk-Bewegung z. B. im Bereich der Mode und Musik hervorgerufen hat, führte in dieser Zeit, laut Goetz, zu einer notwendigen, da ausgesprochen produktiven Vervielfachung der vorherrschenden Pop-Diskurse und formte eine neue soziale und kulturelle Praxis: „Zwang alles neu zu kontrollieren, neu zu denken, Verkomplikation der Lage, damit Aufbruch und Hermetik.“66 Besonders deutlich tritt diese soziale und kulturelle Praxis bei der Betrachtung subkultureller Strömungen hervor, die in Opposition zur Massenkultur stehen und sich durch Formen der Selbstorganisation auszeichnen, wie es bei der Punk-Bewegung der Fall war. Diese progressiven Strukturen, die vom herrschenden ‚common sense‘ bzw. Wertesystem abweichen, ermöglichten es den Subkulturen, etwas Neues zu schaffen, das wiederum von der herrschenden Kultur vereinnahmt werden konnte. Massenkultur und subkulturelle Strömungen bedingen sich und stehen, wie auch Rolf Schwendter konstatiert, in einem dialektischen Verhältnis zueinander.67 Auch Roger Behrens schließt sich nahtlos dieser Analyse an, wenn er hervorhebt, dass Subkulturen nicht einfach eine „zweite Kultur“ bilden würden, die neben der herrschenden bestehe – vielmehr formiere sich, so Behrendt, „im und unter dem Instrumentarium der herrschenden Kultur“ ein „Underground, der aber nur durch den ständigen Bezug und Austausch mit der herrschenden Kultur lebensfähig ist: Subkultur braucht als Medium die herrschende Kultur. Die herrschende Kultur braucht zur Legitimation ihrer Funktion den Inhalt der Subkultur.“68 Seit den sechziger Jahren bildet dieser zirkuläre Austauschprozess, bestehend aus Subversion und Akkulturation, in der populären Musik die Grundlage für das Entstehen von innovativen und neuartigen Formen.69 Pop und Rock, so Tom Holert und Mark Terkessidis in der Einleitung zum Essayband Mainstream der Minderheiten, seien „geradezu Synonyme für Jugend, Emanzipation, Dissidenz und Fortschritt“; aber diese „dissidente Authentizität“ sei nur von kurzer Dauer – die Industrie kooptiere die im Underground gewachsene Musikrichtung und glaube sich im Besitz dieser Authentizität, während sie ihr doch sofort entgleite und an anderer Stelle neu entstehe: „Neue be-

65 Goetz: , S. 84. 66 Ebd. 67 Vgl. Schwendter 1981, S. 27. 68 Behrens 1996, S. 45f. 69 Vgl. Seiler 2006, S. 37.

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wegliche junge Leute spielen andere Töne oder auf anderen Geräten.“70 In diesem Sinne ist auch Diedrich Diederichsens Aussage zu verstehen, dass „PopMusik [...] traditionell von Neuem [handelt]: neuen Verhältnissen, neuen Geräuschen, neuen Menschen und neuen Technologien“.71 Auch Dick Hebdige beschreibt den Lebenskreislauf von subkulturellen Strömungen als fortwährenden „Zyklus von Opposition zur Entschärfung, von Widerstand zur Vereinnahmung“.72 Dieser lineare Prozess, so Hebdige, sei durch die Medien und den Markt vorherbestimmt: „Wie Subkultur-Stile geschaffen und verbreitet werden, ist [...] in Wirklichkeit mit der Produktion, der Veröffentlichung, Werbung und Verpackung unlösbar verbunden. Das als Ganzes ist ein Vorgang, der unausweichlich zur Entschärfung der subversiven Kraft einer Subkultur führt. [...] Jede neue Subkultur etabliert neue Trends und bringt neue Klänge und Stile hervor, die in die entsprechenden Industrien zurückgeführt werden.“73

Dergestalt, so Hebdige, würden „Subkulturen fortwährend wiedereingegliedert und die zerbrochene Ordnung wiederhergestellt“.74 Gegen diesen Normalisierungsprozess generiert die subkulturelle Bewegung sofort neue Strategien und Handlungsweisen, um sich der Vereinnahmung zu entziehen. Rainald Goetz beschreibt diese zirkulären Austausch- und Vereinnahmungsprozesse, wenn er im Jahr 1983 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Was ist ein Klassiker einige Werke des literarischen Kanons und Songs, die zum Hit avanciert sind, unter dem Aspekt der Pop-Kultur subsumiert und ihnen zugleich die Kraft zuschreibt, den Menschen aus ihrer Verzagtheit zu helfen. Indem Goetz Bekanntheits- und Verfügbarkeitsgrad sowohl von einigen literarischen Werken als auch von Hits hervorhebt, insistiert er zugleich auf die damit einhergehende Möglichkeit der ‚subkulturellen bricolage‘: „Deshalb ist der Klassiker ein Popphänomen. Er ist benutzbar für die widersprüchlichsten Zwecke, ein Zitatenfundus, der geplündert werden möchte [...] Im besten Fall ist der Klassiker logisch das, was auch Pop im besten Fall ist: nämlich ein Hit. Hits sind so gut, daß sie einen nicht langweilen, genau umgekehrt, je auswendiger man sie kennt, desto noch auswendiger mag man sie kennen lernen. [...] Denn ein Hauptmerkmal, geradezu ein Kar-

70 Holert/Terkessidis 1996, S. 5. 71 Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte, S. 23. 72 Hebdige 1983, S. 92. 73 Ebd., S. 86. 74 Ebd., S. 85.

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dinalssymptom des Hits wie des Klassikers ist schließlich: daß er Mut macht, einem neue Kraft, neue Stärke, neues Neu und neue Wut für die nächste Attacke gibt.“75

Wenn Rainald Goetz in seinem Text Fleisch die Ankunft der Punk-Bewegung emphatisch begrüßt, muss dies jedem, der sich mit der Bewegung und seiner Geschichte auseinandergesetzt hat, sehr widersprüchlich erscheinen. Zwar war Punk 1977 in Deutschland „nur Insidern und notorischen Freaks“ bekannt76, aber schon im Februar 1979 veröffentlichte das Magazin Der Spiegel unter dem Motto Punk. Kultur aus dem Slum: brutal und häßlich eine Titelgeschichte über die aus England nach Deutschland geschwappte Bewegung. Die ersten Gründungen deutscher Punkbands lassen sich, wie aufgezeigt, auf Ende 1977 datieren; nur kurze Zeit später fanden die ersten Punk-Konzerte statt. Für Rolf Lindner stellt der Spiegel-Artikel einen Beleg dafür dar, dass der Punk-Rock schon 1979 durch das Insistieren von printmedialen Organen von einem „Extremfall zum Modellfall“ geworden sei: „Die Vermittlungs-Tätigkeit der Presse, die immer zugleich eine Enteignungs-Tätigkeit ist, besteht also in der Weitergabe verselbstständigter Symbole: die Wirkung einer solchen Vermittlungs-Tätigkeit verstärkt sich umso mehr, je weiter sie sich vom Zentrum des wirklichen Geschehens entfernt.“77 Was bedeutet diese „Minimalchronik des Punks“78, die Goetz in seinem Artikel Fleisch entwirft, wenn man zudem bedenkt, dass schon seit Ende der 1970er Jahre bzw. Anfang der 1980er Jahre in Großbritannien viele PostpunkBands, die sich durch eine neue stilistische Vielfalt auszeichneten, die Musikszene bevölkerten und in Deutschland die sogenannte Neue Deutsche Welle die Hitparaden bestimmte? Unter dem Etikett Neue Deutsche Welle vermarktete in dieser Zeit die deutsche Plattenindustrie eine Vielzahl musikalisch vollkommen unterschiedlicher Bands – wie z. B. Ideal, Hubert Kah, Trio, Extrabreit, Joachim Witt, Rheingold, Fehlfarben und DAF –, um am überraschenden Erfolg vieler deutscher Underground-Bands zu partizipieren. Zu dem Zeitpunkt, als Goetz seinen Artikel Fleisch veröffentlicht, ist die eigentliche Punk-Bewegung von Puristen aufgrund der vorherrschenden Vereinnahmungstendenzen schon längst als gescheitert erklärt worden. Dennoch insistiert Goetz vehement auf dem vitalistischen Impuls, der seiner Meinung nach von der Punk-Musik ausgeht und nun auch in Deutschland spürbar wird. Das Aufkommen der Punk-Bewegung habe, so Goetz, sein Leben „vom Kopf auf die Füße gestellt“:

75 Goetz: Hirn, S. 24f. 76 Lindner 1980, S. 11. 77 Ebd., S. 6. 78 Doktor/Spies 1997, S. 114.

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„Eine kurze Zeit lang war ich traurig, daß ich nicht mein ganzes bisheriges Leben Weißbier saufend, Pogo tanzend und bayrisch redend verbracht habe. Aber schon bald fand ich es vorwiegend angenehm, von nichts eine Ahnung zu haben: ich war nicht von jeder neuen Platte an hundert alte erinnert (wie alle meine musik-fanatischen Freunde) und hatte dadurch einfach mehr Spaß – die Gnade des späten Interesses [...].“79

Einerseits könnte man, wie Thomas Doktor und Carla Spies schreiben, „Goetz’ Historiographie als streng subjektive verstehen, die aus der Warte des Erzählers in Fleisch den Moment der Ankunft von Punk Anfang der 80er Jahre datiert“.80 Für diese rein subjektive Sicht spricht die Tatsache, dass Goetz in seinem Text Fleisch statt einer rein journalistischen Berichterstattung eine literarische Herangehensweise wählt, die insbesondere eigene musikalische Vorlieben berücksichtigt und dadurch einen affirmativen statt kritischen Gestus besitzt. Das ist insofern bemerkenswert, da gerade das Magazin Spex, in dem der Artikel von Goetz erschien, seit seinem Entstehen im Jahr 1980 für seine theoretischen Diskurse bekannt ist, in denen der Versuch unternommen wird, bestimmten neu aufkommenden musikalischen Phänomenen nachzuspüren und mit einer Terminologie zu belegen. Schon in den ersten Jahren hatten die Mitarbeiter der Spex sowohl über die progressiven Bands aus Deutschland (DAF, Fehlfarben, Andreas Dorau, Einstürzende Neubauten) als auch angloamerikanischen Postpunk-Musiker (Joy Division, Public Image Ltd., Throbbing Gristle, Gang Of Four, Birthday Party) ausführlich berichtet, aber auch dem emphatischen Pop-Begriff nahestehenden Gruppen (Scritti Politti, Haircut 100, ABC, Heaven 17) ihre Aufmerksamkeit geschenkt.81 Goetz’ Unterfangen, u. a. die damaligen Entwicklungen in der populären Kultur aus subjektiver Sicht zu schildern, kann also auch als Versuch gedeutet werden, der diskursiven Haltung eine neue, dem eigenen sinnlichen Erleben nahestehende und zugängliche Schreibweise zu erschließen, die ansonsten nur vereinzelt in Konzert- und Tourberichten aufscheint. Dennoch kann man auch die Vermutung hegen, dass Goetz die stetigen Wechselwirkungen zwischen Underground- und Mainstream-Kultur als unleugbaren und unabdingbaren Bestandteil der populären Kultur erachtet, da die Kommerzialisierung einer bestimmten musikalischen Strömung dazu führt, dass eine Vielzahl an Bands Plattenverträge erhält und weitreichendere Verbreitung erfährt. Die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit führt zudem zu einer Vervielfachung und Pluralisierung der

79 Goetz: Celebration, S. 73. 80 Doktor/Spies 1997, S. 115. 81 Vgl. Hinz 1998, S. 221.

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Diskurse, die sich mit dem aufscheinenden musikalischen Phänomen zunehmend auf einer theoretischen Metaebene beschäftigen. In der Auseinandersetzung mit der medialen Berichterstattung und den darin enthaltenden Metadiskursen generieren sich neue Möglichkeiten sowohl einer affirmativen als auch oppositionellen Haltung, an der die journalistische und literarische Rede wiederum partizipieren kann. Dabei wohne, wie Doktor und Spies konstatieren, sowohl der subjektiven Beschreibung als auch der theoretischen und distanzierten Betrachtung eine zeitliche Antinomie inne: „Sie organisieren sich als Nachzeitigkeiten dem betreffenden Ereignis gegenüber, dessen Simultaneität sie zwar bewerten oder reflektieren, nicht aber einholen können.“82 Sowohl der Pop-Journalist als auch der Literat haben, wie auch Rainald Goetz in seinem Text Fleisch anmerkt, mit der „notorische[n] Trägheit des Geschriebenen gegenüber der Musik“ zu kämpfen: „Das ist ja das Großartige an der Musik, daß da andere, vom Wort abgekoppelte Gesetze der Wahrheit herrschen.“83 Geschrieben seien, so Goetz, die Worte „tyrannisch, hermetisch, abweisend, dogmatisch und das ist ihre Kraft“84, während die Musik „nicht hermetisch [ist], im Gegenteil, die Explosion. Die Bühne ist die Drohung. Die Bühne muß die Drohung sein“85: „Die Musik auf der Bühne muß nur einen, nämlich den Imperativ sprechen und nicht irgendeinen, sondern diesen: Du mußt Dein Leben ändern. Nach einer Stunde Kampf gegen die Bühne, gegen die Musik, gegen diesen Imperativ geht man erschöpft und glücklich heim. Und alles bleibt beim alten. Für einen Augenblick ist man vielleicht ein besserer Mensch, die radikalere Realisation dessen, der man ist.“86

In Fleisch weist Goetz der Musik einen fast archaisch anmutenden Wesenszug zu („Das Sprechen ist vor der Schrift, vor der Sprache aber ist die Musik“87), der mit Worten kaum zu reproduzieren ist: „Die Musik kann durch den Rhythmus, durch den Schlag, der, wenn er richtig schlägt, Blutschlag, Herzschlag ist, Sex pur werden, wie das Wort niemals. Deshalb gehört die Liebe nicht dem Wort,

82 Doktor/Spies 1997, S. 116. 83 Goetz: Hirn, S. 63. 84 Ebd., S. 67. 85 Ebd., S. 71. 86 Ebd., S. 72. 87 Ebd., S. 66.

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sondern der Musik.“88 Diese Verzweiflung tritt auch im folgenden Zitat deutlich hervor: „Es ist der Moment der Musik. Existenzaufbrechen: Ausdruckswut und Sagenwollen, neue Worte suchen, alles erklären, Nichtzurandekommen. Die Musik läuft. Warum sagt die Musik genau all das, was ich sagen muß. Sie sagt: Sehnsucht, Wille, Überschwang, Passion, Triumph. Die Musik sagt, was ich will. Die Worte kruschpeln so komisch im Kopf herum, kommen raus, und sagen, was sie wollen. Die Klarheit der Musik hingegen, alles logisch und Leidenschaft.“89

Doch genau diese „Ausdruckswut“, dieses „Nichtzurandekommen“, dieser unverdrossene „Kampf beim Schreiben, den Ton der Wahrheit zu treffen“90, bestimmen seit jeher die literarischen Anstrengungen von Goetz und lassen ihn zu einem besessenen ‚Abschreiber‘ der Wirklichkeit werden: „Genau so muß es hin gedruckt werden, das Gerede, das Geplapper, dieser sich pausenlos erweiternde Kosmos von Geschwätz. Es ist eine ganz eigenständige Sorte von Wissen über die Welt, die da ständig im Umlauf ist, gerade da, wo Musik und Nachtleben ist, also immer neu Jugend, Erotik, Sex, Liebe. In diesem Kosmos sind die Intelligenten fast immer von vornherein die Dummen, die Aufdenmundgefallenen, die also das Recht zur Rede nicht haben, und die Subdebilen treffen dauernd voll ins Schwarze.“91

Wenn Goetz schon bei seiner Subito-Lesung ‚kühnes‘ Schreiben, ‚heftiges‘ Denken und den „Kampf in mir“92 als Orientierungspunkte sowohl für die soziale Praxis als auch die Literatur einfordert, so verdeutlichen diese Postulate zugleich auch die stetigen Selbstzweifel, die den kreativen Vorgang begleiten. Das Schreiben dient Goetz als Prozess der Selbstvergewisserung, bei dem sich das Denken sofort auch immer gegen sich selber wendet bzw. die Antithese mitdenkt, was eine Vielzahl an Widersprüchen erzeugt. Die dadurch in der literarischen Rede aufscheinenden Dissonanzen sind nur Ausdruck eines „Denktoben[s]“93, das nicht zur Ruhe kommt, wie er bei seiner Subito-Lesung konstatiert:

88 Ebd., S. 62. 89 Ebd., S. 59. 90 Ebd., S. 67. 91 Ebd., S. 52. 92 Ebd., S. 21. 93 Ebd., S. 19.

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„Da erbrennt mein Kopf vor Schmerz. Ich muß ihn aufschlagen an der Tischkante. Da fällt das Hirn heraus. Ihr könnts mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirn schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf. Ihr folterts mich, ihr Schweine, derweil ich doch bloß wissen möchte, wo oben und wo unten ist und wie das Scheißleben geht.“94

Weiterhin benennt Goetz in einem Gespräch mit dem Künstler Albert Oehlen die „Qualität eines short memory“, die darin besteht, nicht auf ein Vorwissen zurückgreifen und sich somit immer wieder neu und vorbehaltlos jedem Problem stellen zu können.95 Brinkmanns Vorstellung, dass die Sprache zur Welterkenntnis untauglich erscheint, führt Goetz zu dem weiterführenden Wunsch, „das Draußen wieder in mich stürzen“ zu lassen96, um die Barriere zwischen Literatur und Alltag nicht nur innerhalb der Texte, sondern vielmehr durch das konkrete Eintauchen in die Alltagskultur zu überwinden. Indem die literarische Rede unmittelbar an den Eindrücken und Erlebnissen des realen Lebens partizipiert, wird sie selbst zum Bestandteil der Alltagskultur und sichert sich ihre Relevanz. Die von Goetz am Ende der Subito-Lesung gestellte Forderung nach Schreibweisen, die abbilden, „wie der heftig denkende Mensch lebt“97, bestimmt das Tempo der Texte, ihre Polyphonie98 und ihre Ambivalenz. Wobei, wie auch Heiner Müller in seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht anmerkt, „das Schreiben in der Geschwindigkeit des Denkens [...] ein Autorentraum“ bleibt.99 Analog heißt in dem Roman Kontrolliert, in dem Goetz die „Geschichte des Jahres neunzehnhundert sie-

94 Ebd., S. 20. 95 Goetz: Celebration, S. 144. 96 Goetz: Hirn, S. 20. 97 Ebd., S. 21. 98 Dieser aus der Kompositionslehre entlehnte Begriff erhält gerade in Bezug auf die Literatur von Rainald Goetz eine besondere Bedeutung. Im Gegensatz zur Homophonie bezeichnet die Polyphonie die weitgehende Selbstständigkeit und den linear-kontrapunktuellen Verlauf der Stimmen. Der melodische Eigenwert der Stimmen (unterschiedlich lange, sich überschneidende Phrasen, eigene Zäsurenbildung usw.) hat dabei den Vorrang vor der harmonischen Bindung. Diese Vielstimmigkeit lässt sich auch anhand des Kompositionsverständnisses, welches Goetz seinen Texten zugrunde legt, nachweisen: Montage- und Collage-Technik, fragmentarischer Aufbau, stetige Perspektivenwechsel, sprachliche Ellipsen etc. 99 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 366.

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benundsiebzig“ schildert100 und den Deutschen Herbst thematisiert, dann auch, dass es „vom Eindruck zum Wort ein sehr weiter Weg [ist], schätzungsweise einmal Mond tour retour“.101 Der Versuch, Erfahrungen unreflektiert in die Schrift zu übertragen und die Simultaneität von Eindrücken festzuhalten, scheint sowohl an der Linearität der Zeichen und der Nachzeitigkeit der Schrift als auch am Problem der Nichterinnerbarkeit zu scheitern. Oftmals steht die literarische Rede dem realen Erleben stumm und hilflos gegenüber, bezieht aber zugleich ihre kreative Kraft aus diesem stetigen Anschreiben gegen das Verstummen, wie insbesondere der DebütRoman Irre von Goetz und die darin entworfene Topographie des Nachtlebens deutlich macht: „Und dann kam die Nacht, um den Entmutigten neue Kraft zu bringen.“102 „Ich muß weiter die Worte hin schreiben, aber ich muß ein anderes Tempo vorlegen“103, schreibt Goetz in jenem dreigeteilten Roman, der kurz nach seinem enervierenden Auftritt beim Bachmann-Lesewettbewerb erscheint. Damit skizziert er ein poetologisches Konzept, das sich im direkten Anschluss an seine Bachmann-Lesung um neue Darstellungsformen in der literarischen Rede bemüht, mit denen er die sinnliche Qualität gegenwärtiger Eindrücke zu erfassen versucht. Vorangestellt ist dem Roman bezeichnenderweise ein Zitat der avantgardistischen NDW-Band Palais Schaumburg mit dem Wortlaut „Grünes Winkelkanu ich dreh dir den Hals herum“. 104 Der Aufbau von Irre gleicht dabei einem Triptychon, wobei viele Handlungsstränge erst in der Gesamtschau klar hervortreten. Der erste Teil mit dem Titel Sich Entfernen besteht aus einer Serie heterogener Stimmen, die zudem keiner hierarchischen Ordnung oder Erzählerinstanz untergeordnet sind. Die Stimme des jungen Romanprotagonisten Raspe, der als Arzt in der psychiatrischen Abteilung eines Münchner Krankenhauses arbeitet, ist nur eine sprechende Instanz unter vielen, wie auch der Literaturwissenschaftler Hubert Winkels schreibt: „Noch ist er [Raspe] ein Fall unter Fällen, eine Stimme unter Stimmen, ist er einer Serie eingegliedert. Die reflektierende oder therapeutische Rede ist der wahnsinnigen nicht über-, sondern nebengeordnet. Der Text ‚Irre‘ funktioniert in diesem Kapitel wie ein Tonband.“105

100 Goetz: Kontrolliert, S. 15. 101 Ebd., S. 189. 102 Ebd., S. 221. 103 Goetz: Irre, S. 302. 104 Ebd., S. 5. 105 Winkels: Einschnitte, S. 240.

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Anhand dieser Stimmen von Ärzten und Patienten einer psychiatrischen Anstalt beschreibt Goetz die Geschichte des jungen Arztes Raspe, der zwischen Privat- und Berufsleben hin- und hergerissen ist und stetig versucht, eine Einheit zwischen seinen nächtlichen Ausflügen in die subkulturelle Szene und dem Klinikalltag herzustellen. Der nachfolgende zweite Teil des Romans mit dem Titel Drinnen exponiert den Protagonisten Raspe als personalen Erzähler. In der dritten Person schildert das Kapitel minutiös Raspes Arbeitsalltag und seine „nächtlichen Fluchtimpulse“, die ihn immer wieder ins Münchner Nachtleben ziehen: „Die Echtzeitsuggestion des quasi-dokumentarischen Teils wird abgelöst von einer romanesken Erzählzeit.“106 Das „Nachtlebenleben“, dem auch der Klinikarzt Raspe verfallen ist, bestehend aus Konzert-, Kneipen- und Discobesuchen, bezeichnet Goetz in seinem Roman Kontrolliert als einen „Gegenort zur Täglichkeit der Universität“, den er „viel zu spät, aber schließlich eben doch betreten“ und nach und nach kennengelernt hat: „Tags war Schriftverehrung, nachts die Fleischfaszination, beides gleich extrem zu unterdrücken.“107 Dieser „Gegenort“, dessen Faszination Raspe sich nicht entziehen kann, wird im Roman Irre ausführlich beschrieben. Während Raspe tagsüber seiner Arbeit in der Klinik nachgeht, besucht er in der Nacht die Punk-Kneipe Damage. Über eine große Anzahl an Szenen108 entsteht dabei ein detailliertes Bild von Raspes ‚Nachtexistenz‘, welche ihm scheinbar einen Ausgleich zum Klinikalltag bietet: „Sie [die Punk-Kneipe Damage] stellt die spezifisch der Nacht zugeordnete Topographie dar, in der Raspe eine Nische findet, die für ihn zunächst die Widersprüche der Klinikarbeit aufzuheben scheint.“109 Dabei wird besonders bei seinem ersten Besuch der Punk-Kneipe deutlich, dass Raspe von einem „sozialen Integrationswunsch“ gelenkt ist.110 Zusammen mit seinem Freund Peter betritt Raspe zum ersten Mal das Damage und wird von einer ohrenbetäubenden Lautstärke erfasst: „Sofort grelles Lärmen, Dröhnen, Krachen von Musik. Die Schläge kamen durch ein schwarzes, lappig und schadhaft von der Decke hängendes Vorhangstuch, das von Peter im Gehen, mit geübter Bewegung beiseite geweht, Raspes sogleich taumelndem Blick einen nicht mehr als wohnzimmergroßen Raum enthüllte.“111

106 Ebd., S. 243. 107 Goetz: Kontrolliert, S. 34. 108 Goetz: Irre, S. 12, 131-134, 175, 178f., 180, 185, 222. 109 Doktor/Spies 1997, S. 154. 110 Ebd. 111 Goetz: Irre, S. 131.

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Was Raspe dort erblickt, erinnert ihn an einen „Krieg der Tänzer“112: „Menschen unter Strom, vom Rhythmus hoch in übertaghelles weißes Licht geschleudert, Rasende Rempelnde, Knäuel spastisch krampfender Arme und Beine, schräge Köpfe, kahle und gefärbte, schrille Farben über dem Schwarz abgerissener Lederjacken und der engen, zu kurzen Hosen.“113

Raspe bewundert die Selbstsicherheit, mit der Peter sich durch diese Szene bewegt und von allen herzlich begrüßt wird. Die enorme Lautstärke in dieser Umgebung verhindert, dass die anwesenden Gäste sich normal unterhalten können, denn auch wenn man schreit, dringen nur Fetzen des Gesagten an das Ohr des Gesprächspartners: „Peter kam nun ganz nah an Raspes Ohr und brüllte hinein. LAUT WA! Das schmerzte, und Raspe war dankbar. Dann standen sie, ohne zu reden, den Bewegungen der Musik und der Menschen überlassen.“114 Schon wenige Seiten später heißt es, dass Raspe im Damage „Fuß gefaßt“ habe und schnell zum Stammgast geworden sei: „Pflunder, der Türsteher mit dem Kindgesicht, grüßte freundlich, und Harry kassierte erst ab um halb zwei, nicht nach jedem Bier. Neue und alte Freunde konnte man treffen, eine Kugel flippern, zwei drei Bier trinken, ohne viele Worte. War das ein Problem, die Distanz der beiden Welten? Keineswegs: es gab doch Tag und Nacht und Wochenende, und ihre Fremdheit hielt sich gegenseitig und setzte jede Stunde in ihr Recht.“115

Dieser Wunsch nach sozialer Integration im ‚Nachtlebenleben‘ korrespondiert mit dem verzweifelten Versuch Raspes, sich auch im Arbeitsalltag der psychiatrischen Klinik, der von ganz anderen Gesetzen, Ritualen und Codes bestimmt ist, einzufügen. Doch das stetige Hin und Her zwischen der „verzweifelte[n] Ohnmacht des Tages“ und der „gewünschte[n] Ohnmacht der Nacht“ führt, wie auch Hubert Winkels konstatiert, dazu, dass die „eine Welt Raspes [...] auseinandergerissen“ wird: „Es gibt den Tag (in) der Klinik und die Nacht (in) der Kneipe. [...] Tagsüber ist Raspe auf Seiten der Ärzte, der Verwaltung, der Visite, der Diagnose, des geordneten Berichts, ist

112 Ebd., S. 132. 113 Ebd., S. 131. 114 Ebd., S. 133. 115 Ebd., S. 175.

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da, wo der Kranke nicht ist (und leidet darunter); nachts schlägt er sich euphorisch auf die Seite der Sprachlosen, der Punks und Säufer, der Tänzer, der Schläger und Schreier.“116

Das „gespaltene[...] Gesetz für Nacht und Tag“117 führt letztendlich zu einem Ohnmachtskreislauf, der fast einem Verstummen gleichkommt. Einen Ausweg scheint nur die Literatur zu bieten: „Morgen mitschreiben, schreibend den Schrecken ordnen.“118 Dabei verweist Goetz in seinem Roman immer wieder darauf, dass die literarische Rede z. B. das Nachtleben und die damit verbundene soziale Praxis nur zu umkreisen, aber nicht zu imaginieren oder zu simulieren vermag119: „Sie denken jetzt, jetzt kommt das Vergnügen. Aber das Denken nützt ja meist so wenig. Sie haben mich nämlich schon wieder mißverstanden. Das Vergnügen müssen Sie sich selber live rein ziehen.“120 Dieses prägnante Zitat verweist mittels der an einen fiktiven Leser gerichteten Rede über sich hinaus auf das vitalistische Event, welches mit Worten nicht zu erfassen ist. Die Worte versagen vor der Vitalität und Simultaneität der Ereignisse, vor deren Unmittelbarkeit und Präsenz, denn der Text kann das wirkliche Erleben nicht ersetzen. Dieses kann einerseits als literarisches Scheitern gelesen werden, andererseits aber auch als bewusster außertextueller Verweis, der dem Rezipienten die Arbeit auferlegt, sich in das ‚Vergnügen‘ zu stürzen, um die Sichtweise, die ihm der Text vorgegeben hat, im wirklichen Leben zu ‚überprüfen‘. Diese außertextuellen Verweise beschränken sich bei Rainald Goetz nicht nur darauf, den fiktiven Leser direkt anzusprechen, sondern finden ihren Ausdruck auch darin, dass sich in seinen Texten, wie aufgezeigt, eine Vielzahl an Referenzen sowohl an real existierenden Personen, Institutionen, Bands als auch an Konzertereignissen aufspüren lassen. An dieser Stelle öffnet sich gleichzeitig auch das Spannungsfeld zwischen Authentizität und Literarizität, indem der Text die Frage nach dem Verhältnis von Leben und literarischer Repräsentation eröffnet. Die ästhetische Umsetzung als Text besitzt möglicherweise noch Verweis-

116 Winkels: Einschnitte, S. 245. 117 Goetz: Irre, S. 134. 118 Ebd., S. 121. Analog dazu schreibt Goetz auch in seinem Internet Tagebuch Abfall für alle, das er von Februar 1998 bis Januar 1999 führte: „Und das ist das Schwierigste: der Wechsel, die Änderung, das andere Programm, Tagleben, Nachtleben. Die zusammen zu halten, zusammen zu bringen, Tag und Nacht, Tag für Tag.“ (Goetz: Abfall für alle, S. 704). 119 Vgl. Doktor/Spies 1997, S. 119. 120 Goetz: Irre, S. 308.

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charakter auf eben das vitalistische Ereignis: „Da kann ich Ihnen nicht helfen, auch nicht mit noch so vielen Worten [...].“121 Im dritten Teil des Romans, Die Ordnung, tritt Raspe als Ich-Erzähler in den Vordergrund der Handlung, wobei geschildert wird, wie er sich immer mehr von der belastenden Arbeit in der Psychiatrie ab- und dem Kulturleben zuwendet. Was Raspe in der Psychiatrie passiv wahr- und hinzunehmen gezwungen war – von seinen gelegentlichen nächtlichen Streifzügen abgesehen – werde nun, so Winkels, von einem ‚Ich‘ „bis zum Exzess“ ausagiert: „Ungerechtigkeit, Vernichtung, Haß, Unverständnis, Raserei, Schmerz.“122 Raspe, der sich zu diesem Zeitpunkt des Romans kaum noch vom Autor Goetz unterscheiden lässt, versucht, „die ganze IrrenhausHölle“123 hinter sich zu lassen und schreibend gegen sein Ohnmachtsgefühl anzukämpfen bzw. seine disparaten Erfahrungen zu ordnen. Dabei bedient er sich, ganz dem Punk-Gestus verpflichtet, des Prinzips der Selbstermächtigung und montiert eine Vielzahl an popkulturellen Elementen in seine Texte: „Eine Offensive gegen das Verstummen. Schreiben mit einem radikalen Anspruch auf Wahrheit, der einer quälenden Erfahrung geschuldet ist, der Erfahrung eines ‚Risses, der durch die Welt geht‘ [...] Hier ist es der Riß, der der zwischen Zeichen, Wort, Kultur, Überbau auf der einen Seite, Wirklichkeit, Leid, Material, Aktion auf der anderen verläuft.“124

Der dritte Teil von Irre besteht, im Gegensatz zu den ersten beiden Abschnitten des Romans, aus einer Mischung aus Fremd- und Eigentexten, die von einer großen stilistischen Vielfalt geprägt sind, und beinhaltet zudem eine Anzahl an privaten Fotos und Collagen, Comic-Strips aus Disney-Heften und Abbildungen aus einem Anatomieatlas. Weiter verwendet Goetz Klischees, Szenejargon und Umgangssprache, nennt Institutionen, Namen, Daten und Fakten, entwickelt – im Sinne Kerouacs und Brinkmanns – einen ‚Film in Worten‘ und zitiert u. a. Maler sowie Musiker.125 Dieses Konglomerat aus popkulturellen Zeichen und Schreibweisen dient primär dazu, sich jeder Verallgemeinerung, jeder Genreoder Stilzuordnung zu entziehen und, wie Hubert Winkels bemerkt, einen Raum

121 Ebd. 122 Winkels: Einschnitte, S. 247. Vgl. auch: „Ich wollte also in der ICHFORM fortfahren [...]“ (Goetz: Irre, S. 258). 123 Goetz: Irre, S. 234. 124 Winkels: Einschnitte, S. 248f. 125 Vgl. ebd., S. 249.

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zu erschaffen, „in dem die Reden weder diskursive Verständigungs- noch kunstvolle Imaginationsangebote sind, sondern Ereignisse“.126 Dieser „Krieg der Zeichen“127, der laut Winkels die literarische Produktion von Goetz bestimmt, ist dabei dem ‚semiotischen Guerillakampf‘ abgeschaut, der, wie aufgezeigt, die ästhetische Grundlage der Punk-Bewegung bildet. Spürbar wird diese Auseinandersetzung um die Vorherrschaft über die linguistischen und ideologischen Kategorien auch in Goetz’ stetigem Bestreben, alles ‚zu kontrollieren‘, um die mediale Informationsflut zu bändigen. Dergestalt versieht Goetz z. B. seine Collagen aus Zeitungsausschnitten, Fotos und eigenen Texten, die er seiner Textsammlung Hirn beifügt, mit dem Vermerk ‚KONTROLLIERT‘ und benutzt in verschiedenen Kontexten immer wieder den Terminus ‚Kontrolle‘.128 Neben diesem Prozess der Kontrolle bzw. Neuordnung und Rekontextualisierung von Objekten, welcher dazu dient, die mediale Informationsflut abzuwehren und neue Bedeutungen zu kommunizieren, bietet der Umgang mit dem Zeichenrepertoire der populären Kultur Goetz die Möglichkeit, ein autonomes Subjekt zu konstituieren, das nicht mehr vom familiären Sozialparadigma, d. h. von familiären Bindungen und Konflikten, abhängig ist, sondern vom öffentlich-kulturellen Raum gebildet wird129: „Die Gleichung mit den fünf nicht Unbekannten Haß, Kunst, Terror, Schönheit, Punk löste sich im ich zur Lösung, ich bin, was ich bin, kraft Kraft des Punk, alles, was ich weiß, weiß ich im Namen des Wissens des Volkes vom Pop.“130 Nur auf den ersten Blick wirkt die Hinwendung zur Techno-Musik und Rave-Kultur, die Goetz – wie in den folgenden Kapiteln aufgezeigt wird – Ende der 80er Jahre vollzieht, wie ein Abgesang auf den subversiven und medienkritischen Ethos der Punk-Bewegung. Für Goetz ergibt sich dieser Schritt zwangsläufig aus seiner in seinem schriftstellerischen Werk immer wieder spürbaren Pop-Euphorie, die ihn jeglichen innovativen musikalischen Entwicklungsschub mit Begeisterung aufgreifen lässt, analog dem Punk-Gestus, sich der vielfältigen popkulturellen Konzeptionen zu bedienen und sich zugleich ihre strategischen und operativen Strategien anzueignen, um der literarischen Rede eine Vielzahl an neuen Beschreibungsmöglichkeiten der Gegenwart zu eröffnen.

126 Ebd. 127 Ebd., S. 247. 128 Vgl. z. B. Goetz: Hirn, S. 129-131. 129 Vgl. Winkels: Einschnitte, S. 252f. 130 Goetz: Kontrolliert, S. 149.

