Abfallverbindungen: Verworfenes und Verwerfungen in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 9783839454077

Was sind die Begleiterscheinungen einer Industriegesellschaft, die in immer größerem Ausmaß Abfälle produziert, die räum

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German Pages 472 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Dank
1. Einleitung: Abfallverbindungen?
Erster Teil: Bewahrendes, aufschiebendes, integrierendes Erzählen
Vorwort
2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen
2.1 Von Lappen und anderen Dingen
2.2 Abfallströme und das Problem der Lagerung
2.3 Wegwerfen zwischen Verunsicherung und Versicherung: Heinrich Bölls Der Wegwerfer – und ein erneuter Blick auf die Texte Franz Kafkas
2.4 Abfälle und Entgrenzung in Raum und Zeit. Recycling, Kreislaufdenken, Restlosigkeit – und Verweigerungen
3. Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)
3.1 Entsorgungsmärchen: Michael Endes Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte
3.2 Flüchtige Moderne und Abfälle
3.3 Gegenbewegung: Sitzen statt (Er)Setzen
3.4 Abfall, Abfälligkeit, die Fremden und die ›Überflüssigen‹
3.5 Geschichten über und gegen das Verschwinden
Zwischenfazit erster Teil
Zweiter Teil: Erkundendes, ruinöses, resignierendes Erzählen
Vorwort
4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung
4.1 Abfalllandschaften: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke
4.2 Gehen in der Stadt als Fort-Schritt und Traumwandeln im Wachsein
4.3 Gegenbewegung: Im Stolperschritt die Dinge kreuzen
4.4 Eine Fallgeschichte: Evelyn Grills Der Sammler
4.5 Die Reste der Proteste und die (Un-)Möglichkeit großer Fragen – Abfall, Auflösung und Auflehnung in Uwe Timms Rot
Zwischenfazit zweiter Teil
Dritter Teil: Utopisches, synthetisierendes, kontaminiertes Erzählen
5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen
5.1 Müllinsel: Annette Pehnts Insel 34
5.2 Bändigungsversuche und Verweigerungen
5.3 Kunststoffe zwischen Versprechen und Vergessen
5.4 Möglichkeiten und Kapitulation, fake und Bedrohung: Plastik in ausgewählten Texten von Rolf Dieter Brinkmann, Wilhelm Genazino und Inka Parei
5.5 Kurze nachreichende und vorausgreifende Betrachtung zu Gegenbewegungen
5.6 Thomas Meineckes Tomboy – neue Stoffe, neue Verbindungen, neues Vergessen in hybriden Zeiten
5.7 Alles ist Abfall, nichts ist Abfall: Arno Schmidts Schwarze Spiegel und ein Erzählen über das Ende des Erzählens
Zwischenfazit dritter Teil
6. Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen
7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang
Literatur
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Abfallverbindungen: Verworfenes und Verwerfungen in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
 9783839454077

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Christina Gehrlein Abfallverbindungen

Gegenwartsliteratur  | Band 1

Christina Gehrlein, geb. 1976, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin, Audioproduzentin und -ausbilderin. Nach dem Studium der Literatur- und Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und einem Auslandsaufenthalt am Department of Germanic Languages and Literatures der University of Virginia folgten Lehraufträge an der Universität Mannheim, dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie der Hochschule Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literaturund kulturwissenschaftliche Abfallforschung, Pop(literatur) sowie ökologische Themen.

Christina Gehrlein

Abfallverbindungen Verworfenes und Verwerfungen in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Bei dieser Publikation handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen wurde. Gefördert wurde die Arbeit an dieser Dissertation zeitweise durch ein Stipendium der Stiftung Bildung und Wissenschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Jens Wagner (Privatarchiv) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5407-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5407-7 https://doi.org/10.14361/9783839454077 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ........................................................................................ 7 Dank .......................................................................................... 9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung: Abfallverbindungen? ......................................................... 11 Einstieg: Kleines und großes Erzählen über Abfälle: Uwe Timms Freitisch und Don DeLillos Underworld ......................................... 14 Abfallmoderne: Verwerfungen und Gegenbewegungen .................................... 23 Drei Anfänge ............................................................................ 28 Discard Studies und Literaturwissenschaft: Unbändiges Abfall-Forschen und das (Abfall-)Wissen der Gegenwartsliteratur ......................................... 49 Exkurs: Sch(m)utzräume und Abfallästhetik – Abfälle in Museum und Kunst ............... 73

Erster Teil: Bewahrendes, aufschiebendes, integrierendes Erzählen Ströme: Geschichte(n) vom Trennen .................................................... 83 Von Lappen und anderen Dingen ......................................................... 84 Abfallströme und das Problem der Lagerung ............................................. 90 Wegwerfen zwischen Verunsicherung und Versicherung: Heinrich Bölls Der Wegwerfer – und ein erneuter Blick auf die Texte Franz Kafkas ........................................ 97 2.4 Abfälle und Entgrenzung in Raum und Zeit. Recycling, Kreislaufdenken, Restlosigkeit – und Verweigerungen .....................................................................109

2. 2.1 2.2 2.3

3.

Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)...................................... 121 3.1 Entsorgungsmärchen: Michael Endes Momo oder Die seltsame Geschichte von den ZeitDieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte ............ 122 3.2 Flüchtige Moderne und Abfälle .......................................................... 128 3.3 Gegenbewegung: Sitzen statt (Er)Setzen................................................. 139

3.4 Abfall, Abfälligkeit, die Fremden und die ›Überflüssigen‹.................................. 144 3.5 Geschichten über und gegen das Verschwinden ..........................................152 Zwischenfazit erster Teil ..................................................................... 221

Zweiter Teil: Erkundendes, ruinöses, resignierendes Erzählen 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung ................................... 229 Abfalllandschaften: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke................................... 231 Gehen in der Stadt als Fort-Schritt und Traumwandeln im Wachsein...................... 236 Gegenbewegung: Im Stolperschritt die Dinge kreuzen.................................... 242 Eine Fallgeschichte: Evelyn Grills Der Sammler........................................... 259 Die Reste der Proteste und die (Un-)Möglichkeit großer Fragen – Abfall, Auflösung und Auflehnung in Uwe Timms Rot ..................................... 279

Zwischenfazit zweiter Teil ................................................................... 309

Dritter Teil: Utopisches, synthetisierendes, kontaminiertes Erzählen Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen................ 315 Müllinsel: Annette Pehnts Insel 34 ........................................................318 Bändigungsversuche und Verweigerungen............................................... 322 Kunststoffe zwischen Versprechen und Vergessen....................................... 326 Möglichkeiten und Kapitulation, fake und Bedrohung: Plastik in ausgewählten Texten von Rolf Dieter Brinkmann, Wilhelm Genazino und Inka Parei ................................. 335 5.5 Kurze nachreichende und vorausgreifende Betrachtung zu Gegenbewegungen ........... 347 5.6 Thomas Meineckes Tomboy – neue Stoffe, neue Verbindungen, neues Vergessen in hybriden Zeiten ..................................................... 354 5.7 Alles ist Abfall, nichts ist Abfall: Arno Schmidts Schwarze Spiegel und ein Erzählen über das Ende des Erzählens .......................................... 393 5. 5.1 5.2 5.3 5.4

Zwischenfazit dritter Teil.....................................................................401 6.

Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen ....................................... 405

7.

Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang ............................................................................. 417

Literatur .................................................................................... 427 Siglen........................................................................................ 427 Literatur ..................................................................................... 428

Vorwort

Bei dieser Publikation handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen wurde. Die Arbeit an Abfallverbindungen ist über einen großen Zeitraum erfolgt. Auch wenn zwischen Beendigung dieser Arbeit und ihrer Publikation bzw. bereits in der Phase ihrer Fertigstellung neue Publikationen zu spezialisierten Abfall-Fragestellungen erschienen sind, auch wenn sich sowohl das Forschen zu als auch das öffentliche Interesse an Konzepten wie dem Anthropozän oder an Themen wie Plastikabfällen in den letzten Jahren (glücklicherweise) vervielfacht hat, ist der Fokus der vorliegenden Arbeit keiner, der verworfen werden sollte. Abfallverbindungen kehrt zurück zu den großen, den wichtigen Fragen: Was sind die Begleiterscheinungen einer Industriegesellschaft, die in immer größerem Ausmaß Abfälle produziert, die räumliche und zeitliche Grenzen sprengen? Wie hängt deren Entstehung mit Imaginationen und Phantasmen zusammen? Was wissen literarische Texte über die Transformationen, die den Wandel von Abfällen begleiten? Dabei sind sowohl die Verwerfungsbewegungen als auch das Verworfene, das betrachtet wird, vielfältig: Sie reichen von individuellen über kollektive bis hin zu in Dingen angelegten Wegwerfakte(n), reichen von den Menschen nahestehenden Abfällen wie Körperabfälle oder Haushaltsmüll über flüchtige Abfälle wie Staub oder Asche bis hin zu unsichtbaren Abfällen, deren Zeitdimension sich bis ins Unendliche verlängert wie Giftmüll und Atommüll. Wie wir mit diesen bzw. auch ohne diese Abfälle(n) leben und in Zukunft leben können – auf diese Fragen geben, so zeigt Abfallverbindungen, literarische Texte nicht eine, sondern viele Antworten.   Mannheim, Mai 2020 Christina Gehrlein

Dank

Ich danke allen von ganzem Herzen, die diese Abfall-Arbeit in all ihren Phasen begleitet haben. Dank an meinen Betreuer Uwe Steiner, der mich zu den Dingen und früh zum Abfall gebracht hat. Jochen Hörisch danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Er hat mich stets ermuntert, große Fragen zu stellen – auch, wenn sie nicht (immer) zu beantworten sind. Dank an die Stiftung Bildung und Wissenschaft, die die Arbeit an dieser Dissertation zwei Jahre mit einem Promotionsstipendium unterstützt hat. Dank an Manfred Sapper, der mir in meinem ersten Semester an der Universität Mannheim zeigte, was Wissenschaft sein kann und mich zu Erkundungen inspirierte. Dank an Christa Karpenstein-Eßbach für das kurzfristige und wichtige Gutachten. Ebenfalls ein Dankeschön an das Department of Germanic Languages & Literatures der University of Virginia. Dort durfte ich 2005-06 in einem spannenden Jahr viel lernen, diskutieren, weitergeben und konnte mit den konzeptionellen Arbeiten für diese Untersuchung beginnen. Dank an das Interdisziplinäre Doktorandinnenkolloquium der Universität Heidelberg, die Organisatorinnen und Teilnehmenden der Konferenz The Aesthetics of Trash in Dublin und meine Abfallforschungs-Kolleginnen Sonja Windmüller und Max Liboiron für die Gelegenheiten zu Präsentation und Diskussion meiner Ideen. Dank auch an die Studierenden meiner Proseminare an der Universität Mannheim für Diskussion und Inspiration, v.a. im Rahmen der Seminare »Popliteratur« und »Reste«. Ebenfalls ein Dankeschön an Rudolf Nink für die Hinweise und ihm und den Mitarbeiter/innen der Universitätsbibliotheken Mannheims dafür, dass sie mir viele und mitunter auch abstruse Wünsche in Bezug auf Abfall-Literatur erfüllten. Danke an alle, die mir Abfallgeschichten erzählt, ihre Zimmer und Wohnungen zum Arbeiten überlassen und ein offenes Ohr geschenkt haben. Dank auch für Musik, Hinweise, Gespräche, gemeinsame Mahlzeiten, Kaffee und Ablenkungen. Ihr wisst, wer ihr seid. Ein großes großes Dankeschön an Frederike Felcht, Franziska Schaaf und Heike Schlägel für das Lesen des Manuskripts, hilfreiche Kommentare und Ermunterungen.

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Abfallverbindungen

Dank auch an Milena Bauer für den Beistand bei der Vorbereitung der Disputation und Markus Neumann für die Unterstützung in der Publikationsphase. Großen Dank an meine Familie und besonders an meine Eltern, dass sie immer für mich da waren und unterstützt haben. Riesengroßen Dank, last but not least, an Jens Wagner für die Abschlusskorrekturen und für sein Da-Sein. Ohne Dich hätte ich es nicht geschafft. Dir ist diese Arbeit gewidmet.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Die Müll- und Abfallbeseitigung folgt […] einem Muster, das dem des 30. Jahrtausends vor Christus nicht unähnlich ist: Zunächst wird eine, häufig definitorisch, etwa durch Rechtsvorschriften, festgelegte Grenze um einen Innenraum gezogen, der sauber bleiben soll. Der zweite Schritt ist die vorgeschriebene, organisierte, gelegentlich auch zentralisierte Entfernung unerwünschter Stoffe aus diesem definierten Bereich in ein Außen, das seinerseits zumeist als unbegrenzt und unbegrenzt aufnahmefähig, oft auch als unbewohnt imaginiert wird. Ziel der Maßnahmen ist, Müll und Abfall verschwinden zu lassen, und wenn das nicht geht, sie wenigstens irgendwohin zu verbringen, wo sie die Grenzen des sauberen Innenraumes nicht verletzen. Methoden des Verschwindenlassens sind Wegtragen und Aufschütten, Begraben, Wegschwemmen, Verbrennen; eine fast magische Macht des Verschwindenmachens wird noch heute dem Versenken im Meer zugeschrieben.   Susanne Hauser 1 Wegtragen, Aufschütten, Begraben, Wegschwemmen, Verbrennen und Versenken – die von Susanne Hauser geschilderten Trennungsbewegungen zeichnen den Umgang mit Abfällen aus, vor tausenden von Jahren und heute. Zugleich waren und wurden Abfälle ökonomisch wertvoll. Das ändert nichts daran, dass das Unsichtbarsein, das Unsichtbarmachen von Verworfenem weniger wird: Abfälle sind im privatem wie im kollektivem Raum kontinuierlichen Prozessen des Verschwindenmachens ausgesetzt. Diese Arbeit will zeigen, wie Erzähltexte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zum einen gegen das Verschwinden von Abfällen, von Nutzlosem, Verbrauchtem, von Überflüssigem und Abstoßendem anschreiben, zum anderen sich erzählerisch den Integrationen verweigern – oder zumindest die Integration kommentieren. Diese Untersuchung fragt so nicht nach der (Nicht-)Qualität literarischer Texte, nicht nach Trash Fiction2 , sondern nach einer anderen Form von Abfallnähe. Sie fragt nach dem Abfallwissen, das sich in literarischen Texten findet: Was wissen literarische Texte über alte und neue Abfälle

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Hauser 2001, 27. Vgl. zu dieser Kategorie Olster 2010.

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Abfallverbindungen

und die Transformationen, die den Wandel von Abfällen begleiten? Wie hängt die Entstehung von Abfällen mit Imaginationen, mit Träumen, Wünschen und Phantasmen zusammen? Welche sind die Begleiterscheinungen einer Industriegesellschaft, die in immer größerem Ausmaß Abfälle produziert, die die räumlichen und zeitlichen Grenzen der vorindustriellen Abfälle sprengen? Die im Rahmen dieser Arbeit analysierten Texte zeigen: Alles, was wir tun, ist mit Abfällen verbunden. So führt diese Untersuchung auf die Straßen von Großstädten und in Kaufhäuser, auf Rolltreppen, Inseln und den Meeresboden, erzählt anhand von Alltagsdingen wie Trinkbehältern, Lappen und Lumpen oder Kunststofftüten Geschichten von alten und neuen Abfällen, alten und neuen Verwerfungen. Eine solche Untersuchung zu Abfällen, zu Wegwerfbewegungen, zu Akten des Bewahrens und Verdrängens, Ausscheidens und Loswerdens entsteht nicht im luftleeren Raum. Die Entstehung von immer größeren Mengen von Abfällen ist, so eine der Grundthesen dieser Arbeit, verbunden mit ökonomischen Interessen, Diskursen über Sauberkeit, Ordnung sowie stadtplanerischen Überlegungen, um nur einige der Verbindungen zu skizzieren, die im Verlauf dieser Arbeit die literaturwissenschaftlichen Analysen fundieren. Oft ist ein abweichender Umgang mit Abfällen nur im Schutzraum der Kunst möglich. Hier werden die Verwerfungen und die Prozesse des Verschwindenmachens umgekehrt oder rückgängig gemacht.3 Die monumentalen Schwemmholz-Skulpturen ›Vater RHEIN und Mutter NECKAR‹4 oder ›Mannheimer Himmelskugel‹ des Künstlers Mo Edoga sind Abfallskulpturen. In jahrzehntelanger Sammelarbeit legte er sich einen Fundus an Material zu, das er als Inbegriff des Verworfenen aus den Flüssen an Land zog. Durch die Verbindung der Einzelteile mit billigen Industrieplastikbändern schuf er Kunstwerke, die er als Malerei in Raum und Zeit bezeichnete.5 Eingeflochten wurden auch Versatzstücke des Zivilisationsmülls: Plastikteile, Holzräder und andere Fundstücke. Obgleich Verbindungen da sind, sind sie gekappt: Das Holz als Naturstoff, aber auch als Ware, die Geschichte der Holzwirtschaft, die Herkunft der Fundstücke und weitere Stationen bis hin zu ihrem Zustand als Treibgut sind weder im Schwemmholz noch in den Kunstwerken Edogas lesbar.6 Die Verbindungen müssten rekonstruiert, mehr noch, müssen recherchiert und imaginiert werden. Die Kunstwerke Edogas verkörpern in ihrer Materialität unterschiedliche Dimensionen von Abfällen, die für die nachfolgenden Überlegungen bedeutsam sind und hier als kursorische Aufzählung vorangestellt werden: Zunächst findet sich in ihnen eine Zeitdimension eingeschrieben – die Zeit der Nützlichkeit des Fundstücks, sei es als Ast eines Baumes, sei es die Zeit der Herstellung eines Gegenstandes, seiner Nutzung und Aussonderung, ferner die Zeit des Umhertreibens – als Treibholz oder Abfall, weiterhin die Zeit des Sammelns und Wiedernutzbarmachens, des Betrachtens. Der Blick soll auf die temporal-historische Dimension von Abfällen und von Dingen gerichtet werden oder darauf, wie ein verändertes Zeitkonzept seit der Industrialisierung zur Abfallproduktion beitrug und -trägt. 3 4 5 6

Zu Abfällen in Kunst und Museum und was diese Schutzräume vom Fokus dieser Arbeit unterscheidet, vgl. den Exkurs in Kapitel 1.5 dieser Arbeit. Vgl. hierzu die Einleitung des Herausgebers Paolo Bianchi in Edoga 2003, 137. Vgl. zur Arbeitsweise Edogas Gehrlein 2007. Vgl. zur Kulturgeschichte des Holzes Radkau 2007.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Mit der Zeitdimension verbunden weisen die Kunstwerke Edogas eine Dimension gesellschaftlichen Werts auf, die ebenfalls historischen Transformationen unterworfen ist. Kunstwerke und Abfall haben gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen stabilisieren und zugleich herausfordern, je nach Kontext Begeisterung oder Abwehr und Ekel hervorrufen. Folglich gilt durch Akte der Verschiebung, so eine der Thesen dieser Arbeit, ein anderes, neues Wertesystem – verschoben werden die Grenzen zwischen Wert und Unwert, zwischen Nutzen und Unnutzen, zwischen Kultur und Natur, zwischen Nichtabfall und Abfall. Ferner findet sich in diesen Skulpturen eine Raumdimension – der Raum des Kunstwerks, die Wege, die seine Einzelbestandteile zurückgelegt haben, der Raum des Betrachtenden, die Bewegungen der Entfernung und der (Wieder-)Annäherung. Räumliche Fragen nach dem Phänomen der Entfernung des Abfälligen, das ja immer auch mit Verderben und Tod konnotiert ist, werden ebenso behandelt wie die individuellen Wege durch die Stadt oder die Frage nach globalisierten Abfallströmen (z.B. die Wege von zu recycelnden Plastikflaschen von Europa oder den USA nach Vietnam und, transformiert, wieder zurück). Letzteres steht in der neueren Tradition einer kulturgeschichtlichen Forschung, die beispielsweise anhand von Produktion und Export von Nahrungsmitteln politische und ökonomische Machtkonstellationen untersucht. Zuletzt weisen sie eine zukunftsgerichtete, eine utopische Dimension auf, die darin liegt, dass die von Susanne Hauser beschriebenen Bewegungen des Verschwindenmachens zumindest temporär aufgelöst werden. Mo Edogas Kunstwerke können als Monumente für die Abfallberge und den Umgang der Industriegesellschaften mit natürlichen Ressourcen gelesen werden. Sie sind eine Erinnerung daran, dass Geschichte immer auch eine Geschichte der Nützlichkeit ist, die zwangsläufig Verwerfungen produziert. Dennoch verschwinden im Moment ihrer Transformation in Kunstwerke die Abfälle. Die Frage, was mit Verworfenem passiert, wenn es be- und verarbeitet wird, sei es nun durch die Integration in ein Kunstwerk oder durch Sichtbarmachung und Bewahrung durch die Platzierung von Verworfenem in literarischen Texten, bleibt nachfolgend zentral. Konkrete Lösungen zu Entsorgungsfragen bietet diese Studie dabei nicht an. Vielmehr will sie zeigen, dass die Frage nach Lösungen schon von falschen Prämissen ausgeht. Bevor nicht ein Anfang, sondern drei Anfänge diese Untersuchung eröffnen, die unter der Maxime des unbändigen, des ungebändigten Abfall-Forschens nach dem AbfallWissen literarischer Texte fragt, erfolgt der Einstieg über zwei literarische Texte, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Es sind Texte, die über Abfälle erzählen, ein kleiner und ein großer Text über Verworfenes und Verwerfungen, über durch Abfälle hergestellte Trennungen und Verbindungen. Inwieweit Verwerfungen Teil von routinierten Bewegungen sind und welche Gegenbewegungen dies überhaupt ermöglicht, sind ebenfalls Fragen, die zum Einstieg gestellt werden.

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Abfallverbindungen

1.1

Einstieg: Kleines und großes Erzählen über Abfälle: Uwe Timms Freitisch und Don DeLillos Underworld

In Uwe Timms Novelle7 Freitisch (2011)8 , die als Beispiel für ein kleines Erzählen über Abfälle dienen soll, kommen Abfälle zunächst nur am Rand vor. Der Text lässt uns hinsichtlich all dieser im Verlauf hergestellten Verbindungen zunächst einmal im Unklaren, wenn es zu Beginn rätselhaft heißt: »VOR DEM RATHAUS hatte ich auf ihn gewartet.« (TiF, 7, Hervorhebung dort) In dieser Geschichte über die Wiederbegegnung zweier Studienfreunde ist es der Abfall, der die beiden Protagonisten zusammenführt. Nachdem in den ersten Minuten des Zusammentreffens in der ostdeutschen Stadt Anklam dem Anreisenden die Verbindungen mit dem wartenden Ich-Erzähler nicht klar werden, erschließen sich durch Gespräche die sie verbindenden Erinnerungen. Ende der 1960er Jahre verband mehrere Menschen in München, dass sie als Studierende und Stipendiaten einer Versicherung9 für jeweils ein Semester ein kostenloses Mittagessen, den titelgebenden Freitisch (vgl. TiF, 19) erhielten. Zwei der ehemaligen Stipendiaten, die unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben, treffen nun aufeinander. In der Jetztzeit des Textes lebt der eine, Krause, in Anklam, ist verheiratet mit der Norwegerin Lina, beide sind Lehrer und er zudem Antiquar. Der andere, in Berlin lebende Freund, der früher lediglich Euler genannt wurde, verfasste zunächst Computerprogramme zur Verbesserung, zur Rationalisierung der städtischen Müllabfuhr (vgl. TiF, 23f.). Später ist er in die Planung von neuen Mülldeponien involviert (vgl. TiF, 24). Ein solches Müllprojekt führt ihn als Investor in die Provinz, wie der Ich-Erzähler Krause und andere Kleinstadtbewohner zu berichten wissen: Und jetzt jemand aus Berlin, der Investitionen versprach, und sei es nur für eine Mülldeponie. Auch die bringt Arbeitsplätze, hoffte man. Übrigens nicht irgendein normaler Müll, nein, ein ganz besonderer Müll, hoch kontaminiert, erzählte uns die Eierfrau. (TiF, 9) Weitere Freitisch-Mitglieder waren neben Krause und Euler eine Figur, die »der Jurist« (vgl. TiF, 19) genannt wurde sowie »Falkner« (vgl. TiF, 17). Eingewoben in die Geschichte des Aufeinandertreffens der beiden Studienkollegen, dieser Geschichte von Freundschaft, aber auch von Bedürftigkeit, Abhängigkeit von Förderern, von Studentenbewegung, Liebe, Politik und Revolution, ist in der Erzählgegenwart auch das Aufeinandertreffen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zentral sowie das Aufeinandertreffen von Ost und West (vgl. hierzu die Passage in der, vermittelt durch einen Museumsbesuch Krauses und Linas, der Wandel der Stadt Anklam durch historische

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Zur Gattung der Novelle, die Aust in seiner Überblicksdarstellung auch als »eine Erzählung mittlerer Länge« (Aust 2012, 11) bezeichnet, später mehr. Vgl. Timm 2011, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle TiF und Seitenzahl zitiert. Die Institution der Versicherung wird in Kapitel 2.3 dieser Arbeit unter Heranziehung von Texten Bölls und Kafkas in den Blick genommen.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Einschnitte in der Stadtgeschichte seit »den Wikingern« aufgerufen wird und der in der Wiedervereinigung endet, TiF, 60f.).10 Von großer Relevanz für das Erzählen in Freitisch sind intertextuelle Bezüge, besonders die Bezüge zu Arno Schmidt, die bereits durch das einleitende Motto11 markiert werden. Die Begeisterung für Schmidt war eines der verbindenden Elemente der Freitisch-Gruppe (»Er [Euler, CHG] hatte an unserem Vierertisch die Schmidt-Lektüre eingeführt. Auch der Jurist, der außer der Zeitung und seinen Kompendien kaum etwas las, hatte sich ›Kühe in Halbtrauer‹ geliehen.« (TiF, 16)).12 Dabei durchziehen Verbindungen zu Arno Schmidt die gesamte Novelle: Neben dem Motto und der Nennung diverser Texte Schmidts treffen auf Plotebene gegen Ende der Novelle bei einer Ausflugsfahrt nach Bargfeld Euler und Schmidt aufeinander (vgl. TiF, 123-134). Während die Relevanz Arno Schmidts für Freitisch nicht zu unterschätzen ist, finden sich auch Nennungen weiterer Nachkriegsautoren, hier als Kontrast zu Arno Schmidt, etwa Böll, Lenz und Andersch (vgl. TiF, 25) oder, an späterer Stelle, Grass, Enzensberger, Johnson (vgl. TiF, 81). Zugleich begegnen uns intertextuelle Verweise auch auf anderer Ebene: Neben den Verweisen auf Arno Schmidt finden sich auch welche auf andere Texte Timms. So ist die Hauptfigur Krause einer der Protagonisten in Uwe Timms Roman Heißer Sommer (1974)13 und eine Nebenfigur in Rot (2001)14 . Alle drei literarischen Texte erzählen über Lebenswege, die sich zufällig kreuzen, ein Stück wird gemeinsam gegangen und sie gehen wieder auseinander, sie erzählen über alternative Lebens- und Wohnformen und was davon übrigbleibt.15 Diese Relikte der Vergangenheit fasst Inez Müller als »die Erinnerung an gemeinschaftliche Empörung und ihr Engagement gegen gesellschaftliche

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Müller 2013 schreibt zum Prozess der Wiedervereinigung als Thema des Textes, dass »die Geschichte, die Krause und Euler […] miteinander am Mittagstisch für Stipendiaten der Münchner Universität erlebt haben, in die Geschichte/n der verschwundenen DDR und der Bonner Republik verwoben erzählt« (Müller 2013, 25) sei. Zu den Funktionen des Mottos zählt Genette die Begründung des Titels (vgl. Genette 2001, 152), einen Kommentar zum Text zu liefern »dessen Bedeutung auf diese Weise indirekt präzisiert oder hervorgehoben wird« (Genette 2001, 153) oder durch über das Motto hergestellte Verbindungen eine »indirekte Bürgschaft« (Genette 2001, 154) für den Text zu erzeugen, ihn quasi weihen zu lassen von ruhmvollen Vorgängern. Als letzten Effekt arbeitet Genette den, wie er es nennt, MottoEffekt heraus: »Das Vorhandensein eines Mottos ist, mit hoher Sicherheit, als solches bereits eine Signatur für die Epoche, die Gattung oder die Tendenz eines Werks.« (Genette 2001, 155) Zu den textuellen Verbindungen zwischen Freitisch und den Texten Arno Schmidts vgl. Müller 2013, besonders 30-34 und Grahl 2014. Grahl zeigt, dass neben der fiktionalen Begegnung zwischen Euler und Schmidt auf Plotebene sowie der Markierung seiner Texte als Intertexte auch weitere Verbindungen bestehen, etwa dadurch, dass sich leichte Stilimitationen Schmidts finden, beispielsweise in Form von Lautmalereien oder einer Verwendung von Dialekten (vgl. Grahl 2014). Vgl. Timm 1978. Der Bezug wird über einen Ausspruch Krauses direkt hergestellt, wenn es heißt: »War’n heißer Sommer.« (TiF, 32) Vgl. Timm 2006, 284-308. In der Krause-Episode besuchen der Protagonist Linde und seine Partnerin Iris Krause in Anklam; umgekehrt findet auch der Linde-Besuch in Freitisch Erwähnung, vgl. TiF, 23. Zu Uwe Timms Roman Rot als Erzählen über Abfälle vgl. die Analyse in Kapitel 4.5 dieser Arbeit. Zur generellen Bedeutung von intra- und intertextuellen Verweisen im Werk Uwe Timms vgl. Schöll 2012. Vgl. zur Rolle der Studierendenproteste und alternativer Lebensformen im Werk Timms etwa Weisz 2009, Durzak 2005 und Rinner 2006.

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Abfallverbindungen

Missstände, was die Verwertung des Tieres durch eine industrialisierte Landwirtschaft und den Protest gegen ökologische Eingriffe des Menschen in die Natur betrifft.«16 Obgleich es sich bei Anklam um eine Kleinstadt handelt, wird das Leben dort als näher an der Natur als das Leben in der Großstadt geschildert. Natur und Provinz werden in Freitisch als positiver Gegenentwurf zur Großstadt gezeichnet, als Rückzugsraum. Auch wenn Natur im Text stets mit dem Menschen verbunden bleibt, existieren beide scheinbar in friedlicher Koexistenz (»Du kommst hier an – Stille. Im Bahnhofsgebäude nisten die Schwalben. Du steigst aus und stehst auf dem Bahnsteig in der freien Landschaft.« (TiF, 74)).17 Gerade die Provinz wurde auch in Schmidts Texten, wie Müller bemerkt, zur »Zufluchtsstätte für Individualisten und Künstler«18 , zum »Möglichkeitsraum«.19 Zugleich macht ihre Randständigkeit die Provinz geeignet dafür, Abfälle hierhin zu bringen.20 Dieses Einfallen in die Provinz und in die Natur wird im Text durch die Ankunft Eulers markiert. Ein Einfallen, in dessen Folge die Koexistenz von Mensch und Natur nachhaltig gestört werden kann. Ein Außenstehender aus der Hauptstadt kommt und bringt den Fortschritt in Form der Abfallwirtschaft mit. Gegen die Schnelligkeit und diesen Fortschritt,21 verkörpert durch die Hauptstadt Berlin und die Figur Eulers, wird die Provinz und besonders das Antiquariat Krauses als idyllischer Bewahrungsort gezeichnet. Krause sammelt Erstausgaben, meist aus dem Kanon der 1968er Literatur und Theorie.22 Diese Bücher, auch die Texte Arno Schmidts, können als Realitätspartikel gelesen werden. Uwe Timm beschreibt in seinen Paderborner Poetikvorlesungen das literarische Schreiben als eine Be- und Verarbeitung solcher Partikel: »Im Geflecht eines fiktionalen Textes findet eine Verdichtung von Realitätspartikeln statt.«23 Auch die kontaminierten Abfälle können als Realitätspartikel gelesen werden, trotz ihrer Abwesenheit. Während die Bücher als abfallnahe Zeugen der Vergangenheit und Sammel- und Lesestoff für die Gegenwart, zumindest für Krause, bewahrenswert scheinen, gibt es für die anderen, die giftigen Abfälle keinen Platz. So war es, wie der Text markiert, in der Vergangenheit üblich, diese Abfälle an räumlich weit entfernte Orte der Welt zu verschiffen. Dies scheint nicht mehr möglich, wie es im Gespräch zwischen Krause und der »Eierfrau« heißt: »Den konnte man inzwischen nicht mal den Afrikanern billig andrehen« (TiF, 9). Auch wenn das Verschiffen in weit entfernte Regionen schwieriger wird, verweist Freitisch auf das bezüglich der Lagerung von kontaminierten Abfällen anzutreffende NIMBY-Syndrom24 und die Praxis, den Platz dieser Abfälle stets dahin zu verlagern, wo man selbst nicht ist.

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Müller 2013, 34. Vgl. zur Natur als Reservat auch Müller 2013, 27. Müller 2013, 30. Müller 2013, 30. Vgl. hierzu Kapitel 6 dieser Arbeit. Diese Fortschrittskritik verbindet, darauf weist auch Müller hin, Timms Text mit denen Arno Schmidts (vgl. Müller 2013, 33). Zum Aspekt des Fortschritts vgl. auch Kapitel 4 dieser Arbeit. Zum Antiquariat Krauses vgl. auch Müller 2013, 28. Timm 1993, 70. Zu NIMBY, Not In My Backyard – der Idee, dass Maßnahmen zur Lösung von Problemen, auch wenn ihnen grundsätzlich zugestimmt wird, nicht in unmittelbarer (lokaler) Nähe erfolgen sollen – vgl. etwa Krogman 2012.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Der Text Freitisch ist zudem relevant, weil er weitere für diese Untersuchung zentrale Bewegungen nachzeichnet: Die Bewegungen des Fallens bzw. Abfallens von Helden, von Heldinnen und Idealen der Vergangenheit und des Emporsteigens, etwa durch sozialen und ökonomischen Aufstieg. Eine aufwärtsstrebende Bewegung lässt sich in Freitisch auch im Aufsteigen von Erinnerungen an eine verbindende Vergangenheit erkennen. Diese Bewegungen von Abfallen und Aufsteigen werden für die nachfolgenden Analysen bedeutsam bleiben.25 Besonders in einer der letzten Episoden des Textes, der bereits erwähnten Fahrt nach Bargfeld und dem Zusammentreffen von Euler und Arno Schmidt (vgl. TiF, 131-133) lassen sich Prozesse des Ablösens und Abfallens erkennen: Die Begeisterung Eulers für Schmidt ist danach nicht mehr dieselbe (vgl. TiF, 135), in der Jetztzeit des Textes heißt es dazu, als Kommentar Krauses: »Es war ziemlich ernüchternd, dass er, dieser Prophet Arno Schmidt, abgefallen, von der Fahne gegangen war.« (TiF, 26) Bereits erwähnt wurde die Gattungsbezeichnung der Novelle.26 Zu ihren Kennzeichen gehörten nach Aust unter anderem die Konzentration auf bestimmte Erzählmuster, eine Rahmenhandlung, die Verwendung von Symbolen sowie Konzentration auf eine Begebenheit.27 Einige Gattungskennzeichen der Novelle sowie Boccaccios berühmte Falkennovelle28 werden innerhalb des Textes abgerufen und verhandelt, etwa wenn Krause die Herkunft des Spitznamens Falkners erklärt, der aus einem NovellenSeminar stammt (vgl. TiF, 72f.). Falken tauchen auch in einer weiteren Textstelle auf, in der die in der Marienkirche nistenden Turmfalken erwähnt werden (vgl. TiF, 65). Neben der klaren Symbolik bleiben weitere Dimensionen der Novellentradition im Text unaufgelöst; der Text lässt so zur Interpretation offen, was in Freitisch das für viele Novellen grundlegende Charakteristikum der unerhörten Begebenheit ausmacht. Das Zusammentreffen der beiden ehemaligen Weggefährten? Die gemeinsame Fahrt von Euler und Krause nach Bargfeld und schließlich das Aufeinandertreffen von Euler und Arno Schmidt? Oder, mit abfallzentriertem Blick, die geplante Errichtung der Deponie, die zeigt, dass Bewahren Grenzen haben muss und auch nichtgewollte Hinterlassenschaften einen Platz brauchen? Die drei grundlegenden Prinzipien der modernen Abfallwirtschaft sind die Abfallvermeidung, Verwertung und Beseitigung von Abfällen.29 Während die Vermeidung den Techniken der Verwertung und Beseitigung vorzuziehen ist, scheint dies immer weniger umsetzbar zu sein, wie es in einer Broschüre zur Müllverbrennung heißt: »Die

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Insbesondere gilt dies für die Analysen in Kapitel 4 dieser Arbeit. Zur Gattungsangabe als Paratext vgl. Genette 2001, 94-102. Genette sieht die Funktion einer solchen Angabe darin, »den angestrebten Gattungsstatus des nachfolgenden Werkes« (Genette 2001, 94) anzugeben und merkt zugleich an: »Dieser Status ist insofern inoffiziell, als Autor und Verleger ihn diesem Text zuschreiben wollen und kein Leser diese Zuschreibung rechtmäßig ignorieren oder vernachlässigen darf, selbst wenn er sich nicht verpflichtet fühlt, ihr zuzustimmen […].« (Genette 2001, 94f.) Vgl. Aust 2012, 10-24, direkt zu Freitisch 234f. Aust bezeichnet den Text als »Gesprächsnovelle« und sieht in der Begegnung mit Arno Schmidt einen Plot nach »alter Schwank- und Spitzbubengeschichtenmanier« (Aust 2012, 235). Vgl. zu diesem Text Rath 2008, 68-73. Vgl. hierzu etwa Umweltbundesamt 2008, 3.

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Vermeidung von Konsumabfällen allerdings ist – nach aller Erfahrung der letzten Jahrzehnte – mittels der Abfallgesetzgebung nur bedingt möglich.«30 In den Text sind alle drei Prinzipien eingeschrieben bzw. diese werden durch ihn zum Teil auch unterlaufen. Die Abfallvermeidung ist offensichtlich – Krauses Antiquariat ist ein Bewahrungsort. Dennoch trägt auch Krause durch sein Konsumverhalten zur Entstehung von Abfällen bei. Es gibt keine Möglichkeit, keine Abfälle zu erzeugen, zumindest nicht in Deutschland nach der Jahrtausendwende. Zugleich ist auch das Antiquariatswesen nicht frei von ökonomischem Kalkül, auch wenn Krause, wie er selbst feststellt, fast nichts verkauft (vgl. TiF, 16): Die Verwertung der Vergangenheit ist die Geschäftsidee des Antiquariatswesens, das es dadurch vom Privatsammler unterscheidet.31 Zugleich bleibt auch die geplante Mülldeponie ein Randphänomen, lässt sich erzählerisch zwar verbinden, jedoch nicht integrieren, bleibt isoliert – hierin nähert sich der Text Freitisch der Mülldeponie an, deren Umsetzung auf der Kippe steht. Ein Konnex von Poesie, Abfällen und Ökonomie tritt vielfach zu Tage, etwa wenn Euler darlegt, wie Arno Schmidt und dessen Schreiben, neben den literarischen Texten auch dessen poetologische Überlegungen, ihn zur Abfallwirtschaft gebracht haben. Inspiriert von der gleichnamigen Erzählung Schmidts stellt für ihn das Bild der »Kühe in Halbtrauer« ein Denken dar, das sich durch originelle Sichtweisen und Problemlösungen auszeichnet (vgl. TiF, 84f.). Die Optimierung der Abfallentsorgung, die, wie Euler formuliert, »gesellschaftlich notwendig, darum sinnvoll« (TiF, 82f.) ist, erforderte solche originellen Herangehensweisen, um dort auftretende, wie es ebenfalls heißt, »Problemfälle[…]« (TiF, 84) zu lösen. Auch auf anderer Ebene findet sich der Nützlichkeitsund Verwertungsgedanke in Bezug auf literarische Texte wieder. Die Form der Novelle zeichnet sich, darauf weist Hugo Aust hin, gerade durch ihre Verwertbarkeit und Wiederverwertbarkeit aus. Durch ihre kleine Form, durch ihre Kürze eigne sie sich besser als längere Erzählungen für die Übernahme in Anthologien und Abdrucke in Zeitschriften sowie Novellensammlungen.32 Diese »verlegerischen Verwendungsabsichten«33 seien mitunter nicht von der Ausgestaltung des Textes zu trennen. In diesem Ineinanderverflochtensein von Literatur und Ökonomie nähert sich die Figur Krause an den Autoren Timm an. Beides – die Verwertbarkeit, die zunehmende Ökonomisierung von zuvor außerhalb des Ökonomischen liegenden Lebensbereichen und auch von Literatur sowie zugleich ein Moment des Anschreibens dagegen – kulminiert im poetischen Abschlussbild des Textes: »Der Wind hatte gedreht, kam jetzt aus dem Westen, und die Wolken waren dichter und flacher geworden.« (TiF, 136) Hier wird eine Verbindung hergestellt zu Walter Benjamins Bild vom »Engel der Geschichte«34 , in dem Fortschritt mit einem Vergessen der Verluste und Verlierer verbunden ist. Der Engel blickt so auf die Vergangenheit als Trümmerfeld zurück.35 Die Flachheit der Wolken korrespondiert mit den herausgearbeiteten abfallenden Bewegungen in den einzelnen Lebensläufen, die besonders von 30 31 32 33 34 35

Umweltbundesamt 2008, 3. Zum Sammeln vgl. auch Kapitel 1.3.1 und Kapitel 4 dieser Arbeit. Vgl. Aust 2012, 19. Aust 2012, 19. Vgl. Benjamin GS I.2, 697. Vgl. hierzu ausführlicher die Interpretation von Uwe Timms Rot in Kapitel 4.5 dieser Arbeit.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Euler als Gegenverlauf zu seinem ökonomischen Aufstieg mit einer Verflachung von Erfahrung einhergehen. So formuliert Euler an einer Stelle: »Ich bin überzeugt, […], dass die Leidenschaften damals intensiver, verrückter und wilder waren.« (TiF, 32) Die Leidenschaft Eulers, seine Begeisterung wird später ersetzt durch einen, wie Krause formuliert, »ökonomischen Blick« (TiF, 59). Zugleich ist die Vergangenheit immer noch anwesend, die Geschichten sind immer noch da, Verbindungen können und könnten hergestellt werden. So rufen die Wolken die Idylle der Natur ab, ebenso wie die abschließenden Sätze Rosen, eine Brombeerhecke und schwarz-weiße Kühe, die noch einmal Verbindungen zu Arno Schmidts Kühe in Halbtrauer herstellen. Die Poetisierung des Alltags erschließt sich zudem, wenn der Erzähler daran denkt, wie Lina über den Regen spricht: »Die Natur badet sich […]. Wahrscheinlich eine wörtliche Übersetzung aus dem Norwegischen.« (TiF, 136) Dass das Ökonomische auch in solchen Momenten nicht weit entfernt ist, zeigt der letzte Satz der Novelle. Sie klingt aus mit einem Zahlakt, der als letzter Wunsch stehen bleibt: »Die Bedienung kam, fragte, darf’s noch was sein. Nein danke. Nur noch zahlen.« (TiF, 136) Dieser Verwertungslogik entgegen steht das kleine Erzählen über Abfälle. Was ist damit gemeint, außer, dass Abfälle in Freitisch nur am Rand vorkommen? Weiterführend für die Idee des kleinen Erzählens erweist sich das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Essay Kafka. Für eine kleine Literatur als »kleine Literatur« bezeichnen. Deleuze und Guattari beziehen sich zum einen besonders auf die Minderheitensprache der jüdischen Bevölkerung von Prag,36 zum anderen finde sich dieses kleine Erzählen auch auf Textebene. Am Beispiel ausgewählter Erzähltexte Kafkas zeigen Deleuze und Guattari, wie sich die Position der Minderheit auf textlicher Ebene findet, etwa in den Figuren der Prostituierten37 oder in den in Kafkas Texten häufig anzutreffenden Tierfiguren bzw. das Tier-Werden38 . Elias Kreuzmair konkretisiert diesen Begriff des Kleinen, wenn er das Kleine noch expliziter als Deleuze und Guattari in Bezug zum Großen, zur Mehrheit setzt: Die Mehrheit ist das Homogene. Sie braucht die Norm zur Machterhaltung, zur Selbstkontrolle wie zur Selbstbestätigung. Dem kann die Minderheit Fluchtmöglichkeiten entgegenstellen, um dem Zwang zur Homogenität zu entkommen. Gegen die Mehrheit kann die Minderheit Fluchtlinien entwerfen, Zwischenräume schaffen, AndersWerden. Kennzeichen der Minderheit ist ihre Heterogenität […]. Sie ist nicht auf die hegemoniale Norm der Mehrheit beschränkt – sie kann sich etwas hinzufügen und ist deshalb überabzählbar, es kann – um im Metaphernbereich der Mathematik zu bleiben – keine eindeutige Zuordnung erfolgen.39 Auch wenn es sich in der Konzeption von Deleuze und Guattari in erster Linie um einen Ort, um eine Position des Sprechens handelt, könnte diese Perspektive auch auf die Motivebene übertragen werden. Dieses Andere der hegemonialen Ordnung und das Fehlen einer eindeutigen Einordnung charakterisieren auch das Verworfene und die 36 37 38 39

Vgl. Deleuze/Guattari 2002, 24-39, hierzu auch Kreuzmair 2010. Vgl. Deleuze/Guattari 2002, 90-92. Zum Tier-Werden vgl. Deleuze/Guattari 2002, 19f., zu Kafkas Tiertexten 20-23. Zu Tieren und Hybriden in Kafkas Texten vgl. auch die Beiträge in Lucht 2010. Kreuzmair 2010, 38, Hervorhebung dort.

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Abfallverbindungen

Verwerfungen, die in den literarischen Texten dieser Arbeit auftreten. Zugleich handelt es sich nicht um Positionen, die aus einer Perspektive der Alterität auf Abfälle blicken, nicht zentral um postkoloniales, queeres oder feministisches Erzählen. Obgleich sich diese Positionen in einigen der Texte finden, stehen diese nicht im Mittelpunkt. Kleines Erzählen über Abfälle meint nachfolgend, vom Rand her zu erzählen; wie dieser Rand im jeweiligen Text definiert ist, ist zu klären. In Freitisch könnte es den Kontrast von Provinz und Hauptstadt bedeuten, von Optimierungsarbeit zu Bewahrungsarbeit, vom Leben mit der Vergangenheit im Kontrast zu einem Vergessen dieser Vergangenheit. Um verständlicher zu machen, was mit kleinem Erzählen über Abfälle gemeint ist, soll der Text Freitisch mit dem Beispiel eines großen Erzählens über Abfälle zusammengebracht werden. Vierzehn Jahre vor Timms Text erschien mit Don DeLillos Underworld (1997)40 ein Roman, der paradigmatisch für ein großes Erzählen über Abfälle ist. Er wirft uns im Prolog in das legendäre Baseballspiel zwischen den New York Giants und den Brooklyn Dodgers, das am 3. Oktober 1951 in New York City stattfand. Das Baseballspiel sowie der durch dieses Spiel zum (quasi-)sakralen Sammlerobjekt transformierte Baseball41 werden zum Ausgangspunkt für einen der zentralen Abfallromane der englischsprachigen Gegenwartsliteratur, der ein Panorama der USA von den 1950er bis in die 1990er Jahre spannt. Erzählt werden multiple Geschichten, die alle miteinander verknüpft sind: Die Konnektivität von Zeiten und Orten, also weitreichende Verbindungen, die in ein, wie die Figur Jesse Detwiler formuliert, »everything’s connected« (DeLU, 289) kulminieren und zum Schluss des Textes auch in das Internet als virtuellem Raum der Verbindungen und Trennungen führen, ist zentraler Gedanke in Underworld. Was mit großem Erzählen zum einen gemeint ist, fasst Martin O’Brien folgendermaßen: »Its 827 pages of multi-character narrative, travelling backwards and forwards between the 1950s and 1990s certainly marks a book of epic proportions and ambition.«42 Dieses monumentale Erzählen ist zugleich bestimmt durch eine Vielheit an Diskursen, an Plots, an Figuren und Stimmen. Diese Vielheit findet sich auch in den Erzählverfahren. Hubert Zapf stellt zusammen, wie die »medialen Präsentationsformen wie Erzählung, Dialog, Reportage, Performance, Video bis hin zu Computer und Internet«43 im Roman zu finden sind. Großes Erzählen über Abfälle meint zum anderen aber auch: Abfälle sind zentral und omnipräsent in diesem Text.44 Franka Ostertag kommentiert das folgendermaßen: »Er [DeLillo, CHG] setzt den Müll an den Anfang aller Dinge. Der Mensch macht nicht den Müll, sondern der Müll ihn. In seinen kulturgeschichtlichen Überlegungen ist der Abfall die eigentliche anthropologische Konstan-

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Vgl. DeLillo 1997, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle DeLU und Seitenzahl zitiert. Zur Rolle des Baseballs in Underworld vgl. Zapf 2002, 189-194. Heidegger, Serres und Latour folgend betrachtet auch Steiner diesen Ball als Ding, das Menschen zusammenbringt und verweist auf den etymologischen Zusammenhang von Ding und Versammlung (vgl. Steiner 2010, 139). O’Brien 2011, 52. Zapf 2002, 181. Zu den Facetten von Abfällen in Underworld vgl. Apitzsch 2012, besonders 285-338. Thomas Heise widmet sich in seiner Untersuchung Urban Underworlds: A Geography of Twentieth-Century American Literature and Culture dem Exkludierten der US-amerikanischen Städte (vgl. Heise 2011, direkt zu DeLillo mit Blick auf Postmoderne und urban ruins 213-254).

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

te, das Movens menschlicher Errungenschaften […].«45 So charakterisieren, besonders durch die Perspektive einzelner Figuren wie Nick Shay46 oder Jesse Detwiler47 , in Bezug auf Abfälle religiöse Untertöne den Text (vgl. etwa die Textpassage, in der es heißt: »Waste is a religious thing«, DeLU, 88).48 Die umfangreiche Studie von Julia Apitzsch49 arbeitet, wie etliche Interpretationen davor,50 die Bedeutung von Abfällen für diesen Roman heraus. Der kontinuierliche waste stream der Zivilisation, der uns im Text begegnet, wird parallel begleitet durch vielzählige Ästhetisierungen von Abfällen, die Apitzsch unter dem Begriff »[k]reatives Recycling«51 subsumiert: Klara Sax, Sabato Rodia, Moonman, Sergei Eisenstein und der »garbage guerilla« Jesse Detwiler – sie alle interpretieren in ihrer Trash Kunst, den Ready-Mades, den Abfallskulpturen, der Graffiti-Kunst, den Untergrund-Filmen und Video-Installationen etc. die verschiedenen Facetten des Abfalls.52 Zugleich finden sich Monumente dieses waste streams. Besonders in der Deponie Fresh Kills überlagern sich Dinge und Amorphes, Vergangenheit und Gegenwart.53 Alte Abfälle werden im Text versammelt neben neuen, toxischen und langlebigen Abfällen, etwa radioaktiven.54 Abfälle scheinen zentrales Motiv und zentrale Metapher zu sein in Underworld. Aber sind Abfälle wirklich zentral im Text oder arbeitet nicht noch eine andere Bewegung dagegen? Obgleich der Text gegen die Praxis einer allzu leichten und sauberen Entsorgung anschreibt und Abfälle in ihrer Vielfalt und ihren Verbindungen erzählt, geht mit der beschriebenen gewaltigen Präsenz von Abfällen jedoch auch, so die These, eine Auflösung einher. Sonja Windmüller, die mit ihrer Untersuchung Zur Kehrseite der Dinge – Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem (2004)55 einen der grundlegenden Beiträge zur Erforschung von Abfällen und kollektiven Entsorgungshandlungen sowie -infrastrukturen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vorlegte, fasst dies als eine »tendenzielle Verflüchtigung insbesondere der materiell-physischen Aspekte des Massenphänomens Abfall«56 . Was dies in Underworld bedeuten kann, legt David H. Evans in seinem Aufsatz zu Underworld dar. Evansʼ Ausführungen erwiesen sich mehrfach als besonders einflussreich für die vorliegende Arbeit. Evans bringt Underworld und das ebenfalls von DeLillo stammende White Noise57 mit den theoretischen

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Ostertag 1998, 186. Vgl. zu dieser Figur Zapf 2002, 205-211 und Apitzsch 2012, 315-327. Vgl. zu dieser Figur McGowan 2005, 138. Zum Aspekt der Sakralisierung von Abfällen in Underworld, besonders durch die Figuren Nick Shay und seiner Kollegen, vgl. Apitzsch 2012, 288f. Vgl. Apitzsch 2012. Vgl. etwa Helyer 1999, Keskinen 2000 oder Schaub 2011. Apitzsch 2012, 315, Hervorhebung dort, die kompletten Ausführungen finden sich auf 315-358. Apitzsch 2012, 315. Zu Fresh Kills vgl. Apitzsch 2012, 288 und die Überlegungen in Kapitel 2.2 dieser Arbeit. Vgl. hierzu Kapitel 6 dieser Arbeit. Vgl. Windmüller 2004a. Windmüller 2005, 239. Vgl. DeLillo 1985.

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Abfallverbindungen

Überlegungen von Zygmunt Bauman zur Liquid Modernity58 , zur Flüchtigen Moderne, zusammen.59 Evans arbeitet heraus, wie diese flüchtige Moderne dazu beiträgt, Abfälle zu integrieren und sie dadurch zu löschen, was weitreichende Konsequenzen habe: »Garbage […] comes to an end.«60 Während das ökonomische System Abfälle integriert, indem es sie zur Ware macht, hierfür stehen exemplarisch die Zunft der Abfallmanager und Entsorgungstechniker, werden Abfälle auch auf andere Weise integriert: Durch künstlerische Integrationen.61 Zugleich setzten sich, so Evans, die Integrationen unter der Prämisse literaturwissenschaftlicher Analysen fort, etwa, wenn von Freud oder der Erinnerungsforschung inspirierte Lesarten im Abfall das Verdrängte einer Epoche lesen:62 »For what all these interpretations share is an unwillingness to let garbage be garbage.«63 Dagegen schlägt Evans vor, die Materialität der Abfälle anzuerkennen. Er stellt, sich auf eine Textpassage in Don DeLillos White Noise64 beziehend, die provokante These auf: »Sometimes a banana skin with a tampon inside is simply a banana skin with a tampon inside.«65 Eine im Vorgang der Analysearbeit vollzogene Auflösung der Bananenschale, indem sie etwa als Teil der Banane als phallisches oder als religiöses Symbol66 oder als Frucht mit popkulturellen Implikationen, etwa durch Verweise auf die Arbeiten Andy Warhols67 , interpretiert würde, hätte weitreichende Konsequenzen. Zwar können durch die Frage nach der metaphorischen Dimension dieses Nahrungsmittels neue Verbindungen hergestellt werden. zugleich würden aber Verbindungen gelöscht. Greg Kennedy bringt diese Verbindungen des Abfalldings in seiner Monographie An Ontology of Trash, ebenfalls am Beispiel einer Banane, auf den Punkt: When we discard a banana peel […], we throw away with it the tires, asphalt, spark plugs, workboots, fuels, pipelines, paper invoices, boxes, computer chips, television screens, newspaper flyers, and all the other countless objects required to produce, deliver, and market the commodity.68 Die Auflösung in die Metapher würde all die Menschen, Dinge und ebenfalls Abfälle, die mit dem Transport, der Lagerung, dem Verkauf und dem Konsum des Nahrungsmittels Banane, aber auch mit dem Hygieneprodukt Tampon verknüpft sind, aus dem Fokus rücken, sie löschen. Die großen Verbindungen finden sich im kleinen Ding nur, wenn es als solches wahrgenommen wird. So fragen die Analysen im Hauptteil nicht primär nach den Implikationen von Abfällen als Metapher. Uwe Timms Freitisch und Don DeLillos Underworld wurden diskutiert als ein kleiner und ein großer Text über Abfälle. Beide zeigen: Das Große findet sich im Kleinen, das Kleine im Großen, der Mikrokosmos im Makrokosmos und umgekehrt – so auch 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. Bauman 2003. Ein Zusammenbringen von Theorie und literarischem Text, das in Kapitel 3 aufgegriffen wird. Evans 2006, 110. Vgl. Evans 2006, 109f. Vgl. Evans 2006, 110. Evans 2006, 111. Zu Abfällen in diesem Text DeLillos vgl. auch Steiner 2010, 138-145. Evans 2006, 117. Vgl. zur religiösen Bedeutung der Banane Zwahr/Brockhaus 2006, Band 3, 205. Zu Warhol vgl. auch Kapitel 5.3 und 5.6. Kennedy 2007, 52.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

im Erzählen über Abfälle. Im Zusammenhang mit Underworld wurde zudem mit Sonja Windmüller, die sich auf kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Abfällen und David H. Evans, der die literaturwissenschaftliche Analyse fokussiert, der Vorwurf diskutiert, Abfälle durch eine bestimmte Form der Beschäftigung mit ihnen aufzulösen. Diese Fragen bleiben für den weiteren Verlauf dieser Arbeit zentral: Wie ist gegen dieses Übersehen von Abfällen, aber auch gegen Prozesse ihrer Auflösung durch Integration anzugehen?

1.2

Abfallmoderne: Verwerfungen und Gegenbewegungen

Ein Vorschlag ist nun, wie bereits am Beispiel der Banane gezeigt, Abfälle in ihrer materiellen Präsenz zu untersuchen und zugleich die Trennungen und Verbindungen, die durch und über sie hergestellt werden, zu analysieren. Das von David H. Evans zitierte Beispiel aus Don DeLillos White Noise, das Tampon in der Banane, führt zu den ältesten und menschennächsten Abfällen: den Körperabfällen. Zugleich werden durch die Nennung dieses Stücks gepresster Watte, das als Hygieneprodukt dient, Verbindungen zu Themen wie Sexualität, Reinheitsvorstellungen und Tabuisierungen von Körperabfällen abgerufen.69 Diese Verbindung von Abfällen und Körper erinnert ebenfalls daran, dass Körperabfälle und andere organische Abfälle über einen langen Zeitraum die relevanteste Kategorie von Abfällen darstellten. Joshua Goldstein zeigt in seinem Beitrag Waste im Oxford Handbook of The History of Consumption, wie bis zur industriellen Moderne die Abfälle in den Städten zum Großteil organischen Ursprungs waren, »ashes, food wastes, animal carcasses, and shit.«70 Bernd Herrmann hält zur Wirkungsmacht von Natur und Naturphänomenen fest, dass Natur eben nicht gewalttätig sei, sondern dass Gewaltkataloge anthropogen und anthropozentrisch seien – und die Sprache von Naturgewalten lediglich zeige, dass Menschen sich selbst stets ins Zentrum ihres Denkens stellen.71 Und zugleich mitunter vergessen, dass im Zentrum aller Abfälle der Mensch steht. Nicht nur Körperabfälle, sondern alle Abfälle sind, das ist eine der Hauptthesen dieser Arbeit, grundlegend an den menschlichen Körper und den menschlichen Leib gebunden.72 Der Mensch, sein Körper und sein Leib sind Instanz der Bewegungen des Bewahrens und Verwerfens, aber auch des Erfahrens und Nichterfahrenwollens von Abfällen. Erik Porath beschreibt in seinem Aufsatz Von der Vernunft des Sammelns zum Irrsinn des 69

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Zu diesen Vorstellungen vgl. die ethnologischen Studien von, auf Schmutz und Reinheitsvorstellungen fokussiert, Mary Douglas (vgl. Douglas 1988) sowie, direkt zur Menstruation, Ernst Püschel (vgl. Püschel 1988). In ihrer Untersuchung zu Werbung für Tampons zeichnet Handlechner 2005 kursorisch nach, wie sich zum einen Monatshygiene wandelt, zum anderen aber auch, mit welchen Tabus das Thema Menstruation belegt ist (vgl. Handlechner 2005, 23-31). Eine Erschütterung von Normen in Bezug auf Körperhygiene, Körperabfälle, Sexualität und generell Körpernormen versucht ein anderer Roman: Charlotte Roches Feuchtgebiete (Roche 2008). Vgl. hierzu, mit einem Fokus auf Abfälle, meine Überlegungen in Gehrlein 2012b. Goldstein 2013, 329. Vgl. Herrmann 2010, 122. Zur Unterscheidung Körper (haben) und Leib (sein), die auf Plessner bzw. mitunter auch MerleauPonty zurückgeführt wird, vgl. Villa 2008c, besonders 201 und Gugutzer 2004, 146-155.

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Wegwerfens die Hand als Werkzeug, als Vermittlerin zwischen Menschen und Dingen.73 Sie ertastet Objekte oder wehrt sie ab. Die Bewegungen des Greifens und Loslassens sind integrale Elemente des Sammelns und des Wegwerfens. Zugleich sind beide Bewegungen »konstitutiv für Subjektivität«74 : In der Begegnung mit dem Körper – oder dessen Verlängerungen bzw. Ergänzungen durch Prothesen75 – wird der »Widerstand im Gegenstand«76 erspürt, das Ding wird in seiner Materialität wahrnehmbar. Zugleich liegt in diesem Akt des In-die-Hand-Nehmens auch eine Aneignung. Die Dinge werden als für den Menschen geschaffen, im wahrsten Sinne des Wortes, aufgefasst, sie werden auch durch die Hand, oder durch die von Hand geschaffenen Maschinen, erund geschaffen, geformt. Durch den Menschen und dessen Handbewegungen werden Dinge aber auch verworfen, werden ab- und fortgeschafft. Im von Christian Wulf editierten Band Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie findet sich auch ein Eintrag von Gunter Gebauer zu Bewegung, der zwei für diese Arbeit bedeutsame Aspekte herausstellt – den Konnex von Bewegung und Gewohnheit und die Verbindungen, die über Bewegung hergestellt werden: Bewegung ist nicht nur ein Grundprinzip des Lebendigen, sondern ist, insofern sie im Alltagsleben ausgebildet, eingeschliffen, gewohnheitsmäßig gemacht und in der individuellen Körpergeschichte zu Haltungen verfestigt wird, eine soziale und individualgeschichtliche Kategorie: In ihr überkreuzen sich das Natürliche und Gesellschaftliche, das Individuelle und Allgemeine. In der anthropologischen Reflexion werden Bewegungen oft als Vermittler zwischen dem Menschen und der Welt aufgefaßt. Aufgrund seiner leiblichen Weise des In-der-Welt-Seins gewinnt der Mensch seine Erfahrungen und seine Vorstellungen der Welt mit Hilfe seiner Bewegungen und der Leistungen seiner Sinne. Bewegungen sind das Medium, in dem die gegenständliche Existenz der Welt erfaßt wird.77 Bewegung ist nicht nur konstituierend für das Erleben von Welt, sondern auch ein Überkreuzungsakt78 , der den Menschen mit der Materialität, mit den Ritualen und Konventionen der ihn oder sie umgebenden Welt konfrontiert. Dabei sind Bewegungen, besonders die Alltagsbewegungen, mitunter derart »ausgebildet, eingeschliffen, gewohnheitsmäßig«, dass sie solche Überkreuzungen ausschließen. Das Ausbilden und Einschleifen beginnt in der Kindheit.79 Mit Norbert Elias und Michel Foucault konkretisiert Gebauer, dass Bewegung auch eine »mimetische Aneignung von regelhaften Bewegungen in Form von Übung, Nachmachen, Beachtung von Vorschriften und Anweisungen, Kontrolle und Korrektur«80 sei. Gebauer greift dabei auch auf Marcel Mauss und dessen Konzept der Körpertechniken zurück. Mauss fasst diese Körpertechniken 73 74 75 76 77 78 79 80

Vgl. Porath 2001, 273, hierzu auch Gehrlein 2005, 1. Porath 2001, 273. Zu Prothesen vgl. die Überlegungen in Kapitel 5.6 dieser Arbeit. Zum »Widerstand im Gegenstand« vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Uwe C. Steiner zu den Dingen Kafkas (Steiner 2008). Gebauer 1997, 501. Zu den Akten des Überkreuzens vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. Zu Kindern und Kindheit und Abfällen vgl. Kapitel 1.3.3 dieser Arbeit. Gebauer 1997, 508. Gebauer bezieht sich hierbei auf Norbert Eliasʼ Über den Prozeß der Zivilisation (vgl. Elias 2004a und 2004b) und Michel Foucaults Überwachen und Strafen (vgl. Foucault 1998).

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

besonders in seinem Aufsatz Der Begriff der Technik des Körpers folgendermaßen: »Ich verstehe darunter die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen.«81 Was bedeutet das? Der Körper, dies zeigt Mauss, wird geformt, an Gebrauchsanforderungen angepasst. Die Körpertechniken müssen dabei nach Mauss zwei Kriterien erfüllen: sie müssen traditionelle und wirksame Handlungen sein.82 Am Beispiel des Schwimmens, des Marschierens, aber auch am Beispiel von Hygienepraktiken wie das Reinigen des Körpers oder des Rachens demonstriert Mauss, wie, je nach Ort, Zeitraum und Kontext dieser Ausformung, diese Techniken signifikant voneinander abweichen können.83 Zugleich, darauf macht Gebauer aufmerksam, sind auch Dinge Teil von Bewegungen: »Im Lernen des Umgehens mit den Gegenständen wird einerseits der Körper umgebildet; er wird fähig gemacht, technisch, gerätemäßig zu funktionieren: sich auf objektiv gegebene Dinganforderungen einzustellen und diesen seinerseits zu antworten.«84 Das Ziel vieler Körpertechniken, vieler gelernter Bewegungen und Handlungen ist, so eine der Thesen dieser Arbeiten, Schmutz und Verworfenes vom Menschen fernzuhalten. Nicht nur die körpernächsten Abfälle, die Körperabfälle, sondern generell Verworfenes unterliegt einem Gebot der schnellstmöglichen Entfernung und des Vergessens.85 Diese Praktiken des Entfernens und Vergessens werden erleichtert durch spezialisierte Entsorgungssysteme. Als Resultat werden Abfälle und Körper im Alltag lediglich über Affekte – Abwehr, Ekel etc. – miteinander verbunden. So auch, wenn die Entsorgung fehlschlägt und es zu einem punktuellen Zusammentreffen von Menschen und dem Verworfenen kommt.86 Diese Möglichkeiten eines Zusammentreffens minimieren sich, je rigider die Ausschluss- und Entsorgungssysteme ausgestaltet sind. Wie ich zeigen werde, wurden seit der industriellen Moderne, so eine weitere These, abfallerfahrungsunfreundlichen Alltagspraktiken und Körpertechniken stets der Vorrang vor abfallerfahrungsfreundlichen gegeben. Die Moderne wurde zur Abfallmoderne87 , weil sie Abfälle in großem Ausmaß produziert und zugleich Systeme ihrer Entsorgung, ihrer Be- und Verarbeitung etabliert.

81 82 83 84 85 86 87

Beide Texte werden in den Abschnitten zu Gegenbewegungen der folgenden Einzelkapitel noch ausführlicher befragt werden. Vgl. Mauss 1997, 199. Vgl. Mauss 1997, 205. Vgl. Mauss 1997, 210-217. Gebauer 1998, 505. Zu diesem Gebot vgl. Giesen 2007, 102. Zum Potential von Störungen vgl. die Überlegungen weiter unten, in Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Zum Begriff der ›Abfallmoderne‹ vgl. die Einleitung des gleichnamigen Sammelbands (Wagner 2010a und 2010b). Wagner bezieht sich unter anderem auf die Konzeption von Fayet, der argumentiert, dass gerade die Ordnung der Moderne durch ihre Ausschlussverfahren Abfälle in großem Ausmaß erzeugt habe (vgl. Fayet 2003, besonders 85-156). Seinem Schluss, dass die Post- bzw. Nachmoderne weniger Abfall erzeugt, eine ›Kompostmoderne‹ ist, ist in den Bereichen, die er in den Blick nimmt, Kunst und Architektur, zuzustimmen. Dass generell weniger Abfälle produziert werden, ist keine Folge der Integrationsversuche in diesen Bereichen, wie in Kapitel 3 dieser Arbeit mit Bauman gezeigt wird.

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Im Hauptteil dieser Arbeit werden nun in jedem Unterkapitel zum einen die Bewegungen und ihre Kontexte erkundet, die Abfälle erzeugen oder eine Begegnung mit ihnen verhindern, also die Entsorgungs- und Entfernungsprozeduren. Zugleich werden verschiedene Taktiken des Abfallerkundens vorgestellt, die als Körpertechniken und als Auflesetechniken die Konfrontation mit Abfällen ermöglichen. Gegenbewegungen lassen sich unter Heranziehung des von Friedrich von Borries herausgegebenen Glossar der Interventionen88 auch als Interventionen und De Certeaus Kunst des Handelns89 als Taktiken bezeichnen. Intervention und Taktik können sich gegen die konventionellen Umgangsformen mit Abfällen richten. Was ist mit diesem Begriff der Gegenbewegung gemeint, der Merkmale der Intervention und der Taktik aufweist? Im Glossar der Interventionen finden sich eine Grunddefinition des Begriffs ›Intervenieren‹, der die Handlungen des »dazwischen-, dazukommen, hindernd oder vermittelnd eingreifen, für jmdn. eintreten«90 betont und ein Eintrag zur militärischen Intervention, die, wie es im Vorwort heißt, auch eine der verbreitetsten Verwendungen des Begriffs darstellt.91 Zudem wird eine Vielzahl von Beispielen für Interventionen gegeben, die als Gegenbewegungen gelesen werden können. So ist die aktivistische Intervention oftmals im öffentlichen Raum, auf der Straße anzutreffen und hat zum Ziel, »[s]ich aktiv einzumischen, dazwischenzutreten, zu stören oder zu irritieren«.92 Relevant ist ebenfalls die, auf Chantal Mouffe zurückgehende, »gegenhegemoniale Intervention«93 gerichtet gegen »herrschende machtpolitische Systeme und Strukturen«94 . Die »urbane Intervention«95 schließlich nutzt den Stadtraum als Möglichkeitsraum, um beispielsweise auf ökonomische Ungleichheiten aufmerksam zu machen. Manche Gegenbewegungen, etwa die »ästhetisch-kreative Intervention«96 , rufen Verbindungen zu dem auf, was Julia Apitzsch in Bezug auf DeLillos Underworld »[k]reative[s] Recycling«97 nennt. Dabei ist den Interventionen, die in dieser Arbeit von Relevanz sind, zweierlei gemeinsam: Sie werden zum einen aus Situationen und bestimmten Blickwinkeln ermöglicht, die verortet sind in Zeit und Raum. Zum anderen lassen sie sich, wie am Beispiel eines kleinen Erzählens diskutiert wurde, als Bewegungen vom Rand auffassen. Sie schließen ein Agieren aus einer grundlegenden Machtposition heraus aus. Beispiele für die Einnahme und Nutzung einer solchen Machtposition ist eine urbane Intervention als PR-Strategie, etwa als Teil einer Stadtmarketingkampagne.98 Dennoch ist der Aspekt der Macht von Relevanz. In Bewegungen sind immer auch Machtverhältnisse eingeschrieben. Macht kann in Momenten dazu führen, Entsorgungsentscheidungen

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Borries 2012. De Certeau 1988. Borries 2012, 72f. Vgl. Borries 2012, [5, ohne Paginierung]. Vgl. Borries 2012, 7. Borries 2012, 50f. Borries 2012, 50. Borries 2012, 209. Borries 2012, 12f. Apitzsch 2012, 315, Hervorhebung dort. Vgl. zu diesen sog. »Guerilla-Marketing-Aktionen« Borries 2012, 210.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

zu Bewahrungsentscheidungen werden zu lassen – oder die Verbindungen zu erkennen, die durch die Bewegungen des Verwerfens oder Nichtverwerfens entstehen oder zunichte gemacht werden. Ein Agieren, oder auch Nichtagieren, vom Rand führt zu Michel De Certeaus Konzeption der Taktik, die sich in Kunst des Handelns findet. Die Taktik zeichnet demnach die Abwesenheit von Macht aus: »Ohne eigenen Ort, ohne Gesamtübersicht, blind und scharfsinnig wie im direkten Handgemenge, abhängig von momentanen Zufällen, wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt, während die Strategie von Macht organisiert wird.«99 Während die Konzeptionen der Intervention und der Taktik einen bestimmten Grad der Intentionalität voraussetzen, um agieren zu können, könnten Gegenbewegungen auch ungeplant erfolgen. So können die Bewegungen des Verwerfens, das impliziert das obige Zitat aus Kunst des Handelns, durch Zufälle, Ablenkungen und Unterbrechungen verhindert oder herausgezögert werden. Eine andere Form der Gegenbewegung liegt vor, wenn diese nicht vom Menschen ausgeht: Die Intervention kann auch von Seiten der Dinge ausgehen. Zu diesem Interventionspotenzial von Dingen später mehr. Texte erzählen von solchen Gegenbewegungen, von menschlichen und dinglichen Interventionen gegen gelehrte und gelernte, gebotene und geforderte Umgangsarten mit Abfällen. Wenn im Alltag dieses Zusammenführen von Menschen und Abfällen durch routinierte, individuelle Entsorgungsakte sowie professionalisierte bzw. ökonomisierte Entsorgungsstrukturen unwahrscheinlich wird, können literarische Texte dieses Zusammentreffen simulieren, durchspielen, können es dehnen, wiederholen, abbrechen oder kommentieren. Deswegen sind erlernte Bewegungen und interventionistisch-taktische Gegenbewegungen nachfolgend zentrale analytische Kategorien. Gegenbewegungen zu den in den jeweiligen Kontexten dominierenden Bewegungen sind, so die These, in die analysierten literarischen Texte eingeschrieben. Mitunter kommt es zu einer Korrelation von Alltagsbewegungen und Erzählbewegungen: Wenn beispielsweise, wie die Ausführungen in Kapitel 3 zeigen, vom Sitzen als Gegenbewegung erzählt wird, begegnen wir nicht nur sitzenden Menschen – und Dingen –, sondern der Text selbst scheint Verwerfungen mitunter auszusitzen. Alle Texte, die im Rahmen dieser Arbeit analysiert werden, verweigern sich dabei allzu klaren Einordnungsmöglichkeiten. Auch hier gibt es Verbindungen zwischen dem, was und dem, wovon erzählt wird. Die erzählerischen Interventionen führen dazu, dass Vermischungen und Überlagerungen stattfinden, zwischen Menschen und Dingen, zwischen Orten und Zeiten. Hierin wiederholen sie die Überlagerungen und Vermischungen, die Abfälle charakterisieren.100 Sie zu lesen, ist so auch immer Ordnungs- und Bändigungsversuch. Mehr noch: Wolfgang Kaschuba zeigt in seiner Untersuchung zu Zeit und Raum in der europäischen Moderne, wie gerade auch literarische Texte für eine kulturelle Verankerung des Neuen im Alltag sorgen.101 So wurden vor allem die Kinderliteratur, aber auch Genres wie Abenteuer und Science Fiction um 1900 zum Ort der Begegnung mit historischer und utopischer Technik.102 99 De Certeau 1988, 90, Hervorhebung dort. 100 Zum Aspekt der Überlagerung vgl. auch die Ausführungen zum Konnex von Abfällen und Archäologie, unter anderem in den Kapiteln 1.4.2 und 4.3.3. 101 Vgl. Kaschuba 2004, 23. 102 Vgl. Kaschuba 2004, 23.

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Hier wird ein Wissen erzeugt, das, schlummernd und unbewusst, beteiligt ist an Transformation, sie informiert und formiert. Kaschuba bezeichnet die Rolle, die Texte hier spielen, als eine besondere Form der Erfahrung, die er definiert als »eine Art ›Erfahrung auf halber Höhe‹«103 und formuliert zu den Erfahrungen, die durch Texte vermittelt werden: Sie zeigen Zugänge zum Alltag und Reflexe des Alltags, ohne ihn freilich empirisch abbilden zu können und zu wollen. Sie verraten uns mediale Formen und populäre Verbreitungsweisen von Begriffen und Bildern, liefern eine Mischung von fiktiven und faktischen Lebensweltbezügen.104 Fiktionale und nichtfiktionale Texte, Tagebucheintragungen, Glossen, Essays oder Kinderbücher werden also, wie Kaschuba zeigt, nicht nur zu Zeugen bestimmter Entwicklungen, sondern treiben sie auch an, inspirieren und steuern sie.105 Noch einmal: Grundlage der Einzelkapitel im Hauptteil dieser Arbeit ist die These, dass Abfälle und Körper seit der Abfallmoderne, hier verstanden als der Beginn einer geregelten und systematisierten Entsorgung, immer grundlegender voneinander entfernt werden. In verschiedenen Techniken des Körpers, die ich Gegenbewegungen nenne, liegt der Schlüssel zum Erkennen der unsichtbaren, entsorgten, entfernten Abfälle. Abfall kann dabei nicht nur in einer bestimmten Form auftreten. Gerade der totalisierende Blick auf Abfälle hat sie in der Moderne zum Problem werden lassen – dazu später mehr am Beispiel der Discard Studies. Genauso wenig aber, wie es den Abfall gibt, gibt es die Gegenbewegung zum Verwerfen. Veränderung, gar Widerstand ist nach Michel Foucault gerade nicht gegen Gesamtheiten, gegen Systeme möglich, sondern nur punktuell – auch dadurch, dass wir über die Prozesse nachdenken, die Normalität (und somit auch Abweichung – also Abfälle und Verwerfungen) erzeugen: »Ich habe mir vorgenommen […] den Menschen zu zeigen, daß sie weit freier sind, als sie meinen; daß sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und daß man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann.«106 Singuläre Abfallgeschichten, die Fragen nach solchen Voraussetzungen stellen, nach spezifischen Zeiten, Orten und Räumen von Abfällen und Verwerfungsprozessen, können helfen, die von Foucault in den Blick genommenen Evidenzen und Automatismen zu offenbaren und Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit Dingen – und Menschen – aufzuzeigen und durchzuspielen.