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5.3 R AVE -K ULTUR : D AS NICHTDISKURSIVE T ANZ -E REIGNIS „Die Nacht gehört den Tanzenden.“131

Mit der gleichen Leidenschaft, die Goetz der Punk-Bewegung entgegengebracht hat, begrüßt er im Jahr 1989 in dem Erlebnisbericht Drei Tage, den er für das Magazin Spex anfertigt, das Aufkommen der sogenannten Acid-House-Musik, einer Spielart der elektronischen Tanzmusik, die sich u. a. dadurch auszeichnet, dass sie einen treibenden Four-to-the-floor-Beat (Bassdrum auf jeder Viertelnote) besitzt, sehr minimalistische Strukturen aufweist, mit einer Vielzahl an synthetischen Klängen arbeitet und zumeist ohne Gesang auskommt: „Und zur noch richtigeren Musik, im Herzschlagmaß der beats per minutes wurde der IQ für alles neu bestimmt (fft fft fft fft fft ssptssptsspt fft fft fft fft fft fft sspt sspt sspt fft fft fft fft), can you feel it, wurden die Arme zu nervösen Dendriten, die den menschlichen Leib, die Welthirnzelle, mit der Umwelt der tanzend elektrifizierten übrigen Hirne neuartig verknüpfen zum Kollektivspaßkörper. Release your Body.“132

Die Acid-House-Musik, deren repetitive und beatlastige Klangstruktur Goetz in dem Spex-Artikel mittels onomatopoetischer Schreibweise zu transkribieren versucht (inklusive der klassischen House-Samples „can you feel it“ und „release your body“), ist eine Stilrichtung der sogenannten House-Musik, die sich Anfang der 1980er Jahre in den amerikanischen Metropolen Chicago und New York herausgebildet hatte. DJs133 wie Frankie Knuckles und Larry Levan erkannten in dieser Zeit die euphorisierende Wirkung monotoner Rhythmus-Passagen und mischten z. B. Disco-, Funk-, Soul- und Elektropop-Elemente aus Europa (z. B. Kraftwerk)134

131 Böpple/Knüfer 1998, S. 142. 132 Goetz: Kronos, S. 258. 133 Während der jamaikanische Deejay – wie im vorangegangenen Teil dieser Arbeit ausgeführt – über ein Instrumentalstück (riddim) spricht bzw. singt (toasted), Lieder ankündigt bzw. das Publikum animiert, ist die Aufgabe des DJs die Auswahl des musikalischen Materials, das er im Laufe seines Sets gekonnt ineinander mischt, um Menschen zum Tanzen zu animieren. 134 Schon 1982 hatte der New-Yorker Hip-Hop-DJ Afrika Bambaataa zusammen mit The Soul Sonic Force den dreizehn Minuten langen Track Planet Rock produziert und da-

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zu ausufernden Dancetracks, indem sie nur die monotonen Zwischenstücke der Songs collagierten. Diese neuen Ansätze wurden gegen Mitte der 1980er Jahre in Chicago und Detroit zu den musikalischen Spielarten Acid-House und Techno weiterentwickelt, wozu insbesondere der Bassline-Generator TB 303 der Firma Roland beitrug, der einen ausgesprochen rauhen Klang besaß. Acid-House entwickelte sich in Chicago als ein Ableger der dortigen House-Musik: Als DJ Pierre und sein Freund Spanky sich mit dem neu erworbenen TB 303 beschäftigten, wollten sie ihn zunächst so benutzen, wie in der Bedienungsanleitung des Herstellers beschrieben, um ganz gezielt Basslines für ihre Tracks zu generieren. Schnell entdeckte DJ Pierre aber, dass sich mithilfe dieses Gerätes die Beats der Bassline auf vielerlei Art und Weise transformieren ließen135: „We were trying to figure out what knobs do what. The machine already had acid in it. At first I thought it was some kind of shit we gotta erase out of it before we programm it. Spanky had a 15-minutes beat track he programmed a couple of days earlier, it was just the beat that was happened to be playing and I kept turning the knobs to see what kind of effect they had on the bassline.”136

Aus diesem musikalischen Experiment entstand u. a. das Stück Acid Trax, ein minimalistisches und flirrendes Soundgebilde, bei dem unter Einsatz des TB 303 stetig die Klangfarbe moduliert wurde. Acid Trax gilt als einer der ersten AcidHouse-Tracks und wurde von DJ Pierre und Spanky 1987 unter dem Projektnamen Phuture veröffentlicht.137 In Detroit, einer amerikanischen Stadt, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst in einem enormen Tempo prosperierte, um ab 1950 aufgrund einer desaströsen Stadtplanung, einer industriellen Monokultur mit extremer Krisenanfälligkeit sowie sozialen und politischen Verwerfungen immer weiter zu verfallen, taucht der Begriff Techno zum ersten Mal im musikalischen Diskurs auf, als

bei die Melodie von Kraftwerks Trans-Europa-Express mit Rap-Elementen gemischt. Bis heute gilt der Track als Blueprint für DJ-Culture, Electro und Techno (vgl. Schäfer/Schäfers/Waltmann 1998, S. 14). 135 Vgl. Poschardt 1997, S. 292f. 136 Zitiert nach Poschardt 1997, S. 293. 137 Vgl. die Doppel-CD Can You Jack? - Chicago Acid & Experimental House 1 (Soul Jazz 2005), die sowohl Acid Trax von Phuture als auch Tracks von Marshall Jefferson, DJ Pierre und Adonis enthält. Zudem finden sich auf den CDs auch eine Vielzahl an raren und experimentellen Stücken, welche die stetige Ausdifferenzierung der Szene verdeutlichen.

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die DJs Juan Atkins, Kevin Saunderson und Derrick May Mitte der 1980er Jahre neuartige Computer-Sounds erschufen. Dabei mischten sie z. B. funkige Bässe mit kühlen Electro-Pop-, EBM-138 und Industrial-Beats und erweiterten diesen noisigen Grundrhythmus mit einer verzerrten Vokoderstimme und minimalistischen Melodiebögen.139 Dabei wurden Atkins und seine beiden HighschoolFreunde, wie sie in vielen Interviews immer wieder betonen, zudem von der Radio-Sendung von Electrifying Mojo (Pseudonym des DJs Charles Johnson) beeinflusst, der u. a. New Wave, Jazz, Punk, Soul und Rap spielte. Auch wenn der Paradigmenwechsel, der mit dem Aufkommen von Techno-Musik eintrat, oftmals als radikaler Bruch mit bereits existenten musikalischen Entwicklungen bezeichnet wird, so ist Techno als Musikform dennoch nicht ex nihilo entstanden, sondern vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl nachvollziehbarer Entwicklungsstränge im Bereich moderner Klangforschung, die zum Teil auch auf die sonischen Experimente der Avantgarde und der sogenannten Neuen Musik (wie z. B. serielle Musik, Zwölftonmusik, Aleatorik, elektronische Musik, Minimal Music, Algorithmische Komposition, Musique concrète, Futurismus, neodadaistische Happenings und Collagen etc.) verweisen.140 Allen diesen Strömungen ist gemeinsam, dass sie sich gegen tradierte musikalische Vorstellungen wenden, gängige Stilmittel (Harmonik, Melodik, Rhythmik, Form Orchestration etc.) einer radikalen Umwertung unterwerfen und technische Neuerungen (Schallaufzeich-

138 Die Abkürzung EBM steht für Electronic Body Music, ein in den frühen 80er Jahren aufkommender Musikstil, der sich durch monotone Sequenzerpassagen, treibende Rhythmen und parolenartigen Gesang auszeichnet. 139 In Europa soll der Begriff Techno schon 1982 von dem Frankfurter DJ Andreas Tomalla (alias Talla 2XLC) zur Bezeichnung von elektronischer Musik in allen ihren Spielarten (EBM, Industrial, New Wave etc.) verwendet worden sein. Tomalla veranstaltete in Frankfurt seit 1984 auch den sogenannten Techno-Club, eine Veranstaltung, auf der jegliche Spielart der elektronischen Tanzmusik aufgelegt wurde. Zudem verfasste Tomalla schon seit 1989 Artikel für das von Jürgen Laarmann und Stefan Weil gegründete Fanzine Frontpage, ein Szenemagazin für elektronische Tanzmusik und Techno-Kultur (vgl. Schäfer/Schäfers/Waltmann 1998, S. 312). Bezeichnenderweise nennen viele Techno-DJs und -Produzenten z. B. Musiker wie Kraftwerk, Throbbing Gristle, Front 242, Nitzer Ebb, DAF, Der Plan und Pyrolator als Initialzündung für ihre eigenen musikalischen Aktivitäten. 140 Zum musikalischen Futurismus vgl. Kämper 1999. Zur Entwicklung der sogenannten Minimal Music, die ganz entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der TechnoMusik hatte, vgl. Lovisa 1996. Zur Geschichte der elektronischen Musik vgl. Ruschkowski 2010.

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nung, Rundfunk, Tonband etc.) nach ihrem musikalischen Potential betrachten, welches erforscht und für kompositorische Versuche genutzt werden kann. Die elektroakustischen Experimente des amerikanischen Künstlers John Cage (Tonband- und Radiocollagen; Einsatz von Phonographen als Musikinstrument; Einführung des Zufallselements; multimediale Happenings etc.) und des aus Deutschland stammenden Komponisten Karlheinz Stockhausen (Tonbandkompositionen durch Manipulation der Geschwindigkeit und Zerschneiden der Bänder; Verwendung von Ringmodulatoren, Klangfilter und Verzerrer; Erzeugung von rein elektronischen Klängen etc.) bilden dabei nur zwei prägnante Beispiele für den affirmativen Umgang mit den neuen Möglichkeiten der Klangaufzeichnung und -manipulation.141 Als wichtigen Ausgangspunkt sowohl für die Neue Musik als auch die Techno-Bewegung wird in der Sekundärliteratur oftmals das Manifest Die Kunst der Geräusche (1913) des italienischen Futuristen Luigi Russolo erwähnt, der einen als Bruitismus bezeichneten Stil entwarf, der sich neu konstruierter Geräuscherzeuger, Intonatoren genannt, bediente. Russolo setzte sich vehement dafür ein, den „engen Kreis reiner Töne“ zu durchbrechen und „den unerschöpflichen Reichtum der Geräusch-Töne“ zu erobern142, um der Musik eine „neue akustische Sinnlichkeit“ zu verleihen143 und Klangräume zu eröffnen, die der zunehmenden Industrialisierung, die in dieser Zeit alle Lebensbereiche zu erfassen begann, Rechnung zu tragen. Dabei darf sich, so Russolo, „die Kunst der Geräusche nicht auf ihre bloße Nachahmung beschränken“144: „Nicht durch Geräuschabfolgen, die das Leben nachahmen, sondern erst mittels einer fantastischen Verknüpfung verschiedener Klangfarben und Rhythmen kann das neue Orchester seine kompliziertesten und neuesten Klangempfindungen erreichen.“145 Durch diese neuartige Einbeziehung von Geräuschen jedweder Art als formbares Klangmaterial erweist sich Russolo als Vorreiter synthetischer Klangerzeugung und -bearbeitung, dessen Vorstellung einer radikalen Geräusch-Ästhetik seinen

141 Vgl. Ross 2009. Einen guten Überblick über die elektroakustischen Klangexperimente von z. B. Pierre Schaeffer (Étude Aux Chemins De Fer), Edgar Varèse (Poème Électronique), John Cage (Imaginary Landscape) und Karlheinz Stockhausen (Gesang der Jünglinge) bietet die Doppel-CD Music Of The Pioneers Of Electronic Sound (Chrome Dreams 2010). 142 Russolo 2000, S. 7. 143 Ebd., S. 76. 144 Ebd., S. 11. 145 Ebd., S. 13.

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Niederschlag u. a. sowohl im Bereich der Soundinstallationen und der Neuen Improvisationsmusik als auch in der Industrial- und Techno-Musik gefunden hat. Auf seine ganz eigene Art und Weise bildete auch der rauhe und enervierende Techno-Sound, der Mitte der 1980er Jahre aus Detroit kam, den Soundtrack für eine Stadt, die sich in dieser Zeit durch Jugendarbeitslosigkeit, Rassendiskriminierung und hohe Gewaltkriminalität auszeichnete und von vielen Bewohnern als kalt und bedrohlich empfunden wurde: „In Detroit, einer dem wirtschaftlichen Niedergang geweihten Stadt der Automobilindustrie, ist der maschinelle Techno-Sound der Beat einer urbanen Industriewüste.“146 Bezeichnenderweise veröffentlichte im Jahr 1985 Juan Atkins zusammen mit Richard Davis unter dem Pseudonym Cybotron die Single Techno City, einen fast sieben Minuten dauernden Track, der Soul-, Funk- und Disco-Elemente mit kühlem Electronic Sound verbindet. Der Projektname Cybotron weist zudem darauf hin, wie sehr es im Bereich der Techno-Musik – ebenso wie bei Kraftwerk – darum ging, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine aufzulösen und als Urheber gänzlich hinter den klangerzeugenden Geräten bzw. der musikalischen Produktion zurückzutreten.147 Als Vorbild für die musikalische Produktion bezogen sich u. a. Juan Atkins als auch das us-amerikanische Label und DJ-Kollektiv Underground Resistance nicht nur auf die revolutionäre und futuristische Ästhetik einer Formation wie Kraftwerk, sondern auch auf das 1980 im Original erschienene Buch Die dritte Welle, in dem der amerikanische Futurologe Alvin Toffler u. a. den Anbruch einer neuen technologischen Ära beschreibt und den Begriff ‚TechnoRebellen‘ als Bezeichnung für die Avantgarde des postindustriellen Zeitalters proklamiert.148

146 Klein 2001, S. 170. 147 Vgl. Poschardt 1997, S. 326. Schon auf der LP Enter (Fantasy 1983) hatten Cybotron als frühe Elektroband den Funk von George Clinton mit dem Techno-Pop von Kraftwerk zu einem hypnotischen, futuristischen Proto-Techno vereint. Nach Auflösung von Cybotron arbeitet Atkins u. a. unter den bezeichnenden Pseudonymen Infiniti und Model 500. Unter dem Titel Techno! The New Dance Sound Of Detroit erschien 1988 die erste Compilation auf dem Label 10 Records und verschaffte der Szene in Detroit weltweite Beachtung. Zur Geschichte von Detroit-Techno vgl. auch Hanf 2010; Sicko 2010. 148 Die ‚Techno-Rebellen‘ bilden, laut Toffler, die Vorhut für ein postindustrielles Zeitalter, da sie die Zeichen des Umbruchs erkannt haben und eine „Humanisierung des ungestümen technologischen Fortschritts“ einfordern, die auf basisdemokratischen Entscheidungen und auf ökologischen Prinzipien basiert; dabei stehen, so Toffler, die ‚Techno-Rebellen‘ den technologischen Entwicklungen keineswegs skeptisch bzw.

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Dabei war der Beginn der musikalischen Ausdifferenzierung der TechnoMusik, wie auch der französische DJ Laurent Garnier in seiner autobiographisch gefärbten Geschichte der elektronischen Tanzmusik zu berichten weiß, oftmals mit der „Punkhaltung des Do-It-Yourself“ verbunden; „es war Learning By Doing, ich versuchte, den Maschinen gut zuzureden, damit ich die gewünschten Sounds aus ihnen herausbekam“.149 Doch nicht nur die Produktion von TechnoTracks war in der Anfangszeit der Bewegung dem Punk-Ethos verpflichtet, auch der Vertrieb und die Vermarktung der musikalischen Produkte und die Promotion für Tanz-Events war dem Do-It-Yourself-Prinzip unterworfen und fußte auf teilweise unabhängigen Strukturen, so dass in der Folgezeit z. B. eine Vielzahl an autonomen Plattenlabels und Veranstaltungsorten entstanden.150 Heute werden nicht selten die differenten Stile der elektronischen Tanzmusik unter dem Oberbegriff Techno subsumiert, obwohl Techno, wie beschrieben, nur eine Spielart der House-Musik darstellt. Nach Europa gelangte House erst Mitte der 1980er Jahre, wobei primär die von Goetz euphorisch beschriebene Acid-House-Bewegung und die damit einhergehende Rave-Kultur151 zunächst in Großbritannien großen Anklang fand.

ablehnend gegenüber – vielmehr sehen sie im rasanten Fortschritt die außergewöhnliche Möglichkeit, die neuen Technologien effizient zum Nutzen der Menschen und der Natur einzusetzen: „Die Techno-Rebellen meinen, daß wir die Technik kontrollieren sollen und nicht umgekehrt sie uns und daß ‚wir‘ nicht länger nur eine kleine Elite von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Politikern und Geschäftsleuten sein können.“ (Toffler 1980, S. 165). 149 Garnier/Brun-Lambert 2005, S. 164. 150 Wie auch der von den Journalisten Felix Denk und Sven von Thülen erstellte Interviewband Der Klang der Familie deutlich macht, war auch die Entwicklung der deutschen Techno-Szene zu Beginn stark vom Do-It-Yourself-Prinzip bestimmt: So nutze die aufkommende Techno-Bewegung z. B. exzessiv die unklaren Besitzverhältnisse nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und besetzte die entstandenen Freiflächen für ihre Veranstaltungen. 151 Als Rave bezeichnet man große, in Clubs oder auf Open-Air-Geländen stattfindende Tanzveranstaltungen mit elektronischer Musik. Als Synonym für eine exzessive Feierkultur wurde der Begriff ‚rave‘ (phantasieren, toben, rasen) zunächst in Jamaika verwendet, etablierte sich aber schließlich innerhalb der von farbigen Einwanderern beeinflussten Tanzkultur in England: „With its multiple connotations – delirium, madness, frenzied behaviour, extreme enthusiasm, the Black British idea of letting off steam at the weekend – ‚raving‘ perfectly described the out-of-control dancing of the acid scene in 1988.“ (Reynolds 1998, S. 64f.) Im Zuge des immer stärker werdenden

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Englische DJs hatten House-Musik im Urlaub auf der Insel Ibiza kennengelernt und veranstalteten nun auch u. a. in London „Ibiza Reunion Parties“, auf denen eine „Mischung aus Chicagoer Acid-House, Independent-Gitarrenmusik und Hip Hop“ gespielt wurde: „Stilistisch klarer als die Musik war von Anfang [an] die Mode – nur Sommerkleidung, vor allem weite T-Shirts – und das viele Trockeneis, vom Stroboskoplicht zerhackt, das die Clubs in unwirkliche Landschaften verwandelte.“152 Ebenso entwickelte sich in Manchester im Hacienda-Club eine agile und eigenständige Clubszene, die Acid-House-Elemente mit Gitarrenmusik zum sogenannten Manchester-Rave vermischte, wobei z. B. Live-Auftritte von Bands wie Primal Scream oder den Stone Roses mit der Performance von House-DJs einhergingen. Dieses offene und vielschichtige Party-Konzept führte dazu, dass immer mehr Künstler verschiedener Richtungen für bestimmte Projekte fusionierten und Veranstaltungen ins Leben riefen, die eine Mischung aus Tanzclub, Konzert und Multimedia-Show darstellten. Colin Angus, Sänger und Bassist der schottischen Band The Shamen, die psychedelische Pop-Elemente mit TechnoBeats mischten, beschreibt diese innovative Form der Performance, die eine Vielzahl synergetischer Effekte hervorrief, folgendermaßen: „Rave ist die Entertainmentform der Zukunft! Früher oder später wird sich das auch in Europa durchsetzen und die langweiligen, veralteten Rockkonzerte wegblasen! Das ist unser Gefühl, seit wir die Acid-Szene entdeckt haben. Rockmusic’s is a goner, zweifellos. Raves sind so viel mehr Spaß und musikalisch besser als alles, was mal Disco war. Der Unterschied zu Disco von früher ist [...], daß es andere Gründe sind, die die Leute da hinbringen. In die Disco ging man doch nur, um Frauen aufzureißen. Jetzt geht es darum, Gemeinsamkeit zu erleben, um eine gemeinsame soziale Erfahrung, ein Lebensgefühl. So gesehen sind unsere Wurzeln noch in den Sixties. Beim Rave geht es um die Kombination aus Drogen, Licht und Musik. Natürlich gibt es das eskapistische, hedonistische Moment. Aber entscheidend am Event ist das Gemeinsamkeitsding. Peace, Love, Unity, so was in der Art.“153

Auf die Acid-House- bzw. Rave-Bewegung war Goetz, laut eigener Aussage, durch den Artikel Der Acid-Wahn von Lothar Gorris in dem Lifestyle-Magazin

Interesses der Medien an diesem kulturellen Phänomen wird der Begriff Rave oftmals auch als Begriff für kommerziell erfolgreiche Techno-Musik verwendet, die auf größeren Veranstaltungen (Love Parade, Mayday) aufgelegt wird. 152 Poschardt 1997, S. 292. 153 Zitiert nach ebd., S. 299.

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Tempo aufmerksam geworden: „Das ist es, war sofort klar. Sofort bin ich mit dem Auto über Paris nach London gefahren, wo ich mich aber nirgends rein getraut habe. Aber allein die Mode in echt zu sehen, hat mich mit einem Schlag wieder alles glauben lassen, was all die Zeitschriften zwischen I-D, NME, Face und den anderen in Bildern und Geschichten erzählten.“154 Schon im September 1988 besucht Goetz im Münchner Stadtteil Oberföhring eine Acid-House-Party und fühlt sich, wie er zu berichten weiß, trotz (oder gerade wegen?) „Schlägerei, Polizei, zusammengebrochner Anlage [...] soo glücklich“; dieses Glücksgefühl schreibt Goetz dem „DJ.: mix master G. HELL“ zu: „Das vergesse ich dem nie. Incipit vita nova.“155 Durch diese musikalische Initialzündung bestärkt, wird die

154 Goetz: Kronos, S. 265. 155 Ebd. Diese Aussage veranlasst Thorsten Rudolph in seiner Dissertation irre/wirr: Goetz. Vom ästhetischen Terror zur systemischen Utopie zu der Feststellung, dass das Schreiben von Goetz durch einen Bruch „hinsichtlich der epistemologischen Voraussetzungen, der ästhetischen Umsetzung und der politischen Implikationen“ (Rudolph 2008, S. 16) gekennzeichnet sei. Während in Irre, so Rudolph, die „Sozialität mitin bloß als eine kollektive Vereinzelung der Wahnsinnigen“ (ebd., S. 118) dargestellt würde, trete in dem Roman Rave das die Vereinzelung aufhebende „tanzende Kollektiv“ (ebd., S. 16) in den Vordergrund, das „keine Position eines revolutionären Dagegen“ (ebd., S. 19) mehr kenne. Laut Rudolph korrespondiert dieser Paradigmenwechsel mit dem Umschwung von der Punk- zur Techno-Bewegung, den Goetz in den 1990er Jahren vollzieht. Auch Jochen Bonz konstatiert, dass „die Orientierung an der Popkultur zugleich eine Konstante wie auch einen Bruch in Goetz’ Werk markiert“ (Bonz: Punk als Medium der Entäußerung, S. 12). Dennoch: „Was von Rudolph nicht erkannt wird, ist [...] die spezifische Funktion, welche die jeweilige Sprache des Pop bei Goetz zukommt. Sie fungiert nicht, wie etwa für die Subjekte der jeweiligen Subkultur selbst, als Medium, in dem die Wirklichkeit erscheint. Sie dient vielmehr als Medium der goetzschen Praxis der Entäußerung. Mit ihren Mitteln wird die Entäußerung ästhetisch realisiert. Rudolph ließt den mit Punk verbundenen ästhetischenTerror der frühen Prosa als Infragestellung gesellschaftlicher Konventionen und damit als Infragestellung der Idee von Gemeinschaft überhaupt. Im Gegensatz dazu sieht er in den mit Techno verbundenen Texten gerade den utopischen Entwurf einer Gemeinschaft. Und sicher liegt es zunächst näher, die Entäußerung im Zusammenhang mit Techno zu sehen – entspricht sie beispielsweise doch der enormen Produktivität, welche die rund um Technomusik bestehende Kultur entfaltet. Dagegen ist Punk mit Hass konnotiert. Auch er lässt sich allerdings als Medium der Entäußerung begreifen, wie ein [...] Blick auf die kulturwissenschaftliche Literatur zu Punk zeigt.“ (Ebd.) Dergestalt sieht Bonz den Unterschied zwischen der Punk- und Techno-Kultur auch

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nachfolgende Zeit für Goetz zum „festfeierndster Herbst seit vielen Jahren“: „Die nettesten Menschen waren plötzlich überall unterwegs, wo Acid drauf stand.“156 Die Acid-House-Bewegung hat, laut Goetz, auf einen Schlag die ganze Ausgehkultur revolutioniert: „Neue Könige, neue Fürsten, eine echte Revolution im Leben der Nacht [...].“157 Goetz, der, laut eigener Aussage, aus Angst vor „psychotropen Drogen“ bislang nur zwischen der „Nüchterndroge Text“ und der „ebenso stieren Droge Bier“ unterschieden hat158, sammelt erste Erfahrungen mit Ecstasy-Pillen und stürzt sich mit Begeisterung in die im Entstehen begriffene ‚Raving Society‘, die sowohl neue Verhaltensweisen und Umgangsformen beinhaltete als auch eine progressive musikalische Praxis hervorbrachte, die bis heute die elektronische Tanzmusik bestimmt und von einer stetigen Ausdifferenzierung musikalischer Stile geprägt ist. In Holland entwickelte sich zunächst eine sehr schnelle und aggressive Form der elektronischen Tanzmusik, die vorwiegend aus staccatohaften und verzerrten Bassdrumschlägen bestand und als Gabber bzw. Hardcore bezeichnet wurde. Aus dem „Drang nach einer neuen Langsamkeit und musikalischen Harmonie“159 entstand in den frühen neunziger Jahren der musikalische Stil Trance, der verstärkt auf Harmonik, Akkorde und Melodien setzte und durch sich stetig wiederholende Klangstrukturen tranceartige Zustände bei den Hörern bzw. Tänzern hervorrufen sollte. Als Gegenbewegung

auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt: „Anstatt, wie andere Subkulturen der Popgeschichte, in einem einmaligen Negations- und Konstruktionsakt eine zur dominanten symbolischen Ordnng alternative Welt von Bedeutungsträgern und Bedeutungsinhalte hervorbringen und diese im Weiteren aufrechzuerhalten und gewissermaßen einfach zu bewohnen, verharrt der Punk auf einer anderen semiologischen Ebene, derjenigen der Zerstörung und Hervorbringung von Bedeutungsträgern, der Ebene der Entäußerung an und für sich.“ (Ebd., S. 13-14.) Hier, so Bonz, würden sich Punk und Techno berühren: „Der Unterschied besteht nur darin, dass in der Kultur des Techno weitgehend das Moment der Negation verschwunden ist. Permanente Zu- und Abnahme, Auflösung und Konstruktion von Bedeutung bilden jedoch auch hier das semiologische Charakteristikum. Es ist deshalb nicht einfach die Popkultur an sich, an der sich Goetz’ Werk ausrichtet, um ein Subjekt einer Welt zu entäußern. Es sind genauer diejenigen Popkulturen seiner Zeit, die selbst wesentlich Kulturen der Entäußerung sind.“ (Ebd., S. 14; vgl. auch Bonz: Subjekte des Tracks.) 156 Goetz: Kronos, S. 268. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 269. 159 Schäfer/Schäfers/Waltmann 1998, S. 20.

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zu den kommerziellen Bewegungen im Bereich der elektronischen Musik und den damit einhergehenden Chartplatzierungen entstanden die musikalischen Spielarten Intelligent-Techno, Electronica, Ambient-Techno und Minimal-Techno, wobei die „Verfeinerung und Ausforschung neuer Klänge und Konzepte“ in den Vordergrund rückte.160 Diese stetige Ausdifferenzierung musikalischer Stile und Szenen, die bis heute andauert, hat dazu geführt, wie auch Diedrich Diederichsen konstatiert, dass es zu einer „Inflation an Kategorien und Kategorieformeln“ gekommen ist161: Hard-Trance, Goa, Goa-Trance, Minimal-House, AcidTrance, Jungle, Trip-Hop, Drum & Bass, Hardcore Drum & Bass, Techstep, Dubstep etc. Bis dato entstehen sowohl immer mehr Subkategorien als auch neue Genre-Bezeichnungen, um die kaum noch zu überblickende Vielfalt der hybriden Klangformen der elektronischen Tanzmusik stilistisch einordnen zu können. Diese Inflation der Genre-Zuschreibungen ist nicht nur ein Zeichen für die rasante Ausdifferenzierung der elektronischen Tanzmusik, sondern zeugt sowohl von einem Wunsch nach Zuschreibungen, die dem Hörer die Auswahl erleichtern, als auch von der Schwierigkeit, die sich stetig ausweitenden und vermischenden musikalischen Spielarten begrifflich zu erfassen. In einer Reihe von Artikeln, die in Zeitschriften wie z. B. Spex, Tempo und Die Zeit veröffentlicht wurden, versucht Goetz Ende der 1980er Jahre zunächst, sich dem Thema Techno- sowie Rave-Kultur anzunähern und sowohl das handwerkliche Geschick des DJs als auch seine eigenen Erlebnisse mit dieser neuen Form des musikalischen Ausdrucks, bei dem nicht eine Band und die Bühne, sondern der Sound, die Tanzfläche und die Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen, zu beschreiben – wobei der ausgesprochen subjektive und literarische Tonfall, in dem diese Ausführungen gehalten sind, im Gegensatz zu den üblichen journalistischen Schreibweisen steht. Dabei geht es Goetz nicht nur darum, wie das Eingangszitat dieses Kapitels nahelegen könnte, allein die irritierende Kraft der Musik, welche die Menschen auf der Tanzfläche vereint, onomatopoetisch zu erfassen, um die strategische Benachteiligung der literarischen Rede in ihrer Darstellung von Wirklichkeit zu umgehen. Vielmehr ist Goetz bestrebt, das „Sozialexperiment Dance“162 in allen seinen innovativen Facetten zu erfassen, indem er – in Anlehnung an die DJ-Culture und die damit einhergehende Rave-Bewegung – einen mehr an der sozialen Praxis orientierten literarischen Diskurs anstrebt und u. a. versucht, alle akustischen und optischen Eindrücke zu verarbeiten, die während eines Raves auf die Besucher einströmen. Bei diesem stetigen Ringen um

160 Ebd., S. 18. 161 Diederichsen: Es streamt so sexy, S. 68. 162 Goetz: Celebration, S. 232.

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eine – im Sinne Rolf Dieter Brinkmanns – ‚neue Sensibilität‘ in der Literatur, die sich ganz explizit am unmittelbaren Erleben ausrichtet und populärkulturelle Entwicklungen nicht negiert, ist Goetz immer darum bemüht, seinen Texten eine gewisse sinnliche Plausibilität zu verleihen, welche die eigenen, subjektiven Eindrücke und die – oftmals gestörte und wirre – Kommunikation unter den anwesenden Party-Besucher adäquat beschreibt: „Ich hatte mir das machbar vorgestellt, einen Realismus abstrakterer Art, der seine eigene Plausibilität für sich haben würde. Wo man beim Lesen sagen würde, ja, stimmt, so fühlt sich das manchmal an, im Denken.“163 Wobei es Goetz um ein distanzloses Aufgehen der Literatur in der Alltagskultur geht, während Rolf Dieter Brinkmann zunächst nur bestrebt war, den Begriff einer um ‚Fortschritt‘ bemühten Literatur durch einen auf ‚Erweiterung‘ durch die Alltagskultur abzielenden Literaturbegriff zu ersetzen. Dieser ästhetische Ansatz steht in den Texten von Goetz im direkten Spannungsverhältnis zu der Vorstellung, dass jede nachträgliche schriftliche Fixierung von Erlebnissen und Eindrücken – wie aufgezeigt – sowohl bestimmten Formfindungs- und Selektionsprinzipien als auch Prozessen der Fiktionalisierung und Literarisierung unterworfen ist und zudem nie gänzlich frei von (selbst-)reflexiven und diskursiven Ausführungen gehalten werden kann. Dieses stetige Suchen nach einer stimmigen Erzählweise und das produktive Scheitern an dieser schriftstellerischen Vorgabe bilden das eigentliche Antriebsmoment der Texte von Goetz: Wie ein perpetuum mobile umkreist er die Diskurse der Mediengesellschaft in allen ihren Facetten, um u. a. die Funktionen des Literaturbetriebs zu entblößen (wie z. B. in Subito), die Sprache der Medien zu fingieren (wie in 1989) oder seine Erfahrungen mit der populären Kultur – insbesondere der populären Musik – zu beschreiben. Die bewusste ‚Annäherung‘ der literarischen Rede an die „Musikordnung der Worte“, die es, laut Goetz, „neben der Sinnordnung auch gibt“164, führt, wie das obige Zitat belegt, oftmals zu Schreibweisen, die sich „nur noch ganz außen an der Abstraktion der Sprachdinge“ bewegen und dadurch „die Benennungsfunktion der Sprache gegenüber ihrer Klang- oder Konnotationswelt völlig zurücktreten“ lässt.165 Doch, so Goetz, besteht in diesem „Reich des vollkommen Abstrakten“ immer auch die Gefahr, dass „Ideen, Konzepte, Starrsinn, Ideologie“166

163 Goetz: Dekonspiratione, S. 138. 164 Goetz: Abfall für alle, S. 689. In Abfall für alle spricht Goetz von einem „Aufgehobensein im Wortgesang“ (ebd., S. 290). 165 Goetz: Celebration, S. 183. 166 Ebd., S. 58.

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überhandnehmen und die literarische Rede hermetisch und unzugänglich wird.167 Während die Techno-Musik, laut Goetz, primär für den „Körper des Tänzers, Ravers, und nicht eines Einzelnen, sondern für den Körper im Kollektiv, für die Party aller mit allen“ produziert wird168 und somit – trotz oftmals hohem Grad an Imagination – der Gefahr der Unverständlichkeit entgeht, muss die Literatur immer die „Balance“ halten zwischen der „sinnliche[n] Alltäglichkeit der Sicht“ und der „Ideen-Sicht“.169 Wie schon angedeutet, geht es Goetz nicht um die reine Ausstellung des Sprachmaterials, da dies dazu führen würde, dass ein Text aufgrund seiner Unverständlichkeit seine eigentliche Bestimmung verlöre, die primär darin besteht, mit dem Leser zu kommunizieren. Deutlich wird hier zudem, dass Goetz – insbesondere durch seine Hinwendung zu den Zeitungen und Magazinen – beabsichtigt, die bis dato übliche Grenzziehung zwischen literarischer und journalistischer Rede aufzulösen, um neue Ausdrucksweisen zu erproben, die sich (aufgrund der Möglichkeit, u. a. direkt auf aktuelle Strömungen in der populären Musik zu reagieren, während das Schreiben und Veröffentlichen eines Romans oftmals Jahre in Anspruch nehmen kann) durch eine gewisse Unmittelbarkeit und Präsenz auszeichnen. Die kurzen Texte stehen dem Leser zeitnah zur Lektüre zur Verfügung, besitzen somit eine gewisse Aktualität und informieren über die rasante Entwicklung im Bereich der Techno-Musik. Dieses Netzwerk aus sowohl sich aufeinander beziehenden als auch stetig ändernden und oftmals widersprechenden Diskursen über populäre Kultur, das in Magazinen und Zeitschriften wie Spex und Tempo gespannt wurde und wird, bietet für Goetz in dieser Zeit die ideale Plattform, um seine mehr am persönlichen Erleben orientierte Sichtweise auf die DJ-Culture und Rave-Kultur zu erproben und zugleich durch seine subjektive und literarische Schreibweise aufzuzeigen, dass neben den z. B. in den Printmedien bis dahin flottierenden Diskursen noch andere Sprechweisen möglich sind, die dem realen Erleben innerhalb der Techno-Szene näherstehen. Dieses Eingebundensein in eine Vielzahl an Reflexionen über die aktuellen Strömungen der elektronischen Tanzmusik bezeugt zudem, dass Goetz mit enormer Wissbegier die in dieser Zeit kursierenden Diskurse zur Kenntnis nimmt und diese mit seinen eigenen Erfahrungen als Raver abgleicht. Damit geriert er sich zugleich als Beteiligter und Beobachter der Rave-Szene, der sich darum bemüht, sowohl die ästhetische und soziale Praxis der neuen Bewegung als auch die sich daraus entwickelnden Diskurse erst einmal zu beschreiben.

167 Vgl. Poschardt 1997, S. 318. 168 Goetz: Celebration, S. 58f. 169 Ebd., S. 183.

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Besonders deutlich wird dies im Text Hard Times, Big Fun, den Goetz im Jahr 1997 für das Zeit-Magazin verfasst hat und in dem er über seine Eindrücke beim Besuch der Love-Parade berichtet, bei der geschätzt eine Millionen Raver durch die Straßen Berlins zur Siegessäule zogen. Dem elitären und distanzierten Blick, den, laut Goetz, u. a. die Journalisten Diedrich Diederichsen, Tom Holert und Mark Terkessidis in ihren Artikeln und Aufsätzen gegenüber popkulturellen Entwicklungen und ihrer sozialen Praxis einnehmen, setzt Goetz in seinem Erlebnisbericht zur Love Parade eine Vorstellung des Verhältnisses von Pop und Masse entgegen, die vielmehr darin besteht, als Teilnehmer an einer Großveranstaltung vollkommen in der Masse der Raver aufzugehen und sich von diesem „außerordentlichen Kollektiv-Ereignis“170 vereinnahmen zu lassen: „Ein Beat, der die vielen vielen versetzt synchron bewegte, der Herzschlag, pumpend, für ein ganzes Kollektiv. Und jeder einzelne von diesen vielen war ganz offensichtlich vollkommen beglückt, dabei zu sein, gemeinsam mit den anderen der vielen gleichzeitig was Gleiches zu erleben.“171 Dieses „Glück der Teilhabe“172 erhält seinen Reiz, so Goetz, primär dadurch, dass es keinen Menschen ausschließt und dadurch von einem „simplen Paradox“ getragen wird, das „von innen her dauernd frische Luft erzeugt und in die Sache reingepumpt hat“ und somit immer „neu neue Gegenwart“ erzeugen konnte: „Abweichung, Individualität, Differenz, die an ihrer Selbstabschaffung arbeitet, um aufgehen zu können selig im Einen eines Gemeinsamen. Den Widerspruch zwischen Ich und allen also genau andersherum auflösen als cirka 45 Nachkriegsjahre lang selbstverständlich üblich und vernünftig war. Techno reproduzierte dabei, ohne es zu wissen, eine gesamtgesellschaftliche neue Realität.“173

Dieses Plädoyer für das ekstatische Erleben in der Masse und die damit einhergehende Auflösung jeglicher Individualität steht dabei im Widerspruch zu den kritischen und subjekttheoretischen Ansätzen von Diedrich Diederichsen, die dieser sowohl in seinen Büchern Sexbeat (1985), Freiheit macht arm (1993) und Politische Korrekturen (1996) als auch in diversen Artikeln – u. a. auch für die Zeitschrift Spex – entworfen hat. In einem Streitgespräch mit dem Magazin Texte zur Kunst bezeichnen die beiden Autorinnen Isabelle Graw und Astrid Wege den apodiktischen und zynischen Tonfall, in dem der Love-Parade-Artikel von

170 Ebd., S. 209. 171 Ebd., S. 205f. 172 Ebd., S. 209. 173 Ebd., S. 219.

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Goetz gehalten ist, als „totalisierend und mythisch“174 und werfen Goetz einen gewissen „Anti-Intellektualismus“ vor, der besonders von politisch konservativ denkenden Menschen häufig beschworen wird.175 Sowohl die Stilisierung der Techno-Bewegung zu einer „Ersatzreligion“176, wie sie Goetz im Love-ParadeArtikel vornehme, als auch die Polemik gegenüber einer intellektuellen Herangehensweise an das Phänomen der Rave-Kultur führe, laut Graw und Wege, schlussendlich dazu, dass eine distanzierte Analyse unmöglich wird und zugleich genau die Ausschließungsmechanismen, die der Text zu bekämpfen vorgibt, wieder in Kraft treten: „Dieses Argumentationsmuster zieht sich durch den Text: ein geradezu religiöses, ekstatisches, direktes, spontanes, authentisches Erleben, das durch Reflexion nicht gehindert ist und als das wahre Leben dargestellt wird, versus die Diskreditierung eines intellektuellen oder gebrochenen Wirklichkeitsverhältnisses. [...] Während du gegen die ausschließenden Intellektuellen argumentierst, baust du Gegensatzpaare auf und schließt auch aus. Damit machst du genau das, was du den anderen vorwirfst.“177

Goetz rechtfertigt die Ausdrucksweise, von der sein Zeit-Artikel durchsetzt ist, damit, dass er u. a. „einen Erlebnisbericht von der Partyfront“178 habe schreiben wollen, der dem Erleben so nahe wie möglich komme und dabei auch die Gemeinschaftserfahrung und die ganze „Banalität des Prolligen“179 aufzeige. Den rigorosen und expliziten Duktus, mit dem er über seine Erlebnisse und Eindrücke auf der Love Parade berichtet, begründet Goetz damit, dass es sich bei dem Artikel um einen „Punk-Text“180 handele, in dem es ihm vorwiegend um „Drastik, Offensive, Fun und Joke“ gegangen sei181, um der bislang eher distanzierten und elitären Rede über Techno-Musik und Rave-Kultur eine neue, unmittelbarere Sichtweise zu erschließen: „Ich finde es eben lustig, grob und kraß rumzutrashen, ohne sich argumentativ nochmal eine Berechtigung zuzusprechen.“182 Das Streitgespräch gipfelt seitens der beiden Autorinnen in folgendem Vorwurf:

174 Ebd., S. 250. 175 Ebd., S. 243. 176 Ebd. 177 Ebd., S. 243f. 178 Ebd., S. 231. 179 Ebd., S. 277. 180 Ebd., S. 244. 181 Ebd., S. 253. 182 Ebd., S. 248.

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„Aber zu behaupten, daß man nicht über die Love-Parade schreiben könne, ohne dort gewesen zu sein, stellt das Gesetz auf, daß man authentisch erleben müsse, worüber man sich äußert. Das bedeutet Authentizitätsterror und schließt die Analyse aus der Distanz aus.“183 Woraufhin Goetz antwortet: „Authentizitätsterror: finde ich natürlich gut. Auch weil [...] das Diskursive fast vollkommen an die Stelle des Realen getreten ist.“184 Korrespondierende Aussagen, die den kritisch-reflexiven Diskurs abwertend beschreiben und als eine Form der Negation titulieren, da hierbei die Intensität des Augenblicks durch nachträgliche Kontemplation ersetzt wird, finden sich in großer Anzahl in den Texten von Goetz. Dergestalt heißt es z. B. in dem Roman Rave: „Sprache: no. Yes: ein konkretes Leben.“185 Noch deutlicher formuliert Goetz diese scheinbare Inkompatibilität zwischen den Erfahrungen, die ein Raver beim Ausgehen und Tanzen macht, und den kritisch-reflexiven Diskursen, wie sie oftmals sowohl in der journalistischen und wissenschaftlichen als auch in der literarischen Rede vorherrschen, in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle: „Im Sozialen: ich auch. Im Text: und du? Ich nicht. Automatische Attraktoren einer gegensätzlichen Faszination.“186 Während das vitalistische Ereignis die einzelnen Tänzer zu einem, wie Goetz es nennt, „Kollektivspaßkörper“ vereint und somit ein ‚Wir-Gefühl‘ generiert, erzeugt ein Text beim Leser oftmals eine Antihaltung bzw. ein Gefühl von Differenz, was zugleich die eigentliche Stärke von Texten darstellt: „Starke Meinun-

183 Ebd., S. 250. 184 Ebd. Eine andere Ästhetik wendet der 1966 geborene Schriftsteller und Journalist Stefan Wirner in seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Text Berlin Hardcore an: Wirner montiert ausschließlich Sätze aus Zeitungsartikeln, Essays und Reden zu einer irritierenden und oftmals die mediale Berichterstattung bloßlegenden ‚Textinstallation‘. Dergestalt fügt er z. B. auch seitenweise Fragmente der medialen Berichterstattung über die Love Parade in Berlin zusammen, um sowohl die mediale Informationsflut zu bewältigen als auch die ideologisch aufgeladene und zynische Sprache zu dekonstruieren (vgl. Wirner: Berlin Hardcore, S. 92-98). Dabei verweisen Wirners Materialstudien einerseits auf Mittel der Zweckentfremdung, wie sie die Situationisten propagierten, andererseits erinnert Wirners ästhetisches Konzept auch an William S. Burroughs’ Cut-up-Experimente und sein ‚Playback‘-Konzept. Dergestalt bezeichnet auch Wirner seine Verarbeitung der medialen Berichterstattung immer wieder als tägliche Abwehrleistung, die dazu dient, sich dezidiert mit den Mechanismen der medialen Informationsflut auseinanderzusetzen. 185 Goetz: Rave, S. 205. 186 Goetz: Abfall für alle, S. 788.

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gen, heftige Urteile, Idiosynkrasien und asozialer Unsinn setzen im Leser Freiheit frei. Finde ich. Man wird nicht aufgefordert zuzustimmen, man nimmt teil an einem Affekt, am Individuellen eines ANDEREN, an einem Denkvorgang.“187 Auf noch explizitere Art und Weise artikulieren Friedhelm Böpple und Ralf Knüfer die Differenz zwischen den Erfahrungsweisen in der Techno-Kultur und den kritisch-reflexiven Diskursen in ihrem Buch Generation XTC: „Wer Wandel will, muß sich von unnötigem Ballast befreien. So mußte sich Techno gegen jede vorzeitige Interpretation des von ihm als reaktionär empfundenen kulturellen Umfeldes wehren. Schweigen als Strategie gegen die Vereinnahmung. Schweiß eint, Geist trennt.“188 Wie aufgezeigt, weist Goetz der populären Kultur schon in Subito eine höchst affirmative Ethik zu, indem er jegliche distanzierte und ablehnende Haltung gegenüber populärkulturellen Phänomenen als inadäquat bezeichnet. Wie an den vorangehenden Beschreibungen der Rave-Bewegung deutlich wird, kann auch der Habitus, der die Techno-Szene auszeichnet, als affirmativ bezeichnet werden, da es – oberflächlich betrachtet – beim vitalistischen Ereignis primär um ein nahezu reibungsfreies Mit- und Nebeneinander von gänzlich verschiedenen Menschen geht.189 Diese angebliche Offenheit und Toleranz der Techno-Szene, die auch in der Heterogenität der musikalischen und modischen Stile ihren Niederschlag findet, verleitet Goetz zu der sehr persönlichen und oft kritisierten Annahme, dass jeder kritisch-reflexive Diskurs zur Beschreibung der Phänomene unangemessen erscheint, da er den Erfahrungsweisen der Raver diametral entgegensteht: „Pops Glück ist, daß Pop kein Problem hat. Deshalb kann man Pop nicht denken, nicht kritisieren, nicht analytisch schreiben, sondern Pop ist Pop leben, fasziniert betrachten, besessen studieren, maximal materialreich erzählen, feiern. Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey, super. Deshalb wirft Pop Probleme auf für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop. So simpel diese Unterscheidung ist, so schwierig ist sie zu reali-

187 Ebd., S. 718. 188 Böpple/Knüfer 1996, S. 101. 189 Vgl. auch Haemmerli 1995, S. 186f.: „Das Mentalitätsmodell, das zu Techno gehört, ist affirmativ. Techno ist ein Testlabor für ein nahezu reibungsfreies Nebeneinander. Du kannst tun und lassen, was du willst, niemand wird daran Anstoß nehmen.“

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sieren im Schreiben über Pop. Die Anstrengung ist, ununterbrochen die Abstraktion auf die Beobachtungen zurück zu führen, von denen sie abgezogen wurden.“190

Mit diesem Postulat, das jeglichen kritischen und distanzierten Blick auf Phänomene der populären Kultur für obsolet erklärt, weist Goetz auch der aufkommenden Techno-Bewegung ein höchst individualistisches und affirmatives Mentalitätsmodell zu, das seinen Ausdruck einerseits in der bereits aufgezeigten Offenheit der stilistischen Ausprägungen und der Heterogenität der Szenegänger findet. Andererseits ist der Techno-Bewegung, wie noch aufgezeigt wird, in der Anfangszeit auch eine gewisse Verweigerungshaltung gegenüber jeglicher Diskursivierung eingeschrieben, die allein schon daran sichtbar wird, dass es, wie Ulf Poschard noch 1995 in seiner Abhandlung über die sogenannte DJ-Culture erstaunt anmerkt, bis dato keine „DJ-Poetik“ gebe, die sich in abstrakten Begriffen oder theoretischen Überlegungen zum eigenen Schaffen äußere: „Der DJ scheint kein bewußtes Verhältnis im Sinne eines in ästhetischen Begriffen gedachten Selbstentwurfes zu haben. Er neigt dazu, sich eher als Handwerker und Musikliebhaber zu verstehen. All die vielen Interviews und Stellungnahmen der DJs verdeutlichen, daß sie ohne Begriffe auskommen können und wollen. Sie haben sich der Musik komplett verschrieben und betrachten es als reine Zeitverschwendung, sich eine Theorie für das eigene Handeln zurechtzulegen. Außerdem könnten Reflexionsprozesse jeder Art die Leidenschaft für die Musik abschwächen.“191

Dieser Hang zu „wortfaulem Autismus“192, der, laut Poschardt, die meisten DJs auszeichne, spiegele sich in ihrem geringen Bedürfnis nach intellektueller Ver-

190 Goetz: Hirn, S. 188. 191 Poschardt 1997, S. 17. Hinsichtlich der Tatsache, dass seit Mitte der 1990er Jahre bis heute eine Vielzahl sowohl musikhistorischer und -theoretischer als auch empirischer Untersuchungen zum Thema DJ-Culture erschienen sind, mag Poschardts Feststellung für heutige Leser zunächst befremdlich wirken. Viele Sekundärwerke, die sich mit den ästhetischen, soziokulturellen, physiologischen und psychologischen Aspekten der Techno-Szene auseinandersetzen, sind jedoch erst nach 1995 erschienen und zeugen von einem neuen künstlerischen Selbstverständnis der DJs, das mit der stetigen Ausdifferenzierung der DJ-Culture in Zusammenhang steht und zudem stark selbstreflexive Züge aufweist (vgl. z. B.: Poschardt 1997; Klein 1999; Meyer 2000; Hitzler/Pfadenhauer 2001). 192 Poschardt 1997, S. 18.

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mittlung und sei primär Ausdruck dafür, dass ein Text – im Gegensatz zum ‚vitalistischen Event‘ – „nur von Fakten, Taten und Ideen sprechen“ könne; im Club aber seien, laut Poschardt, „solche Worte stumm und hilflos“: Wer die ästhetische und soziale Praxis der DJ-Culture wirklich verstehen will, muss in den Club gehen und sich dieser Erfahrung ganz und gar aussetzen: „Die Wahrheit über DJs muß erlebt werden, wenn man dem DJ bei der Arbeit zusehen kann und zu seiner Musik tanzt.“193 Doch wie lässt sich dieses speziell in der Anfangsphase der House- und Techno-Bewegung vorherrschende ‚Nicht-zur-Sprache-kommen‘ von z. B. physiologischen, psychologischen und soziokulturellen Aspekten der neuen Tanzkultur genauer bestimmen? Einen ersten möglichen Ansatz für diese ‚Verweigerungshaltung‘, die in dieser Zeit sowohl in den Aussagen der DJs als auch in der journalistischen, wissenschaftlichen und literarischen Rede spürbar wird, bietet Susan Sontags 1964 entstandener Essay Anmerkungen zu ‚Camp‘, der bezeichnenderweise aus achtundfünfzig nummerierten Paragraphen besteht, die den Charakter von philosophischen Aphorismen besitzen. In ihrem Essay bezeichnet Sontag den Habitus der Camp-Kultur als „konsequent ästhetische Erfahrung der Welt“: „[Camp] stellt den Sieg des ‚Stils‘ über den ‚Inhalt‘ dar, des ‚Ästhetischen‘ über das ‚Moralische‘, der Ironie über die Tragödie.“ 194 Zudem beschreibt Sontag die vollkommene Hingabe an bestimmte Erlebnisweisen, die der Camp-Kultur inhärent ist, wobei die Grenzziehung zwischen Elementen der Trivial- bzw. Populärkultur und der ‚ernsten‘ Kultur ihre Bedeutung verliert: „In erster Linie ist Camp eine Form des Genusses, der Aufgeschlossenheit – nicht aber des Wertens.“195 Ihr Credo der Camp-Kultur kann einerseits eine mögliche Erklärung dafür aufzeigen, warum in der Techno-Szene zunächst eine starke Abneigung gegen jegliche Diskursivierung der ästhetischen und sozialen Praxis vorherrschte und Versuche, sich mit dem Thema reflexiv auseinanderzusetzen, auf Unwillen stießen. Andererseits können Sontags Betrachtungen auch verdeutlichen, warum Goetz der kritisch-reflexiven Diskursivierung des Techno-Phänomens zunächst ablehnend gegenübersteht: „In der Sphäre des Geschmacks gibt es weder ein System noch Beweise. Aber es gibt so was wie eine Logik des Geschmacks: eine gleichbleibende Erlebnisweise, die einem bestimmten Geschmack zugrunde liegt und ihn erzeugt. Eine Erlebnisweise zu beschreiben ist fast – aber nicht ganz – unmöglich. Jede Erlebnisweise, die in das starre Schema eines

193 Ebd., S. 17. 194 Sontag: Anmerkungen zu ‚Camp‘, S. 335. 195 Ebd., S. 340.

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Systems gezwängt oder mit dem groben Werkzeug des Beweises behandelt werden kann, hört auf, eine Erlebnisweise zu sein. Sie ist zur Idee verhärtet...“196

Somit würde jegliche Diskursivierung von Erlebnisweisen diese abwerten, da jede schematisierende und systematisierende Beschreibung den Erlebnisweisen nicht gerecht wird und ihnen ihre Sensibilität, Dynamik und Vitalität nimmt. Der Prozess der Diskursivierung von Erlebnisweisen hat zur Folge, dass diese stagnieren und zu einem starren System verkommen sowie jeglicher Entwicklungsmöglichkeit ihrer sozialen Praxis beraubt werden. Übertragen auf die House- und Techno-Bewegung würde dies bedeuten, dass – neben dem fehlenden Zugriff von Sprache auf die Erfahrungsweisen und dem schon angesprochenen Aspekt der stets zeitlichen Nachordnung der sprachlichen Performanzen – jede semantische Zuschreibung mit der Zerstörung der Möglichkeit, die im Techno angebotenen Erfahrungs- und Erlebnismuster wahrzunehmen, einherginge. Sontags Beschreibungen ähneln den diskursanalytischen Betrachtungen von Michel Foucault, der 1970 in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France konstatiert: „Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.“197 Foucaults diskursanalytische Untersuchungen unterstellen dabei eine besondere Beziehung zwischen den Kategorien der Wahrheit, des Diskurses und den Praktiken der Individuen. Als Diskurs bezeichnet Foucault eine „Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören“198, wobei die einzelnen Diskurse durch genaue Regeln und Leitkategorien bestimmt werden, die aus einer theoretisch unendlichen Anzahl von Aussagen durch Ausschließungsprinzipien Sätze definieren. Dadurch werden Kriterien generiert, die festschreiben, welche Aussagen überhaupt zu einem Wissensgebiet, Formationssystem bzw. Diskurs gehören und welche nicht zugelassen bzw. ‚verboten‘ sind.199 Diese Erkenntnisse Foucaults führen dazu, dass er das Subjekt als nicht souverän tituliert, da es eingebunden ist in die Diskurse und durch diese erst konstituiert wird. Das Subjekt ist, laut Foucault, geprägt von z. B. Macht- und Herrschaftsstrukturen, von Institutionen sowie diskursiven Praktiken und somit bestimmten Verknappungsprozeduren und Ausschlussverfahren unterworfen, denen es sich nicht entziehen kann. Damit einhergehend ist für Foucault das Subjekt nicht Herr der Wahrheit, da die-

196 Ebd., S. 323. 197 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 36f. 198 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 156. 199 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 27.

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se ein rhetorisches Produkt darstellt, das nicht objektiv-sachlich zu gewinnen ist, sondern mittels Wörtern und mit bestimmten Absichten hergestellt wird. Die Wahrheit ist somit eine Sache der Verabredung, die ausschließlich durch die regulierte Praxis der Diskurse generiert wird. Auch der Schriftsteller – als schreibender Spezialfall des Subjekts – gehört für Foucault zu den Institutionen, denen Foucault den Charakter einer Erfindung zuweist. Der Autor, so Foucault, schreibt ‚aus den Diskursen heraus‘ und kann sich nicht außerhalb dieser situieren, da diese ihn beherrschen und seine Rede prägen: „[I]n den anscheinend so positiven Figuren des Autors, der Disziplin, des Willens zu Wahrheit, muß man eher das negative Spiel einer Beschneidung und Verknappung des Diskurses sehen.“200 Sowohl mit Foucaults Aussagen zum Macht- und Wissenskomplex unserer Diskursgesellschaft als auch mit Sontags Analyse der Camp-Kultur kann die – oben beschriebene – Weigerung vieler DJs und Szenegänger, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen, genauer beschrieben werden: Die in der Anfangszeit der Techno-Bewegung spürbare Verweigerungshaltung gegenüber der Diskursivierung der Erlebnisweisen scheint ihren Ursprung primär in dem Willen vieler DJs und Partygänger zu haben, sich den Verknappungsprozeduren und Ausschlussverfahren der herrschenden Diskurse zu entziehen, um einer Stagnation entgegenzuarbeiten. Bezeichnenderweise konstatiert auch der Politikwissenschaftler und Germanist Jan Engelmann in einem 1997 erschienenen Spex-Artikel, dass in der Techno-Kultur „der Gegner weniger in der Polizei und deren Einsperrungsund Überwachungspraktiken gesehen wird, als in der Presse, die Informationen über den Underground verfügbar macht, das nicht-diskursive Tanzereignis diskursiviert“.201 Im Jahr zuvor beschreibt auch der Spex-Autor Michael Kerkmann in einem Artikel sehr genau die in dieser Zeit in der Techno-Szene vorherrschende Angst vor der Okkupation durch z. B. die Medien, da diese mit ihrer inadäquaten Berichterstattung der Erlebnisweisen, die der Techno-Bewegung inhärent sind, jegliche Vitalität und generative Kraft rauben würden: „Für Leute, die sich schon lange in der Elektronikwelt aufhalten, stellt sich das Problem von seiner anderen Seite. Die prinzipielle Verweigerungshaltung, die hier gegenüber einer bestimmten Form von Kommunikation hergestellt wurde, resultierend in einer informellen Ausgrenzung, hat ihren Grund wohl in dem Umstand, daß die Definitionsmacht meist den anderen gehört. Aus diesem Grund besteht die Befürchtung, daß Freiräume durch Beschreibung und Eingliederung in einen umfassenden begrifflichen Kosmos zunichte ge-

200 Ebd., S. 36. Vgl. auch Foucault: Was ist ein Autor?, S. 234-270. 201 Jan Engelmann: Honeymoon, Exzeß und Runterkommen, S. 58.

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macht werden könnten. Wenn die Gehirnpolizei ab und zu auf Kontrollgang geht, macht man lieber die Clubtür leise zu und will nur die drinnen haben, die das Angebot zur unmittelbaren Erfahrung annehmen, nicht dagegen die Spielverderber. Sprache, dieses ungenügende, vorläufige Etwas. Ein Angriffsziel von Tanzmusik, nicht erst seit Techno, ist nun einmal das übernervöse Bewußtsein, der innere Schauplatz, auf dem sich das Ungenügen an den äußeren Umständen aufhält. Hier wird Musik als Erfahrung für den ganzen Körper gesetzt, und diese Erfahrung kann man sprachlich, also zeitlich nachgeordnet, nicht in ausreichendem Maße vermitteln. Wie David Bowie einst sang: ,All that happened in the past happens in your mind/ Forget your mind and you’ll be free‘ (,Fill your heart!‘, 1971). Da mußt du schon hinkommen, soll sich deine körpereigene Elektrik mit den außerhalb von ihr liegenden Feldern austauschen. Life’s a Gas, ein Strom. Wenn man dies thematisiert, dann weil man sich den denkbar größtmöglichen Rahmen geben will – und gleichzeitig den denkbar kleinsten. Sprache erzeugt Distanz und Differenz, so wie auch Distanz Sprache schafft, während im Erleben die Sprache an Relevanz verliert.“202

Deutlich wird hier die in dieser Zeit oftmals vorherrschende Meinung, dass Sprache zwar in der Lage ist, sich zum Thema Techno bzw. zu den soziokulturellen, psychologischen und physiologischen Aspekten der Techno-Kultur zu äußern, diese Erfahrungs- und Erlebnisweisen aber nicht adäquat zu erfassen vermag, sondern sie vielmehr entwertet. Sprache kann sich, so Kerkmann, nur zeitlich nachgeordnet zu den gemachten Erfahrungen äußern. In Kerkmanns Ausführungen und in Engelmanns Rede vom ,nicht-diskursiven Tanzereignis‘ deutet sich zudem an, dass eine generelle Unzulänglichkeit bzw. Hilflosigkeit des sprachlichen Ausdrucks gegenüber den Erlebnisweisen besteht, die ihre Begründung nicht nur in den oben geschilderten Überlegungen von Sontag und Foucault findet, sondern sich primär aus einem bestimmten Verhältnis von Techno-Musik, Sprache und Körperdiskurs ergibt. Was passiert auf einer Party? Welche Erfahrungen und Erlebnisse machen die Tänzer dort? Was passiert mit ihnen? Welchen Stellenwert hat das Erlebte für sie? Welche Bedeutung haben diese Erfahrungen und Erlebnisse für ihren konkreten Alltag? Diese Fragen nach den physiologischen, psychologischen und sozialen Aspekten der Techno-Bewegung lassen sich, so der Eindruck, nur schwer bzw. mit unzulässigen Verknappungen und Verallgemeinerungen beantworten, da im Mittelpunkt von Techno-Veranstaltungen zumeist die Tanzfläche steht. Die sinnlichen Erfahrungen, die der Raver durch die auf ihn einstürmenden Eindrücke sammelt, scheinen keinen adäquaten sprachlichen Ausdruck zu besitzen.

202 Kerkmann: Paroles, Polkas und Parolen, S. 34.

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Der enorme Geräuschpegel und die repetitiven, stark rhythmusbetonten Strukturen der Techno-Musik weisen zudem darauf hin, dass die physische Wahrnehmung der Musik ein zentrales Element der Erlebnisweisen vieler Szenegänger bildet. Insbesondere die tiefen Bassfrequenzen, die bisweilen – rein motorisch – körperliche Vibrationen auslösen, können hier als Beleg dafür angeführt werden, dass Techno-Musik oftmals einen prädiskursiven Raum der Intensitäten generiert, der nur rein körperlich erfahrbar ist: „Mit ihren niedrigen Frequenzen zwischen 10 und 160 Hertz liegen sie [die Baßlinien] weit unter dem Bereich des menschlichen Hörvermögens. Derartig tiefe Bässe sind nicht mehr akustisch wahrnehmbar, sondern nur als Vibrationen spürbar.“203 Für Friedhelm Böpple und Ralf Knüfer stellen Konzertsaal oder Diskothek einen „sensorischen Tempel“ dar, in den der Raver eintritt, um eine fast mythisch-spirituelle Erfahrung zu machen: „Der Dancefloor oder das Konzert fordern dazu auf, dem Körper das Lauschen zu überlassen und darauf entsprechend zu reagieren. Musikanlage und körpereigene Drogen oder auch Fremdsubstanzen erhöhen die sensorischen Qualitäten des Körpers. Das sind die Faktoren, die für eine Massenekstase entscheidend sind.“204

Wie die vorangegangenen Beschreibungen deutlich machen, lässt sich das Phänomen Rave nicht erklären, beschränkt man sich auf die Beschreibung des ‚DJHandwerks‘ und seiner Kunst, Platten gekonnt zu mischen oder Techno-Musik zu produzieren. Neben dieser ästhetischen Komponente rückt – insbesondere in der elektronischen Tanzmusik – eine körperliche Praxis in den Vordergrund, die darin besteht, dass sich die Raver vom DJ in Ekstase versetzen lassen und sich die Musik vorwiegend tänzerisch aneignen, wie auch die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Klein in ihrer soziologischen bzw. empirischen Studie über die RaveKultur konstatiert: „Club-Kultur und Rave-Kultur sind Tanzkulturen, und von daher steht hier der Körper nicht nur als passives Objekt, sondern auch als Akteur im Mittelpunkt.“205 Der Körper gilt Klein als „zentraler Bestandteil kultureller Praxis“206 bzw. als „Zentrum des Erlebens“.207 Als ein „Medium von Er-

203 Klein 2001, S. 174. Sehr prägnant beschreibt diese non-verbale, präsentative Qualität von Musik auch der Psychologe Erich Haisch, wenn er konstatiert: „Musik ist ihrem Wesen nach imstande Unsagbares auszudrücken und zu vermitteln. Dieses Unsagbare ist aber Material aus dem Unbewussten.“ (Haisch 2002, S. 157). 204 Böpple/Knüfer 1996, S. 143. 205 Klein 1999, S. 80. 206 Ebd., S. 10.

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fahrung und Kommunikation“208, so Klein, habe der Körper „schon immer eine entscheidende Rolle bei der Konstitution von Popkulturen gespielt“. 209 Aufgrund der oft fehlenden Songtexte in der Techno-Kultur, die den einzelnen Tracks noch eine gewisse narrative Einheit verleihen könnten, rückt in der elektronischen Tanzmusik die Musik und ihre Funktion in den Vordergrund: „Techno erzählt keine Geschichte, sondern zielt unmittelbar auf den Körper.“210 Dergestalt beschreibt Klein die „Aneignung von Kultur und die Konstitution kultureller Praxis“ als „einen komplexen Prozeß [...], der sich auch als durchaus aktiver und gestalterischer Vorgang lesen läßt“: „Aneignung wird hier als ein sinnhafter Nachvollzug verstanden. Es ist ein mimetischer Vorgang, der sich leiblich vollzieht. Kultur [...] ist nicht nur ein sozialer, sondern immer auch ein leiblicher Prozeß.“211 Damit verläuft auch die Sinnstiftung, die mit der Techno-Musik einhergeht, auf einer anderen Ebene als noch bei der Rock-Musik, wie auch der Journalist und Sachbuchautor Simon Reynolds schreibt: „Where rock relates an experience (autobiographical or imaginary), rave constructs an experience.“212 Die besondere Erfahrung, welche die Erlebnisweisen der Techno-Kultur zu bieten scheint, besteht, laut Klein, in dem Faktum, dass die dort stattfindende Sinnstiftung primär über die elektronische Musik und den tänzerischen Ausdruck generiert wird: „Techno ist keine intellektuelle Musik [...], sondern im wesentlichen Tanzmusik. [...] Techno ist eine Körperkultur, deren Revolte auf dem Tanzparkett stattfindet.“213 Während die Punk-Bewegung, wie aufgezeigt, ein Beispiel für eine konfrontative Strategie gegenüber dem vorherrschenden Modell bildungsbürgerlicher Kultur darstellte, ist für die Techno-Bewegung das kulturelle und politische Establishment scheinbar kein Gegner mehr, wie auch Klein schreibt: „Techno ist keine politisch fundierte Gegenkultur, deren Zusammenhalt diskursiv erzeugt wird. Ihre sinnstiftenden Bestandteile liegen nicht in einer bewußten Gegnerschaft oder in einer ideologisch untermauerten Antihaltung. Sinnstiftung stellt sich in der Techno-Szene

207 Ebd., S. 84. 208 Ebd., S. 10. 209 Ebd., S. 9. 210 Ebd., S. 180. 211 Ebd., S. 11. 212 Reynolds 1998, S. XIX. 213 Klein 1999, S. 76.

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vor allem im Umgang mit Musik und Tanz her; sie sind die sinnstiftenden Medien. Musik und Tanz, das bringt Spaß, und der kann sich bis zur körperlichen Ekstase steigern.“214

Obwohl die Techno-Bewegung aus einem postmodernen Cut’n’Mix verschiedener Stilzitate besteht215, der nicht nur den Lebensumständen in einer postindustriellen Gesellschaft abgeschaut ist, sondern auch die Offenheit und individualistische Haltung in der Techno-Szene widerspiegelt, werden häufig kritische Stimmen laut, die proklamieren, dass sich Techno seit Anbeginn von der vorherrschenden Kultur blind vereinnahmen lässt. Die vorangestellten Aussagen weisen jedoch deutlich darauf hin, dass sowohl die Punk- als auch die TechnoKultur bereits existierende Codes nicht einfach übernehmen, sondern sie sich – auf verschiedene Art und Weise – aneignen. Die kommerziellen Angebote werden auch von den Ravern nicht nur passiv konsumiert, sondern aktiv in ihre Lebenswelt überführt und in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt. „Pop ist weder nur subversives Dasein noch reiner Kommerz, sondern immer beides“, schreibt demgemäß auch Gabriele Klein, die zugleich hervorhebt, dass diese Offenheit oftmals auch zu Mystifizierungen und Ideologisierungen führen kann.216 Auch der Journalist Ulf Poschardt merkt an, dass der DJ nicht zwangsläufig vor einer Vereinnahmung durch die Unterhaltungsindustrie sicher sein kann, obwohl die elektronische Tanzmusik von einer Offenheit der Form geprägt ist und immer neue Formen generieren kann. Techno ist, so Poschardt, „eine Mischung zwischen Superpop und Underground, zwischen Millionenerfolg und Authentizität, zwischen Ausverkauf und Avantgarde“; dies macht, laut Poschardt, diese Spielart der elektronischen Tanzmusik oftmals „zum Schauplatz von Auseinandersetzungen, an deren Ende modern flirrende Identitäten und wild wuchernde Arbeitsstrukturen stehen“: „Die Trennlinien zwischen Pop und Avantgarde werden dann strategisch abgesteckt. Die Underground-Ideologie wird durch einen ästhetischen Pragmatismus ersetzt, der kein Problem damit hat, daß weite Felder des künstlerischen Geheimwissens in den Fundus der Popkultur aufgenommen werden. Underground ist dann Pop. [...] Gleichzeitig befindet sich der Künstler dann in der gefährlichen Zone der Kulturlandschaft, in der die Unterhaltungsindustrie gnadenlos alles verkauft und verdreht, was irgendwie nach Underground

214 Ebd., S. 75f. 215 Vgl. ebd., S. 75. 216 Klein 2001, S. 166.

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riecht. Um Indifferenz und Verrat vorzubeugen, muß die Doppelcodierung extrasmart funktionieren.“217

Diese ‚Doppelkodierung‘ bzw. die Gratwanderung zwischen Avantgarde und Pop hat immer wieder dazu geführt, dass man die Techno-Bewegung als kommerzialisierte und politisch anspruchslose Jugendkultur bezeichnet hat. Dabei haben die Kritiker, laut Klein, immer wieder übersehen, dass die Kulturpraxis, die der Techno-Szene inhärent ist, primär im „Bereich des Ästhetischen innovativ ist“: „Liest man die Club- und Rave-Kultur als eine ästhetische Kultur, die den Körper ins Zentrum gerückt hat, dann kommt in ihr nicht nur ein Wandel des Begriffs des Politischen zum Ausdruck, sie erscheint auch als kulturelles Feld, in dem sich eine umfassendere der Kommunikationsformen abzeichnet, die dem Körperlichen und Sinnhaften eine größere Bedeutung beimißt.“218

Diese neuen Erfahrungen und Kommunikationsformen, welche die Techno-Kultur hervorgebracht hat, lassen sich – wie angedeutet – aufgrund des Primats des Körperlichen und Sinnhaften nur schwer sprachlich erfassen. Wie kann man dennoch über die hierdurch generierten Erlebnisweisen schreiben? Wie kann moderne Literatur dessen ungeachtet diese neue Form der körperlichen Wahrnehmung und Sinnstiftung kommunizieren und somit zum „Abenteuer der Sinneswahrnehmungen“ werden; wie kann sie „wie eine Schocktherapie [wirken], durch die unsere Sinne verwirrt und zugleich geöffnet werden“, wie Susan Sontag fordert?219 Eine mögliche sprachliche Annäherung, die den Erlebnisweisen ihre Vitalität und generative Kraft belässt, beschreibt Sontag in ihrem Camp-Essay:

217 Poschardt 1999, S. 199. Eine genauere Bestimmung dessen, was Poschardt mit dem Begriff ‚Doppelcodierung‘ meint, die ‚extrasmart‘ funktionieren müsse, lässt sich leicht vornehmen, wenn man sich zugleich die drei deskriptiven Definitionen von Pop, welche der Journalist und Autor Diedrich Diederichsen aufstellt, vor Augen hält: Diederichsen konstatiert, dass Pop grundsätzlich eine Transformationsleistung im Sinne einer dynamischen Bewegung darstelle, bei der sich kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen gegenseitig bedingen bzw. neu gestalten. Zudem besitze Pop eine affirmative Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der Welt. Pop trete zudem als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig für alle zugänglich sei (vgl. Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch, S. 38-40). 218 Klein 1999, S. 76. 219 Sontag: Die Einheit der Kultur, S. 350-352.

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Statt mit dem „groben Werkzeug des Beweises“ müsse man vielmehr, so Sontag, „tastend und beweglich zu Werke gehen“: „Die Form kurzer Anmerkungen scheint angemessener zu sein als die der Abhandlung (mit ihrer Forderung nach linearer, konsekutiver Argumentation), wenn es darum geht, etwas von dieser besonderen, flüchtigen Erlebnisweise festzuhalten.“220 Damit proklamiert Sontag offene, fragmentarische und nicht-lineare Schreibweisen, die sich ganz bewusst dem wissenschaftlichen und analytischen Duktus entziehen. Nur indem die Sprache ihren ‚Gegenstand‘ vorsichtig umkreist und bei ihren Betrachtungen immer wieder neu anhebt – so Sontags Vorstellung –, kann sie zumindest etwas von der Dynamik und Vitalität der Erlebnisweisen zu erfassen versuchen. Sontags Forderungen lassen sich sowohl auf die wissenschaftliche und journalistische als auch auf die literarische Rede übertragen. Besonders deutlich wird dieses stetige Ringen um einen unmittelbaren und adäquaten literarischen Ausdruck für die sinnlichen Erfahrungen, die der Raver beim Besuch eines Techno-Events macht, bei Betrachtung des schon mehrfach zitierten Romans Rave, den Goetz 1998 veröffentlicht. In Rave geht es Goetz primär um die „vollkommene Identifizierung mit einem einzelnen Aspekt dieser wahrgenommenen Umwelt: das ohne intellektuelle Distanz vorgeführte Leben als ‚Raver‘“221, welches vorwiegend aus „Ekstase, Abfahrt, Rausch“ besteht.222 Goetz möchte die Unmittelbarkeit des Geschehens „auf der Tanzfläche“ abbilden223, indem er „Geschichten aus dem Leben im Inneren der Nacht“ schildert und zugleich das „Bum-bum-bum des Beats“224, das die Raver in Ekstase versetzt, zu beschreiben versucht: „Was machen diese Nachtlebenleute eigentlich, wenn sie da jedes Wochenende irgendwo zum Feiern gehen? Sie hören Musik und tanzen. Sie gehen aus zum Abfeiern, Aufreißen und Ausrasten. Sie betreten finstere Löcher, da, wo über der Türe das Schild hängt: wissen, wer ich bin. – Wer bist du? – Sie reden und verstehen sich, ohne hören zu können, was der andere sagt. Die ausgetauschten Wörter passen nicht so richtig zueinander. Es ist auch dauernd ziemlich laut und ziemlich voll.“225

220 Sontag: Anmerkungen zu ‚Camp‘, S. 323f. 221 Seiler 2006, S. 293. 222 Goetz: Celebration, S. 11. 223 Goetz: Rave, S. 215. 224 Ebd., S. 19. 225 Ebd., Klappentext.

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Dabei werden u. a. der „Beat der Musik und die Heftigkeit der Bilder [...] zum Maßstab für den Speed, den die Literatur bekommen soll“.226 Der Schriftsteller Goetz begibt sich immer wieder „in die Nähe der Boxen und Musikmaschinen“227 und verweilt „unter dem DJ-Pult“228, um den DJ bei seiner Arbeit zu ‚belauschen‘ und zugleich zu erfahren, wie sich diese Verschmelzung von ästhetischer und sozialer Praxis darstellt, die jede gelungene Techno-Party zu einer fast mystischen Erfahrung werden lässt. Auch Ulf Poschardt weist ausdrücklich darauf hin, dass Goetz mit seiner Faszination von populärer Musik „nicht nur die Musik, die Bands, Songs, Texte und Platten – kurz die Kunst – [meint], sondern vor allem die soziale Praxis, die mit der Popmusik kurzgeschlossen ist: Konzerte, Clubs und Parties“.229 Goetz versucht, in seinen literarischen Werken den ‚Glückszustand‘ zu beschreiben, den der auf die tanzende Gemeinschaft einhämmernde Beat erzeugt. Die schon oben aufgeführten Probleme (Simultaneität der Eindrücke, Nachzeitigkeit der Worte, Sprachlosigkeit in Bezug auf das vitalistische Ereignis etc.) finden sich auch bei dem von Goetz vollzogenen Paradigmenwechsel vom Punk- zur Techno- und Acid-House-Bewegung. Der Schriftsteller Goetz, der sich mit Begeisterung in das Nachtleben stürzt, um dort dem DJ bei seinem Handwerk zuzusehen und das Geschehen auf der Tanzfläche zu beobachten, greift bei seiner literarischen Arbeit auf dieses riesige Erfahrungsarchiv zurück und versucht, das richtige Tempo, den richtigen Rhythmus und den passenden Klang zu generieren, um das Erlebte adäquat zu beschreiben. So bestimmen die Beschreibung von dem „Tapern und Taumeln, Santeln und Lallen“230, der bruchstückhaften Kommunikation zwischen den Protagonisten, der „‚Wirrnis‘“231 der Ereignisse und der sich einstellenden „Wahrnehmungsstörung[en]“232 auch die Schreibweisen und den Aufbau des Romans Rave. Um die Intensität der sinnlichen Eindrücke zu verarbeiten, wendet Goetz alle nur denkbaren modernistischen und postmodernistischen Schreibweisen an: stetiger Erzählerwechsel, Polyphonie, Montage, Collage, Zitatensampling, Verzicht auf Linearität und Handlungschronologie etc. Dabei gerät der Schreibende, wie auch schon in den vorangegangenen Kapiteln angedeutet, an die Grenze seiner sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten: „Meine

226 Poschardt 1997, S. 314. 227 Goetz: Kronos, S. 377. 228 Ebd., S. 399. 229 Poschardt 1997, S. 316. 230 Goetz: Rave, S. 51. 231 Ebd., S. 31. 232 Ebd., S. 41.