1.3

Drei Anfänge

Der Text Plunder von Christoph Meckel aus dem Jahr 1986 widmet sich, wie bereits der Titel suggeriert, ausschließlich dem Verworfenen, dem Plunder. Gleich zu Beginn dieses Textes wird eine Methode vorgestellt, sich Dingen und Alltagsphänomenen, die uns 103 104 105 106

Kaschuba 2004, 25. Kaschuba 2004, 25. Vgl. Kaschuba 2004, 26. Foucault 1993b, 16.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

oft unbemerkt umgeben, zu nähern: »Erzähl mir ein Wort, sagte Caroline. Nimm ein Wort und mach eine Welt daraus.«107 In Carolines Fall handelt es sich bei diesem Wort um den Regen, der nicht als meteorologisches Phänomen beschrieben wird, sondern in seiner Vielheit, die je nach Kontext unterschiedliche Erinnerungen evoziert.108 Wir folgen diesem welterschließenden Potenzial von Worten, nehmen das Wort Plunder und begeben uns, geleitet durch Meckels Text, über den Plunder zu Möglichkeiten, sich dem Plunder zu nähern, zu Anfangspunkten und Fragestellungen, die bereits anhand der Texte Freitisch und Underworld herausgearbeitet wurden. Die Bedeutung von Orten, von Stadt und Provinz, das Verhältnis von Menschen und Dingen, seien es Warendinge, menschennahe oder menschenferne Dinge, wurden bereits in der Analyse von Uwe Timms Freitisch skizziert. Verbindungen wie Freundschaft oder Dingnähe, Trennungen wie Verwerfungen oder Barrieren durch Kontamination wurden ebenfalls genannt. Die Frage, wie es zu Verwerfungen kommt – und warum diese mitunter ausbleiben, obgleich sie vorgesehen scheinen – bleibt weiterhin zentral. Zugleich bleibt auch die Frage nach materiellen Konfigurationen signifikant – wie formieren und informieren Dinge Texte? Plunder als Sammlung und als Ansammlung erzählt Geschichten über verworfene Dinge und Akte des Verwerfens. Die Geschichten, die Meckel anhand des Plunders erzählt, sind keine, die außerhalb von Raum und Zeit stehen. Dies wird vor allem deutlich in der ersten Geschichte in Plunder, die auch explizit als eine Geschichte betitelt ist und eine der wenigen Überschriften im Text trägt: »Caroline berichtet, wie es zum Plunder kommt. (Erste Geschichte)«109 . In dieser phantastisch anmutenden Geschichte über die »Firma DESASTER & SCHÄDEN GmbH«110 , eine Firma zur Herstellung von Katastrophen, verliert ein Transportschiff seine gefährliche Ladung.111 Das letzte Schiff, das mit Plunder beladen ist, wird von dessen Manager entführt. Der Plunder verschwindet. Der Umgang mit und der Verbleib von Abfällen, das Schicksal von Verworfenem ist auch – und das blitzt in Meckels Texten nur an einigen Stellen auf – an Machtverhältnisse gebunden. Machtverhältnisse, die zunächst überhaupt zu Verwerfungen führen.112 Später spielen, das hat auch die Beschäftigung mit Underworld gezeigt, weitestgehend spezialisierte Unternehmen, Firmen und Manager, Plunderverwalter und Hafenbehörden eine Rolle, wenn es um das Schicksal der Fracht geht. In der anschließenden Geschichte sind diese Spezialisten unwichtig geworden, denn nun geht es um den »Plunder, den das Wasser verschlingt, den das Wasser ausspuckt.«113 Hier werden Abfälle, wird Plunder in seiner Unordnung und Auflösung versammelt, verschmutzt, verschlammt, beschädigt, ohne Kontext.114 So heißt es: »Plunder der Flüsse, des Hochwassers und 107 108 109 110 111 112 113 114

Meckel 1989, 5. Vgl. Meckel 1989, 5. Meckel 1989, 20, Hervorhebung dort, die gesamte Geschichte findet sich auf 20-28. Meckel 1989, 20, Hervorhebung dort. Zu Schiffen und den Verbindungen, die durch sie hergestellt werden, vgl. Kapitel 5, besonders 5.1 und 5.2 dieser Arbeit. Vgl. hierzu die Überlegungen von Fayet, der die Entscheidungen, die zu Abfällen führen, systematisiert (vgl. Fayet 2003, besonders 45-50). Meckel 1989, 28. Vgl. Meckel 1989, 28-30. Zum Aspekt der Entdifferenzierung durch Katastrophen wie Überschwemmungen und Taifune schreibt Böhme in einer Passage, die an Meckels Text erinnert: »Din-

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der Springflut, ins Fleisch geschwollene Fingerringe der Toten, […] Wasserwerke und Mühlräder, Speichen. Gequollene Bibliotheken, verwaschene Bilder, Reste von Kirchenengeln, Altären, Fahnen.«115 Eine Aufzählung, die der Vielfalt und der Unordnung des Plunders nahezukommen versucht. Meckels Sammlung eröffnet noch eine weitere Möglichkeit, den Plunder – und in diesem Fall tatsächlich auch analog den Abfall – zu begreifen, zu erzählen: über verschiedene, sich zum Teil diametral gegenüberstehende Umgangsarten. So finden sich Geschichten »dessen, der im Plunder lebt«116 , »dessen, der den Plunder verachtet«117 und »dessen, der den Plunder vernichtet«118 . Diese Umgangsarten mit Verworfenem, mit Dingen, stehen auch im Zentrum dessen, was in der Überschrift dieses Unterkapitels als »Anfänge« bezeichnet wird. Der Gesamttext Plunder, diese Geschichte, die sich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt und Verbindungen herstellt, schlägt zahlreiche Möglichkeiten vor, sich dem Plunder zu nähern. Anfänge, von denen im Folgenden drei aufgegriffen werden, weil sie relevante Fragestellungen und Motive für die im Hauptteil dieser Arbeit folgenden Textanalysen liefern. Erstens kehren wir mit Adalbert Stifter zurück ins 19. Jahrhundert. Inwiefern handelt es sich bei dieser Beschäftigung mit einem Autoren um die Rückkehr zu einem Anfang? Abfallhistorisch betrachtet war Stifter Zeitzeuge weitreichender Veränderungen in den Beziehungen von Menschen und Dingen. Zweitens wird unter Bezugnahme auf verschiedene Theorien geklärt, was ein Ding ist, welche Mensch-Ding-Verhältnisse relevant für diese Arbeit sind. Hierzu werden zunächst grundlegende Dingdefinitionen herangezogen – immer im Hinblick auf die Frage, ob sie für Abfälle – hier verstanden als Abfalldinge – brauchbar sind. Dies schließt auch die sogenannten neuen Dinge ein. Zugleich wird das Potenzial von Störungen skizziert – am Beispiel von Mülltüten, Abfallzerkleinerern und einem Text Franz Kafkas. Drittens soll an den Anfang einer ganz besonderen Mensch-Ding-Beziehung zurückgegangen werden, wenn die Abfallaffinität von Kindern in den Blick genommen wird. Es scheint, als ob an den Anfängen der menschlichen Biographie, in der Kindheit, die Entscheidungen für oder gegen Dinge noch keine oder kaum eine Rolle spielen, diese Unterscheidungen erst gelernt werden müssen.

1.3.1

Das Abfällige und der Abfall in Adalbert Stifters Texten

Der erste Anfangspunkt wird von Christoph Meckels Plunder vorgeschlagen. Nach den Plunder-Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählinstanz verliert diese den Plunder zwischenzeitlich aus den Augen, um ihn später an, wie der Text nahelegt, unvermuteter Stelle wiederzufinden – in einem weit über hundert Jahre alten literarischen Text:

115 116 117 118

ge, die den sozialen Sinn ausmachen, sind durcheinandergewirbelt, zerstört und verschlammt. Gerade Verschlammung ist eine extreme Form der Invasion des amorphen Chaos in den Raum der Ordnung.« (Böhme 2006, 132) Meckel 1989, 29. Meckel 1989, 53, die gesamte Textpassage 53-57. Meckel 1989, 73, die gesamte Textpassage 73-76. Meckel 1989, 85, die gesamte Textpassage 85-87.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Nach fünfunddreißig Jahren fand ich es [das Wort Plunder, CHG] wieder. Es hielt sich in einer Erzählung versteckt, die Stifter vor hundertzwanzig Jahren schrieb. Dort schien der Plunder auf mich gewartet zu haben. Das Wort und der Inhalt waren gemeinsam da, die Geschichte des Inhalts und der ganze Klang. Ich las den Satz: ES IST DIES DIE DICHTUNG DES PLUNDERS.119 Warum führt uns Meckels Plunder gleich zu Beginn zu einem Text Adalbert Stifters? Warum hat sich der Plunder in einer Erzählung versteckt? Warum soll er gewartet haben? Oder, anders formuliert: was hat das Werk Stifters, was hat sein Erzählen mit Plunder, genauer mit Abfällen zu tun? Was sind die Verbindungen zwischen dem Text Plunder und den Texten Stifters? Zunächst zum offensichtlichen Teil, den das obige Zitat markiert. In der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters (1841/1842 bzw. die umgearbeitete Fassung 1847120 ) schreibt Stifter nämlich: Es ist dies die Dichtung des Plunders, jene traurig sanfte Dichtung, welche blos die Spuren der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit prägt, aber in diesen Spuren unser Herz oft mehr erschüttert, als in anderen, weil wir auf ihnen am deutlichsten den Schatten der Verblichenen fort gehen sehen, und unsern eignen mit, der jenem folgt.121 Dieser Text führt uns zurück ins 19. Jahrhundert – in das Saeculum der Dinge, wie es Hartmut Böhme bezeichnet: »Dingstatistiken weisen aus, dass gegenüber dem 18. Jahrhundert die Anzahl der verfügbaren Dinge z.B. in einem Haushalt außerordentlich zunimmt.«122 Stifters Texte sind Zeugnisse fundamentaler Veränderungen, die Industrialisierung und Elektrifizierung mit sich brachten.123 Stifter sah sich, vor allem in seiner langjährigen Residenz, der Stadt Wien, mit Entwicklungen konfrontiert, die ihren Ursprung in der Kommerzialisierung vieler Bereiche hatten.124 Entwicklungen, die auch einen Übergang von der Bewahrungs- zur Entsorgungsgesellschaft darstellten.125 Wie abfallhistorische Darstellungen zeigen, befand sich Wien zur Zeit Stifters auf der 119 Meckel 1989, 10, Hervorhebung dort. 120 Zu den Fassungen vgl. den Überblick in John 2005, 50. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Studienfassung, fortan wird die Die Mappe meines Urgroßvaters auch als Mappen-Text bezeichnet. Zur Publikationsgeschichte vgl. John 2005. Der Mappen-Text wurde das erste Mal 1841/42 publiziert, dann im Rahmen der Studien 1847, 1864 die dritte Fassung (vgl. John 2005, 50). 121 Stifter 1982a, 16. Die Mappe meines Urgroßvaters ist bedeutsam für einen der Texte, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysiert werden, Evelyn Grills Der Sammler (vgl. hierzu Kapitel 4.4 dieser Arbeit). 122 Böhme 2006, 17. Schneider 2008b, 157 und Steiner 2009, 22 greifen diese Formulierung auf. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert widmet sich Christoph Asendorf in seiner Untersuchung Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert ausführlich den veränderten Beziehungen von Menschen und Dingen, die diese Zunahme von Dingen, besonders von Warendingen, begleiten (vgl. Asendorf 1988, zur Ware besonders 32-37 und 71-80, zum Interieur und zur bürgerlichen Dingwelt, auch mit einem Blick auf die Texte Stifters, 93-99). 123 Zur daraus resultierenden veränderten Wahrnehmung von Raum und Zeit vgl. Kaschuba 2004, in Bezug auf Mobilität vgl. auch die richtungsweisende Studie von Wolfgang Schivelbusch zur Eisenbahnreise (vgl. Schivelbusch 2007). 124 Zum ambivalenten Verhältnis Stifters zu Wien und generell zu Großstädten vgl. Lachinger 2006, 54f. sowie Begemann 1995, 14-20. 125 Hösel 1990 zeigt, wie Wien erst 1850 zu einer Großstadt wurde – eine Entwicklung, die die Notwendigkeit einer geregelteren Entsorgung drastisch steigerte (vgl. Hösel 1990, 108).

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Schwelle von einer ungeregelten Abfallentsorgung zu einer geregelten.126 Im Jahr 1830 führte die Überschwemmung der Donau zu Cholera-Epidemien, die den Bau von Sammelkanälen am Flussufer nach sich zogen.127 Zugleich veränderte sich das Stadtbild, etwa durch eine Verbesserung des Straßenbelags, die 1872 in ersten Bemühungen zur Asphaltierung der Straßen kulminierte.128 Diese Prozesse der Kanalisierung, Säuberung und Reglementierung der Flüsse von Menschen und Dingen durch die Stadt, also Umwälzungsprozesse, die Stifter teilweise miterlebte, sind auch und gerade Vernichtungsprozesse, wie Katharina Grätz ausführt: Eisenbahn, Straßen- und Kanalbau bewirkten, daß sich das Bild der Landschaft rasant veränderte. Aber auch in den schnell anwachsenden Städten lagen die Veränderungen seit der Jahrhundertmitte offen zutage: Alte Gebäude wurden abgerissen und ganze Stadtteile fielen der Immobilienspekulation zum Opfer. Die einschneidende Umgestaltung der Lebenswelt ließ ein breites Bewußtsein dafür entstehen, daß die irreversible Zerstörung des Alten drohte und in rasantem Tempo vernichtet wurde, was über Jahrhunderte hinweg Bestand hatte.129 Im Zuge der städtebaulichen Veränderungen wandelten sich, das deutet das Zitat von Grätz an, auch die Behausungen der Menschen. Nicht nur sind ganze Häuser von Umbauten und Abrissen bedroht, sondern das Ver- und Zerkleinern von Häusern führte zu einer Zerstörung von Speicherplatz.130 Dies hat zur Folge, dass mehr Dinge entsorgt werden müssen. So wird es immer unwahrscheinlicher, dass die Dinge auf Dachböden, in Schachteln und Truhen Zeiten überdauern können und darauf warten, wie in Stifters Mappen-Text, Geschichten zu evozieren. Während die Veränderungen im Nahbereich des Menschen, in den Wohnungen und Häusern, durchaus ihren Weg in die Texte Stifters finden, sind die großen, die technischen und infrastrukturellen Veränderungen, wie Christian Begemann betont,131 scheinbar eine Leerstelle. Begemann verweist auf die Sichtweise Stifters, Fabriken und Dampfbahnen hätten in der »schönen Literatur nichts zu suchen«.132 Auch die sozio-politischen Konflikte, die die Zeit Stifters prägten, sind, zumindest vordergründig, nicht Hauptaugenmerk seiner Texte.133 Entwicklungen, die jedoch als Matrix der Texte ihre Formierung beeinflussen. So finden die Folgen und, wie Stifters Texte zeigen, Verluste dieser Entwicklungen auf andere Weise Eingang. Wenn, wie mit den Eingangsüberlegungen zu Uwe Timms Freitisch und Don DeLillos

126

Eine überblicksartige Darstellung zu Meilensteinen in der Abfallentsorgungsgeschichte Wiens liefert Hösel 1990, 106-110. Hösel zeigt, dass bereits 1698 ein Sammeldienst zur Abfallbeseitigung und 1782 eine regelmäßige Straßenreinigung eingeführt wurden (vgl. Hösel 1990, 107). 127 Vgl. Payer 1997, 61. 128 Vgl. Payer 1997, 119. 129 Grätz 2006, 83. 130 Vgl. Haag 2004, 63. 131 Vgl. Begemann 2007, 77. 132 Begemann 2007, 77. Dennoch finden sich, wie Lachinger bemerkt, Dampfeisenbahnen in Stifters Texten (vgl. Lachinger 2006, 52). 133 Lachinger weist zudem darauf hin, dass etwa Texte wie Stifters Beiträge in Wien und die Wiener, im Unterschied etwa zu Heines in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstandenen Stadtbetrachtungen von Paris, von tagespolitischen Fragen und den sich zuspitzenden Klassengegensätzen unangetastet scheinen (vgl. Lachinger 2006, 50).

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Underworld gezeigt, Abfälle zum einen ökonomisiert und verwaltet werden und zum anderen Dinge als Realitätspartikel von Geschichte zeugen, können durch Dinge und Abfälle Verbindungen hergestellt werden, die mitunter quer zu, parallel von oder unterhalb der offiziellen Geschichtsschreibung verlaufen können. Diese Zeugenschaft134 äußert sich in Stifters Texten besonders in einer Zuwendung zum Unbedeutenden. Die gewöhnlichen Dinge gehörten zu einem der wichtigsten Erzählmotive Stifters. »Das Wort ›Ding‹ ist ein Lieblingswort Stifters«135 konstatiert so auch Roman Sandgruber und führt aus: Adalbert Stifter war ein aufmerksamer Beobachter der Warenwelt. Er war ein Sammler, er war ein manischer Konsument. Er war der Sohn eines Kaufmanns. Er sieht die Fülle der Waren: in der Schnittwarenhandlung, Blechwarenhandlung, Buchhandlung, beim Juwelier, im Pfeifengewölbe … beim Zuckerbäcker, Bänderhändler, im Pelzwaren-, Messer-, Kunstblumengeschäft …136 So überlagern sich bei Stifter Ding und Ware, die Dinge waren an den von Sandgruber aufgeführten Orten nicht Erinnerungs- oder Sammeldinge, sondern Warendinge. Das 19. Jahrhundert war der Beginn dessen, was wir heute als Konsumgesellschaft kennen.137 Es kommt zu einer Konkurrenzsituation zwischen alten und neuen Dingen: »Was der familiäre Haushalt bislang an Überkommenem selbstverständlich in den Alltag integrierte, läuft nun Gefahr, zu einem sinnlosen Überbleibsel degradiert zu werden. Die alten Sachen sind mit modischen Waren konfrontiert, die ihnen ihren Gebrauchswert streitig machen und durch den Tauschwert ersetzen.«138 Diese Verbindung zwischen Dingen und Warendingen sowie der nostalgische Blick auf die alten Dinge finden sich, wenn auch nicht immer explizit, in zahlreichen Texten Stifters. Der nachfolgende kursorische Blick auf Stifters Texte, aber auch auf Stifters Schreibverfahren soll und kann nicht zum Ziel haben, diese ausführlich zu deuten und damit die zum Teil »mikrologische Analysearbeit«139 der Stifter-Forschung fortzuführen. Die vorliegende Arbeit widmet sich in erster Linie Texten der Gegenwartsliteratur. So sollen die Ergebnisse gerade der jüngeren Stifter-Forschung für die Analysen dieser Arbeit als Matrix dienen. Vor allem solche Zweige der Forschung, die sich verstärkt den Fragen nach dem Verhältnis der Texte Stifters zu den Dingen widmen.140 Darüber hinaus ist es hinsichtlich der Frage nach der Relevanz von Abfällen in der Beschäftigung 134

Dabei changieren jedoch, wie Sabine Schneider in ihrer Stifter-Analyse im Aufsatz zu vergessenen Dingen in den Texten des literarischen Realismus zeigt, die Dinge zwischen Bewahrung und Verfall, ihre »Stummheit« kippe »das Projekt einer bewahrenden Sammlung ins Morbide.« (Schneider 2008b, 170) 135 Sandgruber 2005, 92. 136 Sandgruber 2005, 92. Vgl. zu Dingen in Stifters Texten auch Steiner 2000, 641. 137 Vgl. Keller 1998, 24. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 2 dieser Arbeit. 138 Haag 2004, 59. 139 Begemann 1995, 7. 140 So lässt sich für die Stifter-Forschung eine verstärkte Zuwendung zum Verhältnis seiner Texte zu den Dingen feststellen. Stellvertretend für diese Perspektive sind der von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld 2008 herausgegebene Sammelband Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts (vgl. Schneider/Hunfeld 2008) sowie die Arbeiten von Uwe C. Steiner (vgl. etwa Steiner 2011) zu nennen.

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mit Stifter sinnvoll, die Textebene zu verlassen und auf den Prozess seines Schreibens zu blicken. Also das zu betrachten, was gerade nicht Eingang in die Texte fand. Es besteht dabei, das ist zu zeigen, ein Zusammenhang zwischen Stifters Themen und Motiven, seinen Figuren und seinem Arbeitsprozess. Am Beispiel des Textes Der Tandelmarkt 141 aus der Sammlung Wien und die Wiener arbeitet Sabine Schneider heraus, wie sich der Text einem ganz besonderen Stadium des, um mit Arjun Appadurai zu sprechen, social life142 der Dinge, einer besonderen Station der Dingbiographie widmet: »Zerstörung, Zerstreuung und soziales Vergessen sind die letzten Stationen aller Dinge.«143 Die Dinge fallen aus der Kategorie der Menschennähe heraus, werden zu Abfall und landen schließlich auf dem Tandelmarkt: »Es ist die Prosa des kruden Verfalls und des sozialen Vergessens, welche die Poesie des Tandelmarkts grundiert, dessen zukünftiges Verschwinden der Erzähler zudem bereits vorwegnimmt.«144 Diese Fokussierung auf die Dinge geht bei Stifter, dies legt Schneider in der Einleitung eines Sammelbandes zu den Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts dar, einher mit der Erprobung eines Erzählmodus, der mit Konventionen bricht, »neue Erzählstrategien hervortreibt, die quer stehen zu den Konventionen eines auf Spannung und Ereignisfolge abgestellten historischen Erzählens.«145 Zwei weitere Texte in Wien und die Wiener, die einleitenden Betrachtungen Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes146 und Ein Gang durch die Katakomben147 , sind aus einem anderen Grund bedeutsam: Hier werden zwei Perspektiven eingenommen, die relevant für die Beschäftigung mit Abfällen sind. Michel De Certeaus Unterscheidungen von Taktik und Strategie wurden bereits im Abschnitt zu Bewegungen und Gegenbewegungen diskutiert. In Kunst des Handelns findet sich eine Passage zu Beginn des siebten Kapitels, in der das Gehen in der Stadt bzw. das Ergehen von Stadt148 abgegrenzt wird vom Blick von oben, vom World Trade Center aus auf die Stadt.149 Ein ähnlicher Blick von oben findet sich auch in Stifters Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes.150 Während die eine Perspektive das Kleine, das Alltägliche aus den Augen verliert zugunsten eines Überblicks,151 eröffnet sich der Fußgängerin oder dem Fußgänger eine andere Stadt. Das in Stifters Text so bezeichnete »Häusermeer«152 wird, wie auch Peter Payer feststellt, zur Metapher für eine »neue, panoramatische Wahrnehmung der Großstadt […], in der sich die Erfahrung der Entgrenzung des Raumes ebenso ausdrückt wie das Aufgehen individueller Befindlichkeit

141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

Vgl. Stifter 2005, 227-241. Vgl. Appadurai 1986, 13. Schneider 2008b, 164. Schneider 2008b, 165. Schneider 2008a, 13. Stifter 2005, V-XXI. Stifter 2005, 49-62. Lachinger fasst beide Texte als Zivilisationskritik »von oben und von unten« (Lachinger 2006, 52). Vgl. De Certeau 1988, 179-181. Vgl. hierzu auch Lachinger 2006, 52. Vgl. hierzu De Certeau 1988, 181f. Stifter 2005, V, zur Metapher des Ozeanischen vgl. Begemann 1995, 9-19.

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in einer homogenen, amorphen Masse.«153 Die Stadt dringt nur als entdifferenziertes Rauschen, als Brausen nach oben.154 Während der Panoramablick, der Blick von oben das Individuelle, die Vergangenheit und das Verworfene ausblenden muss, die ebenfalls zur Stadt als Gesamtheit gehören, diese nur mehr als Lärm, als Rauschen nach oben dringt, widmet sich der Text Gang durch die Katakomben155 leiseren Tönen. Er führt in die Katakomben unter dem Stephansdom, in die räumliche und zeitliche Tiefe, in die Unterwelt. Ulrike Vedder arbeitet als eine der zentralen Fragen des Textes die Frage heraus, was vom Leben des Menschen bleibt, was vererbt werden kann und soll. Inmitten dieses Textes über das Verwesen und Vergehen, den Moder der Unterwelt, erkennt sie eine Poetik, die zugleich bewahrt und verwirft – und somit auch die Trennungen zwischen Leben und Toten verwerfe, wie Vedder schreibt »pulverisiere«156 : »Hier setzen Stifters Erbschaftsgeschichten als Texte des neunzehnten Jahrhunderts an: als Texte, die auf die Tradition und Kontinuität bauen und die zugleich die Verwerfungen und Brüche der Moderne aufweisen.«157 Sie bezeichnet Stifters Schreiben als eine Art des Schreibens, die sie als »testamentarisch[…]« fasst: Dieser Begriff meint nicht das Aufsetzen eines Testaments im juristischen Sinne, sondern soll ein Schreiben charakterisieren, das auf Übertragung und Transmission zwischen den Generationen und zwischen Toten und Lebenden setzt und das heißt auch auf Totenmemoria, ohne jedoch jene sanktionierende Verfügungsgewalt ausüben zu können, die ein juristisches Testament als Verfügung des Todes auszeichnet. Ein testamentarisches Schreiben in diesem Sinne bezieht also nicht zuletzt den Tod als Voraussetzung und als Grenze ein.158 Der Blick auf das Verworfene, auf das Kleine, das haben Freitisch und Underworld ebenfalls gezeigt, ist ein Luxus, den sich literarische Texte leisten können. Während sich in Underworld die kleinen Geschichten zusammenfügen zu einer anderen, einer Unter-, Kehr- oder Gegenwelt verdichten, bleiben in anderen Texten die Dinge – und Menschen – disparat nebeneinander stehen. Den Luxus, sich dem Unbedeutenden zu widmen, leisten sich auch Stifters Texte. Diese Perspektive kann als Gegenbewegung zu einer, wie Christoph Eykman sie nennt, »Ökonomie des Sehens«159 betrachtet werden: Der Habitus des perzipierenden Menschen ist normalerweise darauf gerichtet, vorrangig das Große, in die Augen Fallende zu bemerken oder das, was jeweils für unsere Handlungs-Intention von Belang ist. Das Kleine, Nebensächliche aber gerät kaum in den Blick oder wird allenfalls von diesem nur flüchtig gestreift. Wir bemerken zwar ein Kleidungsstück, aber kaum den einzelnen Knopf an ihm. Unser Blick erfaßt ein

153 154 155 156 157 158 159

Payer 2003, 3. Vgl. Payer 2003, 3. Schneider 2008b liest diesen Text als Komplementärtext zu Stifters Mappen-Text (vgl. Schneider 2008, 161). Vedder 2006, 23. Vedder 2006, 25. Vedder 2006, 22. Eykman 1999, 198.

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Haus, aber der Türknauf, der Klingelknopf oder der einzelne Dachziegel wird in der habituellen Blick-Einstellung gar nicht oder nur peripher registriert.160 Literatur, so Eykman weiter, fordere eine Umorientierung unserer Sehprozesse heraus, sträubt sich gegen diese Ökonomie des Sehens und schlägt neue Seheinstellungen und Perspektiven vor. Gilt das, was Eykman in Bezug auf die geringen Dinge, auf Türknäufe, Knöpfe, Dachziegel festgestellt hat, auch für Abfall?161 Bei Abfall scheint es sich um einen Sonderfall zu handeln. Hier wirken nicht nur die Blick-Einstellungen gegen die Möglichkeit einer Wahrnehmung im Alltag. Es sind vielmehr gelernte und routinierte Bewegungen des Verbergens und Fortschaffens, die ein Sehen erschweren oder ganz verhindern. Die täglich ausgeführten Bewegungen des Entsorgens und Entfernens haben ein komplettes Vergessen der Abfälle zum Ziel. Zudem werden, anders als bei Dachziegeln oder Nippes, bei Abfalldingen oftmals Abwehrmechanismen ausgelöst.162 Die beschriebenen Transformationen, sowohl in den Infrastrukturen der Städte, als auch im Nahbereich der Menschen, in ihren Häusern und Wohnungen, führen verstärkt zu Komplementärbewegungen. Eine dieser Komplementärbewegungen ist das ordnende Bewahren von Dingen, das Sammeln.163 In der Forschung wird dieses Sammeln in Stifters Texten – und darüber hinausgehend auch in Stifters Leben, so nimmt Katharina Grätz vor allem die Denkmalpflege und Restaurationstätigkeiten sowohl in Stifters Leben als auch in Nachsommer in den Blick164 – unter dem Stichwort der Musealisierung diskutiert.165 Grätz liest diese Tätigkeiten im Kontext eines musealen Historismus, den Autoren des Realismus wie die von ihr analysierten Wilhelm Raabe, Gottfried Keller und eben Adalbert Stifter schreibend pflegten, und zeigt, wie in einer Zeit, die von signifikanten »technischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen gekennzeichnet war, das Sammeln, Restaurieren, Aufbewahren und Ausstellen von historischen Relikten einen exzeptionellen kulturellen Stellenwert gewann.«166 Zu Sammelbewegungen im Text Nachsommer stellt sie fest, dass die Sammlungen »nicht am einzelnen Phänomen interessiert [sind], sondern an einer kategorialen Ordnung, die sie zur Anschauung bring[en].«167 Als Beispiele dienen ihr Bücher, aber auch natürliche Dinge wie die Rosensammlung.168 Zum Aspekt der Ordnung später mehr. Zunächst die Frage: Wenn

160 Eykman 1999, 198. 161 Was dieser besondere Blick auf die Dinge in literarischen Texten in Bezug auf Abfälle bedeuten kann, wird in Kapitel 1.4.3 unter der Frage nach dem (Abfall-)Wissen der Gegenwartsliteratur diskutiert. 162 Zum Aspekt der Abwehrreaktionen vgl. die Ausführungen in Kapitel 4.4 dieser Arbeit. 163 Zum Sammeln generell vgl. die überblicksartigen Überlegungen von Manfred Sommer im Handbuch Materielle Kultur (Sommer 2014). Zur Bedeutung des Sammelns für Stifters Leben und Werk vgl. Grätz 2006 und Arnold-De Simine 2007. 164 Grätz stellt so die Bedeutung der Restaurierung für Stifters Leben heraus und weist darauf hin, dass Stifter 1853 zum »ehrenamtlichen staatlichen Konservator von Oberösterreich« (Grätz 2006, 187) berufen wurde. 165 Vgl. etwa Arnold-De Simine 2007, 41-67. 166 Grätz 2006, 83f. 167 Grätz 2006, 221. 168 Vgl. Grätz 2006, 222. Zu Inneneinrichtung bei Stifter vgl. Klüger 1994 und Steiner 2011. Zu den Rosen mehr in Kapitel 1.3.2.

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Bücher, Möbel oder andere bewahrenswerte Dinge gesammelt werden, welchen Stellenwert haben Abfälle in Stifters Texten? Für Ulrich Dittmann, der Stifter und Böll über ihre Affinität zum Verworfenen in Verbindung bringt, sind Abfälle gar zentral für Stifters Erzählen: Indem er [Stifter, CHG] Figuren in den Mittelpunkt stellt, die den ›Plunder‹ sammeln, schätzen und aufbewahren, die sich der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit zuwenden, sind diese auch die Themen seines Schreibens. Das zentrale Motiv, der Titel-Gegenstand seines lebensbestimmenden Werkes, kommt aus dem ›Plunder‹ – oder moderner ausgedrückt – aus einem nicht recycelten Abfall.169 Diese Abfälle werden nun meist nicht von den Figuren aktiv gesammelt, sondern als integraler Bestandteil von Wohnen, von Leben versammelt. Durch die Bewahrung können sie zum Zuge kommen, müssen aber nicht. Mit dieser Rolle von Dingen als möglichen Auslösern von Geschichten korrespondiert Stifters Erzählverfahren, das sich dieser »Sammlung der Dinge anstatt einer Teleologie der Ereignisse verschreibt.«170 Anhand des Textes Das alte Siegel demonstriert Ulrike Vedder zudem, wie die erzählerischen Grundfiguren des Textes auch das Unerzählte miterzählen, die nichtgenutzten oder vollzogenen Möglichkeiten, indem diese Texte ein Voranschreiten verweigern, durch »Aufschub, Warten, Wiederholung, Zeitsprünge und Zeitschleifen«171 . Christian Begemann fasst Stifters Erzählen so auch grundsätzlich als Versuche des Festhaltens, des Bewahrens und Beharrens: »In fast schon zwanghafter Weise arbeitet der Autor sich durch einen schmalen Bestand von Themen und Handlungselementen, und auch sein Stil neigt zunehmend zur Wiederholung, zur Monotonie und zu einer eigentümlichen Erstarrung.«172 Wie bereits angedeutet, ist dabei auch das Unerzählte bedeutsam – und das, was vom Erzählen übrig bleibt, die Reste der Texte. Textreste werden zahlreich produziert durch Stifters Arbeitsweise, wie in der Forschung häufig herausgestellt wird. So ist besonders Die Mappe ein Resultat vielfacher Umarbeitungen – die, streng genommen, zu Abfallfassungen führen: Stifter hat nicht nur die immer gleichen Konstellationen aufgegriffen und variiert, er hat auch seine einzelnen Texte unendlich überarbeitet. Sieht man von Extremfällen

169 Dittmann 2002, 198. Kimmich formuliert zu Stifters Sammlung: »Die Dinge, die Stifter geradezu obsessiv sammelt und in seinen Texten vor dem nicht selten konsternierten oder auch gelangweilten Leser ausbreitet, sind nicht immer die schönen Kunstdinge, wie wir sie vielleicht im Nachsommer finden, sondern sie sind oft hässlich und tückisch […].« (Kimmich 2011, 30f.) Anhand des Mappen-Textes zeigt Schneider, wie dort »die Ehrfurcht des Erinnerns und Bewahrens in eine katastrophische Zeitvorstellung um[schlägt], in der die aufgehäuften ›Gedenksachen‹ und ›Altertumsdinge‹ zu einem dämonischen Stilleben letzter Dinge erstarren und die quälende Vorstellung einer klaustrophobischen Immanenz toter Dinge abrufen – an die Stelle des Silberstroms der Menschheit tritt eine Mülldeponie abgelegter Dinge« (Schneider 2008b, 161). 170 Schneider 2008b, 170. 171 Vedder 2006, 31. 172 Begemann 2007, 63. Zum Aspekt der Wiederholung – und der Variation – in Stifters Texten vgl. auch Wild 2001.

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wie der Mappe meines Urgroßvaters ab, die Stifter sein ganzes schriftstellerisches Leben begleitet hat und in dieser Zeit durch vier Fassungen hindurch von der frühen Journalerzählung zu einem voluminösen Romanfragment angewachsen ist, so liegen die meisten Erzählungen in zwei Fassungen vor: einer ersten, die für Zeitschriften, Almanache und Taschenbücher verfasst wurde und an deren spezielle Erfordernisse angepasst werden musste, sowie einer zweiten, einer Buchfassung für die Studien oder später die Bunten Steine, die von Zugeständnissen an das Publikationsorgan freier sein konnte.173 Die publizierten Fassungen dokumentierten so auch nur einen Teil der Textgenese: »Die Handschriften belegen, dass Stifter seine Texte in qualvollen Prozessen immer wieder neu vorgenommen, umgeschrieben und ›gefeilt‹ hat – zum Entsetzen seines Verlegers bis in die Fahnenkorrekturen hinein.«174 Barbara Thums vergleicht den Arbeitsprozess Stifters mit dem Kunsthandwerk eines Juweliers: »Beide reinigen und fassen ihr Material, veredeln es durch eine gründliche Prozedur des Schleifens und Polierens, um aus dem Rohdiamanten ein hochwertiges Kunstwerk oder Schmuckstück zu schaffen.«175 Das, was am Ende herauskommt, wird von Stifter selbst als »Reinschrift«176 bezeichnet. Ordnung ist, wie bereits angedeutet, überaus bedeutsam in Stifters Texten. Dabei lässt sich das Stilmittel der Aufzählungen bei Stifter als ordnendes Prinzip lesen, als Zusammenfügen von Einzelteilen zu einer Gesamtheit.177 Elena Agazzi fasst diese Integrationsleistung der Texte Stifters folgendermaßen: »Stifters Vorliebe für das Stilmittel der Aufzählung […] setzt immer dann auf die Macht der großen Zahlen, wenn der Autor sich des Unmessbaren und des negativ Erhabenen annimmt, Katastrophen zum Beispiel, und wenn Zerstörung und Tod thematisiert werden.«178 Auch und gerade wenn es zu eruptiven Erschütterungen der Ordnung kommt, bleibt diese Ordnung als Hintergrund aller Handlungen der Menschen bestehen.179 Die zentrale Frage, die sich im Anschluss an die vorausgegangenen Ausführungen stellt: Gibt es denn, wenn die Signifikanz von Ordnung in Stifters Texten berücksichtigt wird und entgegen der Behauptung von Dittmann, überhaupt Abfälle in diesen Texten? Wenn, nicht nur in Nachsommer, Dinge aus ihrer Zirkulation geholt, gereinigt und bewahrt werden, etwa die Kunstdinge im weißen Marmorzimmer180 , dann steht bereits vor der Reinigungsarbeit fest, dass diese Dinge bewahrenswert, Teil einer höheren Ordnung sind. Zu dieser Ordnung schreibt Begemann am Beispiel der Sammlungen im Anwesen Risachs:

173 174 175 176 177 178

Begemann 2007, 72. Begemann 2007, 72. Thums 2009, 81. Thums 2009, 81. Zur Aufzählung vgl. auch Kapitel 4.4 und 5.6 dieser Arbeit. Agazzi 2008, 377. Unter anderen Vorzeichen ist auch Stifters Beschäftigung mit Naturwissenschaft, mit Mathematik und Astronomie, auf die etwa Macho hinweist (vgl. Macho 2005, 738f.), als Rationalisierungsversuch bedrohlich wirkender Naturphänomene lesbar. 179 Vgl. hierzu Begemann 2007, 73. 180 Zur Ordnung des Hauses vgl. Kapitel 3 in Stifter 1997 (45-66), zum Marmorzimmer bzw. Marmorsaal vgl. ausführlich Grätz 2006, 234-236.

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Die zahlreichen Sammlungen von Natur- und Kunstdingen repräsentieren in überschaubarer Form die systematische Ordnung der Dinge, nehmen sie exemplarisch ins Haus hinein und binden dieses derart an die Wirklichkeit in einem emphatischen Sinne an. Das Haus wird so zu einem Museum, einer Art Welt-Museum.181 In Bezug auf die besonders in Nachsommer gezeichnete Ordnung gibt es keine NichtOrdnung, sondern nur aus der Ordnung Gefallenes. Eine Unordnung, die wieder geordnet werden muss und kann, wenn sich alle diesem Ordnen unterordnen. So dient die Abfalllosigkeit der Natur als Vorbild. Rhythmen und Zyklen der Natur verkörpern das Ideal einer zyklischen Zeit in Nachsommer, die auch auf die Menschen abstrahlen soll.182 Diese zyklischen Bewegungen werden im Idealfall von den Menschen ausgeführt, die sich den Rhythmen der Natur zuwenden und sie auf ihre kulturellen Bewahrungsarbeiten übertragen. Geordnet und zyklisch stellt sich so die Arbeit in Risachs Rosenhaus dar, die »sich wie in einer endlosen Schleife [wiederholt]. Immer wird restauriert, immer wird an der Gartenanlage gearbeitet.«183 Dabei, ist, wie Barbara Thums herausarbeitet, der Blickwinkel, den Stifters Texte einnehmen, oftmals ein nostalgischer: Gerade die Ordnung, die sich nicht mehr findet oder deren Zusammenbruch durch weitreichende Transformationen bevorsteht, evoziert das Erzählen. Zugleich findet das Ordnen wie auch das Erzählen darüber kein Ende, ist potenziell eine unendliche Bewegung. Dies gilt ebenfalls für das Deuten dieser Texte. Wie die Gartenarbeit als Ordnungsarbeit ist auch die Beschäftigung mit Stifters Texten, sind die Lektüre und Relektüre, die Versuche des Ordnens und Systematisierens, unabschließbare Aufgaben.184 Über jedes Ding in literarischen Texten, das noch da ist, sei es nun ein bewahrtes oder doch ein zu verwerfendes, können neue Verbindungen hergestellt werden. Restlosigkeit gibt es jedoch nicht: Wie beim Schleifen und Polieren Reste abfallen, schafft generell jeder Ordnungsversuch, jedes Sammeln und jedes Bearbeiten Möglichkeiten einer anderen Ordnung, produziert Reste und bleibt unabschließbar.

1.3.2

Zu Mensch-Ding-Verhältnissen – und zum Potenzial von Störungen am Beispiel von Franz Kafkas Die Sorge des Hausvaters

Der Plunder, dem sich Christoph Meckels gleichnamige Textsammlung widmet, das sind in erster Linie verlassene und vergessene Dinge, wie wir in einer im Text mitgelieferten Definition finden. Plunder kann somit, muss aber nicht synonym mit Abfall sein, wie die nachfolgende Aufzählung in Meckels Text vorschlägt. Den Plunder beschreibt

Begemann 2007, 79. Zu Musealisierungsprozessen in Der Nachsommer vgl. auch Grätz 2006, 213248. 182 Vgl. Begemann 2007, 79. Vgl. zur Restlosigkeit der Natur in Nachsommer auch Thums 2009, 85f. Zugleich weist die Natur, das ist nicht zu vergessen und darauf weist auch das Zitat von Agazzi weiter oben hin, in den Texten Stifters auch häufig eine bedrohliche, dämonische Komponente auf (vgl. Matz 2005, 23f.). Zum Aspekt der Restlosigkeit als Phantasma vgl. Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 183 Moussa 2012, 100. 184 So formuliert Michael Scheffel in seinem Stifter-Forschungsüberblick, Peter von Matt zitierend: »Wer nicht weiß, daß er mit ihm nicht fertig wird, sollte sich (…) nicht auf Stifter einlassen, sei er nun dessen Verehrer oder Verächter oder beides durcheinander.« (Scheffel 2003, 103)

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die Erzählinstanz einleitend als etwas, was »ich weiß nicht wie, an mir hängengeblieben [ist]«: Es ist das nicht beweisbare Glück dieser Dinge, daß sie verlorengingen und übrigblieben, als wertlos gelten und abgeschrieben sind. Streugut der Hinterhöfe und Kinderspielplätze, defekte Gummibälle und Murmeln aus Glas (lebenswichtige Bestandteile aus der Weltmacht alles Zwecklosen, Überflüssigen und Ungezählten, Unordentlichen und Fallengelassenen, Nichtnachgefragten und Aussortierten). Es ist das Ding, das nicht auf der Liste steht, an dem sich Computer und Ordnungsliebe verschlucken. Es ist die Gräte im Hals der Pedanterie, die Nimmerleinsziffer in jedem Fahndungssystem. Es ist der weltweite Bettel in seiner Würde, zuhaus im gerechten Trümmerfeld der Zeit, vergänglich in seiner unzähligen Einzahl, unsterblich in seiner Vielzahl, allgegenwärtig, leibhaftig, namenlos, und erstaunlich wie die Schuhcreme im Fastnachtskrapfen.185 Wie die Definition bzw. Nicht-Definition im Text von Meckel nahelegt – etwa durch den Hinweis, dass Dinge verloren gingen oder vergessen wurden –, werden Dinge stets durch ihr Verhältnis zum Menschen definiert. Das verdeutlicht auch eine weitere Bezeichnung für »Ding«, die allerdings eine Akzentverschiebung darstellt: »Objekt«, ein durch die Philosophie geprägtes Wort, das von dem lateinischen Ausdruck »oculo obiectum«, was »dem Auge gegenüberliegend, gegenüberstehend« heißt, abgeleitet wurde.186 Die Definition, die Meckels Text liefert, ist eine Definition, die das Abweisende einschließt, gar zentral macht, »das Ding, das nicht auf der Liste steht, an dem sich Computer und Ordnungsliebe verschlucken.«187 Der Aspekt des Verschluckens, des Herausfallens aus Ordnung ist bedeutsam. Zugleich erinnert die Widerständigkeit, das Nichtfunktionieren von Dingen, an dem sich Ordnungswerkzeuge verschlucken, an das Potenzial von Störungen für eine Wahrnehmung von Abfällen. Beide verbindet die Gewissheit einer grundlegenden Fremdheit der Dinge. Zunächst jedoch noch einmal zurück zu Stifter. Thomas Macho weist in seinem Aufsatz zu »Stifters Dinge[n]« auf die vielfachen Bedeutungsebenen in dessen Dingbeschreibungen hin, in denen sich »Aspekte der Natur und der Kultur, Erfahrungen der Vereinsamung und der Annäherung, des Mitgefühls und der Liebe, aber auch die Wahrnehmung opaker Fremdheit und einer Medialität, die das Ding von vornherein als Spur erscheinen lässt, als Wahrzeichen für ein Anderes [lesen lassen, CHG].«188 Macho geht noch einen Schritt weiter, wenn er Stifters Texte mit dingtheoretischen Überlegungen

185 Meckel 1989, 13f. 186 Vgl. Kluge 1999, 306, vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 14f. In der Dingforschung wird mitunter zwischen Gegenstand, Artefakt, Ding, Objekt unterschieden, je nach Blickwinkel. Im Folgenden wird meist das Wort ›Ding‹ benutzt, im Kontext von Technik auch ›Artefakt‹. Zu neuen Dingen vgl. die Überlegungen weiter unten, einen Überblick bietet auch Roßler 2008. 187 Meckel 1989, 14. 188 Macho 2005, 735.

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zusammenbringt.189 Unter der Überschrift »Stifters Wissen« schreibt Macho zu diesem Wissen: Ganz im Gegensatz zu seiner Vereinnahmung als Heimat- oder Naturdichter war Stifter stets fasziniert von den Dingen zwischen Natur und Kultur, von den Übergängen zwischen scheinbar Belebtem und Unbelebtem, von den Bewegungen zwischen naturhaft erlittenem Schicksal und individuell gestalteter Geschichte; genau diese Transgressionen wurden ihm ja auch häufig vorgeworfen.190 Die Rosen des Hausherrn Risach in Stifters Roman Nachsommer dienen Macho als Beispiel für hybride, für zwischen Kategorien changierende Dinge. Die Rosen seien so mitnichten pure Natur; ihre Erscheinung verdanken sie den kulturellen Techniken der Zucht und Pflege, die der Hausherr auf vielen Seiten erläutert. Die Rosen können somit als Quasi-Objekte im Sinne Bruno Latours bzw. Michel Serresʼ gelesen werden, sie evozieren Handlungen.191 Serres selbst nimmt sich als Beispiel für ein Quasi-Objekt einem Ding an, das zentral war für die Verbindungen, die der Roman Underworld herstellt: einem Ball. Serres zeigt in Der Parasit im Kapitel Theorie des Quasi-Objekts am Beispiel des Balls, wie dieses Ding nur in Verbindung mit seiner Zweckbestimmung von Wert ist: »Irgendwo niedergelegt, ist er nichts, ist er albern, hat er keinen Sinn noch eine Funktion noch einen Wert.«192 Im Moment des Werfens bilden Menschen und Dinge eine Entität. Gustav Roßler fasst die Eigenschaften der Quasi-Objekte zusammen als »zirkulierende, Netze bahnende, das soziale Band knüpfende oder verstärkende Entitäten.«193 Nach dieser Definition lassen sich auch Abfälle als Quasi-Objekte bezeichnen, wenn sie über ihren Status als Verworfenes Netze knüpfen, verstärken oder schwächen. So ist es folgerichtig, dass wir auch in Plunder auf einen Ball stoßen. Wir erinnern uns noch einmal an die Liste aus Plunder, die dieses Unterkapitel einleitete: »Streugut der Hinterhöfe und Kinderspielplätze, defekte Gummibälle und Murmeln aus Glas […].«194 Diese Gummibälle sind jedoch anders als der Baseball weder Quasi-Objekte noch Sammelstücke, sondern Abfälle, liegen albern herum. Diese Albernheit von defekten Dingen wird uns erneut begegnen. Unter anderem im Anschluss an die Arbeiten von Michel Serres untersucht Bruno Latour das veränderte Verhältnis von Menschen und Dingen, das besonders durch die Existenz von Technikdingen transformiert wird.195 Dingkategorien werden erschüttert, es kommt zu Akten der Hybridisierung, zu einer Zunahme von hybriden Dingen.196 Latour rückt auch die Handlungsfähigkeit, die Akteursqualität von alten und neuen

189 Macho bezieht sich besonders auf Michel Serres und Bruno Latour, vgl. dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel. 190 Macho 2005, 738. 191 Macho bezieht sich auf Latour, vgl. Macho 2005, 738. 192 Serres 2008, 346. 193 Roßler 2008, 89, Hervorhebung dort. 194 Meckel 1989, 14. 195 Zu den Unterschieden der Konzeptionen von Serres und Latour vgl. Roßler 2008, 89f. 196 Zu hybriden Dingen vgl. Roßler 2008, 79-82.

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Dingen, ihre agency, in den Fokus.197 An Latour anknüpfend schlägt Stefan Hirschauer vor, Dinge als Partizipanten zu begreifen, wenn sie die Rolle des materiellen Akteurs von Handlungen einnehmen, »auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind.«198 Der automatische Türschließer dient Bruno Latour als Beispiel für die Vermittlungsfunktion von Dingen.199 Dient der Türschließer auf den ersten Blick dem Menschen, der Kraft und Aufmerksamkeit sparen kann, stellt er bei genauerem Hinblicken das weitreichende »Resultat einer Umverteilung von Kompetenzen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen«200 dar. So kann der Türschließer Widerstand leisten. Wegen eines automatischen Türschließers können Türen nicht oder nur schwer offengehalten werden. Sie diskriminieren, wie Latour zeigt, schwache Personen oder Personengruppen, deren Ziel nicht das sofortige Hineineilen in einen Raum ist. Latours Beispiele sind Möbelpacker und Menschen mit Gepäck.201 Die Türschließer öffnen und schließen die Tür, weil dies ihre einzige Aufgabe ist. Sie machen keine Ausnahmen, Abweichungen sind nicht vorgesehen – es sei denn, es kommt zu Defekten. Latour weist in Wir sind nie modern gewesen darauf hin, dass durch die agency solcher Dinge die Grenzen zwischen Menschen und Dingen verschwimmen können – Quasi-Objekte werden zu Quasi-Subjekten.202 Latour kann es folglich nicht darum gehen, wie Schroer formuliert, »die Dinge selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, da dies letztlich nur den modernen Fehler reproduzieren würde, so zu tun, als gäbe es Dinge wie Menschen in Reinkultur […].«203 So schreibt Latour auch von einer »Untrennbarkeit der Quasi-Objekte und Quasi-Subjekte«204 . In Bezug auf Abfälle ist auch der Mülleimer ein vermittelndes Ding, ein QuasiObjekt bzw. Quasi-Subjekt. Mit einer bestimmten Funktion versehen, erlaubt er dem Menschen das Unsichtbarmachen und Fortschaffen der Alltagsreste. Dennoch sind Störungen möglich: So kann eine Beschädigung dazu führen, dass Flüssigkeit austritt, der Eimer kann kippen und das Verborgene wieder hervorbringen. Zugleich ist der Mülleimer ein Vermittler zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen privater Entsorgung und kollektiven, spezialisierten Entsorgungsunternehmen.205 Gerade technische Artefakte sollen dabei die Entsorgung erleichtern und unsichtbar, störungsfrei gewähren. Besonders die US-amerikanische Erfindung des Abfallzerkleinerers stellt ein Beispiel für einen Bändigungsversuch durch Technik im Nahbereich des Menschen dar.206 In einer Textpassage in Kapitel 8 von Don DeLillos Roman White Noise finden wir uns mit dem Vorgang des Abfallzerkleinerns konfrontiert: »At home, Denise placed 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206

Vgl. zur Akteursqualität der Dinge Latour 1995, 71 und Latour 2009, zu den Konzeptionen Latours Schroer 2008b. Hirschauer 2004, 75. Vgl. Latour 2009, hierzu auch Schulz-Schaeffer 2008, 114-120. Latour 2009, 31. Vgl. Latour 2009, 31. Vgl. Latour 1995, 71, zu den Vermischungen von Menschlichem und Nichtmenschlichem auch 181f. Schroer 2008b, 374f. Latour 1995, 186. Vgl. Chappells/Shove 1999. Zu technischen Bändigungsversuchen größeren Ausmaßes vgl. die Überlegungen zu sogenannter ›thermischer Verwertung‹ und zum Recycling in Kapitel 2.2 und 2.4.

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a moist bag of garbage in the kitchen compactor. She started up the machine. The ram stroked downward with a dreadful wrenching sound, full of eerie feeling.«207 Die Freude an der, zumindest vordergründig, einfach und sauber erscheinenden Entsorgungshandlung dürfte nicht nur Denise zuteil sein. Elke Beyer zeichnet im Schwellenatlas der Zeitschrift Arch+ den Aufstieg dieses Müllzerkleinerers vor allem in USamerikanischen Haushalten nach, der nach dem Ersten Weltkrieg begann.208 Ziel sei vor allem gewesen, die durch Lagerung der Abfälle entstehenden Gerüche oder andere, zumindest aus menschlicher Sicht bestehende, Belästigungen wie »unbeliebte Tierarten«209 zu vermeiden, nachdem die bis dahin praktizierten Abfallentsorgungs- und -verwertungsstrategien für Haushaltsabfälle, meist Kompostierung oder Verwertung als Brennstoff, obsolet wurden. Zunächst durch Handkurbel betrieben, kam es in den Jahren 1926 und 1927 unter anderem in den USA, Frankreich und der Schweiz zu einem patentierten System, das Beyer folgendermaßen beschreibt: »Es sieht luftdicht verschließbare Sammelbehälter unter dem Küchenbecken jeder Wohnung vor, aus denen Abwasser und alle Abfälle bis zu einer bestimmten Größe bei Bedarf in zentrale Sammelstationen abgelassen werden können.«210 Das an eigene Verbrennungsanlagen bzw. Sammeltanks angeschlossene Verfahren war problematisch, es wurde 1935 abgelöst durch elektrische Abfallzerkleinerer für Spülbecken mit Namen wie Disposall [sic!] oder Atomic Disposer.211 Diese Geräte wurden angepriesen als Mittel zur Zeitersparnis und für mehr Hygiene in der Küche – und steigerten nebenbei, wie Beyer bemerkt, auch die Absätze von Küchenausstattern: Der Abfallzerkleinerer fordert eine neue Küchenausstattung ein.212 Die veralteten Küchen mussten entsorgt werden, wurden zu Abfall. Auch die heute noch verbreitete Version des Abfallzerkleinerers ist eines sicher nicht: störungsresistent. So schreibt Elke Beyer über das Potenzial der Störung in Bezug auf die Wahrnehmung dieses Schwellendings: »In den Blick rückt das aggressive Ventil zwischen Ober- und Unterwelt nur, wenn es die falsche Materie entsorgt […] oder durch Fehlfunktionen den Inhalt der Rohre wieder zurück in die Wohnung transportiert.«213 Auch in White Noise findet sich der Hinweis, dass das beruhigende Geräusch des Schredderns gegen den Widerstand der dinglichen Materialität, dieses »[w]hining metal, exploding bottles, plastic smashed flat«214 der Beweis dafür sei, dass »the machine was operating properly«215 . Der Hinweis auf eine Welt, die sich in zwei Teile, einen oben, einen unten, einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil trennt, evoziert zugleich Verbindungen zu Don DeLillos Underworld und seiner Grundfrage, die sich auch in den abfallzentrierten Über-

207 208 209 210 211 212 213

DeLillo 1985, 33. Vgl. Beyer 2009, 26. Beyer 2009, 26. Beyer 2009, 26. Vgl. Beyer 2009, 26. Vgl. Beyer 2009, 26. Beyer 2009, 26. Zur Störung und deren Bedeutung für die Dingwahrnehmung vgl. auch Roßler 2008, 88, der mit Heidegger und dessen Konzept der »Zuhandenheit« bzw. »Vorhandenheit« im Moment der Störung argumentiert. 214 DeLillo 1985, 34. 215 DeLillo 1985, 34.

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legungen Volker Grassmucks und Christian Unverzagts in Das Müll-System216 findet, das sechs Jahre vor Underworld erschien: Was sind überhaupt Ober- und Unterwelt? Wie sehr kontrollieren wir die Abfälle, die Ströme an Waren und Daten, die Technik, die wir schaffen? Wie sehr kontrollieren diese Dinge und Systeme uns? Einer allumfassenden Kontrolle, einer kompletten Bändigung verweigern sich sowohl technische Artefakte als auch Abfälle. Der neue Fokus auf die Dinge, seien es neue oder alte Dinge, erodiert Selbstverständlichkeiten. Dieser Perspektivenwechsel zeichnet auch den sogenannten material turn in den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften aus.217 So blitzen Momente der Dingwahrnehmung auf, etwa im Vorgang des Entziehens von Seiten der Dinge – wenn sie uns fremd werden, werden sie uns gerade dadurch auch vertrauter. Sie zwingen uns, uns mit ihrer Widerspenstigkeit zu befassen.218 Am Beispiel der Rosen in Stifters Nachsommer wurde gezeigt, wie hybride Dinge menschliches Handeln evozieren können. Das Erzählen über die kleinen Dinge erfordert eine Gegen-Ökonomie des Sehens, die zugleich Hierarchien in den Blick nehmen kann. Uwe C. Steiner schlägt in seinen Ausführungen zu einem Genre der Dingprosa vor, die »menschlich-dingliche[n] Allianzen und Konfrontationen«219 , die den Alltag konstituieren, stärker zu beachten. Das von Steiner konstatierte vermehrte Aufkommen von Dingen in literarischen Texten, mehr noch, von Mensch-Ding-Beziehungen, ist, wie er bemerkt, von einer Fülle der Dinge, einer Logik des Überflusses genauso motiviert wie vom Verschwinden der Dinge.220 Stifters Texte könnten so mit Steiner auch als frühe Form der Dingprosa bezeichnet werden. Die Irritationen, die Dinge auslösen können, verbinden Stifters Texte mit denen eines Autoren, der zwar später als Stifter die Transformationen der Städte und der Mensch-Ding-Beziehungen erlebte, dessen Texte sich jedoch nicht weniger von diesen Veränderungen irritiert zeigen: Franz Kafka. Kafkas kurze Erzählung Die Sorge des Hausvaters221 porträtiert ein solches, sich dem Menschen entziehendes Ding, nach Serres ein Quasi-Objekt, nach Latour ein QuasiSubjekt: Odradek.222 Odradek ist zunächst einmal ein menschennahes Ding, das unter und neben ihnen wohnt und ihnen regelmäßig begegnet. Es bzw. er ist aber zugleich menschenfern, entflieht den Zugriffen und Nutzbarmachungen seiner menschlichen Mitbewohner, in deren Dachböden, Fluren und Treppenhäusern er (oder es) haust. Wir lernen scheinbar allerhand über dieses geheimnisvolle Ding, wie die folgende detaillierte Beschreibung illustriert: 216 217 218 219

Grassmuck/Unverzagt 1991. Vgl. hierzu Bräunlein 2012. Steiner fasst das, wie bereits gezeigt, als »Widerstand im Gegenstand« (Steiner 2008, 237). Vgl. Steiner 2009, besonders 23-28, hier: 24. Zu Dingen und Fragen der Dinglichkeit in Genazinos Texten vgl. den bereits zitierten Aufsatz von Melanie Fischer (vgl. Fischer 2006). 220 Steiner 2009, 26. 221 Kafka 1994b. 222 Zahlreich sind die Überlegungen zu diesem Ding, vgl. beispielsweise Kimmich 2011, 24f., etliche der Beiträge in Lucht 2010 (der Index führt zwölf Referenzstellen im Sammelband auf, wobei einige der Referenzen mehrere Seiten umfassen, vgl. Lucht 2010, 290), Bennett 2010, 6-8 bezieht sich ebenfalls auf Odradek, Lemke 2008 verbindet die Figur des hybriden Odradek mit Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Lemke 2008, 174f.). Zu Odradek vgl. auch Kapitel 2.3 und 4.3.2 dieser Arbeit.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.223 Weiter erfahren wir, dass Odradek sprechen und lachen kann und dass dieses Lachen an das Rascheln gefallener Blätter erinnert. Aber was erfahren wir wirklich über dieses Ding? Versuche, es zu zeichnen oder auch nur die Beschreibung mit eigenen Worten zu reproduzieren, schlagen fehl. Uwe C. Steiner beschreibt die Unmöglichkeit einer Kategorisierung: Odradek ist ein hybrides, ein zwitterhaftes Gebilde, das sich unseren geläufigen ontologischen und semantischen Kategorien entzieht. Schon sein Name scheint ein Hybrid, eine Mischung aus deutschen und tschechischen Morphemen; mal erscheint es als Neutrum, mal tritt er als Maskulinum auf; als materielles, wenn auch zweckfreies unbeseeltes Gebilde kann er gar sprechen. Weder ganz Ding noch Mensch, beschämt die seltsame Existenzform Odradek den Hausvater, den er überleben und dem er sich […] entziehen wird […].224 Trotz seiner scheinbaren Zweckfreiheit hat dieses Ding vielerlei Qualitäten: Es macht sich bemerkbar, löst Verwunderung und Befremden aus, evoziert Fragen und Gefühle wie Sorgen und Grübelei. Auch, weil eine Kategorisierung nicht möglich ist. Menschen und Dinge leben trotz einer Auflösung der Grenzen zwischen beiden, das rückt Kafkas Erzählung ebenfalls ins Bewusstsein, keineswegs in einem gleichberechtigten und demokratischen Verhältnis. Das Ding, der Gegenstand, steht immer im Verhältnis zum Menschen. Selbst in Konstellationen der Dingvergessenheit sind Menschen letztlich die Instanz, die sich für oder gegen eine Entsorgung entscheidet. Odradek bringt diese Hierarchie ins Wanken und damit den sorgenden Hausvater ins Grübeln: Hat er, der Pater Familias, sich tatsächlich für ein Fortleben des Gegenstandes entschieden? Ist er noch derjenige, der über Leben und Tod des Dings entscheidet? Dass diese Entscheidungsmacht beim Menschen liegt, darin ist sich die heterogene kulturwissenschaftliche Abfallforschung einig: Ohne Mensch kein Abfall. Die Bewertung des Odradek als Abfall ist in Kafkas Erzählung noch nicht abgeschlossen. Gleichwohl drückt aber die Betonung seiner Zwecklosigkeit auch die anscheinend tief sitzenden Gefühle der Fremdheit und Distanz aus, die der Hausvater empfindet. Wenn der Ich-Erzähler, von dem wir vielleicht auch nur annehmen, dass es sich dabei um den Hausvater handelt, abschließend fragt: Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich 223 Kafka 1994b, 282f. 224 Steiner 2008, 251f.

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zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Es schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.225 Die Erzählung weist, auch durch den melancholischen Schluss, auf ein grundlegendes Charakteristikum von Dingen und ihrem Verhältnis zu Menschen hin: Die Dinge als Gegenstände widerstehen dem Menschen und werden gerade dadurch zum Erzählstoff. Dies gilt auch für Abfälle. Wenn wir uns, gerade auch über Erzählungen, den Dingen, den bewahrten, den verworfenen und denen zwischen beiden Bewegungen widmen, erfahren wir mehr über die Trennungen und Verbindungen, die über und durch diese Dinge hergestellt werden, über die »Verkettungen, […] wechselseitige Beeinflussung und das Zusammenspiel von Dingen, Menschen und Tieren«226 und damit auch mehr über Abfälle und unser Verhältnis zu ihnen.

1.3.3

Kindheit, Kinder und Abfälle

Der dritte Anfang wird ebenfalls von Christoph Meckels Plunder nahegelegt: »Erinnern Sie sich, daß vom Plunder die Rede war? Es hat etwas damit auf sich«227 heißt es auf den ersten Seiten. Die Ich-Erzählinstanz fährt fort: Ich hörte das Wort in der Kindheit und hatte es gern. Es reimte sich auf Holunder und Wunder und war der unscheinbare unter den Reimen. Aber in seinem Innern – wer weiß, was dort lebte. Vielleicht ein Kobold in Gestalt des Froschs. Das Wort schien auf ungeschickten Füßchen zu hüpfen – Plunder, Plunder.228 Generell wird in zahlreichen Betrachtungen zu Abfällen, gleich ob philosophischer, soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Art, dem Verhältnis von Kindern zum Müll besondere Beachtung geschenkt.229 Plunder und Abfälle gehören für Kinder noch zur Welt der Dinge, für die es keine Beschränkungen gibt. Hier werden noch nicht zwangsläufig und kontinuierlich, zumindest, wenn nicht Erwachsene dies einfordern, Bewahrungs- oder Trennungsentscheidungen getroffen. Kinder lernen erst, wertende Dingunterscheidungen zu treffen. Die Dinge sind für Kinder, besonders im Spiel, zunächst einmal gleichwertig – »Plunder«, »Holunder«, »Wunder«. Der, so ist zu vermuten, erwachsene Erzähler schafft diese Verbindung durch eine sprachliche Operation, einen Reim. Über die Sprache stellt er eine Verbindung her, die zunächst gekappt scheint. Die Kappung von Verbindungen am Ende der Kindheit ist bedeutsam für die Beschäftigung mit Abfällen. Eine Unterscheidung der Dinge in Abfälle und Nicht-Abfälle ist somit auch ein Akt der Bezeichnung.230 Für Kinder, so legt Plunder nahe, sind diese Verbindungen vor der Sprache einfach da. 225 226 227 228 229 230

Kafka 1994b, 284. Schroer 2008b, 374. Meckel 1989, 9. Meckel 1989, 9. So etwa Grassmuck/Unverzagt 1991, 17-19. Dies wird deutlich, wenn durch eine Kontextverschiebung aus Abfällen oder Exkrementen Kunstwerke werden, vgl. hierzu Kapitel 1.5 dieser Arbeit.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Die Passage verbindet Plunder indirekt mit einem Sammler, der uns in den nachfolgenden Kapiteln immer wieder begegnen wird: Walter Benjamin. So hat Walter Benjamin über die Abfallaffinität von Kindern geschrieben, etwa wenn er in seiner Rezension des gleichnamigen Buches von Karl Hobrecker Alte vergessene Kinderbücher zu diesem besonderen Verhältnis von Kindern zu Abfällen schreibt: Kinder sind nämlich auf besondere Art geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbare Betätigung an den Dingen vor sich geht. Unwiderstehlich fühlen sie sich vom Abfall angezogen, der sei es beim Bauen, bei Garten- oder Tischlerarbeit, beim Schneidern oder wo sonst auch immer entsteht. In diesen Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein zukehrt. Mit diesen bilden sie die Werke von Erwachsenen nicht sowohl nach als daß sie diese Rest- und Abfallstoffe in eine sprunghafte neue Beziehung zueinander setzen. Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in der großen, selbst.231 So ist es auch nicht verwunderlich, dass Kinder sich in einer gefühlsmäßigen Nähe zu Abfällen befinden, die Erwachsene allenfalls zu Erinnerungs-, Lieblings- und Sammelstücken aufweisen. In einer weiteren Passage in Benjamins Schriften werden aber auch die von Kindern zu lernenden bzw. schon gelernten Bewegungen des Reinigens, Festigens und Entzauberns angesprochen: Unordentliches Kind. – Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, macht ihm eine einzige Sammlung aus. An ihm zeigt diese Leidenschaft ihr wahres Gesicht, den strengen indianischen Blick, der in den Antiquaren, Forschern, Büchernarren nur noch getrübt und mechanisch weiterbrennt. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert; zwischen Geistern und Dingen verstreichen ihm Jahre, in denen sein Gesichtsfeld frei von Menschen bleibt. Es geht ihm wie in Träumen: es kennt nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu. Seine Nomadenjahre sind Stunden im Traumwald. Dorther schleppt es die Beute heim, um sie zu reinigen, zu festigen, zu entzaubern. Seine Schubladen müssen Zeughaus und Zoo, Kriminalmuseum und Krypta werden. ›Aufräumen‹ hieße einen Bau vernichten voll stachliger Kastanien, die Morgensterne, Stanniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklötze, die Särge, Kakteen, die Totembäume und Kupferpfennige, die Schilde sind.232 Kindliches Sammeln, Ansammeln, kommt einer Bewahrung der Dinge gleich. Statt sie zu verwerfen, transformieren die Kinder durch ihr Tun die Abfalldinge in eine andere Kategorie: Sie machen sie durch ihr Spiel zu Nicht-Abfällen. So wird zum einen die Abfallnähe von Kindern herausgestellt,233 zum anderen können Kinder auch als Beispiel für einen Entfernungsprozess von Abfällen dienen. So, wie Kinder lernen sollen, was

231 Benjamin GS III, 16f. Vgl. zu dieser Textstelle auch Kranz 2011, 58 und Böhme 2006, 134. 232 Benjamin GS IV.1, 115. Volker Grassmuck und Christian Unverzagt nehmen ebenfalls Bezug auf Walter Benjamins Text zur Abfallnähe von Kindern (vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 18f.). 233 Zu Kindern und Abfall in Heinrich Bölls Texten vgl. auch Rademann 1998, 129-131.

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abfällig ist und was bewahrenswert, was verworfen werden soll und sogar muss, werden Kinder selbst integriert in die Ordnung der Erwachsenenwelt.234 Bereits in Stifters Texten, etwa in der Erzählsammlung Bunte Steine, spielt die Integration von Kindern eine Rolle, genauer sind, wie Begemann demonstriert, Kinder zunächst »Gefährdungen ausgesetzt […], aus denen sie gerettet werden oder sich selbst retten. Dabei werden gestörte Ordnungen wiederhergestellt und die Kinder in diese Ordnung integriert bzw. reintegriert.«235 Auch Eva Geulen widmet sich »wilde[n] Kinder[n]«236 in Stifters Texten, Kinder, die im Verlauf der Erzählungen nicht selten gebändigt werden. Zum Ende der Kindheit, so die Vermutung, gehört die Anerkennung von Dingkategorien, so auch der Kategorie des Abfalls. Kinder sind in Bezug auf Abfälle auch auf andere Weise bedeutsam. Wenn in theoretischen Konzeptionen eines anderen, eines neuen Blicks auf die Dinge nämlich eine Perspektive vorgeschlagen wird, die dem kindlichen, dem wertfreien Blick ähnelt, ein Blick, der sich mit Verwunderung paart.237 Der Philosoph und Medientheoretiker Vilém Flusser beispielsweise beschreibt in Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen die Praktik, Dinge anzusehen, als »sähe man sie zum erstenmal«238 . Beim Anblicken eines Schachspiels versucht er zu vergessen, dass es sich um ein Schachspiel handelt: »Es ist eine gewaltige und fruchtbare Methode, aber sie erfordert strenge Disziplin und kann darum leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im Grunde in einem Vergessen, einem Ausklammern der Gewöhnung an das gesehene Ding, also aller Erfahrung und Kenntnis von dem Ding.«239 Vergessen, Ausklammern, Gewöhnung – dies sind Umgangsweisen mit Dingen, die auch für Abfälle gelten. Literatur kann nun, neben der bereits beschriebenen Anti-Ökonomie des Blicks auch eine Perspektive einnehmen, die Melanie Fischer mit Blick auf Texte Wilhelm Genazinos als »infantile[…] Phänomenologie«240 bezeichnet. Dieser kindliche Blick kann sich auf das Erzählen auswirken, sowohl in der Auswahl der Motive, der Formen oder auch der Erzählmodi. Vor allem das Märchen, Benjamin zieht Parallelen zwischen Märchenstoff und Material wie Stofffetzen oder Bausteinen, bietet Kindern, aber auch erkennenden Erwachsenen die Möglichkeit, Altes und Gegebenes neu zusammenzusetzen: aus Abfall wird Wert. Für Benjamin ist der Aspekt des Verwendens241 zentral – das spielende Kind kennt keine Abfälle, weil 234 Obwohl Kinder immer noch als Träger des Spielgedankens gelten, ist ihr Spiel immer auch die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben, wie Bernd Guggenberger kritisiert: »In der von rationalen Zweck- und Nutzenkalkülen durchdrungenen Kultur der Arbeitsgesellschaft ist wenig Platz fürs Spielerische, für das, was absichtsfrei einfach nur so für sich und um seiner selbst willen geschieht, ohne transzendierenden Sinnverweis« (Guggenberger 1998, 84, vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 87, Fußnote 311). 235 Begemann 2007, 72. 236 Geulen 1993, 648. 237 Vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 78f. 238 Flusser 1993, 53. 239 Flusser 1993, 53. 240 Fischer 2006, 12. Fischer bezieht sich ebenfalls auf die oben zitierte Passage Flussers (vgl. Fischer 2006, 12). Bucheli 2004 zeigt, wie auch die Praxis des genauen Blicks, genauer noch die des absichtslosen Schauens in Genazinos Texten dazu beitragen kann, Dinge vor dem Vergessen oder dem Verwerfen zu retten (vgl. Bucheli 2004, 53f.). Vgl. hierzu auch das Genazino-Kapitel dieser Arbeit, Kapitel 3.5.1. 241 Vgl. zum Aspekt des Verwendens von Abfällen die Ausführungen in Kapitel 4 dieser Arbeit.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

im Spiel alles wertvoll ist: »Ein solches Abfallprodukt ist das Märchen, das gewaltigste vielleicht, das im geistigen Leben der Menschheit sich findet: Abfall im Entstehungsund Verfallsprozeß der Sage.«242 Abfälle und Märchen verbindet in dieser Sichtweise, dass beide dazu dienen, aus diesen Reststücken Welt zu konstruieren: »Mit Märchenstoffen vermag das Kind so souverän und unbefangen zu schalten wie mit Stoffetzen und Bausteinen. In Märchenmotiven baut es seine Welt auf, verbindet wenigstens ihre Elemente.«243 Auch in Stifters Mappe meines Urgroßvaters finden Kinder Lappen und Stofffetzen und nutzen sie für ihr Spielen.244 Zugleich stellt dieses Verwenden von Resten, wie gezeigt, einen Aufwertungsprozess dar. Trotz dieser Aufwertung und einem nicht selten zu idealisierenden Blick auf das Kind und die Spiele der Kindheit245 liegt in diesem Erfahrungsmodus von Dingen das Potenzial, die Dinge unabhängig von Wertzuschreibungen zu betrachten.246 Der neue Blick auf die Dinge, der dem Kinderblick gleicht, die Anti-Ökonomie des Sehens, den literarische Texte leisten können, ebenso der verwunderte Blick auf vertraute und fremde Dinge sind für die nachfolgenden Analysen bedeutsam.

1.4

Discard Studies und Literaturwissenschaft: Unbändiges Abfall-Forschen und das (Abfall-)Wissen der Gegenwartsliteratur

Obgleich die Entstehung von immer größeren Mengen von Abfällen und deren Entsorgung zu den drängenden Themen des 20. und des noch jungen 21. Jahrhunderts gehören, war eine kulturwissenschaftlich informierte, inter- bzw. transdisziplinäre Abfallwissenschaft lange Zeit eine Leerstelle. Im Jahr 2005 schrieb Sonja Windmüller in ihrem im Sammelband des Frankfurter Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische 242 Benjamin GS III, 16. Zu dieser Textstelle vgl. auch Behrens 1994, 23f. und Kranz 2011, 58. 243 Benjamin GS III, 17. 244 Zum Lappen bzw. Stofffetzen in Stifters Mappe vgl. Schneider 2008b, 171f., generell zum Lappen vgl. auch Kapitel 2.1 dieser Arbeit. 245 Roger Behrens gibt zudem zu bedenken, dass durch neue Stoffe, neue Abfälle und neue Kontaminationen auch das Spiel der Kinder bedroht wird, sei es durch »dioxinverseuchte Böden«, auf die Kinderspielplätze gebaut würden, sei es durch radioaktiven Regen oder seit »verschiedene Kunststoff-Farben, die auch die Spielzeugwelt bunt machen, sich als […] krebserregend erwiesen haben.« (Behrens 1994, 23) Zu Kontaminationen vgl. auch Kapitel 5 dieser Arbeit. Zugleich sind Kinder heute zentrale Abfallproduzierende, vgl. hierzu die Beiträge von Lolita Nikolova zu »Children« (vgl. Nikolova 2012a) und Stacey Lynn Camp zu »Baby Products« (vgl. Camp 2012) in Zimring/Rathje 2012a und 2012b. 246 In Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte von Michael Ende, das den Einstieg in Kapitel 3 dieser Arbeit darstellt, ist es ein Kind, das abfallnah haust und die Menschen vor, wie zu zeigen ist, in exorbitantem Ausmaß abfallsteigernden Transformationen und deren Folgen – weniger Zeit und noch mehr Abfälle – zu retten vermag. Dies verleitet Gernot Böhme zu der Bewertung: »Man mag einwenden, daß diese Kritik auf der Folie der guten alten Zeit geschieht, daß die Kinderwelt als die große Alternative erscheint und schließlich daß ein Kind, eben Momo, zum Retter der Welt wird.« (Böhme 2007, 79) Endes Kritik an dem Umgang der Menschen mit der Zeit sei, wie Böhme betont, dennoch zuzustimmen (vgl. Böhme 2007, 79).

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Wahrnehmung erschienenen Beitrag zum Thema Reste, dass »das Wissen über die Dimensionen des Abfalls als Phänomen, Prinzip und Problem […] noch immer als erstaunlich gering eingeschätzt werden [muss].«247 Sie fährt fort: »So kann trotz einer gerade in jüngster Zeit steigenden Zahl einschlägiger Monographien, Sammelbände, Ausstellungsprojekte und Tagungen kaum von einem geschlossenen Forschungsfeld gesprochen werden; die Studien (disziplinär) unterschiedlicher Provenienz stehen daher eher unvermittelt nebeneinander.«248 Diese Einschätzung muss aktualisiert werden. Besonders das sich immer noch formierende Forschungsfeld der Kritischen Abfallstudien, der Discard Studies249 , hat es sich zum Ziel gemacht, die weitreichenden Verbindungen zu untersuchen, die Abfälle und Verworfenes mit sich bringen. Im Jahr 2010 zunächst als Web-Blog von Robin Nagle initiiert, betrachtet sich mittlerweile ein größer werdendes Netzwerk von Forscherinnen und Forschern diesem Forschungszweig zugehörig.250 Hier erwiesen sich die Arbeiten von Max Liboiron, eine der Hauptbeitragenden der Online-Plattform, nachfolgend als besonders relevant.251 Max Liboiron fasst, den Ausführungen Samantha MacBrides folgend,252 die Veränderungen von Abfällen seit der industriellen Moderne, genauer seit den 1950er Jahren folgendermaßen: »Any system that deals with the four aspects of modern waste – tonnage, toxicity, heterogeneity, and externalization – on a large scale will change waste infrastructure and what counts as trash.«253 Diese Prinzipien würden die Bedeutung von sich im Kleinen abspielenden Bewältigungsprozessen schmälern, gar irrelevant werden lassen: »Technological, individual, behavioral and other small-scale fixes do not address the larger processes that define and create modern waste.«254 Dieser Aussage möchte die vorliegende Arbeit widersprechen. Bereits der Einstieg über die Texte von Uwe Timm und Don DeLillo hat gezeigt: In den individuellen, kleinen Verwerfungsbewegungen finden sich die Logiken wieder, die den großen Verwerfungsbewegungen inhärent sind. Das Große und das Kleine sind in komplexen Spiegelungs- und Brechungsverhältnissen miteinander verbunden. Zugleich dürfen die Alltagsbewegungen, und darauf weisen die Discard Studies vielfach hin, die materiellen Konstellationen, die Machtbeziehungen, die sozio-ökonomischen und technischen Voraussetzungen der Mensch-Ding-Beziehungen und der Abfallentstehung nicht vergessen.255 Es soll verhindert werden, dass, wie Anselm Wagner konstatiert, es »manchmal kaum mehr möglich

247 Windmüller 2005, 234. 248 Windmüller 2005, 234. 249 Dieser Begriff lässt sich mit Abfall- bzw. Verwerfungsstudien übersetzen, zu einem Umriss des Forschungsfeldes vgl. Discard Studies About 2014, ohne Paginierung sowie weiter unten. 250 Vgl. Discard Studies Blog 2014, ohne Paginierung. 251 Vgl. Liboiron 2010, 2012a, 2012b, 2013a, 2013b. 252 Vgl. MacBride 2012a und 2012b. 253 Liboiron 2013a, 11. 254 Liboiron 2013a, 11. 255 Auf dem Discard Studies-Blog heißt es hierzu genauer: »Discard Studies is united by a critical framework that questions premises of what seems normal or given, and analyzes the wider role of society and culture, including social norms, economic systems, forms of labor, ideology, infrastructure, and power in definitions of, attitudes toward, behaviors around, and materialities of waste, broadly defined.« (Discard Studies About 2014, ohne Paginierung)

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

[ist], zwischen Abfalltheorie und der Praxis der täglichen Müllentsorgung noch einen Zusammenhang zu erkennen.«256 Abfallverbindungen herzustellen, meint somit auch das Zusammendenken unterschiedlicher Ansätze – und so folgt die vorliegende Arbeit neben Liboiron auch Abfallforscherinnen wie Sonja Windmüller, Gay Hawkins oder den abfallrelevanten Arbeiten von Susanne Hauser – die eigenen Erkenntnisse kontinuierlich mit den ideologischen, politischen und materiellen Realitäten der Abfallentsorgung parallelisierend. Zugleich ergänzt sie die Discard Studies aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. In der Beschäftigung mit der Repräsentation und Präsentation von Abfällen, von Verwerfungsbewegungen in literarischen Texten liegt ein großes Erkenntnispotenzial. So wirft dieses Unterkapitel zunächst einen kursorischen Blick auf den Forschungsstand der kultur- und literaturwissenschaftlich inspirierten Abfallforschung und stellt die für diese Arbeit relevanten Begriffe vor. Neben den Discard Studies liefern Arbeiten aus den Feldern der Kulturwissenschaften, der Garbology und solche, die dem Bereich des Ecocriticism einzuordnen sind, wichtige Impulse. Zuletzt stellt dieses Unterkapitel die Frage nach dem spezifischen Abfallwissen von literarischen Texten der Gegenwartsliteratur und fasst sie somit als Medien, wie Jochen Hörisch formuliert, »unreinen Wissens«257 auf. Unter der Prämisse eines unbändigen Abfall-Forschens greift die vorliegende Arbeit gerade auch auf randständige Forschung zurück. Als Beispiel soll hier das von Volker Grassmuck und Christian Unverzagt verfasste Werk Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme (1991) dienen, welches bereits in den Ausführungen zu MenschDing-Verhältnissen zitiert wurde.258 Dieser in Form und Perspektive ungewöhnliche Text versucht, Abfällen in ihrer Vielheit durch eine Kombination aus Fakten und Fiktion näher zu kommen. In die Betrachtungen über verschiedene Formen von Abfällen, die von philosophischen Texten flankiert werden, ist die Geschichte eines Abfallforschers eingebaut, ein »Professor an einem Institut für Abfallwissenschaft […], eine Art Müllgenie«259 , dessen Manuskripte vor der Müllwerdung bewahrt wurden und eingearbeitet wurden.260 In Grassmucks und Unverzagts Text kulminiert die Vermischung von Alltagsbeobachtungen, Statistiken, theoretisch-technischen Beiträgen zum Thema Abfälle in Deutschland und Japan und Gesetzestexten der Abfallentsorgung in eine metaphysische, apokalyptische Heraufbeschwörung des Müllinfernos. Die Zusammenstellung von Zitaten, nichtfiktionalen Texten, Alltagsbeobachtungen, Zeitungsmeldungen und apokalyptischen Beschreibungen macht Das Müll-System zu einem singulären Text, der die Grenzen der allermeisten mir vorliegenden Mülluntersuchungen sprengt. Ein Text, der jedoch auch demonstriert, dass die Erkenntnisse über Abfälle neben ihren zeitlosen Komponenten auch räumlich und zeitlich kontextualisiert werden müssen. So weist Das Müll-System, das zeigt eine aktuelle Relektüre, deutliche Alterungserscheinungen auf. Dennoch sind die großen Fragen, die dieser Text stellt – etwa nach dem Umgang mit radioaktiven Abfällen – immer noch nicht beantwortet. Dies verdeutlicht 256 257 258 259 260

Wagner 2010b, 5. Hörisch 2010, 278. Vgl. zu diesem Text auch Gehrlein 2005, 5. Grassmuck/Unverzagt 1991, 10. Vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 10.

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Abfallverbindungen

zugleich die Komplexität und Langlebigkeit einer solchen unbändigen, ungebändigten Abfallforschung.

1.4.1

Forschungsstand, Begriffe und Untersuchungsgegenstand: Abfallforschung jenseits reiner Problemlösung

Über Jahrzehnte hinweg beschränkte sich das Referenzuniversum der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Erforschung von Abfällen im Wesentlichen auf einige wenige theoretische Fixpunkte: Zwei Klassiker der kulturwissenschaftlichen Abfallforschung, Michael Thompsons Rubbish Theory (1979)261 bzw. in der deutschen Übersetzung Die Theorie des Abfalls sowie die Studie der Ethnologin Mary Douglas, Purity and Danger (1966), deutsch Reinheit und Gefährdung262 , erweisen sich seit mehreren Jahrzehnten als von erheblicher Bedeutung für die Forschung.263 Beide beschreiben die Akte des Bestätigens und Verwerfens von Dingen und zeigen, wie zugleich instabil und abhängig von Traditionen und Konventionen diese Kategorien, in den Beispielen Thompsons auch von Moden und Marktnachfragen, Ausschluss- und Aufwertungsprozesse sind.264 Wenngleich diese Arbeiten wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der individuellen und besonders auch der kollektiven Bewertungsmechanismen von Reinheit und Unreinheit, von Abfall und Wert liefern, sind sie in ihrem Fokus beschränkt: Im Fall von Douglas auf Schmutz und Reinheit, im Fall von Thompson auf verworfene Dinge. Der eher enge Abfallbegriff vermag es nicht, besonders im Fall von Thompson, die etwa durch industrielle Prozesse den Dingen eingeschriebene Abfallnähe, das komplexe Mensch-Ding-Verhältnis, das zu Abfällen führen kann oder sie gerade verhindert oder abfallnahe Materialeigenschaften zu berücksichtigen. Obgleich bisher bereits Beispiele für den Fokus der vorliegenden Arbeit geliefert wurden, ist dennoch zu klären, was unter dem zentralen Begriff der ›Abfälle‹ subsumiert wird. Eine Definition findet sich im Lemma Abfall der Brockhaus-Enzyklopädie: Rückstände, Nebenprodukte oder Altstoffe, die bei Produktion, Konsum und Energiegewinnung entstehen. Nach dem […] Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz sind Abfälle bewegl. Sachen, deren sich der Besitzer entledigen will (subjektiver A.-begriff) oder deren er sich entledigen muss, wenn ihr Zustand das Wohl der Allgemeinheit, v.a. der Umwelt, gefährden kann und ihr Gefährdungspotenzial nur durch eine ordnungsgemäße Beseitigung […] ausgeschlossen werden kann (objektiver A.-begriff).265

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Vgl. Thompson 1979, deutsch Thompson 1981, in einer Neuauflage, die teilweise Neuübersetzungen und ein neues Vorwort beinhaltet, 2003 unter dem Titel Mülltheorie erschienen (vgl. Thompson 2003a). Zu Thompson und seiner rubbish theory vgl. auch die Beiträge von Michael V. Rienti Jr. und Gordon C. Pollard, (Rienti Jr./Pollard 2012a und 2012b in Zimring/Rathje 2012b). Vgl. Douglas 1988. Auch Pye 2010 nennt in ihrem Forschungsüberblick beide Publikationen als maßgeblich (vgl. Pye 2010, 2). Fayet 2003 bietet in einer kritischen Auseinandersetzung eine Aktualisierung der jeweiligen Abfallkonzeptionen an (vgl. Fayet 2003, 45-50). Thompson widmet sich am Beispiel von sogenannten Stevensbildern der Transformation von abfallnahen Dingen zu beliebten Sammelobjekten (vgl. Thompson 1981, 29-57, hierzu auch Gehrlein 2005, 27f.). Vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 1, 52.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Diese weite Definition von Abfällen ist zentral. Insbesondere der subjektive Abfallbegriff, der Abfälle als »bewegliche Sachen, deren sich der Besitzer entledigen will« definiert, erlaubt es, die Bewertungskriterien, die Entsorgungsentscheidungen Einzelner in die Kategorie des Abfalls einzubeziehen. Falls sich beispielsweise jemand entscheidet, viele gültige Papiergeldscheine zu verwerfen, als Abfall zu betrachten und etwa zu verbrennen, wird die Transformation von Wert in Abfälle im Akt der Entsorgung tatsächlich wirksam. Im Falle einer Inflation kommt es zu einer ökonomischen, einer kollektiven Entwertung von Geld, die auch in eine Verwerfung von Geldscheinen resultieren kann. Zugleich zeigt dieser Lexikoneintrag, dass eine Stabilität des Begriffs nicht gegeben ist.266 Während, wie bereits dargelegt, die allermeiste Zeit in der Geschichte des Menschen organische Abfälle die anzahlmäßig größte Kategorie von Abfällen ausmachten, kam es, wie ebenfalls gezeigt, besonders seit Beginn der Industrialisierung zu weitreichenden Differenzierungen und neuen Abfällen. Ludolf Kuchenbuch hat für seine Stichwortgeschichte Lexikoneinträge und -verweise zum Lemma Abfall, später auch Müll, herangezogen, um die Transformationen, die Kontinuitäten und Brüche hinsichtlich der Bedeutungsdimensionen dieser Begriffe zu erfassen. War zunächst noch die religiöse und moralische Dimension des Abfallbegriffs vorherrschend, verstanden als Abfall von Gott oder einem Herrscher,267 wird in einer Begriffsverschiebung das Wort zunehmend für materielle Reste verwendet. Je näher wir an die Gegenwart kommen, desto mehr Abfälle entstehen – die wiederum ihre lexikalische Entsprechung finden. Dabei kommt es zu Entgrenzungen, aber auch grundsätzlich zu neuen Verbindungen. Diese Verbindungen spiegeln sich in immer ausführlicheren, auf immer zahlreichere Folge- und Verweisbegriffe verweisenden Einträgen.268 Sie kulminieren in einer lexikalischen »allseitige[n] Abfallgegenwart«269 , die ihre Entsprechung im Alltag der Menschen habe. Zugleich finden sich in den Lexikonartikeln ab Ende des 19. Jahrhunderts Hinweise auf Bändigungsbemühungen,270 die sich in den Einträgen zu ›Abfallbeseitigung‹ ab den 1970er Jahren in drei Hauptumgangsformen unterscheiden lassen: Entfernung, Vernichtung und Verarbeitung.271 Hier kristallisieren sich aber auch die bis heute gültigen Verweigerungen heraus, die vor allem mit radioaktivem Abfall verbunden sind: »Diese Rückstände sind ›Substanz‹, deren bisherige Beseitigungsweise eine Tendenz zur völligen Entgrenzung des AbfallRaums in sich birgt, der gesteuert werden muß […].«272 Kuchenbuchs Resümee im Jahr 1988: »[A]ls lexikalisches Stichwort ist der industrielle Abfall nicht älter als 100 Jahre, als Produktion und Konsumtion, Stadt und Land, Erde, Wasser und Luft vereinendes Unwert-Phänomen ist er sogar noch nicht älter als 50 Jahre.«273 266 Vgl. zu den Versuchen einer Begriffsbestimmung und Typologie auch die Beiträge von Robin Branson in Zimring/Rathje 2012a und 2012b (vgl. Branson 2012a und 2012b). 267 Vgl. Kuchenbuch 1988, 159, zu dieser Begriffsdimension vgl. auch Moser 2005a, 318f. 268 Vgl. Kuchenbuch 1988, 162f. 269 Kuchenbuch 1988, 168. 270 Vgl. Kuchenbuch 1988, 162. 271 Vgl. Kuchenbuch 1988, 167. 272 Kuchenbuch 1988, 167. Zu Entgrenzungen durch neue Stoffe und radioaktive Abfälle vgl. Kapitel 5 und 6. 273 Kuchenbuch 1988, 170.

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Kuchenbuch liest zugleich in den zu Anfang des 20. Jahrhunderts verfassten Lexikoneinträgen zu Abfall und Müll, beispielhaft die Lektüre des Eintrags im Meyer Lexikon aus dem Jahr 1924, den Versuch heraus, die in ihrer Quantität zunehmenden und ihrer Qualität sich verändernden Abfälle durch technische Verfahren und Geräte zu bändigen.274 Das Moment der Bändigung geht über die Wahl des richtigen, des angemessenen Begriffs hinaus. Abfälle entgleiten der Definition, wie John Scanlan einigen Konzeptualisierungsversuchen von Abfällen entgegenhält: If this outline of ›garbage‹ makes one thing clear it is that there is no determinate and singularly applicable concept of ›garbage‹. Indeed, there is no ›social theory‹ or concept of garbage at all; nor is there a readily accessible literature that lays bare the intellectual parameters for a discussion of, or investigation into, the possibility that such a concept might eventually be elaborated. In any case, the act of conceptualizing garbage actually transforms it into something else. Domesticates it.275 Historische Darstellungen der Versuche von Bändigungen und Verwaltungen, also Entsorgungspraktiken, -techniken und -systeme als Mittel der Lösung von Problemen, sind umfangreich dokumentiert. Besonders in den Städten markiert das 19. Jahrhundert so den Beginn des Ausbaus einer systematischen Abfallentsorgung.276 Diese Darstellungen fungieren als Matrix der literarischen Analysen und führen zur Frage, inwieweit sie Eingang in die Texte fanden, etwa die für die bundesdeutschen

274 Vgl. Kuchenbuch 1988, 165. 275 Scanlan 2005, 14f. 276 Aufstieg der Städte heißt immer auch Beginn des Auf- und Ausbaus von Ver- und Entsorgungssystemen, vgl. für das 19. und 20. Jahrhundert etwa die Bände 4 und 5 der von Wolfgang König herausgegebenen Technikgeschichte-Reihe (vgl. König/Weber 1990 und Braun/Kaiser 1992). Detailliert blickt auf diese Leistungen ein von Wiebke Porombka, Heinz Reif und Erhard Schütz herausgegebener Sammelband, der sich unter dem Titel Versorgung und Entsorgung der Moderne den Themen Logistik und städtische Infrastruktur mit Schwerpunkt auf den 1920er und 1930er Jahren widmet – ohne jedoch explizit auf Abfallentsorgung einzugehen (vgl. Porombka/Reif/Schütz 2011). Dies leistet im deutschsprachigen Raum die historische Abfallforschung der letzten Jahrzehnte. Den Anfang markiert Gottfried Hösel in den 1990er Jahren, der in seiner Kulturgeschichte der Städtereinigung die Entwicklung in den großen europäischen Städten systematisch und quellenreich nachzeichnet (vgl. Hösel 1990). Den infrastrukturellen Leistungen, die für die städtische Wasserversorgung, aber auch die systematische Abwasser- und Abfallentsorgung grundlegend waren, widmen sich Dieter Büker (vgl. Büker 2000) und, am Beispiel Münchens, Peter Münch (vgl. Münch 1993). Reiner Keller zeichnet die Geschichte des Abfalls und der Abfallentsorgung inklusive der diese Transformationen begleitenden Diskurse vor allem mit Blick auf Frankreich und Deutschland nach (vgl. Keller 1998, 73-95). Ab dem Jahr 2000 folgen eine ganze Reihe von Untersuchungen: Für die US-amerikanischen Großstädte – hier begannen Entwicklungen zum Teil später, dafür aber oftmals im Zeitraffer, während es im Vergleich zu Deutschland früher zur Ausprägung der Konsumgesellschaft mit all ihren Implikationen kam – vgl. die neueren Monographien von Martin V. Melosi (vgl. Melosi 2004 und, bezogen auf Abwassersysteme, Melosi 2008) und Heather Rogers (vgl. Rogers 2005). Speziell mit der Geschichte der Abfallentsorgung in Berlin beschäftigt sich der Sammelband Müll von gestern? Eine umweltgeschichtliche Erkundung in Berlin und Brandenburg (vgl. Köstering/Rüb 2003), den Blick auf New York City seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts richtet die Untersuchung von Benjamin Miller Fat of the Land. Garbage of New York. The Last Two Hundred Years (vgl. Miller 2000).

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Abfalldebatten so wichtigen Entwicklungen wie der Auf- und Ausbau von Recyclingsystemen, die Einführung des Dualen Systems oder die Diskussionen über die Nutzen und Kosten von Müllverbrennung.277 Zugleich zeigen diese Darstellungen, dass nicht Hausmüll die mengenmäßig größte Kategorie von Abfällen ausmacht, sondern vielmehr Bauschutt und andere infrastrukturelle sowie industrielle Abfälle die Hausmüllmenge vielfach übersteigen.278 Liboiron bezieht sich zwar zunächst auf diesen, wie sie es bezeichnet, Abfall-Mythos, gibt jedoch zu bedenken, dass die Grenzen zwischen industriellen Abfällen und anderen Abfallarten durchlässig seien: Wenn die materiellen, ökonomischen und historischen Kontexte von Hausmüll berücksichtigt würden, könnten auch diese Abfälle als Industrieabfälle kategorisiert werden – moderne Abfälle sind, wie Liboiron formuliert, eine »[e]conomic [s]trategy279 «.280 Zugleich führt die Diskrepanz zwischen Abfallstatistiken und Abfallursache zu der Frage: Welche Abfälle werden nicht oder kaum erzählt? Hinsichtlich welcher Konzeptionen sind aufgrund der Beschäftigung mit Abfällen Verwerfungen und Revisionen nötig? Im Rahmen der Discard Studies wird so auch die Bezeichnung dessen, was im Fokus steht, möglichst weit gefasst: »Unlike studies that take waste and trash as their primary objects of study, discard studies looks at wider systems that make waste and wasting they ways they are.«281 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis müssten, so eine der Grundüberzeugungen der Discard Studies, auch andere Mechanismen als individuelles Wegwerfverhalten in den Blick genommen werden: As its starting point, discard studies holds that waste is not produced by individuals and is not automatically disgusting, harmful, or morally offensive, but that both the materials of discards and their meanings are part of wider sociocultural-economic systems. Our task is to interrogate these systems for how waste comes to be, and our work is often to offer critical alternatives to popular and normative notions of waste.282 Die Verwendung eines offenen Abfallbegriffs, die Fokussierung von Verwerfungen, von neuen Stoffen und damit verbunden neuen Abfällen führt zur Frage: Wo beginnen? Monographien und Sammelbände zu Resten in der Moderne, besonders aus dem angloamerikanischen Raum, sind zahlreich und bilden den theoretischen Hintergrund der Analysen. Neben den bereits erwähnten Klassikern existieren etliche Sammelbände283 , daneben aber vereinzelte Monographien – beispielsweise zur Geschichte des Abfalls in New York City284 oder eine ›social history of trash‹’285 , die der ›Produktion‹ von

277 Einige der maßgeblichen Diskussionen zeichnet Keller 1998 nach. 278 Vgl. Liboiron 2013a, 9, Liboiron bezieht sich hierbei auf O’Brien 2011. 279 Der Begriff der Strategie impliziert, der Konzeption De Certeaus folgend, eine Machtposition bzw. eine Position des Überblicks (vgl. De Certeau 1988, 91 sowie Kapitel 1.2 dieser Arbeit). 280 Vgl. Liboiron 2014, ohne Paginierung. Vgl. hierzu auch Tietjen 2010, der diesen Mythos zu einer der Grundlagen seiner provokanten Recycling-Kritik macht (vgl. Tietjen 2010, 115f.). 281 Discard Studies About 2014, ohne Paginierung. 282 Discard Studies About 2014, ohne Paginierung. 283 Vgl. etwa Neville/Villeneuve 2002, Hawkins/Muecke 2003 und Knechtel 2007, in deutscher Sprache unter anderem Bodner/Sohm 2004, Becker u.a. 2005, Wagner 2012. 284 Vgl. Miller 2000. 285 Vgl. Strasser 1999.

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Hausmüll in den USA seit dem 20. Jahrhundert nachgeht, eine Landschaftsarchitektin forschte zu Müllkippen aus architektonischer Sicht286 . Jüngere Veröffentlichungen widmen sich Abfällen der Nahrungsmittelindustrie287 oder Elektromüll288 . Während E-Waste289 und Plastikmüll290 zu den neuesten Abfällen gehören, werden auch Arbeiten zu den ältesten Abfällen, Schmutz und Exkremente291 , kontinuierlich aktualisiert, etwa hinsichtlich Hygieneartikeln292 . Den Dingen folgt Annie Leonards und Ariane Conrads The Story of Stuff 293 . Während sich dieser Band wichtigen Stationen der, um die Formulierung von Igor Kopytoff aufzugreifen, »Cultural Biography of Things«294 , der Dingbiographie zwischen Produktion, Konsum, Abfallwerdung und Recycling widmet, fokussieren ebenfalls neuere Bände, wie der von Catherine Alexander und Joshua Reno herausgegebene Band Economies of Recycling295 , die globalen Verbindungen, die Abfälle herstellen. Obgleich einige der aufgeführten Texte nicht direkt in diese Untersuchung fanden, führte die Lektüre zur Entwicklung von Fragestellungen, die in den Analysen der literarischen Texte im Hauptteil verfolgt wurden. Ein Aufsatz von Gay Hawkins zu PET-Flaschen beispielsweise stellt Verbindungen her zwischen der industriellen Flaschenproduktion und den Recyclingarbeiten im vietnamesischen Hanoi.296 All diese Untersuchungen zeigen, wie sehr die Produktion und die Zirkulation von Waren mit Abfällen verbunden sind. Dabei ist die Abfallwerdung mitunter den Dingen eingeschrieben, wie Studien zur sog. geplanten Obsoleszenz zeigen.297 Jürgen Reuß und Cosima Dannoritzer führen zum Begriff der Obsoleszenz aus: »Etymologisch geht Obsoleszenz zurück auf das lateinische Wort obsolescere, das so viel bedeutet wie abnutzen, veralten, außer Gebrauch kommen. Der Begriff ›geplante Obsoleszenz‹ wird in der Wirtschaft und im Industriedesign gebraucht und bezeichnet die einem Produkt innewohnende oder eingebaute Eigenschaft, die es vorzeitig altern lässt oder gar unbenutzbar macht.«298

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Vgl. Engler 2004. Vgl. Stuart 2009. Vgl. Slades 2009. Vgl. hierzu etwa zu Digital Rubbish. A Natural History of Electronics von Jennifer Gabrys (Gabrys 2011). Moore 2011. Zu diesen alten Abfällen vgl. beispielsweise den Eintrag von Amy Zhang in Zimring/Rathje 2012a zu Human Waste, der auf die soziale Stigmatisierung von Körperabfällen eingeht (vgl. Zhang 2012, 400) sowie die Arbeit von Susan Signe Morrison, Excrement in the late Middle Ages: sacred filth and Chaucer’s fecopoetics, die mit unter anderem Foucault und Elias nach der Rolle von Körperabfällen in mittelalterlichen Texten fragt (vgl. Morrison 2008). Einen Versuch, eine Kulturgeschichte der Exkremente zu liefern, stellt Florian Werners Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße (vgl. Werner 2011) dar. Vgl. etwa die Beiträge zu Babywindeln (vgl. Roberts 2012), das Windelkapitel in Rathje/Cullen 1994 (183-200). Leonard/Conrad 2011. Kopytoff 1986, 64. Alexander/Reno 2012. Zum Recycling vgl. ebenfalls den Band Rohstoffquelle Abfall. Wie aus Müll Produkte von morgen werden (oekom e. V. 2012). Vgl. zum Aufsatz Hawkinsʼ über die globalen Verbindungen der PET-Flaschen Kapitel 2.4 dieser Arbeit. Vgl. Reuß/Dannoritzer 2013. Reuß/Dannoritzer 2013, 10.

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Während dieser Überblick verdeutlicht, dass die Verbindungen, die über und durch Abfälle entstehen, globale Dimensionen aufweisen, ist die herangezogene Forschung weitestgehend eurozentrisch bzw. auf die USA und Australien bezogen.299 Eine Erweiterung des Blicks hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, wäre jedoch überaus lohnend. Eine der zentralen Publikationen der letzten Jahre, die wie Underworld in Fokus und Umfang epische Ausmaße annehmende Encyclopedia of Consumption and Waste. The Social Science of Garbage300 , widmet sich Abfällen in ihrer Vielheit und Vielgestalt. Zugleich werden neben historischen Transformationen und regionalen Unterschieden auch Produktionsprozesse sowie die Entsorgungswirtschaft und deren Infrastrukturen fokussiert. Der Band bestätigt den Konnex von Konsumgesellschaft und Abfällen oder, wie Joshua Goldstein in seinem Überblickstext zu Abfällen im Oxford Handbook of The History of Consumption formuliert: »[I]f Consumption is King, then Trash is Queen.«301 Wie lassen sich nun die Fragestellungen, die unter dem Überbegriff Discard Studies diskutiert werden, auf literaturwissenschaftliche Analysen übertragen bzw. mit ihnen zusammendenken? Bezüglich eines Nachdenkens über Verworfenes und Verwerfungen in literarischen Texten lässt sich trotz wichtiger Einzelstudien feststellen, dass gerade auch die literaturwissenschaftliche Abfallforschung zur Zeit noch immer ein Desiderat darstellt: Neben motivgeschichtlich motivierten Untersuchungen zu geringen Dingen in der Literatur302 gibt es vereinzelte Monographien zu Abfall und Abfälligkeit im Werk Heinrich Bölls303 , zu Abfall als Motiv und Metapher in US-amerikanischen Romanen und Kunst seit 1950304 und Aufsätze zu einzelnen Werken, hier besonders zahlreiche Publikationen zu Don DeLillos Underworld.305 Verworfene und vergessene Dinge in englischsprachigen literarischen Texten des 18. Jahrhunderts betrachtet Sophie Gee im Rahmen ihrer Studie Making Waste. Leftovers and the Eighteenth-Century Imagination306 . Auch deutschsprachige literarische Texte werden mit dem Blick auf Abfälle und Reste untersucht. So fokussieren die Beiträge im Sammelband Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre307 Verworfenes in der frühen Popliteratur. Eine kulturwissenschaftlich inspirierte Literaturwissenschaft, die sich Abfällen umfassend widmet, stellt jedoch immer noch eine Ausnahme dar. So verfasst Christian Moser seinen im Jahr 2005 publizierten Aufsatz zu Abfällen in deutsch- und englischsprachigen literarischen Texten, er analysiert unter anderem Texte von Kafka, Goethe und Dickens, mit dem Vorsatz, »Prolegomena zu einer literarischen Anthropologie des

299 Vgl. zu dieser Perspektive auch Goldstein 2013, 337 – Goldstein beginnt seine Überlegungen allerdings mit einem Blick auf China und den dortigen Recyclingmarkt (vgl. Goldstein 2013, 326f.) und schlägt eine Erweiterung des Forschungsfokus auf nicht-westliche Länder vor, die koloniale Machtbeziehungen mitdenken müsse (vgl. Goldstein 2013, 338). 300 Vgl. Zimring/Rathje 2012a und 2012b. 301 Goldstein 2013, 326. 302 Vgl. Eykman 1999. 303 Vgl. Rademann 1998. 304 Vgl. Ostertag 1998. 305 Vgl. hierzu besonders die bereits zitierten Studien von Apitzsch (vgl. Apitzsch 2012) und Zapf (vgl. Zapf 2002). 306 Gee 2010. 307 Linck/Mattenklott 2006.

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Abfalls«308 zu liefern. Der Titel behält seine Gültigkeit: Vorbemerkungen sind gefallen, nun gilt es für nachfolgende Arbeiten, sich Abfällen und Verwerfungsbewegungen in ihrer Komplexität zu nähern. Zu Beginn des Unterkapitels wurde die ungebändigte Abfallforschung angesprochen. Auch hier lernte diese Arbeit von den literarischen Texten, die in ihrem Zentrum stehen. Die unbändige Neugier, wie sich Erzähltexte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dem Verworfenen, minimalen Bewegungen des Verwerfens, dem Scheitern und der Abfallnähe bestimmter Dinge widmen, stellt die Grundlagen der nachfolgenden Lektüren dar.

1.4.2

Impulse aus Kulturwissenschaften, Garbology und Ecocriticism

In dieser Fokussierung nicht nur auf das Resultat von Verwerfungsprozessen, die sichtbaren und wenig sichtbaren Abfälle, folgt diese Untersuchung Impulsen aus Kulturwissenschaften, Garbology und Ecocriticism. Hartmut Böhme nutzt das Beispiel einer Baustelle, die einer seiner Studierenden als Thema einer Seminararbeit vorschlägt, um an diesem Gegenstand grundlegende Aspekte kulturwissenschaftlicher Forschung zu diskutieren. Zunächst einmal unterscheidet sich die Baustelle grundlegend etwa vom Gegenstand der Literaturwissenschaften: »Es handelt sich hierbei nicht um einen Text.«309 Zugleich müsse die kulturwissenschaftliche Forschung, wie Böhme sie versteht, häufig mit Leerstellen arbeiten und so die Entdeckung von Forschungsobjekten beinhalten – denn in »keiner Wissenschaft findet man Versuche zu bestimmen, was überhaupt eine ›Baustelle‹ ausmacht oder wie sie historisch wahrgenommen wurde.«310 Die Kulturwissenschaft finde zugleich keine »›unbesetzten‹ Gegenstände«311 , sondern, wie die Baustelle oder wie etwa Müllverbrennungsanlagen oder kommunale Abfallentsorgung, Beispiele für »komplexe ›Verschaltungen‹ unterschiedlicher sozialer, technischer, organisatorischer, kultureller, symbolischer Praktiken.«312 Der Komplexität von Mensch-Ding-Konstellationen, von Assoziationen und Praktiken, die sich in der Baustelle offenbart, widmet sich auch Jane Bennett in ihrer Studie Vibrant Matter: A Political Ecology of Things. Bennetts Ausführungen zeigen, wie neue Stoffe und neue Konstellationen ein neues Nachdenken über das Verhältnis von Menschen und Dingen, ihre Beziehungen, Verbindungen und Trennungen erfordern.313 So nähert sich Bennett, den Konzeptionen Bruno Latours folgend, Phänomenen wie dem gigantischen Stromausfall, der im Jahr 2003 in den USA über 50 Millionen Haushalte betraf.314 Zu diesem Vorfall, an dem eine, wie Bennett mit Latour bezeichnet, Assemblage von Menschen, Technik – das schwer zu definierende Paket, das zum Resultat Elektrizität führt – und Infrastrukturen beteiligt war, führten diverse machtpolitische

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Moser 2005a. Böhme 1998, 482. Böhme 1998, 482. Böhme 1998, 484. Böhme 1998, 484. Vgl. hierzu auch die Kapitel 5 dieser Arbeit. Vgl. Bennett 2010, 21.

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Entscheidungen, Störungen und Verfehlungen von menschlichen und dinglichen Akteuren und weitere Komponenten, ohne deren Zusammenspiel es nicht zu diesem historischen ›blackout‹ gekommen wäre.315 Auch für die in dieser Arbeit analysierten literarischen Texte sind Mensch-DingAssemblagen bedeutsam, auf deren Grundlage sich etwa vertraute, daher unsichtbar gewordene kulturelle Praktiken des Entsorgens und Vergessens konstituieren. Evelyn Grills Roman Der Sammler 316 etwa hätte ohne kulturelle Praktiken und technisch-infrastrukturelle Assemblagen wie dem städtischen Sperrmüll oder einem Vorhandensein öffentlicher und frei zugänglicher Mülltonnen nicht in dieser Form geschrieben werden können: Andere Dinge, andere Praktiken, andere Infrastrukturen hätten zu anderen Geschichten geführt. Eine Sichtbarmachung dieser wenig reflektierten und weitestgehend automatisierten Entsorgungspraktiken und -arrangements, die meist nur in Momenten der Störung sichtbar werden, ist somit ebenfalls eines der Ziele. So wurden für die Kapitel des Hauptteils dieser Arbeit in den Kulturwissenschaften zu verortende Untersuchungen zur Geschichte des Geruchs317 , von Kunststoffen318 , eine von Böhme herausgegebene Essaysammlung zur Kulturgeschichte des Wassers319 oder eine Studie zur Nutzung von Prothesen320 herangezogen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Chance der Kulturwissenschaft liege nach Hartmut Böhme gerade darin, sich diesen komplexen Systemen »erfinderisch und sorgsam zugleich, detektivisch fahndend und spekulativ mutig, mikrologisch und theoretisch, analytisch und essayistisch, ihren Gegenständen dienend und vorsichtig anspruchsvoll, streng und obsessionell«321 zu widmen. Die, um mit Böhme zu formulieren, »Faszinationsgeschichte«322 von Baustellen hat viel mit der von Abfällen gemeinsam. Beide sehen sich ebenfalls negativen Bewertungen ausgesetzt,323 weil sie als Störung empfunden werden, als Unterbrechung von Gewohnheiten oder Belästigungen. Und schließlich sind sie, wie Zygmunt Bauman feststellt, auch im Alltag miteinander verbunden: »Wo Planung ist, gibt es auch Abfall. Kein Haus ist wirklich fertig, solange die Baustelle nicht von unerwünschten Überresten gereinigt ist.«324 Weitere Impulse liefert die Verbindung von Archäologie und Abfallwissenschaft, genauer: Die Archäologie der Abfälle, die Garbology.325 Mitautor des Aufsatzes The Perfume 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325

Vgl. Bennett 2010, 24-28. Vgl. zu diesem Roman die ausführliche Analyse in Kapitel 4.4. Vgl. Corbin 2005. Vgl. Meikle 1995. Vgl. Böhme 1988. Vgl. Harrasser 2013. Böhme 1998, 485. Böhme 1998, 483, Hervorhebung dort. Vgl. zu den negativen Einstellungen gegenüber Baustellen Böhme 1998, 483. Bauman 2005b, 46. Shanks u.a. 2004. Einen Überblick zu Geschichte und Fokus des Garbage Projects bietet Imamichi im entsprechenden Eintrag in der Encyclopedia of Consumption and Waste (Imamichi 2012). Hintergründe zu Garbology liefert der Artikel von Abhijit Roy im selben Band (vgl. Roy 2012) sowie in den Notizen zu den Herausgebern der Encyclopedia of Consumption and Waste – neben einer kurzen Geschichte des Garbage Projects findet sich der Hinweis, dass der Neologismus Garbology nun im Oxford English Dictionary verzeichnet sei (vgl. Zimring/Rathje 2012a, xviii). Ostertag 1998 nutzt die-

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of Garbage: Modernity and the Archaeological ist der Anthropologe William Rathje. Rathje initiierte 1973 an der University of Arizona das Garbage Project.326 Im Werk Müll. Eine archäologische Reise durch die Welt des Abfalls (im Original: Rubbish! The Archaeology of Garbage327 ) werden die Ergebnisse dieses archäologisch inspirierten Wühlens auf und in Mülldeponien vorgestellt.328 In The Perfume of Garbage zeichnen Shanks und seine Mitautoren die vielfältigen Verbindungen zwischen der Disziplin der Archäologie und Abfällen nach. Eine sei offensichtlich: Die Archäologie arbeite mit Abfällen, mit meist fragmentierten materiellen Überresten.329 Mit der Baustelle gemeinsam hat diese archäologische Arbeit die Bewegungen des, mitunter kontrollierten, mitunter auch auf Überraschungen stoßenden, Bohrens, Ausgrabens, Wühlens.330 Abfall fungiert als Spur, denn, wie eine Grundüberzeugung der Garbology lautet: »Müll lügt nicht…«331 Während die materielle Wahrheit auf der Müllkippe liegt, sind Abfälle nur das Resultat einer Kette von Entscheidungen und Handlungen. So müssen Verbindungen und Kontexte rekonstruiert werden. Im Zuge der archäologischen Arbeit finden Vermittlungsbewegungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart statt. Aus der Sicht der Gegenwart werden Fragen nach Wert konstruiert – was ist bewahrenswert und was erinnerungswürdig?332 Was sollte, um mit Fayet zu formulieren, aus der Kategorie des Wertlosen in die des Wertvollen verschoben werden? Die Archäologie widme sich den Beziehungen, die auch bei der Beschäftigung mit Abfällen greifen: »[G]arbage is a matter of relationships negotiated between hygiene and disease, matter in place and matter displaced, what is to be kept and cherished for the future, what is to be discarded on the midden of history.«333 Die Arbeiten Rathjes liefern, über seinen Tod im Jahr 2012 hinaus, der kulturwissenschaftlich inspirierten Abfallforschung wichtige Impulse für die Beschäftigung mit der Materialität und Lesbarkeit von Abfällen.334 Zusammen mit Carl A. Zimring war Rathje zudem Herausgeber der bereits zitierten zweibändigen Encyclopedia of Consumption and Waste.335 Eine andere Perspektive auf Abfälle liefern Arbeiten aus dem Bereich des Ecocriticism bzw. der Ökokritik, die eine ökologisch zentrierte Lesart von literarischen Texten anbieten. Im deutschsprachigen Raum zählen die Arbeiten von Hubert Zapf zu diesem,

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se Archäologie des Abfalls als Hintergrund ihrer Überlegungen zu Müll als Motiv und Metapher in US-amerikanischer Kunst und Literatur (vgl. Ostertag 1998, 108-118). Vgl. Rathje/Murphy 1994. Vgl. Rathje/Murphy 2001. Zur Arbeitsweise vgl. Rathje/Murphy 2001, 101-135. Vgl. Shanks u.a. 2004, 72. Zum Aspekt des Bohrens vgl. auch die Ausführungen zu Walter Benjamin und zu Archäologie in Kapitel 4, besonders 4.3, dieser Arbeit, zur Spurenfunktion von Abfällen Kapitel 3.5.3 und ebenfalls 4. Rathje/Cullen 1994, [Außenumschlag hinten, ohne Paginierung). Zum Aspekt von Abfall als Spur, als materielle Konfiguration von Erinnerung, als »History/Memory« vgl. Bullock 2012 und Assmann 1996. Vgl. Shanks u.a. 2004, 72. Shanks u.a. 2004, 80. So werden Rathjes Arbeiten etwa in der Studie von Robin Nagle als wichtiger Bezugspunkt genannt. Nagle widmet sich in Picking Up: On the Streets and Behind the Trucks with the Sanitation Workers of New York City der täglichen Entsorgungsarbeit in New York City (vgl. Nagle 2013, 267). Zimring/Rathje 2012a und 2012b.

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allerdings sehr disparaten Forschungsfeld. Zapf widmet sich in seiner Lektüre, etwa von Don DeLillos Underworld, den Analogien zwischen literarischen Texten und ökologischen Strukturen.336 Alexander Starre zeichnet mit seinem Forschungsüberblick einen Umriss der Forschungsrichtung nach. Er zeigt, wie seit Anfang der 1990er Jahre sich das Forschungsfeld zunächst in den USA etabliert,337 wo sich verstärkt Studien der Frage nach dem Verhältnis des Menschen und seiner Umwelt widmen. Grundsätzlich ist der Mensch, so eine Annahme des Ecocriticism, nicht zentraler, sondern lediglich ein Akteur in einem komplexen Ökosystem. Während eine Strömung der durch Ecocriticism inspirierten Literaturwissenschaft sich auf Naturerleben und Naturschreiben konzentriert,338 gilt als ein weiteres Verfahren ein Dialog mit den Naturwissenschaften. Gemein ist vielen der unter dem Paradigma des Ecocriticism subsumierten Arbeiten einerseits ein Interesse an der Auflösung von Dichotomien und binären Oppositionen (Natur-Kultur, künstlich-natürlich), zugleich aber auch die Anerkennung von Ökosystemen, die vordiskursive, vormenschliche Realität seien.339 Dass der Mensch zugleich der maßgebliche Akteur in der Zerstörung dieser Ökosysteme ist, steht ebenfalls im Fokus. So bieten sich auch für die bereits in den vorausgegangenen Teilkapiteln analysierten Texte ökokritische Lesarten an. Ausgehend von den Texten Stifters widmet sich Barbara Thums der Rosenzucht auf dem Anwesen des Freiherrn von Risach. Weiter oben wurden diese Rosen mit Thomas Macho, der Serres und Latour folgt, als QuasiObjekte und als Hybriden bezeichnet. Thums arbeitet heraus, wie Pflanzenabfälle als Kompost zur Pflege der zukünftigen Rosengenerationen dienen und als »ökologisch kluges Recycling-System«340 fungieren. Zugleich lässt die Konzeption der Rosen als Hybriden, die Macho vorschlägt, die Frage danach aufkommen, was Kultur, was Natur ist und wo die Trennlinien verlaufen. Analog zu den Fragen, die Shanks und seine Kollegen hinsichtlich der archäologisch motivierten Wühlarbeit in den materiellen Resten der Vergangenheit formuliert haben, stellt sich auch für die Natur, etwa in Hinblick auf Artenvielfalt und Landschaften, die Frage: Was ist bewahrenswert? Susanne Hauser fasst die Aushandlung und Bestimmung von Natur als fundamentalen Akt auf, in dem Machtpositionen und Werturteile wirkten: So gebe dieser Akt der Konstituierung Antworten zur Produktion von Wissen […], zu Lebensformen und ihren stofflichen und nicht-stofflichen Grundlagen, zu Macht und Herrschaft, zur Ökonomie, zur Geschlechtlichkeit, zu politischen Zielen und Werten, zu ethischen Positionen, gesellschaftlichen und individuellen Orientierungen und Visionen, zu Angst und Bedrohtheit, zu Körperlichkeit und Sinnlichkeit, zu Spiritualität, zu Schönheit.341 Die abfallferne, ohne den Menschen abfallfreie Natur, wie und durch wen auch immer sie konstruiert wird, bleibt vielfach die Matrix und der Gegenentwurf für jegliche Be336 Vgl. Zapf 2002, zu Underworld 181-212. 337 Vgl. Starre 2010, 16f. Der Begriff selbst stammt, wie Starre zeigt, aus den 1970er Jahren und wurde durch einen Aufsatz William Ruckerts geprägt (vgl. Starre 2010, 17). 338 Vgl. hierzu Starre 2010, 22-24. 339 Vgl. hierzu Starre 2010, 21. 340 Thums 2009, 85. Zu Stifter und Ökologie vgl. auch Agazzi 2008. 341 Hauser 2001, 199.

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schäftigung mit Abfällen und Verworfenem. Zugleich greifen im Zuge ihrer Konstituierung ähnliche Aushandlungs- und Bestimmungsakte wie bei der Bestimmung dessen, was Abfälle sind und was nicht. Die Auflösung von Dichotomien, aber auch die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit von Stoffen sowie der Blick auf Kunststoffe und deren Folgen für die Umwelt bzw. Umwelten stehen im Mittelpunkt von Kapitel 5 dieser Arbeit. Noch einmal: Ecocriticism fokussiert gesellschaftliche Verhältnisse bzw. deren Einflüsse auf die Entstehung von Abfällen sowie den Konnex von Abfällen, Ökonomie und Ökologie. Dieser Blickwinkel eröffnet neue Facetten auch ausgiebig rezipierter Texte und eröffnet zugleich Möglichkeiten für Aktualisierungen. Catriona Sandilands bietet so beispielsweise eine ökokritische Lesart von Walter Benjamins342 Passagenarbeit 343 an. Ihre Lektüre analysiert Benjamins Beschäftigung mit dem Verworfenen und aktualisiert die Passagenarbeit, indem sie in ihr die mögliche Grundlage einer Kritik aktueller Versuche erkennt, die Bereiche der Ökonomie und der Ökologie zu versöhnen: »[T]his incorporation of the natural world into the bourgeois narrative of progress via green technologies and nature documentaries serves only to continue the barbarism of the present.«344 Der Forschungszweig des Material Ecocriticism345 nimmt stärker Dinge und Stoffe in den Blick. Während die ökokritischen Arbeiten von Ursula K. Heise Kontamination in literarischen Texten, unter anderem Don DeLillos, betrachten,346 versuchen andere Arbeiten an den material turn der Geisteswissenschaften anzuknüpfen und unter anderem Plastikabfälle im Meer zum Anlass eines Nachdenkens über neue Verbindungen zu nehmen: »What is at stake in the ›material turn‹ is the search for new conceptual models apt to theorize the connections between matter and agency on the one side, and the intertwining of bodies, natures, and meanings on the other side. These meanings can be social, political, cultural, symbolic, or (as biosemioticians maintain) ›natural‹, namely, connected to the way living matter organizes itself in auto-regulated patterns.«347 So führt Serenella Iovino am Beispiel des Ökosystems Ozean die weitreichenden Verbindungen aus, die sich herstellen lassen und die auch Geschichten miteinschließen: Material ecocriticism considers the ocean as a porous body, a congealing of agencies and representations, of capital flows, life forms, »quasiobjects,« and—also important

342 Eine ausführliche Beschäftigung mit Walter Benjamin und vor allem auch seiner Passagenarbeit findet sich in Kapitel 4. 343 In der vorliegenden Arbeit wird, eingehend auf eine Forderung Irving Wohlfarths, die von Benjamin selbst gewählte Bezeichnung ›Passagenarbeit‹ verwendet (im Folgenden der Lesbarkeit wegen wie andere Titel kursiviert) im Kontrast zu dem vom Herausgeber der Gesammelten Schriften Benjamins, Rolf Tiedemann, verwendeten Titel Das Passagen-Werk, der einen nicht vorhanden Werkbegriff impliziert (vgl. Wohlfarth 2008, 27); Isabel Kranz bezeichnet diese Differenzierung mittlerweile als »Gemeinplatz der Forschungsliteratur zu Benjamin« (Kranz 2011, 28, Fußnote 4). 344 Sandilands 2011, 36. Zum Versöhnungsgedanken vgl. auch Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 345 Einen Versuch einer Bestimmung legen Serenella Iovino und Serpil Oppermann im Rahmen ihres Aufsatzes Theorizing Material Ecocriticism: A Diptych vor, der in Interdisciplinary Studies in Literature and Environment erschien (vgl. Iovino/Oppermann 2012). 346 Vgl. Heise 2002. Zu Kontaminationen vgl. auch Kapitel 5 dieser Arbeit. 347 Iovino 2012, 450.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

in a Mediterranean perspective—of geopolitical forces, such as migration fluxes, or environmental phenomena, such as pollution and climate changes. Interweaving stories that navigate both above and below the water surface, the agencies at work in this entanglement of bodies and their scientific–cultural–economic–political–environmental translations are at once material and symbolic.348 Benjamins Passagenarbeit oder ein Schreiben über Plastikabfälle im Ozean als Teil der Discard Studies zu verstehen, bedeutet, die Verbindungen von Abfällen und Archäologie, die Rolle von Schichtungen in Zeit und Raum zu fassen sowie das Potenzial von Auflösungen scheinbar stabiler Kategorien zu erkennen. Zugleich zeigt eine Beschäftigung mit Abfällen, die über den Versuch einer Lösung von Entsorgungs-›Problemen‹ hinausgeht, dass der Blick ausschließlich auf die Abfälle, die Resultate von Wegwerfhandlungen, nicht genügt. Er blendet die weitreichenden Transformationen, die zu einer neuen Quantität und Qualität von Verwerfungen führen, blendet die Entscheidungen und Konstellationen aus, die diesem Resultat vorausgehen. Dieser isolierte Blick löscht also die Vorgeschichte und die Verbindungen von Abfällen. Dietmar Schmidt bezeichnet den Umstand, dass die Verbindungen dennoch bestehen, als das »Geschichtliche des Abfalls«349 , der stets die Fragen nach Herkunft und Zukunft von Abfällen einschließe: »Wo kommt der Abfall her? Wo soll der Abfall hin?«350 Diese historische Dimension von Abfällen umfasse dabei zwei wichtige Komponenten, zum einen die »marginale Geschichte der jeweils ›abgefallenen‹ Dinge oder Materien, die sich auf deren Herkunft und deren Fortkommen bezieht und die mit der Beseitigung des Abfalls selbst zu einem Ende gelangt und erlischt.«351 Zum anderen könne als das Geschichtliche des Abfalls der Umstand gelesen werden, dass die Kategorie Abfall überhaupt existiert, dass bestimmte Positionen und Entscheidungen zu, zwar nicht immer stabilen, doch gemeinhin Konventionen entsprechenden Verwerfungsgeboten führen. Nicht Abfälle als Problem zu beschreiben und Lösungen zu finden, sondern herauszuarbeiten, wie Kategorien herauszufordern sind und von literarischen Texten herausgefordert werden, ist somit auch ein Anliegen.

1.4.3

Das (Abfall-)Wissen der Gegenwartsliteratur: Anlage, Korpus und Aufbau der Arbeit

Bisher wurde bezüglich eines Erzählens über Abfälle, über Verworfenes und Verwerfungen herausgearbeitet, wie erzählerisch Trennungen überwunden oder bestätigt werden, wie ein großes und ein kleines Erzählen vom Rand sich Abfällen nähert, ohne sie aufzulösen oder zu transformieren. Am Beispiel der Texte Stifters wurde die AntiÖkonomie des Sehens illustriert, die Literatur auszeichnen kann. Wolfgang Kaschuba liest, wie gezeigt, fiktionale und nicht-fiktionale Texte vor dem Hintergrund weitreichender Neuordnungen von Raum- und Zeiterfahrungen und damit korrespondierendem Erleben. Literarische Texte leisten, so die These Kaschubas, einen Beitrag zur Ge348 349 350 351

Iovino 2012, 457. Schmidt 2003, 188. Schmidt 2003, 188. Schmidt 2003, 188.

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wöhnung an diese Neuerungen und beeinflussen zugleich als Teil kollektiver Symbolsysteme den Alltag. Wie gestaltet sich nun das Wissen über Abfälle, von Verwerfungen und Verworfenem in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur? Weiterführend sind hinsichtlich der Frage nach dem Abfallwissen von literarischen Texten die Überlegungen von Joseph Vogl. Dieser fasst besonders in seiner Studie Kalkül und Leidenschaft literarische Texte als Bestandteil von Wissensordnungen auf. Am Bereich des Ökonomischen demonstriert Vogl, wie seine Untersuchungsgegenstände in der Form von »Traktaten, Ratgebern, Wochenzeitschriften und Handbüchern, […] fiktiven Briefen und Dialogen, in philosophischen Erzählungen und Utopien«352 einen anderen Zugang zum Verständnis des Ökonomischen liefern als beispielsweise ökonomische Theorien. Sein Vorgehen habe nicht zur Absicht, wie Vogl betont, »die Unterschiede zwischen Dichtung und Wissenschaft, Kenntnissen und Fiktionen zu nivellieren; und ebenso wenig, ein stabiles und entschiedenes Verhältnis von Wissenschaft, Wissen und Literatur zu unterstellen.«353 Gerade ein literarischer Text sei »Teil von Wissensordnungen, sofern er die Grenzen von Sichtbarem und Unsichtbarem, Aussagbarem und Nicht-Aussagbarem fortsetzt, bestätigt, korrigiert oder verrückt.«354 Mit Blick auf Abfälle lässt sich, Vogl und den weiter oben diskutierten Ausführungen Kaschubas folgend, fragen: Welche Verwerfungsbewegungen finden sich in literarischen Texten? Welche verworfenen Dinge, welche abfallnahen Stoffe finden sich in ihnen versammelt? Zugleich können literarische Texte ansetzen, bevor Abfälle entstehen, können sich den Bedingungen annehmen, die Abfälle produzieren, können die sozioökonomischen Implikationen, Machtverhältnisse und globalen Verbindungen, die über und durch Abfälle entstehen, in den Blick nehmen. Dabei wird die Frage nach dem Standpunkt relevant: Wie und in welchen Konstellationen finden sich Abfälle in literarischen Texten? Welche Figuren sind abfallwahrnehmend, welche abfallerzeugend, welche abfallverhindernd? Welche Rolle spielen Erzählperspektive oder die Ausgestaltung von Zeit und Raum im Erzählen über Verworfenes und Verwerfungen? Bilden literarische Texte die in den kulturwissenschaftlich und abfallhistorisch angelegten Passagen dieser Arbeit erarbeiteten, vorgestellten und diskutierten Erkenntnisse ab, kommentieren sie diese oder schaffen sie gar neue Räume und Zeiten des Abfalls, Möglichkeiten für alternative Betrachtungsweisen? Die Frage, die sich anschließt, nimmt die Art der Abfalldarstellung genauer in den Blick. Wie wird Abfall präsentiert? Durch ordnende und, wie ich es nennen möchte, säubernde Beschreibungen, durch facettenreiche Darstellungen, etwa unter Einbezug der Affekte, die Abfälle auslösen können, durch unstrukturierte Auflistungen? Wird pauschalisiert oder zwischen unterschiedlichen Abfällen unterschieden? Wurden Arten der Beschreibung von Abfall und des Sprechens über Abfall gefunden, die Abfällen gerecht werden? Wie sehen diese aus? Ist so etwas überhaupt möglich? Hier werden auch Äußerungen der Autorinnen und Autoren selbst, etwa im Rahmen von Poetikvorlesungen, miteinbezogen, sofern sie die Frage erhellen, warum und wie Abfälle, wie Entsorgungspraktiken und Entsorgungskonventionen strukturierend für das Erzählen über diese Abfälle sein können.

352 Vogl 2002, 14. 353 Vogl 2002, 14. 354 Vogl 2002, 15.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Literarische Texte können, davon zeugen bereits die in dieser Einleitung konsultierten Werke, ein Wissen über Abfälle, über Verworfenes und Verwerfungen bereitstellen, das sich von anderen Wissensbeständen grundlegend unterscheiden kann. Ebenso hat das sich in literarischen Texten mitunter findende Wissen über Abfälle einen anderen Zweck als etwa naturwissenschaftliche Erkenntnisse. In seinen Ausführungen zu Tschernobyl, generell zu den Risiken der Kernkraft formuliert Kai Lars Fischer: »Sie [die Literaturwissenschaft, CHG] hat für die Lösung des Dilemmas Pro oder Contra Kernenergie keine Ansätze zu bieten. Was sie hingegen beobachten kann, ist, in welcher Weise ein historisches Ereignis wie die Katastrophe von Tschernobyl Eingang in literarische Texte findet.«355 So bieten die diskutierten Geschichten über das Verworfene, sei es ein verschmutztes Kissen, eine Mülltüte mit Küchenabfällen oder Körpersekrete eines nicht: Konkrete Angebote, wie den wachsenden Quantitäten und besorgniserregenden Qualitäten alter und neuer Abfälle seit der Industrialisierung, genauer seit den Zeiten des Massenkonsums, begegnet werden soll. Oder doch? Jochen Hörisch stellt die These auf, dass literarische Texte durchaus eine Stimme in der Diskussion sein können – besonders, wenn literaturwissenschaftliche Arbeiten das Potenzial von literarischen Texten, ihre Möglichkeit, Abwegiges und auch Abfälliges durchzuspielen, herausarbeiten: »Literatur hat, anders als ›normale‹ Wissenschaft, ein entspanntes Verhältnis auch zu abwegig scheinenden Phantasien. Und eben diese können, müssen jedoch nicht ›richtig‹ bzw. angemessen sein – der Diskussion wert sind sie häufig.«356 Literatur habe, so Hörisch weiter, ein intimes Verhältnis zu Problemen aller Art – »weil sie faszinierende, überraschende, interessante und unerwartbare Motive, Konstellationen und Handlungssequenzen entfalten muß […].«357 Hörisch illustriert diese These am Beispiel des Reaktorunfalls von Tschernobyl, genauer eines Wissens über die Sicherheit von Kernkraftwerken, das durch die Konsultation literarischer Texte neue Dimensionen erhalten könne: »Eine physikalische Studie über die Sicherheit von Atomkraftwerken ist nun eben eine physikalische Studie; auf nichtphysikalische Daten wie etwa den Alkoholismus oder den Ehekrisen-Hintergrund der Leute, die stundenlang vor Kontrollmonitoren sitzen müssen, ist sie, anders als Literatur, nicht geeicht.«358 Diese Passagen finden sich in Hörischs Aufsatz »Alt und jung bestürmt mich mit Problemen«. Literatur(wissenschaft) als Medium unreinen Wissens. Literatur kann, folgt man Hörisch, durchaus Verbindungen herstellen, Ursachen und Folgen von menschlichem und dinglichem Handeln herausstellen und Vorschläge für alternative Handlungsweisen unterbreiten. Eine Herangehensweise an Texte, die, wie Hörisch betont, eine Ausnahme in der Literaturwissenschaft darstelle: »Auf tausend Abhandlungen zu Themen wie Neudatierung eines Manuskripts, der Einfluß von x auf y, […] kommt eine Untersuchung, die sogenannte schöne Literatur, Belletristik, Dichtung, Poesie als Medium versteht, das Lösungsvorschläge für Sachprobleme bereithält.«359 Der Begriff der Lösung verweist 355 356 357 358 359

Fischer 2012, 113. Hörisch 2010, 288f. Hörisch 2010, 289. Hörisch 2010, 288. Hörisch 2010, 283. Statt themen-, motiv- und problemorientierten Studien, also der Beschäftigung mit konkreten Fragestellungen, beschäftige sich Literaturwissenschaft eher mit »innerlite-

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dabei auch auf einen Prozess der Auflösung, eine Auflösung der Klarheit und Sicherheit von Wissen, wie Hörisch betont: »Literatur ist das Medium unreinen Wissens und der unreinen Vernunft. Sie verunsichert systematisch ein sich allzu rein gerierendes und von sich selbst überzeugtes Fach-Wissen und kann deshalb wissen, wie prekär es um das Wissen bestellt ist.«360 Wie bewerkstelligt sie das? Hörisch arbeitet vier wesentliche Punkte heraus. Erstens koppele sich Literatur von rudimentären Ansprüchen an Wahrheit und Richtigkeit ab, hält sich an Fiktionen, nicht Fakten, lügt sich Geschichten zusammen; Poesie mache in Bezug auf die Sätze, die in »der literarischen Sphäre […] gemacht, fabriziert, konstruiert, gebaut werden […], kein Hehl daraus […], daß sie keine Protokollsätze sind.«361 Zweitens stemme sich Literatur, dies ist in Bezug auf Abfälle bedeutsam, gegen Verwerfungen, indem sie ermögliche, »sachlich hochgradig Unplausibles, Kontraintuitives, von der herrschenden Lehre kraß Abweichendes nicht reflexhaft sofort zu verwerfen, sondern doch (reflexiv ausbaufähig) zur Kenntnis zu nehmen […].«362 Drittens arbeite Literatur gegen Klarheit und für Vieldeutigkeit: »Literatur evoziert buchstäblich andere Sichtweisen, kultiviert Visionen, sorgt für alternative Evidenzen; sie ermöglicht demnach seriöse wie unseriöse Erleuchtungen.«363 Viertens halte Literatur Missverständnisse aus, arbeite nicht immer an »Verständigung, sondern erschwert Verständigung«, wenn sie mit Aussagen arbeitet, die »unüblich, überraschend, irritierend, mitunter gar schockierend«364 seien. Die Aufgabe einer, wie Hörisch formuliert, »problemlogisch orientierten Literaturwissenschaft«365 sei es nun, diese irritierenden Momente aufzugreifen, die faszinierenden, aber fachwissenschaftlich erst einmal unplausiblen Beobachtungen, Thesen, Fragen und Modelle des Mediums Literatur in eine Sprache zu übersetzen, die zumindest theorie- und wissenschaftsnah ist, um so für produktive und anschlußfähige Irritationen im Wissenschaftssystem (und vice versa, wenn Schriftsteller dann literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Kenntnis nehmen) zu sorgen.366 Literaturwissenschaftliche Abfallforschung kann dazu dienen, als Teil der Discard Studies die Thesen und Forschungsergebnisse dieses Feldes zu bestätigen, zu ergänzen oder herauszufordern. Zugleich kann sie helfen, als unverrückbar geltende Annahmen über den Umgang mit Dingen, mit Schmutz und mit anderem Verworfenem herauszufordern. Besonders in einer Zeit, in der das Abfallverhalten reglementiert und routiniert ist, vor allem effizient gestaltet und, zumindest weitestgehend gültig für den Horizont

360 361 362 363 364 365 366

rarischen Konstellationen«, »übergroßen Menschheitsfragen« oder biete theoriegeleitete Lektüren, »die in aller Regel die Gültigkeit dieser Theorien auch im Hinblick auf fiktive Gestalten und Gestaltungen bestätigen.« (Hörisch 2010, 284) Hörisch 2010, 286. Hörisch 2010, 292. Hörisch 2010, 292. Hörisch 2010, 293. Hörisch 2010, 293. Hörisch 2010, 293. Hörisch 2010, 294.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

der Texte, die in diese Arbeit Eingang fanden, in den Händen von Profis liegt.367 Bereits die zu Beginn dieser Einleitung konsultierten Texte fokussieren die Integration von Abfällen durch Ökonomie oder Kunst, wo Abfälle zur Ware oder zur Ressource werden. Gegen die Effizienz der Abfallentsorgung setzen uns literarische Texte der Ineffizienz des Erzählens aus. Wegwerfbewegungen können verzögert oder verworfen werden, abfallnahe Räume durchschritten oder aufgesucht werden, literarische Texte können eine Schmutzaffinität in einer gereinigten Welt zelebrieren, beim Verworfenen verweilen oder die Folgen von Verwerfungsprozessen erzählen. Auch diese Studie begleiten Verwerfungen, begleiten Reste und Abfälle. Hinsichtlich Stifters Arbeitsprozesses wurde Barbara Thums zitiert, die sein Schreiben mit dem Kunsthandwerk des Schleifens und Polierens von Rohsteinen zu Edelsteinen vergleicht.368 Ein Handwerk, das sich auch in Stifters Texten findet. Auch die nachfolgenden Ausführungen sind das Ergebnis eines kontinuierlichen Schleifens und Polierens. Besonders viele Reste und Abfälle entstanden durch die Grundüberlegung, dass Abfälle mit zahlreichen Handlungen verbunden sind, produziert werden und wiederum ihrerseits weitere Verbindungen schaffen. Wenn (fast) alles mit Abfällen zu tun hat und zugleich das berücksichtig werden soll, was Abfällen vorausgeht, ihnen vorgeschaltet ist, wenn die Verwerfungen, die in Dinge, vielmehr Warendinge bereits in ihrer Produktion eingeschrieben sind, genauso berücksichtigt werden wie bestimmte Stoffeigenschaften – wo beginnen, wo aufhören? Wie finden sich nun die für die Forschungsfrage relevanten literarischen Texte und wie kann eine Analyse sinnvoll verdichtet werden? Die Antwort auf die zweite Teilfrage wird weiterhin eine der zentralen Thesen dieser Untersuchung sein: Abfälle können nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind in ihren Verbindungen, seien es räumliche, zeitliche, ökonomische oder andere Verbindungen, zu untersuchen. Als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen wurden in Kapitel 1.3 dieser Einleitung die Transformationen der Dinge durch Industrialisierung und Massenproduktion, generell die Beziehung von Menschen und Dingen, sowie das Verhältnis von Kindern zu Abfällen vorgeschlagen. Diese Ausgangspunkte fragen auch nach Transformationen von Zeit und Raum, dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart sowie der Wirkungsund Handlungsmacht von Menschen und Dingen. Die Beziehungen und Verbindungen stehen ebenfalls im Fokus anderer Disziplinen und Forschungsrichtungen, die Impulse für diese Arbeit liefern. Wenn der Blick, der abfallzentrierte Blick, zum einen geweitet wird, zum anderen aber Bewegungen und Verbindungen fokussiert werden, die in Verworfenes und Verwerfungen resultieren, dann kann die Antwort auf die erste Teilfrage nur lauten: Durch abfallzentriertes Wühlen in literarischen Texten. Ein Wühlen, das dem Wühlen auf einer Müllkippe nicht unähnlich ist, auch wenn die olfaktorischen Belastungen, die Ekel auslösenden Momente, die im Umgang mit Abfällen häufig anzutreffen sind, meist wegfallen. So verweist auch Nikolaus Wegmann auf Bibliotheken

367 Vgl. Goldstein 2013, 335. Nikolaus Wegmann fasst das folgendermaßen: »Müll ist typischerweise eine Sache von Experten für Recycling, Sammeln, Deponieren oder für Anlagenbau und Gefahrenkontrolle.« (Wegmann 2000, 114, Hervorhebung dort) 368 Vgl. Thums 2009, 81f.

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und deren Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zu Mülldeponien. Dabei widmet Wegmann sich neben dem Büchersammeln auch dem generellen Verhältnis von Büchern und Abfällen. Er verweist auf Henry Millers Kunst des Lesens bzw. im Original The Books in My Life369 und das dort beschriebene Verfahren eines wahl- und ziellosen Lesens, des Vertiefens in Handbücher oder Namensverzeichnisse, gleichgültig ob es sich nun darum handelt »Lebensgewohnheiten von Maulwürfen oder Walen zu studieren«370 . Wegmann führt zu dieser Art des Lesens aus: »Das ist eine Lektüre (in) der Bibliothek, die nicht vorgesehen ist, vielleicht sogar als illegitim gilt. Sie folgt keinem Plan und erst recht orientiert sie sich nicht an Bleibendem oder Wertvollem. Diese Lektüre überläßt sich dem Ort, an dem sie stattfindet.«371 Das Vorhandensein des Lesestoffs fordere »ein streuendes, nervöses Zugreifen« heraus und ist somit das Gegenteil eines konzentrierten und fokussierten Lesens, »ein Buch nach dem anderen, mit willkürlichem Beginn, exzentrischer Bahn und offenem Ende.«372 Anders als das von Wegmann geschilderte wahllose Lesen in Bibliotheken, das aufliest, was sich zufällig findet, durch keinen Vorsatz geleitet wird und somit potenziell kein Ende findet und finden kann, unterscheidet der Auflese-Lesevorgang, der dieser Untersuchung vorausging, der Fokus. Dieser Fokus, der die Ausschau nach Motiven und Motivationen steuerte, ist die Suche nach Verwerfungen und Verworfenem sowie nach Abfallverbindungen. Beide Arten des sammelnden Lesens verbinden die Bewegungen des Sammelns als Bewegungen des Aufsammelns, Ansammelns, Angreifens, Aufgreifens und Zugreifens. Ein nächster Schritt nach diesem ansammelnden Lesen müssen dann Vorgänge des Sortierens und Verdichtens sein, die, wie gezeigt, zu Resten führen müssen – und zu einem Ende, das jedoch bis ins Unendliche verlängert werden könnte. Dennoch wurde ein Einschnitt markiert: Übrig blieben Texte der Gegenwartsliteratur, die, das ist zu zeigen, beispielhaft sind für ein kleines Erzählen über Abfälle. Dieses kleine Erzählen ist auch dadurch erkennbar, dass die Sekundärarbeiten zu den jeweiligen literarischen Texten die Abfälle, die Verwerfungen und das Verworfene in diesen Texten meist nur streifen. So sind die Texte Rolf Dieter Brinkmanns auch die einzigen in der vorliegenden Untersuchung, mit Ausnahme vielleicht von Die Schattenboxerin373 und Bölls Werken374 sowie, mit Abstrichen und unter anderen Vorzeichen, Kafkas Arbeiten375 , über die mit Blick auf Abfälle und Abfälligkeit, Verwerfungen und Verworfensein bisher umfangreicher geforscht wurde. Während sich die Studien Vogls und die zitierten Ausführungen Hörischs ausschließlich bzw. auch älteren Texten zuwenden (so bezieht sich Vogl auf Texte vom Ende des 17. und bis Anfang des 19. Jahrhunderts wie Lessings Minna von Barnhelm376

369 370 371 372 373 374 375

Vgl. Miller 1969 und Wegmann 2000, 115, Fußnote 102. Wegmann 2000, 115. Wegmann 2000, 115. Wegmann 2000, 115. Vgl. hier insbesondere Gilson 2010. Vgl. hier vor allem Rademann 1998 und Redding 1994. Vgl. hier besonders die Kafka-Lektüren, die Markus Jansen mit Blick auf die in dessen Texten angelegten biopolitischen Dimensionen vorschlägt – etwa in Bezug auf die Erzählung Die Verwandlung (Jansen 2012, 39-47, 168-197 und 357-385). 376 Vgl. Vogl 2002, 107-138.

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oder Goethes Die Wahlverwandtschaften377 , Hörisch verweist ebenfalls unter anderem auf Goethe378 ), konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf das Abfallwissen von Texten, die der Gegenwartsliteratur zugerechnet werden. Dies hat zum einen inhaltliche, zum anderen pragmatische Gründe. Zunächst zur inhaltlichen Seite: Unterschiedlichen Konzeptionierungen zufolge beginnt die Epoche der Gegenwartsliteratur mit den Jahren 1945 bzw. 1947, 1968 oder 1989 bzw. 1990.379 Auch wenn die ersten beiden möglichen Zäsuren beispielsweise viele der Werke Heinrich Bölls inkludieren, befinden sich diese dennoch, wie Michael Braun formuliert, »am äußeren Rand der Gegenwartsliteratur«380 . Die Zäsuren, die Bluhm und Braun vorschlagen, sind auch abfallhistorisch bemerkenswerte Daten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur 1945 bedeutete auch das Ende von Kriegsökonomie und, besonders ab den 1950er Jahren, der Mangelwirtschaft.381 Der Beginn der Konsumgesellschaft hatte eine neue Quantität und Qualität von Abfällen zur Folge, wie auch Kapitel 2 dieser Arbeit zeigt. Zugleich, das klingt in den Texten Bölls an, gibt es aber auch Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland. Das Jahr 1968 lässt sich zum einen nicht nur als Beginn der Diskussion über solche Kontinuitäten, sondern zum anderen auch als Anfangszeit der bundesdeutschen Ökologie-Bewegung fassen. Hier spielten, auch in den folgenden Jahrzehnten, vermehrt Abfälle eine Rolle in den Diskussionen über die Lebensqualität sowie der Frage danach, was zukünftigen Generationen hinterlassen wird. In den 1980er Jahren geriet die Verschmutzung von Wasser, Land und Luft durch Industrieemissionen in den Fokus der Öffentlichkeit, Diskussionen über Müllverbrennungsanlagen wurden geführt.382 Das Jahr 1989 bzw. 1990 steht auch für die Zusammenführung unterschiedlicher Abfallentsorgungssysteme.383 Zugleich kam es zur Entsorgung einer staatstragenden Ideologie, die auch zu einer Entsorgung ihrer materiellen Komponenten, einer Entsorgung von Symbolen und Dingen führte, wie Kapitel 4.5 zeigt. Gleichwohl werden für diese Untersuchung auch ältere Texte hinzugezogen, wenn sie, wie die Texte Stifters oder Kafkas, für ein Nachdenken über Abfälle wesentliche Transformationen fassen. Weiter oben wurden die notwendigen Prozesse der Verdichtung und Strukturierung des Materials angesprochen. Ziel ist, sich im Rahmen dieser Untersuchung besonders den angesprochenen Verbindungen zu widmen, die über und durch Abfälle geschaffen werden. So geht diese Arbeit auf theoretische Texte ein und erweitert vor dem Hintergrund von abfallhistorischer Forschung, von Beiträgen aus den Discard Studies oder soziologischen und philosophischen Texten den Fokus der Literaturanalysen. Abfalldiskurse sind, so wird sich zeigen, in literarische Texte eingeschrieben, ebenso wie

377 Vgl. Vogl 2002, 288-310. 378 Vgl. Hörisch 2010, 295. Auch Christian Moser wendet sich in seinen literaturwissenschaftlichen und abfallzentrierten Überlegungen Goethes Texten zu (vgl. Moser 2005a, 324-328). 379 Einen Überblick bietet der Lexikoneintrag Gegenwartsliteratur von Lothar Bluhm im Metzler Lexikon Literatur (vgl. Bluhm 2007). 380 Vgl. Braun 2010, 23. 381 Vgl. hierzu Kuchenbuch 1988, 169. 382 Vgl. Keller 1998, 124f. 383 Vgl. zur Abfallentsorgung in der DDR, mit Schwerpunkt auf die 1950er und 1960er Jahre, die Darstellungen in Maier 2003.