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Erfahrungen sind groß und ich suche nach Entsprechungen, die das aufschwingen lassen. Die Brechung erfolgt ohnehin dadurch, daß das erzählt und geschrieben und also Wort wird.“233 Das mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass Goetz den Roman Rave erst neun Jahre nach dem Aufkommen der Acid-House-Bewegung veröffentlichte, d. h. zu einer Zeit, da sich die elektronische Tanzmusik sowohl schon zu einer kaum noch zu überschauenden Stilvielfalt ausdifferenziert hat als auch durch unaufhaltsame Erosionsbewegungen bestimmt war. Erst jetzt, so Goetz, „kann man diese Geschichte erkennen und erzählen, nach Art und in der Stimmung großer Mafia-Filme: Aufstieg und Fall. Der Niedergang des Hauses Corleone“.234 So ist es nicht verwunderlich, dass die Schilderungen in Rave, obwohl diese insbesondere im ersten Teil, wie im Folgenden noch aufgezeigt wird, von der Intention geprägt sind, jegliche Distanz zum Geschehen aufzulösen, mehr einer ‚Rückschau‘ auf die Erlebnisse der ravenden Gemeinschaft in den 1990er Jahren gleichen, was noch durch den stetigen Wechsel zwischen der Vergangenheitsform des Imperfekt und Präsenssätzen verstärkt wird. Dieser stetige Wechsel der Zeitformen, der von Anfang an die Erzählweise von Rave prägt, richtet den Text auf eine unabgeschlossene Gegenwart aus und verleiht ihm eine gewisse Offenheit und Präsenz.235 Dazu trägt auch bei, dass Goetz gleich eingangs des Romans den fortschreitenden Niedergang der Rave-Kultur mitreflektiert, indem er folgendes Motto dem ersten Kapitel voranstellt: „Der Verfall beginnt.“236 Dergestalt heißt es auch im Klappentext: „Schließlich war das Ding kaputt genug. Ich konnte darüber schreiben.“237 Quelle und Ausgangspunkt des Schreibprozesses ist dabei, wie auch der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher schreibt, eine „schon mehrfach gewendete reflexive Nachträglichkeit“, die durch das ständig sich neu anhäufende Material wie durch den „retrospektiven Blick“, der vergangene Ereignisse mit einer unabgeschlossenen Gegenwart verbindet, noch gesteigert wird.238 Ebenso wie der Roman Irre gleicht auch der Aufbau von Rave einem Triptychon: Goetz lässt seine Erzählung mitten im Nachtleben beginnen, wobei der Ort der Handlung ein Techno-Club ist. Der Ich-Erzähler, der ebenso heißt wie „der

233 Goetz: Celebration, S. 264. 234 Goetz: Rave, S. 223. 235 Vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 148f. 236 Goetz: Rave, S. 15. 237 Ebd., Klappentext. 238 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 149f.

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Typ, der Irre geschrieben hat“239 und stetig ein Notizbuch bei sich führt, um alle Beobachtungen und Eindrücke zu notieren, schildert auf sehr subjektive und detaillierte Art und Weise sowohl die optischen als auch akustischen Sinneseindrücke, die während des Besuchs einer Techno-Party auf ihn einströmen, sowie die damit einhergehenden Reflexionen auf das Geschehen. Goetz generiert somit gleich zu Beginn seines Romans den Ich-Erzähler als „Welt-Text-Empfänger und -Forscher“240, der zugleich beobachtend und teilnehmend das Nachtleben erkundet und oftmals gänzlich hinter jene Eindrücke zurücktritt. Insbesondere diese literarische Konstruktion vermittelt dem Leser das Gefühl, dem Protagonisten bei seiner Reise durch die Nacht und seinen damit verbundenen Reflexionen auf das Geschehen unmittelbar beizuwohnen. Potenziert wird dieser Eindruck noch dadurch, dass Goetz vordergründig die Grenze zwischen Autor und Erzähler obsolet werden lässt, indem er seine eigene schriftstellerische Biographie dem IchErzähler zuschreibt bzw. andichtet. Zudem lässt Goetz im Laufe des Romans eine Anzahl an real existierenden Personen aus der Techno-Szene auftreten – wie z. B. Jürgen Laarmann, den ehemaligen Herausgeber des Techno-Magazins Frontpage, die Journalisten und Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen sowie Tom Holert – und verweist stetig auf DJs, Musikerkollektive, Plattenlabels, musikalische Veröffentlichungen und Techno-Veranstaltungen, was dem Text, bei rein oberflächlicher Betrachtung, einen ‚authentischen‘ bzw. tagebuchartigen Charakter verleiht. Zugleich wechselt Goetz vielfach die Schauplätze und Perspektiven und – damit einhergehend – die Themen und Schreibweisen: Theoretische bzw. essayistische Betrachtungen über die populäre Kultur – insbesondere der DJ-Culture – stehen neben erzählerischen Parts, die das Party- und Afterhour-Geschehen an verschiedenen Handlungsorten schildern. Die häufig sehr kurzen Textfragmente, die sich aus diesem Montage-Prinzip ergeben, kann man – in Anlehnung an Rolf Dieter Brinkmann – als ‚Blitzlichtaufnahmen‘ bezeichnen, die u. a. das Geschehen neben und auf der Tanzfläche auf stroboskophafte und fraktale Art und Weise abbilden und die im Nachtleben stattfindenden sprachlichen Destruktionsprozesse (z. B. durch unvollendete bzw. verkürzte Sätze) festhalten. Der oftmals parataktische Stil und die patchworkartige Erzählweise, die Goetz zur Beschreibung des Nachtlebens wählt, sowie die verkürzten Sätze und Gedankengänge sind dabei scheinbar der Lautstärke der Techno-Musik und dem vollkommenen Aufgehen des Protagonisten in der Techno-Musik geschuldet.

239 Goetz: Rave, S. 218. 240 Goetz: Abfall für alle, S. 333.

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Seine Kohärenz erhält der Text gerade durch seine kaleidoskopartige, zum Teil elliptische Erzählweise, welche die Wahrnehmung und die soziale Praxis im Nachtleben ganz unmittelbar bzw. ohne Metaphorisierung und Diskursivierung zu erfassen versucht, auch wenn eine gewisse reflexive Haltung zum Geschehen nicht gänzlich vermieden werden kann und soll, da diese für Goetz scheinbar zum Erfahrungshaushalt eines Raves dazugehört: „Ich tanzte mit und fühlte mich nicht gestört von den gleichzeitig mitlaufenden Reflexionen. Stimmt: Deshalb geht man aus. Weil man die Musik manchmal auch SO hören muß, weil sie so gehört gehört, genau so, nicht anders. Brüllaut, hyperklar. Weil man dann versteht, warum man das alles macht, warum man da mitmacht immer wieder, warum man da immer wieder dabei sein will, usw usw. Beglückt dachte das Denken diese Gedanken. Und ich tanzte dazu.“241

Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass Goetz die Party-Situation oftmals nur in Blick- und Tonfragmenten widerspiegelt und eine Vielzahl an Szenen in- und übereinander montiert, um die Simultaneität der Ereignisse und die Interaktion zwischen den Protagonisten zu verdeutlichen. Dergestalt beschreibt Goetz den Blickkontakt zwischen mehreren Menschen als ‚Endlosschleife‘ bzw. – um im Duktus der Techno-Bewegung und DJ-Culture zu bleiben – als Loop242 und unterstreicht damit auch noch einmal seinen Beobachter-Status: „Das Blickekonzert. Man sieht z. B. zwei Leute nebeneinander stehen, die beide in die gleiche Richtung schauen und da etwas beobachten. Eventuell den Blickwechsel zwischen einem Pärchen, das gerade gemeinsam eine bestimmte Situation gesehen hat und sich nun darüber verständigt, ob der andere auch gesehen hat, wie diese eine junge Frau den Blicken des neben ihr stehenden Mannes mit Besorgnis gefolgt war, weil sein Interesse den Gesten einer sehr attraktiven und fast unbekleideten jungen Frau gegolten hat, die tanzend mit ihm oder eventuell jemandem hinter ihm gerade einen Blickkontakt aufgenommen hatte, und er beim sich Umdrehen, um nach dem möglichen anderen zu schauen, versehentlich in den Aufsichtsblick der Frau neben ihm, die also vermutlich seine Freundin ist,

241 Goetz: Rave, S. 80. 242 Als Loop bezeichnete man ursprünglich ein Tonbandstück, das an beiden Seiten zusammengeklebt wird, so dass beim Abspielen das aufgenommene Klangfragment sich stetig wiederholt. In der elektronischen Tanzmusik wird der Begriff Loop mittlerweile für ein Sample verwendet, das so zusammengeschnitten ist, dass man es ohne Brüche mehrfach hintereinander anspielen kann. Als Klangmaterial für einen Loop können dabei Drumsamples, Rhythmusparts, Basslinien, Melodiephrasen etc. dienen.

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geraten war und nun schnell versuchte, durch nochmalig kurzen Blick zur fernen Tänzerin, festzustellen, ob seine Freundin, die in diesem Augenblick seinem Blick natürlich folgte, den ursprünglichen Ausgangspunkt seines Interesses auch mitbeobachtet haben konnte, weil ihm nicht ganz klar war, wie lange und eindeutig sein Blickwechsel mit der Täzerin gewesen war, und also die Antwort auf die Frage, ob die Tänzerin jetzt im Moment noch, ihn immer noch beobachtete, darauf einen gewissen Rückschluß zuließ, und er dann, als er sich tatsächlich noch von der Tänzerin angeschaut sah, eilig über ihren Blick hinweg nach weiter hinten glitt, sich seiner Freundin zuwendete, dort nach hinten deutete und freundlich etwas zu ihr sagte, und sie, nach einem kurzen Moment der Entsetzensbändigung, ihn fröhlich fragend anstrahlte, als hätte sie all das eben Gesehene gar nicht mitgekriegt, und diese beiden sich dann herzlich umarmten. Und wie gesagt, dieses eine Pärchen, das das alles gesehen hatte, nun durch kurzen Verständigungsblickwechsel abcheckte, ob der andere auch die ganze Story von A bis Zett mitgekriegt hatte. Und die ersten beiden durch die Beobachtung dieses Blickwechsels sich automatisch zur beinahe nackten, extrem hübschen Tänzerin geführt sehen, und ohne daß sie sich anschauen tritt ganz kurz ein automatisches Lächeln auf ihre beiden Gesichter. Und so weiter, undsoweiter, usw usw – Genau so komisch verschraubt, wie es nacherzählt klingt, so absolut selbstverständlich und nahezu bewußtlos normal ist es und findet es statt dauernd. Und zwar an Orten, wo viele Menschen zusammen sind, die eigentlich gar nichts bestimmtes beobachten, in einer solchen Vielzahl und begleitet von einer solchen, sich gegenseitig exponentiell potenzierenden geistigen Energie, denn an jedem dieser einzelnen Blickereignisse hängen ja zillionenfach funkende Hirnzellenaktivitäten, Emotionen, Gedanken, tief hinab ins Vergangene reichende Geschichten usw usw“.243

Diese additive Schreibweise, die insbesondere für die in den 90er Jahren entstandenen Werke von Goetz bezeichnend ist, findet ihr Äquivalent in der Herstellungsweise bzw. im Beat der Techno-Musik und „dokumentiert das Verschwinden des Erzählers im Stakkato des Seriellen“.244 Gleich zu Beginn des Romans erfährt der Ich-Erzähler seinen Aufenthalt in einem Techno-Club als ‚Einswerden‘ mit den ihn umgebenden Rhythmen und Klängen: „Er schaute hoch, er nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bumbum des Beats. Und der große Bumbum sagte: eins eins eins –/ und eins und eins und –/ eins eins eins –/ und –/ geil geil geil geil geil ...“245 Nur wenige Zeilen später erfährt der Ich-Erzähler die vollkommene Identifizierung mit den ihn um-

243 Goetz: Rave, S. 170. 244 Steinfeld 2000, S. 259. 245 Goetz: Rave, S. 19.

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gebenden Menschen und Klängen: „Vom Rand her kamen die Beine und Lichter, auf Füßen, in Flashs, die Schritte und Bässe, die Flächen und das Gezischel, die Gleichungen und Funktionen einer höheren Mathematik. Er war jetzt selbst die Musik.“246 Diese umfassende Verschmelzung mit der Musik und der tanzenden Menschenmasse, die fast einer Selbstauflösung gleichkommt, macht deutlich, wie sehr es Goetz darum geht, das Geschehen unmittelbar und ohne intellektuelle Distanz zu schildern, um der literarischen Rede eine gewisse Präsenz zu verleihen, die das Erleben beim Besuch einer Techno-Party einzufangen vermag. Dieser ‚Glückszustand‘, den der Raver beim Aufgehen in der Masse der Tanzenden erlebt und der maßgeblich durch die ‚Fertigkeiten‘ des DJs gesteuert wird, ist, wie zuvor schon ausgeführt, primär eine Sache des Körpers bzw. des Körpergefühls und kann nicht durch intellektuelle Vermittlung eines irgendwie gearteten Pop-Diskurses erfasst werden: „Ich spürte deutlich die Verbindung, die mich automatisch führte, zwischen Gehör und Körper, tief innen, in der Musik. Da war das alles vorgesehen im Moment.“247 Indem Goetz sowohl die Simultaneität als auch die Polyphonie der Geschehnisse zum ästhetischen Prinzip seiner Texte erhebt, bleibt auch seine eigene Produktion immer unabgeschlossen und ein work in progress. Die Obsessivität seiner Mitschrift der Gegenwart ergibt sich einerseits aus dem schon aufgezeigten Problem, dass die Schrift „wirklich ein trauriger Krüppel“ ist, welcher „der Welt hinterherhinkt“248; andererseits sind die Texte von Goetz immer wieder auch von dem spürbaren Begehren geprägt, einen Raum der Intensitäten und Flüsse aufzubauen, der demjenigen ähnelt, den auch die Musik erschaffen kann: „Die Schwierigkeit war einfach: wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt? Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte.“249 Im zweiten Kapitel von Rave, Sonne Busen Hammer beschreibt Goetz u. a. die Ernüchterung, die sich nach einer durchfeierten Nacht einstellt250, schildert Ibiza-Erlebnisse und das Warten auf den nächsten Rave. Zudem lässt Goetz seinen Ich-Erzähler in eine Diskussion mit den Journalisten und Autoren Diedrich Diederichsen und Tom Holert eintreten, die als ‚Fortschreibung‘ der Auseinan-

246 Ebd. 247 Ebd., S. 209. 248 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 177. 249 Goetz: Rave, S. 32. 250 „Wir stolperten hoch und taumelten raus. Verdammt hell hier, oder habe ich was am Auge? Was geht denn ab? Was gehtn!“ (Ebd., S. 99).

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dersetzung gelesen werden kann, die Goetz schon in seinem Love-Parade-Artikel für das Zeit-Magazin begonnen hat: Der Hauptprotagonist des Romans Rave tituliert die Betrachtungen von Diederichsen und Holert als „abstraktive[s] Pop-Destillat irgendeiner geistigen Pop-Elite“, das aufgrund seiner distanzierten Haltung mit dem „realen Körperding des Prolligen“ kollidiere251 und somit die soziale Praxis des Geschehens nicht zu erfassen vermöge: „Entweder man wird superpedantisch, seriös und dröge, und ficht das Ding wirklich argumentativ durch; oder, Normalfall, es wird der zu kritisierende Text, weil man ihn für falsch hält, in einem ironischen, zitategespickten Nacherzählsound referiert, der dauernd so tut, als wäre die Argumentationsarbeit längst geleistet und allen eh bekannt, weshalb man sie sich, so die soundmäßige Unterstellung, gleich ganz sparen kann, und man macht es sich gerade, auf dieser Nullbasis schön schlaff dahinlallend, so richtig schön gemütlich, bis plötzlich – huch, jetzt schon? – der Text auf einmal aus ist. Das ist es dann. Und das ist eben zu wenig.“252

Wie schon in seinem Klagenfurt-Text Subito oder in seinem Bericht über die Love-Parade postuliert Goetz auch in Rave eine vitalistische Programmatik und fordert dazu auf „die Sachen direkt in Augenschein [zu] nehmen, über die man schreibt“.253 Im dritten Kapitel des Romans, Die Zerstörten, deutet Goetz u. a. die pathologischen Auswirkungen an, die das exzessive Leben als Raver haben kann. Während Goetz schon im ersten Kapitel des Romans das stetige Schwanken zwischen Euphorie und Agonie, das auch das Leben eines Ravers bestimmt, beschrieben hat, entwirft er nun ganz explizit – wenn auch oftmals mit Mitteln der Überzeichnung und Verfremdung – eine Vielzahl an Handlungsfiguren, deren Leben durch übermäßigen Drogenkonsum, Beziehungsunfähigkeit und Depressionen bestimmt ist: „Aber die Freundschaften waren zerstört und zerrüttet, die Ehen und Liebschaften kaputt zerrottet, rettungslos. [...] Wir waren alle: die Zerstörten.“254 Spex-Autor Michael Kerkmann ist es dann auch, der im April 1998

251 Ebd., S. 177. 252 Ebd., S. 177f. 253 Ebd., S. 176. 254 Ebd., S. 234. Im Rahmen eines Rückblicks auf diese exzessive Zeit schreibt Goetz in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle, dass ihm oftmals seine „destruktive, kaputte Sicht auf die Nachtleben-Welt“ zum Vorwurf gemacht worden sei. Seinen Kritikern entgegnet er: „Es ist etwa noch 20 mal kaputter in echt, das echte Nachtleben, als in Rave dargestellt – und erst dann kam mir, daß es darüber hinaus noch einen ganz an-

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zum zehnjährigen Bestehen der Acid-House- und Rave-Bewegung konstatiert, dass die Clubkultur zeitweilig eine „kulturelle Einbahnstraße“ gewesen sei: „Die Raver wurden müde und überdrüssig, hatten zu viele Pillen genommen und der Partyoverkill tat ein übriges.“255 Das jahrelange Feiern und der stetige Drogenkonsum haben auch beim Ich-Erzähler aus Rave zu einer körperlichen und geistigen Zerrüttung geführt: „Ich aß viel, trank viel, ich wurde dick und kahl. Ich nahm Tabletten, gegen alles. Mein Gehirn begann zu stinken.“256 Diese Entwicklungen führen dazu, dass der Ich-Erzähler sich zudem intensiv mit seinem nun schon drei Jahre währenden Vorhaben auseinandersetzt, ein

deren Grund gibt, warum ich das so zeige: daß ich diese Kaputtheit nämlich unglaublich GEIL finde. Daß ich mich also durchaus einverstanden damit erkläre. Weil es mit Kaputtheiten korrespondiert, die ich überall in mir und um mich herum sehe.“ (Goetz: Abfall für alle, S.265). 255 Kerkmann: Köln, zehn Jahre nach dem Acid-Knall: Revolution 303, S. 33. 256 Goetz: Rave, S. 235. Auf noch drastischere Art und Weise schildert die Schriftstellerin Nancy von Bunker in ihrem autobiographischen Bericht Die Tickerlady. Mein Leben in der Technoszene den vorwiegend durch exzessiven Drogenkonsum ausgelösten Verfall des Körpers und der sozialen Bindungen. Zunächst erfährt Nancy den Besuch des Berliner Clubs Bunker – ein ehemaliger Luftschutzbunker, der 1992 für Hardcore-Techno-Veranstaltungen umgebaut wurde – als Katharsis: „Die ohrenbetäubende Lautstärke aus den mannshohen, schwarzen Boxen ließ nichts anderes zu als die Konzentration auf den Beat der Musik. Sie war rhythmisch auf- und abbauend, energisch mit immer wiederkehrenden Grundtönen, eine Mischung aus Hardhouse, Trance und Acid. Die angenehm tragenden Schwingungen legten sich wie ein Schleier um mein Gemüt und brachten mich in einen Trancezustand, in dem ich in unangestrengter Leichtigkeit eine Formation unzähliger Bewegungen tanzte.“ (Ebd., S. 25.) Doch schon bald dealt sie mit LSD, Speed und Ecstasy, um ihren eigenen, stetig ansteigenden Konsum zu finanzieren. Nancy wird zudem heroinabhängig und immer heftiger von Drogenpsychosen geplagt. Sie erlebt, wie die Szenegänger immer kälter und egoistischer agieren, weil die Sucht immer mehr ihr Leben bestimmt. Nancy zieht sich aus der Szene zurück, um neu zu beginnen: „Ich war älter geworden, fast sechsundzwanzig, und hatte so viele Exzesse hinter mich gebracht, daß jeder weitere nichtig war. Ob ich es wahrhaben wollte oder nicht: Die Szene war nicht mehr das, was mich erfüllte. Der Spaß an Lärm und Trubel war verflogen. Es gab keine neuen, geheimnisvollen Szenen, die mich locken konnten, und es gab auch keinen Bunker mehr. Ich sehnte mich nach Ruhe und Entspannung nach all dem Streß, wollte Energie sammeln, einen totalen Cut machen. Der heftigste Abschnitt meines Lebens war zu Ende gegangen.“ (Ebd., S. 205.)

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„kleine[s], schnelle[s], böse[s] Ding“ über „das Nachtleben und alles“ zu schreiben, dessen Verwirklichung bislang immer wieder mit dem Problem von „Textstillstand“, „Handlungsstillstand“, „Zeitstillstand“ und „Agonie“ verbunden war.257 Die Sprache gilt dem Ich-Erzähler – im Sinne von Friedrich Nietzsche – als bildlich-figurativ und lügenverdächtig258, so dass ihm zurückliegende Ereignisse in ihrer ganzen (persönlichen und politischen) Dimension oftmals als ‚unnacherzählbar‘ erscheinen. So gerät der Versuch, einen adäquaten Ausdruck für die Erfahrungen und Wahrnehmungen zu finden, zu einer (oftmals verzweifelten) Suche nach Schreibweisen, die sinnliche Qualität besitzen und nach Wahrhaftigkeit streben: „Der vergangene Ernst, das real Monumentale des Politischen, die Offenheit der Zukunft eines ganz bestimmten einzelnen Lebens in seinem Ausgeliefertsein an Zufälle, Utopien und die vielen kleinen realpolitischen Entscheidungen zur aktuellen privaten Politik der Lebenspraxis: in Szenen und Bildern nicht erinnerbar, seltsamerweise, nicht wirklich rekonstruierbar. LÜGE steht immer ganz groß in grau auf jeder Seite, wo das versucht wird.“259

Die Vergangenheit stellt sich dem Ich-Erzähler als eine „Ohne-Worte-Zeit“260 dar, die aufgrund der Nachordnung sprachlicher Performanzen erst durch Reflexion zu einem (wenn auch oftmals überhöhten und idealisierten) Sprachgestus finden kann, der zudem von einer gewissen Schwermut geprägt ist: „Die Sprache hatte sich verändert. Im Inneren der Körper hatte das Feiern, die Musik, das Tanzen, die endlosen Stunden des immer weiter Machens und nie mehr Heimgehens, und insgesamt also das exzessiv Unaufhörliche dieses ganzen Dings – in jedem einzelnen auch den Resonanzraum verändert, den zugleich kollektiven Ort, wo Sprache vor- und nachschwingt, um zu prüfen, ob das Gedachte und Gemeinte im Gesagten halbwegs angekommen ist. Man kann sich diese Schwingungsstrecke Seele Hirn hoch Wort durch Herz gar nicht weit genug vorstellen. Wahrscheinlich ist der Saturn das hier zuständige Distanzgestirn. Deshalb dauert das alles so lange, und ist auch seltsam verschattet von Melancholie.“261

257 Goetz: Rave, S. 189. 258 Vgl.: Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. 259 Goetz: Rave, S. 220. 260 Ebd., S. 253. 261 Ebd., S. 256.

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Was dabei oftmals nur übrigbleibt, ist der Wille, die „Sprache von ihrer Mitteilungsabsicht frei kriegen [zu] können“, so daß „die Schrift nur noch ein autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel wäre, Atem. Jenseits des Todes. Aber auf dessen Eintreten muß sie dann warten, um Text zu werden.“262 Abgelöst von einem auktorialen Erzähler besäße dieser fragmentarische Text keine Handlung mehr, würde keine Worte mehr für das finden, was er beschreiben möchte, da diese fehlen bzw. nicht ausreichen, um den ekstatischen Glückszustand zu beschreiben: „Ich dachte an unseren Techno-Comic. Im Techno-Comic sollte ja nur tolle Stimmung sein. Der Plan war schon paar Jahre alt. Wir wollten einen Film machen über unser Leben, über das Feiern, die Musik, wie alles wirklich war./ Aber wie war alles wirklich?/ Ich sehe mich noch bei Wolli sitzen, und seitenweise hackten wir unsere Listen und Ideen in den Computer – nur an zwei Stellen blieben wir immer wieder hängen und kamen nicht weiter. Und daran scheiterte schließlich auch der ganze Film: an der Handlung und an den Drogen./ Es gab ja keine Handlung. Das war ja der Witz.“263

In dem Moment, da man eine neue Erfahrung macht, mitten in ihr steht, gibt es für sie noch keine Worte. Es „passiert einfach so, und man war mittendrin, schaute zu und hatte irgendwelche Gedanken dabei, auch ohne Worte“.264 Dabei sehnt sich das „Erleben, so blindwütig es auftrat, [...] zugleich danach, sich zu verstehen. Und will das schon im selben Moment wieder vergessen, will das Verstehen zerstören, das Verstandene von neuem Erleben wieder zu Unsinn sich erklären lassen, durch Neues, wieder Wirres, Tolles“.265 Dergestalt beschreibt auch der Roman Rave die Unmöglichkeit, Erlebnisweisen mit Worten zu erfassen bzw. authentisch und wahrheitsgemäß vergangene Momente zu beschreiben: „Die einzelnen Handlungsteile kommen ihm übertrieben zerhackt, isoliert und dadurch in ihrem Sinngehalt auf eine fast läppisch logische Art traumatisiert vor.“266 Versuche jedweder Art, bestimmte Erlebnisweisen und politische Ambitionen in Worte zu fassen, sind, so Goetz, oftmals von einem „Gestus biederer Verniedlichung“ und einem kitschig wirkenden „Überhöhungston“ geprägt:

262 Ebd., S. 262. 263 Ebd., S. 23. 264 Ebd., S. 253. 265 Ebd., S. 255. 266 Ebd., S. 199.

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„Aber so war es in echt nicht, nie. Eine realitätsgerechte Darstellung – der ganzen Wirrnis und Gleichzeitigkeit aller gegensätzlichen Motive und moralischen Aspekte, – das emotional Triumphale der Güte und die Scham im Moment des Selbstbewußtseins der Richtigkeit der politischen Visionen – es kann aus der Sicht der Handelnden und Kämpfenden, der egal wie gebrochenen Helden wahrscheinlich nicht gezeigt werden.“267

Schon das Festhalten aller menschlichen Interaktion innerhalb einer Sekunde würde, laut Goetz, eine „ganz reale, gewaltige, jede phantastische Bibliothek irgendeines Phantasten weit in den Schatten stellende REALBIBLIOTHEK“ ergeben, die alle „menschlichen Motive, Strebungen, Begegnungsweisen und Gefühle, ein ultradetailliertes Corpus Humanum, ein Alphabet des Menschlichen und alles auch unmenschlich Menschenmöglichen“ in sich vereine.268 Der (scheinbar zum Scheitern verurteilte) schriftstellerische Versuch, sich den Erlebnisweisen des Nachtlebens im Rahmen eines Romans anzunähern, findet bei Goetz seine Legitimation durch die explizite Anwendung polyphoner und fragmentarischer Schreibweisen, die als Ausdruck für die Simultaneität der (oftmals ambivalenten) Sinneseindrücke angesehen werden können. Zugleich erhebt Goetz immer wieder die Unabgeschlossenheit bzw. Unabschließbarkeit seines Projekts, eine ‚REALBIBLIOTHEK‘ zu entwerfen sowie eine ‚Geschichte der Gegenwart‘ zu schreiben, zum Tenor seiner schriftstellerischen Produktion und verleiht der literarischen Rede damit einen gewissen performativen Charakter. Der Leser wird sowohl aufgefordert, seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen mit den literarischen Beschreibungen abzugleichen, als auch dazu animiert, neue Erfahrungen zu sammeln. Dergestalt besitzt der Roman Rave auch einen gewissen appellativen Gestus, der sich nicht darauf beschränkt, Szenegängern, welche die beschriebene Erlebnisweise durch eigene Erfahrung mehr als zur Genüge kennen, eine nachträgliche Beschreibung von Eindrücken zu liefern, die sie bei der Lektüre nach Stimmigkeit der Schilderungen beurteilen. Vielmehr kann auch der unbedarfte Leser, der bis dato kaum Erfahrungen mit der Acid-House-, Techno- und Rave-Szene gemacht hat, seinen Gewinn daraus ziehen, dass er sich auf die Beschreibungen von Goetz einlässt, um eine neue Form der Ausgehkultur kennenzulernen, die ihm bis dahin fremd war. Verstärkt wird der performative und appellative Gestus noch durch die bereits angesprochene Tatsache, dass die den Roman Rave prägende Vergangenheitsform des Imperfekts oftmals abrupt in Präsenssätze über-

267 Ebd., S. 220. 268 Ebd., S. 173.

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geht und somit den Text auf eine „unabgeschlossene Gegenwart“269 hin öffnet. Markant unterstrichen wird diese unabgeschlossene und offene Form, die für viele Texte von Goetz bezeichnend ist, auch noch durch den Schlusssatz des Romans: „Nein, wir hören nicht auf, so zu leben.“270 Dieses markante Ende von Rave verdeutlich nicht nur, dass die elektronische Tanzmusik den Habitus vieler Menschen beeinflusst hat bzw. bis dato bestimmt, vielmehr kann es auch als die ästhetische Chiffre dafür gewertet werden, dass es Goetz in allen seinen Arbeiten um eine Präsentation der Jetzt-Zeit bzw. Gegenwart geht. Der Schlusssatz von Rave ist auch nicht als eine stagnative bzw. wütend-resignative Haltung zu verstehen, da sich Kulturen, Identitäten und Diskurse stetig wandeln und ausdifferenzieren. Dabei werden immer neue Erlebnisweisen generiert, die auch von der literarischen Rede aufgegriffen werden: „Die Themen erneuern sich ständig, und das Rhythmus- und Selbstgefühl des Augenblicks wird in der Gegenwartsliteratur ein immer größeres Gewicht bekommen.“271 Die modernen Schreibweisen, die dazu dienen, das „Rhythmus- und Selbstgefühl des Augenblicks“ zu erfassen, orientieren sich, wie schon mehrfach angedeutet, oftmals an der Ästhetik der populären Musik, da diese ständig Transformationen durchläuft, rhythmische Strukturen besitzt und im Hier und Jetzt stattfindet. „Gerade Techno und House können in ihrer Repetitivität [...] ‚Moment als Moment‘ hervorheben, verstärkt durch die Präsentation im Mix“272, wie der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher in Anlehnung an Neil Tennant, den Sänger der Pet Shop Boys, konstatiert. Ebenso schreibt auch der Journalist und DJ Hans Nieswandt, dass durch DJ-Techniken wie z. B. Sampling, Scratching, Cutting, Mixing, Looping und Phasing eine „fragile, neue Musik“ erschaffen wird, die „nur in diesem Moment existiert und im nächsten schon wieder verdunstet“ ist.273 Die eigentliche Frage, die sich durch dieses Faktum für die literarische Rede ergibt, lautet, so Schuhmacher somit: „Läßt sich aber die Konzentration auf ein jeweils neues Jetzt, lassen sich die Effekte von Unmittelbarkeit, Präsens, Präsenz und deren Verschwin-

269 Schuhmacher 2003a, S. 149. 270 Goetz: Rave, S. 271. Der Schlusssatz des Romans verweist, in Form einer Übersetzung, zudem auf die CD We’ll Never Stop Living This Way (Low Spirit 1997) des DJs Westbam, die unter anderem die Love-Parade-Hymne Sunshine und den Track Sonic Empire der Members Of Mayday enthält (vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 149). 271 Böttinger 2004, S. 257. 272 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 20f. 273 Nieswandt: plus minus acht, S. 22.

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den, die in der Musik evoziert und relektiert werden, auf vergleichbare Weise in der Literatur produzieren – oder zumindest reproduzieren?“274 Eine gewisse Nähe von literarischer Rede und musikalischer Produktion konstatiert auch die in Salzburg geborene Autorin Kathrin Röggla, wenn sie darlegt, dass sie „sehr stark mit Rhythmisierung, Beschleunigungsverfahren wie Wiederholung, Verknappung, Polyphonie und Überzeichnung“ arbeite und zudem die in ihren Werken angewandte Cut-Up-Technik mit der „neue[n] Qualität massenmedialer Zurichtung“ begründet: „Man hat eben keine ‚reinen‘ O-Töne mehr, auch keine ‚reinen‘ Medien, man hat auch keine Einzelmedien mehr, sondern ein Mediensystem. Man kann die Ebenen nicht mehr einfach trennen. Aber auch wenn wir in einer durchmedialisierten Welt leben, selber Medieneffekte sind, sind wir doch gleichzeitig Bewußtseine, und diese gegenseitige Durchdringung ist ein hochkomplexes Verhältnis, dem man so trivialpopmäßig nicht beikommt.“275

Dergestalt zeugt z. B. Kathrin Rögglas konsequent in Kleinschrift gehaltener Roman Irres Wetter, der aus einer Vielzahl an Textmontagen besteht, einerseits von der bewussten literarischen Zielsetzung, die durchmedialisierte Welt und die damit einhergehende fragmentarisierte Wahrnehmung in der literarischen Rede zu realisieren. Andererseits ermöglicht das Cut-Up-Verfahren, das Röggla bei ihrer schriftstellerischen Arbeit in den Vordergrund rückt, durch das autonome Auswählen aus dem vorgegebenen Material und die Modifizierungen, die der Schriftsteller z. B. durch Überschreibungen vornimmt, ein Aufbegehren gegen die „massenmediale Zurichtung“276 und generiert einen distanzierten und kritischen Blick u. a. auf ökonomische, politische und populärkulturelle Phänomene. Dabei sei, wie Röggla erklärt, für diese literarische Herangehensweise eine „ironische Haltung“ konstitutiv, doch beziehe sich diese nicht allein auf das Aufgreifen und Verarbeiten von literarischen Stilen und Genres, sondern vielmehr auf das verarbeitete alltagskulturelle Material (O-Töne, Medienmitschriften, Lektürerecherchen etc.) selbst, das „durch Kontrastierung oder Inversion, durch Insistieren, Wiederholen, Vergrößern, Verkleinern“ neu zusammengesetzt und dergestalt einer reflexiven Betrachtung erst zugänglich gemacht wird.277

274 Schuhmacher: Gerade Eben Jetzt, S. 21. 275 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 165. 276 Zitiert nach ebd. 277 Zitiert nach ebd.

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So entwirft Röggla, wie auch Johannes Ullmaier schreibt, in ihrem Roman Irres Wetter eine „distanzierte Inventur des Sprach-/Bewußtseinsstands urbaner 90er-Pop-Milieus quer durch verschiedene Fraktionen und Privatheitsstufen“278, wobei sie ihren Blick vorwiegend „auf die allpräsenten Scharen jungflexibler, pseudokreativer Medienministranten“ richtet, die „das neoliberale Pop-Versprechen dadurch tragen, daß sie es – gleich wie ironisch abgefedert – glauben, ohne je davon zu profitieren“.279 Dieser „Spaß am satirischen Umgang mit dem Material“280, den Röggla für ihre Texte reklamiert, zeigt sich schon in der Eingangsgeschichte des Romans Irres Wetter, die den bezeichnenden Titel so kann man kein geld verdienen trägt: Röggla beschreibt eine Gruppe von Österreichern, die „eurofitness“281 beweisen möchten, indem sie extra zur Love Parade nach Berlin anreisen. Doch ihr Versuch, auf „tiergartenlevel zu kommen“ und sich der Masse der Feiernden anzuschließen, scheitert kläglich: „wie erwartet wird nämlich die love-parade gerade zur ex-love-parade, als wir in die nähe des großen sterns kommen, stehen die leute nur noch da und starren wie benommen richtung siegessäule, als ob dort was geschähe, doch geschieht da nichts mehr, nur noch am rand werden melonen verkauft [...]“.282 Während Goetz im Roman Rave seinen Ich-Erzähler gleich eingangs unmittelbar in das Nachtleben hineinversetzt, wo dieser sich ganz und gar in der Masse der Tanzenden auflöst, handelt Rögglas Roman Irres Wetter primär von „einer welt als taubenschlag von angebot und nachfrage“283, von der rastlosen Suche nach dem Vergnügen, von stetigem Aufschub, von der inneren Leere und dem orientierungslosen Individuum. In den kurzen Episoden des Romans durchstreift Röggla das Berlin der 1990er Jahre und richtet ihren Blick dabei z. B. auf die Stadtteile Neukölln und Kreuzberg, in denen die vorherrschende ökonomische und soziale Schieflage deutlich hervortritt: „ja, ja, auseinanderbräuche, wohin man blickt.“284 Ihre Darstellung von Berlin, so Röggla, sei durchaus als „ästhetischer Gegenentwurf zum Medienbild der ‚neuen Hauptstadt Berlin‘“ zu verstehen: „Die Konstruktion der ‚neuen Mitte‘ konterkariere ich mit dem Motiv des nicht erreichbaren Zentrums und dem der ‚Peripherie‘, bzw. indem ich Berlin als periphere Stadtland-

278 Ebd. 279 Ebd., S. 166. 280 Zitiert nach ebd., S. 165. 281 Röggla: Irres Wetter, S. 5. 282 Ebd., S. 7f. 283 Ebd., S. 12. 284 Ebd., S. 33.

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schaft darstelle. Insofern ist das schon klassische Ideologiekritik, nämlich zu sagen: ,Es gibt gar keine Mitte, zumindestens nicht so, wie sie euch verkauft wird – für alle zugänglich, die schöne neue Welt.‘ Und weil aber die Art und Weise, wie diese Konstruktion geschieht, eben auch eine ästhetische ist, fällt für mich die Frage der Kritik daran zusammen mit der, wie man Texte konstruiert.“285

Im Klappentext der Hardcover-Ausgabe aus dem Jahr 2000 bezeichnet Röggla die skizzenhaften Erzählstränge, aus denen der Roman Irres Wetter besteht, als „mental maps“, welche die urbanen und gesellschaftlichen Veränderungen dadurch abbilden, indem auf der Textebene stetig „Orte [...] mit darin abgelagerten Gesprächsfetzen, Gesten und Riten verschränkt“ werden.286 In einem Gespräch räumt Röggla aber zudem ein, dass der „Reiz, mit Oberflächen zu spielen“, bei ihr genauso stark vorhanden sei wie bei Rainald Goetz, bezieht jedoch zugleich Position gegen dessen ‚romantischen‘ bzw. verklärenden Zugriff auf das Material: „Mir geht es um Positionierung. Es ist ja nicht gleichgültig, was und wie ich montiere, es gibt ja Gründe, warum man schreibt, und neben dem Spaß am Sprachspiel und an der sogenannten Erkenntnis ist es hauptsächlich die Wut auf bestimmte Verhältnisse.“287 Indem Röggla für ihre schriftstellerische Produktion eine „Aktualisierung pop- und avantgardeerprobter Materialaneignungsweisen“ vornimmt288, um die in unserer modernen Gesellschaft vorherrschende Beeinflussung des Menschen durch die Medien bzw. die gegenseitige Durchdringung von durchmedialisierter Welt und Bewußtsein aufzuzeigen und zu kritisieren, setzt sie sich von den Schreibweisen, die, laut Röggla, für die sogenannte PopLiteratur seit den 1990er Jahren konstitutiv sind, vehement ab: „Wenn heute die Rede von Popliteratur ist, dann meint das meist formal nicht anspruchsvolle, also nicht reflektierte, allein auf Wiedererkennungseffekten beruhende glatte Texte. Es scheint keine technischen Entscheidungen, Materialfragen, überhaupt keine Schreibprobleme mehr zu geben. Die dazugehörige Leserposition: Wir wollen nichts erfahren, wir wollen etwas wiedererkennen.“289

Ob Rögglas harsche Kritik an der vermeintlichen Oberflächen-Ästhetik der Popliteratur zumindest teilweise eine Berechtigung hat, sei dahingestellt. Es lässt

285 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 166f. 286 Röggla: Irres Wetter, Klappentext. 287 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 166. 288 Ullmaier 2001, S. 165. 289 Zitiert nach Ebd.