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routinierte Umgangsformen mit Resten bzw. Abfällen. Zugleich korrelieren kulturelle Praktiken mit bestimmten Zuständlichkeiten von Abfällen: Materielle Konfigurationen informieren soziale und kulturelle Praktiken – und ein Erzählen darüber. Texte führen zu Fragen und Themen, die wiederum neue Verbindungen ergeben, wenn der Blick für Abfälle und was mit ihnen verbunden ist, geschärft wurde. Dies kann eine Beschäftigung mit dem Wandel der Abfallentsorgung von Deponierung zur Müllverbrennung bedeuten oder zu einer Auseinandersetzung mit der oftmals ökologisch konnotierten Praxis des Recyclings führen. Zugleich darf eine literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht ignorieren, was die literarischen Texte anbieten: Sie führen wiederum zu Fragen und Themen, stellen neue Verbindungen her. Die Prozesse des Schleifens und Polierens führten dazu, dass sich diese Untersuchung in drei große Teile und sieben Kapitel gliedert, wobei der Hauptteil mit Kapitel 2 beginnt und Kapitel 6 endet. Jedes der folgenden fünf Kapitel des Hauptteils wird durch einführende, vorausdeutende Lektüren eröffnet, die Fragen für die nachfolgenden Analysen sammeln und verdichten. Der unter der Überschrift »Bewahrendes, aufschiebendes, integrierendes Erzählen« zusammengefasste erste Teil, der sich aus den Kapiteln 2 und 3 zusammensetzt, fokussiert zum einen den historischen Wandel von Bewahrungs- und Entsorgungspraktiken. Anhand kleiner Dinge – etwa Lappen oder Trinkbehältern – und mit dem Blick auf meist im Verborgenen stattfindende Entsorgungshandlungen werden Verbindungen hergestellt zwischen den Ausformungen einer Konsumgesellschaft, wie wir sie heute kennen, der Zunahme und Veränderung von Abfällen sowie dem Wandel des Umgangs mit diesen Abfällen. Zugleich offenbaren sich in ihm viele der Phantasmen, die den Wandel von der Bewahrungs- zur Entsorgungsgesellschaft von Anfang an begleiteten. So widmen sich Kapitel 2 und 3 Formen des bewahrenden, aufschiebenden und integrierenden Erzählens. Ein Erzählen mit einem empathischen Blick auf verworfene Dinge, aber auch auf verworfene Menschen, ein Erzählen, das oftmals vom Rand her Verwerfungshandlungen und Verwerfungsverweigerungen sichtbar macht. Unter Heranziehung mitunter pessimistischer soziologischer, philosophischer und historischer Texte werden literarische Texte danach befragt: Wie werden Verwerfungen erzählt? Fokussieren diese Texte die Verluste der Verwerfungen? Schlagen sie einen anderen Umgang mit Menschen und mit Dingen vor – und welche Rolle spielen Gegenbewegungen? Mit dem Sitzen als Gegenbewegung zu Setzen und Ersetzen wird eine solche Gegenbewegung vorgeschlagen und in Texten von Wilhelm Genazino, den Romanen Fundbüro von Siegfried Lenz sowie Die Schattenboxerin von Inka Parei gesucht. Im ersten Teil werden Geschichten vom Trennen analysiert, die zugleich Beispiele für ein bewahrendes, aufschiebendes und integrierendes Erzählen darstellen, die allesamt eine Ineffizienz des Erzählens auszeichnet, eine Ineffizienz, die sich gegen die Effizienz der systematischen Abfallentsorgung stellt. Der zweite Teil unter der Überschrift »Erkundendes, ruinöses, resignierendes Erzählen« analysiert verstärkt die Verluste der Entsorgungseffizienz. Die Rationalisierung der Abfallentsorgung beschränkt sich dabei nicht auf die Entsorgungspraktiken im Privaten, sondern trifft generell die Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, die außerhalb von Normen stehen. Dass solche Erfahrungen dennoch machbar bleiben, zeigt die Beschäftigung mit Stadtgängern und -gängerinnen, die sich den Abfällen, dem Verworfe-

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

nen und Ausgestoßenen der Städte erkundend zuwenden. In einem ding- und abfallzugewandten Gehen findet sich eine Gegenbewegung, die Verworfenes und Verwerfungen wahrnimmt – und ihnen etwas entgegensetzt. Dass die Geschichten solcher Gehenden zugleich abfallende Bewegungen einschließt, sie zu Abfall- und Fallgeschichten macht, zeigen die Analysen der beiden zentralen Texte des vierten Kapitels, Evelyn Grills Der Sammler und Uwe Timms Rot. So widmet sich dieses Kapitel den Kosten, Schwierigkeiten und Gefahren eines anderen, eines unkonventionellen Wahrnehmens sowie Behandelns von und Handelns mit Abfällen, analysiert Beispiele eines erkundenden, ruinösen und resignierenden Erzählens. Der dritte Teil schließlich, »Utopisches, synthetisierendes, kontaminiertes Erzählen«, der Kapitel 5 und 6 umfasst, widmet sich neuen Stoffen und neuen Abfällen und fragt nach den Parametern eines solchen Erzählens. Die Vielfältigkeit von Kunststoffen steht mit einem Blick auf die Träume, auf die Utopien und Möglichkeiten, die mit den neuen Stoffen verbunden sind, im Zentrum der Analysen des fünften Kapitels. Die Texte erzählen von phantastischen Potenzialen neuer Synthesen, die allerdings, wie die Analysen auch zeigen, eine Kehrseite haben und zu Albträumen werden können. Das Albtraumartige dieser neuen Abfälle zeigt sich darin, dass durch ihre Entgrenzungen, durch ihre Auflösungen und durch ihre Langlebigkeit, zuletzt durch ihre Fähigkeit, Schutzhüllen des Menschen zu durchdringen, keine oder nur begrenzte Gegenbewegungen möglich sind. Zugleich gelingt es Kunststoffen durch ihre Versprechungen von Flexibilität und Möglichkeiten einer Transformation dessen, was als gegeben vorausgesetzt wird, die mit ihnen verbundenen Verwerfungen vergessen zu lassen. Die Menschenferne und die Mächtigkeit der neuen Abfälle finden ihre Vollendung in neuen Superdingen, die ebenfalls untrennbar mit Abfällen, mit Zerstörung und Trennungen konnotiert sind: Die Atombombe bzw. Kernwaffe als militärisches Ding, aber auch die zivile Atom- bzw. Kernenergie und deren spezifische Abfälle.384 In DeLillos Underworld überlagern sich Abfälle und Waffen in verhängnisvollen Verflechtungen.385 Diese Überlagerungen kulminieren nicht auf der Müllkippe und auch nicht auf dem Grund des Meeres, sondern im wasteland schlechthin, der Wüste – sowie im Sinnbild für die scheinbare Auflösung von Abfällen in der Virtualität.386 Dass die Verschiebung in digitale Welten nicht weniger Abfälle bedeutet, steht ebenfalls im Fokus. Am Ende des fünften und im Mittelpunkt des sechsten Kapitels stehen als zentrale Entsorgungsherausforderung des 20. und 21. Jahrhunderts neue Abfälle im Mittelpunkt: Während radioaktive Verseuchung im analysierten Text am Ende von Kapitel 5 durch einen Dritten Weltkrieg ausgelöst wird,387 fokussiert Kapitel 6 radioaktive Abfälle, wie sie in Andreas Maiers Roman Kirillow388 verhandelt werden. Die weiter oben zitierte Formulierung von Susanne Hauser zur »fast magische[n] Macht des Verschwindenmachens«389 zeigt eine weitere Komponente der für diese Arbeit maßgeblichen Ausrichtung von Abfallforschung: Eine Geschichte der Abfallwirt384 385 386 387 388 389

Vgl. hierzu Kapitel 5.7. und 6. Vgl. hierzu Apitzsch 2012, 412-414. Zur Wüste als abfallnahen Ort in den Texten DeLillos vgl. Apitzsch 2012, 317f. Vgl. Schmidt 1992a (Sigle ScS). Vgl. Maier 2005 (Sigle MaK). Hauser 2001, 27.

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schaft, ein Nachdenken über Abfälle wäre ohne Mythen und Ausflüge ins Phantastische, ohne einen Rekurs auf Magie nicht möglich. Die Geschichte der Abfallentsorgung ist auch eine Geschichte von Imaginationen und Phantasmen, die beispielsweise den Verbleib von Abfällen bis in den Weltraum oder das Innere der Erde verlagern wollen. Zugleich operieren literarische Texte stets auch in und mit den Parametern, die das, um Grassmuck und Unverzagt zu zitieren, »Müll-System« bereitstellt – und wachsen über sie hinaus: Das Phantastische, das Märchenhafte und der Abfall als fremde, als unzubändigende, als störrische Materie bleiben zentrale Bezugspunkte der nachfolgenden Analysen. Die Verbindungen, die durch Abfälle hergestellt werden, sind oftmals nicht sichtbar, nur im Sitzen erkennbar, langsam ergehbar, verborgen, toxisch, rhizomatisch und gefährlich – also komplex und verworren. Auch wenn die Einteilung in drei große Teile sowie sechs Einzelkapitel die Möglichkeit einer klaren Trennung und damit analytischen Handhabbarkeit von Abfällen suggeriert, stellen sich die Abfälle, aber auch die literarischen Texte, die im Mittelpunkt der Analysen stehen, gegen Sortierungsversuche. Jedes Kapitel dieser Arbeit ist, wie bereits angedeutet, das Resultat von Ordnungsund Entsorgungsentscheidungen. Entscheidungen, die auch hätten anders ausfallen können. Was Uwe C. Steiner mit Blick auf Kafkas Dinge den »Widerstand im Gegenstand«390 nennt, lässt sich auch im Hinblick auf Abfälle, auf Verworfenes und Verwerfungen in literarischen Texten feststellen. Eine Gefahr einer abfallzentrierten Literaturwissenschaft ist es so auch, überall Verwerfungen, Verworfenes oder auch Verwerfungspotenzial zu entdecken. Bereits in Don DeLillos Underworld findet diese Gefahr Eingang in die folgende Konversation zwischen zwei Abfallmanagern: »I’m doing real work, important work. Landfills are important. Trouble is, the job follows me. The subject follows me. I went to a new restaurant last week, nice new place, you know, and I find myself looking at scraps of food on people’s plates. Leftovers. I see butts in ashtrays. And when we get outside.« »You see it everywhere because it is everywhere.« »But I didn’t see it before.« »You’re enlightened now. Be grateful,« I said. (DeLU, 283) Der abfallzentrierte Blick schließt tatsächlich eine Form von Aufklärung ein: Unsichtbare Verbindungen können mit diesem und durch diesen Fokus erhellt werden. »[E]verything’s connected« ist einer der zentralen Überzeugungen, die DeLillos Underworld transportiert. So heißt es dort: »Because everything connects in the end, or only seems to, or seems to only because it does.« (DeLU, 465) Gibt es dabei die Möglichkeit, zu viele Zusammenhänge zu entdecken? Don DeLillo konstruiert die Verbindungen in Underworld als Verbindungen, die beim Abfall beginnen, enden oder ihn durchlaufen, kreuzen, durchdringen.

390 Steiner 2008.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

1.5

Exkurs: Sch(m)utzräume und Abfallästhetik – Abfälle in Museum und Kunst

Was eine Ästhetisierung von Abfällen, von Verworfenem und Verwerfungen mit sich bringt, klang bereits mehrfach in dieser Einleitung an. Da die Frage nach Ästhetisierung grundlegend für zahlreiche Textinterpretationen im Hauptteil bleibt, wurde sie zum Abschluss dieser Einleitung dem Hauptteil in Form eines Exkurses vorangestellt. In den Überlegungen zu Adalbert Stifter und seinen Texten wurde die Rolle des Sammelns und des Bewahrens herausgearbeitet. Plunder, der Tand und die anderen ungebrauchten Dinge auf dem Tandelmarkt, dem Dachboden des Großvaters, im Haus des Freiherrn von Risach, sind Beispiele für bewahrte Dinge. Besonders in Stifters Nachsommer richte sich, so Katharina Grätz, die »ästhetische Welt […] gegen die Profanisierung des Daseins, gegen seine Reduktion auf bloße Funktion und gegen eine nivellierende Alltäglichkeit.«391 Die Bewahrungsbewegungen seien als »Reflex auf die Verbannung des Ästhetischen aus den sozialen und ökonomischen Lebenszusammenhängen«392 zu verstehen. Dabei stellen sich, dies wurde ebenfalls am Beispiel der Texte Stifters diskutiert, Ordnungsinstitutionen wie Privatsammlungen oder Museen gegen das Entstehen von Abfällen. Susanne Hauser fasst das Museum grundsätzlich als Raum, der »ausgenommen von dem [ist], was in der Welt ansonsten geschieht, ein geschützter Bereich, an dem die Spielregeln der Gesellschaft, der ökonomischen Prozesse, die Vernichtung gelebter Traditionen ihre Grenzen finden und als materiell beglaubigte Geschichte aufgehoben bleiben.«393 Die Konsequenz davon sei unter anderem: »Museen werfen, zumindest grundsätzlich, nichts weg, was sie einmal in ihre Hut, ihre Sammlung, genommen haben.«394 Eine Episode in Christoph Meckels Plunder, die sich Abfällen in der Kunst widmet, kommt zu einem ähnlichen Schluss: Plunder in der Kunst, so wird offenbar, ist kein Plunder mehr.395 So heißt es: »Der Plunder verlacht das Museum, er lebt in der Weite. Er gibt sich der Zeit zu erkennen, ermutigt den Zufall, sieht der Zukunft entgegen, und nichts ist gewiß.«396 Auch Roger Fayet formuliert zu dieser grundlegenden Abfallferne des Museums: »Es gibt keine Institution, die weniger mit Abfall zu tun hat als das Museum.«397 Am Anfang des Sammelns, gleich ob in Privatsammlungen oder kollektiven musealen Sammlungen, steht ein Bewertungsprozess, der einer Aufwertung gleichkommt, wie Susanne Hauser schreibt: »Zum Prozeß der Musealisierung ehemals nützlicher Dinge gehört ihre Auswahl, Bestimmung und Klassifikation, der Umstand, daß aufgeräumt, geputzt und gereinigt wird.«398 Helga Kämpf-Jansen konkretisiert dies in ihrem

391 392 393 394 395 396 397 398

Grätz 2006, 234. Grätz 2006, 234f. Hauser 2001, 94. Hauser 2001, 94. Vgl. Meckel 1989, 83f. Meckel 1989, 99. Fayet 2010, 225. Hauser 2001, 99.

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Aufsatz zu Kunst-Staub, wenn sie in Bezug auf Abfall als Material und Gegenstand der Kunst Prozesse beschreibt, die auch für Abfälle im Museum gültig sind: So wie der Sammler sein begehrtes Objekt der Zirkulation der Waren für immer entreißen will, so wird das Fundstück aus dem großen Strom des Mülls ›gerettet‹. […] In dem Augenblick, in dem man es [das Abfallding, CHG] erblickt, auswählt und aufhebt, verläßt es seinen Status als Müll und wird zum ›Fundstück‹. Im Abreiben der Schmutzteile […] fällt gleichsam auch der Begriff ›Müll‹ ab. […] So gesehen gibt es den Abfall wie den Müll in der Kunst also nicht – es gibt nur das Verrücken der Kontexte und das Spiel der Bedeutungen.399 Während im Kollektivraum diese Verrückung gelingt, erweist sie sich im Privatbereich als problematischer. Sobald sich das Verrücken von Bedeutung nicht in einem Schutzraum abspielt, kann dies Konsequenzen für den oder die Verrückende(n) haben. Anders stelle es sich bei einem ungewöhnlichen Gebrauch von Dingen dar, der von Theodor Bardmann auch als ein »private[r], persönliche[r], idiosynkratische[r]«400 bezeichnet wird, der gesellschaftlich als so ungewöhnlich angesehen werden kann, dass er Stigmatisierungs- oder Ausgrenzungsmechanismen, gar Aus- oder Einsperrungen zur Folge haben kann. Diesen exzentrischen Dinggebrauch bezeichnet Bardmann als Überschreitung der Grenzen eines »angemessenen Verhältnisses« des Umgangs mit Dingen: Von der Öffentlichkeit und der offiziellen Kultur unbeachtet mag man […] seiner Vorliebe für welke Baumblätter (oder sonst etwas) frönen. Wer jedoch beginnt, für ein von ihm besonders geschätztes Lindenblatt etwa einen Raum seiner Wohnung zu reservieren, um es dort auszustellen, und es wohlmöglich durch eine aufwendige Alarmanlage gegen Diebstahl zu schützen, der wird, wenn er diese Aktion nicht gerade als Kunst verkaufen kann, mit negativen sozialen Reaktionen zu rechnen haben.401 Im Nachdenken über das sogenannte Messie-Syndrom, also pathologischem Sammeln, wird die Frage nach der Grenze zwischen Kunsthandlung bzw. subversivem Protest gegen die Wegwerfmentalität oder Störung offensichtlich.402 Wird dieses Sammeln, etwa durch den Abfallkünstler und Dingsammler Karsten Bott403 , im Schutzraum der Kunst vollzogen, bewahrt dies die Sammelnden vor einer Pathologisierung. Zugleich bietet der Schutzraum Museum nur die Illusion einer vollkommenen, abfallfernen Ordnung. Christian Emden macht dies am historischen Beispiel der Weltausstellungen deutlich, in denen Ordnung und Chaos dicht beieinander liegen bzw. sich gegenseitig durchdringen. Die Weltausstellung ist nach Emden, der sich im Zuge seiner Benjamin-Forschung mit diesen Ausstellungen beschäftigt, ein »Ort, an dem das gesellschaftlich Imaginäre – die Imaginationen der Epochen, Länder und Kulturen – nicht nur zirkuliert, sondern sich zugleich auch verfestigt. Als Versammlung der Dinge, Materialien, Stile, Techniken aus allen Ländern und unterschiedlichen historischen Epochen weiten die Weltausstellungen das Prinzip der frühneuzeitlichen Sammlungen 399 400 401 402 403

Kämpf-Jansen 2001, 237. Bardmann 1994, 181, vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 80f. Bardmann 1994, 181f. Zum Messie-Syndrom und zum Sammeln vgl. Kapitel 4, besonders 4.4. Zur Kunst Botts vgl. Bott 2003.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

in eine globale Richtung aus.«404 Zugleich ist die Ordnung der Welt, die sich in der Weltausstellung spiegeln soll, zutiefst phantasmagorisch: »Die chaotische Erfahrung des Besuchers, die mit der nicht minder chaotischen Organisation der Weltausstellungen korrespondiert, untergräbt die technische Ordnung der Ausstellungen.«405 Doch nicht nur chaotische Zustände, das Scheitern von Ordnung, sondern auch die Sammlungen selbst weisen Orte der Unordnung, des Vergessens und somit auch der Abfallnähe auf. So könnten in herkömmlichen Museen Räume wie Abstellkammern, Keller, die kaum frequentierten Ecken der Sammlungen, wie Ulf Tschirner vorschlägt, die »Staubecken«406 und Toträume, den Begriff borgt er aus der Limnologie, des Museums Bewahrungsorte und Auffangbecken für abfallnahe, für verworfene oder verwerfungsnahe Dinge im Museum sein: »Im Totraum stauen sich Rückstände, deren Musealisierung ins Stocken geraten, gedehnt, verlängert, verstetigt und ausgesetzt ist und die gerade deshalb Musealisierung […] als Prozess einer Transformation erkennen lassen«.407 Ein Beispiel für die Annäherung von Museum und Abfallhalde sind auch sogenannte Müllmuseen, die explizit bereits in ihrem Stadium als Abfälle angekommene Dinge vor der endgültigen Vernichtung bewahren und sich oftmals in unmittelbarer Nähe zu Mülldeponien oder Müllverbrennungsanlagen finden.408 Ein anderer Schutzraum für Abfälle ist, wie bereits angedeutet, die Kunst. Im Gegensatz zum Museum sind Kunstwerke nicht an bestimmte Räume gebunden, sondern zirkulieren. Abfallnah erweist sich die Abfallkunst409 oder die abject art 410 . Tim Edensor macht diese Abfallästhetik besonders in der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus: »Drawn to its varied textures and forms, and its symbolic qualities, the aesthetics of rubbish are familiar through the work of such artists as Robert Rauschenberg, Kurt Schwitters, Joseph Beuys, Tony Cragg and David Mach who have used waste in rich, divesre [sic!] ways […].«411 Die Problematik der Verrückung von Abfällen in eine andere Kategorie durch Aufwertungsprozesse, ihre Transformation zu Nichtabfällen wurde bereits mehrfach diskutiert. Franka Ostertag schlägt in ihrer Studie zu Müll als Material und Metapher in der US-amerikanischen Kunst und Literatur seit den 1950er Jahren412 vor, ungebändigte Müllkunst, wie sie sie in der US-amerikanischen Performance-Art der 1960er Jahre 404 405 406 407 408 409

Emden 2006, 76. Emden 2006, 76. Tschirner 2007, 286. Tschirner 2007, 285, Hervorhebung dort. Vgl. zu diesen Müllmuseen Windmüller 2010. Vgl. hierzu die Beiträge in Bianchi 2004, den Lexikoneintrag von Caroline Tauxe in Zimring/Rathje 2012a (vgl. Tauxe 2012) sowie die Untersuchungen von Franka Ostertag (vgl. Ostertag 1998) und Andrea El-Danasouri zu Kunststoff und Müll als Materialien in der Kunst von Naum Gabo und Kurt Schwitters (vgl. El-Danasouri 1992). 410 Zur abject art vgl., auf Julia Kristeva Bezug nehmend, die Ausführungen in Menninghaus 2002, 516-567 sowie Ostertag 1998, 138-179, die sich unter anderem ausführlich den Arbeiten von Cindy Sherman widmet (vgl. Ostertag 168-174). Die Überschrift von Ostertags Überlegungen zu Sherman, »Identität als Kunst-stoff« (Ostertag 1998, 168), lieferte Impulse für Kapitel 5 dieser Arbeit, in dem das Material Plastik mit unter anderem den Identitäts- und Geschlechtsentwürfen in Thomas Meineckes Roman Tomboy zusammengebracht wird. 411 Edensor 2005a, 34. 412 Ostertag 1998.

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oder im Kunst-Happening erkennt, als Beispiele für besonders abfallnahe Kunst zu lesen. Am Beispiel der Arbeiten des US-amerikanischen Aktionskünstlers Allan Kaprow zeigt Ostertag, wie seine Happenings und Assemblagen auf besondere Weise mit Abfällen arbeiten. So errichtete Kaprow für sein Werk Yard aus Teerpappe und alten Autoreifen eine künstliche Müllkippe vor den Türen einer New Yorker Kunstgalerie, die erklettert werden konnte.413 Ziel der Abfallkunst Kaprows sei es gewesen, so Ostertag, Kunst »nicht als materielles Produkt, sondern als Qualität eines Prozesses [zu verstehen], dessen Zielsetzung eine Wahrnehmungsveränderung sein sollte: der Versuch, von der ästhetischen Erfahrung aus, eine neue Lebenspraxis zu organisieren.«414 Weitere Beispiele abfallnaher Kunst stellen für Ostertag die Müllarbeiten von Claes Oldenburg oder die Watts Towers von Simon Rodia in Los Angeles dar.415 Sie verwenden Abfälle als Fundstücke, als Realitätspartikel oder, wie Ostertag mit Rauschenberg formuliert, »Realitätsbrocken«416 und sind, mitunter im öffentlichen Raum zu finden, durch Flüchtigkeit charakterisiert. Dieses Flüchtige beschreibt auch Underworld, wenn Kunstformen wie Street Art, Graffiti417 oder Performance auftauchen, auch die Watts Towers werden im Text genannt (vgl. DeLU, 491f.)418 . Das überraschende, flüchtige Moment dieser Kunst lässt sie nicht immer als Kunst erkennbar werden. Die Begegnung mit ihr unterscheidet sich grundlegend von der Kunsterfahrung der Betrachtenden einer Kunstsammlung oder einer Museumsgängerin. Während dort Staunen und Verharren gefragt sind, vielleicht auch das Folgen einer zuvor angelegten Route, konfrontiert ein Text wie Plunder mit chaotischen und verstreuten Dingen, die in Wohnvierteln, auf dem Bordstein, in verlassenen Häusern, auch in Antiquitätenläden oder auf Flohmärkten lagern oder vergessen wurden. Durch das Bewahren im Text erfahren diese Dinge mit der Bewahrung auch eine Aufwertung. Dabei liegt in der Aufnahme einer spontanen, chaotischen, abfallnahen Begegnung mit Kunst auch ein Grundproblem literarischer Texte. Durch ihre Linearität folgen wir dem Text auf vorgegebenen Wegen. Die Auflösung der linearen Ordnung des Textes wäre somit eine Möglichkeit, Abfallkunst textlich zu verarbeiten. Die Entsprechung des Zufälligen, des Abfalls in literarischen Texten wäre somit die Ermöglichung von Zufälligkeit in literarischen Texten. Auch wenn Abfalldinge Realitätspartikel darstellen, kann es diese Zufälligkeit in Literatur nicht geben. So bleibt lediglich, den Blick zu schulen, und – vielleicht auch nur zufällig – das zu sehen und auf sich wirken zu lassen, was der Text als Verworfenes präsentiert: Taschentücher, weggeworfene Zigarettenkippen oder Schmutzkrümel unter Fingernägeln, wie in einem Text Genazinos. Das Spontane, das Gefährliche, das Unvermutete findet sich auch in den anderen Texten, die analysiert werden, so zum Beispiel der Happening-Charakter eines Müllstreiks in Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame419 .

413 Vgl. Ostertag 1998, 414 Ostertag 1998, 35. 415 Vgl. zu Oldenburg Ostertag 1998, 27-33, zu den Watts Towers und anderen Müll-Monumenten vgl. Ostertag 1998, 34. 416 Ostertag 1998, 42. 417 Vgl. hierzu Apitzsch 2012, 338-358. 418 Vgl. zur junk art in Underworld auch Apitzsch 2012, 315f. 419 Zu diesem Text vgl. auch Kapitel 3.4.

1. Einleitung: Abfallverbindungen?

Die Ambivalenz der Abfallnähe und Abfallferne von Kunst lässt sich nicht vollständig auflösen. Aber gerade das Oszillieren des Arrangements zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Absicht und Absichtslosigkeit offenbart den spielerischen Umgang mit Dingen. Es gleicht einer Dingwahrnehmung, die sich Konventionen und Setzungen entzieht. Dennoch gilt, was Roger Behrens mit einem Blick auf Abfälle in der Kunst formuliert, nämlich dass sich »die kapitalistische Müllproduktion […] nicht durch eine Wahrnehmbarmachung durch die Kunst«420 herausfordern lässt. Stattdessen müsse Kunst als »unmißverständliche ästhetische Anklage« eine »praktische Herausforderung« provozieren: »Statt einer Ästhetisierung des Mülls bedarf es also einer Vermüllung der Ästhetik […].«421 Schutzräume müssen zu Schmutzräumen werden – und das auch nichtintentional.

420 Behrens 1994, 29. 421 Behrens 1994, 29.

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Erster Teil: Bewahrendes, aufschiebendes, integrierendes Erzählen

»Den Müll aus dem […] Fenster zu werfen, war über Jahrtausende hinweg unter den Bewohnern von Städten eine allgemein akzeptierte Gewohnheit. Das Fenster war die einzige Schwelle, die zwischen der privaten Sphäre der Abfallproduktion und dem öffentlichen Bereich der Abfallentsorgung lag.«1 Dieses Zitat stammt aus dem Eintrag Müllschlucker in dem von der Architekturzeitschrift Arch+ herausgegebenen Schwellenatlas (2009). Obgleich zwischen dem Wurf von Abfällen aus dem Fenster und der zielgerichteten Entsorgung in einem technischen Gerät wie dem Müllschlucker oder Abfallzerkleinerer ein Zeitraum von mindestens hundert Jahren liegt, bestätigen beide Entsorgungspraktiken die auf den ersten Seiten dieser Arbeit zitierten Ausführungen Susanne Hausers: Bis heute dominieren im Nahbereich des Menschen, in seiner häuslichen Umgebung, die grundlegenden Bewegungen des Verbergens und Entfernens. Ziel ist dabei die umfassende und störungsfreie Entsorgung.2 Die Bewegungen der Trennung wurden ab dem 19. Jahrhundert verstärkt Bestandteil des Alltags, besonders in den Städten. Mit der Industrialisierung und dem Beginn der Massenproduktion kam es, wie bereits gezeigt, im europäischen Raum zu einer bisher nicht für möglich gehaltenen Steigerung der Anzahl von Dingen. Die Entwicklungen, die im Verlauf dieses Kapitels mit Fokus auf die Abfallthematik noch detaillierter nachgezeichnet werden, kulminierten in der Ausbildung der Konsumgesellschaft, wie wir sie heute kennen. Ein Prozess, der sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg voll entfaltete und bis heute fortwirkt.3 Geringe Produktionskosten und die Entwicklung und Anwendung neuer Produktionstechniken haben nicht nur vormalige Luxusgüter einer größeren Anzahl von Menschen zugänglich gemacht, sondern vor allem auch neue Produkte hervorgebracht, die produziert werden, um schnell gebraucht und somit verbraucht zu werden. Trotz einer neuen Qualität und Quantität von Dingen und der Möglichkeit neuer Verbindungen zwischen Menschen und Dingen reißen die Verbindungen zwischen beiden immer häufiger immer früher ab. Es wird jedoch nicht nur die Produktion von Dingen drastisch gesteigert, sondern es kommt gleichzeitig zu einer Beschleunigung im Ge- und Verbrauch – und damit zu einer stetig steigenden Abfallmenge. Die Entsorgungsbewegung des gezielten oder ungezielten Wurfs aus dem Fenster kann keine Lösung mehr sein. Abfall wird zum Problem, das gelöst werden muss.4 Bereits in den Eingangsüberlegungen war von Strömen die Rede: Stifters Wien dient als Kristallisationspunkt für Waren und Menschen und als Beispiel weitreichender Veränderungen. Veränderungen, die sich auf das Wohnen der Menschen, den Städtebau sowie auf das Verhältnis der Menschen zu den Dingen (und umgekehrt) auswirken.

1 2 3 4

Ponte 2009, 78. Vgl. zu den Bewegungen der Entfernung – im Sinne von etwas entfernen und sich von etwas entfernen – Silberzahn-Jandt 2000, 119. Zur zeitlich versetzten Entwicklung in den USA vgl. König 2000, 110-122. Die historische Entwicklung der Konsumgesellschaft ist gut erforscht und soll an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden (vgl. etwa König 2000), sondern im Folgenden lediglich in einigen für diese Arbeit wichtigen Teilaspekten beleuchtet werden. Mit dem Fokus auf der Entstehung von Abfällen vgl. die Darstellungen von Keller 1998, 73-95. Wo Konsum ist, da ist auch Abfall – dies legt die umfassende Enzyklopädie zum Thema Abfall nahe, die den Titel Encyclopedia of Consumption and Waste. The Social Science of Garbage (vgl. Zimring/Rathje 2012a und 2012b) trägt.

Die Bewegungen des Strömens und des Zirkulierens sind für die Ausführungen in diesem ersten Teil bedeutsam. Dabei sind Strömen und Zirkulieren nicht nur Bewegungen, sondern auch wirkungsvolle Metaphern, wie Anna Kinder in ihrer Untersuchung zur Ökonomie im Werk Thomas Manns demonstriert. Mit dem Begriff der Geldströme fasst Kinder die »Verbindung von Geld, Bewegung und Liquidität«5 und illustriert mit den Texten Manns, wie um 1900 die zirkulierenden und strömenden Bewegungen populär werden. War die Zirkulation lange Zeit ein Begriff, der in Bezug auf den medizinischen Bereich verwendet wurde,6 erfolgte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eine Begriffserweiterung: Von nun an zirkulierten auch Reichtum und Geld, wie Ivan Illich zeigt.7 Illich stellt dar, wie bereits nach der französischen Revolution »Ideen, Zeitungen, Neuigkeiten, Klatsch [zirkulieren]; und nach 1880: Verkehr, Luft und Energie – alles zirkuliert.«8 Illich illustriert dies mit Edwin Chadwick, der die Auffassung vertrat, »[j]e rascher der Fluß, umso größer der Reichtum, die Gesundheit und die Hygiene der Stadt.«9 Chadwick produzierte analog zu William Harvey, der über die Entdeckung des Blutkreislaufs neue Vorstellungen vom Körper evozierte, ein neues Stadtbild, »indem er ihr Bedürfnis entdeckte, fortwährend gewaschen zu werden.«10 Abfälle, Exkremente und andere Verschmutzungen würden durch die kontinuierliche Bewegung, die Zirkulation quasi weggespült.11 Das Konzept des Miasmas, das seine Wirkungsmacht bis weit ins 19. Jahrhundert entfalten konnte, sah in der Konzentration von üblen, aus dem Boden aufsteigenden Gerüchen den Auslöser und das Übertragungsmedium für Krankheiten.12 Hier konnte, neben Desodorierung, Bewegung Abhilfe schaffen. Generell seien Vorstellungen von Hygiene, so Illich, im 19. Jahrhundert, eigentlich aber schon in der Antike, verbunden mit der Vorstellung des Fließens.13 Das Wasser, mit dem der Körper gereinigt wurde – es gibt hierbei, wie Illich darstellt, einen großen Unterschied zwischen Säuberung und der viel weiter reichenden Reinigung – muss weggeschüttet werden. Das Reinigungsritual bleibt wirkungslos, wenn das nun verschmutze Wasser mit dem gewaschenen Körper wieder zusammengeführt würde.14 Die Trennung muss eine endgültige sein.

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Kinder 2013, 5. Vgl. Illich 1987, 75. Illich 1987, 77. Illich 1987, 77. Illich 1987, 80f. Illich 1987, 81. Vgl. Illich 1987, 81. Zum Miasma vgl. die historische Darstellung von Alain Corbin (Corbin 2005) und Illich 1987, 52-54 sowie 97-112. Zu dem philosophischen Konzept des panta rhei sowie dem Fließen als Metapher in der Antike vgl. Stegmaier 2007b, besonders 102 und 105-107. Vgl. Illich 1987, 54f.

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen Von Müllbergen zur (vermeintlichen) Restlosigkeit

Nicht nur der Zirkulation, sondern auch der Idee des Strömens von Menschen und Dingen ist das Prinzip der Störungsfreiheit immanent. Wo bleiben da die Abfälle? Tatsächlich kommen sie oftmals nicht in einem Nachdenken über Ströme vor, sondern sind die Reste dieser Bewegungen. Heather Rogers zieht eine Parallele zwischen dem Begriff der Abfallströme (sie bezieht sich auf das englische Äquivalent »waste stream«1 ) und dem Vergessen der Abfälle. Der Stromgedanke sei Ausdruck davon, dass wir es gewohnt sind, den Abfall an bestimmten Tagen vor die Tür zu stellen und somit vergessen zu können.2 In welche hochtechnisierten Infrastrukturen diese Entsorgung unseres Hausmülls eingebunden ist, ist nicht sichtbar und soll auch nicht unbedingt sichtbar sein. Auch wenn Rogers eine Verbindung zwischen Abfallalltag und Stromgedanken herstellt: Wenn uns heute in Bezug auf Abfälle der Begriff der Ströme begegnet, dann in erster Linie in der Expertensprache. So wird in der Abfallwirtschaft und im Bereich des Managements von »Stoffströmen«3 , von »Stoffstromwirtschaft«4 gesprochen. Der Abfallforscher Michael Thompson fasst die Stoffströme lapidar zusammen als »das Zeug, das wir herum schieben«5 und konkretisiert, indem er die Folgen dieses Herumschiebens mitdenkt: »Kohlenstoff aus fossilen Energien, Sand und Kies für Bauarbeiten, Mangos, die aus Honduras nach Europa eingeflogen werden, Siedlungsabfälle, die mehr und mehr Deponieraum erfordern, Schweinejauche, die Algenblüten in der Nordsee verursacht.«6 Auch in einer Publikation des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit7 aus dem Jahr 2011 findet sich der Stromgedanke, eingebettet in zunächst düster anmutende Befunde, die sich jedoch ins hoffnungsvoll Utopische wenden: 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. das gleichnamige Kapitel in Rogers 2005, 11-27. Vgl. Rogers 2005, 11f. Thompson 2003b. BMU 2011, 44. Thompson 2003b, 217. Thompson 2003b, 217. BMU, früher Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit BMU.

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Abfallverbindungen

Primärrohstoffe wie Öl, Gas oder Erze werden durch die weltweit steigende Rohstoffnachfrage immer knapper, die mit ihrer Gewinnung einhergehenden Umweltbelastungen immer größer. Langfristiges Ziel muss daher sein, den absoluten Ressourcenverbrauch zu senken. Die Abfallwirtschaft liefert hierzu einen wichtigen Beitrag. Durch eine noch stärkere Gewinnung von Sekundärrohstoffen – wie Altpapier oder Weißblechverpackungen – durch Recycling werden primäre Rohstoffe ersetzt, und die Ressourcenproduktivität wird gesteigert. Deshalb ist zukünftig eine stärker an Stoffströmen und Stoffeigenschaften ausgerichtete Abfallpolitik erforderlich. Ziel ist eine Stoffstromwirtschaft mit geschlossenen Stoffkreisläufen. Die heutigen Abfälle, aber auch die anthropogenen Lager wie Bauwerke und Deponien, sind also als ›Bergwerke der Zukunft‹ zu verstehen – und damit die Produkte von heute als Ressourcen von morgen.8 In einer Welt, die von knapper werdenden Ressourcen bedroht ist, sind Abfälle keine überflüssigen Reste, sondern Stoffe, die einer neuen Wertigkeit zugeführt werden können. Die Abfalltonnen von heute werden, hier kommt die Utopie ins Spiel, in der BMU-Broschüre als »Bergwerke der Zukunft« bezeichnet. Vor allem technische Hilfsmittel sollen dazu beitragen, dass Abfall nicht mehr wertloser Rest ist. Literarische Texte, das ist zu zeigen, verweigern sich der restlosen Integration, zumindest phasenweise. Sie unterbrechen den Strom oder die Zirkulation, verweigern sich der Integration oder zögern sie hinaus. Zugleich komprimieren sie die in Bezug auf Abfälle weitreichenden Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Kompression, die mitunter jedoch unbeachtete oder unsichtbar gewordene Trennungen und Verbindungen hervorholt. Sie zeigen zugleich, dass diese Entwicklungen zu Wahrnehmungsverlusten führen können – denn wie kann ich das, was schnell an mir vorbeiströmt, noch erfassen und wie kann ich das, was von mir getrennt ist, noch fassen? Das Kollektiv der Herausgeberinnen und Herausgeber bezeichnet in der Einleitung des Sammelbands Stehende Gewässer. Medien der Stagnation9 so auch die Erzählung als Kulturtechnik des Unterbrechens. Wie der Damm sei die Erzählung eine hegende Kulturtechnik, die Ströme an- und aufhalten könne.10

2.1

Von Lappen und anderen Dingen

Wie in der Einleitung anhand Kuchenbuchs Stichwortgeschichte des Begriffs Abfall gezeigt, ist Abfall als »Produktion und Konsumtion, Stadt und Land, Erde, Wasser und Luft vereinendes Unwert-Phänomen«11 ein Novum. Wie kam es zu dem Paradigmenwechsel von Bewahrung zu Entsorgung in den fünfzig Jahren, die Kuchenbuch Ende der 1980er Jahre als Zeitraum der Entwicklungen fasst, also ab Ende der 1930er Jahre?12

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BMU 2011, 44. Vgl. Butis 2007. Vgl. Behnstedt u.a. 2007, 17. Kuchenbuch 1988, 170. Sinnvoller scheint es, den Zeitpunkt dieser Entwicklung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu verorten, in den USA einige Jahrzehnte früher (vgl. König 2000, 8, der die Ausformung der

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen

Historische Untersuchungen zur materiellen Kultur und hier vor allem Susan Strassers Waste and Want. A Social History of Trash (1999) am Beispiel der USA, haben detailliert nachgezeichnet, wie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Bewahrung der Dinge in den Haushalten und Häusern Priorität hatte. Mehr noch: Die massenhafte Entsorgung von Dingen ist auch heute noch Luxus. In Gesellschaften und zu Zeiten, in denen Mangel herrscht(e), Mangel an Rohstoffen, an Nahrungsmitteln, generell an materiellen Gütern, wird und wurde weniger entsorgt als in reichen Gesellschaften. Am Beispiel scheinbar banaler Alltagsgegenstände wie einem Lappen13 zeichnet Strasser das Bild einer Reste-Ökonomie, die vor Beginn des 20. Jahrhunderts wiederverwertet, wann und wenn immer möglich: All over the country, even middle-class people traded rags to peddlers in exchange for tea kettles or buttons; in cities, ragmen worked the streets, usually buying bones, paper, old iron, and bottles as well as rags. These small-time entrepreneurs sold the junk to dealers who marketed it in return to manufacturers. The regional, national, and even international trade in rags was brisk because they were in high demand for papermaking and for ›shoddy‹ cloth made in part from recycled fibers.14 Es gab also kaum Abfälle im Sinne von tatsächlichen Resten, Objekte und Stoffe sind in Kreisläufe der Verwertung und Wiederverwertung eingebunden. Dass sich solche Verwertungen auch heute noch finden, zeigen Olga Brednikova und Olga Tkač, die im Zuge ethnologischer Forschung vom Alltag in einem südrussischen Dorf berichten.15 Hier verläuft die Grenze jedoch nicht nur zeitlich als Entwicklung von Bewahrungszu Entsorgungsgesellschaften, sondern auch räumlich als Gegensatz zwischen Landund Stadtleben. Während im Alltag der Städter die schnelle Vernutzung der Dinge vorherrscht, wird im Dorf der Tod der Dinge so lange wie möglich hinausgezögert. Auch hier dient der Lappen als Beispiel. Als Endprodukt von Wiederverwertungsprozessen hat er verschiedene Stationen durchlaufen. Er wird, wenn immer möglich, nicht ganz und vollständig entsorgt und entfernt, sondern höchstens transformiert: »Im dörflichen Haushalt lebt eine Sache zwischen ihrer Geburt und ihrem Tod vielleicht ein Dutzend Leben, als Spielart ihrer selbst, indem sie vergrößert oder verkleinert wird, vom Kleiderschrank in den Garten wandert, vom Garten in die Küche und so fort.«16 Industriell hergestellte Produkte werden so nicht benötigt. Hier liege ein wichtiger Unterschied zwischen Stadt- und Dorfmenschen:

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US-amerikanischen Konsumgesellschaft heutiger Prägung auf den Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen ansetzt). Der Lappen oder auch Lumpen scheint ein überaus beliebtes Beispiel zu sein: Neben den hier aufgeführten Beispielen findet er sich auch in literarischen Texten, wie etwa Frederike Felcht und Klaus Müller-Wille anhand des Lumpens im gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen zeigen, wo er Rohstoff der Papierproduktion des 19. Jahrhunderts mit dazugehöriger Industrie ist (vgl. aus historischer Perspektive Müller 2012, 76-82, zu den Texten Andersens vgl. Müller-Wille 2009, 148-151 und Felcht 2013, 260-266). Zu einem im Kehricht gefundenen Lappen in Stifters Mappe vgl. Schneider 2008b, 171 und Haag 2004, 61f., zur lappennahen Leinwand – die vielleicht auch irgendwann einmal wieder Lappen wird – in Stifters Kalkstein vgl. Steiner 2000. Strasser 1999, 13. Vgl. Brednikova/Tkač 2004. Brednikova/Tkač 2004, 109.

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Den Ausdruck ›etwas zu einem Lappen machen‹, wenn von alten Dingen die Rede ist, kennt nicht jeder Städter; umgekehrt kommt kaum einem Dorfbewohner in den Sinn, in einem Laden ein Staubtuch zu kaufen, einen Lappen oder einen Schwamm, um das Geschirr zu spülen oder den Boden zu wischen. Die industrielle Produktion von Kram und der Verkauf von bunten Läppchen in den Läden der Städte, womit deren Bewohner der ›zivilisierte‹ Alltag beigebracht werden soll, gelten in der Sphäre der dörflichen Naturalwirtschaft wenig. Dort wird ein sterbendes Ding als Lappen wieder in Gang setzt [sic!], indem seine ursprüngliche Sachfunktion verändert wird.17 Susan Strasser nennt diese Fürsorge für die Dinge »stewardship of objects«18 , also eine Art Verwaltungspflicht des Menschen, die Sorge, Pflege, Fürsorge, Verantwortung für das Wohlergehen der Dinge und Fortbestehen einschließt und die die komplexen und langwierigen Herstellungsprozesse von Dingen mitdenkt.19 Beides, die zyklische Nutzung der Dinge sowie eine Fürsorge für sie, kennen wir bereits aus Stifters Texten. Die heute gewohnten Routinen und Systeme der Entsorgung täuschen darüber hinweg, dass Menschen erst dazu erzogen werden mussten, Dinge sorglos und kontinuierlich wegzuwerfen. Reiner Keller nennt dies »Konsum als Strategie«20 und datiert und lokalisiert den Beginn dieser Verschränkung von Konsum und kapitalistisch-industrieller Produktion Anfang der 1930er Jahre in den USA.21 Dorthin führt uns erneut Susan Strasser. Am Beispiel von Trinkbechern zu Beginn des 19. Jahrhunderts schildert Strasser, wie es Kampagnen von Wegwerfbecherherstellern brauchte, die sich zum Teil mit Gesundheitsbehörden verbündeten, um die Hygienevorzüge von Einmalbechern zu preisen.22 Ebenso gab es Versuche, die Langlebigkeit der Trinkgefäße einzuschränken, die so weit gingen, dass die Hersteller der cup beautiful-Becher stolz darauf hinwiesen, dass diese nicht zur Wiederverwendung gefaltet werden konnten, sondern bei entsprechenden Versuchen zerstört wurden.23 Dennoch gab es auch Widerstände gegen die Verwendung von Einmaltrinkgefäßen, wie Strasser zeigt: Etwa Proteste dagegen, dass Trinkgefäße an Selbstbedienungsautomaten, die meist an öffentlichen Plätzen aufgestellten waren, käuflich erworben werden sollten. Die Menschen wollten nicht für etwas bezahlen, was sie zuvor umsonst bekommen hatten. Reisende führten ihre persönlichen Trinkgefäße mit sich, Menschen benutzten weggeworfene Becher noch einmal oder tranken direkt aus öffentlichen Spendern. Dies wurde ebenfalls als unhygienisch propagiert, da es zu einer Berührung von Wasserspender und Lippen kommen konnte.24 In Drogerieläden ersetzten die Einmalbecher die zuvor üblichen Trinkgläser, um von den Getränkeautomaten, den sog. soda fountains, zu trinken.25 Hier kam es zu einer Vermischung von Interessen: Die Einwegbecher verhalfen nicht nur der Papierbecherindustrie zum Aufschwung, sondern ersparten den Drogerieläden Verluste durch zer17 18 19 20 21 22 23 24 25

Brednikova/Tkač 2004, 109. Strasser 1999, 22, vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Strasser 1999, 21-67. Vgl. Strasser 1999, 12. Keller 1998, 26. Vgl. Keller 1998, 26f. Vgl. Strasser 1999, 176f. Vgl. Strasser 1999, 177. Vgl. Strasser 1999, 177. Vgl. Strasser 1999, 177.

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen

brochene Gläser und die Notwendigkeit, die benutzten Trinkgefäße zu spülen.26 Alles Argumente, die in der aktuellen Diskussion um die Verwendung von Einmalbechern im Bereich von Kaffeeläden immer noch von Bedeutung sind.27 Konsum, und dies ein letzter Faktor, warum sich die Bewahrungsgesellschaft in eine Wegwerfgesellschaft wandelte, bedeutete Unterstützung der nationalen Wirtschaft, wie Strasser mit dem Historiker John A. Kouwenhoven für die Vereinigten Staaten zeigt: »[W]aste, abundance, and American democracy were interrelated.«28 Die Ankurbelung der Wirtschaft durch Konsum kann so auch als ideologische Bestätigung der pluralistischen Marktgesellschaft der Vereinigten Staaten interpretiert werden. Die Industrialisierung und Massenproduktion von Waren, so Strasser, erleichtere das Entsorgen von Dingen: Wenn keine Kenntnis darüber vorliegt, wie die Dinge produziert wurden, wenn es sogar gewünscht und weitaus billiger ist, Dinge zu ersetzen als sie zu reparieren, gewinnt das Entsorgen gegenüber dem Bewahren an Bedeutung.29 Die Industrialisierungsprozesse hatten jedoch noch auf andere Art Einfluss auf das Verhältnis zu den Dingen. Strassers Studie ist nicht nur eine Sozial- und Kulturgeschichte des Abfalls, sondern ebenso eine Kulturgeschichte der Hausarbeit und der Künste des Flickens, Reparierens und Wiederverwertens mitsamt der dazugehörigen Ratgeberliteratur und jahrhundertealten Traditionen. Wenn weniger Zeit für diese aufwändigen Bewahrungsarbeiten zur Verfügung steht, hat das weitreichende Folgen für das Abfallverhalten, wie auch Heather Rogers betont: »The spatial and temporal characteristics of city living crucially shaped the nature of garbage. Due to long hours on the job, industrial laborers had less time for repairing and rendering what would otherwise be ›waste‹.«30 Um die knapper werdende Zeit zu sparen, die sowohl durch Veränderung der Arbeit objektiv knapper wurde, aber auch subjektiv als knapper empfunden wurde, hielt 26 27 28

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Vgl. Strasser 1999, 178. Vgl. zur Transformation von Trinkbehältern auch die knappe Darstellung von Heather Rogers (vgl. Rogers 2007). Strasser 1999, 269. Auch Andrea Westermann kommt in ihrer Studie Plastik und politische Kultur in Westdeutschland für das Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre zu ganz ähnlichen Schlüssen – hier ist es ebenfalls das demokratische und partizipative Moment der Konsumkultur, das zum wichtigen Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaft wurde (vgl. Westermann 2007, besonders 227-232). Vgl. zu diesem Aspekt auch die Ausführungen in Kapitel 5 dieser Arbeit. Vgl. Strasser 1999, besonders 168-201. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für Wegwerfprodukte stellt die Produktpalette der in den 1950er Jahren im französischen Clichy gegründeten Firma Société BIC, später BIC, dar, wie sie Skye K. Moody in ihrem Beitrag in Zimring/Rathje 2012b versammelt: Zu deren Produkten gehörten und gehören Wegwerfklingen, Wegwerfstifte und Wegwerffeuerzeuge. Im Jahr 2005 verkaufte BIC »its one-billionth ballpoint pen« (Moody 2012, 831), produziert aktuell täglich fünf Millionen Plastikfeuerzeuge und verkauft täglich 20 Millionen Kugelschreiber. Die toxischen Abfälle gelangen über Umwege mitunter bis in die Nahrungskette (vgl. Moody 2012, 831, vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5 dieser Arbeit). Rogers 2005, 50. In diesem Kontext werden auch Genderaspekte bedeutsam: Es waren über Jahrhunderte hinweg nämlich Frauen, denen die Bewahrungsarbeiten zufielen. Als Frauen verstärkt in die Lohnarbeit der Fabriken integriert wurden, stand ihnen weniger Zeit in den Häusern und Gärten zur Verfügung. Befreiung, hier verstanden als Möglichkeit, Lohn zu bekommen, kann also auch ein Weniger an Zeit für Bewahrungsarbeit bedeuten, was wiederum zu einem Mehr an Abfällen führt (vgl. Strasser 1999, 164).

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in den Privathaushalten der Gedanke der bzw. des convenience Einzug.31 Übersetzt bedeutet der Begriff »Zweckmäßigkeit, […] Annehmlichkeit«.32 Heute wird der Ausdruck jedoch weitaus spezifischer verwendet, wie die Definition von Elizabeth Shove illustriert: »Convenience is currently associated with a reduction in the time taken to complete a specific activity and/or with the capacity to rearrange temporal sequences and in a sense shift time.«33 Erst in den 1960er Jahren wird im Oxford English Dictionary, wie Shove zeigt, im Gegensatz zum verwandten Begriff comfort für convenience eine Verbindung mit Zeit festgehalten.34 Die Idee des Komforts umfasst so eher, es sich gemütlich zu machen, weiche Materialien zu verwenden. Ein Verhalten, das Shove »cocooning«35 nennt – wir finden solchen Komfort in den Wohnzimmern des 19. Jahrhunderts, die später noch bei Walter Benjamin bedeutsam werden,36 oder auch im Vorgang der Herstellung künstlicher, behaglicher Klimabedingungen in Innenräumen.37 Für convenience ist, wie die obige Definition nahe legt, im Gegensatz zum Komfort vor allem das Moment einer anderen Nutzung von Zeit charakteristisch – dies umfasst etwa die Nutzung von Waschmaschinen und Fertigprodukten, aber auch von Mobiltelefonen und Mikrowellengeräten. Diese Entwicklung hat nicht nur Folgen hinsichtlich der Produktpalette und des Produktdesigns von Waren, etwa Nahrungsmitteln oder Transportbehältern, sondern auch für die Architektur und Struktur von Häusern und Wohnungen. Dort sind es vor allem, wenn man es sich leisten kann, die Bereiche der Ver- und Entsorgung, also Küche und Badezimmer, die von Grund auf neu konzipiert bzw. umgestaltet werden, der Maxime der Bequemlichkeit und Dienlichkeit folgend.38 Im Alltag wird, gerade auch durch Produkte, die convenient sind, mehr Hausmüll produziert, zugleich wird die Verantwortung dafür, was mit den Abfällen passiert, weitergegeben bzw. abgegeben an spezialisierte Entsorgungsunternehmen. Dabei werden, wie Mira Engler für die USA herausarbeitet, Bewegungen des Wegstoßens und gleichzeitigen Verbergens dieser Bewegungen, kombiniert.39 So wanderte der im Haushalt anfallende Müll immer weiter aus dem Sichtfeld und dem Bewusstsein der Müllproduzierenden. Während die von Engler beschriebenen Prozesse in den USA etwa ab den 1940er Jahren einsetzten, sind vergleichbare Tendenzen in Deutschland vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten. Das bestätigt auch die Studie von Sonja Windmüller.40 Windmüller und Engler zeigen, wie Müllcontainer größer werden und die Entsorgung geregelter abläuft. 31 32 33 34 35 36 37 38

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Zum Gedanken des Zeitsparens vgl. auch die Interpretation in Kapitel 3.1 dieser Arbeit. Vgl. PONS 2002, 177. Shove 2012, 298. Vgl. Shove 2012, 297. Shove 2012, 295. Vgl. hierzu Kapitel 4.3.2 sowie 4.4 dieser Arbeit. Vgl. Shove 2012, 294. Zur Entwicklung der, vor allem US-amerikanischen, Küchen und Bäder vgl. die Darstellung von Ellen Lupton und J. Abbott Miller, die die Bewegungen des Entfernens und Unsichtbarmachens bereits im Titel trägt: The Bathroom, the Kitchen and the Aesthetics of Waste: A Process of Elimination (vgl. Lupton/Miller 1996). Vgl. Engler 2004, besonders 64f. Das Wegstoßen wird abgelöst von einer (Wieder-)Anerkennung von Abfällen als ökonomische Ressource. Obgleich deren Nutzung spezialisierten Unternehmen in die Hand gegeben wird, hat die Wandlung bzw., mit Strasser, Rückverwandlung, Auswirkungen auf den Umgang mit Abfällen in den Haushalten (vgl. Engler 2004, 66-70). Vgl. Windmüller 2004a, besonders 92-100.

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Gleichzeitig werde kontinuierlich daran gearbeitet, die Abfälle so schnell wie möglich zu vergessen: The prosperity and dramatic metropolitan growth that followed World War II were the main factors driving a huge increase in the volume and the complexity of consumer waste. The size of garbage containers increased, as did the number of collecting days. Household waste contained disposable and excess packaging made of synthetics, paper, and plastics, as well as environmentally harmful materials. Wasteful habits permeated American society, but waste itself passed under people’s eyes virtually unnoticed; placed in its specified container, it disappeared the next day.41 Die Bewegungen des Entfernens sind dabei mitunter illusorisch und gehören zum Phantasma der störungsfreien Entsorgung – die weggeschafften Dinge finden oftmals in anderer Form ihren Weg zurück zu den Menschen: »Disposal practices moved waste away from residential spaces and into remote and disguised public facilities, but it struck back in the form of air, water, and land pollution.«42 Dennoch bleibt es nicht bei Trennungen: Die Mülltonne und, in Deutschland, der sogenannte ›Gelbe Sack‹, in dem im Rahmen des Dualen Systems Deutschland (DSD) Verpackungsmaterialien mit dem Ziel der Teilverwertung gesammelt werden,43 fungieren als Bindeglied zwischen privatem und öffentlichem Raum.44 Die alltäglichen Bewegungen des Entsorgens und Entfernens sind routiniert und eingebunden in Entsorgungsnetzwerke.45 Routinen und Netzwerke sind jedoch, das zeigten bereits die Ausführungen zum Abfallzerkleinerer in der Einleitung, störungsanfällig. Dabei können, wie ebenfalls gezeigt, Momente der Verrückung, der Störung nicht nur von den Menschen ausgehen, sondern auch von den Dingen. Gay Hawkins schreibt zu einer möglichen Störung der Abfallentsorgung, die im Alltag häufig auftritt: The garbage bin is already full and there are two more days until pickup. It smells. And it’s in your way. Before you begin pushing and shoving or clandestine dumping in another bin–what if you stopped and wondered about the contents of the bin? Let your waste register as more than just a nuisance. Perhaps you’d feel disgusted at its messy visibility, or guilty about the amount of rubbish you generate, or annoyed that government waste services have been cut back in the name of budget cuts or environmental reform. Whatever the response, in that momentary flicker of feeling waste is making a claim in you.46

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Engler 2004, 64. Engler 2004, 66. Zu einer Kritik des Dualen Systems vgl. Tietjen 2010, der dieses System als Ausdruck einer »ideologischen Aufwertung des Abfalls« (Tietjen 2010, 117) und einer »Ökonomisierung der Ökologie« (Tietjen 2010, 120) wertet. Vgl. Chappells/Shove 1999 und, sich ebenfalls auf ›Gelbe Säcke‹ beziehend, Silberzahn-Jandt 2004 die die ›Gelben Säcke‹ als Beispiele von »neuen Schnittstellen zwischen ›Privatsphäre‹ und kommunalem Raum« (Silberzahn-Jandt 2004, 115) fasst. Vgl. die Beiträge in Porombka/Reif/Schütz 2011. Hawkins 2006, 1.

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Hawkins widmet gerade diesen Irritationen, die oft auch nur Augenblicke dauern, ihre Aufmerksamkeit. In ihnen liege das Potenzial, Alltagsgewohnheiten zu durchbrechen und ein anderes Sehen möglich zu machen: »Habits have a materializing power on both persons and things. They bind us to the world at the same time as they blind us to it.«47 Dabei sind sie störungsanfällig, was sowohl ein Problem als auch eine Chance darstellt: »And this is the problem and the possibility of habits: when they break down, when something goes wrong in their routine operation, we are launched into a new relation with the world.«48 Die nachfolgenden Analysen literarischer Texte fragen neben möglichen Gegenbewegungen zu den gewohnten Alltagsbewegungen auch nach der Rolle von Störungen und Unterbrechungen.

2.2

Abfallströme und das Problem der Lagerung

Eine Voraussetzung dafür, Abfälle als Strom zu betrachten, ist, wie gezeigt, eine neue Quantität von Abfall. Zugleich veränderte sich aber auch die Qualität: Neue Materialien kamen hinzu, die oftmals schwer zu trennende Verbindungen eingingen und deshalb zum Problem wurden.49 Dass es so auch irgendwann keine Lösung mehr sein konnte, den anfallenden Abfall aus dem Fenster zu werfen, haben wir bereits zu Beginn der Einleitung dieses Teils gesehen.50 Das 20. Jahrhundert denkt Jan Füchtjohann mit Michel Foucault als Zeitalter des Raums.51 Der stabile Kosmos des Mittelalters mit seinem Bezug auf Gott wurde, so seine These, ersetzt durch räumliche Expansion: »Anstatt nach oben, schaute man einfach nach vorne – und schritt voran«.52 Dennoch habe, so Füchtjohann weiter, diese Ausdehnung ihre Grenzen, die zunächst einmal durch die Grenzen der Erde gesteckt sind.53 Zugleich kommt es, hier argumentiert Füchtjohann mit Foucault, zu einer Tendenz zur Lagerung: »Die weltumspannenden Ströme der Menschen, der Dinge, der Waren und des Kapitals werden an bestimmten Orten […] unterbrochen, kontrolliert und reguliert. Hier stauen sich die horizontalen Flüsse, die Ströme schieben sich übereinander 47 48 49

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Hawkins 2006, 14. Hawkins 2006, 14f. Solche neuen Verbindungen und Entgrenzungen von Abfällen werden am Beispiel von Kunststoffen, radioaktiver Kontamination und radioaktivem Abfall in Kapitel 5 und 6 dieser Arbeit analysiert. Die Studie von Mira Engler zeichnet nach, welche Phasen diese Wegwerfbewegungen im Verlauf der Entsorgungsgeschichte durchlaufen haben und kommt zu dem Schluss, dass es zunächst Bewegungen des Entfernens und des Verbergens sind (vgl. Engler 2004, 64-66). Vor allem ab den 1980er Jahren gewann dann der Versuch immer mehr an Bedeutung, die negativen Folgen dieser Wegwerfbewegungen zu verringern. So gab es Bemühungen, etwa die Privathaushalte mit intelligenten Entsorgungsmöglichkeiten auszustatten. Dennoch, darüber können auch intelligente Systeme der Entsorgung nicht hinwegtäuschen, bleiben stets Abfälle und die Frage, was mit diesen geschehen soll. Vgl. Füchtjohann 2008, 174. Füchtjohann 2008, 174. Diese Grenzen ebenfalls zu überschreiten, darauf weist Füchtjohann hin, ist das Ziel jeder Weltraum-Mission (vgl. Füchtjohann 2008, 175 und 196). Missionen, die vor allem auch eines hinterlassen: Abfälle (zu Weltraumschrott vgl. Ernstein 2012).

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen

und türmen sich auf.«54 Diese Orte nennt Füchtjohann mit Foucault Lager. Beispiel für Lager seien neben der Extremform des Konzentrationslagers Archive jeglicher Art, Museen, Bibliotheken und Naturschutzparks.55 Alle diese Archive seien, »Inseln der Dauer«, »geraumte Zeit«56 , für die das Wegwerfgebot eben nicht gelte und stattdessen zum Entsorgungsverbot werde. Füchtjohann bezieht sich dabei auf Foucaults Konzept der Heterotopie. Heterotopien, diese anderen Räume, sind uns bereits im Zusammenhang mit dem Rosenhaus in Stifters Nachsommer, einer klassischen Kompensationsheterotopie, begegnet. Heterotopien sind stets auf das Engste mit der Gesellschaft verknüpft, die sie hervorbringt, als Spiegelung, als Gegenentwurf, als Reflexion.57 Dies exemplifiziert Füchtjohann unter erneuter Bezugnahme auf Foucault mit dem Ort des Friedhofs: »Indem man einen Friedhof untersucht, kann man erkennen, wie wir im Angesicht des Todes handeln – was wir über den Tod wissen, von ihm erhoffen oder fürchten.«58 In die Kontextualisierung der Lager(ung) passt auch die Mülldeponie. Was erfahren wir, wenn wir auf die Deponie blicken? Was sagen die dort angesiedelten nachfolgenden Transformationen über den Umgang mit Abfällen, den Befürchtungen und Hoffnungen, die sie umgeben? Eng verknüpft mit der Mülldeponie ist eine weitere Konzeption, die mit ihr zusammenhängt und in der Hauptüberschrift dieses zweiten Kapitels auftaucht: die des Müllbergs. Für Anselm Wagner ist der Müllberg Un-Ort: »Unsere Müllberge sind gewissermaßen die Jenseitsorte einer Gesellschaft, die an kein Jenseits und schon gar nicht an eine Auferstehung glaubt; sie werden daher zu Recht als ›Un-Orte‹ empfunden, als Orte außerhalb des Systems beziehungsweise als Fehler im System.«59 Der Müllberg wird im Nachdenken über Abfälle zum Monument der Expansion und gleichzeitigen Konzentration von Dingen und Abfällen. Die Deponie, folgen wir Wagner weiter, sei der Versuch, den »Un-Ort Müllberg wieder ins System zu integrieren, indem man für ihn ein eigenes, vom Rest abgekapseltes Subsystem schafft.«60 So ist auch in der Forschungsliteratur zu Abfällen die Mülldeponie ein häufig verwendetes, eindringliches Symbol für die logistischen Großversuche der Wegwerfgesellschaft, mit ihren Resten umzugehen, vor allem ab den 1960er und 70er Jahren. Ein Symbol, das Raum in der Welt des Imaginären fand: Besonders der Fresh Kills Deponie auf Staten Island in New York City wurde in Don DeLillos Underworld Tribut gezollt.61

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Füchtjohann 2008, 175. Vgl. Füchtjohann 2008, 179. Füchtjohann 2008, 179. Vgl. Füchtjohann 2008, 178, der sich auf Foucault 1993a, 41f. bezieht. Füchtjohann 2008, 178. Wagner 2012, 84. Wagner 2012, 84. Vgl. DeLillo 1997, 184-186. Zu Fresh Kills vgl. Miller 2000, 209-212 und Trumpeter 2012c. Fresh Kills wurde im Frühjahr 2001 geschlossen (vgl. Miller 2000, 283-287) und noch einmal im Herbst desselben Jahres geöffnet, um die Reste der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu deponieren, insbesondere Schutt (vgl. hierzu Scarpino 2011). Im Jahr 2003 begannen die Umwandlungen in eine Parkanlage (vgl. zu diesen Transformationen Hauser 2001, besonders 195-226; speziell zu Deponien auch Engler 2004, 91-94 und Wagner 2012, 86).

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Während es in den 1950er Jahren zur Ausprägung der Konsumgesellschaft in Deutschland kam,62 gab es in Bezug auf Abfall eine Verschiebung, wie auch Ludolf Kuchenbuch bemerkt: Kuchenbuch beschreibt nicht die 1950er Jahre, hier galt vielmehr kriegs- und nachkriegsbedingt noch die Maxime der Verwertung,63 sondern die 1960er und 1970er Jahre als »Periode des ungehemmten Abfallwachstums und der unbedachten Abfallbeseitigungseuphorie«, die in die »Verrechtlichung der sozialen Abfallbeziehung und die Ökonomisierung der stofflichen Abfallbeziehungen mündete […]«.64 War in der Geschichte der Abfallentsorgung die Zeit bis in die 1970er Jahre, wie Reiner Keller in seinem Überblick zu Haushaltsmüll in Deutschland zeigt, eine der ungeordneten, der ›wilden‹ Deponien,65 kam es danach zu weitreichenden Ordnungsversuchen, wie Anselm Wagner beschreibt: »Das ›weg‹ des Wegwerfens soll verortet, geregelt und institutionalisiert, zu einem ›da‹ wie jede andere Ablage auch werden.«66 Dies schlug fehl. Es kam, wie Wagner ausführt, zu Prozessen, die unkontrollierbar waren: Sickerwasser kontaminierte das Grundwasser, Deponiegase machten die Deponie auch oberirdisch zu einem gefährlichen Ort. Zugleich kam es zu Protesten, wenn der Bau einer neuen Deponie bekannt wurde.67 Kurzum: »Abfall entzieht sich somit einer absoluten Kontrolle; die ursprüngliche Idee, ihn via Deponie komplett abzukapseln und dann vergessen zu können, erwies sich als Illusion.«68 Die Deponierung, die Lagerung, ist die gefährlichste, aber auch dingfreundlichste Art des Verfahrens mit Abfällen – eben weil noch in den Ablagerungen der Deponie, das zeigt das Garbage Project,69 gelesen werden kann. So heißt es auch in Underworld, wenn Abfallgutachter Brian Glassic Fresh Kills besucht und plötzlich eine andere Sicht auf seinen Beruf bekommt: Brian felt a sting of enlightenment. He looked at all that soaring garbage and knew for the first time what his job was all about. Not engineering or transportation or source reduction. He dealt in human behavior, people’s habits and impulses, their uncontrollable needs and innocent wishes, maybe their passions, certainly their excesses and indulgences but their kindness too, their generosity, and the question was how to keep this mass metabolism from overwhelming us. (DeLU, 184)70 62 63 64 65 66

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Vgl. Pfister 1996, besonders 66-77. Vgl. Kuchenbuch 1988, 169. Kuchenbuch 1988, 170. Vgl. Keller 1998, 79, vgl. hierzu auch Wagner 2012, 85. Wagner 2012, 84. Zur modernen Mülldeponie vgl. auch die kurze Überblicksdarstellung von Heike Weber in Zimring/Rathje 2012a (vgl. Weber 2012), zu US-amerikanischen sanitary landfills vgl. auch Engler 2004, 75-89. Vgl. Wagner 2012, 86. Wagner 2012, 85. Zum Garbage Project vgl. Kapitel 1.4.2 und 4.3.3 dieser Arbeit. Die komplette Passage, die an das obige Zitat anschließt: »The landfill showed him smack-on how the waste stream ended, where all the appetites and hankerings, the sodden second thoughts came runneling out, the things you wanted ardently and then did not […]. He knew the stench must ride the wind into every dining room for miles around. When people heard a noise at night, did they think the heap was coming down around them, sliding toward their homes, an omnivorous movie terror filling their doorways and windows? The wind carried the stink across the kill.

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Was keine der Darstellungen in Broschüren oder andereren offiziellen Texten über Deponien, was auch nicht die Publikationen des Garbage Projects oder Lexikoneinträge leisten können, packt DeLillo in wenige Sätze: die Verbindungen der Deponie zu den Wünschen, den Träumen, den Bedürfnissen, Exzessen und der Großzügigkeit der Menschen. All diese unterschiedlichen Motive für Handlungen haben Abfälle zur Folge. Vom Resultat, vom Müllberg her betrachtet, macht es folglich keinen Unterschied, warum Menschen handeln. Zugleich klingt die grundlegende Frage an, die Christian Unverzagt und Volker Grassmuck kontinuierlich in ihrem Werk Das Müll-System stellen: Haben wir dieses System noch unter Kontrolle, ist es noch kontrollierbar oder hat es uns unter Kontrolle?71 Dem Erkunden von Deponien, dem Lesen im Müll,72 sind zugleich, obwohl es möglich ist, Restriktionen entgegengesetzt, es wird fast unmöglich gemacht: Als durchdachte, als kontrollierte und bewachte Orte sind sie, darüber täuscht das Garbage Project hinweg, in der Regel eben nicht für alltägliche Erkundungen zugänglich. Anselm Wagner stellt hinsichtlich der Zugänglichkeit von Mülldeponien eine nicht geringe Ähnlichkeit mit Hochsicherheitsgefängnissen fest: Meist versteckt und wenig einsehbar, aber an verkehrsstrategischen Knotenpunkten gelegen, ist sie [die Mülldeponie, CHG] seitlich von hohen Wällen und Zäunen umgeben, nach unten durch Kies, eine Folie oder Ton abgedichtet und nach oben alle zwei Meter von einer Schicht aus inertem Material (zum Beispiel Aushub) bedeckt, sodass der Deponiekörper im Querschnitt eine regelrechte Zellenstruktur aufweist. Einlass bekommt man nur über ein gesichertes Tor, hinter dem Wiege-, Sortier- und Komprimierungsanlagen je nach »Schwere der Fälle« für die Klassifizierung, sachgemäße Behandlung und Zuteilung in die einzelnen Deponiezonen sorgen.73 Während also lange Zeit die Lagerung den primären Umgang mit Abfällen darstellte, wird in Deutschland seit den 1990er Jahren von der Deponierung Abstand genommen, seit 2005 ist es gar verboten, in Deutschland unbehandelte Abfälle zu deponieren.74 Das technische Großprojekt der Müllverbrennung, in der Fachsprache hat sich der Begriff ›thermische Abfallbehandlung‹75 etabliert, ist im Gegensatz zur Deponierung

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Brian took a deep breath, he filled his lungs. This was the challenge he craved, the assault on his complacency and vague shame. To understand all this. To penetrate this secret. The mountain was here, unconcealed, but no one saw it or thought about it, no one knew it existed except the engineers and teamsters and local residents, a unique cultural deposit, fifty million tons by the time they top if off, carved and modeled, and no one talked about it but the men and women who tried to manage it, and he saw himself for the first time as a member of an esoteric order, they were adepts and seers, crafting the future, the city planners, the waste managers, the compost technicians, the landscapers who would build hanging gardens here, make a park one day out of every kind of used and lost and eroded object of desire. The biggest secrets are the ones spread open before us.« (DeLU, 184f.) Vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, Klappentext, ohne Paginierung. Vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 73-82. Wagner 2012, 85. Vgl. hierzu etwa das Lemma ›Deponie‹ in der Brockhaus-Enzyklopädie (vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 6, 457f.) und Wagner 2012, 86. Zum Begriff vgl. Windmüller 2004a, 122.

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ein Mittel, Abfall auch in großen Mengen auf relativ kleinem Raum zu bändigen. Die Hochzeit der Müllverbrennungsanlagen setzte in den 1980ern ein.76 Fast dreißig Jahre später, im Jahr 2008, gibt das Umweltbundesamt eine Broschüre heraus, die sich mit dem negativen Image der Abfallverbrennung beschäftigt.77 Die Broschüre hat offensichtlich auch das Ziel, diesem Image entgegenzusteuern, indem im massenweisen Konsum die Ursache für die Notwendigkeit für diese Entsorgungstechnik herausgestellt wird. Wenn, so die Folgerung, die Konsumierenden nicht bereit sind, ihren Konsum einzuschränken – Vermeidung hat immer noch den Vorrang vor Verwertung und Entsorgung78 – ist die thermische Behandlung eine sinnvolle Entsorgungstechnik. Das negative Image könnte auch mit der Geschichte und den symbolischen Implikationen dieses noch relativ jungen Entsorgungsverfahrens zu tun haben. Sonja Windmüller zeichnet in ihrer bereits mehrfach zitierten Abfallstudie die vielfältigen Dimensionen der um 1900 aufkommenden Verbrennung von Abfällen im großen Stil79 und in hierfür konstruierten Anlagen nach.80 Das, so Windmüller, »moderne Großprojekt Systemmüllabfuhr« lässt ein Bedürfnis »nach entsprechend aufwendigen, über die konventionelle Ablagerung weit hinausgehenden Anschlussverfahren der Abfallvernichtung erwarten.«81 Vor dem Hintergrund dieser Erwartungen avancierte die Müllverbrennung in technisch hochentwickelten Anlagen zum »frühen ›Leuchtfeuer‹ im Orientierungskampf der Abfallexperten, zum Richtmaß und Paradebeispiel der Zivilisationsleistung ›geordnete Hausmüllbeseitigung‹«.82 Am Beispiel der Ofenkonstruktionen zeigt Windmüller auf, wie sich in diesen Maschinen der Traum von »einer belästigungs- und belastungsfreien Möglichkeit der ›Entsorgung‹« manifestierte.83 Dabei haben die Müllverbrennungsanlagen neben dieser Idee der sauberen Entsorgung von Zivilisationsabfällen immer auch Symbolwert. Ein Zeitungsbericht über die Hamburger Müllverbrennungsanlage dient Windmüller als Beispiel einer Vorstellung, die in der erlösenden Flamme (»in glühender Wut schlugen die Flammen über dem üblen Wust zusammen, das tilgende Feuer fraß alles Unreine«84 ) den Glauben an Technik mit einer Ehrfurcht vor der Vernichtungskraft des Elements Feuer vermischt. So hat die Müllverbrennung von Anfang an eine religiöse Komponente. Sie äußert sich unter anderem in den architektonischen Ähnlichkeiten der Verbrennungsanlagen mit Sakralbauten. Diese Ähnlichkei76 77

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Vgl. Keller 1998, 89. In der Einleitung dieses Papiers heißt es: »In der jüngsten Vergangenheit machten verschiedene Presseberichte über die deutsche Abfallwirtschaft auf einen vermeintlichen Widerspruch zwischen Abfallverbrennung und Abfallvermeidung aufmerksam. Dabei stand die Behauptung im Vordergrund, der derzeitige Ausbau der Abfallverbrennung in Deutschland verhindere eine weitergehende Abfallvermeidung und stünde einer Fortentwicklung der Kreislauf- und Abfallwirtschaft entgegen.« (Umweltbundesamt 2008, 3) Vgl. hierzu Umweltbundesamt 2008, 3. Zur Geschichte der Müllverbrennungsanlagen – die erste städtische Müllverbrennungsanlage entstand 1885 in New York, die ersten europäischen in den Folgejahren in England, von dort aus verbreitete sich die Technologie auf dem europäischen Kontinent u.a. 1895 in Hamburg – vgl. Keller 1998, 77 und Windmüller 2004a, 122-127, aus US-amerikanischer Perspektive vgl. Pólvora 2012. Vgl. Windmüller 2004a, 122-156. Windmüller 2004a, 122, Hervorhebung im Original. Windmüller 2004a, 122. Vgl. Windmüller 2004a, 133. Nordbayerische Zeitung vom 23.02.1911, zitiert nach Windmüller 2004a, 134f.

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ten etwa mit Kathedralen lässt auch die religiöse Komponente von Verbrennungsakten sichtbar werden: das Schmoren im Höllenfeuer. Bemerkenswert so auch, dass parallel zur Entwicklung und Verbreitung von Müllverbrennungsanlagen die Etablierung von Feuerbestattungen aufkam.85 Die Müllverbrennung birgt stets ein zentrales Versprechen, wie Stefan Böschen und Kurt Weis betonen: »Der Zwiespalt zwischen der erwünschten Steigerung industrieller Produktion und der damit unerwünscht einhergehenden Erhöhung des Abfallaufkommens schien mit diesem ›Feuerritual‹ aufhebbar.«86 Dennoch blieb die Müllverbrennung keine kritiklose Entsorgungspraktik.87 Während diese thermische Behandlung zu Zeiten ihrer Einführung und bis in die 1980er Jahre hinein als ›saubere Lösung‹ in der Abfallwirtschaft galt, hatte sie ab den 1990 Jahren mit Imageproblemen zu kämpfen, wurden Müllverbrennungsanlagen beispielsweise in der tageszeitung, wie Reiner Keller zeigt, als »Atomkraftwerke der 90er Jahre«88 bezeichnet.89 Hier gilt besonders, wie auch bei der Deponierung von radioaktivem Abfall, das Prinzip des NIMBY. Inzwischen wird beispielsweise versucht, durch neue Filter etwa dem Problem der Luftverschmutzung entgegenzuwirken.90 Neben den standortpolitischen Debatten in Bezug auf Müllverbrennung gibt es auch weitreichende Folgen in Bezug auf die Dinge: Verbrennen löscht Abfall als Abfall aus, löscht damit auch die Zukunft der Dinge als Dinge. So schreibt Nadia Schneider in ihren Betrachtungen zur Kunst Tina Hausers, die mit Müllverbrennungsanlagen arbeitet, indem sie sich »mit Schutzanzug, Funkgerät und Kamera bewaffnet in den kontaminierten Bunker begibt«91 und diese zum temporären Atelier macht – einer der wenigen Versuche, die Prinzipien der Verbergung und der Löschung zumindest temporär rückgängig zu machen: Als Nicht-Ort und verdrängter Ort sind sie [die Müllverbrennungsanlagen, CHG] ein Verdauungssystem unserer Gesellschaft, das unser Konsumverhalten schonungslos widerspiegelt. Als Ergebnis unseres vom Wohlstand gesättigten kollektiven Verhaltens sind sie die Rückseite der Medaille, die uns nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus ethischen Gründen Sorgen machen sollte.92 Rückseite, Verdauungssystem – diese Worte mahnen zur Dringlichkeit und inszenieren die Müllverbrennungsanlage als Großtechnik, die sich dem Sichtfeld entzieht. Hausers Kunst mahnt, nicht zu vergessen, dass sie Folge und somit integraler Bestandteil der Konsumgesellschaft sind. In Bezug auf das Kleine, auf die Alltagsdinge, so jedenfalls Sonja Windmüllers Schluss, ermahnten allein schon die Existenz von Müllverbren-

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Vgl. Windmüller 2004a, 153. Böschen/Weis 2007, 184. Zur heutigen Kritik vgl. aus US-amerikanischer Perspektive ausführlich Leonard/Conrad 2011, 212217. Keller 1998, 125. Keller zitiert einen Zeitungsartikel vom 19.2.1991, vgl. Keller 1998, 124. Vgl. Pólvora 2012, 410f. und Vergara 2012, 413. Schneider 2004, 89. Schneider 2004, 89.