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sich jedoch – wie aufgezeigt – konstatieren, dass für Goetz sehr wohl Formfindungs- und Selektionsprozesse als auch damit einhergehende Schreibprobleme eine entscheidende Rolle bei der literarischen Produktion spielen. Zudem stehen bei Goetz nicht ausschließlich Wiedererkennungseffekte im Vordergrund, auch wenn seine Texte eine kaum noch zu durchschauende Verweisstruktur besitzen, indem sie auf eine Vielzahl an Musikern, DJs, Platten, Labels, Journalisten, Schriftstellern, bildenden Künstlern etc. rekurrieren. Vielmehr geht es Goetz um die Unmittelbarkeit und sinnliche Plausibilität seiner Texte – immer im Bewusstsein, dass wissenschaftliche, journalistische und literarische Rede keinen Ersatz für die eigentlichen Erlebnisweisen, die z. B. die Punk- und Techno-Bewegung herausgebildet haben, liefern kann. Um seinen Texten dennoch eine gewisse Präsenz zu verleihen, wird für Goetz insbesondere die sich „über den Zeitraum mehrerer Stunden einer Nacht erstreckende [...] Augenblicklichkeitskunst“ des DJs290, die in der Produktion eines „real prozessual entstehenden Kunstwerks“ besteht291, zum „entscheidenden Kontext für das Schreiben, zu einem Taktgeber und Resonanzraum für die literarischen Texte“292; auch wenn er – wie schon an frühen Texten von Goetz hervortritt – um die Differenz sowohl von Schriftlichkeit und Mündlichkeit als auch von literarischer und musikalischer Produktion weiß. Die dabei entstehenden Interdependenzen zwischen musikalischer und literarischer Produktionsästhetik werden im folgenden Kapitel näher erläutert.

290 Goetz: Rave, S. 84f. 291 Ebd., S. 87. 292 Schuhmacher 2003a, S. 143.

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5.4 DJ-C ULTURE : D IE ABSCHAFFUNG AUKTORIALEN E RZÄHLUNG

DES

D IKTATS

DER

„Was tut der DJ? Er wird gleich einen der beiden Plattenspieler irgendwie berühren und dort irgendwo was machen, an der Platte, am Tonarm, am Geschwindigkeitsregler. Paßt denn das neue Stück wirklich?“293 „Text: sich öffnende Form.“294

Trotz des „Oppositionsverhältnis[ses]“295 von Text und Musik, das in den Arbeiten von Goetz immer wieder thematisiert wird, finden sich in seinen Texten, wie im vorangegangenen Kapitel schon mehrfach angedeutet, „eine Reihe von signifikanten Analogien“ zwischen der neuartigen Materialästhetik bzw. Präsentationsform296, welche die sogenannte DJ-Culture hervorgebracht hat, und den ästhetischen Prinzipien, die Goetz u. a. in seinem Roman Rave anwendet, um seinen Beschreibungen eine gewisse Unmittelbarkeit zu verleihen. Diese Analogien zwischen musikalischer und literarischer Produktionsästhetik werden nachfolgend genauer betrachtet. Dazu wird zunächst die Geschichte und Ästhetik der DJ-Culture beschrieben, um in einem weiteren Schritt aufzuzeigen, welchen Einfluss diese ästhetischen Prinzipien auf die literarische Arbeit von Goetz gehabt haben und immer noch haben. Wie insbesondere die vorangegangene Analyse von Rave deutlich gemacht hat, ist Goetz einerseits bestrebt, die „verschiedenen Formen von verbaler und nonverbaler Kommunikation auf und neben der Tanzfläche schriftlich zur Sprache zu bringen“ und „mit der Schrift zu konfrontieren“; andererseits geht es Goetz auch darum, die „spezifischen Formen der Produktion und, wichtiger noch, Rezeption von Techno aus der Perspektive eines Schreibenden in den Blick zu nehmen“, wobei primär die „Arbeitsweisen von Discjockeys“ und der „Sound der Musik“ in den Vordergrund rücken.297

293 Goetz: Rave, S. 83. 294 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 32. 295 Schuhmacher 2003a, S. 143. 296 Ebd., S. 144. 297 Ebd., S. 143.

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Der DJ hat seinen traditionellen Ursprung in allen Radiostationen rund um den Globus, in denen Moderatoren zur Gestaltung des Programms z. B. auf Schallplattenaufnahmen zurückgriffen. Vor der Erfindung von Clubs und Discotheken während des Zweiten Weltkrieges blieb das Betätigungsfeld des DJs auf das Radio beschränkt, auch wenn viele der beim Rundfunk beschäftigten DJs eine enorme Bekanntheit erreichten, die sie u. a. auch für ökonomische Zwecke (‚pay to play‘) nutzten. Zudem entwickelten viele Radio-DJs nach und nach ein enormes handwerkliches Geschick, perfekte Überleitungen von einem Song zum nächsten zu generieren, um den Hörer zu vereinnahmen.298 Einer der wegweisenden Radio-DJs, der den nahtlosen Übergang mit viel Geschick zelebrierte, war der Amerikaner Francis Crosso, der z. B. Funk-, Rock- und Latino-Stücke mit afrikanischen Folkloreaufnahmen mischte. Crosso erfand das sogenannte ‚slipcueing‘, bei dem die Platte bei rotierendem Plattenteller mit dem Daumen festgehalten und exakt dann losgelassen wurde, wenn der Beat des anderen Stückes endete. Zudem arbeitete Crosso mit dem sogenannten Pitch-Shifter, einem Effektgerät, das dazu dient, Tonhöhe und Geschwindigkeit von Musikstücken aneinander anzugleichen, und blendete verschiedene Musikstücke ineinander.299 Die Neudefinition der Grundfunktion des DJs fand jedoch außerhalb der Rundfunkanstalten statt und ist verbunden mit einem anderen künstlerischen Selbstverständnis, wie Ulf Poschardt in seinem Buch DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur konstatiert: „Die DJ-Ästhetik ist seit den Anfängen eng mit der technologischen Entwicklung verknüpft. Bis in die 70er Jahre hinein legten DJs nur Platten auf und benutzten dazu zwei Plattenspieler und ein kleines Mischpult. Mit Disco, Hip Hop und der Misch-, Scratchund Cut-Technik kam der entscheidende Durchbruch hin zu einem künstlerischen Umgang mit Turntables und Platten.“300

Die Tanzkultur der 1980er und 1990er und die DJ-Ästhetik der House- und Techno-Musik haben dem DJ mittlerweile ein neues Selbstverständnis und eine neue Souveränität verschafft, wie auch Ulf Poschardt schreibt: „DJ-Sets als Kunstform sind inzwischen ebenso normal wie die Produktionen vieler DJs, bei denen die Plattenteller aus dem Produktionsbereich verschwunden sind. Arbeiten mit Orchestern, Rockbands oder Jazz-Musikern zeugen von der Freiheit der Wahl, die sich

298 Vgl. Poschardt 1997, S. 42-100. 299 Vgl. ebd., S. 109. 300 Ebd., S. 33.

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Künstler gönnen, die aus dem Background der DJ-Musik kommen. Gleichzeitig gibt es immer wieder Projekte, Konzerte oder Clubabende, an denen diese Arbeit wieder zur Grundeinheit Plattenteller plus Mischpult zurückfindet.“301

Der DJ wurde, wie auch Laurent Garnier konstatiert, „nicht mehr als Jukebox gesehen, sondern als ein Entdecker. Er war zugleich der Mann der Musik, der mit den Tänzern verschmolz, und der Dirigent, der die Richtung vorgab“.302 Durch geschickten Einsatz von DJ-Techniken (Mixen, Cutten, Scratchen, Sampeln, Loopen etc.) vermag es der DJ, einen innovativen und endlosen ‚flow‘ zu erzeugen, der die tanzenden Menschen zu einem, wie es bei Goetz heißt, ‚Kollektivspaßkörper‘ vereint. Durch die euphorische Stimmung, die in dieser Gemeinschaft herrscht, wird jegliches Entfremdungs- und Vereinzelungsgefühl aufgehoben, wie auch Garnier zu berichten weiß: „Einer Gesamtenergie zugehörig, löst sich der Tänzer von Furcht, Ängsten und belastenden Gefühlen. Durch den Tanz kann er seine Dämonen austreiben und über sich selbst hinauswachsen.“303 Der DJ bedient seine Plattenteller, belauscht bzw. lenkt das Geschehen auf der Tanzfläche und versucht, den Besuchern, wie Goetz schreibt, die bestmögliche „Abfahrt“304 zu ermöglichen. Was man sich unter diesem „to read the crowd“ vorzustellen hat, beschreibt der amerikanische Techno-DJ und -Produzent Jeff Mills, der als RadioDJ begonnen und den musikalischen Stil von Detroit-Techno als Mitglied des DJ-Kollektivs Underground Resistance entscheidend geprägt hat, folgendermaßen: „Es ist unerläßlich, eine Dreiviertelstunde bevor mein Set beginnt, schon vor Ort zu sein. Ich schaue mir an, wie sich das Publikum zusammensetzt. Wie sind sie gekleidet, wo stehen die Leute, die wirklich abgehen wollen? Wohin schauen sie? Das Publikum sucht sich oft einen Orientierungspunkt: entweder zu den Boxen, weil da der Sound herkommt, oder in Richtung des DJ’s, weil er den Ton angibt. Auch das Verhältnis von Männern zu Frauen ist wichtig. Wenn die Leute schon was älter sind, muss ich mir vielleicht etwas mehr Zeit nehmen, weil sie es nicht gewohnt sind, dass die Musik sofort abgeht. Auf diese Weise ergibt sich, mit welchen Platten ich beginne und wie lange ich spielen sollte, bevor ich den Älteren eine Pause gönne. Wenn es in dem Club heiß ist, lasse ich kleine Einschübe, in denen man eine Auszeit nehmen kann, um durchzuatmen oder an die Bar zu gehen. Es

301 Ebd., S. 449f. 302 Garnier/Brun-Lambert 2005, S. 15. 303 Ebd., S. 208. 304 Goetz: Celebration, S. 11.

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sind verschiedene Faktoren. Wie viele Typen ziehen ab einem bestimmten Punkt ihr Hemd aus? Das alles bestimmt letztlich deinen Set, und welche Platten du in deinem Koffer nach vorne stellst, damit du schnell dran kommst.“305

Laurent Garnier spricht emphatisch von der „elektrische[n] Spannung“ in einem Club, deren Intensität maßgeblich durch den DJ und sein handwerkliches Geschick bestimmt wird, die richtige Platte zum richtigen Zeitpunkt zu spielen: „Wenn alle notwendigen Parameter für die Entstehung der richtigen Chemie vorhanden sind [...], werden die Tänzer eine außergewöhnliche Palette von Gefühlen freisetzen. [...] Die Musik wird zur Reise.“306 Auch für Goetz wird der DJ „zum Mythos und zur Legende mit metaphysischen Qualitäten: der Schamane, der die Massen in seine Gewalt bringt und sie als Medizinmann therapiert“.307 Dergestalt bezeichnet Goetz den bekannten DJ Sven Väth308, der 1988 einige Zeit auf der Insel Ibiza verbrachte und nach seiner Rückkehr in Frankfurt den le-

305 Zitiert nach Niemczyk/Schmidt 2000, S. 95. Welche Bedeutung gerade Jeff Mills für die Techno- und DJ-Bewegung besaß und immer noch besitzt, verdeutlicht auch folgende Bemerkung von Holger In’t Veld: „In meinem Leben – und hier spreche ich stellvertretend für viele Rock-Sozialisierte – hat Mills einige wesentliche Einschnitte markiert, auf Tonträger und noch mehr auf DJ-Seite. Seine mythisch überhöhten Hände symbolisieren jenen metaphysischen Moment, der sich nach einer Stunde perkussiver Härte ergibt und die Geschichte der letzten Dekade mitgeschrieben hat.“ (Veld: Jeff Mills. Jetzt mit mehr Bedeutung, S. 26.) In seinen rasanten DJ-Sets spielt Mills teilweise bis zu siebzig Platten in einer Stunde, wobei er oft nur Sekundenbruchteile eines Tracks benutzt. Die ständige Manipulation von Beats, Laufgeschwindigkeiten und Frequenzen geht dabei oftmals noch über den rein technischen Aspekt hinaus und erreicht zuweilen eindeutig Performance-Charakter: So legt Mills das Vinyl schon mal schräg auf den Plattenteller, so dass der Tonarm die Unebenheiten ausgleichen muss und zusätzliche Manipulationen des Sounds möglich werden. Mills Tätigkeiten als Techno-DJ zeigen recht deutlich, welche Bedeutung sowohl dem handwerklichen Geschick als auch der richtigen Plattenauswahl in der DJ-Culture zukommen. Die starke Defragmentarisierung einzelner Soundelemente, die Mills bei seinen DJ-Sets und seinen Plattenproduktionen vornimmt, zeigt auch die enorme, teilweise bis zur Unkenntlichkeit vorangetriebene Formbarkeit des Klangmaterials (vgl. auch Holert: Jeff Mills. Die Hände Gottes). 306 Garnier/Brun-Lambert 2005, S. 37. 307 Poschardt 1997, S. 320. 308 Einen Überblick über das frühe Schaffen von Sven Väth bietet die CD Retrospective. 1990-1997 (Club Culture 2000).

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gendären Techno-Club Omen eröffnet hat, in einem aus dem Jahr 1994 Artikel als jemanden, der sich auf einer „Mission“ befindet:

Tempo-

„[V]on sehr weit hergekommen, aus den Tiefen ferner Märchen, Mythen und Geschichten; im Dienst der jeweils kommenden, neuesten Nacht. Sein Auftrag hieß: Musik und Tanz, Ekstase, Abfahrt, Rausch. Er kannte Dämonen und beherrschte sein Handwerk. Er führte den Schatz eines ihm selbst fast verschlossenen Wissens mit sich; doch wußte er sich sicher beseelt von gewaltigen Kräften. Er war im Bund mit Feen, Faunen und Teufeln.“309

Der Artikel ist zudem mit einem symbolträchtigen Foto versehen, das die emphatische Haltung des Schriftstellers gegenüber Sven Väth deutlich hervorhebt und Goetz als ‚Handlanger‘ des DJs erscheinen lässt. Die Fotografie zeigt Goetz beim Tragen von Sven Väths Plattenkoffer und offenbart dadurch recht offensiv Goetz’ ‚sklavische‘ Verbundenheit mit einer Musikrichtung, die unter dem Begriff DJ-Culture sowohl neue musikalische Formengesetze bzw. Produktionsweisen als auch eine neue soziale Praxis hervorgebracht hat. Für Goetz beginnt die DJ-Culture, wie er in Rave konstatiert, „zuhause beim Erlernen der Kunstfertigkeit dieses realen Handwerks, mit zwei verschiedenen Plattenspielern eine Musik zu machen“.310 Diese „Kultur und Kunst des handwerklichen Tuns des Mischens und des Mixens, des Cuttens und des Scratchens“311, die viele DJs bis zur Perfektion beherrschen und die einzig dazu dient, die Menschen auf der Tanzfläche in Ekstase zu versetzen, wird von Goetz wie folgt beschrieben: „Diese Praxis, Leute, dieses Handwerk, diese Rezeptivität und Reaktionsgeschwindigkeit, das Lauschen, Rühren, Ordnen und Verwerfen, diesen Vorrang der Reflexe, bei gleichzeitiger Reflexion auf diesen Vorrang, die auf praktische Umsetzung gerichtete Visison einer realen Abfahrt, der Party also, die zum Ereignis vieler einzelner mit lauter anderen wird,

309 Goetz: Celebration, S. 11f. Es ließen sich noch eine große Anzahl an Belegstellen anführen, die alle in einem derartigen Begeisterungston verfasst sind und dem DJ sowohl ein ‚heilsames‘ als auch ‚dionysisches Kräftepotential‘ zuschreiben. Vgl. z. B.: „SVEN VÄTH, DIONYSOS/ Schamane/ Rucksäckchen/ Medizinmann/ Fürst, Napoleon, Luzifer/ die weiße Maske, rauhe Stimme, auch ein Einsamer/ Sven Väth, ein Weiser (Wer das nicht versteht, muß sofort zum Arzt.)“ (Goetz: Kronos, S. 396). 310 Goetz: Rave, S. 82. 311 Ebd.

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diese Verbindung, mit anderen Worten, von Handwerk und ästhetisch innovativem Geschehen, all das nennen wir hier: DJ-CULTURE.“312

Bei der Auswahl und Reihenfolge der Platten agiert der DJ, laut Goetz, nach bestimmten „Verknüpfungsregel[n]“313, die sich sowohl aus der Beobachtung des Geschehens auf der Tanzfläche als auch durch das geschulte Ohr und die handwerklichen Fähigkeiten des DJs ergeben: „Man beobachtet, wie der DJ die Reaktion des Publikums aufnimmt und interpretiert. Sind die Leute dabei? Hat man sich geirrt?“314 Die Tatsache, dass der DJ die „[r]eine Kunst des Lauschens“ beherrscht315, die ihn befähigt, einen passenden Mix zu generieren, und er zugleich die Fähigkeit besitzt, die Reaktionen der Tanzenden zu antizipieren, lässt ihn für Goetz zu einer „soziale[n] Kristallisationsfigur“ werden316, welche die Menschen auf der Tanzfläche vereint. Zudem gelten Goetz, wie auch der Journalist und Wissenschaftler Ulf Poschardt im Rahmen seiner Analyse der Geschichte der DJ-Culture ausführt, DJs als „perfekte Bespiele einer allgemeinen Kommunizierbarkeit auch schwieriger und abstraktester Kunstwerke“.317 Die unbändige Neugier, die Goetz für diese sich rasant entwickelnde elektronische Tanzmusik und die sogenannte DJ-Culture hegt, zeigt sich auch an dem Band Mix, Cuts & Scratches, den Goetz 1997 zusammen mit DJ Westbam veröffentlicht, der in den 1980er Jahren in der Punk- und New-Wave-Szene aktiv war, danach zu einem gefragten DJ und Label-Betreiber avancierte und zeitweise als Organisator der Techno-Veranstaltung Mayday auftrat. Neben einer Anzahl an programmatischen Texten von Westbam, die zuvor schon in Magazinen und Booklets von Plattenveröffentlichungen erschienen waren, beinhaltet Mix, Cuts & Scratches sowohl Mitschriften von Gesprächen, welche die beiden aus verschiedenen ästhetischen Richtungen stammenden Künstler miteinander geführt haben, als auch längere Textabschnitte mit dem Versuch, die Geschichte der DJCulture zu beschreiben.318

312 Ebd., S. 87. 313 Ebd. 314 Ebd., S. 84. 315 Ebd., S. 85. 316 Poschardt 1997, S. 320. 317 Ebd., S. 318f. 318 Diese Interview- und Textsammlung hat aufgrund ihrer affirmativen Haltung gegenüber den kommerziellen Entwicklungen in der populären Musik und den Verkaufserfolge messenden Charts zu einer Reihe negativer Kritiken geführt. So schreibt z. B. die Journalistin Mercedes Bunz: „Hier wird nicht nur versucht, Westbams Sichtweise

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Der schon in den früheren Arbeiten von Goetz spürbare Wunsch, sowohl innovative als auch zugleich zugängliche Schreibweisen zu entwickeln, die sich von der auktorialen Erzählweise lösen und somit Offenheit und Vielstimmigkeit erzeugen, wird scheinbar von der aufkommenden DJ-Culture und Acid-HouseBewegung noch verstärkt. Dabei interessiert sich Goetz nicht nur für die soziale Praxis, die mit der elektronischen Tanzmusik einhergeht, sondern speziell auch für das ‚Handwerk‘ des DJs, d. h. für diese neuartige nichtlineare, nonnarrative und nichtdiskursive Form der populären Musik, die, wie im Folgenden noch aufgezeigt wird, u. a. die Vorstellungen von Autor- und Urheberschaft hat obsolet werden lassen, da sie einen bestimmten Umgang mit vorgefundenem Material postuliert, vorwiegend auf Rhythmus und Klang aufgebaut ist und die Stimme häufig als Instrument einsetzt oder gänzlich auf sie verzichtet. Demgemäß konstatiert auch Goetz: „Außerdem, neben diesem umfassenden musikalischen Selbst- und Neuerfindungsfundamentalismus, hat Techno im Raum der Sprache gearbeitet und dort bekanntlich das Diktat der auktorialen Erzählung durch einen die Musik immerzu mit sprachlicher Mitteilung und dem Gestus des Expressiven behelligenden Text abgeschafft. Gerade anfangs, 1988, beim ersten Acid-House-Boom, kam einem das wie eine Erlösung vor. Kein Rock-Geschrei, kein Rap-Teaching mehr: das pure Parlament der vielen Stimmen eines kollektiven Glücks: Monotonie und Einzelworte, Fetzen, Reste. Nichtkohärenz, Nichttext. Danke.“319

zu vermitteln, sondern auch, eine Wahrheit, eine Geschichte von Techno zu schreiben: den Westbamschen Weg. [...] Goetz/Westbam schreiben eine geschichtliche Theorie zur Entwicklung von Musik. Dafür behaupten sie einerseits Chartmusik als notwendig, um die Musik überhaupt zu Leuten zu bringen, die an Musik weiterarbeiten. [...] Andererseits erklärt man alles, was sich nicht in die hohen Verkaufszahlen hineinbewegt [...] für nicht signifikant. Unglücklicherweise verhalten sich weder Masse und Qualität, noch Verkaufszahlen und Geschichte proportional zueinander. Abgesehen davon gründet der eigenartige Zyklus Westbams auf die Ausblendung jeglicher politischen Attitüde im ‚Underground‘, hat es nie gegeben, weil passt nicht ins System, kurzerhand wird Underground zu Musik, die niedrige Verkaufszahlen hat. Was an diesem Buch so schlimm ist, sind diese ausschließenden Verfahren. Hinter einer offenen Form – zusammengesetzten Momenten, immer wieder eingeschobenen, reflexiven Goetz-uiuiui-das-hier-ist-ein-Text-Passagen, an Stellen, an denen es keinem wehtut – findet sich die schlimme Form von Wahrheit: die einzige, die ausschließende, inkorporiert durch Westbam, dem Weg.“ (Bunz: Ein Weg ist das Ziel, S. 63). 319 Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S. 18.

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Schon in diesem Statement scheint sich anzudeuten, dass Goetz die aufkommende Acid-House-Bewegung als willkommene Inspirationsquelle für seine schriftstellerische Tätigkeit begreift und die Techno-Musik und ihre ‚Machart‘ als Quelle für weitere Überlegungen hinsichtlich seiner literarischen Arbeit ansieht. Es ist dieser „Moment von Sinnlichkeits-Schock“, der, laut Goetz, sowohl die Malerei als auch die populäre Musik auszeichnet und beim Betrachter bzw. Hörer Irritationen hervorruft, die wiederum das eigene künstlerische Verständnis infrage stellen: „Was heißt das für die Schrift?“320 Wie lässt sich, so fragt sich Goetz, diese vielstimmige, offene und prozessuale Ästhetik, welche die DJ-Culture auszeichnet, in die Literatur übertragen, um der Schrift gleichfalls eine gewisse Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit zu eröffnen, wenn doch die Musik „schon mit dem Erklingen von einem einzigen Moment von Sound und Ton, von Rhythmus – Gemeinschaft konstituiert“, während sich die Schrift ihrem Wesen nach als „antikollektiv“ darstellt, da „sie sich in der Stille und Einsamkeit des Lesens an den Einzelnen genau mit dem Angebot wendet, sich different zu ihr zu erleben“.321 Es ist, so legt dieses Zitat nahe, zugleich die Stärke und die Schwäche der literarischen Produktion, nicht die Präsenz generieren zu können, die von der Malerei und der Musik erzeugt werden kann. Der Autor Rainald Goetz ist sich, wie auch schon die vorangegangenen Betrachtungen seiner frühen und vom PunkGestus beeinflussten Texte gezeigt haben, sowohl des grundsätzlichen Unterschieds von Literatur und Leben bewusst als auch der Tatsache, dass die literarische Rede aufgrund ihres antikollektiven und auf Differenz abzielenden Charakters nicht die gleiche Unmittelbarkeit wird erzeugen können wie z. B. die Techno-Musik, die eine Vielzahl an Menschen an einem Ort zusammenbringt und zum Tanzen animiert. Dergestalt gleicht seit jeher die literarische Produktion von Goetz einer stetigen Suche nach offenen und vielstimmigen Schreibweisen, die ansatzweise die Differenz von Kunst und Leben aufzulösen scheinen, wobei ihm speziell in den 1990er Jahren die ästhetische Praxis der DJ-Culture als Leitbild dient: „Wir reden auch von der Zukunft des Arrangierens, hier der Idee für den Text: der live gedroppte, aus direkter Mitteilungserregung heraus groß aufgesprochene Gedanke unterwirft sich später der wortgeordneten Orgie von Schriftzensur, in der er sich selbst vielfach ver-

320 Ebd., S. 294. 321 Ebd., S. 295.

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hört, bis der Sound stimmt, das Erzählen und Argumentieren auch schriftlich richtig klingt.“322

Wie Ulf Poschardt aufzeigt, stellt der DJ den ursprünglichen Begriff des Künstlers infrage, indem er Musik als Rohstoff für seine Arbeit sammelt und archiviert. Beim Auflegen greift der DJ auf seine Plattenkiste zurück und bringt Sounds, Beats und Melodien aus verschiedenen Stücken, von verschiedenen Komponisten und aus verschiedenen Epochen in Verbindung, stellt sie gegenüber und/oder vermischt sie miteinander. Als Archivar und Sammler steht er im direkten Verhältnis zur Musikgeschichte und seine Plattenkiste stellt die Grundlage bzw. Quelle seiner musikalischen Produktion dar, wobei er die ihm zur Verfügung stehenden Musikparts mithilfe seines technischen Equipments (z. B. zwei Plattenspielern, Drum-Computer, Mischpult, Mikrophon etc.) immer wieder neu organisiert und zu einem neuen Ganzen zusammenfügt.323 Durch die Methode des Sampling, d. h. die musikalische Neuverarbeitung konservierter Klänge, hat die DJ-Culture, laut Poschardt, „die Funktion Autor dekonstruiert“: In der „High-Tech-Kunst“ ist, so Poschardt, „der Autor zum einen hinter den Schaltplänen der Beatboxen und Samplern verschwunden, zum anderen verweigerte er mit seiner wilden Nutzung fremder Werke jeglichen Respekt vor der Funktion Autor.“324 Bei seiner Analyse der DJ-Culture stützt sich Poschardt auf Ausführungen der französischen Philosophen Roland Barthes und Michel Foucault: Ende der 60er Jahre beschreibt Roland Barthes in seinem vielzitierten Essay Der Tod des Autors den Autor bzw. Künstler als „Gespenst der Literatur-, Kunst- und Musikkritik“325 und definiert den kulturellen Text als „ein Geflecht von Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur stammen“: „Wir wissen nun, daß ein Text nicht aus einer Wortzeile besteht, die einen einzigen gewissermaßen theologischen Sinn (das wäre die ‚Botschaft‘ des ‚Autor-Gottes‘) freisetzt, sondern aus einem mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen“; das Buch, so Barthes, „ist selbst nur ein Geflecht aus Zeichen, verlorene, endlos aufgeschobene Imitation“.326

322 Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S. 9f. 323 Vgl. Poschardt 1997, S. 15-17. 324 Ebd., S. 385. Zum Thema Sampling-Technik und Autorschaft vgl. auch Manovich 2005, S. 7-28. 325 Ebd., S. 385. 326 Barthes: Der Tod des Autors, S. 61.

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Dagegen unternahm Michel Foucault, der sich in seinen Schriften darum bemühte, aufzuzeigen, wie sich Wissen generiert, Macht ausgeübt und Subjekte konstituiert werden, in seinem 1969 gehaltenen Vortrag Was ist ein Autor? eine Differenzierung zwischen empirischem Autor und diskursiver Funktionsweise ‚Autor‘. Dabei lässt die von Foucault eingeführte Autorfunktion den Autor lediglich als entmaterialisierte Funktion bzw. diskursiven Effekt erscheinen, wobei Foucault im Gegensatz zu Roland Barthes das Vorhandensein und die Relevanz des Autors für bestimmte kulturelle Diskurse nicht bezweifelt und insbesondere dem Autornamen eine zentrale Bedeutung im literarischen Diskurs zuweist: „[E]in Autorenname ist nicht einfach ein Element in einem Diskurs [...]; er besitzt in Bezug auf andere Diskurse eine bestimmte Rolle: er garantiert Einteilung; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten zusammenfassen, sie abgrenzen und anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er ein In-Beziehung-Setzen der Texte untereinander.“327

Indem der DJ auf Eigen- und Fremdmaterial zugreift und dieses immer wieder zu neuen Tracks mischt, wird auch die Frage nach der Urheberschaft des musikalischen Gebildes obsolet. Dergestalt bezeichnen Friedhelm Böpple und Ralf Knüfer ebenfalls den DJ als „unbekannte Größe“: „In den Anfangszeiten von Techno wußten viele Leute nicht, welcher DJ auflegte. Sie interessierten sich einfach nicht dafür.“328 Diese in der Techno-Szene zunächst vorherrschende Tendenz beschreibt auch Matthias Roeingh alias DJ Motte, Gründer und ehemaliger Organisator der Tanzveranstaltung Love Parade: „Das Neue an der Musik war, daß es nicht mehr wichtig war, ob man die A- oder B-Seite der Platte spielte, daß es nicht mehr wichtig war, wer der Interpret war, und wer das ganze produziert hatte. Wichtig waren die neue Klänge, mit denen es abging. Du mußt dir das so vorstellen: Du hörst dein Lieblingsstück, auf das Du gerade abfährst und darauf tanzt Du dann. Irgendwann merkst Du, dass Du schon viele Stunden tanzt...“329

Deutlich wird dieser Prozess auch an der Anonymisierung des DJs durch die Namenswahl, wobei die Namen sowohl der DJs als auch der Techno-Produzenten und Bandprojekte in dieser Zeit oftmals eine Vorliebe für futuristische und maschinenähnliche Termini aufwiesen: Cybotron, 808 State, Chip E, MD 11, Mo-

327 Foucault: Was ist ein Autor?, S. 244. 328 Böpple/Knüfer 1998, S. 99. 329 Zitiert nach Henkel/Wolff 1996, S. 36.

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del 500 etc. Diese Anonymität kann, wie auch Ulf Poschardt konstatiert, als „Übertragung der Autorenschaft auf die musikgenerierende Technik“ verstanden werden.330 Die Platten dienen dem DJ dabei, wie auch der französische Techno-Produzent und DJ Laurent Garnier erklärt, nicht nur als „Arbeitswerkzeug“, sondern als „echter Geheimvorrat“: „Denn in jedem DJ schlummert eine fixe Idee: Stücke anhäufen und die ideale Plattensammlung zusammenstellen. Die Suche nach dem Seltenen oder dem Einmaligen ist ein entscheidender Teil unseres Berufs [...].“331 Dabei ist, nach Ansicht Poschardts, das „(pop-)musikhistorische Wissen“ für die Arbeit des DJs konstitutiv: „Die Plattenkisten der DJs sind selbst Archive auf Vinyl gespeicherten Sounds, die vom DJ nicht als totes Wissen, sondern als Produktionsgrundlage genutzt werden. Selbstreflexivität und –referentialität waren von Anfang an Kernbestimmungen der DJ-Musik.“332 Dabei ist die „Selbstreflexivität der DJ-Musik“, laut Poschardt, „keine Angelegenheit intellektueller Auseinandersetzung“, sondern primär das Ergebnis der Produktionsmethode des DJs, da das „Deejayen“ ganz unmittelbar „mit dem Zusammenschalten zweier Reproduktionsmedien“ beginnt.333 Der DJ ist also, so Poschardt, zunächst „per definitionem Elektriker und Musik-Musiker“, d. h. ein ‚Künstler zweiten Grades‘, der alte Lieder in bisher ungewohnte Zusammenhänge stellt, existierende Kontexte auflöst und verschiebt: „Alte Musikstücke (sowohl im Sinne von ganzen Liedern als auch von Liedelementen) lassen sich unendlich neu erfinden. Die Musikgeschichte scheint ihre Linearität zu verlieren: Der potentiell unbegrenzte Zugriff auf altes Material läßt alles auf das Jetzt, den Moment der Synthese, zulaufen.“334 Der DJ betätigt sich dabei, wie gesehen, nicht nur als Archivar, der darum besorgt ist, dass seine musikalische Sammlung in der ursprünglichen Form erhal-

330 Poschardt 1997, S. 294. 331 Garnier/David Brun-Lambert 2005, S. 224. 332 Poschardt 1997, 396. 333 Ebd., S. 397. An gleicher Stelle konstatiert Poschardt zudem, dass der DJ-Musik aufgrund ihrer offenen Struktur die „autonomistische Tendenz der modernen Kunst“ fremd geblieben sei: „Während die Selbstreflexivität als Selbstreferentialität in der Geschichte der modernen Kunst die künstlerische Produktion immer mehr einengte und paralysierte, führte sie dank der Offenheit der Kommunikationsstrukturen beim DJ zu einer noch nie dagewesenen Artenvielfalt in der Popmusik. Da der Tod der alten Idee des Autors/Künstlers eine freiere Produktionspraxis mit sich brachte, entfiel die hemmende Wirkung alter Identitätsvorstellungen.“ (Ebd., S. 399). 334 Ebd., S. 16.

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ten bleibt, sondern agiert als Musikorganisator und -vermittler, welcher der Musik eine innovative und überraschende Form verleiht: Der DJ bedient sich bei den eigenen und fremden Klangquellen, die er in seinem Archiv gehortet hat, und benutzt sie als relativ frei veränderbaren Materialbestand. Die Produktion von Techno-Tracks stellt somit eine Kombination von musikalischen Segmenten dar, die wiederum als Grundlage für weitere Produktionen dienen kann. Zudem bietet ihm entsprechendes technisches Equipment (Drum Computer, Sampler, Sequenzer, analoge und digitale Synthesizer, Computer und diverse Musik-Software) heutzutage jederzeit die Möglichkeit, sowohl bereits eingespieltes als auch selbst erstelltes Klangmaterial durch Separation und Dekontextualisierung so stark zu manipulieren, dass sogar jeglicher historischer Bezug, jegliche semantisch-syntaktische Bedeutung, jeder Verweischarakter obsolet wird: „Klänge als gespeicherte Objekte sind [...] keine Zeichen mehr. Ein ursprünglicher Bezug ist aufgelöst. Sie können mit vielen anderen Objekten visueller und akustischer Art in Verbindung gesetzt werden. Damit gewinnen sie ihre neue und auch verwirrende Zeichenhaftigkeit.“335 Die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten zur Speicherung und Erzeugung von Klang sowie das unüberschaubare Reservoir an Klangquellen, das z. B. die neuen Repräsentationsmedien bereitstellen, verschaffen sowohl dem DJ als auch dem Techno-Produzenten, deren Funktionen sich in den letzten Jahren immer stärker einander angenähert haben, die Option, durch z. B. die Fragmentarisierung medial gespeicherter Klangquellen originäre Musik zu generieren: „DJ culture represents that threshold stage at which repetition morphs into composition. DJs are chronic consumerists and collectors, who nonetheless use their stockpiling expertises as the basics for composition in it’s literal sense, ‚putting together‘.“336 Die Wandlung vom anonymen ‚Plattenaufleger‘ hin zum Komponisten und Künstler beschreibt auch der DJ Westbam in seinem zusammen mit Goetz erstellten Buch Mix, Cuts & Scratches: „Ein Mix, der sich komplett vom zugrundegelegten Musikstück emanzipiert, wird zur eigenen Komposition, der DJ wird zum Komponisten, sogar im Sinne des Autorenrechts.“337 War der Beruf des DJs früher der eines reinen Plattenauflegers, so greift er heute viel vehementer in das aus fremden Quellen stammende oder selbst generierte Klanginventar ein und verfremdet es, bis entweder nur noch einzelne Ver-

335 Motte: Soundsampling, S. 92. 336 Reynolds 1998, S. 370. 337 Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S. 56.

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wiese hörbar bleiben oder sogar eine neuartige, irritierende Form entsteht.338 Dergestalt spricht auch der Techno-Veteran Christian Vogel von „Newness“als absolut musikalischer Kategorie; auch wenn es dem DJ, so Vogel, darum gehe, „feste Formen und statische Strukturen zu verzerren und [zu] verschieben“, sei ihm jedoch auch wichtig, dass man der Musik anhört, „wie und auf welchen Wegen sie so neu wurde, auf was sie sich bezieht, auf welchen Traditionen sie aufbaut“.339 Wie eine „Bombe im System“ zerstört der DJ die ehemals „feste[n] Formen“340, um aus diesen somit entstandenen losen (Klang-)Elementen eine

338 Im Sinne von Niklas Luhmann könnte man davon sprechen, dass der DJ auf die „losen Kopplungen“ der Elemente eines Mediums zurückgreift und diese durch „feste Kopplungen“ ersetzt. Die künstlerischen Formen werden also durch die Zusammenfügung bzw. Verdichtung loser Elemente eines Mediums generiert, wobei bestimmte Formfindungs-

und

Selektionsprozesse,

die

durch

eine

binäre

Codierung

(schön/häßlich, stimmig/nicht stimmig) bestimmt sind, die entscheidende Rolle spielen (vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 169). Als Medium bezeichnet Luhmann also etwas, das der Formung bedarf, wobei die Form die Selektion aus den Möglichkeiten, die das Medium bietet, designiert: „Um Relativität und Evolutionsfähigkeit zu betonen, wollen wir Medien durch ein höheres Maß an Auflösungsvermögen mit Aufnahmefähigkeit für Gestaltfixierungen kennzeichnen. Das heißt: auch Medien bestehen aus Elementen bzw., in der Zeitdimension, aus Ereignissen, aber diese Elemente sind nur sehr lose verknüpft.“ (Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst, S. 124.) Formen entstehen dagegen „durch Verdichtung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Elementen, also durch Selektion aus den Möglichkeiten, die ein Medium bietet. Die lose Kopplung und leichte Trennbarkeit der Elemente des Mediums erklärt, daß man nicht das Medium wahrnimmt, sondern die Form, die die Elemente des Mediums koordiniert. [...] Im Bereich der Formen [...] kann es wiederum mehr oder weniger strikte Kopplungen geben, also eine Dimension, die von hoher Elastizität bis zu Rigidität reicht.“ (Luhmann: Das Medium der Kunst, S. 124f.; zum Thema Medium, Form und Codierung vgl. auch Esposito: Code und Form, S. 56-81.) Als Kommunikation funktioniert Musik, laut Luhmann, „nur für diejenigen, die diese systemtheoretische Differenz von Medium und Form nachvollziehen und sich über sie verständigen können; nur für die, die den entkoppelten Raum mithören können, in dem die Musik spielt; nur für die, die mithören können, daß die Musik durch ihre Tonalität sehr viel mehr Geräusche möglich macht, als normalerweise zu erwarten waren, und dies in Hinblick auf Disziplinierung durch Form.“ (Luhmann: Das Medium der Kunst, S. 128.) 339 Zitiert nach Winkler: Kleine Bombe im System, S. 13. 340 Ebd.

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neue Form zu schaffen. Der so generierte Track kann wiederum in seine einzelnen Klangstrukturen aufgelöst und weiterprozessiert werden, so dass entweder ganz bewusst klangliche Anleihen an bekannte Musikstücke noch erkennbar bleiben oder die Grundlage des Musikstücks nicht mehr verifizierbar ist. Diese neue, prozessuale Materialästhetik, die mit neuen Formen der Präsentation einhergeht, lenkt den Blick unmittelbar auf das Klangmaterial und auf die Formfindungs- und Selektionsprozesse, die der DJ-Culture inhärent sind. In der musikalischen Produktionsästhetik der DJ-Culture vereinen sich somit Neuheit und Tradition, Überraschung und Wiedererkennen auf irritierende Weise.341 Dabei bietet die Musikgeschichte ein unerschöpfliches Reservoir, das durch den erneuten Zugriff stetig aktualisiert und in die Gegenwart überführt wird. Diese neue Materialästhetik, welche die DJ-Culture hervorgebracht hat, lässt sich, so die Überzeugung von Goetz, nicht unmittelbar auf die literarische Arbeit übertragen. Dennoch findet Goetz in der Arbeit des DJs, wie angedeutet, ästhetische Prinzipien, die ihn irritieren und zu Reflektionen über das eigentliche schriftstellerische Tun anregen: Nichtkohärenz und Nichtlinearität, Abschaffung der auktorialen Erzählung, Infragestellung von Autor- und Urheberschaft, stilistische Offenheit der Form, Prozesse der Selektion und Verdichtung, Vielstimmigkeit, Verweisstrukturen, additive bzw. prozessuale Herangehensweise etc. Wie schon bei der ausführlichen Analyse des Romans Rave deutlich wurde, ist Goetz darum bemüht, Schreibweisen zu entwickeln, die an diese neue Materialästhetik der DJ-Culture angelehnt sind, indem er z. B. die Polyphonie und Unabgeschlossenheit des Textes zum Tenor erhebt, bruchstückhaft bzw. fragmentarisch arbeitet, Formen der Onomatopoesie verwendet, stilistische Vielfalt walten lässt, keinen auktorialen Erzähler entwirft, intertextuelle Verweisstrukturen aufbaut und immer wieder selbstreflexive Betrachtungen einfügt, welche die ‚Machart‘ bzw. ‚Konstruiertheit‘ seiner Texte verdeutlichen und sowohl die Formfindungs- und Selektionsprozesse als auch die dabei auftretenden Schreibprobleme hervorheben. Dieses Bemühen um vielstimmige und unmittelbare Textformen tritt schon in frühen Texten von Goetz deutlich hervor. Demgemäß schreibt er 1988 in dem

341 Dergestalt schreibt auch Niklas Luhmann: „Die Formbildung erst bewirkt Überraschung und garantiert Varietät, weil es dafür mehr als nur eine Möglichkeit gibt und weil das Kunstwerk, bei zögerndem Beobachten, dazu anregt, sich andere Möglichkeiten zu überlegen, also Formen versuchsweise zu variieren.“ (Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 170.) Ferner sei es, schreibt Luhmann, bemerkenswert, dass die Bildung von Formen die Möglichkeiten des Mediums nicht verbraucht, sondern vielmehr regeneriert (Ebd.).

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Roman Kontrolliert, dass man die „Fuge, die die Sprache aufreißt, anstatt mit einem künstlichen Erzähler und nicht vorstellbar fiktiven Lesern zu stopfen, einfach offen halten [müßte], wie in Wirklichkeit, wo sie dauernd hochgradig irritierend offen ist“; zugleich, so Goetz, ist diese „offene Irritation immer verdeckt von ihrer Selbstverständlichkeit und müßte genau so alltäglich und beiläufig versteckt sein“.342 Ein weiteres explizites Beispiel für die Offenheit der Form, die Rainald Goetz beim Schreiben anstrebt, stellt das aus sieben Akten bestehende Theaterstück Jeff Koons dar, das „von einem Wochenende zwischen Party, Alltag, Liebe, Kunst und Kunstproduktion“ handelt und zwischen „oberflächlichen Dialogen und scheinbar tiefsinnigen Reflexionen“ schwankt.343 Goetz bezeichnet Jeff Koons in einem Interview als ein „Stück über die Kunst und den Künstler“: „Es geht also um den Schöpfer, die Kritik, den Markt, die Macht, das Geld, das Kunstwerk, das Sinnliche. Also um all die Fragen, die das Thema Kunst aufruft. Körperlichkeit, Inspiration, Scheitern, Zweifel.“344 Dabei besteht das Stück Jeff Koons aus einer „Mixtur aus Momentaufnahmen“345; zudem verzichtet Goetz auf Rollenzuteilungen und eine ordnende Erzählerstimme. Der dabei entstehende, vielstimmige Textkorpus dient als Ausgangsbasis für die Inszenierung, wobei die Deutung und Handhabung des Textmaterials ganz in den Händen des Regisseurs und der Schauspieler liegt. Erst in der Bearbeitung und Inszenierung, so die Vorstellung von Goetz, erfährt der Theatertext seine eigentliche Bestimmung: „Was ist ein Theaterstück? Von seiten des Autors her gesehen ist ein Theaterstück ein Text, der so geschrieben ist, daß er seine Erfüllung erst erfährt, wenn er auf der Bühne realisiert wird, als Theaterstück.“346 Der Titel des Stücks lässt den Rezipienten sofort an den gleichnamigen Pop-Art-Künstler denken, aber im Stück taucht der Name nicht mehr auf: „Die Idee ist: Man gibt einen Namen vor, den Namen eines echten lebenden Menschen, einer öffentlichen Figur. Und schafft so einen Hallraum. Ruft gezielt Assoziationen und imäginären Text auf. [...] Und im Verhältnis dazu steht dann der reale Text des Stücks. Das ergibt tolle Aufladungen.“347 Durch die außertextuellen Verweise und das Fehlen eines auktorialen Erzählers, der die vielen Stimmen ordnet und einen narrativen Rahmen absteckt, erhält das Theaterstück Jeff Koons – ebenso wie der Roman Rave

342 Goetz: Kontrolliert, S. 65. 343 Seiler 2006, S. 300. 344 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 127. 345 Seiler 2006, S. 300. 346 Goetz: Abfall für alle, S. 229. 347 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 116.

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– eine offene Struktur, welche die Wahrnehmung bzw. Imagination des Rezipienten stimuliert. Auch wenn der Text sich dabei – in Anschluss an die Ästhetik der DJ-Culture – als „Nichttext“ entwirft, bedeutet dies noch lange nicht, wie Luhmann schreibt, dass jede Anschlusskommunikation unmöglich erscheint: „Das Fragment gelingt – als Text. [...] Was auf diese Weise sichtbar wird, ist die unverwüstliche Robustheit der Autopoesis der Kommunikation. Es geht weiter – auch wenn man nicht weiß wie.“348 Signifikante Äquivalenzen zwischen der Materialästhetik der DJ-Culture und der literarischen Produktion von Goetz lassen sich jedoch nicht nur auf der Ebene der Schreibweisen, die oben ausführlich dargestellt wurden, feststellen, sondern betreffen insbesondere auch die Art und Weise, wie Goetz das gesammelte Textmaterial selektiert und kompiliert. Wobei die Auswahl und Verdichtung des Materials nach sinnlicher Qualität, ‚Stimmigkeit‘ und Fragen der Diskretion erfolgt. Immer wieder lässt sich Goetz bei seiner Arbeit von der Form, die z. B. die DJ-Musik annimmt, irritieren; der Prozess der eigenen Formfindung gleicht einem stetigen Abarbeiten an dieser Irritation. Sowohl das Hören einer CD als auch das Aufhalten in der ‚Nachbarschaft‘ der DJ-Kanzel, das dazu dient, dem DJ bei der Ausführung seines Handwerks zuzusehen und die Reaktion der tanzenden Masse zu beobachten, ermöglicht es Goetz scheinbar nicht, das Mysterium der „Augenblicklichkeitskunst“ des DJs gänzlich zu erfassen: „[M]an kann nicht in die Geheimnisse von mehr als EINER Kunst wirklich eindringen – leider. Wie ich eben die Jeff Mills CD einlege und denke: schade, daß ich nicht mehr Musik machen kann – um wirklich zu dem Punkt zu kommen, ein Präzisionspunkt, der nur aus ununterbrochener Produktion hervorgeht – wo ich da Aussagen machen könnte, auf diesem Feld, in dieser Form, auf der Ebene DIESER Sprache, der Musik eben – [...].“349

Ebenso wie der DJ, der oftmals mit einer „ultrafein ausziselierten Feinstwahrnehmung aller musikalischen Elemente“ ausgestattet ist, muss aber auch der Schriftsteller aufpassen, dass seine Wortkaskaden nicht „pappig, klebrig, penetrant“350 wirken oder er zu einer „brutal und rand- und nahtlos zutextenden Textmaschine“351 wird:

348 Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, S. 24. 349 Goetz: Abfall für alle, S. 71. 350 Goetz: Rave, S. 138. 351 Ebd., S. 44.

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„Das Ziel soll doch [...] ein Vollgasprogramm sein, das alle Grobheiten und krassen Banaleffekte auf einer gleichen Ebene traktiert, wie die feinsten und skurrilsten SpezialistenSpezialismen. Das ist doch die Schwierigkeit, und wenn es gelingt, eigentlich immer das Tollste, diese Gleichheits-Ebene für eigentlich sich gegenseitig rigoros ausschließende ästheische Programme und Effekte zu finden, herzustellen, entstehen zu lassen, zu suchen wenigstens, anzustreben.“352

Zudem, so Goetz, darf ein Text „kein Geheimnis haben“: „Er sollte nichts verschweigen, was er von sich selber weiß. [...] Sag alles, was du weißt. So klar und simpel, wie es geht.“353 Diese Maxime, die Goetz als „KRYPSE REGEL“ bezeichnet, dient primär dazu, „eventuell sich einschleichende, obskurantistische Poetisierungen und Scheintiefgründigkeiten“ abzuwehren, die dem Text seine Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit rauben; doch „wann, wo, und wie kann dieses ALLES in welchen Portionen und Teilchen, und an welcher Stelle genau gesagt werden“, ohne dabei Gewalt anzuwenden und die „Regeln von Takt und Diskretion“, die dem Text inhärent sind, zu verletzen?354 Allein das ‚Erspüren‘ dieser Regeln, die zudem einer dauernden Veränderbarkeit unterworfen sind, wirft, laut Goetz, oft genug schon Probleme auf: „Was für eine Societät ist denn ein bestimmter Text? Welche Haltungen, Emotionen, Sprechweisen, Theoriemodelle, Wortsozietäten und Worte bilden denn das abstrakt Soziale, die Geistesgesellschaft eines bestimmten Textes? Und welche Regeln gelten da? Wir wollen solche poetologischen Fragen übersetzt ins Musikalische behandeln [...].“355 Genau wie bei der Arbeit des DJs, die Goetz fasziniert beobachtet, entstehen beim Schreiben starke Selektionszwänge: Stimmt es, stimmt es nicht? Hört es sich richtig an? Welche nicht beabsichtigten Bedeutungen schwingen noch mit? Sind die Übergänge zwischen den einzelnen Momentaufnahmen gelungen? Damit wird zudem überdeutlich, dass der Vorwurf, Pop-Literatur verfalle in Beliebigkeit, aufgrund der starken Formfindungsprozesse, welche die Arbeit von Goetz bestimmen, nicht verfängt. Mehr als andere Funktionssysteme – wie z. B. Religion, Politik, Wissenschaft oder Recht – ist das Kunstsystem, laut Luhmann, in der Lage, vorzuführen, dass „die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“: „Die Kunst läßt insofern die ‚Wahrheit‘ der Gesellschaft in der Gesellschaft erscheinen und

352 Ebd., S. 139. 353 Ebd., S. 209. 354 Ebd. 355 Ebd.

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zeigt zugleich [...], daß gerade unter dieser Bedingung Formzwänge entstehen, Stimmigkeit und Unstimmigkeit zum Problem werden und jedenfalls die so oft befürchtete Beliebigkeit des ‚anything goes‘ nicht zu erwarten ist.“356 Besonders deutlich werden diese Formfindungs- und Selektionsprozesse beim Internet-Projekt Abfall für alle, das Goetz am 4. Februar 1998 mit den Worten „Los geht’s“ startet357, um seine schon beim Ingeborg-Bachmann-Preis begonnene intensive und extensive Medienpraxis fortzusetzen. Unter der Adresse www.rainaldgoetz.de konnte der Leser ein Jahr lang mitverfolgen, was den Schriftsteller Goetz umtreibt. In „täglichen Lieferungen“, „Stück für Stück“, sollte so eine „Geschichte des Augenblicks“ entstehen, die das „UmbruchJahr[...] 1998“ beschreibt.358 Insofern lässt sich dieses „tägliche Textgebet“359 als eine Erweiterung bzw. Radikalisierung „jenes Projekt[es] der Gegenwartsfixierung, der Serialisierung des Jetzt“ begreifen, das „sich schon in den sechziger Jahren bei Autoren wie Andy Warhol oder Rolf Dieter Brinkmann mit dem Begriff ‚Pop‘ verbindet“.360 Im Sinne Brinkmanns verschriftlicht Goetz akribisch all das, was tagtäglich an Eindrücken anfällt, um die angestrebte „REALBIBLIOTHEK“361 zu verwirklichen und eine Sprache zu finden, die „alltäglich, lebensnah, zugänglich“ ist362; dabei werden: „Wettermeldungen, Kassenzettel, Nachrichten, Telefongespräche, Partytalk, Zitate aus Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Fernsehen und Radio, Urteile, Meinungsbekundungen, Beobachtungen und Klatsch [...] transkribiert, protokolliert, inventarisiert und durch genaue Zeitangaben, Stunden, Minuten, Sekunden datiert, strukturiert, rhythmisiert“.363

Die dadurch oftmals entstehenden „Minutendinger“ und „Sekundengedanken“364 lassen deutlich die prozessuale und serielle Ästhetik der Aufzeichnungen hervortreten und unterstreichen einmal mehr den Wunsch von Goetz, sich der „Augenblicklichkeitskunst“365 der DJs anzunähern und ein Schreiben „im Herzschlag

356 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 494f. 357 Goetz: Abfall für alle, S. 13. 358 Ebd., Klappentext. 359 Ebd. 360 Schumacher: „Das Populäre. Was heißt denn das?“, S. 165. 361 Goetz: Rave, S. 173. 362 Goetz: Abfall für alle, Klappentext. 363 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 113. 364 Goetz: Abfall für alle, Klappentext. 365 Goetz: Rave, S. 84f.

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der beats per minute“ zu entwerfen366: „Denken wie Tracks machen. Unabgeschlossene Dinge, die dazu da sind, weiterprozessiert zu werden. Momente der Gegenwartsform einer Sache, des einen Aspekts des eben gegebenen Augenblicks.“367 Um so verwunderlicher ist es, dass Goetz die Möglichkeiten des Internets nicht ausschöpft, indem er z. B. Bilder, Tonaufzeichnungen oder Hyperlinks zur Dynamisierung des Textes nutzt, sondern sich bei der Erstellung seiner Seiten fürs Internet für ein schlichtes Design und für die „Idee einer zeitlichen Terminierung“368 entschieden hat.369 Während ein Großteil der Netzliteratur Intertextualität durch Vernetzung generiert und eine tendenzielle Unabgeschlossenheit besitzt, gab es bei dem Projekt Abfall für alle nichts zu klicken, nichts Verknüpftes und Vernetztes oder gar Interaktives.370 Typische Merkmale eines Hypertextes wie z. B. „Nicht-Linearität, Konnektivität“ oder die „Kombinatorik unterschiedlicher Medienelemente (skriptural, piktoral und akustisch)“371 findet man

366 Goetz: Kronos, S. 258. 367 Goetz: Abfall für alle, S. 520. 368 Ebd., S. 765. 369 Vgl. auch Schuhmacher: „Das Populäre. Was heißt denn das?“, S. 165. 370 Vielmehr erinnert Abfall für alle an die Tagebuchaufzeichnungen von Andy Warhol (vgl. März: Spinnen im Netz, S. 20). 371 Binczek: „Wo also ist der Ort des Textes?“, S. 303. Zudem ist „[d]ie zentrale Organisation des Hypertextes [...] die Vernetzung der Links mit anderen Links. Dieses Netz aus Verweisen hat eine zentrifugale Wirkung. Das Link ist die hypertextuelle Aufforderung an den Leser, einen rezeptiven Sprung zwischen verschiedenen Fragmenten oder zwischen verschiedenen Elementen zu vollziehen. Dabei läßt sich der Hypertext, der explizit als unabschließbarer ‚Text in Bewegung‘ konzipiert ist, nicht zu Ende lesen. Man hat einen Text vor sich, der im Grunde nur aus alternativen Textanfängen besteht.“ (Wirth: Literatur im Internet, S. 319f.) Dabei entsteht scheinbar eine Literatur, die nicht mehr auf Kontemplation angelegt ist, sondern auf Erlebnissteigerungen zielt, die, wie der Medientheoretiker Florian Rötzer anmerkt, „den distanzierten Zuschauer und Zuhörer immer weiter in das mediale Geschehen, in die Medienwirklichkeit hineinzuziehen, was letztlich heißt, dass der Benutzer nicht mehr nur Abnehmer, Rezipient oder Konsument eines massenmedialen Produkts ist, sondern in das System als aktives und vor allem individuiertes Element integriert ist.“ (Rötzer: Interaktion, S. 69.) Der Link stellt in vielen Internet-Texten die intertextuelle Verbindung zwischen der ursprünglichen Anspielung, dem Autor und dem Text, auf den sich die Anspielung bezog, her (vgl. Wirth: Literatur im Internet, S. 325f.). Jeder Punkt führt zu verschiedenen Abzweigungen, an denen der ‚Flaneur‘ sich entscheiden kann, wie

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bei Goetz nicht. Im Vordergrund bei Abfall für alle standen allein die Worte, zwischen denen sich der Leser nur vorwärts oder rückwärts bewegen konnte: „Zur Navigation. Ich dachte, es wäre logisch, daß man immer am Ende landet, am gegenwartsnähesten Punkt. Daß sich so die Lektüre der Zeit organisiert, sozusagen automatisch, daß man sich zurückliest, ins Vergangene hinein. So wählt man eine Woche an und landet am Ende dieser Woche, am Sonntag, und nach hinten gestaffelt, untereinander quasi, liegen die Tage dieser Woche da. Samstag, Freitag, Donnerstag, sowie man sich selber zurücktasten würde, in der Erinnerung.“372

Dergestalt benutzt Goetz, wie auch schon in seinen früheren Werken, das „Medium Schrift, um das zur Sprache zu bringen, was üblicherweise den Bildern, dem Fernsehen, den neuen Medien zugeschrieben wird – und zugleich entscheidende Einsatzpunkte von Pop beschreibt“373, wie auch folgendes Zitat deutlich macht: „Ausgangspunkt ist die rein formale Vorgabe, daß die Seite sich jeden Tag aktualisieren muß. Es geht um den Kick des Internets, der für mich mehr als in Interaktivität in der Geschwindigkeit, in Gegenwartsmöglichkeit, in Aktivitätsnähe besteht. Schneller schreiben,

weitergelesen werden soll. Oder man kann neue Texte verfassen, neue Wege legen, um das Netz immer komplexer zu gestalten. Durch diese scheinbare Befreiung von alten Zwängen entstand die Vorstellung einer sozialen und revolutionären Schreibpraxis: Intertextualität durch Vernetzung, Unabschließbarkeit des Textes, Auflösung der Zentralgewalten und Autorenschaft, Ermächtigung des Lesers, digitale Radikaldemokratie – all diese Hoffnungen schienen sich nun endlich verwirklichen zu lassen: „Jeder Teiltext ist automatisch Bestandteil eines allumfassenden Textes, der ständig im Entstehen begriffen ist. Im Unterschied zu Hypertexten auf CD-ROM, die immer noch etwas vom ‚Werkcharakter‘ behalten haben, ist Online-Literatur im Internet potentiell jederzeit erweiterbar. Dies wird nun gerade dadurch möglich, daß es sich bei der Internetliteratur nicht mehr um Texte in Buchform handelt, sondern um Hypertexte. Texte also, die man aufgrund ihrer internen Verweisstruktur nicht drucken kann und die deswegen keine ‚realen‘ Grenzen haben. Die gesetzte Grenze zwischen Text und Kontext markiert der Buchdeckel. Diese Grenze entfällt im Internet. Insofern ist Literatur im Internet durch den Verlust des Buch- und Werkcharakters ausgezeichnet. [...] Der Begriff des Textes ist nicht mehr an die Form des Buches gebunden.“ (Wirth: Literatur im Internet, S. 324). 372 Goetz: Abfall für alle, S. 621. 373 Schumacher: From the garbage into The Book, S. 206.

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freier, näher dran am intellektuellen Augenblick und Reflexionsgeschehen, als alle anderen, formal von Anfang an auf etwas Fertiges hinsteuernden Textarten es einem erlauben. Offen auch in dem Sinn, daß man die Art dieser Notizen sich so entwickeln läßt, wie die jeweils neue Situation es ergibt.“374

Wie der Literaturwissenschaftler Eckhardt Schumacher hervorhebt, lässt sich Abfall für alle somit als „Fortschreibung“ der von Goetz schon in Subito proklamierten „Pop-Programmatik“ beschreiben, wenngleich auch als „Fortschreibung [...], die zugleich mögliche Widerlegungen, Relativierungen und Umfunktionierungen aufnimmt und ausstellt“.375 Wie immer wieder deutlich hervortritt, ist Goetz primär davon fasziniert, dass das Internet die Möglichkeit bietet, eine schnelle und direkte Verbindung zum Leser aufzubauen. Goetz reizt, wie er in einem Gespäch mit Lutz Hagestedt erklärt, an der Veröffentlichung im Internet „die superprivate Rezeptionsform, die eben noch immaterieller ist als die geistige Daseinsform eines Buches“.376 Jeden Tag neu konnte der Leser zum Beobachter des Herstellungs- bzw. Formfindungsprozesses (inklusive der aufscheinenden Widersprüchlichkeiten, Brüche und Diskontinuitäten) werden, während sich das Schreiben als ein stetiger „Wettlauf mit der Zeit“ darstellte377: „Die spezielle Öffentlichkeitsform des Internet, die in einer fast gegenstandslosen, abstrakten Verfügbarkeit besteht, wo ein Text also mehr als Möglichkeit vorliegt, als in Gestalt eines realen Objekts, sich erst auf Anfrage eines Interesses realisiert, also, wenn jemand die Adresse anwählt, – kommt entgegen einer probierenden, tastenden, aber auch impulsiv, sich im Zweifelsfall am nächsten Tag korrigierenden, widerrufenden Äußerungsart und Schreibweise.“378

Der die Seiten aufrufende Beobachter wird durch diese unmittelbare und diskontinuierliche Darstellung der Denkbewegungen, deren Präsenzeffekte durch die Veröffentlichung im Internet noch verstärkt werden, nur scheinbar zum Leser einer autobiographischen Schrift. Vielmehr stellt das Tagebuch, wie Goetz ausführt, generell eine „stark vermittelte Form“379 dar, die u. a. daraus resultiert, dass sowohl das Nichtgesagte bzw. Ausgesparte als auch Prozesse der Selbststi-

374 Goetz: Abfall für alle, S. 357. 375 Schumacher: From the garbage into The Book, S. 211. 376 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 123. 377 Goetz: Abfall für alle, S. 521. 378 Ebd., S. 357. 379 Ebd., S. 622.

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lisierung und Literarisierung deutlich hervortreten: „Zeitaufwendig ist ja nicht das Schreiben – sondern, ewig gleiches altes Lied – das Definieren des Nichtzuschreibenden.“380 Auch beim Verfassen eines Tagebuchs für das Internet wird, wie Goetz schreibt, „eine Form des ÖFFENTLICHEN realisiert, also auch die Verbindlichkeit des publizierten Textes gesucht, die über das hinausgeht, was man in Notizbüchern und Arbeitsheften sonst so festhalten würde und festgehalten hat“.381 Dabei stellt die „wechselseitige Zensur zwischen Aussageabsicht und real Sagbarem“ laut Goetz die eigentliche „Praxis von Sprache“ dar382, wobei die „Darstellung der Wirklichkeit im Text [...] über Andeutungen, über das Nichtsagen“ erfolgt383. Denn: „[V]om allzu Naheliegenden sieht der Text ab, sonst kann er nicht entstehen. So will es die Regel des Zarten, der Logik, der Normalität. Liebst Du mich? Die Frage würde ich lieber die Körper beantworten lassen als die Worte. Und die eigentliche Antwort des Tagebuchs auf alle Fragen ist sowieso dauernd die: Wie siehst DU das denn?“384 Insbesondere Tagebuchaufzeichnungen lassen, laut Goetz, da sie dem Bereich des Privaten entstammen, „komplizierte Diskretions-Aspekte“385 hervortreten und stellen immer einen Balanceakt zwischen der Offenheit der Form und der Verschwiegenheit des Gesagten dar: „Gerade, wenn man sich selber als einen relativ offenen Menschen empfindet, ist das eine prekäre und interessante Frage: Wieviel von sich mutet man dem anderen zu? Das war dann die Entdeckung für mich im Laufe der Arbeit, wie diskret quasi der Text vom Tage zu sein wünscht, im Verhältnis zum realen Leben dieses sich sehr stark exponierenden Ichs. Was darf nicht gesagt werden, womit tritt man den Leuten zu nahe? Aber doch eine öffnende Geste des Einladenen zu machen, aber keine Brustaufreißung. Da dazwischen das richtige Maß zu finden, das fand ich sehr schwierig.“386

Wie Goetz betont, fanden nur ein Teil der Texte, die im Laufe des Jahres 1998 entstanden sind, Eingang ins Internet-Tagebuch Abfall für alle; zugleich wurden

380 Ebd., S. 52. 381 Ebd., 358. Und: „Die Organisation, die die Kommunikation von Massenmedien produzieren, sind auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz angewiesen.“ (Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 12). 382 Goetz: Abfall für alle, S. 581. 383 Goetz: Dekonspiratione, S. 156f. 384 Goetz: Abfall für alle, S. 761. 385 Ebd., S. 358. 386 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 151.

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schon längst im Netz veröffentlichte Einträge von Goetz immer wieder redigiert und für die 1999 erfolgte Buchveröffentlichung, die den bezeichnenden Untertitel Roman eines Jahres trägt, erfuhr das Textkonvolut eine nochmalige Überarbeitung: „Aber dieses Zwischending zwischen Rausgasen und hemmungslos Schreiben und dann immer nochmal Kucken und Streichen und nochmal Streichen; das war schon sehr scharf kontrolliert.“387 Obwohl Goetz ganz bewusst bei seinem Intenetexperiment sowohl auf direkte Vernetzung mittels Hyperlinks als auch auf die Möglichkeit einer Kommentarfunktion verzichtet hat, sei es, wie er entmutigt anmerkt, zu nicht vorhersehbaren „Rückkopplungen“ gekommen: „Der Plan war ja nur gewesen: mal gucken, wie das läuft. Ganz einfach, simpel, nebenhin, Tag für Tag, geatmet wird ja auch, geschrieben, gelesen, gedacht. Normal. Relativ schnell entstehen dann aber Eigenwerte, Rückkoppelungen, Effekte des Schon aufs Wieweiter, der Geschichte des Geschehenen und Gemachten auf Plan und Absicht. AUCH normal, und trotzdem eine Normalität, die ich ablehne, die nervt, die dem widerspricht, was mir vorschwebt: Freiheit, Planlosigkeit, Nichtzukunft, kein Gesetz, offen.“388

Getrieben von der „Fiktion, auf die Realität des Alltags einen sprachlichen Zugriff zu kriegen“389 und anfänglich noch den „Minutenprotokollen des äußeren und inneren Geschehens“ ähnlich, die er schon seit vielen Jahren führt, sei, so Goetz, nach und nach der „Reflexions-Baustelle-Charakter“ des Projekts in den Vordergrund getreten: „Der Text fühlt sich da wohler. Erst durch die Arbeit an Abfall wurde mir richtig klar, in welcher Ausschließlichkeit beinahe alles Private eben genau dem fiktiven Text vorbehalten bleiben muß. Das Fiktive gibt Freiheit zur Distanznahme, je nach Bedarf, fängt so die im Authentischen angelegte Zumutung ab, daß der Text einem Leser zu nahe tritt. Was die Sozialrealität an Ordnendem und Befriedendem für die individuelle Madness und Krankheit leistet [...], das muß im Text das Fiktive stellvertretend stellen, nachbauen, quasi fiktionalisieren.“390

Wie die vorangegangenen Ausführungen deutlich machen, lässt sich auch das Internet-Projekt Abfall für alle u. a. als Versuch deuten, die Interdependenzen zwischen literarischer und musikalischer Produktionsästhetik auszuloten und ästheti-

387 Ebd. 388 Goetz: Abfall für alle, S. 620. 389 Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 149. 390 Goetz: Abfall für alle, S. 358.

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sche Prinzipien der Pop-Kultur (Fiktionalisierung, Selbststilisierung, Unmittelbarkeit, Auflösung der Grenze zwischen hoher und niederer Kultur, Oberflächenreize, Gegenwartsfixierung, Kommunizierbarkeit, Alltäglichkeit, affirmativer Gestus etc.) in die literarische Rede zu übertragen, um diese zu dynamisieren. Auch wenn Goetz wenig Vertrauen darin besitzt, dass sich die formal-ästhetischen Vorgaben, die z. B. das DJ-Handwerk liefert, direkt in die Literatur übertragen lassen, liefert ihm die Rave- und Techno-Bewegung bzw. die Ästhetik des ‚Turntablism‘ Vorlagen für innovative Schreibweisen. Zu nennen wären dabei u. a.: Prozessualität und Serialität, Offenheit der Form, Loslösung vom Diktat der auktorialen Erzählung, Sampling von (Sinnes-)Eindrücken, Hybridität der Form durch Stilvermengung, Gleichwertigkeit aller Stilelemente, Fragmentarisierung, Auflösung tradierter Erzählstrukturen, stetiges Weiterprozessieren des angefallenen Materials, Feedback-Effekte, Selekionsverfahren etc. Auch die Anwendung literarischer Prinzipien auf die ästhetischen Verfahren, die bei der Produktion von elektronischer Tanzmusik vorherrschen, scheint für Goetz zum Scheitern verurteilt, wie er in Abfall für alle hervorhebt: „Die Unanwendbarkeit der eigenen Methoden auf fremdem Gebiet. Gestern wieder beim Musikmachen. Faszinierend, zu sehen, mit wie wenig Gespür man letztlich vorgeht, im Unterschied zu den Musikern, die sich ihrem Feld anvertrauen und von ihm führen lassen können.“391 Als besonders prägnantes Beispiel für diese stetigen Irritationen, die im Spannungsfeld von literarischer und musikalischer Produktionsästhetik entstehen können, mag die 1994 für das Frankfurter Eye-Q-Label produzierte Triple-CD Word dienen392, auf der Goetz einige Texte aus dem Band Kronos liest, während Oliver Lieb und Stevie Be Zet den Vortrag mit Techno-Musik unterlegen. Als Motiv für dieses außergewöhnliche Klangexperiment nennt Goetz in einem Interview mit dem Techno-Magazin Frontpage die Tatsache, dass die „komischen Reflexions- und Worte-Fetzen, die abgehackten Substantiv-Kaskaden, die gedruckt vielleicht eher seltsam wirken“, durch die musikalische Unterlegung „ei-

391 Ebd., S. 809f. 392 Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, wie Ulf Poschardt schreibt, dass der Begriff „Word“ im „afroamerikanischen Slang eine Interjektion, ein Aus- und Zwischenruf [ist], der absolute Zustimmung ausdrücken soll. ‚Word‘ wird so zu einem Synonym von Wahrheit. Im ‚word‘ steckt die Wahrheit. Die Zustimmung ist perfekt, wenn der andere beim Wort genommen wird und man eben diesem Wort – gemeint ist: diese Rede – zustimmen kann. [...] Damit Sprache als Rede konsens- und wahrheitsfähig wird, müssen alle Hegemonien des Herrschaftsdiskurses ausgeschaltet werden.“ (Poschardt 1997, S. 190).

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ne melancholische Plausibilität bekommen“; zudem sollte die Musik, so Goetz, „bezogen auf den Text natürlich alle naheliegenden Funktionen erfüllen [...]: das Gesagte unterstützen, ihm widersprechen, es mal plumpifizieren und mal eher zum Aerosol werden lassen“.393 Dabei setzt Goetz seine Worte meist „kontrapunktisch gegen die Musik“ – wobei die Texte „als Störwerk zur Musik und als Gegenpol zu deren Leichtigkeit [...] sich nur widerwillig der Logik der dominierenden Musik“ fügen.394 Auf der von Oliver Lieb, bekannt durch sein Projekt The Ambush, produzierten CD verstümmelt der oftmals harsche Rhythmus der Techno-Musik den Text Soziale Praxis fast bis zur Unkenntlichkeit, fragmentarisiert, zerhackt und dekonstruiert ihn. Gegenüber dem Techno-Magazin Frontpage erklärte Goetz damals auch, dass bei der Produktion seine „Simplifizierungswut“ auf das „genau richtig gedachte Bereicherungsbedürfnis“ von Oliver Lieb getroffen sei, so dass man das Ergebnis auch als „Resultat eines Konflikts“ bezeichnen könne.395 Genau dieser Widerstreit zwischen musikalischem und literarischem Ausdruck scheint für Goetz den Reiz bei dem gemeinsamen Projekt ausgemacht zu haben. Indem dieses Klang-Experiment die Sprache „in den von Wörtern leergefegten Raum“ der Techno-Musik wieder einführt, werden die „wechselseitigen Zerstörungen“ dokumentiert, die bei dieser Synthese von literarischer und musikalischer Ästhetik entstehen; dadurch zeigt sich mehr als deutlich die „Verlorenheit der Sprache vor der Herrschaft der Beats und Geräusche“, wobei durch die Konfrontation etwas gänzlich Neues entsteht: eine hybride Form, wie sie bis dahin noch nie zu hören war und erst im Zusammenspiel von Techno-Musik und Sprache deutlich hervortritt.396 Hier verbindet sich die DJÄsthetik mit der Ästhetik der gelesenen Texte, wobei die Wörter direkt vom Mischpult aus gesteuert werden. Dagegen zeigt die mit Stevie Be Zet entstandene CD Ästhetisches System, welche dominierende Wirkung die Sprache über die Musik erlangen kann, wenn es sich dabei um Ambient- und Trance-Klänge handelt. Von der Kraft der Worte werden die leisen und schwebenden Klänge fast verdeckt und in den Hintergrund geschoben. Mühelos besetzt die Stimme von Goetz den bislang von Wörtern leeren Raum und füllt ihn aus. Da die Musik hierbei nicht mehr auf die alles beherrschenden Beats aufgebaut ist, fällt dem Rhythmus der Sprache die Dominanz zu, die bei Soziale Praxis noch die Techno-Musik innehatte.

393 Goetz: Celebration, S. 77. 394 Poschardt 1997, S. 321. 395 Goetz: Celebration, S. 84-86. 396 Poschardt 1997, S. 322.

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Auf der dritten CD liest Goetz ganz ohne musikalische Begleitung seinen Text Katarakt, einen für das Theater verfassten und aus elf Kapiteln bestehenden Monolog eines alten Mannes, der über seine Jugend, die Liebe, das Alter, die Sexualität, die Gesellschaft etc. sinniert. Die prägnante Stimme von Goetz verleiht dem hochkomplexen Redefluss eine erstaunliche Leichtigkeit und Plausibilität. Ganz auf die Kraft und Intonationsfähigkeit seiner Stimme angewiesen, agiert Goetz hier als ordnende Instanz, die den Zuhörer durch den Gedankenstrom leitet, indem er ihn rhythmisiert.397 „Gibt es ein Phänomen, das so untrüglich Zeugnis ablegt von menschlicher Anwesenheit und kreatürlichem Leben wie das Erklingen einer Stimme?“, schreiben die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch und die Philosophin Sybille Krämer im Vorwort einer wissenschaftlichen Anthologie, die sich mit dem

397 Interessanterweise erscheint im Jahr 2000 im Hörverlag die Doppel-CD Heute Morgen, auf der Goetz Auszüge aus Rave, Jeff Koons, Celebration, Abfall für alle und Dekonspiratione liest. Verbunden sind die einzelnen Textvorträge durch rein instrumentale Techno-Tracks, die Goetz zusammen mit dem DJ Westbam produziert hat. Dabei fungieren die beatlastigen und sehr einfach gehaltenen Musikparts oftmals als Interloops, die das Gesagte sowohl akustisch untermalen als auch musikalisch ‚fortschreiben‘. Obwohl den einzelnen Stücken, die so kuriose Titel wie z. B. hundelunge, grave, megarave, togo, schlegel tragen, eine Überleitungs- und Erweiterungsfunktion zukommt, können sie auch gänzlich ohne den Vortrag von Goetz genossen werden und entfalten dabei ihre ganz eigene abstrakte Intensität. Ebenso können auch die Lesungen von Goetz für sich stehen, ohne dabei etwas von ihrer suggestiven Wirkung zu verlieren. Einerseits belegt die Doppel-CD Heute Morgen damit recht eindrucksvoll die Autonomie der musikalischen und literarischen Produktionsästhetik, andererseits zeigt sie auch auf, welchen Gewinn sowohl die literarische Rede als auch der musikalische Ausdruck aus diesem Zusammenspiel ziehen können. Die Abstraktheit und Körperlichkeit der Techno-Musik entführt den Hörer, nachdem er der Stimme von Goetz gelauscht hat, immer wieder in einen Klangraum, der ohne sprachliche Sinnstiftung auskommt und die von Goetz beschriebene Erlebnisweisen unmittelbar Realität werden lässt. Zugleich scheint in diesem Zusammenspiel immer wieder auf, wie sehr die literarische Rede von Goetz davon bestimmt ist, eben genau die Unmittelbarkeit bzw. Präsenz der Techno-Beats zu beschreiben. Nicht nur die Musik unterstützt den Lesevortrag auf adäquate Art und Weise und belegt das von Goetz Gesagte; vielmehr fügt auch die literarische Rede dem musikalischen Ausdruck etwas hinzu und lädt die abstrakten Klangstrukturen sowohl mit Bildern und Figuren als auch mit selbstreflexiven Betrachtungen auf.