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nungsanlagen und deren Vernichtungspotenzial eigentlich zu einer besonderen Sorgfalt im Alltagsumgang mit Abfällen: Spätestens in dem Moment, wo Einrichtungen zur Abfallverbrennung systematisch errichtet wurden, trat neben die erhoffte Chance, sich der ihnen anvertrauten Dinge endgültig entledigen zu können (hierfür waren die Anlagen ja geplant worden) zugleich die individuelle und kollektive Verpflichtung zur Entscheidungsfindung darüber, welche Gegenstände aus dem Besitz und damit aus dem das menschliche Leben immer mitkonstituierenden Umfeld beseitigt und diesem kollektivem Vernichtungsprogramm irreversibel überantwortet werden sollten.93 Trotz aller negativen Implikationen ist die Popularität dieser Entsorgungstechnik nach wie vor ungebrochen: Während die Deponierung von Abfällen in Deutschland stetig zurückgeht, gibt es im Jahr 2011 knapp siebzig Großanlagen in Deutschland, die als Müllverwertungsanlagen, Müllheizkraftwerke, thermische Abfallbehandlungsanlagen oder Müllverbrennungsanlagen bezeichnet werden.94 Die deutsche Abfallwirtschaft setzt sich, wie gezeigt, zum Ziel, die Behandlungstechniken so weiter zu entwickeln, dass bis zum Jahr 2020 Abfälle nicht mehr auf Deponien gelagert, sondern alle Abfälle »entweder stofflich oder thermisch verwertet werden.«95 Neue Techniken evozieren, dies wurde ebenfalls gezeigt, neue, andere Arten von Verbindungen – und Trennungen. So haben Ströme von Dingen, von Waren nicht nur Abfälle zur Folge. Die Ströme sind zum Teil auch Abfallströme, wenn Abfälle als Mülltransporte etwa in Regionen mit geringeren Arbeitskraftkosten geschifft werden, wo sie weiterverarbeitet oder recycelt werden.96 Zugleich ist die Lagerung, die Deponierung von Abfällen längst nicht obsolet, wie Anselm Wagner betont. Vor allem, wenn die Situation global betrachtet wird: Die USA deponieren beispielsweise immer noch 70 Prozent ihrer feststofflichen Abfälle, und für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wären geregelte Mülldeponien ein gewaltiger hygienischer Fortschritt gegenüber dem Status quo. Zu den unkontrollierten Müllhalden in den Entwicklungsländern tragen nicht zuletzt auch die Europäer kräftig bei, indem sie zum Beispiel ihren toxischen Elektroschrott illegal in afrikanische Länder exportieren, wo er meist von Kindern mit bloßen Händen ausgeschlachtet wird.97 Auch hinsichtlich der Deponierung gibt es, wie bereits mehrfach gezeigt, Verweigerungen: Radioaktiver Abfall ist eines der aktuell kontrovers diskutierten Entsorgungsprobleme der Moderne, vielleicht kann er als das Entsorgungsproblem schlechthin gelten.98

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Windmüller 2004a, 155. Windmüller zählt zu den Gegenmaßnahmen und Rettungsaktionen, um Dinge vor der Vernichtung zu bewahren, Müllmuseen in Müllverbrennungsanlagen (vgl. Windmüller 2004a, 299-307 und Windmüller 2010). Vgl. hierzu die Übersichtstabelle des Umweltbundesamtes mit Stand von 2011 (vgl. Umweltbundesamt 2011). Zwahr/Brockhaus 2006, Band 6, 458. Vgl. zu diesen Verbindungen auch die Kapitel 2.3, 2.4 und 5.2 dieser Arbeit. Wagner 2012, 86f. Vgl. zu radioaktivem Abfall Kapitel 6 dieser Arbeit.

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen

2.3

Wegwerfen zwischen Verunsicherung und Versicherung: Heinrich Bölls Der Wegwerfer – und ein erneuter Blick auf die Texte Franz Kafkas

Knapp 120 Jahre, nachdem Adalbert Stifter in seinem Text Die Mappe meines Urgroßvaters eine zentrale Bewahrungsgeschichte entfaltete und genau 100 Jahre nach dem Erscheinen des Textes Nachsommer, in dem Stifter das Anwesen des Freiherrn von Risach als heterotopischen Bewahrungsort ausgestaltete, führt uns ein Text von Heinrich Böll an einen Ort, der traditionell ebenfalls dem Bewahren dient. Es handelt sich um den Keller einer Großstadt-Versicherung. Hier wird jedoch das Gegenteil von Bewahrung praktiziert – der Keller ist der Ort eines rationalisierten Wegwerfens. Die Erzählung trägt den Bezug zum Abfall bereits im Titel: Der Wegwerfer (1957).99 Ulrich Dittmann hat, wie in Kapitel 1.3.1 dargestellt, Korrespondenzen zwischen den Texten Adalbert Stifters und Heinrich Bölls herausgearbeitet.100 Beide, so seine These, widmen sich abfallaffinen Figuren, Figuren, die nichtrecycelte Abfälle aufbewahrten und sich somit »Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit«101 zuwendeten. Diese Fäden sollen noch einmal aufgenommen werden. Bereits der erste Satz der Erzählung legt nahe, dass es sich bei den Tätigkeiten des Erzählers um etwas Exzeptionelles, etwas Furchtbares und Stigmatisiertes handelt: Seit einigen Wochen versuche ich, nicht mit Leuten in Kontakt zu kommen, die mich nach meinem Beruf fragen könnten; wenn ich die Tätigkeit, die ich ausübe, wirklich benennen müßte, wäre ich gezwungen, eine Vokabel auszusprechen, die den Zeitgenossen erschrecken würde. (BöW, 350) Stattdessen wird der Weg eines anonymen Bekenntnisses gewählt: »So ziehe ich den abstrakten Weg vor, meine Bekenntnisse zu Papier zu bringen.« (BöW, 350)102 Die Schauplätze dieser außergewöhnlichen Geschichte über das Wegwerfen sind Orte des Zusammenkommens und Auseinanderstrebens in der modernen Stadt – von Menschen und Menschen, Menschen und Dingen, Waren und Menschen. Zentrale Orte sind der Keller einer Versicherung, die Stadt mit ihren Kaufhäusern, schließlich die Wohnung des Wegwerfers, die wie sein Arbeitsplatz einem Laboratorium gleicht. Gerade das Labor stellt, wie Philipp Felsch zeigt, einen der charakteristischen Orte der Moderne dar: »Als Schnittstelle von künstlicher Inventarisierung und prozessualer Offenheit sind das Experiment und sein Laboratorium bereits um 1900 zu einer einflussreichen Projektionsfläche für Vorstellungen der Moderne geworden.«103 Die vom Wegwerfer durchgeführten Verwerfungsbewegungen, dies markiert der Text vielfach, werden unter Versuchsbedingungen optimiert. Mehr noch: Bölls Erzählung berichtet nicht nur von Experimenten und Laboren, sondern wird selbst zum Experiment, wenn sie sich zugleich so umfassenden Phänomenen wie Warenproduktion, Warenzirkulation, menschlichem Begehren, Momenten der Bewegung und des Stillstands sowie der 99

Vgl. Böll 2005b, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle BöW und Seitenzahl zitiert. 100 Vgl. Dittmann 2002. 101 Dittmann 2002, 198. 102 Bernadette Malinowski verortet den Text so auch in der Tradition der Bekenntnisliteratur (vgl. Malinowski 2003, 422). 103 Felsch 2005, 30.

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Waren- und Dingvernichtung auf knapp zehn Seiten widmet. Was macht den Text zum Experiment? Im Zentrum steht die titelgebende Tätigkeit: Ein namenloser Wegwerfer sortiert täglich im Keller der Versicherung Ubia die eintreffende Post nach von ihm entwickelten und perfektionierten Methoden und wirft die als überflüssig erachteten Sendungen weg: »Die Tätigkeit, die ich im Keller dieser honorigen Firma morgens zwischen 8.00 und 8.30 Uhr ausübe, dient ausschließlich der Vernichtung. Ich werfe weg.« (BöW, 352) Er berichtet in diesem Bekenntnis von seiner Arbeit, schildert, wie er zum Wegwerfer wurde und welche komplexen Auswirkungen diese Tätigkeit auf seinen Alltag und sein Selbstbild hat. Bernadette Malinowski charakterisiert die Stoßrichtung der Erzählung folgendermaßen: »Satirisch beleuchtet und kritisiert wird eine dem Produktions-, Konsum- und Wegwerfautomatismus verfallene Gesellschaft, die sich durch den Verschleiß materieller und humaner Ressourcen blind ins eigene Verderben stürzt.«104 Die nachfolgende Analyse stellt in den Mittelpunkt, was – so die These – sonst oftmals tatsächlich sich dem Blick entzogen vollzieht: Die Akte des Wegwerfens selbst, die Verbindungen, die im Text hergestellt werden und schließlich, damit verknüpft, die Trennungen, die der Text sichtbar macht. Nicht um Hausmüll geht es an dieser Stelle, sondern um eine andere Art von Abfällen: Postwurfsendungen. Wurfsendungen, die in der Erzählung im Rahmen von aufwändigen Auswahlprozessen bestätigt oder verworfen werden müssen. Auch sie haben infrastrukturelle Relevanz. Die Werbung bzw. die Werbeindustrie ist eine Vermittlerin ganz besonderer Art: Als Herstellerin von Verbindungen zwischen Menschen und angebotenen Waren weckt sie das Begehren, das sich nicht auf bestimmte Waren richten muss, sondern ebenfalls zirkulieren kann. Wie die Verpackung zählt die Werbung neben der Mode deshalb zu den grundlegenden Konsumverstärkerinnen.105 Den Aspekt des Begehrens illustrieren auch die Reise- und andere Werbeprospekte, die der Wegwerfer in seiner Kindheit aus dem Abfall gerettet und gesammelt hat, die er jedoch im Alter von 17 Jahren, als inzwischen auf ein beachtliches Ausmaß angewachsene Sammlung, an einen Altwarenhändler verkauft und damit der Ungewissheit übergibt (vgl. BöW, 354). Der Arbeitsalltag, das Denken und Handeln des Wegwerfers ist vom Rhythmus der Postsendungen bestimmt – von der Menge ihres Eintreffens, von ihrem Aussehen; ebenfalls ist es bestimmt von seinen Versuchen, die Wegwerfarbeit zu optimieren. Optimierungen, denen die Methoden des scientific management zugrunde liegen, in deren Rahmen Tätigkeiten mit (scheinbar) objektiver Genauigkeit gemessen und wiederum optimiert werden:106

104 Malinowski 2003, 421. Vgl. zu dieser Erzählung auch die kurze, wichtige Forschungstexte versammelnde Interpretation von Eckhard Rademann (vgl. Rademann 1998, 112-122). 105 Zu Konsumverstärkern vgl. König 2000, 387-421, dabei explizit zum Thema Werbung 394-406, zur Verpackung 409-414 und zur Mode 387-393. 106 Zum Taylorismus und Fordismus im Arbeitsalltag der Industrie, aber auch in der Bürowelt und in Privathaushalten vgl. Borscheid 2004, 258-300, aus technikhistorischer Perspektive das entsprechende Kapitel in Braun/Kaiser 1992 (besonders 43-70). Zum scientific management vgl. auch direkt Taylor 1922.

2. Ströme: Geschichte(n) vom Trennen

Ich vernichte innerhalb einer Stunde das Ergebnis von zweihundert Arbeitsstunden, erspare der Ubia weitere hundert Stunden, so daß ich insgesamt (hier muß ich in meinen eigenen Jargon verfallen) ein Konzentrat von 1:300 erreiche. (BöW, 356) Ziel bleibt immer die Herstellung von Ordnung durch Prozesse der Normierung und Formung nach dem Credo der Rationalität. Nach Foucault sind die Orte, an denen Synchronisationsprozesse eingeübt werden, die Institutionen der Disziplin wie Erziehungsanstalten, Familien, Gefängnisse oder Krankenhäuser. Fortschritt und Optimierung sind das Ziel, konsequente Prüfung und Überprüfung die Mittel.107 Faktoren, die in wesentlichen Komponenten auch in der an Foucault anschließenden Konzeption der Kontrollgesellschaft fortgeschrieben werden, wie sie Gilles Deleuze in den 1990er Jahren beschrieb. Nach Deleuze wird die diskontinuierliche Prüfung jedoch ersetzt durch einen kontinuierlichen Prozess der Kontrolle: »Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich ist.«108 Gerade die gewählte Textform des Bekenntnisses korrespondiert mit der Kontrollgesellschaft, die Verfahren der Selbstoptimierung durch Versuche und Übung kombinieren die von Foucault und Deleuze geschilderten Prozesse.109 Vielleicht auch nur scheinbar: Das ausgeklügelte System der Trennarbeit von Bölls Wegwerfer ist, wie Bernadette Malinowski richtig bemerkt hat, trotz scheinbarer Rationalität äußerst unverlässlich und dadurch fragwürdig, da er sich an Äußerlichkeiten, wie Verpackung der Briefe oder Höhe der Frankierung, orientiert.110 Ziel seiner Sortier- und Wegwerfarbeit ist, die guten von den schlechten, weil nutzlosen Postsendungen zu trennen. So trennt er die Briefe von den »Drucksachen« (BöW, 352). Dabei hat der Wegwerfer im Keller der Versicherung die rationalisierten Wegwerfbewegungen der ihn umgebenden Stadt internalisiert. Wegwerfbewegungen, die im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten stetig optimiert wurden. Diese Entwicklungen der kommunalen Abfallbeseitigung können mit Windmüller als symptomatisch für »Rationalisierungs- und Vereinheitlichungsprozesse im 20. Jahrhundert«111 gelesen werden: Nicht zuletzt durch den intensiven Austausch und die relativ enge Zusammenarbeit verschiedener Expertengruppen lässt sich bereits zu Beginn des Jahrhunderts eine unverkennbare Tendenz zur Standardisierung der Abfuhrverfahren (oder besser: ihrer Wahrnehmung) beobachten, die auf diskursiver Ebene beeindruckend schnell voranschritt. Ihren Ausdruck findet sie in einer frühen Vereinheitlichung der Expertenspra107 Bei Foucault heißt es: »Letzten Endes steht das Examen im Zentrum der Prozeduren, die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren. Indem sie hierarchische Überwachung und normierende Sanktion kombiniert, erbringt die Prüfung die großen Disziplinarleistungen der Verteilung und Klassifizierung, der maximalen Ausnutzung der Kräfte und Zeiten, der stetigen Anhäufung und optimalen Zusammensetzung der Fähigkeiten. Also der Herstellung der zellenförmigen, organischen, evolutiven und kombinatorischen Individualität.« (Foucault 1998, 247f.) 108 Deleuze 1993, 260. 109 Link 2002 liest eine andere Form des Bekenntnisses, die Beichte, mit Foucault als Teil einer Denormalisierung, die »deviante Positionierungen« (Link 2002, 550) ermögliche. 110 Vgl. Malinowski 2003, 432. 111 Windmüller 2004a, 72.

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che, einer raschen, aber nachhaltigen Ausformung von Fachtermini, die mit der Herausbildung fixer Kategorien möglicher Sammel- und Transportsysteme einherging.112 Expertensprache, verwissenschaftlichte Sprache, eine Rationalisierung und Vereinheitlichung der Sprache – all dem begegnen wir auch in Der Wegwerfer, allerdings häufig, durch die Form des Bekenntnisses bedingt, mit Erläuterungen oder Erklärungen des Wegwerfers versehen (so spricht der Wegwerfer zwar von seiner »Grundformel« (BöW, 357), in einer anderen Textstelle heißt es jedoch: »Was mich als Formel berauschte, enttäuschte mich, da es sich als so leicht ausführbar erweist.« (BöW, 356)). Die Sprache des Wegwerfers, die Sprache der Erzählung Der Wegwerfer verweisen so auf Rationalisierungen, markieren zugleich die Trennungen, die mit diesen Rationalisierungsprozessen verbunden sind. Einige gelungene Interpretationen richten ihren Fokus darauf, wie die Erzählung etwa die vielfältig miteinander verwobenen Prozesse von Bewahren und Entsorgen, von Erinnern und Vergessen zur Sprache bringt.113 Der Wegwerfer reflektiert in seinem Bekenntnis die Machtposition, zwischen Erhalt und Vernichtung zu unterscheiden. Dabei sieht er die Waren, die er vernichtet, nicht nur als isolierte Produkte, sondern als Teile von Gefügen, als Materialisierung von Arbeit und Ideen, die unbekannte Menschen miteinander verbinden. Diese unsichtbaren Verbindungen machen ihm die morgendliche Straßenbahnfahrt zum Arbeitsplatz zur Qual. Der Umstand, dass die von ihm ausgesonderten Drucksachen dem Altpapierhändler übergeben und damit eine weitere Station im zirkulierenden Warenverkehr antreten, könnte ihn zwar trösten, ändert jedoch wenig an seinen Schuldgefühlen: Manchmal auch fürchte ich, daß die Bahn voller Menschen ist, die am Vortag eine Arbeit geleistet haben, die ich am Morgen noch vernichten werde: Drucker, Setzer, Zeichner, Schriftsteller, die sich als Werbetexter betätigen, Graphiker, Einlegerinnen, Packerinnen, Lehrlinge der verschiedensten Branchen: von acht bis halb neun Uhr morgens vernichte ich doch rücksichtslos die Erzeugnisse ehrbarer Papierfabriken, würdiger Druckereien, graphischer Genies, die Texte begabter Schriftsteller; Lackpapier, Glanzpapier, Kupfertiefdruck, alles bündele ich ohne die geringste Sentimentalität so, wie es aus dem Postsack kommt, für den Altpapierhändler zu handlichen Paketen zurecht. (BöW, 356) Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass bereits zu Beginn der Erzählung bestimmte Arten des Vermittelns zwischen den Menschen und den Dingen (als Warendinge) – gerade in der Selbstwahrnehmung des Wegwerfers – als angesehen, andere als gesellschaftlich geächtet konstruiert und kommentiert werden. Diese Ächtung bzw. Selbstverachtung taucht als Motiv immer wieder auf. Andere Berufe der Vermittlung, die des Lebensmittel- oder Schmuckhändlers, werden von ihm nämlich als ehrenhaft gezeichnet: »Offenbar ist es mir gelungen, mit Erfolg jene Maske aufzusetzen, die Fragen nach meiner Tätigkeit ausschließt. Ich gelte wohl 112 113

Windmüller 2004a, 72. Vgl. Malinowski 2003, 436. Auch Harald Weinrich interpretiert die Erzählung im Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen und bezeichnet die Arbeit des Wegwerfers als Beispiel einer »handgreiflichen Vergessenskunst« (Weinrich 2000, 258).

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als ein gebildeter Herr, der Handel mit Dingen treibt, die wohlverpackt und wohlriechend sind: Kaffee, Tee, Gewürze, oder mit kostbaren kleinen Gegenständen, die dem Auge angenehm sind: Juwelen, Uhren […].« (BöW, 351) Gerade der, vermutlich hauptsächlich mit Importware, handelnde Lebensmittelhändler, der Kaffee, Tee und Gewürze, also Luxus- und Konsumgüter veräußert, bietet diese zum baldigen Verbrauch an. Ware, die in den 1950er Jahren dennoch wertvoller war als heute, wo sie kontinuierlich an Wert verliert.114 Der Verweis auf Luxusgüter wie Tee oder Gewürze verbindet auch den alltäglichen Konsum mit Handelsbeziehungen, mit globalen Verbindungen und Strömen, die im Kolonialismus im Zuge von geopolitisch motivierten Expansionen zu realen Unterdrückungsverhältnissen führten.115 Im Verlauf des Bekenntnisses wird klar, dass dem Wegwerfer seine Obsession zur Profession wurde, die er neben seiner Beschäftigung als Post-Wegwerfer in seiner Freizeit auf eine andere Form der vermittelnden Ware ausweitet und weiter steigert: die Verpackung. Hier klingen die oft in Interpretationen in den Mittelpunkt gestellten kritischen Einstellungen gegenüber der Konsumgesellschaft besonders deutlich an (Aussagen, dass die Verpackung wichtiger sei als der Inhalt oder die Erkenntnis, »wieviel Mühe« es brauche, »den Gegenstand, den man zu besitzen wünscht, wirklich in die Hand zu bekommen« BöW, 358). Anhand der Verpackung denkt der Wegwerfer einen Gedanken in letzter Konsequenz weiter, obgleich die Last seiner »ökonomischen Phantasie«, wie er es bezeichnet, ihn fast zu erdrücken droht: »Wahrscheinlich werde ich Wegwerferschulen einrichten. Vielleicht auch werde ich versuchen, Wegwerfer in die Postämter zu setzen, möglicherweise in die Druckereien; man könnte gewaltige Energien, Werte und Intelligenzen nutzen, könnte Porto sparen, vielleicht gar so weit kommen, daß Prospekte zwar noch erdacht, gezeichnet, aufgesetzt, aber nicht mehr gedruckt werden.« (BöW, 357) Sein Plan ist, das perfektionierte, das rationale und unsentimentale Wegwerfen gesamtgesellschaftlich auszuweiten, Wegwerfer in den Kaufhäusern zu positionieren, um die täglichen »Milliarden von Wegwerfbewegungen« (BöW, 357) zu mindern oder gar ganz zu verhindern. Dabei stellt gerade der Plan, die Wegwerfer in Kaufhäusern aufzustellen, einen Vorschlag von großer Tragweite dar. Neben dem Labor wurde das Kauf- bzw. Warenhaus in Europa und den USA ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts116 zu einem der paradigmatischen Orte der Moderne.117 Eng mit den Entwicklungen in Produktion und Distribution von Waren verknüpft – also Rationalisierung, Massenproduktion und Massendistribution118 – waren die Kaufhäuser Orte der Warendinge, zugleich wirkten 114

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Zu diesem Wandel von ehemaligen Luxusprodukten zu Massenkonsumprodukten vgl. König 2000, 171f. Schivelbusch 2005 zeichnet die Geschichte von Genussmitteln wie Tee, Kaffee und Kakao nach und zeigt, wie die Wichtigkeit von Gewürzen als Luxusware bereits im 17. Jahrhundert von Tee und Kaffee im Welthandel abgelöst wurde (vgl. Schivelbusch 2005, 23f.). Zu diesem Machtaspekt vgl. am Beispiel des Zuckers die Ausführungen in Sidney W. Mintz einflussreicher Studie Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers (Mintz 2007), besonders 184-220. Mintz geht hier auch auf Machtpositionen ein, die »Plantagenbesitzer, Bankiers, Sklavenhändler, Schiffseigner, Raffineure, Kolonialwarenhändler, […] Regierungsbeamte« (Mintz 2007, 203) einnehmen. Vgl. König 2000, 102-106, hier: 102. Vgl. Spiekermann 2005, auf den sich die nachfolgenden Überlegungen zum Warenhaus beziehen. Vgl. hierzu die Ausführungen in König 2000, 33-90.

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sie in die Leben der Menschen hinein, stellten Verbindungen her, trennten aber auch. Uwe Spiekermann bewertet das Warenhaus vor allem als überschätzten Ort, »greift doch die Imagination des Ortes vielfach über dessen tatsächliche Bedeutung hinaus«119 . Zunächst einmal sei das Kaufhaus nämlich lediglich der »kapitalistisch geführte[…] Großbetrieb im Einzelhandelsgewerbe, der Waren verschiedenster, innerlich nicht zusammenhängender Art in einheitlichen Verkaufsräumen oder Verkaufshäusern anbietet.«120 Was macht das Warenhaus, jenseits dieser kargen Definition, zu einem Ort, den Uwe Spiekermann als Kristallisationspunkt kultureller Imaginationen beschreibt? Warum sind diese Orte, an denen Menschen kaufen, die Warenhäuser, Malls und Supermärkte, Orte von Mythen, Erzählungen, Geschichten? Diese Orte dienen als Imaginationsräume, als Anfangs- und Endpunkte von Geschichten. Dabei waren und sind die Geschichten, die diese Orte vielfach begleiten, fortschrittsoptimistische, wie Uwe Spiekermann am Beispiel von Warenhäusern zeigt: »Die positive, verheißungsvolle Perspektive einer Gesellschaft der Fülle, ohne Not und Enge wurde häufig beschworen, ohne explizit angesprochen zu werden.«121 Das Warenhaus stand für die Idee einer »rational organisierten Konsumgesellschaft ohne tief greifende soziale Konflikte«122 . Ein Schlüssel zum Verständnis des Faszinosums Warenhaus ist der Blick auf die angesprochen Verbindungen. Es bindet die Menschen zunächst einmal an einen Ort, und das möglichst umfassend: Die großen Häuser erinnerten in der Vielzahl ihrer Angebote an eine ständige Ausstellung der käuflichen Errungenschaften der Moderne. Massenprodukte glänzten im Schein der hervorgehobenen Luxuswaren, Erfrischungsräume und Lesesäle luden zum Verweilen ein, Kunstausstellungen und Theateraufführungen boten Anregung und Unterhaltung.123 Die nächste gewünschte Bindung ist die des Menschen an die Waren, an die »käuflichen Errungenschaften der Moderne«. Dabei ist der Gedanke der Käuflichkeit von fast allem grundlegend, das Warenhaus wird zum Ausdruck einer »umfassende[n], immer breitere Bevölkerungsschichten umgreifende[n] Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Lebens.«124 Zugleich wächst dieser Ort über sich hinaus, stellt Verbindungen nicht nur zwischen Menschen und Waren her, sondern auch räumliche. Stadt und Land rückten näher zusammen, das Warenhaus hat Auswirkungen auf die Infrastruktur der Stadt, weil sich andere Geschäfte um das Warenhaus anordnen oder Straßen und öffentliche Verkehrsmittel die störungsfreie An- und Abreise ermöglichen sollen.125 So

119 120 121 122 123 124 125

Spiekermann 2005, 206. Spiekermann 2005, 208. Spiekermann 2005, 213. Spiekermann 2005, 213. Spiekermann 2005, 210. Spiekermann 2005, 211. Vgl. Uwe Spiekermann: »Konkurrenten, Fachgeschäfte, Restaurants und Dienstleistende gliederten sich kranzartig um das Zentrum des Absatzes, nutzen dessen Attraktivität, erhöhten sie zugleich.« (Spiekermann 2005, 210)

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erinnert die Architektur der Warenhäuser auch an einen anderen Ort der An- und Abreise – den Bahnhof.126 Das klassische Warenhaus des 19. und 20. Jahrhunderts war in den USA, später auch in Deutschland, von der shopping mall ergänzt bzw. abgelöst worden, die aber ganz ähnliche, flächenmäßig ausgedehnte Einkaufmöglichkeiten bietet.127 Sowohl Warenhäuser als auch Malls sind eingebunden in die Idee der Zirkulation von Waren und Menschen, wie es Uwe Spiekermann auf den Punkt bringt: »Als Ausdruck und Symbol der modernen Konsumgesellschaft bildeten die Warenhäuser einen Ort, an dem modernes Wirtschaften greifbar und sinnlich erfahrbar wurde. Ohne den Kreislauf von Geld und Geschäft war und ist kein Ort der Moderne denkbar.«128 In der Konsumsoziologie wird auf das Potenzial eines scheinbar banalen Akts wie das Einkaufen hingewiesen.129 So hält der Konsumsoziologe Kai-Uwe Hellmann in seinen Ausführungen zum Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform in der Konsumkultur fest, dass Konsum »für uns nicht bloß das [ist], was wir erwerben und verbrauchen; viel mehr fungiert Konsum als eine Art Medium, das seine Wirkung nicht bloß dadurch entfaltet, bestimmte Formen des Konsums zu produzieren, sondern als Potentialität zu wirken, als Bedingung der Möglichkeit von Möglichkeiten.«130 Gerade Orte des Konsums wie das Warenhaus, die Mall oder der Supermarkt seien durch ihre Austauschbarkeit und Ähnlichkeit ideale Räume zur Erzeugung von Optionen, weil »ihre Wirklichkeit ausschließlich in der Stimulation der Simulation von Optionen besteht.«131 Konsum, so Hellmann weiter, sei ein Akt, der Tagträume produziere, fördere, zirkulieren lasse und auch stets enttäusche – dadurch, dass sich diese Träume niemals ganz erfüllten.132 Dabei bedingten sich Markt, Geld und Konsum wechselseitig133 – wenn eine der drei Variablen fehle, komme es zu Stockungen im Spiel der Möglichkeiten. Ein Zustand, der nicht eintreten soll. Anders ausgedrückt: Worüber der Gedanke des Zugangs, der Zirkulation von Menschen und Waren sowie die Idee des Möglichkeitsraumes hinwegtäuschen – das Wa126

Vgl. Spiekermann 2005, 209. Zum Bahnhof vgl. auch Kapitel 3, besonders Unterkapitel 3.5.2 dieser Arbeit. 127 Zur Geschichte der Mall vgl. Lukas 2012b, zur Kritik besonders 497. Zur Funktionsweise der Mall vgl. die Aufsätze in Wehrheim 2007, einem interdisziplinären Forschungsband zum Phänomen shopping mall, der sich neben historischen Darstellungen auch mit deren Bedeutung für die Stadtplanung sowie deren Stellung als Raum zwischen öffentlichem und privatem Raum befasst. Auf den Kontrollaspekt konzentrieren sich Helten 2007 und die Monographie von Ellen Bareis (vgl. Bareis 2007). 128 Spiekermann 2005, 216. 129 Zur Mall als Ort kommoder Freiheit vgl. Legnaro/Birenheide 2007. 130 Hellmann 2008, 33. Hellmann beschreibt den Markt bzw. die Marktwirtschaft als Kontingenzkultur, indem er in Anschluss an Simmel die Funktion des Geldes beschreibt als »eine äußerst effiziente Möglichkeit […], beliebige Sach- und Dienstleistungen zu erwerben, um damit beliebige Zwecke zu verwirklichen, [und das] auch die Möglichkeit eröffnet, alle Möglichkeiten, die man mittels Geld realisieren zu können glaubt, als bloße Möglichkeiten wertzuschätzen, indem man an der Möglichkeit Gefallen findet, alles erreichen zu können, solange man diese Möglichkeit nicht wirklich nutzt.« (Hellmann 2008, 32f.) 131 Hellmann 2008, 38. 132 Hellmann 2008, 36f. 133 Vgl. Hellmann 2008, 39.

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renhaus ist auch ein Ort der Trennungen. Es scheint, als ob dieser Ort gerade deshalb so erfolgreich war, weil wir von den Waren, aber auch von den Vorgängen, die die Warenpräsentation begleiten, nur die Vorderseite, den schönen Schein sehen und sehen sollten. An diese Form des Vergessens erinnert auch Zygmunt Bauman: Die Geschichte, in der und mit der wir wachsen, hat kein Interesse am Abfall. Folgt man dieser Erzählung, interessiert nur das Produkt, nicht der Abfall. Zwei Arten von Lastwagen fahren Tag für Tag von den Fabrikhöfen – die einen steuern die Lagerhallen und Kaufhäuser an, die anderen die Mülldeponien. Die Geschichte, in der wir aufgewachsen sind, hat uns gelehrt, nur die erste Art von Lastwagen zu bemerken (zu zählen, zu schätzen, zu beachten). An den zweiten Lastwagen denken wir nur bei den (zum Glück nicht alltäglichen) Ereignissen, bei denen die Restelawine von den Müllbergen herabstürzt und die Zäune durchbricht, die unsere Hinterhöfe schützen sollen.134 Deshalb behalten sich auch die Warenhäuser und, in bisher unvergleichbaren Ausmaßen die shopping malls, vor, Störungen so weit wie möglich auszuschließen. Sinnbild für das störungsfreie Erleben in den Kauf- und Warenhäusern ist die Rolltreppe. Kaufhaus und Rolltreppe erscheinen als verzahnte infrastrukturell-technische Projekte, deren Ursprünge in derselben Logik liegen, die auch die Fließbandproduktion hervorgebracht hat: Das natürliche Milieu der Rolltreppe ist das Kaufhaus: Menschen lassen sich passiv durch Räume bewegen, in denen Waren ausgestellt sind, die in Fließbandproduktion entstanden sind und in minutiös abgestimmten Logistikketten zu ihrem Bestimmungs- und Verkaufsort gebracht wurden. Rolltreppen sind Herzen, Motoren und Prunkstücke der Warenpaläste; sie erlauben, den Blick über das Angebot schweifen zu lassen, während man geräuschlos und sanft emporgehoben wird.135 Dabei, darauf macht Dietmar Kammerer aufmerksam, nähert sich im Dahingleiten auf einer Rolltreppe – sei es in Warenhäusern oder shopping malls, aber auch Bahnhöfen oder Flughäfen – das Individuum der Ware an: »Rolltreppen machen den Menschen zum kalkulierbaren Objekt, sie vereinzeln, analysieren, segmentieren, kanalisieren, was ansonsten als Schwarm oder Diffusion ohne Richtung wäre.«136 So ist die Rolltreppe auch geeignet, Ströme von Menschen zu überwachen und zu ordnen. Die Rolltreppe manifestiert zwei für die Moderne prägende Ideen: Das Endlosband steht für die Idee der endlosen Zirkulation, die keine Reste zurücklässt, die aber zugleich auch ohne Anstrengung höher oder vorwärts trägt. Kammerer fasst das so: »Ihre Bewegung ist prinzipiell endlos und kennt nur eine Richtung: vorwärts«137 . Die Wegwerfbewegung des Wegwerfers nähert sich der von der Rolltreppe vollzogenen Bewegung an: Es sind unendliche Bewegungen.

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Bauman 2005b, 41. Dabei ist der Lastwagen eigentlich ein verbindendes Medium (vgl. Vahrenkam 2011, 123-152). Zu Zygmunt Bauman vgl. ausführlich Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Kammerer 2009, 89. Kammerer 2009, 89. Zur Erfolgsgeschichte von Lebensmittelketten und Supermärkten trägt genau dieses Moment der Kalkulierbarkeit und Uniformität bei (vgl. Fazzino 2012, 335). Vgl. Kammerer 2009, 89.

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Die Analogie von Rolltreppe und Ware hingegen findet sich im Moment der Täuschung. Während die Ware die Erfüllung von Wunschträumen verspricht, aber niemals einlöst, macht die Rolltreppe den Menschen zum Objekt, ohne dass dieser es merkt: Die Mühelosigkeit ihrer Benutzung zum Zweck der Höhen- und Raumüberwindung verschleiert den Umstand, dass der Benutzer sich ihrem Vektor unterordnen muss. Entgegen der sprachlichen Suggestion ›fährt‹ man nicht Rolltreppe, sondern man wird gefahren; man wird Objekt einer Architektur der passiven Beförderung, die den Transportbändern in Logistikzentren, die Pakete, Koffer oder Waren an ihren jeweiligen Bestimmungsort verbringen, verwandter ist, als der individualisierten Mobilität auf Straßen oder Autobahnen.138 Das Ideal der Störungsfreiheit führt darüber hinausgehend auch zu Hausverboten für als störend empfundene Menschen oder die kontinuierliche Anwesenheit von Reinigungs- und Sicherheitspersonal.139 Eine weitere, abstraktere Komponente dieser Störungsfreiheit ist, daran erinnert Hellmann, das Aufkommen von ›Konsumentenkrediten‹.140 Ziel ist, den Kaufakt unabhängig vom tatsächlichen Einkommen zu machen. Dies ergänzt ausgereifte Infrastrukturen der Ver- und Entsorgung, die auch zum Ziel haben, eine weitere Störung, eine weitere Stockung in der Zirkulation nicht als Störung sichtbar werden zu lassen. Bauman und Böll weisen auf die Rückseite der Warensituation hin. Eine Rückseite, die für die Einkaufenden, die die Rolltreppen hinauf- oder hinabgleiten, unsichtbar bleiben muss: Abfall.141 Niemand, der oder die zum shopping geht, möchte an die Rückseite dieses Möglichkeitsspiels erinnert werden. Eine solche Störung wäre beispielsweise bereits ein überlaufender Abfalleimer vor dem Eingang, der den Zugang zum Warenhaus wenn nicht verhindert, so wenigstens erschwert. Nicht zu unterschätzen ist auch das ästhetische und olfaktorische Störungspotenzial von Abfalleimern und herumliegendem Müll. Dabei ist diese Rückseite bereits in die Worte Konsum und Konsumption eingeschrieben, wie Aldo Legnaro und Almut Birenheide feststellen: »consummare, zusammenrechnen, vollbringen, vollenden, zur höchsten Vollendung bringen«142 und »consumere, aufbrauchen, verbrauchen, aufzehren, verprassen, erschöpfen«143 . Daraus folgern sie: [K]eine Wunscherfüllung, keine Selbstperfektion ohne erschöpfende Konsumarbeit, die freilich ihre Belohnung in sich trägt, und diese Konsumarbeit bedeutet eine endlose Anstrengung und hört nie auf, im Einklang mit dem Verbrauch von Waren und der

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Kammerer 2009, 89. Dörhöfer 2007 fasst das so: »Die baulichen Monolithen des Handels wenden sich in ihrer Innenorientierung gegen die städtische Vielfalt, gegen das Andere und Fremde, gegen kulturelle und soziale Buntheit. Sie schließen sie aus. Durch ihre Vereinnahmung großer Areale segregieren und monofunktionalisieren sie jene durchmischten Stadtgebiete des 19. Jahrhunderts […].« (Dörhöfer 2007, 71) 140 Vgl. Hellmann 2008b, 35, Fußnote 32. 141 Zur Verhältnis von Ware und Abfall vgl. auch das Unterkapitel 3.2 dieser Arbeit. 142 Legnaro/Birenheide 2007, 273, Hervorhebung dort. 143 Legnaro/Birenheide 2007, 273, Hervorhebung dort.

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aus materiellen und modischen Gründen begrenzten Haltbarkeit der Dinge. Es ist diese ständige Alterung (und Veralterung) der Individuierung, die dem Freiheitsraum der Mall seine Dynamik verleiht. Die hier erhältliche Freiheit muss permanent aktualisiert und realisiert werden, sonst verlischt sie.144 Der Aspekt des Auf- und Verbrauchens, der in den zähen und nicht enden wollenden Bewegungen des Wegwerfers resultiert, ist zentral. Der Wegwerfer setzt so die Arbeit, die Konsum bedeutet, in den Mittelpunkt eines Individuums, das zugleich Täter und Opfer der Konsumgesellschaft ist. Der Text macht durch diese Doppelrolle der Figur des Wegwerfers Operationen und Konflikte sichtbar, die sich im Alltag unbemerkt vollziehen, im Verborgenen stattfinden. Die sozialen Konflikte sind, entgegen den mit dem Warenhaus verbundenen Utopien eines konfliktfreien Ortes, nur scheinbar absent. Sie finden sich etwa in den Hinweisen auf Kolonialismus, der im Text jedoch nicht explizit genannt, sondern nur, wie gezeigt, durch die Nennung von Waren wie Tee und Gewürze angedeutet wird. Bemerkenswert ist, und darauf sei zum Schluss der Analyse von Der Wegwerfer verwiesen, in welcher Art von Institution der Wegwerfer seiner Tätigkeit nachkommt: im Keller einer Versicherung. Während Malinowski bezüglich des Kellers zuzustimmen ist, dass es sich hier um einen Ort des Vergessens handelt,145 ist in Bezug auf Abfälle der Keller zusammen mit dem Dachboden, wie mit Reiner Keller gezeigt wurde, auch ein Ort der Bewahrung.146 Dabei findet die Wegwerfarbeit nicht im Keller eines Wohnhauses statt, sondern im Keller einer Versicherung. Die Wahl des Ortes ist bedeutsam. Zunächst gibt es Korrelationen zwischen den optimierten bzw. zu optimierenden Bewegungen, die der Wegwerfer ausführt und der veränderten Arbeit in der Versicherung, die hier exemplarisch steht für generelle Veränderungen in der Arbeitswelt: Auch Versicherungen, das zeigt etwa die Geschichte der Versicherungswirtschaft in Deutschland von Peter Koch, sind von den Rationalisierungstendenzen in den 1950er Jahren betroffen. Dies umfasst die Einführung neuer Zeiterfassungssysteme wie Nutzung der Lochkartentechnik zur Erfassung von Daten und zur internen Abrechnung, Rationalisierung der Büroorganisation und Umstellung auf elektronische Datenverarbeitung.147 Hier eröffnet sich zugleich noch eine andere Verbindung: Über die Institution Versicherung führt Bölls Erzählung zu Franz Kafka, Angestellter bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt.148 Ist der Wegwerfer eine Figur, die hilft, die Ordnung der Institution Versicherung zu entfalten? Wie Arne Höcker und Oliver Simons im Hinblick auf die in Kafkas Texten so bedeutsamen Mittlerfiguren formulieren: Institutionen bedürfen der Vertreter, Grenzwächter, Türhüter, Ratgeber und Sekretäre, um ihre Ordnungen zu entfalten. Gerade diesen Figuren schenkt Kafka seine Aufmerk144 145 146 147 148

Legnaro/Birenheide 2007, 273. Vgl. Malinowski 2003, 429. Vgl. Keller 1998, 13f. Vgl. Koch 2012, 378-381. Zu Kafka und Abfall vgl. die Interpretation der Erzählung Die Verwandlung in Gehrlein 2005, 5357. Zur Versicherung als Beispiel einer Bürokratie, die stellvertretend stehe für einen »normalistische[n] Diskurskomplex« (Link 2002, 557), welcher Kafkas Schreiben als »negierte Folie« (Link 2002, 557) begleitete, vgl. Link 2002, 557.

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samkeit. Sie dienen einerseits der Institutionenbildung, andererseits scheinen sie diesen Institutionen selber gar nicht anzugehören.149 Auch der Wegwerfer ist zunächst einmal eine Figur, die nicht zur Institution Versicherung zu gehören scheint, die sich außerhalb der Institution als Fremder, als Nichtzugehöriger markiert, die, wie Malinowski betont, eine verworfene Figur ist: »Das Bekenntnis des Wegwerfers ist auch das Selbstporträt eines Weggeworfenen.«150 Malinowski erklärt weiter: »Die Krankenakte ›Lochkarte‹ registriert die Diagnose, die ein funktionierender Administrations- und Machtapparat über ein Individuum fällt, das sich seinerseits anmaßt, die Gesundheit eben dieses Apparates in Frage zu stellen.«151 Dabei steht der Wegwerfer immer am Rand des Verschwindens – zugleich trennt ihn seine Trenntätigkeit von anderen Menschen. Auch hinsichtlich einer weiteren Verbindung ist die Korrespondenz zwischen Böll, Kafka und dem Ort der Versicherung von Interesse. Benno Wagner hat die Bedeutung der Institution Versicherung für Kafkas Schreiben herausgearbeitet, indem er ihre Bedeutung für die Figur des Opfers betont: »Zwei große moderne Einrichtungen der Kleinarbeitung und Kontinuierung des Opfers heißen Bürokratie und Versicherung, und Franz Kafka, Versicherungsjurist bei der Prager Arbeiter-UnfallVersicherungsanstalt, der größten im Habsburgerreich, ist einer ihrer bedeutendsten Experten.«152 Markus Jansen offenbart in seiner Lesart von Kafkas Erzählung Die Verwandlung die Reichweite von Gregors Degradierung: Sobald er seinen Status als Mensch verloren hat, rückt er der Vernichtung näher, soll als Schädling entsorgt werden.153 Dabei folgen Wagner und Jansen in ihren Interpretationen Foucault und dessen Konzept der Bio-Macht bzw. Biopolitik. Ein Konzept, das Foucault vor allem in Der Wille zum Wissen, dem ersten Band von Sexualität und Wahrheit, ausführt.154 Bio-Macht meint Machttechniken, die auf die gesamte Bevölkerung zielen. Diese Machttechniken, die »biologische, staatsrassistische Recodierung juridischer, ethnischer und kultureller Einheiten und Differenzen«155 rückten für Kafka, so Wagner, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn vor allem die jüdische Bevölkerung geriet in den Fokus der Operationen der Bio-Macht.156 Während Gregor Samsa und der namenlose Wegwerfer ein Opfer und ein Täter bzw. ein Vollziehender (der in Bölls Text durchaus als Opfer gezeichnet wird) dieser Logik sind, finden beide verschiedene Auswege. Bölls Text Der Wegwerfer setzt auf Überspitzung, wählt einen satirischen Zugang. Kafkas Texte arbeiten mit Vermischungen und schlagen gegen die Logik der Ratio kontinuierlich ein anderes Leben vor. Seine Texte

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Höcker/Simons 2007, 12. Malinowski 2003, 433. Malinowski 2003, 433. Wagner 2007, 74. Vgl. Jansen 2012, 380. Vgl. Foucault 1977. Wagner 2007, 81. Zu Kafka und Biopolitik vgl. auch die Studie von Markus Jansen (Jansen 2012). Grundlegend zu Foucault und Biopolitik vgl. Muhle 2008, besonders 21-38, zum Sexualitätsdispositiv als Ziel von Operationen der Disziplin und der Biopolitik vgl. 30-34, zum staatlichen Rassismus vgl. 34-38. Vgl. Wagner 2007, 87.

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setzten, wie Wagner formuliert, den planerischen Phantasmen »die überlebenssichernden Resistenz-Effekte einer ›zerstreuten‹, differenzierten und komplexen Lebensweise«157 entgegen. Diese, oft nicht zu kategorisierende und schwer zu fassende Lebensweise findet sich, das lässt sich in Anschluss an Wagner, Joseph Vogl und anhand der Aufsätze in dem von Marc Lucht und Donna Yarri herausgegebenen Band zu Kafka’s Creatures vorschlagen, besonders in den Mischwesen, Hybriden, mitunter auch in den menschähnlichen Tieren und tierähnlichen Menschen Kafkas wie dem in der Einleitung diskutierten Odradek, verwirklicht.158 Eine zerstreute, komplexe Lebensweise zu beschreiben ist ein Weg, der in Bölls Werken besonders in seinem Roman Gruppenbild mit Dame und dessen Hauptfigur Leni realisiert wurde.159 Zugleich gibt es, das zeigt Maria Muhle anhand der Schriften Foucaults, das zeigen die Texte Kafkas und impliziert auch Bölls Text Der Wegwerfer, kein Außerhalb der Macht.160 Widerstand ist nur innerhalb von Machtverhältnissen denkbar – etwa durch spontane Solidarität oder Assoziationen.161 Und auch, wenn Widerstand nicht möglich ist, so vielleicht eine zu ziehende Verbindung zwischen Kafka und Böll, lohnt sich ein Anschreiben gegen Machtapparate und Machtstrukturen – auch wenn die Bewegungen mitunter die Macht stabilisieren und legitimieren können.162 Dieses Anschreiben findet sich bei Böll als Text Der Wegwerfer und zugleich im Text Der Wegwerfer. Die gewählte Form des Bekenntnisses weist darauf hin, dass auch in Situationen, in denen ein Schreiben gegen rationalisiertes und perfektioniertes Handeln, hier das Wegwerfen, sinnlos erscheint, sich ein solches Schreiben doch lohnt. Zugleich ist sich der Text der Paradoxie dieses Schreibens bewusst. Gerade, wenn kein Widerstand – mehr – möglich ist, wird das Schreiben Kafkas, das Schreiben Bölls in Bezug auf Abfälle, auf das Verworfene, aber auch auf Wegwerfbewegungen ein Anschreiben gegen Vergessen und für Erinnern. Bernadette Malinowski unterscheidet in Bölls Der Wegwerfer zwei Formen des Erinnerns, die leere Erinnerung als Automatismus und die sentimentale Erinnerung, die sie beispielsweise in den kindlichen Sammleraktivitäten des Wegwerfers erkennt.163 Während diese sentimentale Erinnerung sich »mit Prozessen der Identitätsbildung, Welterzeugung und -verarbeitung, mit kommunikativem und sozialem Handeln« verschränke, sei die leere Erinnerung »nichts weiter als die Verinnerlichung dogmatischer Ideologeme wie Gleichschaltung, Konformität, humane Stereotypisierung«. Diese leere Erinnerung manifestiere sich in den Löchern der Lochkarte des Wegwerfers und verweise auf eine Gesellschaft, »deren Gedächtnisinhalte sich verselbstständigt haben und in der das automatische Erinnern dieser Inhalte nicht mehr rückgekoppelt ist an humane Werte«.164 So werden individuelle und kollektive Wegwerfbewegungen und damit Trennungen gekoppelt an Ver157 158

Wagner 2007, 87. Vgl. Vogl 2008, 104 und Lucht/Yarri 2010, zu hybriden Wesen vgl. besonders die Beiträge von Margot Norris (Norris 2010) und Melissa De Bruyker (De Bruyker 2010). Zu Kafkas Mischwesen vgl. auch Bauman 2005b, 46f. 159 Vgl. zu diesem Roman die Ausführungen in Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 160 Vgl. Muhle 2008, 284. 161 Vgl. hierzu ebenfalls Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 162 Vgl. hierzu Muhle 2008, 288-291. 163 Vgl. Malinowski 2003, 434. 164 Malinowski 2003, 434.

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bindungen. Walter Benjamin formuliert das in seinen literarischen und ästhetischen Essays über Kafka und das Vergessen so: »Das Vergessen […] ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessen mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt.«165

2.4

Abfälle und Entgrenzung in Raum und Zeit. Recycling, Kreislaufdenken, Restlosigkeit – und Verweigerungen

Reinhold Reith nähert sich in seinem Aufsatz Recycling – Stoffströme in der Geschichte dem Phänomen des Recyclings aus historischer Perspektive. Er zeigt dabei, dass die Recycling-Praxis keine neue Idee darstellt. So weist Reith auf den Zusammenhang zwischen Krisenzeiten und Recyclingbestreben hin, etwa in Planwirtschaften und Kriegsökonomien.166 Das demonstriert auch Anne Sudrow in ihrer ebenfalls historisch angelegten Untersuchung zum Schuh im Nationalsozialismus.167 Vor dem Hintergrund des Vierjahresplans der Nationalsozialisten wurden alle Bestandteile von Schuhen repariert oder recycelt.168 Engpässe an Rohmaterialien führten zur intensiven Suche nach Ersatzstoffen.169 Dennoch erreichte in Deutschland, wie Susanne Hauser zeigt, die Idee des Recyclings erst in den 1960er Jahren eine neue Qualität, weil juristische, produktionstechnische und ökonomische Aspekte vereint wurden mit dem Ziel einer »optimierte[n] Organisation von Stoff- und Energieströmen.«170 Dabei stelle sich Recycling zugleich gegen solche Ideen der Moderne, die Hauser als »Sanierungsdiskurs der Moderne«171 bezeichnet. Dieser Sanierungsdiskurs, den sie als »die konzeptuellen wie räumlichen Grenzen zwischen Sauberkeit und Schmutz, zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Funktion und Disfunktionalität [sic!], Sicherheit und Gefahr, Schutz und Bedrohung, Wahrnehmen und Nicht-Wahrnehmen, Kultur und Natur, Ausschließen und Einschließen, Erinnern und Vergessen«172 umfassenden Duktus beschreibt, werde durch den Vorgang des Recyclings in Frage gestellt. Denn der Vorgang richte sich »gegen das Vernutzen, gegen Endlichkeit, das Vergebliche, die Erschöpfung des Vorhandenen, auch gegen den endgültigen Ablauf der Zeit.«173 Recycling muss die Grenzen überschreiten und fordert auch neue Grenzen ein: Recycelte Stoffe dürfen beispielsweise nur so giftig sein, dass sie nicht schaden, sie dürfen nur soweit Müllassoziationen hervorrufen, dass Ekelgefühle außen vor bleiben. Insofern hat jede Wiederverwertung etwas Alchimistisches an sich und ist von

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Benjamin GS II.2, 430. Vgl. Reith 2001, 111-113. Vgl. Sudrow 2010. Vgl. Sudrow 2010, 593-631. Vgl. Sudrow 2010, 318-321. Hauser 2010, 51. Hauser 2010, 46. Hauser 2010, 46. Vgl. Hauser 2010, 46f.

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vorneherein mit dem modernen Sanierungsdiskurs und seinen klaren Trennungen nur schwer mittels technischer Verfahren, Säuberungsprozeduren und neuer Deutungen zu versöhnen.174 Neben den alchimistischen Elementen weise, so Hauser, Recycling auch immer phantasmagorische auf: Die Idee, Zeug herumzuschieben, Dinge herzustellen und zu konsumieren, ohne dass es zu den negativen Folgen in Form von Abfall kommt – Zirkulation ohne Reste, die Idee eines Kreislaufs.175 Recycling ist, das wird oft in der Diskussion um das Verfahren vergessen, ein Prozess zur Abfallvernichtung: Abfall wird transformiert, wird wieder neuer Wertigkeit zugeführt. Recycling ist somit auch ein Löschungsprozess – ähnlich, wie im Akt der Müllverbrennung die Zukunft der Dinge gelöscht wird, um durch diesen Akt Energie zu erzeugen, werden beim Recycling die Zukunft des Dings als eben dieses Ding sowie dessen Vergangenheit gelöscht.176 Recycling ist jedoch nicht nur ein Löschungsvorgang, sondern auch eine Entscheidung für oder gegen die Zukunft von Dingen, eine Herrschaftstechnik, wie Grassmuck und Unverzagt betonen: Recycling ist die Ent-Scheidung all dessen, was der Fall ist, in das, was uns zufällt und das, was von uns abfällt. Zunächst ist also der Fallensteller gefragt, der den Abfall genau kennt, ihn in Kategorien einteilt und ihn separiert. Wie bei jeder Herrschaftstechnik wird erst eingeschlossen, um dann zu entscheiden, was reintegriert wird und was als artfremd, unwert, unnütz, gefährlich usw. endgültig ausgeschlossen werden muß.177 Wer ist nun aber der Fallensteller? Zunächst einmal tatsächlich diejenigen, denen Abfälle im Alltag begegnen. Bölls Text Der Wegwerfer hat jedoch gezeigt, dass das Wegwerfen, das Fallenstellen auch eine Profession sein kann. Woher kommt nun die Vorstellung, nicht nur traditionelle Gesellschaften mit überwiegend organischen Abfällen, sondern auch Industriegesellschaften mit ihrer exorbitanten Menge und Palette von Abfällen könnten nach den Ideen eines Kreislaufs funktionieren? Susanne Hauser stellt in ihren Ausführungen zu Recycling dar, wie dieses

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Hauser 2010, 46. Windmüller formuliert zur Relevanz von Kreislaufmodellen: »Dass die Wirkkraft von Kreislaufmodellen bis heute ungebrochen ist, liegt sicherlich auch an ihrem Potential, idealtypische Naturvorstellungen mit den Prinzipien einer an Effizienz ausgerichteten kapitalistischen Ökonomie zu verbinden.« (Windmüller 2004a, 191) Im Repertoire der gegenwärtigen Fachliteratur finde sich, so Windmüller weiter, »geradezu wehmütige Erinnerungsarbeit, die vermeintliche Naturkreislaufsysteme als mögliche Orientierungshilfen menschlicher Abfallwirtschaft wieder ins Bewusstsein rücken soll.« (Windmüller 2004a, 192) Vgl. hierzu Hauser: »Findet Recycling als Wieder- oder Weiterverwertung statt, verliert das Objekt nicht nur seinen angestammten Kontext, sondern auch seine Funktionalität, seine Bedeutung und seine Geschichte als Objekt. In einem Aufbereitungsvorgang wird es zum Sekundärrohstoff und tritt damit in die Zeitlosigkeit der nur als Stoff wahrnehmbaren Dinge ein, es wird form- und zeitlose Materie. Es folgt dann eine neue Produktion, eine neue Formgebung und Sinnsetzung, eine neue Bedeutungs- und Funktionszuweisung, die nichts mit alten Zuständen, mit alten Funktionen zu tun haben muss.« (Hauser 2010, 45, Hervorhebung dort) Grassmuck/Unverzagt 1991, 96.

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Verfahren, je nach Jahrhundert, an unterschiedliche Vorbilder anschließt: Im 19. Jahrhundert an den Blutkreislauf, im 20. Jahrhundert an den Metabolismus, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, an »ökosystemare, kybernetische und systemtheoretisch inspirierte Vorstellungen«178 . Generell, so ihr Schluss, sei Recycling als totalisierendes Verfahren, als »imaginärer Versuch einer Auflösung oder Aufhebung aller obsoleten Momente« zu lesen.179 Dieser Kreislaufgedanke fand vor fast zwanzig Jahren juristischen Ausdruck und somit offiziellen Widerhall in der deutschen Abfallpolitik: Im 1994 verabschiedeten und 1996 in Kraft getretenen – allerdings mit einer Übergangsfrist bis teilweise 1999 versehenen – Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz.180 Der Kreislaufgedanke wirkt auf den Faktor Zeit. Ist die Müllverbrennung eher eine räumliche Schrumpfung, die Geschichte und Geschichten löscht, habe das Recycling nicht weniger als die Ewigkeit im Visier: »Mit der Verwertung wird das vormals Ausgegrenzte wertvoll. Es wird aus der Latenzschleife gezielt herausgeholt. Mit der Endlosigkeit von Recyclingschleifen scheint die Ewigkeit wieder in die Gesellschaft hinein.«181 Dieses immer wieder für Abfälle beschworene Kreislaufideal führte und führt, so die Kritik, zusammen mit den beiden heute in Deutschland praktizierten Verfahren mit nichtgefährlichen Abfällen umzugehen dazu, Konsum und die Entstehung von Abfällen miteinander zu versöhnen. Reiner Keller spricht von zwei Positionen in der Debatte um Hausmüll: dem kulturkritischen und dem strukturkonservativen Abfalldiskurs.182 Der kulturkritische Diskurs, der auch von Medien und Parteien wie den Grünen getragen wird, zeichne sich durch eine »moralische Verurteilung von Verschwendung und Vergeudung durch Wegwerf-Kultur und Wegwerf-Konsum«183 aus und beruhe auf einer Kombination von »Sparsamkeits- und Verantwortungsmaximen, die sowohl mit dem Verweis auf ethische Gerechtigkeitspostulate […] als auch mit einer globalen Knappheitsvorstellung […] argumentiert.«184 Wichtigstes Instrument des Umgangs mit Abfall ist für die kulturkritische Fraktion, ihn gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch dieser Gedanke blitzt in Der Wegwerfer kurz auf, allerdings unter anderen Vorzeichen: Wenn der Wegwerfer vorschlägt, direkt in den Kaufhäusern Wegwerfer zu postieren (vgl. BöW, 356f.), wird dieser Gedanke fortgeschrieben in den Bemühungen, Verpackungen und somit Verpackungsabfall gar nicht erst entstehen zu lassen. Bölls Text impliziert, was die historische Entwicklung hin zur Wegwerfgesellschaft bestätigt: Es müsste nicht erst bei den Verkaufsstandorten, sondern bereits in der Herstellungsindustrie angesetzt werden. Keller fasst die weitreichenden Implikationen der Idee von Abfallvermeidung folgendermaßen zusammen: Abfallvermeidung umfaßt den Verzicht auf »unnötige Produkte« und »problematische Stoffe« ebenso wie den Vorrang »abfallarmer Produktions- und Dienstleistungsverfahren« und die Konstruktion langlebiger, reparaturfreundlicher, gemeinschaftlich oder

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Hauser 2010, 47. Vgl. Hauser 2010, 47. Hierzu vgl. Keller 1998, 145-147. Böschen/Weis 2007, 181. Vgl. Keller 1998, 128f. Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Böschen/Weis 2007, 185f. Keller 1998, 128. Keller 1998, 128.

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mehrfach nutzbarer Produkte. Ausnahmen gelten, wenn die Vermeidungsverfahren technisch nicht möglich oder die gesellschaftlichen Kosten nicht zumutbar sind.185 Für die strukturkonservative Position ist das Problem der neuen Quantität und Qualität von Abfall technisch lösbar. So wird, wie Keller aufzeigt, die Müllfrage die »Frage der Durchsetzung von Entsorgungsanlagen«186 sein. Kritik an Abfallentsorgung, etwa dem Bau von Verbrennungsanlagen, sei Zeichen »mangelhafter Aufklärung über die geringen Risiken technischer Großanlagen.«187 Anhand der kontroversen Bewertungen von Recycling in der bundesdeutschen Abfalldebatte lassen sich die von Reiner Keller gegenübergestellten Positionen der kulturkritischen und der strukturkonservativen Lager gut illustrieren. So schreibt Keller zur Diskussion um die Verpackungsverordnung von 1991, die auf eine Reduzierung des Verpackungsmülls zielt, dass das strukturkonservative Lager Recycling als Wundermittel zur Bändigung der Abfallberge bejubelte, während die Vertreter des kulturkritischen Abfalldiskurses in ihm vor allem eines sahen: die »Verfestigung der ›Ex und Hopp‹Mentalität mit einem durch Recycling beruhigten öffentlichen Gewissen. Es handelt sich für sie nicht um einen Schritt zur Vermeidung von Abfällen, sondern allenfalls um ein ›downcycling‹, das die Abfallentstehung lediglich verzögert, ohne den Stofffluß insgesamt nennenswert zu vermindern.«188 Während in die Erzählung Der Wegwerfer beide Positionen eingeschrieben sind, lassen sowohl der satirische Unterton als auch andere konsumkritische Äußerungen Bölls darauf schließen, dass es hier gerade um das Sichtbarmachen der Unmöglichkeit geht, das Problem Abfall durch technische Verfahren zu lösen. So wird der Wegwerfer als Gescheiterter gezeichnet. Eine weitere Komponente des Recyclingverfahrens wird in der Abfallforschung diskutiert, die noch einmal die weiter oben angestellten Überlegungen zu Recycling als Herrschaftstechnik aufnimmt: die Notwendigkeit zur Erziehung zum richtigen Wegwerfen, die Erfordernis von Disziplinierungsmaßnahmen. Vor allem Gay Hawkins bezeichnet das moderne Recycling als Projekt moralischer Verpflichtungen, das auf drei Themenfeldern ansetzt: dem ökologischen Krisendiskurs, der Diskussion um verantwortlichen Konsum sowie der technischen Möglichkeit, Abfall als Ressource zu verwenden.189 Mehr noch: neben den Disziplinierungsmaßnahmen kommt es generell zu einer lückenlosen Überwachung der Abfälle selbst. Susanne Hauser fasst diesen Aspekt folgendermaßen: »Die praktische wie konzeptionelle Integration von Stoffen in bewegliche, organisch oder anorganisch gedachte kreisförmige Prozesse geht einher mit einer 185 186 187 188

Keller 1998, 150, Hervorhebung dort. Keller 1998, 129. Keller 1998, 129. Keller 1998, 137. Zum Downcycling vgl. den Eintrag von Sarah Surak in Zimring/Rathje 2012a: »Downcycling is the reprocessing of material into a new product of reduced quality or value.« (Surak 2012, 193) Max Liboiron konkretisiert: »Recycling can create products that are ›downcycled‹ because they are not as robust as their predecessors; nor are such products usually recyclable (polyurethane plastics for example, are often turned into asphalt or other end-of-the-line objects).« (Liboiron 2012b, 736) 189 Vgl. Hawkins 2006, besonders 98-115. Ähnlich argumentiert auch Tietjen in seiner generellen Recycling-Kritik (vgl. Tietjen 2010).

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Ausdehnung der Analyse, Planung und Kontrolle der (Abfall-)Stoffe auf immer weitere Gegenstände und Maßstäbe.«190 Das Bild des Strömens kann genutzt werden, um die komplexen Verbindungen und Bewegungen zu beschreiben, die in Der Wegwerfer angesprochen werden: die der Warenströme in einer globalisierten Welt. In der Globalisierungsforschung versuchen Theoretiker wie Manuel Castells oder John Urry Bewegungen theoretisch zu fassen, indem sie globale Ströme (global flows) untersuchen.191 Flows vom Abfall her zu denken, bedeutet aber immer, diese Ströme an ihre Materialität zurückzubinden.192 Das Bild des Strömens der Dinge in Zeit und Raum täuscht nämlich, und das ist seine Kehrseite und das macht es im Zusammenhang mit Müll so gefährlich, darüber hinweg, dass der Wandel von festen zu fluiden Dingen oder solchen, die Mobilität begleiten, keineswegs weniger Abfälle zur Folge hat. So haben etwa neuere Untersuchungen zu Elektroschrott, oftmals in der Forschung bezeichnet als E-Waste, gezeigt, dass Datenströme – eine relativ neue Form von Strömen – stets an die Materialität der Informationstechnologien gekoppelt sind.193 Auch virtuelle Ströme benötigen immer noch eine Hardware, die im umkämpften Markt der Geräte extrem mit Konsumverstärkern wie Innovation, Mode und geplantem Verschleiß arbeiten.194 Eine Folge von Globalisierungsprozessen ist so auch eine Globalisierung von Abfällen, wie Stefan Böschen und Kurt Weis betonen: »D[…]ie global sich formierende Ökonomie führte als Schatten auch eine Globalisierung des Abfallproblems mit sich […].«195 Diese Globalisierung umfasse, so Böschen und Weis weiter, drei Komponenten: 1) eine weltweite Steigerung des Müllaufkommens 2) eine Veränderung der Qualität der Abfälle und 3) die Entstehung von sogenanntem 190 Hauser 2010, 47. 191 Vgl. hierzu etwa die Aufsätze im Sammelband Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie (vgl. Hepp u.a. 2006), die vielfach auf Castells und Urry verweisen (besonders der Beitrag von Shaun Moores, vgl. Moores 2006). Ebenfalls für eine Theoretisierung von Strömen bedeutsam ist die Konzeption von Arjun Appadurai, der in Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization die Ströme der kulturellen Globalisierung in den Blick nimmt, die er als -scapes – etwa Media- oder Technoscapes – fasst (Appadurai 1996, zu global flows besonders 27-85). 192 Einen Versuch, diese materiellen flows von Abfall- und Recyclingströmen her zu fassen, stellen die Arbeiten im von Catherine Alexander und Joshua Reno herausgegebenen Sammelband Economies of Recycling. The Global Transformation of Materials, Values and Social Relations (Alexander/Reno 2012) dar. Dabei kommt es zugleich zu Stillstellungsmomenten: Containerforscher Alexander Klose fasst in seiner Kulturgeschichte des Containers diese Box als Verortung im Raum, die Welt im Container als stillgestellte Zeit in den zeitlichen und räumlichen Bewegungen des Strömens (vgl. Klose 2009, 286f.). 193 Vgl. zu E-Waste die Studien von Jennifer Gabrys (Gabrys 2011 und Gabrys in Knechtel 2007), den entsprechenden Lexikoneintrag in Zimring/Rathje 2012a (vgl. Lepawsky 2012, Lepawsky/McNabb 2012 und Lepawsky/Connolly 2012) sowie Trumpeter 2013, 4. Dennoch kam es auch, wie Reinhold Reith am Beispiel der Dose zeigt, zu Dematerialisierungen: Diese hängen in dem von ihm diskutierten Beispiel nicht von bestimmten Mentalitäten ab, also der Bereitschaft zum Sammeln und Recycling, sondern um betriebswirtschaftliche Ansätze zur Kostenminimierung, also einem ökonomischen Optimierungsprozess (vgl. Reith 2001, 105-109). Zu diesen komplexen Faktoren zählt Reith z.B. Marktpreise der Sekundärmärkte, politische Zusammenhänge wie Zölle, Steuern und gesetzliche Rahmenbedingungen der Primär- und Sekundärmärkte sowie Stoffstruktur und -qualität. 194 Vgl. Slade 2006 und Reuß/Dannoritzer 2013. 195 Vgl. Böschen/Weis 2007, 185.

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Mülltourismus.196 Dabei seien die Verbindungen, die durch die globalen Dimensionen von Abfällen entstehen, weitaus komplexer, als lediglich eine Verschiebung von solchen Abfällen vom globalen Norden in den Süden vermuten lässt.197 Josh Lepawsky zeigt anhand von E-Waste, dass ab Mitte der 1990er Jahre die eingleisigen Beziehungen durch komplexe Bewegungen ersetzt wurden: »The dominant storyline about e-waste misses the dynamic action of reuse, refurbishment, repair and recycling that accompanies this trade.«198 Gay Hawkins verfolgt diese Komplexität von Abfallströmen am Beispiel von PETFlaschen.199 Bereits zu Beginn dieses zweiten Kapitels wurde auf den Wandel von Trinkgefäßen zu Wegwerfprodukten hingewiesen. Sieben Jahre nach der Publikation von The Ethics of Waste nimmt Gay Hawkins in ihrem Aufsatz Made to be wasted: PET and topologies of disposability200 ephemere Plastikdinge in den Blick. PET, ein Polymer, ausgeschrieben trägt es den komplizierten und wenig alltagstauglichen Namen Polyethylenterephthalat, ist ein thermoplastischer Kunststoff mit für das Befüllen von Getränken nützlichen Eigenschaften. Eigenschaften, die Volker Grassmuck und Christian Unverzagt folgendermaßen fassen und die PET zum Traum der Getränkeindustrie machen: »Es ist leicht, bruchsicher, glasklar und hält die Kohlensäure in den Erfrischungsgetränken.«201 Der Fokus von Hawkins richtet sich vor allem darauf, wie die PET-Plastikflasche die gewohnte Linearität des Dinggebrauchs, nämlich Produktion – Konsum – Abfallwerdung nicht nur herausfordert, sondern vielleicht sogar durchbricht.202 Wie andere Alltagskonsumdinge sind diese Flaschen von Anfang an abfallnah. Zugleich sind sie gerade durch ihre Abfallnähe formbar: Sie werden Ausdruck von Ideen, etwa sozialer oder ökonomischer Art.203 Die von Grassmuck und Unverzagt zitierten Ansprüche, die an neue Trinkflaschen gestellt wurden, beispielsweise resistent gegenüber Schädigungen durch Fruchtsäfte oder Kohlensäure zu sein,204 bruchsicher, dabei transparent und leicht, in letzter Konsequenz die beiden entgegengesetzt wirkenden Komponenten einer extremen Dauerhaftigkeit mit einem gleichzeitigen Entsorgungsappell zu vereinen,205 formten so auch die PET-Flasche mit. Oder, wie Hawkins formuliert, die Ansprüche lockten und kitzelten die Flaschenform in den Laboren der Firma DuPont aus dem Material heraus: »Teasing a new bottle form out of polyester was an historical, industrial and molecular process shaped by the logistics of extending the economic capacities of plastic.«206 Hawkins zeigt wie im Jahr 1957, dem Publikationsjahr von Bölls Der Wegwerfer, ein Artikel in der Zeitschrift Modern Packaging auf das Novum hinweist, Verpackung sofort nach

196 Vgl. Böschen/Weis 2007, 185. 197 Josh Lepawsky schreibt: »Solving that problem will not happen if it is imagined as one predominantly characterised by dumping of e-waste from rich, ›developed‹ countries of the ›global North‹ in poor, ›developing‹ countries of the ›global South‹.« (Lepawsky 2014, 1) 198 Lepawsky 2014, 11. 199 Zu Kunststoffen vgl. auch Kapitel 5, das zum Teil ebenfalls Hawkins folgt. 200 Vgl. Hawkins 2013. 201 Grassmuck/Unverzagt 1991, 110. 202 Vgl. Hawkins 2013, 50f. 203 Vgl. Hawkins 2013, 54. 204 Vgl. Hawkins 2013, 52. 205 Vgl. Hawkins 2013, 57. 206 Hawkins 2013, 56f.

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dem Konsumakt zu entsorgen.207 Die Idee, dass Verpackung nicht nur Schutz bietet, sondern von Anfang an abfällig ist, entsorgt werden soll und muss, ist heute alltäglich, zum damaligen Zeitpunkt war sie neu. Hawkins fasst diesen Umstand mit dem schwer zu übersetzenden Begriff der disposability. Disposability wird vom englischen Wort to dispose abgeleitet und bedeutet, jemanden oder etwas beseitigen oder etwas veräußern.208 Disposability ist »[t]he quality of being disposable; ability to be disposed of.«209 Dieser Abfallnähe, die bei bestimmten Dingen einem Entsorgungsgebot gleichkommt, widmete sich Günther Anders, fast zeitgleich mit der Publikation von Heinrich Bölls Der Wegwerfer und dem von Hawkins zitieren Artikel zur neuen Qualität von Verpackungen.210 Anders befasst sich ausführlich mit dem Aufkommen von Massenprodukten und den Folgen dieser neuen Produkte für das Verhältnis von Menschen und Dingen. Vor allem die in seinem Aufsatz Die Antiquiertheit der Produkte (1958) aufgestellte These »Serienprodukte sind zum Sterben geboren«211 weist auf die Kehrseite der Warensituation hin. Da ihr als Tauschwert definierter Wert von Zirkulation abhängig ist, muss das Ziel jeder Warenproduktion aus Sicht der Warenproduzenten die Vernichtung der Ware durch den Konsumenten sein. Oder, wie Günther Anders formuliert: »Wahr ist (…), daß die Produktion die Produkte als Ausschuß von morgen erzeugt, daß Produktion Erzeugung von Ausschuß ist. Von Ausschuß freilich, zu dessen Wesen gehört, daß er sich vorübergehend im Status der Verwendbarkeit aufhalte.«212 Deshalb gibt es das Interesse der Produzenten, die Verweildauer der Dinge beim Konsumenten zu verringern. Anders nennt dies das »Gebot der Schonungslosigkeit«213 gegenüber den Dingen. Traum eines jeden Produzenten müsste also sein, Dinge herzustellen, die sich im Moment ihres Konsums selbst vernichten, um in einer endlosen Wiederholung wieder angeschafft zu werden.214 In der Ware, vor allem in der industriellen Massenware sei, so die Kernaussage von Anders, ihre Vernichtung, ihr Verfall, ihre Abfallwerdung angelegt. Ware und Abfall sind zwei Seiten einer Sache und müssen zusammen gedacht werden.215 In der PET-Flasche fallen sie zusammen. Disposability meint nach Hawkins aber auch, dass sich aus dieser Einschreibung des Abfalls in die produzierten Dinge ein Netz an Implikationen und Konsequenzen ergibt, das näher in den Blick zu nehmen sich lohnt. Hawkins versucht, sich den Implikationen der disposability von Plastikflaschen durch eben drei ausgewählte, miteinander verknüpfte 207 208 209 210 211 212 213 214 215

Vgl. Hawkins 2013, 55. Vgl. PONS 2002, 236. Simpson/Weiner 1991a, 819. Zu Günther Anders und Abfall vgl. auch Gehrlein 2005, 22f. Anders 1980, 38. Anders 1980, 40, Hervorhebung dort. Anders 1980, 40. Vgl. Anders 1980, 50f. Dies fordert auch Guido Viale in MegaMüllMaschine. Über die Zivilisation des Abfalls und den Abfall der Zivilisation, wenn er feststellt, dass Ware und Abfall »Aspekte einer einzigen ›Sache‹ [seien], [sich] aber zugleich […] wechselseitig aus[schließen] als zeitlich unterschiedliche Phasen eines komplexen Prozesses oder Darsteller zweier diametral entgegengesetzter Bewegungen menschlichen Verhaltens: Die erste richtet sich auf Erwerb und Besitz, die zweite auf Entfernen und Vergessen.« (Viale 1997, 157) Viale zeigt dies am Beispiel einer Tomatendose (vgl. Viale 1997, 14f., hierzu Gehrlein 2005, 19). Zur Dose als Verpackungsmedium vgl. Reith 2001, zur Dose und Recycling vgl. Köstering 2003, 151-164.