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performativen Charakter der Stimme beschäftigt.398 Die Stimme, so Kolesch und Krämer, ist aufgrund ihres Aufführungscharakters, ihrer Ereignishaftigkeit und ihres Verkörperungscharakters „ein performatives Phänomen par excellence“.399 Zudem ist die Stimme, laut Kolesch und Krämer, ein „Schwellenphänomen“: „Die Stimme ist [...] nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, sondern sie verkörpert stets beides.“400 Einerseits ist die Stimme etwas Ungreifbares, etwas in der Zeit fließendes, das eine ephemere und unsichtbare Entität besitzt, die sich zugleich stetig wandelt. Andererseits verweist die Stimme auf eine konkrete, körperliche und zeitliche Existenz, egal ob sie unmittelbar live ihren Ausdruck findet oder aus der ‚Konserve‘ stammt. Ebenso verweist auch die auf der Katarakt-CD erklingende Stimme von Goetz auf eine leibliche Anwesenheit und verleiht der Aufnahme eine (körperliche) Präsenz und Sinnlichkeit, die der Schrift im Gegensatz zum musikalischen Ausdruck oftmals fehlt. Dergestalt kann auch die KataraktAufnahme, deren Grundlage ein Text bildet, der zur Aufführung gedacht ist, auch als Versuch gedeutet werden, der Schrift etwas zurückzuerstatten: eine Körperlichkeit, die ein Text nur beschreiben und simulieren kann.401

398 Kolesch/Krämer 2006, S. 7. 399 Ebd., S. 11. 400 Ebd., S. 12. 401 In seinem berühmten Aufsatz Tod des Autors (1968) hat Roland Barthes die Schrift [écriture] als „Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs“ bezeichnet: „Das Schreiben ist dieses Neutrum, dieses Zusammengesetzte, diese Schrägheit, die unser Subjekt ausrinnen, das Schwarzweiß, das jede Identität, angefangen bei der des schreibenden Körpers, verlorengehen läßt.“ (Barthes: Der Tod des Autors, S. 57.) Der „moderne Schreiber [scripteur]“ entsteht, laut Barthes, „gleichzeitig mit seinem Text; er besitzt keineswegs ein Sein, das vor oder über seinem Schreiben läge“ (ebd., S. 60). Dies impliziert, dass in dem Augenblick, in dem der Schreiber seinen Text vollendet und die écriture als produktive Tätigkeit, d. h. als Akt des Schreibens, in das Produkt, in die écriture als Schrift, einmündet, die Verbindung zwischen scripteur und Text für immer gekappt ist. Jede Form von ‚lebendiger Stimme‘ verliert sich in der Starre der ‚toten‘ Schrift. Was zurückbleibt ist ein Textkorpus, der erst im Akt des Lesens immer wieder neu entsteht und dabei eine Präsenz und Dringlichkeit erhält, die ihn im Hier und Jetzt verankert.

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5.5 AUSKLANG : T EXT -S AMPLING , S ONIC F ICTION UND E VENTKULTUR Goetz’ Ambition, die Interdependenzen zwischen literarischer Rede und elektronischer Tanzmusik auszuloten, um seinen Texten eine gewisse Präsenz und Sinnlichkeit zu verleihen, weist Parallelen zu den literarischen Arbeiten von Thomas Meinecke und Andreas Neumeister auf, deren Werke ebenfalls durch Auflösung traditioneller Erzählstrukturen bzw. durch Fragmentarisierung und Vielstimmigkeit gekennzeichnet sind. So sieht Neumeister, der oftmals bei Lesungen auch als DJ agiert, die „Versuchsanordnung“ seiner Texte u. a. durch die Anstrengung bestimmt, „die Technik des Sampelns, das, was mich bei Techno und Hip Hop so begeistert hat, auch auf die Literatur zu übertragen“: Einerseits, so Neumeister, seien seine Texte dem Cut-up-Prinzip verpflichtet, da er „schon immer mit vielen Bruchstücken, die aus vielen 100 Quellen kommen“, gearbeitet habe, die er dann „hintereinander schneide“, um einen bestimmten Sound und Rhythmus zu generieren; in den letzten Jahren seien die repetitiven Strukturen der Techno-Musik bestimmend für seine literarische Produktion gewesen, spürbar vor allen Dingen in dem „vermehrte[n] Einsatz von Wiederholungen, teilweise eins zu eins, teilweise als Variationen“.402 Dabei tituliert sich z. B. der Erzähler in Neumeisters Prosamonolog Gut laut (1998), der laut Klappentext „dem elektronischen Rhythmus des ‚Eben-jetzt‘“ folgt, als „[m]usikbesessene[r] Kettenhörer“403, der ständig unter Zeitmangel leidet, da er davon getrieben ist, „im Besessenheitsterritorium Popmusik“ alle musikalischen Veröffentlichungen auf „Brauchbarkeit“ hin zu überprüfen: „Drogensüchtiges Verlangen nach Musik, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr toller Musik, tollwütiges Verlangen nach nicht endender Musik.“404 Im Gegensatz zu Goetz, bei dem die unmittelbare Gegenwart als Ausgangspunkt der literarischen Arbeit fungiert, thematisiert Neumeister in seinem Roman Gut laut u. a. das München der 1970er Jahre und den „Sound of Munich“405 – populäre Discomusik, die unter anderem von dem aus der Schweiz stammenden Komponisten und Produzenten Giorgio Moroder und seiner Zusammenarbeit mit der amerikanischen Sängerin Donna

402 Gansel/Neumeister: Pop bleibt subversiv, S. 189. 403 Neumeister: Gut laut, S. 18. 404 Ebd., S. 13. 405 Ebd., S. 11.

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Summer geprägt wurde.406 Ebenso erwähnt Neumeister u. a. die Bands Kraftwerk, Throbbing Gristle und Deutsch Amerikanische Freundschaft und beschreibt damit sehr genau, wie diese verschiedenartigen Formen von musikalischem Ausdruck die heutige elektronische Tanzmusik maßgeblich beeinflusst haben. Dergestalt gleicht Gut laut einem Entwicklungsroman, der – trotz seiner fragmentarischen und repetitiven Strukturen – einerseits die musikalische Sozialisation des Erzählers schildert und andererseits wie ein musikalisches Archiv anmutet, das alle musikalischen Strömungen und ihre Weiterentwicklung beinhaltet. So agiert der Erzähler wie ein DJ bzw. ‚Text-Jockey‘, indem er stetig eigenes oder fremdes Textmaterial sampelt und recycelt, sich als Archivar geriert und Listen erstellt, Übergänge schafft und Schleifen bzw. Loops erzeugt.407 Dabei wirkt Gut laut oftmals wie die Abschrift einer Tonbandaufzeichnung bzw. wie ein Mix-Tape, das immer wieder vor- und zurückgespult wird und stetig Manipulationen erfährt, wobei die Analogie zwischen DJ und ‚Text Jockey‘, laut Neumeister, nur bedingt zutrifft: „Mir erscheint der Begriff ‚Text Jockey‘ [...] als etwas zu modisch, aber ich denke, es ist das Richtige gemeint, was all die [...] Verfahren betrifft – das serielle Arbeiten in der aktuellen elektronischen Musik kann man natürlich nur bis zu einem gewissen Grad auf Texte übertragen.“408 Von Anfang an sei dabei, so Neumeister, die „Sphäre Pop“ das „Hauptnahrungsmittel“ für das eigene Schreiben gewesen: „Textsampling, Textmontage,

406 Vgl. Seiler 2006, S. 315. Schon Anfang der 1970er Jahre erwarb Moroder einen Moog-Synthesizer und errichtete zudem in München ein Studio. Die elektronischen Disco-Hits Love To Love You, Baby (1976) und I Feel Love (1977), die Moroder zusammen mit Donna Summer einspielte, gelten vielen Techno- und House-Produzenten als Initialzündung für ihr eigenes Schaffen. Neumeister bezeichnet die Musik von Moroder in Gut laut dementsprechend auch als „Early Techno“ bzw. „Pre-Techno“ und zeichnet damit eine musikalische Entwicklungslinie nach, die heute in vielen Sekundärwerken über elektronische Tanzmusik Erwähnung findet (Neumeister: Gut laut, S. 11). 407 Vgl. auch Goer: Cross The Border – Face The Gap, S. 172-182. 408 Gansel/Neumeister: Pop bleibt subversiv, S. 184. Wie weit Neumeister bei der Übertragung der in der DJ-Culture vorherrschenden seriellen und prozessualen Ästhetik in die Literatur geht, zeigt auch die Veröffentlichung von Gut laut. Version 2.0 im Jahr 2001. Für diese Neuveröffentlichung im Taschenbuchformat hat Neumeister den ursprünglichen Text noch einmal ‚remixed‘ bzw. verdichtet und an einigen Stellen erweitert.

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Vielstimmigkeit, immer wieder die Annäherung an das mündliche Sprechen waren vom ersten Buch an wichtiger Bestandteil meiner Arbeit.“409 Ebenso stellt auch das Buch Angela Davis löscht ihre Website, das Neumeister im Anschluss an seine Mitarbeit am Internet-Schreibprojekt pool410 veröffentlichte, eine Radikalisierung von Schreibweisen im Zeichen der neuen Repräsentationsmedien und der populären Kultur dar: „Abkürzungen, Markennamen, Nachrichtenfragmente, Sentenzen und Zitate aus öffentlichen und privaten Diskursen werden über Wort- und Satzmodulationen in Serie geschaltet, in repetitive Fragen- und Begriffskataloge transformiert, in rhythmisierte Reihen überführt, die den sequenzierten Stil von Nachrichtentickermeldungen an die Stelle von narrativ entfalteten Handlungszusammenhängen setzen.“411

Auch der Literat, Musiker, DJ, Kolumnist412 und Radiomoderator Thomas Meinecke bekennt immer wieder freimütig, dass er in puncto Schnelligkeit und Witz viel vom Pop gelernt habe.413 Bevor Meinecke 1996 seinen ersten Roman The Church of John F. Kennedy veröffentlichte, gründete er mit Kommilitonen 1978 die Kulturzeitung Mode und Verzweiflung414, aus der zwei Jahre später die Band Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.) hervorging.415 Schon auf den ersten Alben und EPs von F.S.K. tritt deutlich hervor, dass die Band sich primär dem ästhetischen Prinzip verschrieben hat, sowohl „mit verschiedenen, untereinander nicht kompatiblen Codes zu operieren“ bzw. „die Referenzsysteme und Schaltkreise immer wieder neu zu verkabeln“ als auch „den Input immer dann zu verändern, wenn der Output zu berechenbar wird, wenn die Versuchsanordnung, die die

409 Gansel/Neumeister: Pop bleibt subversiv, S. 187. 410 Das kollaborative Internet-Schreibprojekt pool war nur einer ausgewählten Autorengruppe zugänglich, wobei die Einsendungen ohne Auswahl aneinander gefügt wurden, so dass ein fortlaufender Text mit heterogenen Text- und Bildelementen entstand. 411 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 46f. 412 So u. a. für die Wochenzeitschrift Die Zeit und das Magazin Groove, das seit seinen Anfängen die ganze Bandbreite der elektronischen Tanzmusik beleuchtet. 413 Vgl. z. B. Büsser: „Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur“, S. 134. 414 Eine Auswahl der Texte, die Meinecke für die Zeitschrift Mode und Verzweiflung schrieb, wurden 1998 unter gleichnamigem Titel im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht. 415 Einen Überblick über das musikalische Schaffen der Band F.S.K. bietet die TripleCD-Box Ist ein Mode & Verzweiflung Produkt, erschienen 2011 auf dem Label Sup Up.

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Band bis heute ist, zu störungsfrei läuft“.416 Dabei sind die Songtexte, die Meinecke für die Band schreibt, davon geprägt, dass sie „immer schon mit mehr als einer Stimme sprechen“: „Hier gibt es kein lyrisches Ich, das seinen persönlichen Ausdruck sucht, keine mit sich selbst identische Instanz, die individuelle Befindlichkeiten kommuniziert, sondern eine Vielzahl von Namen, Daten, Orten, Titeln, Feststellungen, Schlagworten, Slogans und Klischees, die aufgenommen und wiedergegeben, sich selbst und anderen, oft adressiert als ein Du, zugeschrieben werden.“417 Ebenso wie die Musik von F.S.K. von einem gewissen Eklektizismus bzw. einer Offenheit und Vielstimmigkeit geprägt ist, „da sie vorgefundenes Material aufnimmt und nach den eigenen Maßstäben neu dekliniert“, konstituieren sich auch Meineckes Songtexte „in der Auseinandersetzung mit anderen Texten, mit Berichten, Geschichten, Redewendungen, die in Bruchstücken zitiert, abgekürzt, angeführt, umgeschrieben werden“; Meineckes Lyrics „beobachten, behaupten, referieren, zählen auf, stellen fest, generieren Fragen, verweigern Antworten“: Sobald sich Verbindungen auftun, „in denen sich nationale, ethnische oder geschlechtliche Identitäten und Ideologien formieren“, werden diese „durch gezielt gesetzte Schnitte aufgebrochen, mit anderen Zusammenhängen kurzgeschlossen und so [...] auf neue Weise lesbar gemacht“.418 Dieses Prinzip des „Re-Make / Re-Model“419, das seinen Namen einem Song der englischen Band Roxy Music verdankt, findet ihr Äquivalent in der literarischen Praxis von Meinecke, dessen Romane und Erzählungen, wie nachfolgend aufgezeigt wird, ein kaum zu entwirrendes Diskursgeflecht darstellen, das einem – im Sinne von Gilles Deleuze und Felix Guattari – rhizomatischen Gefüge ähnelt und u. a. einem stetigen ‚Musik-Werden‘ unterworfen ist.420 Während in den Anfangstagen von F.S.K. u. a. elektronische Popmusik, Krautrock, Punk, Postpunk und New Wave als musikalische Inspirationsquelle dienten, übten in den 1990er Jahren die House- und Techno-Bewegung bzw. die DJ-Culture eine enorme Faszination auf die Band aus. Ihren Niederschlag fand diese Begeisterung in einer Anzahl an ‚elektronischen Stücken‘, die aber mit konventionellem Instrumentarium generiert worden waren, was noch einmal deutlich macht, dass es der Band nicht um die Imitation musikalischer Stile geht, sondern um das Aufzeigen von Brüchen und die Dekonstruktion von vorgefun-

416 Schumacher: Deutsch als Fremdsprache, S. 233. 417 Ebd., S. 232. 418 Ebd. Eine Sammlung seiner Songtexte veröffentlichte Meinecke im Jahr 2007 unter dem Titel Lob der Kybenetik im Suhrkamp-Verlag. 419 Meinecke: Ich als Text, S. 25. 420 Vgl. auch Rüdenauer/Meinecke: Der Reiz des Rhizomatischen, S. 106-117.

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denem Material. Auch die literarischen Bemühungen von Meinecke sind geprägt von dieser Haltung und von den ästhetischen Prinzipien der DJ Culture. Zwar hegt Meinecke – ebenso wie Neumeister – Vorbehalte gegenüber ästhetischen Zuschreibungen wie z. B. ‚DJ-Literat‘ oder ‚Text-Jockey‘, da diese Begriffe mittlerweile inflationär verwendet würden. Dennoch könne er nicht verleugnen, dass die ästhetischen Eigenarten der DJ-Culture ihn beim Schreiben stark geprägt haben. Insbesondere House- und Techno-DJs, so Meinecke, „haben mein Schreiben so sehr beflügelt wie die Beat Generation durch das beseelt dekonstruktive Altsaxophon-Spiel Charlie Parkers beeinflußt worden sein mag“.421 Wie diese formal-ästhetische Übertragung musikalischer Produktionsprinzipien auf die literarische Rede sich darstellt, beschreibt Meinecke in seinem programmatischen Text Ich als Text ausführlich: „So sitze ich also an meinem Arbeitsplatz, zwischen Türmen von Büchern, die auch Records sind, und ziehe mir nacheinander, der musikalischen Logik eines DJ Sets folgend, meine Materialien heraus. [...] Ich will definitiv etwas anderes erzählen als ein Rocker und dulde deshalb auch keine narrativen Ablenkungsmanöver wie Handlung, Spannungsbogen und Klimax, keinen Anfang und kein Ende, keine Auf- oder gar Erlösung, sondern versuche, was ich in Techno wiederfinde, eine so differenziert wie möglich modulierte Strecke Text herzustellen.“422

Im Gegensatz zum DJ, der sein Set aus seinem musikalischen Fundus gestaltet, greift der Schriftsteller Meinecke auf sein Bücherregal, gerade vorhandene Zeitungsartikel, Ergebnisse von Internetrecherchen, Briefe, E-Mails etc. zurück, um „eine bestimmte Strecke lang einen bestimmten Groove zu benutzen und ihn nach einer gewissen Zeit zu ändern oder beide ineinanderzufahren, sie zu kreuzen“.423 Dabei stellt Meinecke selbst Parallelen seiner Schreibweisen zu den Texten von Goetz heraus, indem er konstatiert, dass das „Cut-Up-artige bei Rainald Goetz [...] ziemlich nah“ an dem sei, „was bei mir – beim Schreiben jedenfalls – passiert, nämlich ein Auf-einen-Einstürzen von Meldungen: Dinge aus allen Medien, die einem auffallen, der tägliche Input“.424 Dabei rekurriert Meinecke – im Gegensatz zu Goetz – beim Erstellen seiner Texte u. a. auf die Erfahrungen, die er als Musiker und DJ sammeln konnte. Wenn er als DJ arbeite, so

421 Meinecke: Ich als Text, S. 24. 422 Ebd. 423 Zitiert nach Büsser: „Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur“, S. 134. Vgl. auch Bonz: Meinecke, Meyer, Musik erzählt, S. 46. 424 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 120.

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Meinecke, greife er auf einen „Pool an Tonträgern“ zurück, sei sich im voraus aber nicht bewusst, in welcher Reihenfolge er diese spielen werde: „Ich weiß durchaus, daß sie sich zueinander in einer logischen Weise verhalten werden, zu einer fixen Idee fügen werden, zu einer intelligenten Ordnung, deren sukzessiver Entstehung ich an meinen Reglern in teilnehmender Beobachtung beiwohne. [...] Wann immer es mir möglich ist, lasse ich zwei unterschiedliche Platten synchron laufen, deren Impulse sich erbaulich ineinander verschränken. Spannend daran sind jene Momente, in denen nicht klar auszumachen ist, welches Versatzstück welcher Quelle entstammt. In denen sich vermeintlich Disparates zur Synthese mischt. In denen das Zitat seine Anführungszeichen verliert.“425

Diese sukzessive Ästhetik ist auch den Texten von Meinecke inhärent und hat zur Folge, dass sie u. a. die Lektüreeindrücke widerspiegeln, die Meinecke während des Entstehungsprozesses gewonnen hat: „Beim Schreiben lagern sich viele Dinge, die gerade passieren oder die ich lese oder höre, wie Magnetspäne meinem Thema entsprechend im Manuskript an.“426 So ist es nicht verwunderlich, dass Meinecke das „Modelieren, Überblenden, Gleichzeitig- oder Parallel-Laufenlassen“ und „Auseinanderlaufen-Lassen“ 427 explizit mit dem Lesevorgang assoziiert: „Für mich ist das Schreiben strukturell lesen, und ich bilde eigentlich einen Leseprozess ab.“428 Die von Meinecke hier selbst aufgeworfene Verbindung zu den Prinzipien der „Popmusik“ ergibt sich einerseits dadurch, dass „Popmusik“, die sich „ihrer Zusammenhänge bewußt ist“, laut Meinecke, ebenfalls dieser Methode unterworfen ist. Andererseits manifestiert sich die Analogie zwischen „Popmusik“ und literarischer Rede auch auf der formalen Ebene, nämlich durch das beständige Neuzusammensetzen vorhandener Elemente.429 Wenn mit der DJ-Culture eine ästhetische Praxis zu assoziieren sei, bei der ein DJ „auf zwei Plattenspielern mit 80 Schallplatten eine ganze Nacht lang wunderbar was erzählen“ könne, sieht sich auch Meinecke diesem „modischen Bild des DJs“ verpflichtet.430 Zudem stellt Meinecke immer wieder die formale Ebene zur „Popmusik“ heraus, indem er konstatiert, dass seine Texte, anstatt „nur [von]

425 Meinecke: Ich als Text, S. 23. 426 Zitiert nach Wenzel 2001, S. 62. 427 Zitiert nach Ullmaier 2001, S. 120. 428 Zitiert nach ebd., S. 118. 429 Vgl. ebd. 430 Zitiert nach ebd.

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Pop zu handeln“, „praktisch selbst wie Pop funktionieren“ sollen.431 Dabei stellt Pop für Meinecke einerseits den Versuch dar, die Gegenwart auf welche Art auch immer festzuhalten; andererseits besitzt Pop, laut Meinecke, generell ein emphatisches Verhältnis zur populären Kultur. Zudem stellt Pop, so Meinecke, „eine Wahrnehmungstechnik“ und „ein analytisches Verfahren“ dar, das dazu dient, „mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise umgehen zu können“.432 Diese Charakteristika der Pop-Kultur möchte Meinecke auch in seiner literarischen Arbeit verwirklicht sehen, obwohl er sich, ebenso wie Goetz, darüber bewusst ist, dass die Nachträglichkeit, die dem Medium Schrift inhärent ist, das „Ideal eines momentanen Festhaltens“ unerreichbar werden lässt. 433 Durch dieses Ideal hebe sich, laut Meinecke, die sogenannte Pop-Literatur von traditionell erzählender Literatur ab: „Weshalb sich Jetzt-versessene Literatur, nennen wir sie mal, für fünfzehn Minuten, PopLiteratur, [...] in ihrem oft kompromißlosen Duktus, Sound und Groove schon einmal wohltuend von der meisten auf Versöhnlichkeit angelegten Erinnerungsarbeit herkömmlicher Erzählliteratur abhebt. Wenn schon erinnern, dann vergegenwärtigen. Geschichten der Gegenwart schreiben. Die Geschichte der Gegenwart schreiben. Die den Prozeß der Geschichtsschreibung reflektiert. Und sogleich ihr Verfallsdatum mit ausstellt.“434

Einerseits verdeutlicht dieses Zitat, dass Meinecke eine „Form von Gegenwartsfixierung“ anstrebt, obwohl er sich trotz aller Euphorie um die Jetzt-Zeit darüber bewusst ist, dass alle Gegenwart zur Vergänglichkeit verdammt ist: „Spätestenfalls mit der Abgabe meines Manuskripts ist aus [dem Text] unübersehbar ein Gestern, ein Vorhin, ein Eben geworden.“435 Zudem hat Meinecke, laut eigener Aussage, kein Problem damit, wenn seine Texte nach einer gewissen Zeit der Vergänglichkeit anheimfallen, denn „dieses Ungültigwerden ist bei mir im Schreiben schon festgelegt“.436 Die eigentliche Unmittelbarkeit und Präsenz erreichen die Texte von Meinecke u. a. dadurch, dass er, wie ausgeführt, ästhetische Prinzipien der populären Musik (wie z. B. das Sampling-Verfahren) in die Literatur überträgt und dazu benutzt, tradierte Erzählstrukturen zu dekonstruieren. Insofern lassen sich die

431 Zitiert nach ebd., S. 121. 432 Meinecke: Ich als Text, S. 25. 433 Ebd., S. 17. 434 Ebd., S. 17f. 435 Ebd., S. 17. 436 Zitiert nach Büsser: „Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur“, S. 134.

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Texte von Meinecke als Projektionen von Sampling-Techniken lesen. Dabei vergegenwärtige Pop, so Meinecke, „durchaus real Vergangenes: Im Zitat. Im Sample. Wobei ein Sample auch Erinnern auslöst“.437 Indem Meinecke den Begriff des Samplings aus der DJ-Culture entlehnt, um seine Schreibpraxis zu kennzeichnen, setzt er sich zugleich vom Prinzip des Montage-Romans ab: „Beim Sampling gibt es eine Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente. Mehrere Schichten sind möglich. Unter Montage stelle ich mir mehr eine Art analoges Nebeneinander vor.“438 In der Sekundärliteratur ist oftmals darauf hingewiesen worden, dass Meineckes literarisches Sampling- bzw. Remix-Verfahren durchaus dem modernen Pastiche-Begriff entspricht und primär dazu dient, hybride Formen zu generieren.439 Schon Ihab Hassan hat Hybridisierung als ein Merkmal der Postmoderne definiert und sprach dabei u. a. von „Klischee und Spiel mit dem Plagiat [...], Parodie und Pastiche, Pop und Kitsch“; alle diese Formen bereichern, laut Hassan, „den Bereich der Re-Präsentation“: „In diesem Sinne kann das Abbild, die Kopie, dieselbe Gültigkeit besitzen wie das Urbild. [...] Hieraus erwächst eine andere Traditionsvorstellung, eine, in der sich Kontinuität und Diskontinuität, hohe und niedere Kultur mischen, nicht um die Vergangenheit nachzuahmen, sondern um sie in die Gegenwart hereinzuholen. In dieser Gegenwart voller Vielfalt sind alle Stilformen in dialektischer Weise verfügbar geworden, in einem Wechselspiel zwischen dem Heutigen und dem Nicht-Heutigen, dem Gleichen und dem Anderen.“440

Bezeichnenderweise tituliert auch der Literatur- und Musikwissenschaftler David Sanjek die DJ-Culture als hybride Kultur, wenn er z. B. den MIDI Sampler, der in den 1980er Jahren immer stärkere Verbreitung erfuhr, als Mittel zur „Orgy of Pastiche“ bezeichnet: „[It] permits the possibility of deconstructing any available recording or any recordable material into a novel construction.“441 Die Möglichkeit, Klangmaterial zu dekontextualisieren, wird dabei noch verstärkt durch die Tatsache, dass Hardware-Sampler heutzutage weitestgehend aus den Studios verschwunden sind und eine Vielzahl an Samples meist direkt am Computer verwaltet und mithilfe eines Audio-Sequenzers oder Software-Samplers

437 Meinecke: Ich als Text, S. 19. 438 Brombach/Rüdenauer: Gesampeltes Gedankenmaterial. 439 Vgl. z. B. Dunker: „Alle tanzen, doch niemand kennt die Platten“, S. 105-118. 440 Hassan: Postmoderne heute, S. 52. 441 Sanjek 1994, S. 348.

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abgespielt werden kann442, wobei u. a. das World Wide Web als Fundgrube dienen kann: „Abgelöst von ihrem Hier und Jetzt, gespeichert, gleich in welcher konkreten Gestalt, können sie [die Klänge] in verschiedene Kontexte hineinversetzt werden. Sie können als akustische Ready-mades dienen.“443 Dennoch, so Meinecke, bestehen Divergenzen zwischen musikalischem und literarischem Sampling, die sich u. a. durch die Autonomie der verschiedenartigen künstlerischen Ausdrucksformen erklären lassen: „In der Musik nimmt man ein cooles Sample und beraubt es innerhalb des eigenen Tracks genau der Eigenschaften, die einen darauf aufmerksam gemacht haben. Es soll ja was passieren. Man weist dem Sample eine neue Funktion zu [...] Sampling misslingt genau dann, wenn man das Sample in derselben Funktion in ein Stück einbaut, in der man es vorgefunden hat. Das ist langweilig. In der Literatur ist es spannend, sich durch eine Verweishölle zu bewegen und auch die Referenzen zu erzählen. Die Nennung der Vorlage ist Bestandteil des ästhetischen Verfahrens. Da kann Text wesentlich expliziter sein als Musik. Das ist einerseits ein Fluch, andererseits aber auch ein Segen.“444

Während Meinecke in The Church of John F. Kennedy und Tomboy (1998) noch versucht, seinen aus Zitaten, Musik- und Diskussionsfragmenten zusammengeschnittenen Texten einen narrativen Rahmen zu geben und durch die Benutzung des Imperfekts und den Entwurf eines allwissenden Erzählers gewisse Konventionen eingeht, betreibt er in Hellblau (2001), Musik (2004), Jungfrau (2008) und Lookalikes (2011) immer stärker die Dekonstruktion tradierter Erzählmuster. Indem Meinecke in diesen Romanen auf einen vorgegebenen Handlungsrahmen verzichtet und u. a. seinen Leseprozess während des Schreibens abbildet, lässt er den Leser quasi ‚in Echtzeit‘ erfahren, was der Autor und die im Buch agierenden Protagonisten bei ihrer Lektüre erleben. Die eigentlichen Präsenzeffekte, die für die Texte von Meinecke bestimmend sind, werden somit einerseits dadurch erreicht, dass aktuelle Begebenheiten bzw. Diskurse dem Textkorpus einverleibt werden; andererseits sind es Meineckes eigene verschriftlichte Leseprozesse, die ein Gefühl von Unmittelbarkeit beim Leser erzeugen, wobei sowohl Wiedererkennungs- als auch Überraschungseffekte eine entscheidende Rolle spielen. Dabei fungieren die Figuren in Meineckes Romanen und Erzählungen oftmals als

442 Aufgrund der sehr charakteristischen klanglichen Eigenschaften der Hardware-Sampler der ersten Generation greifen viele Musiker und Produzenten dennoch immer wieder auf diese Klangerzeuger zurück. 443 Motte: Soundsampling, S. 92. 444 Zitiert nach Oehmen: Axolotl Roadkill und die Folgen, S. 61.

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„Träger von Diskurselementen“445, die divergente Exkurse (Aufbegehren im Techno, Krautrock, feministische Theorie, Gender Studies, Cultural Studies, die Konstruiertheit geschlechtlicher Identität, film- und literaturwissenschaftliche Betrachtungen etc.) aufnehmen, reflektieren und untereinander diskutieren. Oftmals lassen sich bestimmte Textparts nicht einmal eindeutig einem Protagonisten zuordnen, nur Duktus und angesprochene Thematik lassen Rückschlüsse auf die Person zu, die spricht. Ebenso wie der Erzähler in Neumeisters Roman Gut laut wie ein Aussageobjekt wirkt, betreibt auch Meinecke exzessiv eine Dekonstruktion des Autor-Subjekts, indem er eine Vielzahl an Aussageobjekten generiert, die zudem keine wie auch immer geartete Vorgeschichte besitzen, die im Laufe des Erzählflusses immer deutlicher hervortritt. Während Neumeisters Roman Gut laut noch narrative Sequenzen über Kindheit und Jugend enthält und auch als Adoleszenz- bzw. Entwicklungsroman gelesen werden kann, verzichtet Meinecke gänzlich auf narrativ ausgestaltete Handlungszusammenhänge, eindeutig festlegbare Themenkomplexe und Figurenpsychologie. 446 Vielmehr scheinen Meineckes Protagonisten gänzlich im Hier und Jetzt verankert und der Leser erfährt nur, was sie gerade tun und denken. Verstärkt wird dieser Eindruck von Unmittelbarkeit noch dadurch, dass Meinecke den Textkorpus als medial vermittelt darstellt, indem er einzelne Textfragmente z. B. als Ergebnisse von Internetrecherchen, E-Mails, Briefen, Postkarten, Exzerpten gelesener Bücher, Tagebucheinträgen, Lektürenotizen und über das vorgefundene Textmaterial hinausgehenden Reflexionen gestaltet. Dadurch stellt er seine Protagonisten als lesende respektive schreibende Figuren dar und richtet den Blick des Lesers auf die Art und Weise, wie das Textmaterial kompiliert wurde. Das sich während des Schreibprozesses immer weiter vervielfältigende Textmaterial verwendet Meinecke jedoch nicht dazu, wie auch der Literaturwissenschaftler Schumacher erklärt, „das Personal seines Romans mit soziologisch und psychologisch relevanten Merkmalen zu verlebendigen, um die fiktionalen Figuren zu authentifizierbaren Charakteren auszubauen“; vielmehr, so Schuhmacher, ergeben sich – insbesondere in den Romanen Tomboy und Hellblau – die „Realitätseffekte [...] dadurch, daß die im Text entworfenen Figuren immer auch als fiktive Konstruktionen, als literarische Abstraktionen erkennbar bleiben“.447 An die Stelle des Beschreibens treten bei Meinecke „Verfahren des Auflistens und der Inventarisierung, des Ab-, Mit- und Umschreibens, das Schreiben konstituiert sich über

445 Duncker: „Alle tanzen, doch niemand kennt die Platten, S. 107. 446 Vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 187f. 447 Ebd., S. 202.

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ein Aufnehmen von und Arbeit mit vorgefundenem Material“448. Auch wenn der Schriftsteller, laut Meinecke, letztendlich derjenige sei, welcher das gesammelte Material „ordnet oder zu bestimmten Formationen organisiert“, so ginge es doch vielmehr darum, die „Position als Autor klein [zu] halten“ und als Medium zu fungieren: „Ich erzähle nicht viel von mir. Die Summe alles dessen, was passiert, bin dann vielleicht ich, oder ist aus mir gekommen, aber eher durch mich hindurch geflossen.“449 Aus diesem Verfahren des Aufnehmens und Selektierens entstehen stark selbstreflexive, hochkomplexe und hypotaktisch strukturierte Textgefüge, die zudem eine kaum zu überschauende Verweisstruktur besitzen und von einer unterlegten Musikalität durchzogen sind. Ausgehend von einem bestimmten Diskurs treibt der Text immer weitere Wucherungen, die sich z. B. über thematische Verzweigungen, metaphorische Verdichtungen und metonymische Verschiebungen unablässig fortsetzen. 450 Diese kaum zu überblickenden Verweise auf z. B. Band- und Musikernamen, die, wie angedeutet, den Leseprozess und die Denkbewegungen nachzuzeichnen versuchen, dienen dabei „nicht der Verständigung, sondern eher der Verkomplizierung oder der Darstellung der Komplexität, des unübersichtlich Vernetzten“, wie Meinecke in einem Interview hervorhebt.451 Neben den aufscheinenden intertextuellen Bezügen, die Meineckes Texten eine Vielstimmigkeit und Offenheit verleihen, ist es besonders die klangliche bzw. rhythmische Struktur seiner Romane und Erzählungen, die Vergleiche mit der Ästhetik der DJ-Culture und den musikalischen Eklektizismus, dem Meinecke mit seiner Band F.S.K. frönt, evoziert: „Das ist vielleicht auch das Experi-

448 Ebd., S. 184. Auch der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler hat – ausgehend von Texten von Max Goldt, Andreas Mand und Benjamin von Stuckrad-Barre – aufgezeigt, dass Katalogisierung und Archivierung zentrale ästhetische Verfahren der PopLiteratur der 1990er Jahren darstellen: „Wenn das Neue [...] als Ergebnis einer Tauschhandlung zwischen anerkannter Kultur und der Welt des Profanen zustande kommt, dann ist Pop, als Medium des Neuen, zuallererst eine Archivierungs- und ReKanonisierungsmaschine.“ (Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 46.) Während Meinecke, laut Baßler, „Diskursroman[e]“ schreibt, wolle Goetz „archivieren, was noch nicht Diskurs ist“ – Goetz unterstelle dem Leben und der Musik, der Drogenerfahrung und dem Sex „Prädiskursivität“; Baßler bezeichnet diese Vorstellung von Goetz als „sentimentales Projekt, das nicht zufällig an Probleme des Aufschreibsystems um 1800 gemahnt“ (ebd., S. 145). 449 Zitiert nach Lenz/Pütz 2000, S. 149. 450 Vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 185. 451 Zitiert nach Lenz/Pütz 2000, S. 153.

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mentelle, daß sich mein Material, das erst einmal eher rational wirkt, nach musikalischen Prämissen oder Kriterien ordnet.“452 Dabei komme es oftmals, wie Meinecke konstatiert, zu einem „Widerstreit zwischen Sound und Bedeutung“, was zur Folge habe, dass beim Entstehen eines Textes auch stetig Abwägungsprozesse hinsichtlich klanglicher oder sinnstiftender Funktion eine Rolle spielen.453 Die Faszination, die insbesondere die klangliche Struktur der elektronischen Tanzmusik auf Meinecke ausübt, liegt darin begründet, dass Musik „auch nonverbal erzählt, auch im Sinne einer instrumentalen Textur“: „Das ist etwas, was einem ganz stark durch die elektronische Musik der letzten zehn Jahre vor Ohren geführt wurde – mir jedenfalls, wo ich doch eher durch Rock und Pop, aber auch Jazz sozialisiert bin –, daß man da hinhört und versucht, sozusagen analog zur Musik und nicht nur über die Musik zu schreiben. [...] Sich solchen Strukturen zu nähern, dem, was durch Musik auch erzählt wird, was da fiktional ist, ohne dass mir jemand erzählt, es war einmal ein Liebespärchen, ohne diesen ganzen Ballast, das hatte ich mir beim Schreiben auch vorgenommen.“454

Dabei kommt, laut Meinecke, insbesondere der auditiven Wahrnehmung bei der Strukturierung der Texte eine besondere Bedeutung zu: „Ich gehe meine Texte vom Gehör aus an, von einem inneren Gehör. Man muß sie natürlich nicht laut lesen, aber ich glaube, sie sind sehr stark über das Gehör motiviert, also über das Sonische.“455 Deshalb bevorzugt Meinecke, wie er immer wieder in Interviews hervorhebt, den Begriff ‚sonic fiction‘, um das von der elektronischen Tanzmusik abgeleitete akustische Prinzip seiner literarischen Arbeit zu betonen.456

452 Zitiert nach Wenzel 2001, S. 61. 453 Zitiert nach Lenz/Pütz 2000, S. 151. 454 Zitiert nach Wenzel 2001, S. 60f. 455 Zitiert nach Ebd., S. 61. 456 Vgl. ebd. Der Begriff ‚sonic fiction‘ ist dabei dem Buch Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction entlehnt, in dem sich der englische Musikjournalist Kodwo Eshun auf die Suche nach einer angemessenen Form der Beschreibung begibt, die der Intensität und Innovation elektronischer Tanzmusik gerecht wird: „Ich denke, die Kombination DJ/Schreiber ist sehr sinnvoll. Ich glaube, beide sind verschiedene Arten angewandter Remixologie, und alles was wir eigentlich machen, ist das Schreiben zu nehmen und es auf das zweite Deck zu legen und es so weit zu beschleunigen, daß es dieselbe Geschwindigkeit bekommt wie eine Platte.“ (Eshun: Heller als die Sonne, S. 227).

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Als besonders weitreichend hinsichtlich der Interaktion von musikalischer und literarischer Produktionsästhetik erweisen sich dabei die große Anzahl an Performances und Radiohörspielen, die Meinecke u. a. zusammen mit dem deutschen Klangkünstler, DJ und Techno-Produzenten David Moufang aka Move D aufgeführt bzw. eingespielt hat. Besonders an diesen Arbeiten tritt oftmals Meineckes Bestreben hervor, sprachliche Performanzen in Flüsse und Intensitäten aufzulösen, um ihren semantischen Gehalt zu destruieren und ihre klangliche Gestalt hervorzuheben. Während z. B. die im Jahr 1998 entstandene Studioproduktion Tomboy und das 1999 in Berlin live aufgeführte Stück Freud’s Baby noch auf literarischen Arbeiten von Meinecke basieren, wobei die Musik primär dazu dient, einen Klangraum zu generieren, in dem die Textpassagen aufscheinen und sich entfalten können 457 , treiben Meinecke und Moufang beim Hörspiel Übersetzungen/Translations (entstanden 2007 für den Bayrischen Rundfunk) die Verzahnung musikalischer und sprachlicher ,Patterns‘ noch weiter: Ansatz- und Ausgangspunkt der Zusammenarbeit bildete dabei, wie es im Booklet der CD-Aufnahme heißt, der Wunsch, „einmal eine Arbeit zu erstellen, bei der nicht zuerst (und damit letzten Endes übergeordnet) ein Text existiert, sondern die eher abstrakte, serielle Narrativität der Musik als gleichberechtigt, eigentlich sogar tonangebend erscheinen würde“.458 Zu diesem Zweck buchstabierte bzw. sang Meinecke alle Buchstaben des Alphabets – einmal in deutscher und einmal in englischer Aussprache – in allen zwölf Tönen der Tonleiter ein. Dieses Ausgangsmaterial benutzte Moufang nun dazu, innerhalb einer Woche spontan Wörter und Töne ineinander zu verschränken bzw. synchron zusammenzusetzen, mit dem „einzigen übergeordneten Prinzip: einer Übersetzung vom Deutschen ins Englische, respektive umgekehrt“.459 Die dabei entstehenden Wortpaare dienen als Grundgerüst für die einzelnen Tracks und werden stetig dekonstruiert und rekombiniert. Die offene und kollaborative Produktionsweise, die Meinecke und Moufang während der Aufnahmen von Übersetzungen/Translations vollziehen, hat zur Folge, dass die klangliche und dynamische Seite des Wortmaterials stärker hervortritt. Zusätzlich führt die stakkatohafte, repetitive bzw. loopartige Struktur der Aufnahmen dazu, dass sich die semantische Ebene des Wortmaterials – je länger man den einzelnen Tracks lauscht – fast aufzulösen scheint und

457 Nachzuhören auf Thomas Meinecke/Move D: Tomboy/Freud’s Baby, intermedium records 2000. 458 Zitiert nach dem Booklet der CD: Thomas Meinecke/Move D: Flugbegleiter. Übersetzungen/Translations, intermedium records 2008. 459 Zitiert nach ebd.

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hinter die rein sonische Struktur zurücktritt. Auch bei der intermedialen Performance Konvent, die Meinecke zusammen mit Move D und Melian Melián (bildende Künstlerin und Mitglied der Band F.S.K.) im März 2002 aufgeführt hat, geht es, laut Meinecke, darum, durch die Aneinanderreihung von Zitaten und die Bildung einer dynamischen Matrix aus Textmaterial, Bildern und musikalischen Patterns die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit von Texten und die musikalische Seite der Sprache zu lenken, ohne dabei die Sprache als Medium des Wissenstransportes in den Vordergrund treten zu lassen.460 Diese Klangexperimente können somit als Ausweitung und Erweiterung der literarischen Arbeiten Meineckes interpretiert werden, wobei noch stärker der sonische Aspekt der Sprache hervortritt und an Bedeutung gewinnt. Zudem wird deutlich, dass sich Meinecke – sowohl bei seinen literarischen als auch seinen multimedialen Werken – rigoros bei allen nur vorstellbaren postmodernen Prinzipien bedient, um das Zusammenspiel von Klängen und Wörtern immer weiter zu erforschen, als da wären: Fragmentarisierung und Hybridisierung der Form, Verfremdungs- und Dekontextualisierungsprozesse, Intertextualität, Vielstimmigkeit, Dekonstruktion tradierter Erzählstrukturen, Multimedialität, entsubjektiviertes Schreiben, metonymische Verschiebungen etc. „Meine prophylaktische Arbeitshypothese bleibt: Das autonome Subjekt ist abgeschafft. Und mit ihm der Autor“461, konstatiert Meinecke und macht damit noch einmal deutlich, dass seine literarische Arbeit sowohl von den diskurstheoretischen Betrachtungen Foucaults als auch von der sozialen und ästhetischen Praxis der Techno-Bewegung und DJ-Culture geprägt ist. Ebenso wie Goetz und Neumeister geht es ihm dabei um „Abwehrbewegungen gegenüber herrschenden schriftstellerischen Konzepten“, und eine „Form von Gegenwartsfixierung“462, die im Zeichen der vielfältigen und schnelllebigen Pop-Kultur immer neue Formen generiert, um jeglicher Stagnation vorzubeugen: „Ich denke, daß Pop sich aus unzähligen schnellen, schwer berechenbaren, von außen chaotisch und, wie immer wieder zu hören ist, beliebig wirkenden Einzelprozessen zusammensetzt. Deshalb darf Pop auch kein Manifest haben. Pop ist eine Praxis. Ein Mittel. Ein analytisches Verfahren, mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise

460 Vgl. Schuhmacher: Gerade Eben Jetzt, S. 189f. Nachzuhören ist das Stück Konvent auf der CD on/off intermedium, intermedium records 2003. 461 Meinecke: Ich als Text, S. 20f. 462 Schuhmacher: Gerade Eben Jetzt, S. 10.

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umgehen zu können. Eine Wahrnehmungstechnik. Pop ist Lesen. Diagnose, aber nicht Prognose. Nicht Wissen, sondern Fragen.“463

Auch ein Autor wie Benjamin von Stuckrad-Barre, der ein ebenso affirmatives Verhältnis zur Pop-Kultur aufweist wie z. B. Goetz, Neumeister und Meinecke, bedient sich ausgiebig aus dem Zeichenrepertoire der populären Kultur und spickt seine Texte mit einer Vielzahl an Verweisen auf Musiker, Bands und Labels aus dem Bereich Pop-, Rock- und Techno-Musik, wobei seine Vorlieben von einer Band wie Oasis bis hin zu den Pet Shop Boys reichen.464 Wie Stuckrad-Barre in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung konstatiert, falle dem Pop-Literaten dabei primär die Aufgabe zu, einen Beitrag zur „temporäre[n] Abschaffung der Langeweile“ zu leisten.465 „Let me entertain you!“ heißt die von Stuckrad-Barre selbstausgerufene Devise, die dem Leser in dicken Lettern auf den ersten Seiten seines Romans Soloalbum entgegenspringt. Lauter und direkter kann man den geradewegs aus der Pop-Musik entlehnten Anspruch kaum formulieren. Dennoch gehen die Bezüge zwischen literarischem und musikalischem Ausdruck auch in den Texten von Stuckrad-Barre weit über bloße Thematisierung hinaus, indem Stuckrad-Barre auch auf der formalen Ebene mit den äshetischen Prinzipien der populären Kultur spielt. So lässt sich Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998) nicht nur als die Geschichte eines fanatischen Musikfans und -journalisten lesen; vielmehr imitiert das Buch auch „in seiner Ganzheit ein klassisches Produkt der Popindustrie, nämlich eine Tonscheibe, wie man sie in Form von Schallplatten, aber auch CDs kennt“.466 Spürbar wird dieses Prinzip der „Schallplatten-Metaphorik“467 auch bei den nachfolgenden Büchern Livealbum (1999) und Remix (1999).468 Wie weit diese Analogie zwischen musikalischem Output und literarischem Schaffen reicht und welche Formfragen und

463 Meinecke: Ich als Text, S. 24f. 464 Vgl. Appen 2004, S. 153-166. 465 Farkas 1999, S. 15. 466 Degler/Paulokat 2008, S. 26. 467 Ebd., S. 27. 468 Im Jahr 1999 erschien zudem Thorsten Krämers Roman Neue Musik aus Japan, dessen einzelne Kapitel u. a. nach japanischen Pop- und Noise-Musikern benannt sind. Eine dem Roman angefügte Discographie benennt zudem die einzelnen Tracks, die den Episoden als ‚Soundtrack‘ zugrunde liegen. Dergestalt gleicht Neue Musik aus Japan einem Roman, den man, so heißt es im Klappentext, „lesen kann wie man eine CD hört: hintereinander oder als Zufallsprinzip“.

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Distributionsmöglichkeiten sich daraus ergeben, zeigen auch folgende Überlegungen, die Stuckrad-Barre in Livealbum anstellt: „Singlehits in dem Sinne gibt es ja bei einem Buch nicht. Obwohl es doch ganz nett wäre, Singles auszukoppeln fürs Radio und für Unentschlossene, die nicht gleich das ganze Buch kaufen wollen: kleine Pixibücher für 3 Mark mit 10 Seiten leichtzugänglicher Köderliteratur. Und wie bei einem richtigen Singlehit würden Horden von Käufern darüber dann auf das Album, das Buch aufmerksam. Wieso gab es das nicht? Alles muß man selber machen.“469

Während Stuckrad-Barre in Livealbum vorwiegend die Eindrücke beschreibt, die er auf seinen Lesereisen gewonnen hat, besteht das Buch Remix zum Großteil aus alten und schon veröffentlichten Erzählungen und Feuilleton-Essays, die für die Buchausgabe remastered bzw. remixed wurden. Dieses stetige Weiterprozessieren von Eigen- und Fremdmaterial bzw. das Zugreifen auf allseits bekannte Pop-Codes und deren gleichzeitige Persiflage scheint deutlich in folgendem Zitat auf: „Das ist die Art, wie man in einen Brunch gerät. Ich könnte den Text einfach exzerpieren, ein paar Worte dazuschreiben, ein paar wegstreichen, alle so-called Buckel-S in SS korrigieren. Meine all-time Wurst-Top-Ten einweben, die ich seit Jahren in der Schublade habe. Kann ich die auch endlich verbraten. Ich drapiere sie einfach auf der Brunchaufschnittplatte. Würde schon passen. Wurst-all-time-Number-One: Leberwurst, gefolgt von Blutwurst, Bockwurst, Weißwurst, Dauerwurst, Teewurst, Schweinswurst usw., usw. Könnte vielleicht noch eine ,Scheinwurst‘ dazuerfinden. Über die sich ein paar Bruncher gierig hermachen. Leute, eßt meine ostwestfälische, grobe Scheinwurst. So käme remixtechnisch noch etwas mehr Fleisch an die Geschichte.“470

Ebenso entwirft sich Stuckrad-Barre bei seinen Lesungen, wenn auch nur mit Büchern, Zeitungsartikeln, Diaprojektor und CD-Player ausgerüstet, als DJ und Rockstar, der vorab literarische „Setlist[s]“471 erstellt, „Sprechprobe[n], Lichtprobe[n], Soundprobe[n]“472 absolviert und während des Vortrags auf die Reaktionen des Publikums achtet:

469 Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 90f. 470 Stuckrad-Barre: Remix, S. 43. 471 Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 90. 472 Ebd., S. 121.

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„Und so, wie bestimmte Lieder live anders zu spielen sind, schneller, kürzer oder genau umgekehrt, mußte auch ich einige Passagen umstellen, zusammenstreichen oder ergänzen. Ich war gerüstet. Mit diesem genauen Plan würde es mir leichter fallen, die Stimmung des Publikums aufzufangen und zu manipulieren.“473

Bei den multimedialen Shows, die Stuckrad-Barre absolviert, erlebt der Besucher somit „die Wiederkehr des Erzählens als Wiederkehr eines unmittelbaren Literaturerlebens“474, das seine Inszenierungspraxis den Konzerten von Pop- und Rockstars entlehnt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass StuckradBarre viele Lesungen nicht in Buchhandlungen oder Stadtbüchereien veranstaltet, sondern lieber Konzertsäle, Clubs oder Musikfestivals als Auftrittsorte auswählt und damit die Literatur in die Strukturen des Musikbusiness hineinträgt. Zudem belässt es Stuckrad-Barre bei seinen Performances nicht dabei, einzelne Texte gekonnt vorzutragen, vielmehr löst er sich immer wieder von diesem starren Konzept, um seine Zuhörer mit spontanen Kommentaren, Metareflexionen und Improvisationen zu unterhalten. Dabei weicht Stuckrad-Barre nicht selten vom Text ab, reagiert unmittelbar auf einen Zuruf aus dem Publikum, trägt aktuelle Kolumnen oder Fremdtexte vor, flicht Anekdoten ein und macht sich über Personen des öffentlichen Lebens lustig.475 In den Vordergrund rückt dabei oftmals die Interaktion zwischen Autor und Publikum, indem Stuckrad-Barre immer wieder auch Zuhörer auf die Bühne bittet, um mit ihnen z. B. Ratespiele oder Wettbewerbe zu absolvieren. Das Publikum wird bei Stuckrad-Barre somit zum integralen Bestandteil der Lesung und bestimmt oftmals ihren Verlauf. Auf den ersten Blick könnte Stuckrad-Barres Verhältnis zur Pop- und Rockmusik nicht widersprüchlicher sein: Zum einen gelingt es ihm immer wieder, mithilfe der Sprache z. B. Rockstarallüren bloßzulegen. Andererseits liest er selbst bei dem Musikfestival Rock am Ring476, schüttet sich Dosenbier über den Kopf und schreibt über eigene Drogenexzesse mit seinem Freund Christian Kracht.477 Auf den zweiten Blick scheint jedoch bei Stuckrad-Barre eine Selbstironisierung und Distanzierung gegenüber der im Medienzirkus zirkulierenden Autorfigur vorzuliegen. Ähnlich äußert sich Stuckrad-Barre selbst in einem Interview: „Dieses Image ist gleichzeitig ein Schutz für mich. Nur als mehr oder weniger künstliche Figur kann man sich ans Mikrophon wagen und vor ein Pu-

473 Ebd., S. 91. 474 Degler/Paulokat 2008, S. 19. 475 Vgl. ebd. 476 Vgl. Stuckrad-Barre: Die Deutsch-Rock-Stunde, S. 36-39. 477 Vgl. Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 117-132.

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blikum treten. Sonst würde man ziemlich nackt dastehen.“478 Auch wenn die ironische Selbststilisierung als Pop- und Rockstar für Stuckrad-Barre wie eine Schutzmaske fungiert, so ist ihm zugleich bewusst, dass z. B. die Rockmusik und ihre Protagonisten ein großes Maß an Zeichenpotential bereithalten, das in der Literatur bisher wenig genutzt wurde. Miriam Schulte spricht in diesem Zusammenhang von einer bloß „symbolischen Überwindung von Literatur und Pop, da die Zugehörigkeit zum System ‚Literatur‘ nicht infragegestellt und die Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums nicht überschritten werden“.479 Durch die Inszenierung als Rockstar versucht Stuckrad-Barre zumindest symbolisch die Grenze zwischen Literaturbetrieb, den Prinzipien des Pop und den elektronischen Medien zu überschreiten. Dabei besitzt gerade die RockstarAttitüde einen ausgesprochen exzessiven Gestus, wie an folgender Schilderung der Vorbereitungen für eine Lesung, die Stuckrad-Barre zusammen mit Christian Kracht bestreiten soll, deutlich wird: „Licht, Sound, Effekte! Nebelgranaten, Trockeneis, Hydraulikbühnen, Laufsteg ins Publikum, Merchandisingstände [...] Abwechselnd sprangen wir auf und skizzierten die unterschiedlichen Hardrockszenarien. Wir würden einen Laufsteg ins Publikum benötigen, eine Videoleinwand und Steven Tyler-Tücher am Mikrophonständer. Auf jeden Fall bedurfte es einer überlauten Ouvertüre. Wir öffneten einige Flaschen regionalen Spitzenpilseners, da sich das Kokain gerade mit der hundertfachen Wucht handelsüblicher Ahoi-Brause anschickte, unsere Rachenhinterräume zu verätzen, und dem galt es Einhalt zu gebieten.“480

Der Exzess als Geste des Rock setzt also mannigfach Zeichenmaterial für die Stilisierung der Autorfigur frei, wobei Stuckrad-Barre zugleich die dem Rock zugeschriebenen Klischees derart persifliert, dass gleichzeitig ihre stereotype, unkritisch aus der Vergangenheit übernommene Wesensart durchscheint.481 Entsprechend definiert Stuckrad-Barre Rock überaus willkürlich als „Reproduzierbarkeit des glücklichen Moments“: „Die Rockmusik ist hauptsächlich aus dem Nachspielen entstanden. Der Rocker spielt zu Beginn ein paar Riffs nach, zum

478 Zitiert nach Farkas 1999, S. 15. 479 Schulte 1999, 354f. 480 Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 118. 481 So werden Gruppen wie Guns ’n’ Roses wegen ihrer völligen Übertreibung – „Double-Bassdrum, Heroin, Pyrotechnik“ – von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhardt Nickel, Joachim Bessing und Alexander v. Schönburg in dem Buch Tristesse Royale als die „totale Travestie“, gar als „Barock“ bezeichnet (Bessing: Tristesse Royale, S. 141).

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Beispiel ‚Smoke on the water‘. Für den Rocker ist das die Reproduktion von Glück.“482 Das Agieren mit den immergleichen Rock-Gesten erzeuge einerseits das Gefühl von Geborgenheit durch Wiedererkennen, andererseits stelle die Entdeckung der Rockmusik den Moment dar, „in dem man zum ersten Mal ein Greis ist“.483 Neben einer Unzahl an Hörbucheinspielungen, die zum größten Teil Mitschnitte von Lesungen darstellen, veröffentlicht Stuckrad-Barre im Jahr 2001 den Band Transkript, der von seiner Aufmachung her einem Reclam-Heft gleicht und Mitschriften von Lesungen enthält, inklusive sämtlicher Versprecher und Grammatikfehler sowie Angaben von Musikeinspielungen. Diese ‚ungeschönte Abschrift‘ von Live-Auftritten verdeutlicht noch einmal, wie sehr es StuckradBarre darum geht, der literarischen Rede auch das Feld der populären Kultur zu erschließen, indem er nicht nur bei seinen multimedialen Performances Ästhetiken der Pop-, Rock- und Techno-Musik anwendet, sondern immer wieder neue literarische Verfahren entwickelt, um seinen Texten eine gewisse Präsenz zu verleihen. Zugleich spiegelt Transkript den Wunsch wider, die Einzigartigkeit und Episodenhaftigkeit des zeitlich und räumlich begrenzten Live-Auftritts auch literarisch einzufangen, inklusive der spontanen Interaktion zwischen Produzent und Rezipienten. Insofern gleicht Transkript einer ‚Rückübersetzung‘, die das Event, das zum Teil aus dem Vortrag von Texten besteht, wieder in einen literarischen Text zu transformieren versucht, ohne dabei nachträglich alle ‚Verspieler‘ zu retuschieren, da dies der ‚Authentizität‘ der Abschrift abträglich wäre. Im Gegensatz zu einer Live-Aufnahme einer Band, eines Musikers oder eines DJs, die den Auftritt klanglich konserviert, stellt Transkript die ‚literarische Simulation‘ eines Events dar, um die Spontaneität und Unmittelbarkeit des Ereignisses schriftlich erfassen zu können. Die „Eventisierung der Literatur“484, die Stuckrad-Barre durch seine ironische und intermediale Selbstinszenierung als Pop- bzw. Rockstar betreibt485, hat, wie zu resümieren ist, oftmals dazu geführt, dass die oben beschriebenen formalästhetischen Elemente kaum beachtet wurden und die Pop-Literatur als reines Marketingphänomen deklassiert wurde.

482 Ebd., S. 146. 483 Ebd., S. 140. 484 Degler/Paulokat 2008, S. 15. 485 Vgl. Tillmann/Forth 2001, S. 271-283; Hempel 2007, S. 209-221.

6

Auslaufrille: Quo vadis Pop? „Der Pop ist heute ein toter Fisch, den niemand mehr essen will, weil er neben das Fass gefallen ist.“1

Ein Foto in der FAZ-Ausgabe vom 15. November 2000 zeigt zwei Männer hinter einem Tisch mit Büchern, die ihrem Aussehen nach verschiedener nicht sein könnten: Rainald Goetz im Tarnparka, Benjamin von Stuckrad-Barre in DandyJacket und weißem Rollkragenpullover. Der Verfasser des dazugehörigen Artikels, Eberhard Rathgeb, attestiert den beiden Autoren jedoch, Brüder im Geiste zu sein: Als selbsternannte Pop-Literaten würden sie für andere Menschen den alltäglich anfallenden Medienmüll trennen – ein Vorgang, den Rathgeb als „Ökoogie der vertrackten Medienschleife“ bezeichnet.2 Das Publikum der Lesungen, dem der Genuss der Gewöhnlichkeiten keine unbekannte Perspektive, sondern eine alltägliche Drohung sei, danke dem neuen Archivar seine Trennungswut entsprechend mit Applaus. Der sich stetig anhäufende Schutt werde, so Rathgeb, von den beiden Herren auf der Bühne nicht hinter den Grenzen der allgemeinen Selbstverständlichkeiten analysiert, da dies eine simple Destruktion des Banalen darstelle, sondern im übersichtlichen intellektuellen Feld der Lacher persifliert – das sei, um es mit einem Wort von Rainald Goetz zu sagen, eine ‚Dekonspiratione‘ im allumfassenden Banalen: „Wir gehören dazu und gehören nicht dazu. Auf dieser paradoxen Einsicht beharrt das ökologische Medienbewußtsein, das nicht ‚richtige‘ von ‚falschen‘ Aussagen unterscheiden möchte, sondern nur ‚aktuellen‘ von ‚nichtaktuellem‘ Medienmüll.“3

1

Schmidt: In die Prada-Tasche gemurmelt.

2

Rathgeb: Keine Geisterfahrer unterweg, S. 70.

3

Ebd.

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Folgt man Rathgeb, dann wird dem Popliteraten heute nur noch eine nach ökonomischen Prinzipien geleitete Abfalltrennung aufgebürdet, die ihren Ursprung im Entstehen einer neuen pluralistischen Öffentlichkeit hat, in der nebeneinander eine unüberschaubare Anzahl an heterogenen gesellschaftlichen Lebensweisen existieren, welche immer neue Diskurse generieren, um ihren Bestand zu sichern. Die rasante Entwicklung der neuen Medien (z. B. des Internet und seiner neuen Kommunikations- bzw. Repräsentationsformen) und ihre stetige Ausdifferenzierung hat diese Entwicklung nicht nur erst möglich gemacht, sondern immer schneller vorangetrieben. Bei dieser neuen Unübersichtlichkeit scheint es angenehm, zu wissen, dass der Pop-Literat uns scheinbar einige existenzielle Fragen (Welche Platte muss man gehört, welche Fernsehsendung gesehen, welches Buch gelesen und welche Party besucht haben?) abnimmt und den unübersichtlichen Medienabfall nach der binären Kodierung ‚aktuell‘ oder ‚nicht-aktuell‘, ‚in‘ oder ‚out‘, ‚interessant‘ oder ‚langweilig‘ selektiert.4 Man will scheinbar nur noch gut unterhalten werden, nicht mehr und nicht weniger. Dass sich die ästhetischen Prinzipien von Schriftstellern wie z. B. Goetz, Neumeister, Meinecke und Stuckrad-Barre, die heute gemeinhin unter dem mittlerweile inflationär benutzten Begriff Pop-Literatur firmieren, dennoch nicht, wie dies Rathgeb tut, einfach auf bloße Mülltrennung, reinen Unterhaltungswert, pure Oberflächenreize und banale Wiedererkennungseffekte reduzieren lassen, haben die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht. Ausgehend von den Beat-Poets über Rolf Dieter Brinkmann bis hin zu Rainald Goetz lassen sich in der Literaturgeschichte eine Vielzahl an stark selbstreflexiven und medienkritischen Schreibweisen verifizieren, die ihren Ursprung im Spannungsfeld von musikalischer Produktionsästhetik und literarischer Rede haben: Während Jack Kerouac die Improvisationstechnik der Jazz- und Bebop-Musik dazu anregte, die literarische Rede von ihren tradierten Mustern zu befreien, inspirierte die Rockund Jazz-Musik Rolf Dieter Brinkmann dazu, multisinnlich-synergetische Texte zu verfassen, um die äußeren Sinneseindrücke in die Literatur zu transformieren. Auch einem Autor wie Rainald Goetz dient der Versuch, auf das semantische Feld der Pop-Musik zuzugreifen, u. a. dazu, das Spektrum des literarischen Ausdrucks zu erweitern, die Position bzw. Funktion des Autors zu hinterfragen, tradierte Erzählformen zu dekonstruieren und neue literarische Formen zu generieren, auch wenn er oftmals die Überzeugung äußert, dass sich musikalische Produktionsästhetiken und insbesondere die sinnliche Präsenz und Körperlichkeit

4

Auch Niklas Luhmann schreibt in Die Kunst der Gesellschaft, dass vom Kunstwerk neuerdings nur noch verlangt werde, ,interessant‘ zu sein (vgl. Luhmann 1999, S. 234; vgl. auch Werber: Literatur als System, S. 63).

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VADIS

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der Pop-Musik nicht unmittelbar auf die Literatur übertragen bzw. anwenden lassen. Als ästhetische Chiffre fungiert bei Rainald Goetz die Punk-, Techno- und Pop-Musik, die den Texten sowohl auf narrativer Ebene als auch auf jener der Schreibweisen eingeprägt ist, zunächst als „Kick“5, der den eigentlichen Schreibprozess in Gang setzt. Das Hören von Musik, das Lauschen von mündlicher Rede, das Betrachten der Raver auf der Tanzfläche etc. – alles dies kann, laut Rainald Goetz, als dringend notwendiges „Realitätsmoment“6 dienen und der literarischen Rede ein „Fenster zur Welt“7 öffnen, um aus der „Anfänglichkeits-Idee, die extrem prekär ist“8, einen literarischen Text zu formen. Dabei verweist die Sinnlichkeit bzw. Unmittelbarkeit der Musik nicht selten auf eine Gegenwart und eine soziale Praxis, die auch die literarische Rede einzufangen versucht. Der Prozess des Schreibens stellt sich, wie gezeigt, dabei oftmals als work in progress dar, als stetiger Versuch, einen adäquaten Ausdruck für die (Sinnes-)Eindrücke zu finden, die u. a. das Hören von populärer Musik und die damit einhergehende soziale Praxis generieren. Die dabei auftretenden Schreibprobleme haben, wie man an den Romanen und Erzählungen von Rainald Goetz darstellen kann, ihren Ursprung nicht selten in der sinnlichen Präsenz und Körperlichkeit der populären Musik, welche die literarische Rede vermeintlicherweise nicht einzufangen bzw. zu reproduzieren vermag. Dennoch ist diese neue Materialästhetik, die Goetz geprägt hat und die sich u. a. direkt aus der prozessualen und seriellen Ästhetik der elektronischen Tanzmusik ableiten lässt, primär davon bestimmt, Unmittelbarkeit und Präsenz zu erzeugen. Der Wunsch, unsere Gegenwart adäquat zu erfassen, führt dabei oftmals zu offenen, fragmentarischen und hybriden Textgefügen, die – in Anlehnung an die DJ-Culture – sowohl die damit einhergehenden Probleme bei der Kompilierung des gesammelten Materials mit zur Sprache bringen als auch von Prinzipien der Selbststilisierung, Literarisierung und Verfremdung geprägt sind. Trotz dieser weitreichenden Sprachexperimente, die bis dato die literarischen Arbeiten von Autoren wie Rainald Goetz und Thomas Meinecke bestimmen, bleibt Rathgebs polemische Kritik an der Pop-Literatur, verstanden als ein literarisches Phänomen der 1990er Jahre, beileibe kein Einzelfall, wie auch die eingangs dieses Kapitels angeführten Zitate deutlich machen. Zugleich erscheinen schon mit Ende des alten Jahrtausends die ersten literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Pop-Literatur der 1990er Jahre, die eine erste Einordnung dieses Phä-

5

Goetz: Abfall für alle, S. 230.

6

Ebd.

7

Ebd.

8

Goetz: Abfall für alle, S. 231.

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nomens versuchen und es damit historisieren. Thomas Assheuer thematisiert die sich ausbreitende Kritik an der Pop-Literatur in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel Zehn Thesen zur Krise des Pop: „Für viele ist Pop die Hochkultur unserer Epoche. [...] Doch inzwischen mehren sich die Stimmen, die gegen die flächendeckende Anwendung der Popästhetik protestieren.“9 Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center, die in ihrer Folge auch die kulturelle und literarische Situation in Deutschland entscheidend verändert haben, werden immer wieder angeführt, um eine ‚neue Ernsthaftigkeit‘ in der Literatur einzufordern.10 „Wenn vom Terroranschlag auf die amerikanischen Symbole nunmehr ein abruptes Ende all dessen induziert wird, das sich vor ein paar Jahren unter dem Deckmantel ‚Pop‘ in den Literaturbetrieb eingeschlichen und vorübergehend breit gemacht hat, dann“, so der Schriftsteller Martin Politycki, „ist jetzt zumindest mal durch die Feuilletons der Republik ein Ruck gegangen, und zwar einer in die richtige Richtung.“11 Dementsprechend konstatiert Torsten Liesegang im Jahr 2003, dass es abzuwarten bleibe, „wie die gesellschaftsüberdrüssigen Jungästheten angesichts der Generalmobilmachung im ‚Kampf gegen den Terror‘ reagieren“. 12 Im selben Jahr postuliert Daniel-Dylan Böhmer, dass die „Blase aus konsumentenfreundlichen Programmen und coolem Managementdenken [...] geplatzt“ sei13, ganz als wäre die Pop-Literatur der 1990er Jahre generell vergleichbar mit einem börsennotierten Unternehmen der New Economy, dem langsam aber sicher die Luft ausgeht, da man von Beginn an auf Sand gebaut hat. Auffällig an den kaum noch zu überschauenden Abgesängen auf die Pop-Literatur, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die Feuilletons beherrschen, ist einerseits, dass sich die Kritik vornehmlich an der ironischen Selbstreferentialität von Pop-Literaten wie z. B. Benjamin von Stuckrad-Barre entzündet und dabei die genuinen ästhetischen Merkmale der literarischen Texte, die sich u. a. in Anlehnung an die populäre Musik ergeben, zunehmend in den Hintergrund treten. Paradoxerweise kritisieren viele Journalisten damit eine literarische Strömung, die sie mit ihrer Berichterstattung zum Teil selbst mit herbeigeschrieben haben. Verstärkt wird dieses Paradoxon auch durch das Faktum, dass sich ein Großteil

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Assheuer: Im Reich des Scheins, S. 37.

10 So konstatiert z. B. die Journalistin Christiane Zschirnt: „Die Popliteratur liegt im Gefolge des 11.9., einer neuen Ernsthaftigkeit und der aktuellen wirtschaftlichen Depression erschöpft danieder [...].“ (Zschirnt: Strukturell immer offen). 11 Politycki: Simplifizierer und Schubladianer. 12 Liesegang: Die Wiederkehr der Popliteratur als Farce, S. 157. 13 Böhmer: Der große Crash, S. 13.

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der Autoren, die in den 1990er Jahren mit dem Label Pop-Literatur versehen wurden, gegen diese Bezeichnung wehren und immer wieder erklären, nie Teil einer Bewegung gewesen zu sein.14 Pop, so Thomas Meinecke, „darf sich eigentlich gar nicht strategisch als Ganzes verhalten, sondern besteht aus unheimlich vielen, schnellen, unberechenbaren Einzelprozessen“.15 Dass die Pop-Kultur keine homogene Einheit bildet, sondern ständig neue Spielarten ausbildet, verleiht ihr eine ungeheure Vitalität und bewahrt sie vor Stagnation. Dieser – um mit den Worten von Goetz zu sprechen – stetige „Selbst- und Neuerfindungsfundamentalismus“16, der die Pop-Kultur auszeichnet, erklärt auch, warum die produktive Aneignung populärkultureller Phänomene bis dato ein fester Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bildet und damit die Rede vom ‚Tod der Pop-Literatur‘ Lügen straft. Autoren wie z. B. Rainald Goetz und Thomas Meinecke veröffentlichen bis heute Texte, die an ihre vormaligen Schreibweisen anknüpfen und diese ausweiten.17 Auch junge Autoren und Autorinnen nutzen z. B. Verfahrensweisen der DJCulture auf innovative Art, um suggestive Texte zu schreiben. Dies zeigt exemplarisch der 2009 veröffentlichte Roman Ausgehen der serbischen Schriftstellerin Barbie Markovic. Für ihre Schilderung des Belgrader Nachtlebens und seiner Techno-Partys überschreibt Markovic einfach Thomas Bernhards Erzählung Ge-

14 Vgl. Seiler 2006, S. 321. 15 Lenz/Pütz 2000, S. 152. 16 Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S.18. 17 Während Meinecke 2008 mit den Romanen Jungfrau und Lookalikes weitere hochkomplexe ‚Sampling-Texte‘ veröffentlicht hat, ist Goetz weiterhin seiner „Dokumentaristenpflicht“ (Goetz: loslabern, S. 169.) nachgekommen, indem er von Februar 2007 bis Juni 2008 einen Blog für die Internet-Seiten der Zeitschrift Vanity Fair verfasst hat, der nach Beendigung des Projekts unter dem Titel Klage auch als Buch erschienen ist. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Goetz den Text loslabern, in dem er fortfährt, zu erkunden, „was die Nullerjahre denn für eine Zeit gewesen waren“ (Goetz: loslabern, Klappentext). 2010 erschien dann der Bildband elfter september 2010, in dem Goetz Fotoaufnahmen aus einem Jahrzehnt zusammengestellt und diese mit kurzen Bildunterschriften versehen hat, um seine ‚Geschichte der Gegenwart‘ unter anderen thematischen Gesichtspunkten fortzuführen. Zugleich veröffentlichte die Galerie Max Hetzler Berlin den limitierten Band D.I.E., der sowohl Zeichnungen von Albert Oehlen als auch Texte von Goetz enthält. Zu Oehlens abstrakten Kohlezeichnungen hat Goetz siebzehn kurze Texte verfasst, die einerseits Oehlens Bilder umspielen, andererseits aber auch aus rein sprachlichen Experimenten bestehen und die klangliche Seite der Sprache herausstellen.

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hen und komponiert dabei einen kaskadenhaften und loopartigen ‚Bernhard-Remix‘. Für die Literaturwissenschaft stellt diese produktive Rezeption populärkultureller Ästhetiken, die primär dazu dient, Texte zu generieren, die unmittelbar auf unsere Gegenwart verweisen, eine besondere Herausforderung dar. Nicht nur, weil die Pop-Literatur tradierte Erzählformen für obsolet erklärt, da diese unsere Gegenwart nicht adäquat abzubilden vermögen, sondern auch, weil sie unseren Blick, wie die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht haben, auf die Konstruktion der Texte richtet und neue, irritierende Fragen aufwirft: Fragen nach der Urheberschaft und der Funktion des Autors, aber auch Fragen, die sowohl die Erzählform und Gattungszuordnung als auch die Auswahl und Verarbeitung des Materials betreffen. Von einem – um mit David Shields zu sprechen – gewissen „Realitätshunger“18 getrieben, verwischt Pop-Literatur ganz bewusst die „Kluft zwischen Fiktion und Autobiographie“19, indem sie die populäre Kultur als unleugbaren Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit beschreibt und lyrische, essayistische, autobiographische, dokumentarische und journalistische Elemente zu hybriden und oftmals rhizomatischen Gefügen vermengt, die sich jeder einfachen Einordnung entziehen. In dieser Auflösung von Gattungsgrenzen und Hierarchien liegt die eigentliche innovative Kraft der Pop-Literatur, da sie damit – genau wie die populäre Musik – einer Stagnation entgegenarbeitet. Auch für Ullmaier besteht die Vitalität der Pop-Literatur primär darin, stetig neue Schreibweisen zu erschaffen, die sich der Gegenwart anzunähern versuchen, indem sie „pop- und avantgardeerprobte [...] Materialaneignungsweisen“ aktualisieren – u. a. mit dem Ziel, „das je reale Maß an Fragmentiertheit, (Stereo-)Typisiertheit, Präformiertheit, Redundanz und Tempo gegenwärtiger Erfahrung auch im Text zu realisieren“.20 Ebenso erkennt auch Seiler in der „produktiven Rezeption einer Kultur, die unseren Alltag bestimmt und aus diesem Grund auch in der Literatur nicht ignoriert werden darf“, die „Möglichkeit eines Weiterbestands der deutschen Popliteratur“ abseits „ironischer[r] Selbstreferentialität“.21 Für die Literaurwissenschaft bedeutet dies einerseits, den Blick verstärkt darauf zu richten, ob die gegenwärtige Pop-Literatur schon erprobte experimetelle Schreibweisen nur einfach reproduziert oder innovative Formen schafft, indem sie neue Arten der Materialaneignung entwickelt. Andererseits gilt es, diese For-

18 Shields: Reality Hunger, S. 92. 19 Ebd., S. 29. 20 Ullmaier 2001, S. 165. 21 Seiler 2006, S. 325.

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men der Materialaneignung näher zu bestimmen und z. B. – wie in den vorangegangenen Ausführungen geschehen – aufzuzeigen, welche Interdependenzen zwischen musikalischer und literarischer Produktionsästhetik dabei aufscheinen. Hier öffnet sich ein weites Feld, das immer wieder neu abgeschritten werden kann, denn die populäre Kultur ist – wie aufgezeigt – stetigen Wandlungen unterworfen und findet ihren Ausdruck natürlich nicht nur in der Musik, sondern auch in der bildenden Kunst, im Film, in der Architektur, in der Mode etc. Diese einzelnen Bereiche können immer wieder Anlass bieten, sich auf die Suche danach zu begeben, welchen Ausdruck sie in der literarischen Rede finden – sei es auf der narrativen Ebene, sei es auf der Ebene der Schreibweisen. Dazu ist immer auch der Blick über den Tellerrand der Literaturwissenschaft notwendig, um sowohl die Entwicklungen der populären Kultur in allen ihren Bereichen zu verfolgen als auch ihren Niederschlag in der Literatur genauer erfassen zu können. Dabei gilt, wie auch Thomas Meinecke schreibt, dass jeder, der sich mit Pop beschäftigt, „anfällig für allerlei nostalgische Regungen“ ist, die zwangsweise zu einer Erstarrung führen: „Die sozialen Faktoren im Umgang mit Pop liegen weniger in seinen berüchtigten Anschlussmechanismen begründet, sondern in deren Gegenteil: der voreiligen, meistens den um die 30 herum einsetzenden Prozeß rasant fortschreitenden Alterns markierenden, sich pathetisch von aller Gegenwart verabschiedenen, zutiefst sentimentalen Verständigung über dereinst gemeinsam Erlebtes; die geheiligte Pop-Sozialisation. Dieser Prozeß kann nur dann selbst wieder Pop werden, wenn er radikal nach vorn gewandt wird, etwas Neues postuliert, oder [...] gleich einen ganz neuen Bastard kalbt: Re-Make / Re-Model.“22

22 Meinecke: Ich als Text, S. 25.

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Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Januar 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Mai 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus

Mai 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

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Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende September 2012, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa Oktober 2012, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre Februar 2013, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Januar 2013, ca. 318 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 Januar 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Oliver Ruf Zur Ästhetik der Provokation Kritik und Literatur nach Hugo Ball Oktober 2012, 364 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2077-1

Stephanie Schmitt Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik November 2012, 270 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2224-9

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur

November 2012, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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