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Narrative zu nähern. Neben den bereits angesprochenen Narrativen der Erfindung der PET-Flasche in den Laboren der Firma DuPont und der Einführung und Etablierung der Flasche auf dem Getränkemarkt, führt ein letztes Narrativ ins vietnamesische Hanoi. Dort werden in sogenannten plastic villages benutzte PET-Flaschen recycelt, das heißt in arbeitsintensiven Recycling- bzw. Downcycling-Prozessen die bruchsicheren Flaschen zerstört und zerkleinert, um sie als Pellets weiter zu nutzen.216 Gerade die von den Produzenten und Konsumierenden als nützlich erachteten Eigenschaften sind ein Grund hierfür, warum die Flaschen überhaupt solch weite Reisen antreten: Dadurch, dass das Recycling arbeitsintensiv ist, wird es dort vollzogen, wo Arbeit wenig kostet.217 Die disposability wirkt sich maßgeblich auf die Arbeitsbedingungen der Schattenindustrie in Vietnam aus und verbindet das Labor der Firma DuPont mit den plastic villages in Vietnam. Wo soll der Blick auf die Nutzung der Plastikflaschen beginnen, wo soll er enden? In Hanoi? Bei der Herstellung der Flaschen? Bei den Konsumentinnen, die die Flaschen benutzen und sogleich entsorgen? Hawkins verzichtet so auch darauf, ihre Betrachtungen, die PET-Narrative und Plastikerzählung in eine Hierarchie zu bringen, in erste, zweite und dritte Erzählung zu sortieren, da sich diese Erzählungen nicht auseinander ergeben. Dieser Verweis auf rhizomatische Verbindungen findet sich im Nachdenken über Abfälle häufig.218 Gilles Deleuze und Félix Guattari führen das Denkbild des Rhizoms als, wie Frank Hartmann schreibt, »nonlineare (transversale) Vernetzungsmetapher«219 in Tausend Plateaus aus: »Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General.«220 Verbindungen lassen sich, das zeigt der Titel ihres Werks, so auf (mindestens) tausend Ebenen herstellen.221 Dabei ist jedes Plateau Zentrum neuer Verknüpfungen, ist »immer Mitte, hat weder Anfang noch Ende.«222 Im Beispiel von PET sind diese Plateaus Verbindungen und Narrative, die an andere Parameter wie Zeit und Raum, aber auch an Machtverhältnisse gebunden sind. Parameter und Narrative, die sich zugleich wechselseitig durchdringen. Jede Plastikerzählung stellt Ein- und Ansatzpunkt weiterer Erzählungen dar. Der Status ›Abfall‹ ist somit nicht das Ende eines Dings oder Produkts, sondern ist ihm mitunter von Anfang an eingeschrieben, bestimmt die Bewegungen und auch die Narrative, die es umgeben, maßgeblich.223 Die im Zusammenhang mit Recycling dargestellten Operationen des Analysierens, Planens und Kontrollierens von Abfällen nimmt Markus Krajewski in seiner Untersu-

216 217 218

Vgl. Hawkins 2013, 63f. Vgl. Hawkins 2013, 63f. Zum Rhizom vgl. Deleuze/Guattari 1992, 11-42, zur Fruchtbarmachung des Konzepts für die Medienphilosophie, insbesondere für Netzdiskurse vgl. Hartmann 2000, 299-306. Zu rhizomatischen Verbindungen vgl. auch Kapitel 5.6 dieser Arbeit. 219 Hartmann 2000, 302. 220 Deleuze/Guattari 1992, 36. 221 Vgl. hierzu auch Hartmann 2000, 302. 222 Deleuze/Guattari 1992, 37. 223 Vgl. Hawkins 2013, 51.

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chung Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900224 anhand verschiedener fortschrittsoptimistischer Projekte in den Blick. Er illustriert, wie diese zum Ziel hatten, die ›Welt‹225 vollständig und restlos zu organisieren. Hierzu gehören etwa die Schaffung einer Weltsprache, eines Weltkursbuches oder die Einführung verbindlicher Formate. Am Beispiel des Weltverkehrs, und hier geht es ganz konkret um Menschen- und Warenströme, illustriert er die Reichweite dieser Ideen, die Bewegungen des Kartierens und des Protokollierens zusammenführen mit dem Ziel der Herstellung eines »restlos durchadressierten, überschaubaren und uneingeschränkt erreichbaren Datenraums […], der damit zu einem Möglichkeitsraum wird.«226 Die Idee der Restlosigkeit umfasst das Moment, die Reste als Herausforderung zu betrachten, als Ausgangspunkt neuer Bewegungen der Integration. Damit werden Reste zu Katalysatoren, zu produktiven Resten.227 Zugleich hätten diese Operationen stets die Abschaffung des Rests im Blick: Die Initiativen um 1900 mit ihrer maximalen Reichweite suchen wie gewöhnlich an den Resten ihren Ausgangspunkt, um von diesen randständigen Positionen aus gezielt ins Zentrum der Wissensproduktion zu intervenieren. Entscheidend aber bleibt der Umstand, dass hier die konstitutiven Relikte selbst nicht aus dem Blick geraten. Für die Pläneschmiede der Jahrhundertwende bilden sie vielmehr weiterhin den Fokus aller Vorhaben. Denn Weltprojekte zielen nachgerade auf die Abschaffung aller Reste ab.228 Der Rest wird zur Kränkung, eine Kränkung, die nur durch weitere Aufräumaktionen getilgt werden kann: »Das Phantasma der Weltprojektemacher hegt jene absolute Ordnung, in der Residuen nicht einmal als notwendige Bestandteile des Systems noch ihren Platz haben.«229 Krajewski interpretiert dieses Denken als Ausdruck eines unerschütterlichen »Optimismus eines kulturellen und technologischen Fortschritts«230 , das sich allerdings aus heutiger Perspektive als »seltsame […] Melange aus fortschrittsgläubiger Naivität und technokratischen Wahnsinn«231 lesen lasse. Es verweist auf die von Jan Füchtjohann mit Foucault herausgearbeiteten, miteinander verschränkten Bewegungen, die zur Mülldeponie führen: Expansionsbewegungen, die zum einen Raum 224 Vgl. Krajewski 2006. 225 Krajewski erläutert, wie im 19. Jahrhundert die ›Welt‹ scheinbar entgegengesetzten Prozessen der Ausdifferenzierung und dadurch der Fragmentierung und der Standardisierung unterliegt. Zum einen zerfällt sie durch Industrialisierungsprozesse und Erkenntnisfortschritte in der Technik – also Elektrifizierung und bessere Lebensverhältnisse in der Stadt, neue Wissenszweige in den Naturwissenschaften oder die Herausbildung des Weltverkehrs – in unüberschaubare Einzelheiten, die »jeden Gedanken an eine überschauende, das gesamte Wissen seiner Zeit umfassende Beobachterposition, wie es den Polyhistoren oder Universalgelehrten seinerzeit noch zukommen konnte, obsolet erscheinen lassen.« (Krajewski 2006, 61) Gleichzeitig gibt es jedoch Bestrebungen, im Zuge des Internationalismus länderübergreifende Standards zu entwickeln, um Austausch von Wissen und einheitliche Kommunikation zu ermöglichen. Beispiele für diese Bewegungen seien, so Krajewski, die Durchsetzung einer Standardzeit, die internationalen Kongresse zum metrischen System, der Weltpostverein oder ab 1851 die Weltausstellungen (vgl. Krajewski 2006, 61). 226 Krajewski 2006, 291. 227 Vgl. Krajewski 2006, 282. 228 Krajewski 2006, 288, Hervorhebung dort. 229 Krajewski 2006, 288. 230 Krajewski 2006, 300. 231 Krajewski 2006, 302.

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schrumpfen lassen, zum anderen mit einem größer werdenden Wunsch nach Lagerung und Archivierung korrelieren. Ein Wunsch, der bei mangelndem Lagerraum zu Löschungsprozessen führen muss. Die Deponierung von Abfällen, das wurde gezeigt, wird von der ›thermischen Verwertung‹ abgelöst. Zugleich gilt Recycling als neues Ideal, das dennoch Trennungen nicht aufheben kann, genauso wenig wie es neue Abfallwerdungen verhindert. In beiden Abfallverarbeitungsmethoden findet sich erneut die Restlosigkeit als Phantasma. Sie verbindet Weltprojekte mit dem Abfallzerkleinerer und Recyclingbestrebungen. In letzteren manifestiert sich zudem das Ideal der Versöhnung zwischen Konsum und Abfällen, zwischen Expansion und deren Kehrseiten. Reiner Keller führt diesen Aspekt der Versöhnung aus, der sich vor allem im strukturkonservativen Abfalldiskurs fände: »›Vernünftiges Handeln‹ ist dem strukturkonservativen Abfalldiskurs damit nach wie vor ein Modell technischer Beherrschbarkeit der Abfälle, nun nicht mehr so sehr im Hinblick auf ihre Beseitigung, sondern im Hinblick auf ihre Verwertung. Diese Praxis ist eingebettet in eine dreifache Rhetorik der Versöhnung (zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Gegenwart und Zukunft) und der Verantwortung für die vernünftige Vermittlung dieser Gegensätze.«232 Auf Produzierendenseite verkörpert die Versöhnung von Produktion und Konsumption, von Ökonomie und Ökologie ein Design, das Gebrauchsdinge vom Abfall her denkt. Der cradle-to-cradle-Ansatz fasst so auch Abfall als Rest, als Fehler im Design.233 »Einfach intelligent produzieren« heißt die deutsche Übersetzung des einschlägigen Werks von Michael Braungart und William McDonough.234 Der deutschsprachige Untertitel, »Die Natur zeigt, wie wir die Dinge besser machen können«, fasst den Kern des Konzepts: »In den Produkten, die nach diesem Prinzip gestaltet sind, ist alles zerlegbar und weiter zu verwenden oder zu verwerten. Dabei kommen klassische Wiederverwendungen und -verwertungen ebenso in Frage wie bereits vorbedachte Weiterverwendungen von Teilen […].«235 Dennoch, das zeigen Braungart und McDonough ebenfalls, verschließen sich manche Dinge gerade durch die Art und Weise ihrer Produktion der Verwertung: »Monsterhybriden«236 wie der heutige, industriell hergestellte Lederschuh. Seit vierzig Jahren werden Schuhe aufgrund der hohen Kosten einer Gerbung mit pflanzlichen Gerbstoffen mit Chromsalz gegerbt, zudem »werden Schuhe oft in Entwicklungsländern gegerbt, wo man sich kaum darum kümmert, Arbeiter und Ökosysteme vor der Chrombelastung zu schützen. Abfälle, die bei der Produktion entstehen, werden in nahe gelegene Gewässer eingeleitet oder verbrannt, wobei in beiden Fällen Toxine verbreitet werden […] Konventionelle Schuhsohlen enthalten darüber hinaus Blei und schädliche Polymere.«237 Zu diesen neuen Abfällen, die sich der Versöhnungsrhetorik, die sich der Rezyklierung und mitunter gar der Deponierung verweigern, gehören nach Volker Grassmuck und Christian Unverzagt

232 233 234 235 236 237

Keller 1998, 149, Hervorhebung dort. Vgl. hierzu auch Hauser 2010, 57. Vgl. Braungart/McDonough 2008. Hauser 2010, 57. Braungart/McDonough 2008, 130. Braungart/McDonough 2008, 131. Zu Toxizität, besonders in Bezug auf Kunststoffe und Radioaktivität, vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit.

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auch chemische Abfälle, Krankenhausabfälle und radioaktive Abfälle.238 Sie führen zur Problematik aus: Der Gift- und der Atom-Müll haben eigene Zeitreihen mit eigenen Ereignisstrukturen eröffnet. Sie reichen vom unendlich geduldigen Zerfall der Atome und Molekülketten über das langsame Absickern der Phosphate durch gärende Milieus und jahrmillionenalte Gesteinsschichten hinab ins Grundwasser bis zu den plötzlichen Unfällen, die in einem Augenblick dort, wo eben noch Ordnung war, Chaos entstehen lassen. Der Müll unserer Zeit läßt sich nicht lagern, nicht der Menge nach und nicht auf die Dauer, die er existiert. Er hat nichts mehr mit der welken Materie gemein, die stumm an ihrem Ort verdorrt. Die Konzentration des Mülls in Lagern ist auf Dauer zum Scheitern verurteilt, er ist zur Drohung der jederzeit möglichen, unberechenbaren Entgrenzung der Raum-Zeit-Ordnung der Moderne geworden.239 Was diese Transformationen, dieses Moment der Bedrohung und das Scheitern von Integrations- und Lagerungsversuchen hinsichtlich des Erzählens bedeuten, ist in den folgenden Kapiteln zu eruieren. Welche Verbindungen gibt es, welche Trennungen, welche Abfallgeschichten? Welche Rolle spielen die herausgearbeiteten historischen und aktuellen Umgangsarten mit Abfällen, das Verbergen, Wegtragen oder -schütten, das Deponieren, das Verbrennen und die massenhaft und geregelt organisierte ökonomische Reintegration? Zuletzt ist der Frage zu folgen, ob die Versöhnungsrhetorik inklusive der Verweigerungen einer solchen Versöhnung ihren Widerhall in literarischen Texten findet.

238 Vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 217f. 239 Grassmuck/Unverzagt 1991, 254.

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3. Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

Die im zweiten Kapitel aufgezeigten und diskutierten Veränderungen der MenschDing-Beziehung, der Gedanke des Strömens und Zirkulierens sowie die Entstehung von immer mehr Abfällen verbindet der Soziologe Zygmunt Bauman in seinen Schriften zu einer pessimistischen soziologischen Gegenwartsdiagnostik. Dieser Akt des Verbindens ähnelt der Methode in Plunder: »Nimm ein Wort und mach eine Welt daraus.«1 Dieses Wort ist bei Bauman, wie in Plunder der Regen, ebenfalls aus dem Bereich des Flüssigen. Mehr noch: Bauman erhebt die Flüssigkeit selbst zur Schlüsselmetapher einer neuen Phase der Moderne. Dabei stellt er besonders deren Flexibilität heraus: Gase und Flüssigkeiten sind in ihrer Gestalt variabel. Wie die Encyclopaedia Britannica autoritativ feststellt, unterscheiden sich beide von festen Körpern, »da sie im Ruhezustand weder einer Schub- noch einer Zentrifugalkraft Widerstand leisten« und so »fortlaufend ihre Form verändern, wenn sie solchen Einwirkungen ausgesetzt sind«.2 Er fährt fort mit Thesen zum Verhalten von Flüssigkeiten in Zeit und Raum und stellt fest, dass diese »im Gegensatz zu Festkörpern kaum ihre Form wahren [können]. Sie fixieren sozusagen weder den Raum, den sie einnehmen, noch fesseln sie die Zeit.«3 Was dieser Wandel in Bezug auf Verwerfungen, von Dingen und von Menschen, bedeutet, ist ein Fokus dieses dritten Kapitels. Bereits mehrmals wurde das Konzept der Gegenbewegung diskutiert. Im Rahmen dieses Kapitels soll nun am Beispiel einer so scheinbar banalen Alltagstätigkeit wie dem Sitzen die Tragweite des Blicks bzw. Nichtblicks auf Abfalldinge und abfallnahe Dinge im Alltag illustriert werden. Sitzen ist zugleich abfallproduzierende Bewegung und abfallverhindernde Bewegung. Warum Sitzen – und warum verschiedene Arten des Sitzens? Wie in der Einleitung dargelegt, geht diese Arbeit davon aus, dass in der Moderne gerade solche Techniken des Körpers immer weiter verfeinert werden, die abfallunfreundlich sind, d.h. die Abfälle ausblenden, umgehen und abstoßen, sich ihrer ent1 2 3

Vgl. Meckel 1989, 5. Bauman 2005a, 7, Hervorhebung dort. Bauman 2005a, 7f.

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ledigen. Zeitgleich mit einer beschleunigten Produktion von Dingen und damit einem heranwachsenden Entsorgungsproblem, was wiederum zu einem immer verfeinerten, zentral gesteuerten Auf- und Ausbau einer geregelten Entsorgung in den Städten führte, verfeinern sich die Disziplinierungen des Körpers. Im Sitzen als Gegenbewegung, als Taktik nach Michel de Certeau4 , fließen die bisher für die Abfallwahrnehmung so bedeutenden Elemente einer Anti-Ökonomie des Sehens und eines Innehaltens zusammen. Dabei gibt es, wie zu zeigen ist, ein abfallunfreundliches Sitzen sowie eines, das abfallfreundlich und abfallzugewandt ist. Neben Sitzen sind auch weiterhin die Momente der Störung und des Stillstellens von Verwerfungsbewegungen von Wichtigkeit. Wenn, wie gezeigt, Restlosigkeit ein Ideal ist, muss es folgerichtig zu einer Zunahme von Integrationen, aber auch von Verwerfungen kommen. Den Verwerfungen, Menschen und Dingen zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschiche(n) widmen sich die Geschichten über und gegen das Verschwinden. Dieses dritte Kapitels eröffnet jedoch mit einem Märchen, das von den Prozessen erzählt, die zu einer Entsorgung von Dingen führen können.

3.1

Entsorgungsmärchen: Michael Endes Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte

Eine in all ihrer Randständigkeit wichtige Figur in Michael Endes Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte (1973)5 ist ein Müllwerker. Beppo der Straßenkehrer ist einer der besten Freunde des Mädchens Momo. Wir erfahren in einer längeren Passage im vierten Kapitel, welche Arbeiten Beppo täglich zu verrichten hat: »Er fuhr jeden Morgen lange vor Tagesanbruch mit seinem alten, quietschenden Fahrrad in die Stadt zu einem großen Gebäude. Dort wartete er in einem Hof zusammen mit seinen Kollegen, bis man ihm einen Besen und einen Karren gab und ihm eine bestimmte Straße zuwies, die er kehren sollte.« (EnM, 36) Obgleich nicht die Rede davon sein kann, dass es sich um eine selbstbestimmte Arbeit handelt – die Straßen werden zugewiesen, die Arbeitsgeräte zugeteilt – ist es offensichtlich, wie Beppo dennoch Freude an seiner Arbeit findet: Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wußte, es war eine sehr notwendige Arbeit. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt ein Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter – Schritt – Atemzug – Besenstrich – – –. (EnM, 36)

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Zur Unterscheidung zwischen Taktik und Strategie nach De Certeau 1988 vgl. die Einleitung dieser Arbeit, Kapitel 1.2. Vgl. Ende 1973, fortan wird als Titelreferenz die Kurzform Momo verwendet, Textstellen werden im laufenden Text mit der Sigle EnM und Seitenzahl zitiert.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

Dies kann daran liegen, dass er, obgleich vieles an seiner Arbeit von anderen Menschen abhängt, so doch Tempo und Rhythmus selbst bestimmen kann. Beppos Art zu arbeiten wird als eine aus der Zeit gefallene Beschäftigung geschildert. Diese Zeichnung eines meditativen, anachronistischen Lebens und Handelns Beppos korrespondiert mit dem gleich zu Anfang des Romans geschilderten Alltag von Beppos Freundin Momo. Momo lebt allein in der fast vergessenen Ruine eines Amphitheaters, die ab und an versehentlich von Touristen besucht wird. Diese »kletterten auf den grasbewachsenen Sitzreihen umher, machten Lärm, knipsten ein Erinnerungsfoto und gingen wieder fort.« (EnM, 9) Von diesen seltenen Störungen abgesehen, wird der Ruinenort als idyllischer, kontemplativer Ort geschildert. Ein Ort des Spiels, ein Ort der Versorgung und Zuwendung, ein Ort, an dem Ziegen weiden und an dem sich abends Liebende treffen (vgl. EnM, 9). Während das Leben Momos zu Beginn vor allem im Kontrast zu den Touristen gezeichnet wird, vergrößert sich die Kluft zwischen ihr und ihren Mitmenschen sowie den Freundinnen und Freunden mit der Ankunft der grauen Herren. Die Herren haben vor allem eines im Sinn: Die Menschen sollen keine Zeit mehr vertrödeln, sondern Zeit sparen. So werden für alle Menschen Zeitkonten eingerichtet (vgl. beispielsweise EnM, 59f.). Je mehr Zeit die Menschen sparen, desto weniger Zeit haben sie füreinander. Dies hat weitreichende Folgen: Aus einem ihrer besten Freunde, dem Fremdenführer Gigi, der so gerne seine erfundenen Geschichten über die Vergangenheit des Amphitheaters und der Stadt erzählt, wird nach der Ankunft der grauen Herren ein Erzähl-Star. Ein Star, dem neben Zeit auch Freunde und letztlich die Geschichten fehlen (vgl. EnM, 171-177). Auch die Arbeit Beppos ist von diesen Wandlungen betroffen. Dem Motiv des Straßenkehrens folgt Anselm Wagner in Bildern, in der »politischen Bildpropaganda«6 der Stadt Graz und zeigt: »Straßenkehrer sind wie alle anderen Berufsgruppen, die sich um die Beseitigung unserer Abfälle kümmern, an der sozialen Stufenleiter ganz unten angesiedelt.«7 Obgleich es nicht leicht fällt, Momo einem Genre zuzuordnen, wird der Roman als Kinder- und Jugendliteratur rezipiert.8 Im Paratext9 findet sich jedoch ein anderer Hinweis: »Ein Märchen-Roman«10 . Märchenhafte Züge finden sich viele in Momo: Die Bedrohung des Guten, Aufrichtigen durch das Böse, das mit Kälte und Schonungslosigkeit attributiert wird. Nach etlichen Prüfungen und mit Hilfe des Wunderbaren11 , etwa einer weisen Schildkröte, Meister Hora und einer Stundenblume gelingt es Momo, die Zeit an- und die grauen Herren aufzuhalten sowie ihre Freunde zu retten.12 Wie passt der Abfall in dieses Märchen, welche Funktionen hat er, was macht Momo zu einem Entsorgungsmärchen? Gernot Böhme attestiert dem Roman, nicht nur eine spannende und

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Wagner 2010c, 271. Wagner 2010c, 272. Vgl. etwa die Interpretation von Jana Mikota (Mikota 2009) und Böhme 2007, die beide bereits im ersten Satz auf das Genre Kinder bzw. Kinder- und Jugendliteratur hinweisen. Zu den Funktionen der Gattungsangabe als Paratext vgl. Genette 2001, 94-102. Zu einer Definition des Märchens vgl. Neuhaus 2005, 1-3. In Momo finden sich Elemente der sog. Volks-, aber auch des Kunstmärchens (vgl. hierzu Lüthi 2004, 5 und Neuhaus 2005, 3-11, der auch kritisch auf den Begriff des Volksmärchens eingeht, vgl. besonders Neuhaus 2005, 3f.). Vgl. hierzu Neuhaus 2005, 11-18. Zum guten Ende als Charakteristikum für das sog. Volksmärchen vgl. Neuhaus 2005, 9.

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anrührende Geschichte zu erzählen, sondern zugleich als »herbe Modernitätskritik«13 zu fungieren. Dabei trifft diese Kritik nicht nur, wie von Böhme nachgezeichnet, den Wandel des Alltags durch »Rationalisierung, Taylorismus, Fordismus in Arbeit und Verkehr, McDonaldisierung der Alltagswelt«14 , sondern auch die Entstehung einer neuen Quantität und Qualität von Abfällen. Gleich zu Beginn des Textes wird die Abfallnähe der Momo-Figur durch die Beschreibung ihres Aussehens deutlich markiert. Eine Beschreibung, die auch die Normvorstellungen in Bezug auf Ordnung mitklingen lässt: »Momos äußere Erscheinung war […] ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legten, möglicherweise etwas erschreckend wirken.« (EnM, 9) Momo, so heißt es weiter, besitzt nichts, »als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam« (EnM, 9): ein Rock aus Flicken, eine alte Männerjacke. Diese Beschreibung deutet auf die Armut Momos hin. Eine Armut, die jedoch, wie wir erfahren, nur materielle Dinge betrifft: Die Mängel in materieller Hinsicht werden durch eine andere Art von Reichtum mehr als ausgeglichen – den Reichtum an Freundschaften, an dauerhaften Beziehungen oder, um mit Bourdieu zu sprechen, an sozialem Kapital.15 So werden zu Beginn des Romans ausführlich die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Momo und den Menschen der Umgebung geschildert. Freundschaften, in deren Zentrum Momo als Mittlerin zu stehen scheint. Sie fungiert als gemeinschaftsstiftende, als verbindende Person, weil die Menschen sich alle gemeinsam um Momo kümmern wollen (»Denn hier [in der Ruine, CHG] könne das Kind schließlich genausogut wohnen wie bei einem von ihnen, und sorgen wollten sie alle gemeinsam für Momo, weil es für alle zusammen sowieso einfacher wäre, als für einen allein.« (EnM, 12)). Auch die Gabe, zuhören zu können, durch ihre Art des Zuhörens gar ein Erzählen auszulösen und am Leben zu erhalten, ist eine weitere Ressource Momos. Rätselhaft ist nicht nur die Tatsache, dass nicht klar zu sein scheint, wo Momo herkommt, sondern auch die Alterslosigkeit von Momo. Sie war, wie es heißt, schon immer da, hat keine Familie und nicht wirklich eine Vergangenheit. Sie scheint, wie bereits angedeutet, aus der Zeit gefallen zu sein oder auch neben oder ohne Zeit zu existieren. Die Welt der grauen Herren hingegen ist eine beschleunigte, eine durchgestaltete Welt, wie an etlichen Stellen des Textes fast lustvoll ausgebreitet wird: Aus dem gemütlichen Nachbarschaftslokal von Nino wird ein Schnellimbiss mit Selbstbedienung. Aus dem Friseur Herr Fusi, der stets mit den Menschen in seinem Friseurladen plauschte, wird ein gehetzter Akkordarbeiter. So heißt es zu seiner neuen Arbeitsweise, nachdem ihm die grauen Herren die Idee des Zeitsparens nähergebracht haben: »Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatsächlich statt in einer halben Stunde schon nach zwanzig Minuten fertig.« (EnM, 68f.) Die Veränderungen sind auch in der Gestalt der Stadt zu erkennen: Die Menschen werden konfrontiert und gelockt mit Werbebotschaften, die Stadt wird zu einer Stadt

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Böhme 2007, 79. Böhme 2007, 78. Vgl. hierzu Bourdieu 1983, 190-195.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

der Fabriken und der Bürohäuser (vgl. EnM, 70f.). Die Stimme der Einzelnen, das Individuelle hat es schwer in einer solchen Stadt. Besonders in der Stadtbeschreibung werden das Ausmaß des Unterschieds zwischen dem Vorher zu Romanbeginn und die durch die Ankunft der grauen Herren ausgelösten Veränderungen sichtbar. Diese Veränderungen treffen vor allem und zuallererst das Leben der Kinder. Die Kinder, die zu Beginn immer Zeit zum Spielen hatten und die sich durch ihre Nähe zu Abfällen auszeichneten, werden, so berichtet nicht nur Nino der ungläubigen Momo, sondern so erzählen auch die Kinder selbst, nach den durch die grauen Herren ausgelösten Veränderungen in Kinder-Depots verwahrt (vgl. etwa EnM, 197).16 An der veränderten Arbeitsweise von Herrn Fusi lässt sich die Bedeutung von Rechnungen, von exakten Zahlen und Daten erkennen, die uns auch schon in Bölls Der Wegwerfer sowie in den Überlegungen zu Kafka begegnet sind.17 Herr Fusi bekommt von einem grauen Herren seine Lebenszeit vorgerechnet, ausgehend von einer Lebenszeit von ungefähr siebzig Jahren (»dreihunderfünfzehnmillionendreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimillidardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden.« (EnM, 61)). Wenn man nun die Sekunden für Schlaf, Arbeit, Nahrung, die Zeit, die Fusi mit seiner Mutter und seinem Wellensittich verbringt, Einkaufen, Freunde treffen, Singen, seinem ›Geheimnis‹ – die Zeit, die er mit Fräulein Daria verbringt sowie das allabendliche kontemplative Sitzen am Fenster vor dem Schlafengehen – abzieht, hat Herr Fusi bereits, wie der graue Herr ausrechnet, »1 324 512 000 Sekunden« verloren. Der graue Herr führt aus: »Ja, Sie sehen ganz recht«, sagte er, »es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. […].« (EnM, 64) Es ist nicht verwunderlich, dass die Rechnung des grauen Herren zu einer erschreckenden, einer fatalen Bilanz kommt: Herrn Fusi ist es nicht gelungen, in den bisherigen 42 Jahren seines Lebens auch nur eine Sekunde Zeit anzusparen. Dass die Rechnung zwar stimmt, dass im Vorgang der Berechnung aber ein grundsätzlicher Fehler liegt, macht ein Kommentar der Erzählinstanz deutlich: »Er [Herr Fusi, CHG] war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, daß er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen.« (EnM, 65) Das Resultat dieser Rechnung hat zur Folge, dass Herr Fusi nicht nur seine Arbeitsweise und sein Arbeitstempo verändert, sondern auch, dass er

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Tatsächlich, darauf macht Martina Löw aufmerksam, kommt eine Entwicklung in den 1960er Jahren zu ihrem Höhepunkt, die bereits um 1800 einsetzte und einen signifikanten Wandel der Kindheit in der Stadt darstellt: »Für bürgerliche Kinder wird es ab 1800 unziemlich, auf der Straße zu spielen. Das Stadtbürgertum institutionalisiert das Modell der verhäuslichten Kindheit als Erstes. Die kleinbürgerliche Familie folgt langsam dem Vorbild, so dass um 1900 auch das städtische Kleinbürgertum Kindern den Aufenthalt im öffentlichen Raum nur noch selten erlaubt. In den sechziger Jahren endet in Deutschland die Straßenkindheit. Es kommt zu einer durchgreifenden Verhäuslichung dieser biographischen Phase […]« (Löw 2011, 86f.) Urbanisierte Kinder sind von nun an pädagogisch betreute, individualisierte Familienkinder. Dies bedeutet auch einen Wandel von der abfallfreundlichen Kindheit zu einer Kindheit, die immer weniger mit Abfall und Schmutz in Berührung kommt. Vgl. Kapitel 2.3.

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keine Zeit mehr mit Fräulein Daria und seiner alten Mutter verbringt. Auch das von ihm so liebgewonnene Sitzen am Fenster wird abgeschafft. Kurz: Es wird alles verworfen, was in der Sichtweise der grauen Herren überflüssig ist. Diese Episode erinnert daran, dass auch die historische Entwicklung von Entsorgungsinfrastrukturen eine Geschichte von Zahlen, Rationalisierungen und Statistiken ist. Gegen eine solche Rationalisierung kehrt auch Beppo an. So sind gerade der Straßenkehrer Beppo und die Bezüge zum Abfall in Momo von zentraler Bedeutung. Eine wichtige Textpassage, in der es darum geht, das perfide Spiel der grauen Agenten zu erklären, spielt auf einer Mülldeponie.18 Beppo belauscht die grauen Herren zu einem Zeitpunkt, zu dem sowohl ihre Anwesenheit, als auch ihre Pläne den Menschen noch verborgen sind. Beppo wird Zeuge eines Tribunals. Wir wissen bis zu diesem Zeitpunkt recht wenig über die grauen Herren: Weit draußen vor der großen Stadt erhoben sich die gewaltigen Müllhalden. Es war ein richtiges Gebirge aus Asche, Scherben, Blechbüchsen, alten Matratzen, Plastikresten, Pappschachteln und all den anderen Sachen, die in der großen Stadt jeden Tag weggeworfen wurden und die hier darauf warteten, nach und nach in die riesigen Verbrennungsöfen zu wandern. (EnM, 113) Die Wahl des Schauplatzes ist nicht zufällig: Gerade diese Deponie wird in der Welt, die die grauen Herren schaffen, kontinuierlich mit neuen Abfällen versorgt werden. Zugleich nähern sich die Orte der Stadt der Deponie an, indem sie zu kontrollierten und rationalisierten Orten werden, die zunehmend austauschbarer werden. Die Verbrennungsöfen deuten einen Löschungsprozess von Geschichten voraus, der im Verlauf der Geschichte durch die grauen Herren forciert wird. In diesem Tribunal offenbaren die grauen Herren, dass in ihrer Welt Schonungslosigkeit herrscht: Weil einer der grauen Herren Momo zugehört, Zeit bei ihr verschwendet hat und nun Kinder gegen die Zeitsparmaxime demonstrieren, wird er des Hochverrats angeschuldigt und ihm die Zeit entzogen – er löst sich in Nichts auf (vgl. EnM, 116-119). Beppo ist erschüttert von der beobachteten Szene und bleibt im weiteren Verlauf des Textes die einzige Hauptfigur im Roman, neben Momo und einigen Kindern, die den grauen Herren widerstehen kann. Er beugt sich nur dem Zeitsparimperativ der grauen Herren, weil er glaubt, so Momo helfen zu können. Das Zeitsparen wirkt sich, analog zu Herrn Fusi und Nino, auf seine Arbeit aus: Im Gegensatz zu den kontemplativen Kehrbewegungen kehrt Beppo nun wie ein Arbeiter am Fließband. Gernot Böhme stellt in seiner zeitphilosophisch inspirierten Lesart die verschiedenen Zeitkonzepte im Roman gegenüber: die rationalisierte Zeit auf der einen und die Eigenzeit der Menschen auf der anderen Seite.19 Diese Eigenzeit ist eine Zeit, in der nichts produziert oder konsumiert wird, die nichts nützt. Nutzlosigkeit meint hier eine Verweigerung von Leistung, oder, wie Böhme es nennt, die Verweigerung des Leistungsprinzips zugunsten eines Lebens »der Zeit selbst als Lebensvollzug«20 . Die Welt, die sich 18 19 20

Zur Deponie vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit. Vgl. Böhme 2007, 85-88. Böhme 2007, 89. Böhme führt aus: »Die Idee des Zeitsparens, die allen Rationalisierungsprozessen zugrunde liegt, geht von der Zeit als eine Art Vorrat aus, den es möglichst ökonomisch zu nutzen gilt. Damit wird das Verhältnis des Menschen zur Zeit unter das Leistungsprinzip gestellt. Es kommt nicht darauf an, wie man lebt, sondern darauf, was dabei herauskommt. Die Zeit des

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nach dem Wandel präsentiert, ist eine Welt, in der die Menschen in einer, wie Jürgen Reuß und Cosima Dannoritzer in ihren Überlegungen zur sog. geplanten Obsoleszenz formulieren, »Kurzfristigkeitswolke«21 leben. Sie illustrieren dies am Beispiel Uhren – ein Beispiel, das mit zahlreichen Elementen des Märchens Momo korrespondiert: Altes Handwerk stirbt aus und kleine Betriebe wie Uhrenfabriken im Schwarzwald können nicht mehr Schritt halten, weil billige Quarzuhren das klassische Uhrmacherhandwerk überflüssig machen. Eine Reparatur lohnt sich nicht mehr, stattdessen kaufen die Menschen lieber Neuware.22 Zugleich schrecken die Kunden vor höheren Anschaffungskosten zurück: »Wenn etwas Billiges schnell kaputtgeht, ärgert man sich kurz und freut sich aber gleich schon darauf, auf die Suche nach dem nächsten Schnäppchen gehen zu können.«23 Die Kritik des massenhaft Produzierten sowie einer Konsumverstärkung durch Mode24 findet sich ebenfalls in Momo: Die grauen Herren machen Momo eines Tages eine Puppe zum Geschenk, ohne dass freilich ersichtlich ist, von wem dieses Geschenk stammt. Diese Puppe, heißt es, »sah nicht aus wie ein Kind oder ein Baby, sondern wie eine schicke junge Dame oder eine Schaufensterfigur. Sie trug ein rotes Kleid mit kurzem Rock und Riemchenschuhe mit hohen Absätzen.« (EnM, 87) Bibigirl, wie diese Puppe heißt, kann sprechen und beschreibt sich selbst als »vollkommene Puppe« (EnM, 87). Dass diese Puppe aber das Gegenteil von Vollkommenheit darstellt, merkt Momo schnell. Bibigirl spricht mechanisch, antwortet nicht und, das Bemerkenswerteste: Momo kann nicht mit ihr spielen. Sie empfindet zum ersten Mal in ihrem Leben Langeweile. Die grauen Herren versuchen die Situation zu retten, indem sie mögliche Accessoires für Bibigirl bereitstellen: Lippenstift, Tennisschläger, Ohrringe, Handtaschen, Badesalz (vgl. EnM, 91). Dem entscheidenden Grund, warum sich Momo der Puppe verweigert, können die Geschenke der grauen Herren jedoch nichts entgegensetzen: Momo kann Bibigirl nicht lieben (vgl. EnM, 93). Dieses Gefühl der Verbundenheit assoziiert Momo nur mit ihren Freundinnen und Freunden. Liebe, Freundschaft wird im Roman so als Gegenentwurf zur Zweckrationalität geschildert.25 Sie kostet, aber sie bringt auch Gewinn. Wie Zeit erfordert auch Freundschaft Geben und somit Verlieren. Ein Verlieren, das sich jedoch in einen Gewinn für beide Seiten verwandelt. Die Handlungsanweisung der grauen Herren an Herrn Fusi, das Überflüssige wegzulassen, betrifft nicht nur Fusis Leben, sondern das aller Menschen. Der große Verlust der Zeit durch die Idee, Zeit sparen zu müssen, wirkt sich auf das Erzählen aus. Niemand hat mehr Zeit, um Geschichten zu erzählen, und ebenfalls keine Zeit, um zuzuhören. Die Geschichten, die die Kinder sich untereinander erzählt hatten, die die Eltern

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Lebens wird dabei zu einer Art Rohstoff, aus dem es möglichst viel zu machen gilt. Für die ersparte Zeit bleibt damit nur die Leere, es sei denn, man nutzt sie zu weiterer Produktion. Die Alternative wäre, die Zeit selbst als Lebensvollzug zu leben.« (Böhme 2007, 89) Reuß/Dannoritzer 2013, 111. Vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 110. Reuß/Dannoritzer 2013, 111. Zu Mode vgl. auch Kapitel 5.6. So liest Suriano 2000 Momo auch als Geschichte über die Liebe.

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ihren Kindern vor Ankunft der grauen Herren erzählt haben, werden selbst zu Abfall: Momo wird nicht mehr zum Zuhören gebraucht. Während der Märchen-Roman vorschlägt, wieder zurückzukehren in eine Zeit der Langsamkeit, des Zuhörens und des Erzählens, ist die Frage berechtigt, ob diese Trennung von Vorher und Nachher, von alter und neuer Zeit, von abfallnahem und abfallfernem Handeln tatsächlich aufrecht zu erhalten ist. Schafft eine Welt der Langsamkeit wirklich weniger Abfälle? Dabei kann die Rückkehr zur Langsamkeit kein Gegenentwurf sein, sondern das Reden von Entschleunigung, von Verlangsamung und Innehalten war von Anfang an integraler Bestandteil der modernen Beschleunigungsprozesse.26 Die hier analysierten Texte bergen Momente und Arrangements der Stagnation und des Stillstands in sich. Nebenbei bemerkt: Auch das Lesen von Momo kostet Zeit, eine Zeit, die in der Welt der grauen Herren nicht da wäre bzw. eingespart werden müsste. Das macht den Roman selbst in letzter Konsequenz zu Abfall. Wer Momo liest, das wurde bereits angedeutet, spart keine Zeit, sondern ›vergeudet‹ sie – und stellt sich dadurch allen Zeitsparmaximen und Kurzfristigkeitswolken entgegen. Dies könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum sich die Erzählinstanz auf der Seite von Momo verortet, gegen die grauen Herren. Es ist verlockend, Momo als Entsorgungsmärchen zu lesen. Ein Märchen, das zudem von den riskanten Operationen einer Beschleunigung erzählt – und was diese Beschleunigung an Abfällen mit sich bringt.

3.2

Flüchtige Moderne und Abfälle

Zu ganz ähnlichen Befunden wie sie im Roman Momo versammelt sind, kommt auch ein anderer Text, der im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen soll. Um noch einmal an die Darstellungen von Kapitel 2, und hier vor allem von Unterkapitel 2.4 anzuknüpfen: Dass die dort beschriebene Versöhnung von Ökonomie und Ökologie nicht möglich ist, mehr noch, dass die Integrationsverweigerung von Abfällen viel umfassender ist als in Bezug auf Giftmüll oder radioaktiven Müll, ist sicherlich eine der Grundauffassungen des Soziologen Zygmunt Bauman. Er zeigt in seinen Schriften immer wieder, wie hoch die Kosten all dieser Entwicklungen sind. Während Beppo der Straßenkehrer in Momo ein Müllwerker ist, der sich gegen Gleichförmigkeit richtet, wendet sich Bauman in anderer Absicht dem Müllmann zu. Für ihn verkörpert diese Zunft das Bestreben, die vom Menschen erzeugten Abfälle schnellstmöglich zu beseitigen und in kontinuierlichen Akten des Reinigens Ordnung herzustellen: Die Müllmänner sind die unbesungenen Helden der Moderne. Tag für Tag erneuern und bearbeiten sie die Grenzlinie zwischen Normalität und Pathologie, Gesundheit und Krankheit, dem Wünschenswerten und dem Abstoßenden, dem Akzeptierten und dem Zurückgewiesenen, dem, was sich schickt, und dem, was sich nicht schickt, der Innen- und Außenseite des menschlichen Universums. Sie bedarf ihrer ständigen

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Vgl. hierzu die Einleitung des Bandes Stehende Gewässer. Medien der Stagnation (Behnstedt u.a. 2007, besonders 7f.).

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

Wachsamkeit und ihres Fleißes, denn sie ist alles andere als eine »natürliche Grenze«: keine himmelhohen Berge, unergründlichen Meerestiefen oder unpassierbaren Schluchten trennen die Innen- von der Außenseite.27 Welche Grenzen meint Bauman und welche Rolle spielt Abfall? Liquid Modernity, eines der bekanntesten Werke Baumans, erschien im Jahr 2000.28 In der deutschen Übersetzung29 wird das titelgebende »liquid« mit »flüchtig« übersetzt, oftmals wird, wie im obigen Zitat, auch mit der Übersetzung »flüssig« gearbeitet. Hier sind beide Varianten aufschlussreich: Flüchtig und verflüssigt bezeichnen auch den veränderten Umgang der Menschen mit den Dingen.30 Flüchtig, flüssig seien die Beziehungen der Menschen, untereinander und zu den Dingen. Bauman stellt diese Veränderungen in einen größeren Zusammenhang: Der Ausdruck Liquid Modernity kann auch mit »leichte Moderne« übersetzt werden. Leicht meint dabei vielerlei. In den letzten Jahrzehnten haben sich Entwicklungen abgezeichnet, die die Vermutung nahe legen, dass bestimmte Prämissen obsolet werden bzw. bereits wurden. War der Beginn der Moderne geprägt durch Fabrikarbeit, durch schwere Maschinen wie die Dampfwalze und Fortbewegungsmittel wie die Eisenbahn, so lassen sich vermehrt Tendenzen einer Verflüchtigung feststellen: Der schwere Kapitalismus hielt das Kapital und die von ihm beschäftigten Arbeiter fest auf dem Boden. Heute reist das Kapital mit leichtem Marschgepäck – mit Handgepäck, bestehend aus Aktenkoffer, Laptop und Handy. Zwischenstops sind überall möglich, und kein Aufenthalt muß länger dauern als die Befriedigung, die er bringt. Der Faktor Arbeit hingegen ist immobil geblieben – aber der Ort, an dem sich die Arbeit einst für ewig angekettet fühlte, hat seine Solidität verloren; im Treibsand sucht man vergebens nach Haken und Ösen, die Halt bieten könnten.31 Bill Gates wird für Bauman zum Symbol eines neuen Ideals von Möglichkeiten, das mit Flüchtigkeit operiert. Wesentliches Charakteristikum des Ideals ist es so auch, sich ungern zu binden, weder an konkrete Orte, noch an Strukturen oder Dinge: Festhalten, das Eingebundensein in gegenseitige Verpflichtungen kann sich sogar definitiv als schädlich erweisen, wenn sich neue Möglichkeiten an anderen Orten auftun.

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Bauman 2005b, 42f. Vgl. Bauman 2000. Die Analyse von Baumans Texten als Matrix der literaturwissenschaftlichen Analysen dieses dritten Kapitels wurde durch die DeLillo-Analyse von David H. Evans (vgl. Evans 2006 und Unterkapitel 1.1 der Einleitung der vorliegenden Arbeit) inspiriert. Auch in Peeters 2010 finden sich kurze Ausführungen zu Bauman (vgl. Peeters 2010, 148f. und 150 f). Vgl. Bauman 2005a. Nachfolgend wird aus der deutschen Übersetzung zitiert. Auch Günther Anders nutzt die Metapher des Liquiden, wenn er von der Liquidierung der Dinge schreibt. Je kürzer, so sein Gedanke, die Verweildauer der Dinge bei den Menschen, desto sorgloser die Entsorgung: »Daß der Ausdruck ›Verdinglichung‹, mit dem die Tendenzen unseres Zeitalter seit einem Jahrhundert charakterisiert worden waren, zur Kennzeichnung der heutigen Situation nicht mehr ausreicht; daß wir vielmehr an der Schwelle zu einem neuen Stadium stehen: zu einem Stadium, in dem umgekehrt die Dingform vermieden, das Ding verflüssigt wird. Mindestens daß für dieses Stadium die Verflüssigung des Dinges ebenso charakteristisch sein wird wie die Verdinglichung des Nichtdinglichen. Für diesen von der Theorie bisher vernachlässigten Tatbestand schlage ich den Terminus ›Liquidierung‹ vor.« (Anders 1980, 55f.) Bauman 2005a, 73.

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Rockefeller mag von dem Wunsch getrieben gewesen sein, daß seine Fabriken, seine Eisenbahnen und Öltürme groß und für die Ewigkeit (im Sinne eines Menschenlebens oder des Lebens einer Dynastie) gebaut waren. Aber was kümmert es Bill Gates, wenn er sich heute von Besitz trennt, auf den er gestern noch stolz war? Profit erwächst heute aus der jede Vorstellungskraft übersteigenden Geschwindigkeit des Recycling, des Alterns, der Entsorgung und Neuschaffung von Produkten – lange Lebensdauer und Zuverlässigkeit sind nicht mehr gefragt. In einer bemerkenswerten Verkehrung jahrtausendealter Tradition entwickeln heute die Großen und Mächtigen eine Vorliebe für das Flüchtige und Vorübergehende, während die Verlierer verzweifelt versuchen, ihren Schrott am Laufen zu halten.32 Hier werden viele für Bauman wichtige Aspekte angesprochen: Die Bewegungen von Festhalten und Loslassen, die Wichtigkeit des Entsorgungsaktes, die Einteilung in Gewinner und Verlierer, die Bedeutung von Geschwindigkeit. Dabei handelt es sich für Bauman bei diesen Bewegungen um keine isolierten Phänomene, sondern um Grundbewegungen einer neuen, flüchtigeren Zeit. So untersucht Bauman in Flüchtige Moderne die Folgen dieser neuen Flüchtigkeit hinsichtlich deren Auswirkungen auf solche Faktoren wie Zeit und Raum, Arbeit oder Vergemeinschaftungsprozessen. In diversen Folgebänden widmet er sich einzelnen Phänomenen – etwa den Veränderungen der Liebe und Ehe (Liquid Love33 ), veränderten Beziehungen zur Wahrnehmung von Zeit34 , neuen Ängsten (Liquid Fear 35 ), der Frage nach dem veränderten Verständnis von Kultur36 , dem Wandel von einer Produzenten- zur Konsumentengesellschaft37 und der Ausgrenzung von Menschen38 . Auch wenn nicht allen Aspekten von Baumans pessimistischer Einschätzung gegenwärtiger Phänomene zuzustimmen ist,39 sind neben Liquid Modernity insbesondere die beiden letztgenannten Bände für dieses Kapitel aufschlussreich. Aufschlussreich vor allem auch, weil Bauman in diesen Texten explizit und ausführlich auf die Folgen bestimmter Entwicklungen in Bezug auf die Zunahme von Abfall, und damit verbunden, von Abfälligem und Abfälligkeit eingeht. Vor allem in dem von ihm konstatierten Wandel von der Produzenten- zur Konsumentengesellschaft – auch als Konsumismus bezeichnet – liegt für Bauman die Quintessenz der neuen Flüchtigkeit. So bezieht sich Bauman direkt auf Michael Thompsons Theorie des Abfalls40 und dessen Unterscheidungen von langlebigen Objekten und Abfall. 32 33 34 35 36 37 38 39

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Bauman 2005a, 21f. Bauman 2008. Vgl. Bauman 2007b. Bauman 2007a. Vgl. Bauman 2011. Vgl. Bauman 2009. Bauman 2005b. So wurden in der Forschung sowohl die Vorgehensweise als auch die Schlussfolgerungen von Baumans Arbeiten kritisiert (beispielhaft die detaillierte Auseinandersetzung mit Bauman in Elliott 2007). Die von Bauman negativ bewertete Auflösung von Jahrzehnte andauernden Ehegemeinschaften, die durch kurzlebigere Partnerschaften ersetzt würden, blende beispielsweise emanzipatorische Errungenschaften der Entwicklungen aus (aus feministischer Perspektive argumentiert Branaman 2007). Vgl. Bauman 2005a, 149.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

Die Langlebigkeit von Objekten als Ziel, erreicht durch Bewegungen des Sammelns, Behaltens, Herstellens solcher Dinge, scheint Bauman zutiefst obsolet: »Das Festhalten an Dingen über ihr Verfallsdatum hinaus und selbst dann noch, wenn ›neue und verbesserte‹ Versionen auf dem Markt sind, gilt heute eher als Zeichen der Deprivation.«41 Untrennbar miteinander verbunden sind die Ware und die Unzufriedenheit. Obgleich Zufriedenheit mit den Dingen stets als Ziel aufrechterhalten wird, wird Unzufriedenheit geschürt, da nur diese neue Kaufbewegungen zur Folge habe: Die Konsumgesellschaft wäre undenkbar ohne eine blühende Abfallbeseitigungsindustrie. Dass Konsumenten den Objekten, die sie mit der Absicht erwerben, sie zu konsumieren, Treue schwören, ist nicht vorgesehen.42 Dabei kann sogar der Erwerbungsprozess rückgängig gemacht werden. Wenn es zu Unannehmlichkeiten kommt, so Bauman, etwa Fehler oder andere Unvollkommenheiten auftreten, so ist der Umtausch immer eine Option. Das Streben nach Fehlerfreiheit, nach Perfektion hinsichtlich der Ware bestimmt das Verhältnis zu ihr: Schließlich ist die Notwendigkeit, »veraltete«, nicht vollkommen zufriedenstellende und/oder nicht mehr erwünschte Konsumobjekte zu ersetzen, in Konsumgütermärkten Teil des Produktdesigns und der Werbekampagnen, die auf die kontinuierliche Steigerung des Absatzes abzielen. Dass der praktische Gebrauch und die erklärte Nützlichkeit eines Produkts eine kurze Lebenserwartung hat, ist in der Marketingstrategie und der Gewinnerwartung bereits einkalkuliert: Es ist von vornherein so vorgesehen und wird den Konsumenten in der Praxis verordnet und eingeredet durch die Apotheose neuer Angebote (von heute) und die Verunglimpfung der alten (von gestern).43 Diese Sorglosigkeit, die Rücksichtslosigkeit ähnelt, begegnet uns in Extremform im Wegwerfprodukt.44 Der Wegwerfkugelschreiber wurde in den 1950er Jahren ein Welterfolg, es folgten Wegwerffeuerzeuge und Einmalrasierer.45 Wolfgang König fasst die Vorteile solcher Produkte vor allem für die Hersteller zusammen: »Wegwerfprodukte kurbeln die Umsätze der Hersteller an und entlasten die Konsumenten; die Entsorgungskosten werden der Allgemeinheit aufgebürdet.«46 Ot Hoffmann, Initiator der im Jahr 1989 stattgefundenen Ausstellung Prinzip Wegwerf, sieht im Vorgang des Wegwerfens nicht nur eine Trennung des Menschen von den Dingen.47 Das Wegwerfprinzip verändere auch die Qualität des Verweilens der Dinge bei dem Menschen. Kennzeichen des Aufenthalts seien die »schnelle Aneignung, die kurze Nutzung und die sorglose Entledigung.«48 Dies lasse sich vor allem bei Plastik- und Wegwerfprodukten feststel-

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Bauman 2005a, 150. Bauman 2009, 32. Bauman 2009, 31f. Zu Kunststoffen, die, billig, verfügbar und formbar, zum adäquaten Material von Wegwerfprodukten wurden, vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit. Vgl. König 2000, 421. König 2000, 419. Vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 35f. Hoffmann 1989, 14.

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len. Ein weiterer Aufsatz im Ausstellungskatalog spricht von einer »Treulosigkeit«49 gegenüber den Dingen, die eng mit der Reduktion von Dingen auf ihren Gebrauchswert zusammenhängt: Form und Funktion decken sich bei solchen Gegenständen fast vollständig. Das Wegwerfen bleibt in der Beziehung zum Ding wie eine Matrize im Hinterkopf des Benutzers und bestimmt somit das Verhältnis zwischen beiden. Während Böll und Anders, wie in Kapitel 2 dargestellt, bereits in den 1950er Jahren die sorglose Entsorgung von Dingen beklagen, richtet sich die Kritik Zygmunt Baumans ab der Jahrtausendwende gegen zweierlei: Zum einen geht in der flüchtigen Moderne die Tendenz dorthin, die flüchtige Verbindung zwischen Menschen und Dingen zur vorrangigen Beziehung werden zu lassen. Zum anderen breitet sich das neue Verhältnis zu den Dingen aus; für Bauman wird in der flüchtigen bzw. flüssigen Moderne die Idee und Praxis des shopping nicht nur zum Ausdruck einer generellen Sorglosigkeit, sondern in der von ihm skizzierten Konsum- bzw. Konsumentengesellschaft erfährt das shopping eine Ausweitung auf nahezu alle Lebensbereiche, Konsumismus wird zum Lebensprinzip: Wenn Shopping heißt, das Angebot der Möglichkeiten zu begutachten, die angebotenen Waren zu berühren, sie anzugreifen, zu fühlen, zu untersuchen, ihre Preise mit dem Barbestand im Geldbeutel oder dem Limit der Kreditkarte zu vergleichen, die Dinge erst in den Einkaufswagen und dann wieder zurück ins Regal zu legen – dann findet Shopping nicht nur in den Läden, sondern überall statt […]. […] Das Skript unserer Politik der Lebensführung orientiert sich an der Pragmatik des Einkaufsbummels.50 Anstelle des Bedürfnisses ist das Begehren getreten. Dabei ist von Wichtigkeit, hier denkt Bauman seine in der Monographie Flüchtige Moderne geäußerten Einschätzungen weiter, dass alles in Bewegung bleibt: »Es dreht sich auch nicht um das Loswerden dessen, was man vorgestern erworben und einen Tag später zur Schau gestellt hat. Stattdessen dreht es sich in erster Linie darum, in Bewegung zu sein.«51 Die Bewegungen, die viele Dinge vollziehen müssen, ist die aus dem Nahbereich des Menschen, dem Besitz, zu den Orten der Vernichtung: »Das konsumistische Wirtschaftssystem lebt vom Warenumsatz; es boomt, wenn mehr Geld den Besitzer wechselt, und wann immer Geld den Besitzer wechselt, wandern einige Konsumgüter auf den Müll.«52 Diese Bewegungen sind der Grund für neue und immer wieder zu erneuernde Trennungen: Dementsprechend wird in einer Konsumgesellschaft das Streben nach Glück – das am häufigsten beschworene und als Köder verwendete Ziel von Werbekampagnen, die die Bereitschaft der Konsumenten erhöhen sollen, sich von ihrem Geld zu trennen (bereits verdientes Geld oder Geld, das sie zu verdienen erwarten) – neu ausgerichtet, weg von der Herstellung von Dingen oder ihrer Aneignung (ganz zu schweigen von ihrer Lage-

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Schurz 1989, 31. Vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 33-36. Zu Wegwerfprodukten vgl. auch die anderen Aufsätze in Hoffmann 1989. Bauman 2005a, 90. Bauman 2009, 128, Hervorhebung dort. Bauman 2009, 52.

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rung), hin zu ihrer Entsorgung – genau das, was nötig ist, wenn das Bruttosozialprodukt steigen soll.53 Die Entsorgung von Dingen wird folglich zu einer immer wichtiger werdenden Dienstleistung. Dabei ist, und hier lassen sich Parallelen zu den in Kapitel 2.3 angestellten Überlegungen zu Ware, Warenhaus und den Momenten von Täuschung herstellen, das Versprechen der Dinge ein nie zu erfüllendes, die Täuschung führt zu Enttäuschung und letztlich zum erneuten Kauf – eine endlose Bewegung, die an die Bewegungen des Wegwerfers in Bölls Text erinnern: Wenn die Suche nach Erfüllung weitergehen soll und neue Versprechen verführerisch und ansteckend sein sollen, müssen bereits gegebene Versprechen routinemäßig gebrochen und die Hoffnung auf Erfüllung regelmäßig enttäuscht werden. Jedes einzelne Versprechen muss irreführend oder zumindest übertrieben sein, damit die Suche nicht ins Stocken gerät, oder die Begeisterung dafür (und damit ihre Intensität) unter das Niveau abfällt, das nötig ist, um den Warenkreislauf zwischen Fließbändern, Geschäften und Mülleimern in Gang zu halten.54 Die enge Verbindung zwischen Produktion, Verkauf und Abfallwerdung hat Böll in der Figur des Wegwerfers verdichtet. Einige der grundlegenden Thesen Zygmunt Baumans zur flüchtigen Moderne ist die Zunahme von, wie Bauman es nennt, unzivilen Orten wie die gated community oder die bereits erwähnte shopping mall, die Entstehung und Ausweitung neuer Machtmechanismen sowie die Veränderungen im Umgang mit dem eigenen Körper bzw. Körper und Körperlichkeit im Allgemeinen. Bauman widmet sich ausführlich der Vision des südafrikanischen Architekten George Hazeldon, dem Heritage Park55 . Er sieht darin das prototypische Beispiel einer gated community, die den Traum von einer Stadt verkörpere, die »anders ist als alle anderen: eine Stadt ohne komisch dreinschauende Fremde, die aus dunklen Ecken und den Straßen der Elendsviertel hervorkriechen.« Hazeldons Stadt erinnere laut Bauman »an eine High-Tech-Version mittelalterlicher Gemeinwesen, verbarrikadiert hinter dicken Mauern mit Türmen, umgeben von Gräben und geschützt durch Zugbrücken, dahinter ein Leben, das frei von Risiken und Gefahren der Welt seinen Gang geht.«56 Die von ihm beschriebene gated community ist für Bauman Ausdruck bestimmter Entwicklungen, die direkt mit der flüchtigen Moderne, genauer der veränderten Bedeutung von Zeit und Raum zusammenhängen. Während die feste Moderne das Zeitalter der Kontrolle, der Normierung und Standardisierung von Zeit war – Paradebeispiel ist die fordistische Fabrik mit ihren rigiden Rhythmen – ist die neue Zeit eine der Kontrolle des Raums. Die Vision Hazeldons ist das Beispiel einer sicheren, kontrollierten Stadt. Es scheint klar, wer und was hier hin gehört – und was nicht. Bauman greift die Idee von Richard Sennett zur Stadt als Ort auf, an dem sich Fremde begegnen (können): Diese Möglichkeit, Fremden zu begegnen, dieses, wie Bau53 54 55 56

Bauman 2009, 52, Hervorhebung dort. Bauman 2009, 65, Hervorhebung dort. Vgl. Bauman 2005a, 110. Bauman 2005a, 110.

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man mit Sennett formuliert, Aneinander-vorbei-Treffen als Ereignis ohne Vergangenheit und ohne Zukunft stellt für beide den Kern dessen dar, was sie als Zivilität bezeichnen.57 Zivilität ist für Sennett mit dem von ihm durchaus positiv konnotierten Tragen von Masken verbunden, die er umschreibt als eine »soziale Offenheit in Reinform, frei von Macht, Gebrechen und privaten Gefühlen«58 . Zivilität ist somit der Anspruch und die Aufgabe, die »Fähigkeit[…], mit Fremden zu interagieren, ohne ihnen ihr Fremdsein zum Vorwurf zu machen oder sie zu nötigen, das, was sie zu Fremden macht, abzulegen und zu verleugnen.«59 Dass dieser Umgang mit Fremden keine Selbstverständlichkeit ist, führt Bauman mit Claude Lévi-Strauss aus. So lassen sich zwei Strategien unterscheiden, mit Fremden umzugehen: die anthropophage und anthropoemische Strategie.60 Während die erste Form das Einverleiben bzw. Assimilieren meint, meint die zweite Strategie das Ausspeien – also Fernhalten, Ausschließen. Bauman ergänzt noch eine dritte Strategie: das Fremde aus dem Blickfeld nehmen.61 Bauman illustriert die dritte Strategie durch eine Anekdote: Auf einer Taxifahrt fällt ihm auf, dass der Taxifahrer nicht den direkten Weg zum Flughafen nimmt, sondern den Weg durch bekannte Viertel. Baumans Erklärung hierfür: Menschen haben mentale Karten von Städten im Kopf und es gibt immer mehr Orte, die auf nur wenigen Karten verzeichnet sind. Hinzu kommt, dass es auch immer mehr Orte gibt, die sich gar nicht verzeichnen lassen, weil sie keine signifikanten Unterschiede zu anderen Orten ihrer Art aufweisen. Hier gibt es Überschneidungen zum Konzept der Nicht-Orte von Marc Augé, auf den sich Bauman jedoch nicht explizit bezieht. Nicht-Orte meint Transitorte wie Flughäfen oder Schnellrestaurants.62 Für Augé und Bauman sind NichtOrte geschichts- und gesichtslose Orte. Orte, die nicht für einen längeren Aufenthalt bestimmt und deshalb entsprechend gestaltet sind. Nicht-Orte, in der Sprache Baumans unzivile Orte, sind geprägt von Verhaltensregeln. In den Städten der Gegenwart steigt nun die Anzahl öffentlicher bzw. auch nur scheinbar öffentlicher, nicht-ziviler Orte – Orte, die das Treffen auf Fremde(s) erschweren. Als Beispiel dient Bauman der 57

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Vgl. Bauman 2005a, 114. Bauman bezieht sich auf Sennett 1995, hier sind besonders die Passagen interessant, in denen Sennett die veränderten Beziehungen zwischen Stadt und Körper in den Blick nimmt, etwa Sennett 1995, 25f., 420, 426, 432, 451, 455f. Bauman 2005a, 114. Bauman 2005a, 125. Vgl. Bauman 2005a, 120-125. Vgl. Bauman 2005a, 123. Augé charakterisiert die Nicht-Orte folgendermaßen: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.« (Augé 1994, 92) Weiter heißt es: »Eine Welt, die Geburt und Tod ins Krankenhaus verbannt, eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet dem Anthropologen ein neues Objekt, dessen bislang unbekannte Dimensionen zu ermessen wären, bevor man sich fragt, mit welchem Blick es sich erfassen und beurteilen läßt.« (Augé 1994, 93)

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Platz Esplanade de la Défense in Paris: ein öffentlicher Platz, der das Gefühl vermittle, »fehl am Platz zu sein«63 . Damit dieses Gefühl überhaupt entstehen kann, sind stadtplanerische Elemente – Anordnung und Aussehen der Gebäude und Plätze, Ausstattung des Ortes – von Signifikanz: Nichts mildert oder unterbricht die einförmig monotone Leere. Es gibt weder Sitzbänke zum Verweilen noch Bäume, unter denen man vor der Sonne Schutz finden könnte. (Zwar sind am einen Ende des Platzes eine Reihe von geometrisch angeordneten Bänken zu finden, aber diese leicht erhöht wie auf einer Bühne arrangierten Sitzgelegenheiten laden nicht zum Verweilen ein, da jeder, der sich dort niederläßt, sich den Blicken all jener, die hier wirklich was zu tun haben, aussetzt.) Im regelmäßigen Intervall der Metrofahrpläne tauchen diese anderen wie Ameisenformationen aus dem Untergrund auf, schwärmen über die Fläche des Platzes aus und verschwinden im Nichts. Der Platz ist dann wieder leer, bis zur Ankunft der nächsten Metro.64 Andere Beispiele sind Orte, die zur Aktion, aber nicht zur Interaktion einladen, Stadtbewohner in Konsumenten verwandeln, Orte ohne oder mit wenig stattfindenden sozialen Kontakten wie Straßencafés, Sportanlagen, Kunstmuseen, Konzertsäle, Ferienorte, Einkaufszentren etc.65 Dies, so ein pessimistisches Fazit von Bauman zum Wandel von Räumen und Orten in der flüchtigen Moderne, führe zur Verbindungslosigkeit zwischen den Menschen. Wenn Konsum das Ziel ist, kann nichts Gemeinsames entstehen: »Worum es hier geht, ist Konsum, und der ist eine durch und durch und unhintergehbar individuelle Angelegenheit, ein Geflecht von Empfindungen, die man nur subjektiv und individuell erleben und lebendig erfahren kann.«66 Folge dieser Veränderungen seien homogenisierte Orte, Desinteresse und Durchtrennung von sozialen Bindungen.67 Dies macht die flüchtige Moderne zu einer Zeit der Trennungen. Für die nachfolgenden Interpretationen ergibt sich somit erstens die Frage nach Orten, nach Räumen und Plätzen – und nach den Verbindungen und Trennungen, die hier entstehen. Im Anschluss an die von Bauman konstatierte Sorglosigkeit im Konsum ließe sich eine Solidarität mit dem Verworfenen fordern. Ist diese Solidarität möglich oder nicht – und welche Rolle spielen dabei bestimmte Orte und Plätze? Mit der Entstehung neuer Orte und neuer Flüchtigkeit ist zweitens die Entstehung und Ausweitung neuer Machtmechanismen verbunden. Generell kennzeichnet die neue, flüchtige Moderne nicht eine Zunahme von Freiheit68 , sondern neue, perfide Machttechniken, die sich oftmals nicht als solche zu erkennen geben:

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Bauman 2005a, 116. Bauman 2005a, 116, Hervorhebung dort. Vgl. Bauman 2005a, 116. Bauman 2005a, 117. Vgl. Bauman 2005a, 131. So interpretieren frühe Texte Baumans die Postmoderne als Option der Moderne, die eben mehr Freiheit bedeute. In späteren Schriften wendet sich Bauman von diesem Konzept ab und ersetzt es, weitaus kritischer, durch die flüchtige Moderne (vgl. die Darstellung von Schroer 2007). Schroer liest Bauman dennoch als postmodernen Theoretiker/Denker, da dieser die Moderne und deren Mechanismen reflektiere (vgl. Schroer 2007, 427). Dabei nehme Bauman, so Schroer, besonders die Ausschlussverfahren der Moderne in den Blick (vgl. Schroer 2007, 444).

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Damit die Macht sich frei entfalten kann, muß die Welt frei von Zäunen, Mauern, bewachten Grenzen und Kontrollpunkten sein. […] Globale Mächte müssen solche [sozialen, CHG] Netzwerke im Interesse ihrer dauerhaften und wachsenden Flüchtigkeit abbauen, denn aus der Flüchtigkeit erwächst ihre Unbesiegbarkeit. Ihre Wirkung entfalten diese Mächte auf der Basis des Zerfalls, der Brüchigkeit und Fragilität, der Vorläufigkeit menschlicher Bindungen und sozialer Netzwerke.69 Deshalb bezeichnet Bauman die flüchtige Moderne als post-panoptisch70 : Der schwergewichtige Kapitalismus fordistischer Prägung war eine Welt voller Verordnungen, überwachter und präformierter Routinen, bewohnt von außengeleiteten Menschen, die fremdbestimmte Ziele auf fremdbestimmte Art verfolgten. Es war dies die Welt der Autoritäten: Führer, die es besser wußten, Lehrer, die zeigten, wie es besser zu machen ist. Der flüchtige, konsumentenfreundliche Kapitalismus hat die Verordnungen weder abgeschafft noch überflüssig gemacht. Nur haben sich die Autoritäten in einem Ausmaß vervielfältigt, das jede exklusive Autorität eines einzelnen untergräbt.71 So wird in der flüchtigen Moderne zwar Konnektivität immer bedeutsamer. Diese Verbindungen führen zugleich zu neuer Isolation – und zu mehr Abfällen. Hinsichtlich der Idee der Sauberkeit von unzivilen Orten spielen aber, wie der Bahnhof zeigt, beide Varianten – die panoptische und die post-panoptische – eine Rolle. Auch hier ergibt sich für die Interpretationen ein Fokus: Welche Rolle spielen stabile oder liquide Machtverhältnisse und Hierarchien in den Texten? Hierzu gehören auch ein Blick auf den Wandel von Arbeit und die Rolle, die Konventionen und Setzungen in Bezug auf Wegwerfbewegungen und Wegwerfverweigerungen spielen. Am Beispiel der Gesundheit schließlich widmet sich Bauman drittens einem gewandelten Umgang mit dem Körper. Körper werden zu Konsum- und Konsumentenkörpern. Die Grenzen zwischen normal und abnormal sind fließend. »Gesundheit« bedeutet in erster Linie »Arbeitsfähigkeit«72 und wird immer gleichbedeutender mit Fitness. Im Gegensatz zur Gesundheit als Zustand einer Abwesenheit von Krankheit lässt sich Fitness nicht fassen, nicht endgültig definieren. Das hat zur Folge, dass der vage Zustand der Fitness immer unerreicht bleibt, ständig erneuert werden muss.73 Fitness ist Arbeit, ist auf die Zukunft gerichtet (»[M]an ist fit für zukünftige, unbekannte Herausforderungen, hat einen flexiblen, anpassungs- und aufnahmefähigen Körper.«74 ) und unterwirft die Menschen einem strengen Programm: »Fitneß heißt dauernde Selbstbeobachtung, Selbstvorwürfe, Selbstentwertung, und damit auch dauernde Angst.«75 Dies schließt auch eine veränderte Wahrnehmung der Idee von Gesundheit ein. Auch Gesundheit ist ein Zustand, der nie wirklich erreichbar ist, solange das Risiko von Krankheit droht – und dieses Risiko ist stets gegeben. So wird Krankheit zur ständigen, zur 69 70 71 72 73 74 75

Bauman 2005a, 22. Vgl. Bauman 2005a, 18. Bauman 2005a, 78f. Bauman 2005a, 94. Vgl. Bauman 2005a, 94f. Bauman 2005a, 94. Bauman 2005a, 95.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

beständigen Bedrohung. Man ändert sein Leben, versucht ein gesundheitsbewusstes Leben zu führen, aber selbst die Ansichten, was dieses gesunde Leben eigentlich ausmacht, ändern sich ständig. Es gilt also, immer informiert zu bleiben, immer achtsam, immer in Alarmbereitschaft: »Sie [die Krankheit, CHG] erfordert ständige Aufmerksamkeit, muß bekämpft werden, sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag. Gesundheitsvorsorge wird zum permanenten Kampf gegen die Krankheit.«76 Gesundheitsvorsorge nähert sich dem Modell der Fitness an (»fortlaufend, nie voll befriedigend, unsicher in bezug auf die Richtung, in der gehandelt wird, und angsterzeugend.«77 ). Körperpflege und Fitness werden zu Beispielen dafür, wie beide in den Händen der Einzelnen liegen. Der Körper wird Ergebnis von Arbeit am Körper, wie Bauman anhand des Fitnessprogramms von Jane Fonda illustriert: Du schuldest deinem Körper Aufmerksamkeit und Pflege, und wenn du ihn vernachlässigst, solltest du dich schämen und schuldig fühlen. Die mangelnde Perfektion deines Körpers ist deine Schuld und du solltest dich dafür schämen. Aber keine Sorge, die Erlösung liegt in den Händen der Sünder und nur dort.78 Als weiteres Beispiel dient ihm die Entstehung und immer weitere Verbreitung von skin trades, also Unternehmen, die sich auf Dienstleistungen spezialisiert haben, die den Körper, dessen Optimierung im Visier haben, etwa der Wellnessbereich oder die Schönheitschirurgie.79 Auch Martina Löw hat in ihren raumsoziologischen Texten in den Blick genommen, wie sich mit den Raumwahrnehmungen die Körper wandeln: der fordistische Köper, der von Disziplinierungsprozessen zu einer besonders effizienten Massenproduktion in Raum und Zeit strukturiert wurde, wurde abgelöst vom spätkapitalistischem Körper, wie sie es nennt. Ein Körper, der gelernt hat, in flüchtigeren und instabileren Raumund Zeitkonzeptionen flexibel zu agieren und zu reagieren.80 Dennoch sind die Grundtendenzen gleich geblieben: Körper, Raum, Dinge haben äußere Standards und Anforderungen zu erfüllen – die Prinzipien Prüfung und Restlosigkeit sind bis heute maßgeblich geblieben, die Prozesse der ununterbrochenen Kontrolle von außen wurden zum Teil durch eine permanente Selbstkontrolle abgelöst. Es ist kein Zufall, dass zu Erfahrungswelten der Moderne, die sich, wie gezeigt, an exemplarischen Orten manifestieren81 , neben Orten der Erweiterung, der Steuerung, des Abstands und Rationalisierung, der Zerstörung sowie der Befreiung auch Orte des Ausstellens zählen. Schlüsselort bezogen auf die Dinge ist das bereits betrachtete Warenhaus, auf die Menschen und deren Körper bezogen ist ein solcher Schlüsselort sicherlich

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Bauman 2005a, 96. Bauman 2005a, 96. Bauman 2005a, 82, Hervorhebung dort. Vgl. Bauman 2009, 53. Zum Aspekt der Körperoptimierung vgl. auch den Sammelband von PaulaIrene Villa (vgl. Villa 2008a) der sich u.a. ausführlich der Schönheitschirurgie widmet. Ausführlich werden die Fragen nach dem Konnex von Schönheitsvorstellungen, Körperbildern und Machtmechanismen in den Überlegungen zu Pop und Kunststoffen in Kapitel 5 verhandelt. Vgl. Löw 2001, 125. Vgl. Geisthövel/Knoch 2005.

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der Kraftraum, später das Fitnessstudio. Orte also, an denen Körper nicht nur ausgestellt, sondern auch geformt und diszipliniert werden. Maren Möhring schreibt zur körperoptimierenden Idee des Kraftraums, in dem Mensch und Maschine zusammenwirken, und dessen Ähnlichkeit mit den modernen Fabriken: Statt auf Zerstörung von Körperlichkeit […] ist der Kraftraum auf eine kontrollierte Herstellung von Körperlichkeit ausgerichtet, hat über den Aspekt der Körperstählung allerdings durchaus Anteil an einer Militarisierung des Körpers. Die Arbeit an den Maschinen ist dabei zwar relativ selbstbestimmt, erlaubt sie doch die Festlegung des Tempos durch den Trainierenden. Sie verweist aber durch die rationelle Verzahnung von Körper und Maschine, die zeitliche Durcharbeitung der Bewegung an der Maschine wie auch durch die Ausrichtung auf Optimierung auf einen anderen Ort der Moderne, nämlich den tayloristischen oder fordistischen Betrieb […].82 So finden sich neben der Disziplinierung des Körpers zugleich post-panoptische Elemente, auf die auch Bauman verweist. Die Beobachtung im Spiegel weist eine Form der Selbstkontrolle auf, die unendlich und kontinuierlich sein muss.83 Fehler können und sollen korrigiert werden. Resümierend: Die Dinge, die tagtäglich ge- und benutzt werden, hinterlassen in der flüchtigen Moderne zum Großteil keine Spuren im Alltag, werden verbraucht und verschwinden als Abfall. Zwar gibt es besondere ausgewählte Dinge, an denen festgehalten wird oder die zur Distinktion genutzt werden.84 Uns schon begegnete Wegwerfprodukte wie der Coffee-to-go-Einwegbecher, aber auch löchrige Socken oder schnell veraltete und damit obsolet gewordene Mobiltelefone85 werden unbekümmert entsorgt: Aufbewahren und Wiederverwerten oder Reparieren sind nicht erwünscht, sind aufwändig und teuer. Mit dem Begriff der flüchtigen bzw. flüssigen Moderne und dem Bild des Strömens der Dinge wurde mit Zygmunt Bauman versucht, die Konsequenzen dieser Entwicklungen zu fassen. Zugleich versucht Bauman herauszufinden, warum eine immer größere Anzahl von Menschen in die Kategorie der ›Abfälligkeit‹ rutscht und welche Konsequenzen dies hat. Diese Fragen werden an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen.86

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Möhring 2005, 245. Vgl. Möhring 2005, 243. So bekommen etwa Markendinge eine symbolische Bedeutung, die weit über den Gebrauchswert hinausgeht. Von solchen Bedeutungen zeugt etwa die Textsammlung Das war die BRD. Fast vergessene Geschichten (Diez 2000). In literarischen Texten arbeitet besonders die Popliteratur mit Markennamen, vgl. hierzu Baßler 2005b. Dies wurde bereits an unterschiedlichen Stellen dieser Untersuchung mit dem Schlagwort der Obsoleszenz gefasst. Vgl. hierzu Slade 2006 und Reuß/Dannoritzer 2013 sowie die Ausführungen in Kapitel 2 dieser Arbeit. Vgl. Kapitel 3.4.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

3.3

Gegenbewegung: Sitzen statt (Er)Setzen

Der Kulturwissenschaftler und Philosoph Hajo Eickhoff hat sich als einer der wenigen, die sich überhaupt systematisch oder historisch mit den Dimensionen dieser Körperhaltung beschäftigt haben, in seiner höchst eigenwilligen Studie Himmelsthron und Schaukelstuhl (1993)87 umfassend dem Sitzen zugewandt. Eines seiner Ziele ist hierbei, das Sitzen (und auch das Stehen) nicht nur als »x-beliebige Leibeshaltungen, sondern als Träger bedeutsamer historischer, anthropologischer und sozialer Vorgänge«88 sichtbar zu machen. Dabei erkennt er in der Kulturgeschichte des Sitzens Entwicklungen, die für ihn vor allem eines sind: Fehlentwicklungen. Fehlentwicklungen, die, insbesondere durch das Sitzen auf Stühlen, Deformationen von Körper und Geist zur Folge haben. Manifestation und destruktiver Schluss dieser Entwicklung ist nach seiner Auffassung die Erfindung des elektrischen Stuhls.89 Der Mensch, der von der Ordnung abfällt, wird sitzend getötet. Diese Geste sei eine Kombination von Herrschaft und dem Erbe der Aufklärung: Nicht hingeworfen wie das abzuschlachtende Tier, sondern aufrecht in ziviler Haltung sitzend, an die Maschine des Stuhls gebunden und in deren Nervensystem integriert, erwartet der Verurteilte seinen Tod. In dem Bild wird die animalische Veranlagung des Verurteilten, die sich in der ungesetzlichen Tat äußert, negiert, und die Gemeinschaft verhindert das individuelle Absinken eines Menschen ins Tierhafte und macht exemplarisch den Verdacht zunichte, dem Menschen könnten Qualitäten des Animalischen zukommen. Der durch die unterstellte verbrecherische Tat von der Gemeinschaft Abgefallene kehrt sitzend in die Gemeinschaft zurück und wird getötet.90 Der elektrische Stuhl ist also eine Zwangsapparatur, in der der Mensch Mensch bleibt – sitzender Mensch.91 Generell ist das Sitzen, und hier gibt es die erste enge Verbindung zum Abfall, unweigerlich verknüpft mit Prozessen des Sesshaftwerdens und der Setzung, also dem Aufstellen von Normen. Beides sind Ausübungen von Macht und, das hat Kapitel 2 gezeigt, verbunden mit einer sich akkumulierenden Abfallmenge. Oder, ins Aktiv gesetzt:

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Vgl. Eickhoff 1993a. Für dieses Unterkapitel wurden auch weitere Texte von Hajo Eickhoff hinzugezogen, insbesondere sein Eintrag »Sitzen« im von Christoph Wulf herausgegeben Handbuch Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (vgl. Eickhoff 1997) sowie der von ihm herausgegebene Ausstellungband Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft vgl. Eickhoff 1993b. Eickhoff 1993a, 147. Vgl. Eickhoff 1993a, 181. Eickhoff 1993a, 181. Eickhoff schreibt hierzu: »Er [der Mensch, CHG] stirbt in einer Zwangsapparatur, in der er zugleich als Bild und Symbol überlebt: als Homo sedens.« (Eickhoff 1993a, 182) Wie es zu einer solchen Zwangsapparatur kommen konnte, ist einer der Ausgangspunkte von Eickhoffs Untersuchung. Abfall spielt in den Darstellungen Eickhoffs keine Rolle. Obgleich seinen kühnen und mitunter polemischen Thesen und Ausführungen nicht an allen Stellen gefolgt werden kann, liefert seine Studie auch hinsichtlich eines Nachdenkens über Abfall wichtige Impulse, die für die nachfolgenden Analysen literarischer Texte fruchtbar gemacht werden sollen.

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Einer Entwicklung hin zu Menschen, die immer mehr Abfall produzieren.92 Wie sind nun genau Sesshaftigkeit und Macht miteinander verbunden? Sesshaftigkeit kann als Herrschaft über Territorium – über Land, über das Haus – gelesen werden, als Akt des Besetzens und Begrenzens, damit verbunden ist stets auch ein Nutzbarmachen von Raum. Durch das Sitzen auf Stühlen werden bestimmte Eigenschaften des Menschen herausgebildet und gefestigt. Besonders die heutige Schule ist für Eickhoff Beispiel eines Ortes, in der Operationen der Macht wie Besetzen, Begrenzen und Wertkriterien wie Nützlichkeit einstudiert und gefestigt werden.93 Schülerinnen und Schüler werden zum Sitzen gezwungen, das Scheitern wird als Sitzenbleiben bezeichnet: »In der Schule arbeiten bei der Formung des zivilen Menschen, wie am Eßtisch, Stuhl und Tisch zusammen.«94 Die Leibeshaltung (Sitzen) und das Tun (Lesen und Schreiben) begrenzten beide die kindliche Vitalität und Beweglichkeit. Das Schreiben erfordere, wie Eickhoff ausführt, Körperbeherrschung und Disziplin. Man schreibt oder ritzt Buchstabe neben Buchstabe, setzt Zeile unter Zeile, schreitet auf der Unterlage linear voran: Man ist stillgesetzt und gebannt am Tisch, bewegt sich aber in anderen Medien weiter: im Medium des Schreibens und Lesens und im Medium der sich einstellenden Form des Denkens und der Einbildungskraft, unserer linearen Klugheit und technischen Phantasie. Dabei werden die Bewegungen spezialisiert und zunehmend fragmentiert.95 Wenn die dargestellten Thesen Eickhoffs zur Schule mit der konstatierten Abfallnähe von Kindern zusammengedacht werden, so ist das Einstudieren des Sitzens der Anfang vom Ende der Kindheit – und die Schulzeit der Beginn einer lebenslangen Entfernung des Menschen vom Abfall. Ist der moderne Mensch, so lässt sich einwenden, tatsächlich ein Sitzender in einer Welt der Mobilität, der Waren- und Informationsströme? Auch mit dieser Frage hat sich Eickhoff beschäftigt. Sein Schluss: auch wenn der Mensch zum – mittlerweile digitalen – Nomadendasein zurückgefunden hat, ist das neue Nomadentum ein qualitativ anderes. Wie bereits Zygmunt Bauman gezeigt hat, kann keinesfalls davon gesprochen werden, dass weniger Abfälle die Folge wären. Das Sitzen, da ist sich Hajo Eickhoff sicher, ist weiterhin die dominante Leibeshaltung. Die Mobilität der Reisenden und Benutzer moderner Kommunikationsmedien erhöht sich nämlich nicht dadurch, dass diese sich selbst bewegen, sondern indem sie anstelle des eigenen Leibes Prothesen benutzen, die die Ortsveränderungen bewältigen.

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Vgl. hierzu auch Storl 2004. Storl unterscheidet in seinen Überlegungen zu Kompost als traditioneller Form der Abfallverwertung zwar nicht grundsätzlich zwischen sesshaften und nicht-sesshaften Gesellschaften, sondern zwischen modernen, industriellen und traditionellen Gesellschaften. Letztere waren und sind jedoch oftmals eingebunden in die räumlichen und zeitlichen Bewegungen der Natur: »Alles was hergestellt, weggeworfen oder ausgeschieden wurde, war Teil des natürlichen Kreislaufs des organischen Auf- und Abbaus. Jäger-und-Sammlervölker bewegen sich generell im Einklang mit den Jahresrhythmen, den Vegetationszyklen […] und den Wanderbewegungen des Wilds durch die Landschaft.« (Storl 2004, 111) Dies zeigt auch Foucault am Beispiel der Schule als eine der Anstalten der Disziplin und Disziplinierung (vgl. Foucault 1998, besonders 173-250). Eickhoff 1997, 495. Eickhoff 1997, 495f.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

Sie bewegen sich sitzend durch die Welt. Die gegenwärtige Mobilität ist eine technische und liegt im geistigen, kommunikativen und reisenden Unterwegssein. Die Daseinsform in den modernen Gesellschaften ist ein »technisches Nomadentum«96 . Dem Reisenden, der die Medien mit sich trägt, werden die Orte identisch: So löst die erhöhte Mobilität infolge der Medien zwar die Seßhaftigkeit des modernen Menschen auf, aber das Sitzen, das höchste Maß an Seßhaftigkeit, bleibt erhalten. […] Nicht der seßhafte Mensch entwickelt sich in einem ursprünglichen Sinn wieder zum Nomaden, sondern es sind Stuhl und Sitzen, die nomadische Züge annehmen.97 Dabei ist der Stuhl nicht nur ein Sitzmöbel, sondern mehr noch: er gestaltet die Beziehungen zwischen den Menschen. Er gibt ihnen eine neue Haltung im Raum, während die Sitzhaltung die Räume zwischen den Sitzenden vergrößert und schematisiert. Stühle fügen in feste Rahmen, fixieren Abstände und verändern die Art der Begegnung: Zum einen bringen sie den menschlichen Leib in eine neue Form, beeinflussen das Körperempfinden und nivellieren in der fixierten Haltung das individuelle Empfinden des Körpers. Zum anderen bringen sie die Menschen in neue Positionen zueinander. Intimitäten von Personen und Personengruppen werden geordnet und machen den Stuhl zu einem Instrument, das die unterschiedlichen Formen des Handelns, Empfindens und Verhaltens gestaltet.98 So wie das neue Nomadentum nicht weniger Abfälle erzeugt und gerade nicht das Sitzen abschafft, so ist auch das Sitzen, wie es bisher beschrieben wurde, eben keine Gegenbewegung, kein Wahrnehmungsmodus, der Abfälle in das Blickfeld der Menschen bringt. Im Gegenteil: Teil des von Eickhoff beschriebenen Arrangements von Menschen und Dingen im Raum, die Fixierung des Menschen beinhaltet auch die Einhaltung eines räumlichen Abstands zwischen Menschen und Abfällen.99 Das bisher beschriebene Sitzen ist nicht Handlung, sondern Stillstand – Arretierung. Wer sitzt, handelt nicht. Sitzen mache zudem einsam, führe zur Vereinzelung. Eickhoff setzt den Anfangspunkt dieser Vereinzelung, die Bauman als eines der Hauptmerkmale der flüchtigen Moderne bezeichnet, an den Beginn des, privaten und bürgerlichen, Stuhlsitzens.100 Wie der Mensch sitzt, so das Fazit von Eickhoff, so richtet er die Welt zu: »Er überführt Natur in geistig geformte Welten mit synthetischen Materialien, geraden Kanten und präzisen Logiken. Das Sitzen auf Stühlen führt zu den Fertigkeiten des Ordnens und Überschauens wie Affektbeherrschung, Abstraktionsvermögen und Selbstkontrolle.«101 So sind es in vielen der bisher besprochenen Texte auch sitzende Menschen, die Operationen des Planens und Kontrollierens ausüben, die Abfälle zum Verschwinden bringen, sie be- und verarbeiten oder entfernen, etwa der im Keller sitzende Wegwerfer in Bölls Erzählung.

96 97 98 99 100 101

Eickhoff 1993a, 226. Eickhoff 1993a, 226f. Eickhoff 1993a, 168. Vgl. hierzu die Ausführungen in Engler 2004, 64-67. Vgl. Eickhoff 1993a, 163f. Eickhoff 1997, 496.

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Kann aber das Sitzen nicht auch eine Gegenbewegung sein? Es kann, wie Hajo Eickhoff in seinem Eintrag Sitzen im Handbuch Vom Menschen am Beispiel des Sitzens in der Lotusposition illustriert. Das Lotussitzen ist eine Form des konzentrierten Sitzens im Buddhismus, die im Idealfall frei ist von all den weltlichen, den konventionellen Setzungen, die auf Dinge und Menschen wirken. Ein Sitzen also, das eher eine Übung im Lassen darstellt: Diese asketische Weise des Meditierens hat besondere Formen des Lassens hervorgebracht: Genügsamkeit, Einfalt und Demut. Dem Lotussitzen liegt von Anbeginn an die Haltung einer fundamentalen Resignation zugrunde, eine Trauer um die gedachte Unerfüllbarkeit der Bedürfnisse in der äußeren, auf den Leib einwirkenden Welt.102 Dennoch ist es kein Sitzen frei von Zwang – die Askese erfordert als Übung Kontrolle und Disziplin. »Diese Haltung, die das Leiden an der Welt überwinden will«, so auch Eickhoff, »muß den Leib in eine asketische Bahn zwingen und die Sinnlichkeit formen und kontrollieren.«103 Bei der Askese geschieht diese Kontrolle, dieser Zwang freilich in freiwilliger Gabe. Wie lässt sich diese besondere, nichtalltägliche Form des Sitzens mit den Überlegungen zu Abfall verbinden? Florentina Hausknotz hat sich in ihrer Studie zur Stadt mit Foucault der Askese gewidmet als, wie sie vorschlägt, Suche nach neuen Formen des Wissens, als Fragen und Forschen: »[Die Asketin, CHG] entzieht ihr Selbst den bekannten Sicherheiten, macht sich auf in die Stadt – Raum –[sic!], beziehungsweise an einen Ort, der kaum beständig ist, immer wieder neu gegründet werden muss, um von dort ihre Stimme zu erheben, Aktionen zu setzen.«104 So soll im Folgenden der Blick gelenkt werden auf die beiden von Eickhoff erwähnten Aspekte des Lotussitzes, die neben der Resignation von Bedeutung sind: Die Genügsamkeit und das Lassen, also die Zufriedenheit mit dem, was vorhanden ist. Gesucht wird eine Leibes- und Geisteshaltung, die Aufmerksamkeit und Stillstand verbindet, um die dahinströmenden Dinge wahrzunehmen, ohne eine Arretierungsbewegung zu sein, die Abfälle und Abfälligkeiten zur Folge hat. Eine Bewegung zugleich, die sich löst vom Anthropozentrismus. Eine Bewegung, der es, um mit Hausknotz zu sprechen, gelingt, zu forschen, zu tasten, bei den Dingen zu sein. Eine solche Bewegung, das hat bereits das Märchen Momo gezeigt, kann eine Bewegung der Verlangsamung, der Zeitdehnung sein, eine Bewegung also, die Zeit vergessen oder stillstehen lässt und gerade dadurch Zeit nicht wegwirft, sondern ansammelt, indem die Zeit nicht gespart, sondern gelebt und vergeudet wird. Es wurden bereits die Möglichkeiten einer hegenden, einer kompensierenden Funktion von Literatur in einem Zeitalter der Beschleunigung in den Blick genommen. Die Truhen, die Schachteln und die anderen vergessenen, die entfernten Dinge auf dem Dachboden in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters mahnen als erzählte Bewahrungsorte, dass es Gewinn bringen kann, an Dingen festzuhalten. Auch neuere Texte versuchen solches Festhalten an den Dingen bzw. der Dinge mit dem Ziel, Zeit anders zu erleben, als es der Alltag fordert. Gerade die abfälligen, die vergessenen Dinge, so formuliert auch Wilhelm Genazino in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Die Belebung

102 Eickhoff 1997, 490. 103 Eickhoff 1997, 490. 104 Hausknotz 2011, 122.

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der toten Winkel, bergen das Potenzial, Zeit zu dehnen, zu stauen und dadurch auch geschenkt zu bekommen. Seiner Auffassung nach stauen nämlich Dinge Zeit, die auch wieder entstaut werden kann – ein poetischer Vorgang: Das Poetische entsteht, wenn Zeit […] künstlich gestaut wird, indem etwas, das die Sphäre des Nützlichen und Brauchbaren hinter sich gelassen hat, dennoch aufbewahrt wird und durch einen Betrachter wieder entstaut wird. Mit anderen Worten: Herrenlos gewordene Zeit wird an ihren zufälligen Entdecker abgegeben. Im Prinzip staut sich in allen Gegenständen, in kleinen und in großen, die Zeit, sofern mit den Gegenständen nichts geschieht, das heißt, wenn sie unbearbeitet längere Zeit herumstehen oder herumliegen und zu verrotten scheinen.105 Abfalldinge, also Dinge, die uns unbeachtet umgeben, aber noch nicht vollständig aus dem Bereich des Menschen verbannt wurden, den verschiedenen Bearbeitungs- und Löschungsvorgängen, die in Kapitel 2 beschrieben wurden, noch nicht übergeben wurden, können den Menschen Zeit schenken. Deshalb widmet Genazino sich diesen unbedeutenden Dingen und schenkt ihnen seine Aufmerksamkeit, sowohl in seinen essayistischen, in seinen poetologischen, aber vor allem auch in seinen literarischen Texten106 : Ich werde mich also mit nichtswürdigen, bedeutungsvollen Kleinteilen beschäftigen, das heißt mit alten Fotos (mit eigenen und fremden), mit Koffern und ähnlichen Behältnissen (also mit Taschen, Schachteln, Dosen, Etuis), dann mit Schubladen und Kleidung, ferner mit einer Großgruppe nicht rubrizierbarer Einzeldinge, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie im Alltagsgebrauch auftauchen und dort gewöhnlich auch untergehen und weggeworfen oder eben (und das ist der interessantere Fall) nicht weggeworfen werden; also, zum Beispiel mit Brillen, Rabattmarkenheften, Knöpfen, Orden, Schlüsseln, Münzen, Nadeln, Scheren – und so weiter.107 Warum die Betonung der abfälligen, der vergessenen Dinge? Gay Hawkins hat in einem kurzen Aufsatz zu einer Fotoserie des Künstlers Bill Keaggy eine Antwort geliefert. Keaggy hat in seiner Heimatstadt St. Louis im US-Staat Missouri verlassene, ausgestoßene Stühle am Straßenrand fotografiert und sie zu der Serie 50 Sad Chairs108 zusammengestellt.109 Gerade ihr verwahrloster, ihr desolater Zustand macht die verworfenen, die entsorgten Stühle zu bemerkenswerten Dingen. Der Konzeption Bill Browns folgend, auf die sich auch Hawkins bezieht, ist es gerade im Moment der Nutzlosigkeit von zuvor nützlichen Dingen, in denen die ›thingness‹, ihre Dingartigkeit bzw. Dinghaftigkeit 105 Genazino 2006, 9, Hervorhebung dort. 106 Zu den literarischen Texten Genazinos und deren Blick auf das Unbedeutende, das Abfällige vgl. auch die ausführlichen Interpretationen in Kapitel 3.5.1 dieser Arbeit. 107 Genazino 2006, 10, Hervorhebung dort. Genazino ist keineswegs der einzige Autor, der solche Überlegungen anstellt. Vgl. hierzu auch meine Analysen von Uwe Timms Rot in Kapitel 4.5. Zu den abfälligen Dingen, die er die gezeichneten Dinge nennt, schreibt Timm: »Die gezeichneten Dinge, so will ich sie einmal nennen, also jene, die mit den Menschen in Kontakt kamen oder aber von ihnen hergestellt wurden, haben ihre Geschichte, die umso viel-sagender ist, je mehr diese Dinge durch Gebrauch abgenutzt, absichtlich oder unabsichtlich ›verletzt‹ wurden.« (Timm 1993, 24f.) 108 Vgl. Keaggy 2007. 109 Vgl. Hawkins 2007.

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hervortritt.110 Sie sind nicht mehr Objekte, durch den Menschen bestimmte Artefakte, sondern weisen ein Eigenleben auf.111 Während wir in unserem Alltag genormt sind, diese verworfenen Dinge zu übersehen, können wir durch Verrückungen in unserer Wahrnehmung die Abfalldinge in den Blick nehmen. Eine Form dieser Verrückung ist die ästhetische Anschauung.112 Genazino hat im Rahmen seiner Poetikvorlesungen bereits das Potenzial von abfälligen, von entsorgten und vernachlässigten Dingen herausgearbeitet, Zeit zu stauen und in bestimmten Momenten den Menschen zu schenken. Auch eine andere Form der Verrückung kann von den Dingen ausgehen: die Störung, die bereits in den Ausführungen zu Stifter, zu Kafka und zur Fremdheit der Dinge angesprochen wurde. Beide Momente, das Potenzial von Zeitdehnungen und die Momente der Störung, sind für die nachfolgenden Interpretationen von Bedeutung.

3.4

Abfall, Abfälligkeit, die Fremden und die ›Überflüssigen‹

Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls bedeutsam für die nachfolgenden Interpretationen: Die Verwendung der Kategorie Abfall für Menschen oder auch Analogien zwischen Abfall und Menschen. Theodor M. Bardmann hat hierzu festgestellt, dass nicht »nur die Objekte der physikalischen Welt, sondern auch die der belebten Natur, die Tiere und Pflanzen, der Mensch selbst, sein Handeln und Erleben, sein Körper und schließlich seine Mitmenschen als mögliche Träger des Abfalletiketts in Betracht kommen.«113 Unter bestimmten Umständen werden Menschen von Menschen als Abfall bezeichnet und wie Abfall behandelt. Er beschreibt dies als einen Mechanismus der freiwilligen, meist aber unfreiwilligen Ausgrenzung bestimmter Personen oder Personengruppen aus dem sozialen Zusammenhang, wir sprechen von Prozessen der Marginalisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung. Diese Prozesse gehören zur alltäglichen Praxis sozialer Integration und Kontrolle, deren Produkte sogenannte Randgruppen und Außenseiter sind […]. Wir begreifen sie aufgrund ihrer relativen Ferne 110 111

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Vgl. Hawkins 2007, 55f. Bill Brown gebraucht in seinen grundlegenden Überlegungen zu einer Theorie der Dinge und der Dinglichkeit, die sich wiederum u.a. auf Heidegger beziehen, einen ganz ähnlichen Ausdruck wie Genazino – beide benutzen das Wort »tot«. So spricht Brown vom Potenzial toter Waren und ausrangierter Dinge, eben in diesem Zustand der Nutzlosigkeit unseren Blick genau auf die Dinge zu transformieren – vor dem Entsorgen bewahrt durch den Schutzraum Kunst. Er illustriert dies am Beispiel von Claes Oldenburgs Kunstwerk ›Typewriter Eraser‹: »While the ›timeless‹ objects in the Oldenburg canon (fans and sinks) have gone limp, this abandoned object attains a new stature precisely because it has no life outside the boundary of art – no life, that is, within our everyday lives. Released from the bond of being equipment, sustained outside the irreversibility of technological history, the object becomes something else. If, to the student of Oldenburg, the eraser ironically comments on the artist’s own obsession with typewriters, it more simply transforms a dead commodity into a living work and thus shows how inanimate objects organize the temporality of the animate world.« (Brown 2001, 15f.) Vgl. hierzu Kapitel 1.5 dieser Arbeit. Bardmann 1994, 194f. Zu den abfallrelevanten Überlegungen Bardmanns vgl. auch Fayet 2003, 3743.

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zur geltenden Normalität und herrschenden Durchschnittlichkeit als ›sozial desintegriert‹. Im schlimmsten Fall bedeutet ›Desintegration‹ brutale Vernichtung […].114 Der Umgang mit Abweichungen hat indes auch Erkenntniswert hinsichtlich der Geschlossenheit des Systems, das mit ihnen umgeht. Wie schon Mary Douglas gezeigt hat: je starrer, gefestigter und geschlossener ein System, desto rigider wird Abweichung ausgeschlossen und damit unmöglich gemacht – und Schmutz bzw. Abfälle produziert.115 Flexiblere Systeme hingegen erlauben Abweichung unter dem Vorsatz der Korrektur oder gestehen ihr eine kreative Komponente des Wandels von Werten oder Überzeugungen zu – die Menschen, wie Bardmann formuliert, die »die Ränder beleben, stehen somit einmal für Gefährliches, weil für das öffentliche System ›Unverdauliches‹, ein andermal für Kreatives, das öffentliche System Entwickelndes.«116 Markus Jansen zeigt anhand der Etymologie des Wortes Ungeziefer die Verbindungen zum mittelhochdeutschen ungezibere und, über den Wortstamm, dem althochdeutschen Wort zebar auf.117 Wie drei bzw. vier andere Worte – holocaustum, hostia, sacrificare bzw. sacrificium – ist zebar ein Wort für Opfer und ungezibere bezeichnet das, was nicht als Opfer taugt.118 So ist die Konstruktion des Ungeziefers, und hier folgt Jansen Agambens Überlegungen zum homo sacer, eng verbunden mit dem Bedürfnis nach dessen Auslöschung.119 Giorgio Agamben zeigt: Was nicht Opfer ist, was aber auch nicht lebenswert ist, also nacktes Leben, kann getötet werden.120 Wie sehr die Konstruktion von sogenannten Schädlingen mit Definitionsmacht, mit Vorstellungen von Reinheit, Ordnung, von Nutzen zusammenhängen, zeigt Sarah Jansen am Beispiel der Reblaus, der Phylloxera. Erst mit der Reblaus wurde aus dem schädlichen Insekt ein ›Schädling‹.121 Das Gegenüberstellen von nah und fern, von vertraut und fremd wirkte bei der Konstitution des ›Schädlings‹ mit – die Reblaus ist das Fremde, das aus dem fernen Amerika eingeschleppt wird und die deutschen Weinberge bedroht.122 Das Gefühl der Bedrohung von Vertrautem findet sich auch in den von Zygmunt Bauman skizzierten Umgangsformen mit Fremdem und Fremden. Wir erinnern uns: Bauman hat in seinen Ausführungen zur Entstehung unziviler Orte im Anschluss an Claude Lévi-Strauss zwei Umgangsformen mit Fremden und Fremdem nachgezeichnet und durch eine dritte ergänzt – die Integration bzw. der Ausschluss oder das Unsichtbarmachen von Fremdheit. Diese Mechanismen schreiben literarische Text mitunter fort. Sie können ihnen aber auch entgegensteuern, indem sie Ausschlussverfahren, Verschmähungen und Degradierungen sichtbar machen oder kommentieren. 114 115 116 117 118 119

Bardmann 1994, 201, Hervorhebungen dort. Vgl. Douglas 1988, besonders 207-223. Bardmann 1994, 204. Vgl. Jansen 2012, 45-47. Vgl. Jansen 2012, 46f. Sarah Jansen weist darauf hin, dass es kein Zufall ist, dass die jüdische Bevölkerung im Nationalsozialismus gerade durch Zyklon B getötet wurde (vgl. Jansen 2003, 375) – wenn auch die Gleichsetzung von Menschen mit Ungeziefer weiter zurück zu datieren ist als auf das 20. Jahrhundert (vgl. Jansen 2012, 47). 120 Vgl. Agamben 2002, 145-152 und Jansen 2012, 47 bzw. Jansens Ausführungen zu Agamben (Jansen 2012, 27-36). 121 Vgl. Jansen 2003, 14. 122 Vgl. Jansen 2003, 192.

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Den Opfern von Ausschlussverfahren wendet sich Heinrich Böll zu. Seine Erzählung Der Wegwerfer hat sich, wie bereits herausgearbeitet, Bewegungen des Verbindens und Trennens gewidmet und schließlich auch die Frage aufgeworfen, wie Menschen in Abfallnähe rücken können. Eckard Rademann hat in seiner Studie zum Werk Bölls123 in den Themen Wegwerfen und Abfälligkeit nicht nur zwei der wichtigsten Motive in Bölls Werk erkannt, sondern sie zudem als Strukturprinzip seines Schreibens aufgefasst. Rademann erinnert an die eindringliche Mahnung Bölls aus dessen Frankfurter Vorlesungen: »Die Humanität eines Landes läßt sich daran erkennen, was in seinem Abfall landet, was an Alltäglichem, noch Brauchbarem, was an Poesie weggeworfen, der Vernichtung für wert erachtet wird.«124 Bölls Humanismus als »Verbindung von sozialer und ökologischer Moralität«125 , die sich dem Wegwerfen wie auch der Einstufung von Menschen als ›Abfällige‹ entgegensetzt, sei so in dessen Texte eingeschrieben. Wie Menschen in die Kategorie des Abfalls rutschen können, zeigt Böll in seinem Roman Gruppenbild mit Dame (1971)126 J. Gregory Redding widmet sich in seinem Aufsatz zu Gruppenbild mit Dame dem Abfall und der Abfälligkeit von Menschen als Bölls ästhetischer Ressource.127 Besonders in der Protagonistin Leni Pfeiffer zeige und vollziehe sich eine Umwertung »solcher Traditionen und Konventionen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, die gesellschaftlich akzeptiert sind, durch Lenis Handeln aber in ihrer Irrationalität hervortreten oder als Scheinmoral sich erweisen.«128 Ihre Humanität zeigt sich ebenso in ihrer menschlichen Behandlung derjenigen, die von der Gesellschaft als ›Abfällige‹ eingestuft und stigmatisiert werden, etwa der Kriegsgefangene Boris Koltowski. Die Figur Leni wird als eine gezeichnet, die sich grundsätzlich gegen Profit- und Konsumgesellschaft richtet.129 Sie trägt, wie Momo, abgetragene Kleidung, ihre Wohnung ist mit Erbstücken ihrer Eltern ausgestattet, die in den Augen vieler Betrachter, das legt der Text nahe, als Gerümpel, als Plunder gelten müssen (»ein paar Jugendstilstücke, eine Kommode, ein Bücherschrank, zwei Stühle [waren] in Lenis Wohnung geraten, deren antiquarische Kostbarkeit den Gerichtsvollziehern bisher entgangen ist; sie wurden als ›Gerümpel‹ für pfändungsunwürdig bezeichnet.« (BöG, 19)) Lenis Griff in die Toilette, um den durch einen faulenden Apfel verstopften Abfluss wieder funktionsfähig zu machen (vgl. BöG, 91f.), zeugt von der Tatkräftigkeit dieser Fi-

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Vgl. Rademann 1998. Böll 2002, 179. Rademann 1998, 3. Vgl. Böll 2005a, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle BöG und Seitenzahl zitiert. Eine Diskussion des Textes in Bezug auf Abfall und ›Abfälligkeit‹ liefert ebenfalls Rademann, der zu diesem Roman schreibt, dass er »eine zentrale Stelle in der Abfallthematik ein[nimmt]. Es handelt sich bei diesem Roman um das Werk Bölls, was das Thema ›Abfall‹ vielleicht am ausführlichsten zur Geltung bringt.« (Rademann 1998, 179) Vgl. Redding 1994. So der Kommentar der Kölner Ausgabe, Böll 2005a, 435. Er zeichnet weiter Leni als Kunstfigur: »Die Kunst-Figur ›Leni‹ stellt nicht ein Segment des sozialen Lebens dar, sondern bildet eine Art Katalysator, mit dessen Hilfe sich Skalierungen und Relationen, Bezüge und Perspektiven innerhalb eines kleinen literarischen Universums organisieren lassen.« (Böll 2005a, 436) So stellt Jochen Vogt in seiner Interpretation von Gruppenbild mit Dame vor allem auch Lenis »Unkalkulierbarkeit, ihr mangelndes, ja fehlendes Planungsverhalten« heraus (vgl. Vogt 1987, 115).

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gur, die sich nicht an Konventionen oder Tabus hält.130 Es gibt jedoch auch eine direkte Verbindung zum Bereich der Abfallwirtschaft: Lenis Sohn Lev ist Müllwerker. In einer Episode kommt es zu einer happening-ähnlichen Blockade durch ein Müllfahrzug, um die Zwangsräumung der Wohnung von Leni und ihren Mitbewohnern zu verhindern (vgl. BöG, 369f.).131 Es muss, und hier lässt sich ein entscheidender Unterschied zu den Strategien der grauen Herren in Momo feststellen, Zeit gewonnen werden – und zwar durch eine Blockade. So schlägt die Figur Bogakov vor: »›Müllwagen‹, sagte er, ›sind doch ziemlich schwere Dinger, die sowieso für den Straßenverkehr nicht gerade bekömmlich sind. Überall verursachen sie doch Stauungen; wenn nun zwei Müllwagen oder besser drei Müllwagen hier auf der Straßenkreuzung zusammenstoßen, ist der ganze Stadtteil für mindestens fünf Stunden unpassierbar […]‹« (BöG, 371). Nach Beratungen kommt man zu dem Ergebnis, »daß der Zusammenprall von zwei Müllwagen genügen würde, um ein völlig unübersichtliches Chaos zu schaffen, in dem Jupps Auto etwa einen Kilometer von der Wohnung entfernt hoffnungslos steckenbleiben würde.« (BöG, 371) Diese Blockade kann als praktischer Akt der Stauung die Räumung tatsächlich verhindern. Mit der Darstellung von – zumindest, wie Böll nahelegt, mehrheitsgesellschaftlich so wahrgenommenen – ›Abfälligen‹ in Gruppenbild mit Dame wird die in der Erzählung Der Wegwerfer angelegte Kritik der modernen Konsum- und Leistungsgesellschaft weitergeführt.132 Die Kategorie der Abfälligkeit der Nachkriegszeit gründete sich darauf, so führt etwa Redding aus, was eine Person arbeitete, mit wem sie sich umgab und wie sehr sie sich mit den Werten der Leistungsgesellschaft identifizierte.133 Jochen Vogt unterstreicht die kritisch-utopischen Elemente von Gruppenbild mit Dame, indem er das Leben von Leni und ihrem Freundeskreis als »das Modell eines einfachen, sinn- und genußvollen Lebens« bezeichnet, das drei Komponenten umfasse: Zunächst die »umfassende, spontane, fast instinktive Verweigerung gegenüber den Zwängen und Zumutungen des Spätkapitalismus, […] gegen die moderne Konsum- und Überflußgesellschaft einerseits, die arbeitsteilige, durchrationalisierte, profitorientierte Leistungsgesellschaft andererseits.«134 Zweitens die »ebenfalls spontane, ohne politische oder theoretische Ableitung praktizierte Selbstbestimmung der individuellen Bedürfnisse und die Kultivierung der subjektiven Genußfähigkeit.«135 Vogt führt weiter aus: »Dabei werden körperlich-sensitiver, ästhetisch-intellektueller und erotischer Genuß nicht getrennt oder hierarchisiert, sondern in eine alltäglich-kulturelle Lebenspraxis überführt.«136 Zuletzt und drittens eine »auf diese individuellen Haltungen begründete Form der Gruppenbildung, die pluralistisch, egalitär und kooperativ strukturiert ist und uneigennützigen, 130 Vgl. zu dieser Passage auch Redding 1994, 354 und Rademann 1998, 187-192. 131 Vgl. zum Müllhappening auch die kurze Interpretation von Rademann (vgl. Rademann 1998, 195198). 132 Vgl. zu dieser Kritik auch Redding 1994, 361. 133 Vgl. Redding 1994, 358. 134 Vogt 2000, 243f. 135 Vogt 2000, 243f. 136 Vogt 2000, 244. Vogt nimmt mit den Böll-Forschern Christian Linder und Heinrich Herlyn an, Böll habe Herbert Marcuses theoretische Texte, vor allem Triebstruktur und Gesellschaft sowie Versuch über die Befreiung gekannt und als Anregung für die utopischen Elemente in Gruppenbild mit Dame genutzt (vgl. Vogt 2000, 244f.).

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stark gefühlsbezogenen Wertorientierungen folgt.«137 Dabei gelinge, so Vogt, besonders auch die »Integration sozial ausgegrenzter und unterprivilegierter Menschen […].«138 Wie sieht es heute, mehrere Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Gruppenbild mit Dame, mit dem Phänomen der ›Abfälligkeit‹, mit Ausgrenzungsverfahren in der deutschen Gesellschaft aus? Wie steht es mit den von Jochen Vogt herausgearbeiteten Utopien in Bezug auf die Integration von unterprivilegierten und sozial ausgegrenzten Menschen? Wenn man der Exklusionsforschung Glauben schenkt, dann ist es um diese Menschen schlecht bestellt. Während es immer noch die Kategorie der ›Abfälligen‹ gibt, also derer, die ganz draußen sind, sind neue Kategorien von Teilexklusion und Teilinklusion hinzugekommen, zugleich wird verstärkt eine neue Kategorie diskutiert: die ›Überflüssigen‹.139 Ab Ende der 1990er Jahre wurde im Kontext der soziologischen Exklusionsforschung vor allem in der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Mittelweg 36, über die Neuentdeckung bzw. die Etablierung des Begriffs der ›Überflüssigen‹ diskutiert. Eine Debatte, die in dem von Heinz Bude und Andreas Willisch herausgegebenen Sammelband Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«140 dokumentiert ist.141 Auch der in diesem Kapitel bereits umfassend rezipierte Zygmunt Bauman hat sich mit der vermehrten ›Produktion‹ von ›Abfälligen‹ und ›Überflüssigen‹ befasst. Seine These: Vor allem der von ihm skizzierte Wandel von der Produzenten- zur Konsumentengesellschaft hat ein Mehr an Abfällen zur Folge. Der neue Umgang mit den Dingen findet seinen Widerhall in der steigenden Anzahl von ›überflüssigen‹ Menschen.142 In Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne schildert er eine Konsequenz der Prozesse, die er in Flüchtige Moderne grundlegend skizziert hat: die Zunahme von Menschen, die in die Abfallkategorie fallen oder ihr näherkommen. Zygmunt Bauman verbindet somit die Verflüchtigungstendenzen nicht nur mit der Entstehung von mehr Abfällen, sondern auch damit, dass immer mehr Menschen zu ›Überflüssigen‹ werden. Die Kategorie der ›Überflüssigen‹ ist nicht von ökonomischen Fragen zu trennen, wie Bauman herausstellt. Um diese These zu illustrieren, verwendet Bauman den Umgang mit dinglichen Abfällen als Analogie für den Umgang mit Menschen, ähnlich wie Böll dies

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Vogt 2000, 244. Vogt 2000, 244. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Robert Castel (Castel 2008 und 2009). Analog zur Schreibweise in der Exklusionsforschung ist der Begriff, wie schon zuvor ›Abfällige‹, in einfache Anführungszeichen gesetzt, um eine Distanz zu markieren. 140 Vgl. Bude/Willisch 2008a. 141 Für die Aktualität der Debatte stehen weitere Publikationen, die ab dem Jahr 2000 erschienen sind und die sich allesamt mit den Themen Ausgrenzung und Überflüssigkeit, Prekarität und Segregation beschäftigen. Vgl. hierzu, um nur zwei Beispiele aufzuführen, die Sammelbände von Bude 2006a und Castel/Bescherer 2009. Dass die Debatte auch über die soziologischen Kreise hinaus strahlt, demonstriert beispielsweise der von der Berliner Volksbühne herausgegebene Band Die Überflüssigen (vgl. Volksbühne 2006). 142 Bauman hat sich im Rahmen seiner Beschäftigung mit Ausgrenzungsprozessen zunächst auf die Fremden konzentriert (vgl. Schroer 2007, 429-432). Nachdem sich Bauman vom Konzept der Postmoderne ab- und der flüchtigen Moderne zuwendet, hat sich sein Fokus, so zeigt Markus Schroer, auf die ›Überflüssigen‹ verschoben (vgl. Schroer 2007, 440-444).

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in Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit Leni getan hat. Dabei ist die Kategorie der Überflüssigen eng mit dem ökonomischen kapitalistischen System verknüpft: »Überflüssig« zu sein bedeutet, überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden – wie auch immer der Nutz- und Gebrauchswert beschaffen sein mag, der den Standard für Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit liefert. Die anderen brauchen dich nicht; sie kommen ohne dich genausogut zurecht, ja sogar besser. Es gibt keinen einleuchtenden Grund für deine Anwesenheit und keine naheliegende Rechtfertigung für deinen Anspruch, hierbleiben zu dürfen. Für überflüssig erklärt zu werden bedeutet, weggeworfen zu werden, weil man ein Wegwerfartikel ist – wie eine leere Einwegplastikflasche oder wie eine Einmalspritze, eine unattraktive Ware, für die sich keine Käufer finden, oder ein fehlerhaftes oder beschädigtes, nutzloses Produkt, das die Qualitätsprüfer vom Fließband pflücken. »Überflüssigkeit« bewegt sich im gleichen semantischen Umfeld wie »Ausschußware«, »fehlerhaftes Exemplar«, »Müll« – wie Abfall.143 Gerade die Nennung von Wegwerfartikeln evoziert eine Verbindung zu Heinrich Bölls Erzählung Der Wegwerfer, deren Protagonist fließbandartige, kontinuierliche Wegwerfbewegungen ausführt und letztendlich selbst zum ›Abfälligen‹ wird. Anhand des englischen Präfixes ›un-‹ bzw. in der deutschen Übersetzung des Suffixes ›-losigkeit‹ zeigt Bauman, wie grundlegend verschieden die Implikationen sind, die die Kategorie der ›Überflüssigen‹ bzw. Überflüssigkeit – im englischen Original ›redundancy‹ – hervorruft: »Während die ›-losigkeit‹ in ›Arbeitslosigkeit‹ noch eine Abweichung von der Norm signalisierte, hat der Begriff ›Überflüssigkeit‹ keinen solchen Beiklang mehr.«144 Der Zustand ist kein temporärer mehr, sondern wird zur Normalität: »›Überflüssigkeit‹ klingt nach einem gewöhnlichen Dauerzustand; es benennt einen Zustand, ohne ein schlüssiges Antonym zu bieten, umschreibt einen neuartigen, aktuellen Normalzustand – bedrohliche Zustände, die wohl von Dauer sein werden.«145 Überflüssigkeit scheint, zusammengedacht mit Baumans flüchtiger Moderne, also einer der wenigen stabilen, dauerhaften Zustände im Zeitalter der Flüchtigkeit zu sein. Doch noch einmal: Was ist genau gemeint mit der Kategorie der ›Überflüssigen‹?146

143 Bauman 2005b, 20f., Hervorhebung dort. 144 Bauman 2005b, 20. Im englischsprachigen Original (vgl. Bauman 2004) lautet die Formulierung Baumans folgendermaßen: »Where the prefix ›un‹ in ›unemployment‹ used to suggest a departure from the norm – as in ›unhealthy‹ or ›unwell‹ – there is no such suggestion in the notion of ›redundancy‹. No inkling of abnormality, anomaly, spell of ill-health or a momentary slip. ›Redundancy‹ whispers permanence and hints at the ordinariness of the condition.« (Bauman 2004, 11f.) 145 Bauman 2005b, 20. 146 Bude/Willisch 2008b betonen, dass es sich hierbei um keine normative Kategorie, sondern um eine »problematisierende Kategorie« (Bude/Willisch 2008b, 10f.) handelt. Markus Schroer relativiert diese starre Einteilung. Ihm ist es wichtig, die Zonen von Teilexklusion und Teilinklusion zu markieren – Menschen, die sich auf der Kippe befinden (vgl. Schroer 2008a, 187). Schroer schreibt: »Während in den ersten beiden Kategorien eindeutige Exklusionsphänomene erfaßt sind, ist an der letzten Gruppe auffällig, daß mit ihr – anders als Castel meint – ein Zwischenbereich zwischen Inklusion und Exklusion benannt ist: eingeschlossen und doch ausgeschlossen, drinnen und doch draußen, zugelassen und doch abgewiesen. Diese Form einer nur halbherzigen, defizitären Zulassung, einer nur teilweisen Inklusion, ist es womöglich, mit der wir es gegenwärtig verstärkt zu tun bekommen. Sie gilt vor allem auch für prekär Beschäftigte, deren Gelegenheitsjobs sie zwar kaum

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Abfallverbindungen

Heinz Bude und Andreas Willisch nennen Beispiele für diese »Residualkategorie«147 . So fallen ältere Dauerarbeitslose148 genauso darunter wie »ausbildungsmüde[…]«149 Jugendliche an Hauptschulen, die keinen Ausweg über Bildung sehen, sowie, vor allem in Ostdeutschland, Menschen mit unregelmäßiger Arbeitsbiographie, denen Altersarmut droht. Eine weitere Gruppe machen die sogenannten »prekären Individualisten«150 aus, die »durch rigide Aktivierungsmaßnahmen aus den Nischen ihres alimentierten Überlebens vertrieben«151 worden sind. Hinzu kommen die »nicht-registrierten Arbeitskräfte«152 der Arbeitsmigration, etwa Erntehelferinnen oder Haushaltshilfen. Gruppen also, die zum Teil auch schon in die zuvor diskutierte, an Bölls Texten beispielhaft untersuchte Kategorie der ›Abfälligen‹ bzw. der ›Abfälligkeit‹ passen würden – Menschen, die sich der Leistungsgesellschaft verweigern oder Arbeiten übernehmen, die wenig Prestige haben. Markus Schroer sieht, im Anschluss an Bauman, als eine der Folgen der Wahrnehmung von Menschen als ›Überflüssige‹ eine Privatisierung und Personalisierung sozialer Probleme. Das resultiere darin, dass »nicht mehr länger Armut, Arbeitslosigkeit, Flucht, Krankheit und Obdachlosigkeit als Problem angesehen werden, sondern die Armen, die Arbeitslosen, die Flüchtlinge, die Kranken und die Obdachlosen.«153 Ehemals als vorübergehend behandelte Situationen der Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Obdachlosigkeit verwandelten sich so »mehr und mehr in einen dauerhaften Zustand«154 . Dies führe, neben anderen Folgen, zur Vereinzelung und Entpolitisierung des Menschen, da der Status der Überflüssigkeit ihn davon abhalte, »kollektive Gründe für seine Misere verantwortlich zu machen und kollektive Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu ergreifen«.155 Dies verhindert beispielsweise die Bildung spontaner solidarischer Gemeinschaften und politische Aktionen. Solidarität, wie sie in Bölls Gruppenbild mit Dame am Beispiel des Müllhappenings von Leni und ihren Freunden demonstriert wurde. Zudem findet sich hier erneut ein Anklang an die von Bauman konstatierten Verflüchtigungstendenzen, die Zunahme von Unsicherheiten, das Fragen nach der Richtigkeit des Handelns und der Entscheidungen. Auf das Moment des sich-auf-der-KippeBefindens weisen auch Bude und Willisch eindringlich hin, wenn sie die labilen Grenzen zwischen »den Integrierten, den Anfälligen und den Entkoppelten«156 herausstellen.

über Wasser zu halten vermögen, immerhin aber mit einem Minimum an Einkommen versorgen, die [sic!] ein vollständiges Herausfallen verhindert.« (Schroer 2008a, 187) 147 Bude/Willisch 2008b, 26. Auch bei der Wahl dieses Begriffs ist der Bezug zu Abfall offensichtlich. 148 Vgl. Bude/Willisch 2008b, 28. 149 Bude/Willisch 2008b, 27. 150 Bude/Willisch 2008b, 28. 151 Bude/Willisch 2008b, 28. Zu dieser Gruppe heißt es: »Diese prekären Individualisten hatten sich mit einem Einkommensmix aus staatlichen Transfers, kleinen Zinseinkünften aus geerbten Rücklagen und periodischem Zuverdienst eingerichtet, um auf kleiner Flamme bestimmte Selbstverwirklichungsprojekte zu verfolgen.« (Bude/Willisch 2008b, 28) 152 Bude/Willisch 2008b, 29. 153 Schroer 2007, 439. 154 Schroer 2007, 440. 155 Schroer 2007, 443f. 156 Bude/Willisch 2008b, 12.

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Wie geht die Gesellschaft mit den ›Abfälligen‹, wie geht sie mit den ›Überflüssigen‹ um? Robert Castel hat in der soziologischen Debatte um Inklusion und Exklusion eine Systematisierung der Verfahren vorgeschlagen, mit denen Menschen anderen Menschen begegnen.157 Markus Schroer hat diese Systematisierung kommentierend ergänzt.158 Eine Kategorie ist demnach die Totalexklusion, also die vollständige Ausgrenzung.159 Dies kann Vertreibung oder Vernichtung sein. Totalexklusion geht meist mit einer Unsichtbarmachung einher. Zugleich wird Menschen ihr Status als Mensch genommen, sie sind, wie im Lager, zurückgeworfen auf den Körper.160 Die zweite Kategorie ist der Aufbau geschlossener, abgetrennter Räume. Wir haben weiter oben die gated community kennengelernt. Weitere Beispiele sind Ghettos, Asyle, Gefängnisse, aber auch gentrifizierte Orte, die Kennzeichen der Selbstexklusion der Inkludierten aufweisen.161 Das dritte Verfahren ist die Schaffung von Bevölkerungsgruppen, die »bestimmter Rechte und der Beteiligung an bestimmten sozialen Aktivitäten beraubt«162 seien. Auch hier handelt es sich um Prozesse der Teilinklusion und Teilexklusion.163 Personengruppen mit wenig Aussicht auf ökonomische Inklusion wie Langzeitarbeitslose oder Obdachlose haben wenig Aussicht auf gesellschaftliche Teilhabe. ›Überflüssige‹ und Abfall – auch hier scheint es Überschneidungen im Umgang zu geben. Es wird, so Bude und Willisch, im Umgang mit ›Überflüssigen‹ von der Politik, von Behörden, nach Lösungen gesucht. Transformationen zu neuer Wertigkeit, also das, was in der Abfallwirtschaft als Recycling bezeichnet wird, scheinen eine Lösung zu sein. Wertigkeit wird oft im Zusammenhang mit zielgerichteter, effizienter Aus-, Weiter- und Fortbildung gedacht. Bude und Willisch erkennen in ihm aber auch ein Phantasma, eine »Bildungsphantasie«, die »vor entsprechenden Sanktionen nicht zurückschreckt«164 . Als Stichworte nennen sie die Kindergartenpflicht für Kinder aus bildungsarmen Elternhäusern, Ausbildungszwang für Jugendliche, im Bereich der Gesundheit Unterweisung für Personen mit Diabetes-Indikation.165 Diese Beispiele, so lässt sich ergänzen, führen direkt zu den von Zygmunt Bauman angestellten Überlegungen zur flüchtigen Moderne zurück – und zur Kontrollgesellschaft, die Deleuze beschreibt.166 In aller Konsequenz, also falls eine Integration nicht möglich ist, scheint die Nähe zur Kategorie der Abfälligkeit mit den oben dargestellten Ausgrenzungsverfahren zu greifen, wie Bude und Willisch betonen: »Am Ende des Resozialisierungswahns freilich stehen Entsorgungsphantasien. Man will die Leute loswerden, die nichts als Probleme für den sozialen Zusammenhalt schaffen.«167

157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167

Vgl. Castel 2008. Vgl. Schroer 2008a, 186-191. Vgl. Schroer 2008a, 186. Vgl. Agamben 2002, besonders 145-152. Vgl. Schroer 2008a, 188. Schroer 2008a, 186f. Vgl. Schroer 2008a, 186f. Bude/Willisch 2008b, 19. Vgl. Bude/Willisch 2008b, 19. Vgl. Deleuze 1993, 254-262. Bude/Willisch 2008b, 19.

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Abfallverbindungen

Eine letzte direkte Verbindung der Kategorie der ›Überflüssigen‹ zum Abfall gibt es – und auch hier scheint es fast wie eine Fortschreibung dessen zu sein, was Bölls Text uns mit der Geschichte von Lenis Sohn Lev vor Augen geführt hat, der als Müllarbeiter weit unten in der Hierarchie der Berufe arbeitet. Waren es bei Böll die ›Abfälligen‹, sind es heute gerade auch die ›Überflüssigen‹, die sich im ökonomischen Sinn auf der Kippe Befindenden, die an den Orten des Strömens und des Konsums für die Abfallentsorgung sorgen – als »neues Proletariat der einfachen Dienstleistung«168 in den Bereichen Sicherheit, Sauberkeit und Service. Dabei kommt es mitunter zu Exklusionshandlungen derjenigen, die selbst von solchen Maßnahmen betroffen sind bzw. jederzeit betroffen sein könnten.169

3.5

Geschichten über und gegen das Verschwinden

Obgleich zwischen dem Erscheinen von Michael Endes Momo und Zygmunt Baumans Flüchtige Moderne ein Zeitraum von 30 Jahren liegt, ist der Grundtenor beider Werke ähnlich: Beide erzählen über einen neuen Umgang mit Zeit, über die Entstehung neuer Orte und einem veränderten Verhältnis der Menschen zueinander, aber auch der Menschen zu den Dingen. Sie erzählen zugleich, um auf die Verluste dieser Entwicklungen aufmerksam zu machen. Das macht diese Texte auch zu Erzählungen über Abfall: Beschleunigungen, das legen Momo und Baumans Diagnosen nahe, resultieren in einer neuen Quantität von Abfällen. Das Unterkapitel Auf der Kippe widmet sich Wegwerfen, Abfall und Abfälligkeit in Texten Wilhelm Genazinos, besonders der Roman-Trilogie Abschaffel sowie dem Roman Die Liebesblödigkeit. An einem der zentralen Orte der Moderne, dem Bahnhof, folgen wir in Siegfried Lenzʼ Fundbüro gestrandeten Dingen und gestrandeten Menschen. Die abschließende Analyse von Inka Pareis Die Schattenboxerin folgt der traumatisierten Protagonistin in ein Abbruchhaus im Berlin nach der Wende. Das Verlassene und Verworfene in diesem Roman, so ist zu zeigen, bleibt Abfall und korrespondiert in seiner Abfälligkeit mit dem Zustand der Protagonistin. En passant formuliert gerade Die Schattenboxerin eine Kritik an einer Bewegung des heute bevorzugten Umgangs mit Abfällen, der Löschung. Literarische Texte, das zeigen die nachfolgenden Analysen, fungieren als Entschleuniger: Sie können sich den Luxus erlauben, bei den Dingen und den Menschen zu ver-

168 Bude/Willisch 2008b, 23. 169 Vgl. hierzu Bude/Willisch 2008b: »Auf den für den Erlebniskonsum zurechtgemachten innerstädtischen Bahnhöfen beispielsweise lässt sich beobachten, wie Menschen, die selber von Überflüssigkeit bedroht sind, andere, die nur schon etwas tiefer gefallen sind, mit harter Rücksichtslosigkeit aus den Räumen halten, in denen es sich Besserverdienende gut gehen lassen.« (Bude/Willisch 2008b, 23) Vgl. hierzu ebenfalls Eick 2006, der die Zunahme kommerzieller Sicherheitsagenturen diskutiert, in den Innenstädten oder auch am Beispiel Bahnhöfe (vgl. Eick 2006, 190-192). Zum Wandel der Bahnhöfe hin zum Erlebniskonsum vgl. Wucherpfennig 2006, zum 3-S-System Sicherheit, Sauberkeit und Service insbesondere 174-176. Zum 3-S-System der Bahn vgl. auch Ronneberger u.a. 1999, 144-148. Zum Bahnhof vgl. auch die Analyse von Siegfried Lenzʼ Fundbüro in Kapitel 3.5.2 dieser Arbeit.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

weilen und – wie im Fall des Müll-Happenings in Bölls Gruppenbild mit Dame – von Blockaden der Vorwärtsbewegungen zu erzählen.

3.5.1

Auf der Kippe: Wegwerfen, Abfall und Abfälligkeit in Texten Wilhelm Genazinos

Mit den beschriebenen Phänomenen der flüchtigen Moderne, mit Beschleunigungsbewegungen und einem veränderten Verhältnis sowohl der Menschen zu den Dingen als auch der Menschen zueinander sehen sich die Protagonisten der Texte Wilhelm Genazinos konfrontiert. Oftmals zählen diese Protagonisten, so wird zu zeigen sein, zu den Verlierern dieser Verflüchtigungsentwicklungen. Als ›Abfällige‹ oder ›Überflüssige‹ der Gesellschaft bzw. als mit Entwicklungen Kämpfende, die sie zu solchen werden lassen könnten, kommen Genazinos Figuren auffällig oft mit Abfall in Berührung: Sie werfen weg, betrachten Abfälle, sprechen über Abfälle, begegnen Abfällen mit Ekel und Abwehr, vergleichen sich aber auch mitunter mit Abfall.170 Dass die zentrale Stellung von Abfällen im Werk Genazinos kein Zufall ist, zeigen neben Genazinos Frankfurter Poetikvorlesungen zu den vergessenen, abfallnahen Dingen auch zwei weitere Bände. Beide kombinieren Text und Bild: Im Fall von Aus der Ferne. Texte und Postkarten (1993) handelt es sich um alte Postkarten, der Band Auf der Kippe (2000) benutzt als Ausgangsmaterial alte Fotos.171 Vor allem der Band Auf der Kippe soll genauer in den Blick genommen werden. In der Tat ist die Idee des Auf-der-KippeSeins eines der verbindenden Elemente in allen Texten Genazinos. Es lässt sich in seinen Materialbänden lesen als: auf der Kippe zur Müllkippe sein, sich im aus der Sorge genommenen Zustand befinden, ohne Wert sein – ohne ökonomischen Wert, aber auch ohne Erinnerungswert oder andere immaterielle Werte. Der Band Auf der Kippe versammelt Fotos, die »der Autor«, wie es im »Abbildungsnachweis«172 heißt, auf »Flohmärkten, bei Trödlern und in Mischantiquariaten« gefunden hat. Ziel dieses Bandes war, die Gefahr des Vergessens aufzuzeigen und zu verhindern. Genazino, bzw. die namenlose Autoreninstanz, schreibt im Nachwort zum Entstehungsprozess dieses Albums: Sie sind Übrigbleibsel von Umzügen, Wohnungsauflösungen und Todesfällen. Ihr Absinken in die Anonymität macht aus den Fotos Abfallbilder, für die es weder eine Nachfrage noch eine ästhetische Wertschätzung zu geben scheint. Erst die Einzelbetrach-

170 Die Genazino-Forschung hat sich bisher der zentralen Bedeutung des Abfalls und des Wegwerfens in dessen Werk noch nicht systematisch gewidmet. So gibt es zwar Aufsätze zu Ekel (vgl. Hanuschek 2011) und Scham (vgl. Hirsch 2006, 191-216) in ausgewählten Texten, zu den geringen und banalen Dingen in Genazinos Werk (exemplarisch vgl. Fischer 2006) sowie zur Kontinuität von, wenn nicht abfälligen, dann doch abfallnahen Berufen wie der Staubforscherin (vgl. Fansa 2008, 48-61). Diese Leerstelle der Forschung scheint sich zu füllen: Einzelne Arbeiten nehmen beispielsweise das Verworfene in Bezug auf das Album Auf der Kippe (vgl. Ecker 2001) oder Müllkunst im Werk Genazinos in den Blick (vgl. Klinge 2011). 171 Beide Bände erschienen 2012 in einer einbändigen Ausgabe, aus der im Folgenden zitiert wird (vgl. Genazino 2012). 172 Genazino 2012, ohne Paginierung.

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tung beendet das Schicksal der Vergessenheit und gibt den Bildern die Dignität von Dokumenten zurück.173 Während die Stichworte ›Übrigbleibsel‹ und ›Abfallbilder‹ auf das Weggeworfene, auf das Verworfene, auf den Rest verweisen, stellt sich hinsichtlich der beschriebenen Operationen einer Umkehrung des Vergessens und der Rückgabe von Dignität die Frage: Handelt es sich hierbei um einen Recyclingvorgang? Wenn wir mit Susanne Hauser davon ausgehen, dass Recycling meint, ein Objekt verliert »nicht nur seinen angestammten Kontext, sondern auch seine Funktionalität, seine Bedeutung und seine Geschichte als Objekt«174 , wird »form- und zeitlose Materie«175 , dann handelt es sich bei Genazinos Verfahren nicht um einen Transformationsprozess im Sinne eines Recyclingvorgangs. Diese von Genazino vorgenommene Einzelbetrachtung in Form einer erfundenen Bildbeschreibung wird nämlich zu einer Spurensuche nach den verschütteten Zeiten und der Geschichte bzw. den Geschichten der Dinge. Dennoch kann mit Fayet von einem Kompostierungsvorgang gesprochen werden.176 Die Bilder werden aus der Kategorie des unbeachteten Wertlosen und, viel mehr noch, des abfallnahen Unwerten einer neuen Wertigkeit zugeführt. Während zwar eine Löschung der Vergangenheit stattfindet, kann zugleich eine Kompensationsbewegung konstatiert werden: Die gelöschte Vergangenheit wird imaginiert, nicht gefunden oder erinnert, sondern quasi zeitgleich mit dem Blick zurück überhaupt erst erfunden. Durch diesen Transformationsakt, durch das ungewöhnliche, neue Anblicken wird aus dem »Abfallalbum«177 ein Schatzalbum, ein Museum und eine Sammlung. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um, wie Auf der Kippe nahelegt, reale oder imaginierte Geschichten handelt. Wie sieht dieses Erzählen aus? Dinge werden in Auf der Kippe – ähnlich auch den Verfahren in Plunder sowie vergleichbar mit einem fotografischen Auslöser178 – zum Anlass genommen, um Geschichten zu erzählen. Wir sehen beispielsweise ein Kind auf einem Esel, der angebunden an einem Zaun ausharrt.179 Der Gesichtsausdruck des Kindes ist abwartend, skeptisch. Der begleitende Text greift diese Skepsis auf und nimmt sie zum Ausgangspunkt einer Reflexion über Kindheit, Überrumpelung, Erinnerung.180 Ein anderes Kind hält einen Ball und blickt unentschlossen in die Kamera.181 Dem Ball sind wir schon mehrfach begegnet: Als verbindendes, als Sozialität stiftendes Quasi-Objekt in der Konzeption von Michel Serres, 173 174 175 176 177

Genazino 2012, ohne Paginierung. Hauser 2010, 45. Hauser 2010, 45. Vgl. Fayet 2003, 157-175. So der Titel einer von Hermann Wallmann verfassten und im Band zu Genazino der Reihe text+kritik enthaltenen Rezension zu Auf der Kippe, zuerst veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16.1.2000 (vgl. Jakob 2004, 104). 178 Zur Sehphilosophie Genazinos, hier bezogen auf den Essay Der Gedehnte Blick (vgl. Genazino 2004, 39-61) vgl. Hermann 2008. Vgl. auch die Gedanken zu Auf der Kippe, die Gisela Ecker im Zusammenhang ihrer Darstellung von literarischen Sammel- und Wegwerfbeschreibungen äußert: »Es ist weniger der jeweilige Inhalt der produzierten Lektüren, die aus den Abfallbildern wieder Bilder von Wert machen, sondern die Tatsache eines erneuten Blicks auf sie […].« (Ecker 2001, 179) 179 Vgl. Genazino 2012, 79. 180 Vgl. Genazino 2012, 78. 181 Vgl. Genazino 2012, 96f.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

als Menschen, aber auch Orte und Zeiten verbindender Baseball in Don DeLillos Underworld. Auch an die Abfallaffinität von Kindern wird erinnert.182 Der dazugehörende Text imaginiert die Geschichte, dass das Kind kurz vor der Aufnahme des Fotos geweint hat und der Ball als Trostgegenstand fungiert.183 So schafft der Ball auch in Auf der Kippe mehrere Verbindungen: Er verbindet die Betrachtenden mit den abgebildeten Kindern, die Gegenwart mit der Vergangenheit, die hier eine ding- und abfallnahe Kindheit meint. Ein weiteres Bild: Auf einem menschenleeren Foto ein schneebedeckter Hang, im oberen Bildausschnitt ein brennendes Haus oder eine Scheune, wovon nur noch Reste wie der bloßgelegte, an ein Walskelett erinnernde Dachgiebel zu erkennen sind.184 Sowohl das Haus als auch das Feuer deuten auf Menschen hin, deren Abwesenheit unheimlich wirkt. Das abgebrannte Haus erzählt vom Ende der Dinge, die durch Zerstörung gelöschte Geschichte, die auch das Schicksal der Dinge in der Müllverbrennung ist. Irritierend hierbei: Wer fotografiert, könnten sich die Betrachtenden fragen, und warum löscht der- oder diejenige, die das brennende Gebäude fotografiert hat, nicht das Feuer oder eilt fort, um Hilfe zu holen, um die Dinge zu retten? Die versäumte Rettung der Dinge wird durch eine nachträgliche Rettung des Bildes zwar nicht rückgängig gemacht, jedoch gemindert. Der begleitende Text widmet sich nicht wirklich dem Haus oder den Dingen, sondern dem aufsteigenden Rauch, der ebenfalls auf dem Bild präsent ist. Der Text stellt neue, andere Verbindungen her als das Bild. Ausgehend von der Feststellung, dass Wind den Rauch in eine Richtung treibt, reflektiert der Text die Fähigkeit – oder den Zwang? – des Betrachtenden, das Bild im Prozess des Anblickens immer wieder zu verwandeln. So heißt es: »Wenn wir es [das Bild, CHG] eine Weile anschauen, sehen wir in dem dunklen Rauchkegel rechts plötzlich nicht mehr nur ein brennendes Lagerhaus; sondern die Spitze einer davonstampfenden Lokomotive, mit vielen Waggons dahinter […].«185 Die Möglichkeit zur Verwandlung, dieses Erkennen oder auch nur Konstruieren von neuen Verbindungen, von neuen Bedeutungen ist zugleich charakteristisch für die Verwandlungsmöglichkeiten, die in Genazinos Texte eingeschrieben sind: Verwandlungsprozesse, die jedoch keine Aufwertungsprozesse sind, sondern ein Aus- und Aufhalten – auch um diese soll es in den nachfolgenden Lektüren gehen. Noch mindestens eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Texten Genazinos und den Bildern in Auf der Kippe gibt es: Die Gewöhnlichkeit der Dinge wie Bälle, Koffer186 oder Regenschirme187 , aber auch der namenlosen, der vergessenen Menschen auf diesen Bildern korrespondiert mit Genazinos Erzählfokus, der oftmals die Mittelmäßigkeit, das Randständige, das Verlorene und das Vergessene in den Blick nimmt. Friedhelm Marx stellt bezüglich des Erzählens Genazinos fest, dass es sich hierbei eben nicht um »Erlebnisauftrumpf-

182 183 184 185 186 187

Vgl. hierzu Kapitel 1.3.3 dieser Arbeit. Vgl. Genazino 2012, 96. Vgl. Genazino 2012, 93. Genazino 2012, 92. Vgl. Genazino 2012, 83. Vgl. Genazino 2012, 111.

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geschichten«188 handelt, sondern um ein Erzählen über einen Alltag, der das Gegenteil eines kontinuierlichen Erlebens ist. Dies korrespondiert, wie zu zeigen ist, nicht nur mit den Dingen und Themen, über die erzählt wird, sondern auch mit dem Erzählen selbst, einem bestimmten, ding- und abfallfreundlichen Erzählduktus und -modus.189 Ein Erzählen, das Ausdruck und Aushalten eines mittelmäßigen Lebens ist, eines Lebens, wie Marx formuliert, das »ohne große Ausschweifungen, Heimsuchungen und ohne künstliche Beatmung durch irgendwelche Einbrüche wilden Lebens«190 weitergeht. Ebenso wie das Verfahren, die Postkarten und alten Fotos zu retten, kreist auch Genazinos Schreiben um den Versuch, die entsorgten, meist aber auch einfach wegen ihrer Banalität vergessenen Alltagsdinge und -handlungen vor dem Verschwinden zu bewahren. Wie sieht es, diese Frage lässt sich – spätestens seit Auf der Kippe, aber eigentlich schon seit der frühen Abschaffel-Trilogie, die im Zentrum der nachfolgenden detaillierten Interpretation stehen wird – stellen, mit der Abfallfreundlichkeit der Texte Genazinos aus: Sind die Texte dem Abfall zugewandt? Lassen sie Abfälle Abfälle sein oder verwandeln sie diese durch Ästhetisierung in Wertvolles? Generell, so zeigt Alexander Honold191 sind es gerade der Zustand eines Auf-derKippe-Seins, das Abgleiten ins Vergessen und Bewahrungsversuche, die das Erzählen Genazinos auszeichnen. In ihrem beständigen Kreisen um die »Alltags- und Medienwirklichkeit unserer mittelständischen und mitteleuropäischen Gegenwart«192 werden Genazinos Romane, so die Beobachtung Honolds, deshalb auch vom Publikum begeistert rezipiert, weil sie grundsätzlich eine »Haltung des ruhigen Beobachtens«193 innehätten. Genazinos Erzählen in der Mittellage ist verbunden mit einer erzählerischen Gelassenheit, die auch ein Lassen ist: ein Gewährenlassen der Dinge, so wie sie sind. Dies spräche für eine Abfallfreundlichkeit der Texte. Obgleich das Gewährenlassen den eben angesprochenen Möglichkeiten einer Verwandlung, die ja mitunter eine Aufwertung, ein Recyclingprozess sein kann, entgegensteht, ist dennoch eine Kombination aus beiden Bewegungen vorstellbar, dem Gewährenlassen und dem Seinlassen: Nur wer die Dinge sieht und wahrnimmt, wie und was sie sind, kann sie auch als Ausgangspunkt von Möglichkeiten begreifen. Ob diese Möglichkeiten wahrgenommen werden, ist hierbei zweitrangig. Dass die Möglichkeit nicht allen Menschen gegeben ist, oder genauer, dass diese zwar allen Menschen gegeben ist, aber nicht von allen wahrgenommen wird, ist eine weitere Erkenntnis, die eine Genazino-Lektüre nahelegt. Nur wer, das legt Auf der Kippe offen, mit einem besonderen Blick durch die Welt geht, sich am Rand positioniert, kann die Überflüssigkeiten überhaupt wahrnehmen. Er oder sie sieht Verbindungen, die im Alltag unsichtbar sind, nicht gesehen werden können, abreißen. Geschichten bleiben so unerzählt. Das Erzählen vom Rand, das zwar in der Mittellage

188 Den Begriff übernimmt er aus Abschaffel, wo der Protagonist während seines Klinikaufenthalts angeekelt die Bemühungen einer Sekretärin, der Banalität des Alltags durch Übertreibungen und einer Konzentration auf das Außergewöhnliche zu entkommen, betrachtet (vgl. Marx 2011, 57). 189 Vgl. Marx 2011, 57. 190 Marx 2011, 57. 191 Vgl. Honold 2011. 192 Honold 2011, 33. 193 Honold 2011, 34.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

angesiedelt ist, aber dennoch gerade das in den Abfall Abkippende in den Blick nimmt, findet sich, so wird zu zeigen sein, auch in Wilhelm Genazinos Romanen. So befinden sich viele seiner Protagonisten ökonomisch auf der Kippe: In den prekären Lebensumständen von, zum Teil erfundenen Berufen wie dem freischaffenden Apokalyptiker oder der Staubforscherin, aber auch in Gelegenheitsverdiensten wie dem Schuhtesten manifestieren sich die skizzierten Verflüchtigungstendenzen – die Menschen sind oftmals nur teilinkludiert, fürchten Exklusionsprozesse, befinden sich auf der Kippe zu Arbeitslosigkeit, Armut oder Altersarmut.194 Das Oszillieren zwischen Inklusion und Exklusion begegnet uns auch im alltagsgegenständlichen Inventar von Genazinos Erzähltexten. Bezüglich dieses Inventars gibt es ebenfalls erstaunliche Kontinuitäten, Dinge, die uns immer wieder begegnen: Schuhe, Jacken und Mäntel sowie Koffer. Dabei befinden sich diese Gegenstände oftmals in der Nähe zur Abfälligkeit, sind vergessen oder verloren.

3.5.1.1 Abschaffel Die in der Forschung oftmals als Angestellten-Literatur195 bezeichnete AbschaffelTrilogie196 , die als Einzelbände 1977 und 1979 sowie 2002 als einbändige Ausgabe erschien, trägt sowohl den Namen seines Protagonisten, den Gedanken des Wegwerfens, aber auch das Überflüssigsein bereits im Titel. Mit Abschaffel weist der Roman einen Protagonisten auf, der sich auf der Kippe zum Verschwinden befindet.197 Die Spur, die Genazino damit legt, ist keine falsche: In Abschaffel spielt Abfall auf mehrfache Weise eine Rolle. Handlung gibt es, im Sinne einer voranschreitenden Geschichte, wenig. Es ist eher eine Aneinanderreihung, eine Sammlung, eine Erfassung von »Menschen – Dinge[n] – Situationen«198 , wie Hannes Krauss seinen Aufsatz zu den Abschaffel-Romanen betitelt. Die Handlung tritt zurück zugunsten detaillierter Beschreibungen, die mitunter mehrere Seiten einnehmen und die eigentliche Tätigkeit oder den eigentlich kurzen Gedanken zeitlich ausdehnen.

194 Die Angst des Protagonisten vor Armut bzw. Altersarmut ist vor allem in Die Liebesblödigkeit (vgl. Genazino 2005) oftmals Thema. 195 Vgl. Stockinger 2004, 20. 196 Vgl. Genazino 2002, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle GeA und Seitenzahl zitiert. 197 Zum Aspekt des Verschwindens vgl. Hirsch 2004 und Hirsch 2006, 66. Zur Rolle von Namen in Genazinos Werk vgl. Fink 2006. Zum Namen Abschaffels stellt Fink weiterreichende Verbindungen her: »[D]er Name der Titelgestalt schillert zwischen dem Verbum ›abschaffen‹ und dem Partizip Perfekt ›abgeschafft‹, die Ersetzung des Schluss-›n‹ durch ›l‹ sorgt für die Substantivierung.« (Fink 2006, 34) Zugleich weist Fink auch auf eine andere Möglichkeit hin, den Namen des Protagonisten zu deuten. In Mannheim, dem Geburtsort Genazinos, gibt es in der Nähe der Kindheitswohnung Genazinos eine Verschaffeltstraße, die an den Architekten und Bildhauer Peter Anton und dessen Sohn, ebenfalls Architekt und Architekturzeichner, Maximilian von Verschaffelt erinnern soll (vgl. Fink 2006, 35). Fink sieht in dem Namen Verschaffelt, der an das Wort Verschachtelt erinnert, eine paradigmatische Denkbewegung Genazinos manifestiert: »Er enthält, für sich genommen, etwas Labyrinthisch-Vergebliches, taugte aber auch für den Kundigen als Kunstmetapher.« (Fink 2006, 35) 198 Krauss 2004, 11.

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Die Trilogie begleitet auf fast 600 Seiten, vermittelt durch eine auktoriale Erzählinstanz199 , den 30jährigen Frankfurter Angestellten Abschaffel – seinen Vornamen erfahren wir nicht – durch dessen Alltagsleben. Geprägt durch die Inhaltsleere seines Angestelltenlebens im Großraumbüro, sorgen Bordellbesuche, lustlose, nach ihrer Beendigung trotzdem schmerzvolle, aber meist kurze Liebesbeziehungen und zielloses Flanieren200 durch die Innenstadt für kurze Unterbrechungen der Monotonie. Während im Deutschland der 1970er Jahre eine, wie Kuchenbuch sie nennt, »Abfallbeseitigungseuphorie«201 herrscht, kann bei Abschaffel davon kaum die Rede sein. In einer Episode zu Beginn des zweiten Buchs steht ein Pappkarton im Zentrum von Abschaffels Interesse. Soll er diesen wegwerfen oder nicht? Abschaffel bewegte sich von einem ungeklärten Vorgang zum nächsten, ohne etwas erledigen zu können. Dazu gehörte auch der Blick auf den Balkon und die abermalige Entdeckung eines Pappkartons, der seit Wochen draußen lag. In dem Pappkarton hatte er einmal Lebensmittel nach Hause getragen, weil dem Supermarkt die Plastiktüten ausgegangen waren. (GeA, 168) Offensichtlich hat der Karton seinen Gebrauchswert eingebüßt, ist beschädigt, deformiert. Er befindet sich auf der Kippe – eigentlich Abfall, ist er dennoch da. Durch einen Windstoß wird er zurück ins Blickfeld geblasen: Der Karton war schon öfter vom Regen aufgeweicht, wieder getrocknet und durch neuen Regen wieder aufgeweicht worden. Er hatte seine Form als Karton weitgehend verloren und lag als deformiertes Stück in einer Außenecke des Balkons. Manchmal stieß ein Windstoß in das Balkonrechteck und blies ihn in eine andere Ecke. Seit Wochen konnte sich Abschaffel nicht dazu durchringen, den Pappkarton in den Mülleimer zu werfen. So präzise wollte er sich mit dem Alltag nicht einlassen. Das hätte ja ausgesehen, als wäre er ein Mann, der an seinem Feierabend einen leeren Karton in einen Mülleimer wirft. (GeA, 168) Die Frage, warum Abschaffel ihn nicht entsorgt, ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt Hinweise, oftmals nicht erkennbar, ob es sich um die Gedanken Abschaffels handelt oder um Kommentare durch die Erzählinstanz (»So präzise wollte er sich mit dem Alltag nicht einlassen« (GeA, 168)), dass es bei Abschaffel einen Widerwillen zu geben scheint, wie andere zu funktionieren. Bei Abschaffel lässt sich eine Resistenz feststellen, den Alltag störungsfrei zu leben und die Beiläufigkeit, das Dahingleiten durch den selbigen zu akzeptieren. Unmittelbar nach der oben zitieren Wegwerfverweigerung transformiert er die gerade eingekauften Lebensmittel von ihrem Status der gesichtslosen Ware zu halbwegs vertrauten Dingen, wie es heißt: »Sorgfältig entfernte er die Preisschildchen an den Lebensmitteln: Das machte die Dinge heimisch.« (GeA, 168) Im Anschluss wirft er dann Teile der Nahrung in den Müll (»Die Kruste des Brots schnitt er weg und warf sie in den Mülleimer. Er wollte heute nur den weichen Innenteil des Brots essen.« (GeA,

199 Zur Erzählsituation vgl. detailliert Hirsch 2006, 50-57. 200 Zu Gehen und Flanieren vgl. auch Kapitel 4 dieser Arbeit. 201 Kuchenbuch 1988, 170.

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168)). Der Entsorgungs- und Wegwerfwiderwille Abschaffels scheint also keine durchgehend festzustellende Eigenschaft zu sein, sondern tritt in bestimmten Situationen auf. Dazu später mehr. Zurück zum Anfang. Was hat es mit diesem vornamenlosen Abschaffel auf sich? Wie der Beginn des ersten Bandes der Trilogie zeigt, begegnen wir nicht nur dem Privatmenschen Abschaffel, sondern vor allem auch dem Arbeitsmenschen, dem Angestellten Abschaffel. So wirft uns der erste Satz in das Leben Abschaffels, das geprägt ist von seiner Erwerbstätigkeit als Angestellter im Großraumbüro eines Transportunternehmens: »Weil seine Lage unabänderlich war, mußte Abschaffel arbeiten.« (GeA, 8) Dabei ist das Leben von Abschaffel von zweierlei bestimmt: vom Sitzen (im Großraumbüro) und von Setzungen, die meist andere gesetzt haben und für ihn voraussetzen. Dies führt zu einem, von Abschaffel als äußerst langweilig empfundenen, Berufsalltag.202 So heißt es gleich zu Beginn des Textes: Er war schon mehrere Jahre in der gleichen Firma beschäftigt; er war Angestellter, und er arbeitete in einem Großraumbüro, das die Firma vor zwei Jahren eingerichtet hatte. In dem Großraumbüro saßen sich alle Angestellten in Zweiergruppen gegenüber. Zwischen den einzelnen Schreibtischkomplexen standen Gummibäume und andere Topfpflanzen, über die Abschaffel gelegentlich lachen mußte. […] Er lachte über den mannigfachen Betrug, der hier mit den Angestellten getrieben wurde und der die Angestellten dazu ermunterte, sich auch selbst zu betrügen. Ein erster Höhepunkt des Betrugs waren die Berufsbezeichnungen der Angestellten; sie galten als Kaufleute, und in ihren Papieren und Zeugnissen wurden sie sogar Exportkaufmann, Importkaufmann oder Speditionskaufmann genannt. (GeA, 8) Wie das Warenhaus kennzeichnen das Büro, zumindest aus Abschaffels Perspektive, die beiden primären Zustände der Täuschung und Enttäuschung. Wir erfahren gleich zu Beginn des Romans, dass Abschaffel als Kaufmann Agierender ist in einer Welt von Warenströmen – oder auch nur scheinbar Agierender. Das Großraumbüro fungiert als Ort im Raum der Ströme. Mit der Großstadt203 Frankfurt a.M. und dem Büro sind paradigmatische Orte der Moderne gewählt worden – mit dem Großraumbüro, um mit Zygmunt Bauman zu sprechen, auch ein Ort der sich bereits abzeichnenden flüssigen bzw. flüchtigen Moderne, in dem zwar neue Formen der Flexibilität vorherrschen, exemplarisch die Einführung der Gleitzeit (vgl. GeA, 280f.), aber auch noch alte, panoptische Kontrollmechanismen vorherrschen. Andere Orte, an die uns der Text führt, sind Orte des Konsums wie Kaufhäuser, Bordelle oder die Fußgängerzone, Transitorte wie Bahnhöfe, Orte des Rückzugs wie die Privatwohnung. Eine These ist, dass im Roman 202 Vgl. hierzu Hirsch 2006, die als bestimmende Merkmale von Abschaffels Arbeiten im Büro u.a. »Unüberschaubarkeit, erzwungene Intimität und Orientierungslosigkeit« herausgearbeitet hat – alles drei auch Kennzeichen, mit denen sich sein Alltags- und Privatleben beschreiben lassen (vgl. Hirsch 2006, 66). 203 Hirsch weist jedoch richtig darauf hin, dass es sich bei Abschaffel keineswegs um einen Großstadtroman handle, die Stadt Frankfurt dient, gerade in den beiden ersten Teilen der Trilogie, vielmehr zum einen als prototypische Stadt der Angestelltenkultur, zum anderen als Projektionsraum und Fluchtort der Abschaffel-Figur – hier wird Frankfurt allerdings weitestgehend austauschbar mit anderen vergleichbaren Großstädten (vgl. Hirsch 2006, 57-61).

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die Abfälle, aber auch die Entsorgungs- und Bewahrungshandlungen, die uns wiederholt begegnen, sowohl mit dem Themenkomplex Arbeit als auch mit den Orten, an die der Text uns führt, zusammenhängen. Deutlicher als in vielen der bisher besprochenen literarischen Texte gibt es in Abschaffel intertextuelle Verbindungen. Hier sind vor allem, gestützt auch durch die Motti der jeweiligen Einzelbücher, Franz Kafka, Robert Walser und Siegfried Kracauer zu nennen. Im Rahmen dieses Kapitels soll vor allem den Verbindungen zu Kafka und Kafkas Schreiben nachgegangen werden.204 Um diesen Verbindungen zwischen Genazinos Abschaffel und den Texten Kafkas auf die Spur zu kommen, soll im Folgenden die Bedeutung von Abfall und Abfälligkeiten sowie des Konzepts von Überflüssigkeit in Abschaffel anhand von drei Teilaspekten in den Blick genommen werden.205 Erstens folgt ein Blick auf die bereits erwähnten Pendelbewegungen zwischen Wegwerfen und Bewahren, den Wegwerfhandlungen und dem Wegwerfwiderwillen mit einem Fokus auf Abschaffels Verhältnis zur Ware. In einem zweiten Schritt werden die Verbindungen von Sitzen, Setzung, Abfälligkeit und Überflüssigkeit in Abschaffels Arbeitsleben untersucht. In einem letzten Schritt, und hier werden die Verbindungen zu Kafka besonders deutlich, werden Körper und Abfälligkeit diskutiert. Zunächst einmal, und dies ist nicht selbstverständlich für literarische Texte, ist festzustellen: Abschaffel wirft weg. Wir werden an etlichen Textstellen Zeuginnen von Wegwerfhandlungen oder auch deren Nichtzustandekommen: Dieses Wegwerfen, das Verwerfen und Sich-Trennen von Dingen, scheint oftmals eine qualvolle Handlung zu sein. Wenn Abschaffel aufräumt, tut er dies launisch und argwöhnisch. Häufig werden seine Aufräumarbeiten zu Reinigungsversuchen: Er [Abschaffel, CHG] überlegte, daß er, und dies galt auch von den Hemden und seiner Unterwäsche, zwei Sorten von Kleidungsstücken hatte, solche, die er gern anzog und die ihm guttaten, und andere, die ihm zu eng, zu weit, zu bunt oder sonstwie unpassend erschienen und die er trotzdem nicht wegwarf. Er zog auch die Unpassenden immer wieder an und ließ sich auf vertrackte Weise von ihnen quälen. Dies wurde ihm in diesem Augenblick so klar, daß er eines der Hemden, das ihm noch nie gefallen hatte, nahm und es wegwarf, obwohl es eben frisch gewaschen war. (GeA, 60f.) Nachdem er das Hemd weggeworfen hat, erschrickt er und erinnert sich an seinen Vater, der »insgesamt drei Wintermäntel angeschafft hatte«, und daran, dass es ihn »Wochen der Übelkeit und des Verdrusses gekostet hatte, um zweimal, verteilt auf rund

204 Zur Funktion der Motti nach Genette vgl. Genette 2001, besonders 152-155. Im Falle von Genazino ist davon auszugehen, dass Kafka eine wichtige Referenz bildet. Zu den Verbindungen zwischen Kafka und Genazino vgl. etwa Hirsch 2006, 40, ausführlich in Fußnote 5. Weitere Verbindungen zwischen den Texten Kafkas und Genazinos werden weiter unten in Bezug auf die Themen Fremde und Fremdheit diskutiert. 205 Die Analyse beschränkt sich auf die titelgebende Hauptfigur. Ein Blick auf die zahlreichen Nebenfiguren, etwa die beiden zentralen Frauenfiguren Margot und Frau Schönböck oder auch Abschaffels männliche Arbeitskollegen, wäre in Bezug auf die Abfallthematik sicherlich ebenfalls lohnenswert.

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vierzig Jahre, einen schadhaft gewordenen Wintermantel wegzuwerfen.« (GeA, 61) Abschaffel holt das Hemd wieder aus dem Mülleimer, um es, aus Ärgernis über seine Erinnerungen und die Erziehung durch seine Eltern, erneut wegzuwerfen – und schließlich noch in den Mülleimer zu spucken. Obgleich die Passage in einem Entsorgungs- und Verwerfungsakt endet, wird zunächst eine Verbindung sowohl zu dem zu entsorgenden Ding, aber auch zur Vergangenheit hergestellt. Obwohl er sich nach einer Nähe zu den Dingen sehnt, die oftmals alte, robuste Dinge sind, gelingt es ihm nicht, eine Nähe zu den Dingen seiner Wohnung aufzubauen – sie stoßen ihn ab, machen ihm Angst oder ziehen seine Aggressivität auf sich (vgl. GeA, 147 und 377). Dieses ambivalente Verhalten können wir am Beispiel eines verschmutzen Kissens sehen. Ähnlich dem Karton aus dem obigen Beispiel scheint es einen Wegwerfwiderwillen zu geben, der sich nicht recht erklären lässt: Sofort schoben sich, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, die bekannten Gegenstände in seinen Blick. Zum Beispiel das Kissen auf der Bettcouch. Seit Jahren drückte er es sich unter den Kopf, wenn er sich ein wenig hinlegte, und seine leicht und schnell fettenden Haare hatten in der Mitte des Kissens schon lange einen grauen Fleck hinterlassen. Der Bezug des Kissens war rätselhafterweise nicht abnehmbar. Das Kissen hatte keinen Reißverschluß und keine Knöpfe. Konnte man denn ein ganzes Kissen in die Reinigung geben? Das hatte Abschaffel noch nie gesehen und noch nie gehört. Aber andererseits war der Bezug vom Kissen nicht zu trennen. Fast jeden Abend, wenn er die Wohnung betreten hatte, fragte er diesen toten Gegenstand mit stummen Blicken, was er mit ihm machen sollte, damit er wieder sauber wurde. Das Kissen einfach wegzuwerfen traute er sich nicht. (GeA, 167f.) In dieser Passage fließen viele der bereits angestellten Überlegungen zusammen. Es kann eine Verweigerung der Dinge konstatiert werden, gemäß ihrer Bestimmung zu funktionieren. Die Widerspenstigkeit, vom Menschen aus gesehen eine Störung, ist gefährlich für die Dinge: In der obigen Textpassage bringt sie das Kissen in Abfallnähe. Das Kissen kann aber auch für eine neue Form von Dingen stehen: Dinge, die nicht mehr gereinigt oder repariert werden können. Ihr Ziel ist nicht die Dauerhaftigkeit, ihre Entsorgung ist vorgesehen. Zwei ähnliche Textpassagen, in denen Dinge nicht repariert werden können oder es zumindest nicht im Beobachtungszeitraum werden, finden sich im Romanverlauf. Bei der einen Passage handelt es sich um einen Rückblick auf Abschaffels Jugend: Abschaffel hat einen von ihm seit Langem begehrten Gegenstand, einen Fotoapparat, vom Onkel versprochen bekommen und auch tatsächlich erhalten, allerdings mit dem Hinweis, es sei »nur eine kleine Reparatur nötig, dann sei der Apparat wie neu.« (GeA, 188f.) Dass Geräte nicht mehr leicht zu reparieren sind, sondern oftmals aufgegeben werden müssen, erfährt Abschaffel, als er den Apparat zur Reparatur bringt: Nach Ablauf dieser Frist sagte der Händler, die Reparatur sei ungewöhnlich schwierig. Es sei ein Ersatzteil nötig, das er nicht vorrätig habe, er müsse es erst beim Werk bestellen. Es entstanden dadurch drei bis vier Wochen neue Wartezeit. Und als Abschaffel danach erneut bei dem Fotohändler erschien, mußte er hören, daß das Hersteller-

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werk das gewünschte Ersatzteil nicht mehr liefern könne, weil dieser Fotoapparat nicht mehr gebaut werde. (GeA, 189) Der Apparat wird vom funktionstüchtigen Geschenk so innerhalb kurzer Zeit, wie es heißt, ein » wertloses Ding« (GeA, 189). Auf Nachfragen des Onkels erklärt Abschaffel diesem nur, »der Apparat werde noch immer repariert, bis der Onkel selbst nicht mehr daran glaubte. Er nahm wahrscheinlich an, Abschaffel hätte den Apparat vielleicht verloren oder verkauft, und aus Taktgefühl kam der Onkel nicht mehr auf sein Geschenk zurück.« (GeA, 189) Während der Blick auf die Dinge in Abschaffel generell also einer zu sein scheint, der sich besonders den ausrangierten, den nutzlosen, den verlorenen und vergessenen Dingen widmet, kommt an vielen Textstellen eine weitere Komponente hinzu, die auch das obige Beispiel des Kissens impliziert: die Nichtkooperation von Dingen. So auch in der zweiten Textpassage, in der auffällig lange bei einem Ding verweilt wird: Bei der Begegnung mit einem kaputten Zigarettenautomaten ist eine Sympathie für dessen Dysfunktion spürbar (vgl. GeA, 169). Auslöser ist ein Bedürfnis. Abschaffel will rauchen und muss Zigaretten kaufen. Wenn die Alltagshandlung des Zigarettenkaufs störungsfrei und erfolgreich verlaufen wäre, hätte es kaum Anlass für mehr als einen Satz gegeben. Der Automat nahe Abschaffels Wohnung, den er schon seit geraumer Zeit frequentiert, scheint aber nicht mehr zu funktionieren. Das Geld fällt immer wieder durch. Statt Ärger zu empfinden, gibt sich Abschaffel seinen Gedanken hin, die durch die Erzählinstanz offengelegt werden: Seit Abschaffel hier wohnte, kannte er diesen Automaten als einen funktionierenden Automaten, aber nun war es mit ihm offenbar zu Ende. Aus voreiliger Sentimentalität war ihm der Automat deswegen sogar sympathisch. Das Beruhigende war, daß der Automat wahrscheinlich nicht abmontiert wurde, jedenfalls nicht sofort. (GeA, 169) Der Automat befindet sich in einem Übergangsstadium. Er funktioniert nicht mehr, ist aber auch noch kein Abfall, ist deswegen noch da und sichtbar, befindet sich aber dennoch in Abfallnähe, ist tote Ware, ist albernes Ding ohne Funktion: Nun würden einige Wochen, vielleicht sogar Monate lang viele Personen ihre Markstücke hineinwerfen und dieselbe Erfahrung machen. Und irgendwann würde der Besitzer des Automaten auch dahinterkommen. Abschaffel hatte noch nie mit einem Automatenbesitzer gesprochen. Es waren flinke, kleine und immer eilige Menschen, die aus kleinen Lieferwagen heraussprangen, die Automaten abkassierten und sie neu auffüllten und rasch weiterfuhren. Es war jedoch ganz ungewiß, welche Automaten von Besitzern betreut wurden und welche nicht. Es wimmelte in der Stadt von verrotteten und leeren Automaten, die weder abmontiert noch repariert wurden. Sie blieben einfach, wo sie immer waren, ob kaputt oder nicht, und das schien niemand etwas auszumachen. (GeA, 169) Offensichtlich werden diese Automaten aber nicht repariert, sondern durch neue Automaten ersetzt. Zunächst sind sie jedoch einem Prozess der Entfernung von den Menschen ausgesetzt, für den das langsam durch Verfallsprozesse vorangetriebene Ver-

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schwinden des Besitzernamens steht. Es kommt zu einem Verlust der Erinnerung an die ehemals so stabil erscheinende Verbindung zwischen beiden Seiten: Erst wenn die Automaten in die Jahre kamen und Rost ansetzten, verschwand, wahrscheinlich im gleichen Tempo, die Leserlichkeit des Namens des Besitzers, so daß sich mit zunehmendem Alter Automat und Besitzer immer weniger einander erinnern mußten. (GeA, 170) Das Verweilen und Nachdenken über das funktionslose Ding verlängert dessen Aufenthaltsdauer: es ist noch da, obwohl es sich bereits im Verschwinden befindet. Der Blick Abschaffels auf dieses Ding zeichnet sich durch Überflüssigkeit aus. Eine Überflüssigkeit, die an die, freilich nur aus Sicht der grauen Herren, Nutzlosigkeit so vieler Handlungen in Momo erinnert: Erzählen, Zuhören, Miteinandersein ohne Ziel sind solche Verrichtungen. In beiden Texten, in Momo wie auch in Abschaffel, rückt mit diesen überflüssigen Tätigkeiten das Abfällige, das Abfallnahe in den Blick. Während durch sie in Momo Menschen zueinander finden, Momo sich den Menschen zuwendet, wendet sich Abschaffel zwar den Dingen zu, zugleich durch diese Dingzuwendung aber von den Menschen ab, kappt die Verbindungen mitunter. Auch andere zerstörte, abfallnahe Dinge begegnen Abschaffel. Er blickt in eine Telefonzelle, in der absurden Hoffnung, dort einen Geldbeutel zu finden, der von jemandem dort vergessen wurde. Stattdessen sieht er Abfall und Zerstörung: »Leere Zigarettenschachteln waren auf dem Boden verstreut und ein zweites, zerrissenes und verschmutztes Telefonbuch mit den Seiten nach unten.« (GeA, 313) Er verbindet diese Zerstörung der Dinge mit dem Kippen der Welt in die Abfälligkeit, einer Welt, in der Zerstören und Verwerfen mehr zählen als Bewahren: Durch den Anblick des zerstörten Telefonbuchs fühlte er sich sofort geschmerzt und empfand Wut auf die unbekannten Vernichter, deren Taten ihm so oft das Gefühl einflößten, in einer langsam umkippenden Welt zu leben, in der jeder, der etwas zerstörte oder etwas mitnahm, zu den Klügeren gehörte, während die anderen, zu denen er selber leider immer noch zählte, in einer schon längst verrotteten Demut lebten. (GeA, 313) Der Hinweis auf die »verrottete[…] Demut«, in der Abschaffel lebt, sowie der Gebrauch des Wortes »leider« impliziert, dass sich Abschaffel vielleicht auch wünscht, ebenso sorglos zerstören, mitnehmen, aber auch, obgleich nicht explizit angesprochen, wegwerfen zu können. Wenn die Welt in die Richtung kippt, in die sie sich gerade neigt, dann wird auch Wegwerfen zu einer Handlung, die diese Gedanken Abschaffels nicht mehr benötigt, die sie noch lächerlicher macht, als sie bereits sind.206 Auch in weiteren Textstellen zeigt sich die Verbundenheit von Abschaffel zu verworfenen Dingen (vgl. GeA, 18, 24). In einer Episode fällt ihm auf, dass der Briefkasten verschwunden ist, den

206 Die Mahnung, die der Gedanke implizit enthält, erinnert erstaunlich an die Ausführungen Günther Andersʼ und erfährt im ökologischen Diskurs der 1980er Jahre eine Renaissance. Gerade das Kippen der Welt in eine Welt, in der Zerstörung von Ressourcen und somit von Zukunft alltäglich ist, stellt auch das Wegwerfen in Frage. Dieser Diskurs, so werde ich zeigen, findet sich wieder in Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit aus dem Jahr 2005, allerdings über weite Teile ironisch gebrochen.

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er regelmäßig nutzt, »[d]er Briefkasten, in den er seinen Brief hineinwerfen wollte, war nicht mehr da« (GeA, 25). Das Fehlen des Briefkastens führt zu einer Abkehr von der Routine. Eine Abkehr, die den Blick öffnet: Er kehrte über die Straße zurück, und durch Zufall ging sein Blick an der Wand des Hauses hoch, an dem der Briefkasten früher angebracht gewesen war. Abschaffel erkannte mit Brettern vernagelte Fenster, ja, aus einigen Fenstern waren Löcher geworden, in die der Wind hineinpfiff. Der Vorgarten des Hauses war zerwühlt; zerschlagene Küchenmöbel lagen herum, einige durchnäßte Sessel, Geschirr, Hausrat. Jetzt wurde Abschaffel klar: Das Haus war zum Abriß vorgesehen. Kein Mensch wohnte mehr darin. (GeA, 25) Die verrottenden Dinge ziehen Abschaffel zugleich an und stoßen ihn ab. Eine Grundbewegung, die in zahlreichen Episoden der Abschaffel-Trilogie gezeichnet und variiert wird. Anja Hirsch schildert am Beispiel einer Episode, in der Abschaffel von einem Restaurant aus die Vorgänge in einem Möbelhaus beobachtet – vor allem diejenigen Kunden, bei denen von vorneherein klar ist, dass sie nichts kaufen möchten, die aber dennoch die Waren kurz berühren – die für Abschaffel typische »ambivalente Bewegung, gleichzeitig abgestoßen und angezogen zu werden«207 . Vor allem, wie in dem von Hirsch kurz angeführten Beispiel, sind es oftmals die Dinge in ihrer Form als Ware, die Abschaffel anziehen und abstoßen. Diese Wünsche, Täuschungen und Enttäuschungen im Zusammenhang mit Warendingen, das Angezogen- und Abgestoßensein Abschaffels von der Ware werden offensichtlich in der folgenden Episode im dritten Teil der Trilogie. Abschaffel geht nach seiner Rückkehr aus einem Sanatorium in der Stadt umher. In einem Kaufhaus, in dem er eigentlich gar nichts kaufen möchte, blickt er zunächst die Waren nur an. Dann entschließt er sich, dennoch etwas zu erwerben: »Da sah er säuberlich nebeneinander aufgestellte Rasierpinsel, das Stück für 2,50 Mark.« (GeA, 564) Die billige Ware lässt ihn an seinen Vater denken, der preisgünstige Waren verehrt hat, und er beschließt, »zum Gedenken an seinen billigen Vater einen solchen billigen Rasierpinsel zu kaufen.« (GeA, 565) Gleich darauf wirft er den eben gekauften Pinsel weg. Im Verlauf des Tages kehren Abschaffels Gedanken immer wieder zu diesem Kauf- und Entsorgungsakt zurück: Warum hat er den billigen Pinsel überhaupt gekauft? Warum hat er ihn entsorgt? Ist er seinem Vater ähnlich – und warum erschreckt ihn das so (vgl. GeA, 568)? Er kehrt in die Stadt zurück, um erneut einen Rasierpinsel zu kaufen: Dieses Mal lässt er sich durch einen Verkäufer beraten und erwirbt einen Dachshaarpinsel für 54 Mark, nachdem ihm im Verkaufsgespräch dargelegt wurde, dass manche Kunden sich mit einem solchen Pinsel schon seit über zwanzig Jahren rasieren würden. Diese Beständigkeit scheint Abschaffel erneut zu erschrecken: »Die Vorstellung, daß er ein und denselben Pinsel zwanzig Jahre lang morgens auf seinem Badebord sehen würde, belastete ihn jetzt schon.« (GeA, 569) Wegwerfen, entsorgen kommt ihm nun fast schon als erstrebenswert vor: »War es dann nicht besser, doch nur billige und schlechte Rasierpinsel zu kaufen? Die konnte er wenigstens von Zeit zu Zeit wegwerfen.« (GeA, 569) Dennoch kauft er den Pinsel und eine passende Aufhängvorrichtung. Werden sich die

207 Hirsch 2006, 61.

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Wünsche und Vorstellungen, die Abschaffel mit der besseren, der guten, der teureren Ware verbindet, erfüllen? Wir erfahren es nicht. Das ambivalente Verhältnis zur Ware zeigt sich auch in den Ladendiebstahlepisoden. Seit es Kaufhäuser gibt, waren Ladendiebstähle fester Bestandteil des Alltags dieser Einrichtung.208 Die Diebstähle können auch als eine Art der Gegenbewegung gelesen werden: Dadurch, dass nicht den Vorgaben des Ortes gemäß gehandelt wird, verstößt der oder die Andershandelnde gegen die Gesetze dieses Ortes. In einem Zustand der Flüchtigkeit und Leere will Abschaffel der Auflösung entgegenwirken, indem er ihr Festigkeit entgegensetzt. Eine Festigkeit jedoch, die nicht konform geht mit der Flüchtigkeit des Ortes: »Er klaute nur, wenn er sich selbst als nicht mehr richtig vorhanden fühlte, wenn nichts in ihm vorging und er den Anschluß an irgendein Gefühl erreichen wollte.« (GeA, 164) Der neue Rasierapparat wird benötigt, weil die beiden Vorgänger, wie wir erfahren, aus Plastik waren und schnell kaputt gegangen sind: So ist der Ladendiebstahl auch vorstellbar als Racheakt gegen die Zumutungen der neuen Dingwelt, die sich nicht durch Dauer, sondern durch Kurzlebigkeit auszeichnet. Dies macht die weiter oben diskutierte Rasierpinselepisode noch aufschlussreicher: Es scheint keinen Fortgang, kein Lernen in Abschaffels Alltag zu geben; sein Verhältnis zu den Dingen bleibt ambivalent und mitunter wenig rational. Diese Momente der Einkaufsverweigerung, hier gerade nicht zu verstehen als Konsumverweigerung, sondern eher als Kommentar zur Lage der Dinge, lassen sich ähnlich deuten wie die Alltagsexperimente Abschaffels, die offensichtlich fester, jedoch unregelmäßiger Bestandteil von Abschaffels Alltag sind. Ein Beispiel für ein solches »Experiment« (GeA, 167) ist das Hineintelefonieren in die eigene, leere Wohnung: Natürlich nahm niemand ab, es war ganz sicher, daß niemand den Hörer abnehmen konnte, und trotzdem hatte er manchmal die Vorstellung, es müßte selbstverständlich jemand abnehmen. Hinterher war er über sich selbst verwirrt. Erst hielt er sich für verrückt, dann sagte er sich: Ich mache das aus Spaß und Langeweile. (GeA, 167) Weitere Experimente umfassen das Klingeln an der eigenen Tür und das Vorbeifahren in der Straßenbahn an der eigenen Haustür: »Er wollte an der Tür vorüberkommen, in die er sonst immer hineinging. Zwei Stationen weiter stieg er gewöhnlich aus und lief zu der Haustür zurück.« (GeA, 167) Die Experimente, das legen die Textstellen nahe, sind begründet in einer Verunsicherung, die durch Setzungen und Konventionen hervorgerufen wird. An anderer Stelle, ebenfalls im zweiten Teil, sieht sich Abschaffel durch eine neu im Treppenhaus aufgehängte Hausordnung mit umfangreichen Verboten konfrontiert (vgl. GeA, 345). Besonders wird in ihr die Einhaltung von Ruhe eingefordert, sehr zum Unverständnis Abschaffels: »Alles, was es in diesem Haus überreichlich gab, war Stille und Fremdheit.« (GeA, 346) Diese Fremdheit begleitet auch die Experimente. So ist Abschaffel nicht stolz auf diese Experimente, sie scheinen eher ein fast zwanghaftes Bedürfnis zu sein: »Gewöhnlich schämte er sich ein wenig nach diesen Experimenten, und fast jedesmal dachte er: Wie entsetzlich wäre es, wenn ich diese Verhaltensweisen jemand erklären müßte.« (GeA, 167)

208 Vgl. Spiekermann 2005, 214. Zu Sicherheit in Malls vgl. Helten 2007.

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Ein Experiment, das jedoch im Verlauf des Romans nicht zur Umsetzung kommt, wird durch die Verstaubung im Zimmer ausgelöst, die Abschaffel nach der Heimkehr von der Arbeit auffällt: »Er hatte die Idee, in einem Karton oder in einer Plastiktüte ein wenig Straßendreck, vielleicht Erde oder Baumörtel, in seine Wohnung zu schaffen und dort auszuleeren.« (GeA, 344) Ziel ist es, Abstand vom eigenen Leben nehmen zu können, zu zeigen, »daß er sein Leben als Angestellter und alleinstehender Wohnender nicht anerkannte.« (GeA, 344) Es ist kein Zufall, dass hier als die zwei Komponenten, die Abschaffel nicht anerkennen kann und will, das Alleine-Wohnen und das Arbeiten genannt werden. Besonders das Arbeiten ist zentrales Motiv von Abschaffel.209 Bauman hat sich in Flüchtige Moderne den Veränderungen der Arbeit intensiv gewidmet, besonders der Auflösung von Bindungen und der neuen Flexibilität. Obwohl nicht ganz klar ist, auf welchen Zeitraum sich die Analysen von Bauman beziehen, wann also die von ihm konstatierten Verflüchtigungen einsetzen, ist davon auszugehen, dass bereits in den 1970er Jahren entsprechende Tendenzen zu erkennen sind. Neben Bauman sind folgend besonders die Ausführungen von Richard Sennett und Gilles Deleuze von Bedeutung. Während Sennett die wachsende Flexibilisierung der Arbeitswelt fokussiert,210 versucht Deleuze die Veränderungen in der Arbeitswelt im Anschluss an Foucault mit dem Begriff der »Kontrollgesellschaft«211 zu fassen. Auch Deleuze nimmt den Wandel der Arbeit in den Blick, weitet seine Analyse jedoch auf die gesamtgesellschaftlichen Normalisierungstendenzen auf, die sich in die Individuen einschreiben.212 Vor allem in Bezug auf die Arbeit scheint der Name Abschaffel sprechend zu sein: Zwischen Überflüssigkeit, Abfälligkeit und Arbeit, letzteres im kurpfälzischen Dialekt Mannheims auch als ›Schaffe(n)‹ bezeichnet, scheint es, das legt der Text nahe, eine Verbindung zu geben. Während die vollständige Auflösung von Arbeitsverhältnissen und damit die Nähe zur ökonomischen Überflüssigkeit bzw. Abfälligkeit die Kollegen Abschaffels betrifft, ist dessen Broterwerb, im Gegensatz zu den in späteren Texten Genazinos auftretenden prekär Beschäftigten, erst einmal nicht bedroht.213 Dennoch steht Abschaffel selbst, wie bereits angedeutet, im dritten Buch auf der Kippe zur Exklusion, wenn er durch eine Erkrankung nicht mehr arbeiten kann. Aber auch in die wenig bedrohte Arbeitssituation Abschaffels schleicht sich immer wieder die Abfälligkeit, das Gefühl der eigenen und allgemeinen Überflüssigkeit ein. Detailliert erfahren wir an vielen Textstellen, allerdings vermittelt durch die Wahrnehmung der erzählenden Instanz, die Abschaffels Gedanken wiedergibt, wie der Arbeitsalltag in der Frankfurter Speditionsfirma Ajax aussieht und welchen Veränderungen und Kontrollmechanismen die Angestellten ausgesetzt sind (vgl. etwa die Passage GeA, 183f.). Stets wird die Eintönigkeit der Arbeit betont, zu der sich Abschaffel kaum zwingen kann, seine Unlust zur 209 Vgl. hierzu die bereits mehrfach zitierte Studie von Anja Hirsch (vgl. Hirsch 2006, besonders 6471). 210 Vgl. hierzu etwa Sennett 2008. 211 Deleuze 1993, 254. 212 Vgl. Deleuze 1993, 260-262. 213 Hirsch weist darauf hin, dass Abschaffel nicht von Arbeitslosigkeit bedroht ist (vgl. Hirsch 2006, 49). Weitaus mehr auf der Kippe steht Abschaffels Kollege Hornung (vgl. etwa die lange Schilderung von Hornungs Stellung im Betrieb GeA, 171-182).

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Kommunikation mit seinen Affären oder den Kollegen. Bei einer Firmengeburtstagsfeier verlangt er sogar in Gedanken nach einer Entschädigung, die er als »Entschändung« (GeA, 353f.) bezeichnet. Er ist Beobachter, nicht Handelnder – vor allen Dingen ist er, mitunter ausschließlich in seiner Selbstwahrnehmung, Ausgeschlossener. Im Büroalltag vereint sich vieles, was Hajo Eickhoff bezüglich des Sitzens in der Schule festgestellt hat: Die Leibeshaltung (Sitzen) und das Tun (Lesen und Schreiben) begrenzen beide die kindliche Beweglichkeit. Das Sitzen am Schreibtisch und das Schreiben erfordern Körperbeherrschung und Disziplin. Der Arbeitsalltag, wie er sich in den Abschaffel-Texten darstellt, ist bestimmt von fremden Setzungen. So wird die Kontrolle der Angestellten durch den Chef am Beispiel der Privatkopien illustriert. Es gibt nur einen Kopierer im Büro. Damit dieser nicht für Privatkopien benutzt wird, muss ein Schlüssel abgeholt werden, um das Gerät zu nutzen und in eine Liste eingetragen werden, wer wann für welche Abteilung kopiert hat (vgl. GeA, 173). Dabei kommt es jedoch zu einer Nichtübereinstimmung von Liste und tatsächlichen Kopien – der Beweis dafür, dass nicht alle Kopien ordnungsgemäß eingetragen wurden. So ist an die Schilderung der Kontrolle zugleich auch eine Gegenbewegung gekoppelt, die fester Bestandteil des Büroalltags ist: »Zum Glück einer Bürokraft«, heißt es, »gehörte die Überzeugung, den Betrieb jederzeit übers Ohr hauen zu können.« (GeA, 173f.) Dabei ist es nicht nur, analog zu Deleuze, die Kontrolle von außen, die Abschaffel zu schaffen macht, sondern ebenfalls das Bewusstsein der eigenen Mangelhaftigkeit. Hinzu kommen Gefühle der Verachtung gegenüber den Kollegen, über die Abschaffel häufig abfällig denkt (vgl. etwa die Episoden zu Abschaffels Kollegen Hornung, etwa GeA, 179-183). Nicht nur in Bezug auf die Ware, sondern auch in seinem Arbeitsleben sieht sich Abschaffel kontinuierlich Enttäuschungen ausgesetzt. Enttäuschungen, die seit Abschaffels Kindheit untrennbar mit Erwartungen eines, wenn auch kleinen, Glücks verbunden zu sein scheinen, das jedoch nicht eintritt. Dies legt zumindest eine Episode nahe, in der Abschaffel sich an seine Kindheit erinnert. Zunächst wird das eben angesprochene Ausbleiben des Glücks ins Zentrum gerückt, wenn es heißt: »Und Abschaffel verachtete nicht nur die, die noch immer an irgendein Glück glaubten; er war inzwischen sogar so weit, daß er das Glück selbst, seines ewigen Ausbleibens wegen, verachtete.« (GeA, 251f.) Dann erinnert sich Abschaffel, wie er als Kind, im Alter von zwölf, dreizehn Jahren, begonnen hatte, an Preisausschreiben teilzunehmen (vgl. GeA, 252): »In diesen Jahren hatte er das erlösende Glück gesucht, und er suchte es dort, wo es Kinder vermuten. Er beteiligte sich an Malwettbewerben von Nudelfabriken, Margarinekontoren und Dosenmilchfirmen und hoffte auf einen der Preise.« (GeA, 252) Gewonnen hat er jedoch nie, nicht einmal, wie es heißt, einen Trostpreis. Wie so häufig in Genazinos Texten folgt ein längeres Verharren bei einem Ding oder einem Wort, das auch ein Konzept sein kann – in der Textstelle eben der Trostpreis. Das Sinnieren über Trostpreise führt Abschaffel zu folgenden Gedanken: Abschaffel dachte über das Wort Trostpreis nach; er überlegte, warum er das Wort, als er Kind war, so gut verstanden hatte. Es bedeutete, daß alle, die nichts gewonnen hatten, das Gefühl haben sollten, sie hätten doch etwas gewonnen. Alle, die leer aus-

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gingen, sollten sich täuschen können. Und zugleich war ein Trostpreis auch noch eine Erfindung, um die anderen verstehen zu können, die wirklich etwas gewonnen hatten. (GeA, 252) So ist das Gefühl des Gewinns im Trostpreis immer mit Verlusterfahrungen verbunden. Nur: selbst der Trostpreis blieb in Abschaffels Kindheit aus, wie wir in einer unerwarteten Kehrtwendung in Abschaffels Gedankenstrom beziehungsweise seiner Erinnerung erfahren; selbst die Erinnerung an den Trostpreis ist Täuschung. Abschaffel hat in Wahrheit niemals an den Wettbewerben teilgenommen (vgl. GeA, 253). Trost, das zeigt dieses Beispiel, ist wie die Ware mit Illusion verbunden. Neben den bereits diskutierten Gegenbewegungen des Aufhaltens von Strömen, des Unterbrechens von Zirkulationsbewegungen, des Verweilens bei den Dingen, aber auch des Betrügens und des Experimentierens, alles Bewegungen also, die die Routine und Setzungen des Arbeitsalltags durchbrechen, sind es primär die Wunschträume Abschaffels, seine Phantasien, die ihn trösten. Der Konnex von Wunsch und Ware, dabei immer auch mitschwingend das Moment der Enttäuschung, findet sich auch in den Bordellepisoden des Romans. Das Bordell stellt für Michel Foucault eine Heterotopie dar, einen anderen Ort, einen Illusionsraum, der »den gesamten Realraum, alle Plazierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert.«214 Christian Schwarzenegger bezeichnet das Bordell als inszenierten Raum, der durchaus dem Warenhaus und der Mall ähnelt. Wie diese alltäglichen Einkaufsorte fungiert das Bordell als Erzählmaschine215 . Die Erzählung, die maßgeblich inszeniert wird, ist nach Schwarzenegger die der »erotischen Ich-Erzählung«216 . Eine Erzählung mit dem, meist männlichen, Bordell-Besucher als Hauptdarsteller.217 Wie im Kaufhaus oder in der Mall ist diese Erzählung jedoch an monetäre Mittel gebunden: »Die Voraussetzung für die Teilhabe an der erotischen IchErzählung ist allerdings die finanzielle Potenz: Wieder gilt im Bordell in besonderer Ausgeprägtheit, daß das Erlebnis an Geld gekoppelt ist.«218 Bereits Walter Benjamin, darauf weist auch Schwarzenegger hin, formulierte in seiner Passagenarbeit den Zusammenhang zwischen der Prostituierten und der Ware: »Die Liebe zur Prostituierten ist die Apotheose der Einfühlung in die Ware.«219 Dabei ist die Prostitution neben ihrer Gebundenheit an finanzielle Liquidität, das zeigen Martina Löw und Renate Ruhne in ihrer soziologischen Studie zu Prostitution in Abschaffels Wohn- und Arbeitsort Frankfurt a.M., auch stark verschränkt mit Vorstel-

214 Vgl. Foucault 1993a, 45. 215 Den Begriff übernimmt Schwarzenegger von Legnaro/Birenheide 2005, 41. Zur Mall als Erzählmaschine vgl. dort vor allem Kapitel 5 (39-45). 216 Schwarzenegger 2008, 150. 217 Schwarzenegger weist darauf hin, dass neben der Inszenierung von Sexualität vor der Matrix von Wünschen und Träumen das Bordell aber auch für andere Erzählungen steht – so nennt er in einer Fußnote »Ausbeutung, Frauenhandel, Zwangsprostitution, Kriminalität, organisiertes Verbrechen, Polizei(-skandale), Schlepperwesen und die komplexen Ausformungen politischer wie gesellschaftlicher Rahmenbedingungen dieser Mißstände« (vgl. Schwarzenegger 2008, 150, Fußnote 7). 218 Schwarzenegger 2008, 150. 219 Benjamin GS V.1, 637.

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lungen von Ordnung, von Reinheit und Hygiene.220 So kommt es in Abschaffel in den Bordellepisoden und Abschaffels Phantasien bezüglich Prostitution immer wieder zu Reinigungen.221 In seiner Wohnung am arbeitsfreien Sonntag onaniert, isst und badet Abschaffel und stellt sich fortlaufend schmutzige, gereinigte und erneut schmutzige Frauen vor (vgl. GeA 100-104). Danach macht er sich auf den Weg ins Bordell. Dort trifft er Dorothea, die zu aufgeregt gewesen war, um als Verkäuferin zu arbeiten und nur als Sexarbeiterin ihre Aufregung vergessen kann (vgl. GeA, 105-108). Die Episode ist von Intimität, aber auch von Scham und Versagensgefühlen geprägt. Nur unter großer Mühe kommt es zur Befriedigung Abschaffels. Nun liegt es allerdings weniger an der finanziellen, sondern eher an der fehlenden sexuellen Potenz Abschaffels, dass er nicht zum Hauptdarsteller der erotischen Ich-Erzählung taugt. Die Impotenz Abschaffels wird körperlicher Ausdruck der Enttäuschung, die so grundlegend sein Verhältnis zur Ware kennzeichnet. Eine Enttäuschung, die, wie gezeigt, häufig auch ein Moment der Täuschung beinhaltet.222 Das Besondere an der kontinuierlichen Enttäuschung, die sich mit der Ware verbindet, ist in den Romanen der Abschaffel-Trilogie, dass diese Enttäuschungen nicht unerzählt bleiben, sondern immer wieder Bestandteil, mitunter sogar Motoren des Erzählens sind. Auch außerhalb des Bordells, so erfahren wir, verbindet Abschaffel die Figur der Prostituierten mit Wunschträumen. Dabei ist es nicht sein Ziel, die Frau aus ihrem Status der Ware zu befreien, sondern sich selbst vor dem Verkauf seiner Zeit an die Firma zu bewahren: So stellt er sich eines Tages vor, dass er aufhören kann zu arbeiten, indem er sich von einer Prostituierten aushalten lässt (vgl. GeA, 303ff.). Im Dahinströmen der Arbeitsroutine wird dieser Traum zu einer Art Unterbrechung, fast zu einem Stillstehen der Zeit, das den Blick für die Dinge am Arbeitsplatz ähnlich öffnet, wie dies anhand der nichtfunktionierenden, nichtkooperierenden Dinge gezeigt wurde. Abschaffel blickt, mit seinem geplanten Abschied von der Arbeitsstelle im Hinterkopf, die er nunmehr seit seinem 18. Lebensjahr, also seit 13 Jahren täglich aufsucht (vgl. GeA, 184), anders auf diesen Ort und seine Tätigkeit. Dieses Anblicken zum scheinbar letzten Mal ist hierbei auch das von Flusser beschriebene Verfahren eines Anblickens, als ob er die Dinge zum ersten Mal sähe.223 Ein Verfahren, das nach Flusser die Gewöhnung an das gesehene Ding ausklammert, alle Erfahrung und Kenntnis außen vor lässt. Ein Blick also, der Details wahrnimmt. An seinem, wie er absurderweise tatsächlich glaubt, letzten Arbeitstag nimmt sich Abschaffels Blick besonders den unbedeutenden, den verlorenen Dingen an: Abschaffel langweilte sich wenig an seinem letzten Tag. Er sah alles wie zum letztenmal an. Aus Aufregung ging er in die Halle und zerstreute sich. Er untersuchte den

220 Vgl. Löw/Ruhne 2011, 151-176. 221 Diesen Konnex von Prostitution und Schmutz bzw. Reinigungsritualen führen Löw und Ruhne aus (vgl. Löw/Ruhne 2011, zur Rolle der kulturellen Muster von Reinheit und Unreinheit in Bezug auf Prostitution 159-167, zur Hygiene 167-176). Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4 dieser Arbeit, besonders die Interpretationen der Texte Rolf Dieter Brinkmanns. 222 So kommt es in einer Bordellepisode zu einer Simulation von Oralverkehr durch die Prostituierte (vgl. GeA, 79). 223 Vgl. Flusser 1993, 53 und Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

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Platz, wo ungeklärte Transportgüter abgestellt wurden. Meistens waren es fehlverladene Kisten und Kartons. Oder es waren Schadensfälle, um die sich die Transportversicherung kümmern mußte. Abschaffel stieg zwischen den Einzelstücken herum und war dabei gerührt. In der linken Hand hielt er den Kugelschreiber, dessen Mine er unablässig ein- und austickte, ohne den Kugelschreiber zu gebrauchen. Abschaffel bemerkte, daß er seine Arbeit spielte, aber er glaubte sich auch seine gespielten Bewegungen. Er verstand die Rührung nicht, die ihn zwischen den Kisten umfing. Kam sie daher, weil die Langeweile ganz ernsthaft wurde, oder daher, weil er sich unbegreiflicherweise verabschieden wollte? (GeA, 309) Durch den Plan, sich von einer Prostituierten versorgen zu lassen, versucht er, sich selbst zu retten und sich vielleicht auch mit der Ware zu versöhnen. Der Plan misslingt jedoch: Beim ersten Versuch scheitert Abschaffel an seiner Aufregung (vgl. GeA, 312f.), beim zweiten Versuch fühlt er sich von der Prostituierten belogen und flüchtet nach der freudlosen manuellen Stimulation (vgl. GeA, 322f.). Die Verachtung für die Prostituierte, die sich Tamara nennt, ist hier besonders offensichtlich; Abschaffel denkt nach der Flucht aus dem Bordell an sie als »Drecksnutte« (GeA, 323). Im Motiv der Prostitution manifestieren sich im Roman viele Themen, die bereits in Bezug auf die Ware, aber auch in Bezug auf Abfälle diskutiert wurden: Die Ambivalenz von Wünschen, die Sehnsucht nach Reinigung, aber auch nach Schmutz, das Oszillieren zwischen Anziehung und Abscheu. Zugleich findet sich, dies wird in Abschaffels Verhältnis zu anderen Frauen deutlich, keine grundsätzliche Empathie oder Solidarität mit Frauen. Sie bleiben Fremde. Besonders die Prostituierten bleiben isoliert an anderen, an heterotopischen Orten. An Orten, die zwar eine Beziehung zur Restgesellschaft aufweisen, die sich jedoch nicht mit der Welt außerhalb vermischen. Andrea Bartl zeichnet in ihrem Aufsatz zu Begegnungen mit Fremden und, im Besonderen, Fremdheit in ausgewählten Texten Genazinos die Ambivalenzen des Protagonisten nach. Ihr Fazit: Das Verhältnis zu Fremden und Fremdem befindet sich im Roman oftmals auf der Kippe. So ist, wie bereits angedeutet, das Gewährenlassen, das Seinlassen in Bezug auf Dinge weitaus häufiger in den Texten Genazinos anzutreffen, als sich diese Bewegung in Bezug auf Menschen feststellen lässt. Während Honold Genazinos Texten eine Menschenfreundlichkeit attestiert,224 zeigt Andrea Bartl, dass es immer wieder zu Abwehrhaltungen gegen das Fremde bzw. die Fremden kommen kann: Die Menschenfreundlichkeit von Genazinos Protagonisten kann mal in die eine, mal in die andere Richtung pendeln, gar in Verachtung oder Abscheu abkippen.225 Wenn Jonas Fansa zum Aspekt der Konsumkritik in Genazinos Texten schreibt, sie finde »Ausdruck in der Solidarität mit den Armen und Ausgestoßenen, in der Verhöhnung des marktwirtschaftlichen Apparates und seiner Teilnehmer und in Form der Außenperspektive, die stets Teil der Ich-Erzählernaturen ist. Sie sind entweder momentweise gar nicht Teilnehmer des Konsums oder aber thematisieren ihre Teilnahme am Konsum mit Distanz und Skepsis«226 , dann blendet dieses Fazit die Ambivalenzen der Texte

224 Vgl. Honold 2011, 35. 225 Vgl. Bartl 2011, 71. 226 Fansa 2008, 46.

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aus. Dinge und Menschen bleiben, wie gezeigt, Abschaffel fremd.227 Diese Fremdheit macht auch vor der eigenen Person nicht halt. Das Motiv des Scheiterns und der inneren Abfallnähe wird am deutlichsten in einer Passage, die Bezüge zu Kafkas Erzählung Die Verwandlung228 herstellt. Während im ersten Buch, das als Motto auch mit einem Satz aus Kafkas Briefen (»Die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Tier«, (GeA, [7, ohne Paginierung]) überschrieben ist,229 Abschaffel anlässlich einer Zugfahrt zu seinen Eltern nach Mannheim sich in die Lektüre von Kafkas Erzählungen, vor allem Die Verwandlung vertieft (»Er kaufte sämtliche Erzählungen von Franz Kafka in einer billigen Taschenbuchausgabe (Fischer Bücherei Nr. 1078); einige dieser Erzählungen hatte er früher schon einmal gelesen, aber es war schon lange her, und er konnte sich kaum erinnern.« (GeA, 62)), kommt es im dritten Buch der Trilogie zu auffälligen Verbindungen zwischen Abschaffel und Gregor Samsa. Abschaffel kann sich, ähnlich wie Gregor, eines Morgens nicht mehr aus dem Bett bewegen. Während es sich in Gregors Fall um die Verwandlung in ein Untier, einen Käfer handelt, wird auch bei Abschaffel eine Verwandlung festgestellt. Der Arzt diagnostiziert eine Rückenverkrümmung, die gemeinhin eher bei älteren Menschen festgestellt wird, auf dem Heimweg grübelt Abschaffel: Seinetwegen konnten die Ärzte alles mögliche feststellen, er blieb in Imbißstuben stehen und sah auf die Straße hinaus. Er hatte das Gefühl, als verabschiedete er sich von seinem Körper. Er hatte das Vertrauen in ihn endgültig verloren. Einen Frauenrücken hatte er schon. Konnte nicht übermorgen ein Arzt behaupten, er hätte die klassischen Hundebeine? Und dann behauptete ein anderer Arzt, er bekäme die hohen Klappaugen eines Krokodils? Und wäre er dann endgültig ein Tier, das auf dem Boden einer Imbißstube herumrutscht und auf herunterfallende Speisereste wartet? Das alles ließ sich nur ertragen, indem Abschaffel die weitere Zugehörigkeit seines Körpers zu ihm selbst leugnete. (GeA, 383) Abschaffel wird über Nacht zum Arbeitsunfähigen, da durch eine für sein Alter untypische Rückenversteifung die Arbeitstauglichkeit eingeschränkt ist, die Verletzung die Büroarbeit temporär unmöglich macht. Abschaffel muss in ein Sanatorium. Was an dieser Stelle interessiert, ist die Parallele zwischen beiden Figuren hinsichtlich ihrer Untauglichkeit im ökonomischen Sinn.

227 Bartl unterscheidet drei Kategorien des Fremden in Genazinos Texten, die sich auch in Abschaffel finden: 1) Das ethnisch und bzw. oder kulturell Fremde, dazu zählt Bartl etwa sogenannte ›Gastarbeiter‹ oder Migrantinnen und Migranten, 2) das Fremde der Generationen wie Rentner oder, so möchte man ergänzen, in Genazinos Texten häufig abfallnahe Kinder und 3) das Fremde der psychisch Kranken. Dabei oszilliere Abschaffel selbst, wie Bartl herausarbeitet, zwischen Normbereich und pathologischem Bereich, der besonders im Zusammenhang mit Abschaffels Aufenthalt im Sanatorium zumindest zeitweise in den Mittelpunkt des Erzählens rückt (vgl. Bartl 2011, 71). Eine weitere Kategorie möchte ich ergänzen, nämlich die schon zuvor beschriebene 4) Fremdheit der Dinge. 228 Vgl. Kafka 1994a. 229 Der Satz stammt aus einem Brief Kafkas an Hedwig Weiler aus dem Jahr 1907 (vgl. Kafka 1999, 72). Im Original: »[D]ie Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Thier.« (Kafka 1999, 72)

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Kafkas Erzählung Die Verwandlung zeichnet einen Verfallsprozess nach, der in Tod bzw. Vernichtung endet.230 Abschaffel jedoch befindet sich immer noch in einer Warteposition. In der reglementierten Welt des Sanatoriums kommt es, ähnlich wie bei den bereits diskutierten Ladendiebstählen, zu Akten der Verweigerung und des NichtEinverstandenseins. Beispielhaft der, von Abschaffel so bezeichnete, »Schmutzangriff« (GeA, 530) gegen seinen Analytiker Dr. Buddenberg. Im Therapiegespräch widmet Abschaffel seine Aufmerksamkeit dem Schmutz unter seinem Fingernagel: Es war ihm eine ganze Menge krümeliger Ablagerungen und Wollfusselzeug unter die Fingernägel gekommen, und er beschloß, mit diesen schmutzigen Fingernägeln später zu Dr. Buddenberg zu gehen. Er wollte ihm zeigen, daß er sich darüber ärgerte, noch einmal bei ihm erscheinen zu müssen. Am Spätnachmittag, als er wie üblich bei Dr. Buddenberg im Patientensessel saß, legte er auffällig die Hände mit seinen schmutzigen Fingernägeln auf die Lehnen. Aber Dr. Buddenberg schien sich nicht daran zu stören. Es war noch nicht einmal sicher, ob er den Schmutzangriff überhaupt bemerkt hatte. (GeA, 530) Der Abfall des Alltags, den er in Miniaturform als das von seinem Mantel Abgefallene sammelt, wird gerettet. Als Zeichen der Zeit bleibt er erhalten. Zugleich verwendet ihn Abschaffel als Protest gegen das Ordnungsregime des Sanatoriums. Eine Ästhetisierung findet nicht statt, Schmutz bleibt Schmutz. Andere Dinge schaffen Verbindungen zwischen den Bänden der Trilogie. So begegnet uns im dritten Band noch einmal das fettige Kissen, das Abschaffel im zweiten Band so beschäftigte: Ein glücklicher Einfall half Abschaffel, das Wiedersehen mit seiner Wohnung erträglich zu gestalten. Als er sein Zimmer nach sechs Wochen zum erstenmal wiedersah, fiel sein Blick zuerst auf das fettige Kissen, über dessen Anblick er sich schon seit etwa eineinhalb Jahren ärgerte. Und im Augenblick des Wiedersehens fiel ihm der Entschluß, das Kissen sofort wegzuwerfen, sonderbar leicht. (GeA, 551) Die Umsetzung dieses Entschlusses gestaltet sich weitaus komplizierter, weil Abschaffel nicht beim Akt des Wegwerfens gesehen werden möchte (»Noch ehe er seine Koffer auspackte und den Mantel ablegte, trug er das alte Kissen in einer Plastiktüte aus der Wohnung. Er wollte es nicht in eine Mülltonne werfen, weil er vermeiden wollte, daß sich Hausbewohner Gedanken darüber machten, wer es wohl war, der ein so schönes Kissen einfach zum Müll gab.« (GeA, 551)). Das Kissen führt Abschaffel in die Stadt (»Abschaffel lief eine Weile in seiner Gegend umher und überlegte, wo er das Kissen lassen sollte« (GeA, 551)) und zu einem Container: Da erblickte Abschaffel an einer Ecke einen großen, eisernen Müllcontainer. der zur Hälfte mit Bauschutt gefüllt war. Der Container stand vor einem Altbau; Arbeiter gingen aus dem Haus ein und aus und schleppten alte Türrahmen, verrottete Bodenbeläge und zerbrochene Glasscheiben heraus und warfen alles in den Müllcontainer. In die-

230 Vgl. hierzu auch Gehrlein 2005, 53-57.

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sem Container ließ Abschaffel sein altes Kissen verschwinden. Als er das Ding endlich los war, atmete er beinahe auf. (GeA, 552) Das Kissen ist damit endgültig entsorgt, endgültig verloren. Ein Recycling des Kissens scheint, da ein Bauschuttcontainer Ort der (Zwischen-)Lagerung ist, unwahrscheinlich. Der Hinweis auf Bauschutt ist auch eine Erinnerung daran, dass nicht Siedlungsabfälle, sondern Bauabfälle die größte Menge an Müll ausmachen. Dies bleibt unerzählt, mit der individuellen Entsorgungshandlung endet das Erzählen, die Verbindungen brechen ab. Nachdem er einige Zeit in der Klinik verbracht hat, kehrt Abschaffel am Ende des dritten Bandes wieder in die Stadt zurück. Bemerkenswert ist seine Gier auf die Stadt: »Am liebsten wollte er alles zugleich sehen, die Kaufhäuser, die Unterführungen, die Brücken, das Hauptpostamt, die Rolltreppen, die Börse, die Cafeterias, die ImbißStuben, natürlich das Woolworth, nach dem er sich in Sattlach sogar einmal gesehnt hatte. Mit irgend etwas mußte er anfangen, und so lief in das erstbeste Kaufhaus.« (GeA, 559) Es kommt zum oben geschilderten Rasierpinselkauf. In dieser Episode kommt erneut die ambivalente Beziehung Abschaffels zum Konsum zum Tragen. In der Textpassage gegen Ende des Romans ist Konsum ein Akt der Beruhigung, der Entscheidung gegen den Mangel und das eigene Verschwinden. Die Fahrt mit der Rolltreppe durch das Kaufhaus ist störungsfrei: »Wie schön und besänftigend war es, im System der Rolltreppen stehend nach oben zu fahren und mit dem Blick von unten langsam in die Stockwerke zu gleiten. Tatsächlich: Im vierten Stock erwarteten ihn Dutzende von eingeschalteten Fernsehapparaten!« (GeA, 559) Dieses Mal wird die Aneignung der Dinge durch Konsum als durchaus positiv und hoffnungsvoll betrachtet (vgl. GeA, 561). Noch einmal zurück zu Kafkas Die Verwandlung, diesem für Abschaffel so wichtigen Intertext. Während Gregor Samsa am Ende von Kafkas Erzählung nicht überlebt, ist das Ende der Abschaffel-Trilogie weitaus unklarer. Anja Hirsch stellt in ihrer Interpretation der Abschaffel-Texte die These auf, dass auch Abschaffel geopfert wird, ohne allerdings explizit auf Kafka Bezug zu nehmen: »Um den Wahnsinn einer oberflächlich funktionierenden, im Grunde aber desaströsen Gesellschaft zu zeigen, muss die Figur geopfert werden. Das Opfer […] steht bereits vor Beginn der Trilogie fest.«231 Das Ende der Trilogie interpretiert sie so auch als Rettung der Figur Abschaffel durch eine Opferung all dessen, was sie ausgemacht hat. Nur weil sich diese anpasst und quasi stirbt, den Preis zahlt einer »Aufgabe der authentischen Emotionen: Zorn, Wut, Trauer«232 , wird sie gerettet. Joseph Vogl hingegen offeriert mit seiner Konzeption des Zauderns eine andere Lesart. Wenn Zaudern mit Vogl als Verschieben von Endgültigkeit betrachtet wird, dann wird besonders die Möglichkeit zur Revision bedeutsam: »In ihm [dem Zaudern, CHG] artikuliert sich ein komplizierender Sinn, der weniger die Antworten zu den Fragen und die Lösungen zu den Problemen sucht, sondern unterstellt, dass in den gegebenen Antworten und Lösungen unerledigte Fragen und Probleme weiterhin insistieren. Man

231 Hirsch 2006, 44, Hervorhebung dort. 232 Hirsch 2006, 44.

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ist von Lösungen umstellt und findet die dazugehörigen Probleme nicht unbedingt.«233 Zaudernd ist so auch der Schluss des dritten Teils der Trilogie: »Das Wasser kochte, und Abschaffel brühte den Kaffee auf. Er setzte sich an den Tisch im Zimmer und sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich entschied er sein Verhalten erst am Montagmorgen an Ort und Stelle. Das paßte ihm zwar nicht, aber er konnte es nicht ändern.« (GeA, 572)234 Welche Konsequenzen hat das Zaudern in Bezug auf Abfall? Anders gefragt: Ist solch eine Bewegung des Zauderns abfallverhindernd? Durchaus: Verzögerungen, die dazu führen, länger bei den Dingen zu verweilen, können dazu führen, von Wegwerfentscheidungen wieder Abstand zu nehmen. Dennoch zeigen die diskutierten Textpassagen auch, dass Wegwerfbewegungen und Verwerfungen regelmäßig vollzogen werden. Abschaffel ist keine Figur des Beharrens. Dieses Zaudern, das in Abschaffel eine charakteristische Eigenschaft besonders der Hauptfigur ist, kann von der Figur Abschaffel ausgeweitet werden auf das gesamte Erzählen: Vogl folgend könnte die Abschaffel-Trilogie als Zaudertext gelesen werden. Ein Text, der von Möglichkeiten erzählt, auch wenn sie nicht genutzt werden. Zugleich erzählt Abschaffel davon, wie auch diese Möglichkeiten mit Abfällen und Verwerfungen verbunden sein können. Das Zaudererzählen, das auch als aufschiebendes Erzählen bezeichnet werden kann, schließt ein, dass in diesem Erzählen Nichterzählen zentral ist, es zu Leerstellen und Abbrüchen kommt, besonders im Zusammenhang mit Abfällen. Gerade im Zaudern, im aufschiebenden Erzählen zeigt sich zugleich die Ding- und Abfallnähe.

3.5.1.2 Die Liebesblödigkeit Die an vielen Textstellen in Abschaffel anklingenden Themen, die in der vorausgegangenen Interpretation diskutiert wurden – Wegwerfwiderwille, die veränderte Beziehung zwischen Menschen und Dingen inklusive der komplizierten Beziehung zur Ware sowie eine generelle Haltung des Zauderns, der Distanz bis hin zur Verweigerung – kommen ebenfalls, in manchen Passagen weitaus expliziter als in Abschaffel, zur Sprache in einem jüngeren Roman Genazinos, der fast 30 Jahre nach dem ersten Band der Abschaffel-Trilogie erschien: Die Liebesblödigkeit (2005).235 Bereits auf der ersten Seite von Die Liebesblödigkeit finden sich die beiden so wichtigen Motive der Störung und des Stillstands. In dieser Textpassage scheint sich aber die Rolltreppe, sonst Garantin für reibungsloses Dahingleiten in Warenhäusern und shopping malls, gegen eine Störung zu wehren, so zumindest der Eindruck des Ich-Erzählers und Protagonisten: Zwei Halbwüchsige springen mehrmals auf die untere Plattform einer Rolltreppe, um sie zum Stillstand zu bringen. Aber die Rolltreppe leistet Widerstand und bleibt nicht stehen. Die beiden Jungen verhöhnen dafür die Rolltreppe und ziehen dann weiter. (GeL, 7) 233 Vogl 2008, 109. 234 Honold 2011 liest diese Textstelle als Ausdruck einer, wie er formuliert, »Vorläufigkeit Abschaffels« (Honold 2011, 44). 235 Vgl. Genazino 2005, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle GeL und Seitenzahl zitiert.

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Das Bild wird komplettiert durch eine »offenbar verwirrte« Frau, die drei halbvolle Mülltonnen umwirft und sie danach wieder aufstellt. Eine junge Mutter wischt einem Kleinkind mit angefeuchtetem Finger einen braunen Fleck von der Wange (vgl. GeL, 7). Das sich im Romanbeginn in komprimierter Form ausbreitende Oszillieren zwischen Zerstörung und Erhaltung, zwischen Reinigung und der Anwesenheit von Abfall, zwischen Dahingleiten und Widerstehen durchzieht den gesamten Roman. In den 30 Jahren, die zwischen dem ersten Abschaffel-Band und diesem Text liegen, kommt es in der außerliterarischen Realität in Bezug auf Abfall zu weitreichenden Veränderungen: War damals die Deponierung die weitverbreitetste Umgangsform mit Haushaltsabfällen, ist es heute die Müllverbrennung bzw. der Versuch des Recyclings. Was sich nicht verändert hat, das legt der Roman Die Liebesblödigkeit nahe, ist der sorglose, der schonungslose Umgang mit den Dingen. Die Verflüchtigungstendenzen, die Zygmunt Bauman in den Fokus seiner Forschung gerückt hat, finden sich auch in Die Liebesblödigkeit. Der Protagonist ist nicht wie Abschaffel Angestellter einer Firma, sondern arbeitet selbstständig, ein typischer Beschäftigungsstatus in der flüchtigen Moderne.236 Dabei ist die von ihm ausgeübte Tätigkeit wunderlich237 und korrespondiert zugleich mit unterschiedlichen Themensträngen im Roman – der Protagonist reist zu Seminaren und hält Vorträge über die Apokalypse, ist freischaffender Apokalyptiker: Ich lebe von Vorträgen, Kolloquien, Tagungen und Essays in Fachzeitschriften. In Hotels veranstalte ich sogenannte Seminare und beeindrucke die Leute mit meinen erstaunlichen Vorhersagen. Ich muß sofort präzisieren: Ich bin kein Universalapokalyptiker, sondern ein Zivilisationsapokalyptiker, das heißt, ich bin kein Fundamentalist, sondern ein Fortschrittsrevisionist, ein Besinnungskonservativer. (GeL, 25) Während seiner Vorträge, die er weitestgehend vor akademischem Publikum hält, beschäftigt er sich auch mit den zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen Auswirkungen eines beschleunigten Ge- und Verbrauchs von Dingen (»Ich beschäftige mich mehr mit einer absehbar gewordenen Zivilisationsapokalypse, das heißt mit Deformationen, die unscheinbar in unser Leben eindringen und uns allmählich die Luft abdrücken.« (GeL, 26)). So ist eines der Seminarthemen, die im Roman ausführlich zur Sprache kommen, die Folge einer zunehmenden Quantität von Technik, die zugleich eine Abnahme ihrer 236 So erzählt der Roman auch implizit von einer Furcht, die viele in ähnlichen Umständen arbeitenden Menschen beschäftigt: Die Angst vor Armut und die Aussicht auf unzureichende Versorgung im Alter. Hier kommt es zu einer Darstellung von Abfälligkeit gerade durch das Angewiesensein auf die Abfälle anderer Menschen: »Seit Jahren sehe ich einen Frührentner, der mit einer langen Kneifzange in die Öffnungen der Glascontainer hineingreift und nach Flaschen sucht, die er als Pfandflaschen wieder verkaufen kann. Er ist ein einsamer, geringfügig verkommener Mann, der sich nicht (mehr) dafür interessiert, daß eine schräge Erscheinung aus ihm geworden ist und weiter wird (zu kleiner Hut, zu weite Hosen, zu ungepflegtes Haar).« (GeL, 175) 237 Den Berufen bei Genazino widmet sich Jonas Fansa, der neben dem bereits erwähnten freischaffenden Apokalyptiker und der Staubforscherin auch den Schuhtester näher in den Blick nimmt (vgl. Fansa 2008, 44-61 und 68-75). Alexandra Pontzen erkennt gerade in diesen Figuren eine Verbindung »[s]pätkapitalistischer Realsatire und poetischer Chiffrierung« (Pontzen 2009, 234) und liest sie als Ausdruck einer »erzählerische[n] Zurichtung, die aus potenziellen Handlungsträgern Wahrnehmungsdispositive« (Pontzen 2009, 234) mache.

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Qualität mit sich bringe. Die Welt werde zu einer Welt der nicht mehr funktionierenden und entsorgten oder zu entsorgenden Geräte. Eine, gleichwohl durch den Beruf des Apokalyptikers ironisierte Feststellung, die in ihrer Tragweite und Eindringlichkeit auffällig an die gegenwartskritischen Diagnosen Günther Andersʼ erinnert, die sich vor allem in seinen beiden Bänden Die Antiquiertheit des Menschen, besonders im zweiten Band, finden.238 Bei Genazino heißt es: In den meisten der modernen Geräte, sage ich jetzt, geht nach einiger Zeit entweder die Mechanik oder der Motor oder die Elektronik kaputt. Es ist zu aufwendig, die Mechanik, den Motor oder die Elektronik zu reparieren, sage ich, auch sind die Leute, die die Reparaturen ausführen könnten, inzwischen gestorben, und die nachgewachsenen Mechaniker können immer nur die allerneuesten Geräte reparieren, nicht aber die etwas älteren kaputten. Zurück bleibt ein Riesenfriedhof von kleinen Technikruinen! sage ich. (GeL, 75f.)239 In Die Liebesblödigkeit ist das, wie es heißt, »Ruinwort Automatic« (GeL, 76) eine Ankündigung der Müllwerdung von Dingen: »Das Müllankündigungswort heißt Automatic, mit c geschrieben, damit es global Schaden anrichten kann. Denn überall, wo wir das Wort Automatic lesen, sage ich, müssen wir uns einen Müllplatz dazudenken. Das Ruinwort Automatic kündigt ihn an!« (GeL, 76) Wenn auch die Tätigkeit im Roman mit Distanz betrachtet wird, die mitunter ins Ironische kippt, und auch wenn an einigen Textstellen nicht ganz klar ist, ob der Protagonist tatsächlich an die von ihm im Rahmen seiner Vorträge präsentierten Thesen glaubt, oder ob er lediglich erkannt hat, dass sein Publikum bereit ist, für solche Themen zu bezahlen, gibt es im Text etliche Hinweise, dass die Vortragsthemen des Apokalypse-Experten doch eine private Relevanz haben. So ist der Haushalt des Protagonisten, wie es heißt, weitestgehend »gerätefrei« (GeL, 114). Weitere Themen sind die für Genazinos Figuren typischen Motive wie die grundlegende Unentschlossenheit eines mittelmäßigen Lebens: der Protagonist muss sich, so glaubt er, zwischen seinen Geliebten, der Klavierlehrerin Judith und der Sekretärin Sandra, entscheiden. Zugleich durchzieht den Roman die bereits angedeutete Existenz unter prekären Arbeitsbedingungen und die, damit zusammenhängende, Angst vor Alter und der eigenen Auflösung, vor dem Verfall, vor Krankheit und Tod.240 Die Dinge sind eng verknüpft mit dem Leben. Eine Angst vor Abfall scheint eine Angst vor dem eigenen Tod zu sein, vor dem Moment, an dem das Leben endet und vieles, was Alltagsbedeutung hat, zu Abfall wird: Ich schaue in meinem Arbeitszimmer umher und sehe die wirren Anhäufungen von Briefen, Katalogen, Broschüren, Programmen, Protokollen, Zeitschriften und Zei-

238 Vgl. Anders 1980. 239 Zu Technikruinen vgl. Hamm/Steinberg 1984 sowie Kapitel 4 dieser Arbeit. 240 Vgl. zur Angst vor Krankheiten etwa GeL, 46, zur Angst vor dem Auflösen der Lust und Auswirkungen auf die Sexualität vgl. GeL, 100f. So formuliert der Protagonist anlässlich eines verfrühten Samenergusses: »Wenn mir derartige Zwischenfälle künftig öfter zustoßen, werde ich mich damit abfinden müssen, daß mein Körper seine Lust allmählich selber auflöst.« (GeL, 101)

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tungsausschnitten, die ich nur noch selten ordne. Das alles wird weggeworfen werden müssen, wenn du tot bist! (GeL, 46f.) Das Festhalten an den Dingen ist so auch ein Ideal, das jedoch, das legt der Text nahe, in dieser Gesellschaft nur schwer erreicht werden kann. Auch der Protagonist wird diesem Ideal nicht wirklich gerecht: Obgleich er an den Dingen hängt, ist er offensichtlich zu Dingbewahrungsarbeiten nicht in der Lage. So gibt er seiner Geliebten Socken zum Stopfen.241 Die Ware, hier finden sich Verbindungen zu Abschaffel, lockt zwar, wird aber in Die Liebesblödigkeit weitaus negativer geschildert. So erfahren wir, dass der Protagonist an einer von ihm selbst so bezeichneten »Konsum-Depression« leidet: Es ist schon eine Weile her, daß plötzlich die Schallplattenspieler und die Schallplatten verschwanden und durch CD-Player und CDs ersetzt wurden. Es war, als würde mir zur Unzeit etwas Liebgewordenes weggenommen werden. Noch dazu fühlte ich in der Auswechslung der Waren die Aufforderung, mit den weggeschafften Schallplatten am besten gleich selbst zu verschwinden. Ich verschwand damals nicht, ich widersetzte mich und wurde dabei vermutlich ein bißchen seltsam. (GeL, 125) Das sorglose Entsorgen von Dingen, noch dazu von der Industrie forciert, erfordert Verweigerung, Widerstand. Grundsätzlich herrscht eine Fremdheit zwischen dem Protagonisten und den Dingen, wie es an einer Textstelle anlässlich der Betrachtung des Schaufensters einer Badezimmer-Boutique heißt und in der Selbstanklage endet: »Du wünschst dir nicht genug, du kaufst nicht schnell genug und du wirfst nicht schnell genug weg! Immer wieder brechen lange Konsumstockungen in dein Leben ein und trennen dich vom Denken der Mehrheit!« (GeL, 153) Diese Verweigerungshaltung, diese Konsumstockung, die der Protagonist verkörpert, manifestiert sich auch in dessen Abneigung gegen Massentourismus, festgemacht am Mallorca-Urlaub seiner Freundin Judith. Die am Flughafen wartenden, bunte Freizeitkleidung tragenden Urlauber bezeichnet er als »eine öffentlich wiedererkennbare Massenkarikatur« (GeL, 118)242 . Ebenso finden sich, hier eingebettet in die Vortragstätigkeit des Protagonisten, kritische Bemerkungen zur Unterhaltungsindustrie und zum Fernsehen, die, hier aber sichtlich ironisiert, auch den Aspekt permanenter Massenunterhaltung im Faschismus aufgreifen (vgl. GeL, 47).243 Neben dem Leben des Protagonisten, das je nach Auftragslage zwischen erfolgreichen und armutsähnlichen Zuständen changiert, werden auch andere

241 Das korreliert mit der Beobachtung, dass sowohl Bewahrungs- als auch Entsorgungsarbeit nach wie vor weiblich konnotiert ist (vgl. hierzu Silberzahn-Jandt 2000, besonders 111f.). Auch in Abschaffel ist es, wie wir aus den Erinnerungen Abschaffels erfahren, der sich auf dem Weg zu seinen Eltern befindet und dessen Kafka-Lektüre vergangene Familienabende vergegenwärtigt, die Mutter, die stopfend neben dem schlafenden Vater sitzt. Es ist der Vater, der sich, wie wir ebenfalls an etlichen Textstellen aus der Erinnerung Abschaffels erfahren, gegen das Wegwerfen wehrt (vgl. GeA, 64). 242 Zum Tourismus vgl. auch Kapitel 4.1 und 4.3.3 dieser Arbeit. 243 Hier finden sich erkennbare Anklänge an die Dialektik der Aufklärung (vgl. Horkheimer/Adorno 1972, besonders das Kulturindustrie-Kapitel, 128-176). Ebenfalls lassen sich Verbindungen zu den massenkritischen Überlegungen Günther Andersʼ herstellen, etwa zum Fernsehen (vgl. hierzu Anders 1994, 98-211).

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Lebenswege im Roman als gescheiterte gezeigt: Ausgerechnet in eine Versicherung244 führte es den Hegel-Experten Henschel, der bei Habermas promovieren wollte und nun schon seit zwanzig Jahren in der Humanitas-Versicherung Akten bearbeitet, weil er sich verzettelte, die Promotion und schließlich gar das unabgeschlossene Philosophiestudium abbrach (vgl. GeL 154). Das Thema Abfall im Zusammenhang mit der Ware, dem Konsum kommt noch einmal gegen Ende des Romans zur Sprache, wenn der Protagonist einen Insolvenzverkauf passiert.245 Was geschieht mit Dingen, die, wie oben im Rahmen eines Vortrags des Apokalyptikers, mit dem Müllankündigungswort »Automatic« versehen, auf ihre Rettung durch den Kauf warten, dann aber durch ihre eigene Logik vom begehrenswerten Ding zum vernachlässigten Ding werden? Der geordneten Warenpräsentation eines intakten Ladengeschäfts beraubt, treten die Dinge hervor: Ich sehe ein großes Geschäft, auf dessen Schaufenstern zweimal das Wort INSOLVENZVERKAUF aufgesprüht ist. Verkauft werden Gartenleuchten, Gummischuhe, Espressomaschinen, Motorradhelme, Alustühle, Hochdruckreiniger, Staubsauger. Ich wundere mich, daß auch stark reduzierte Preise die Waren nicht begehrlicher machen. Im Gegenteil, es hebt die Stimmung, an immer schwerer verkäuflichen Gegenständen vorüber zu gehen. Sogar meine Flauheit läßt nach, weil ich sie an überflüssigen Gummischuhen und Espressomaschinen vorbeiführe. (GeL, 176, Hervorhebung dort) Besonders in den Reinigungsgeräten, dem Hochdruckreiniger und dem Staubsauger fallen der Kampf gegen Verfall – noch sind die Warendinge da, können erworben werden und dann gegen die Verstaubung des Lebens arbeiten – und der schon begonnene Verfall der Dinge zusammen.246 Den Protagonisten versetzt das Schaufenster in eine heitere Stimmung. Zugleich befindet er selbst sich in einem Konflikt zwischen einem Ankämpfen gegen den Verfall und einer gleichzeitigen Anerkennung der Verfallsbewegung. In einer Therapiestunde bei Panikberater Dr. Ostwald erhält er die Aufgabe, von oben auf die Stadt zu blicken (vgl. GeL, 182). Die Distanz, die Verrückung, die auch die Dinge im Moment des Verfalls erfahren, öffnet den Blick für Details. So entdeckt der Protagonist ein spielendes Kind, in dem er Unbeschwertheit und Vertrauen in die Zeit und die eigene Unendlichkeit erkennt (vgl. GeL, 183). Diese Unendlichkeit – der Menschen und der Dinge – ist dennoch eine Illusion. Als weitere Therapieaufgabe soll er gegen Ende des Romans Dinge entsorgen und dabei zusehen, wie »etwas von Ihnen verschwindet« (GeL, 189). Die Episode legt nahe, dass das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit auch durch Akte des Entsorgens entschärft werden kann. So entsorgt er einen Koffer mit Kleidung und beobachtet zunächst, wie Krähen sich die Abfälle aneignen (vgl. GeL, 191f.). Zuletzt nimmt ein Mann den Koffer mit. In einer Wiederholung des Kofferexperiments nimmt ein Fremder die Kleidung an sich und läuft in der Jacke des Protagonisten herum (vgl. GeL, 198f.). Die Kofferdinge befinden sich in diesen Passa-

244 Zur Rolle der Versicherung im Schreiben Kafkas und Bölls vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 245 Zu den Transformationen, die eine Insolvenz für die Dingwelt mit sich bringt, vgl. Ludwig 2006. Ausführlicher zur Insolvenz, zum wirtschaftlichen Ruin vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit, besonders 4.3. 246 Zu Staub als Index von Zeit vgl. Wagner 2013.

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gen, ganz ähnlich den Warendingen im Insolvenzverkauf, auf der Kippe zwischen Bewahrung, Recycling und Löschung. In den letzten Seiten des Romans kommt es zu Bewahrungen. Ähnlich wie die Vorträge des Protagonisten sind die Handlungen leicht komisch, mitunter ironisiert gezeichnet, es offenbart sich jedoch ebenfalls Hilflosigkeit ihn ihnen. Etwa in einer Passage, in der der Protagonist in einem Restaurant einem fremden Mann Spaghetti anbietet, damit diese kein Abfall werden (vgl. GeL, 200). Diese Hilflosigkeit manifestiert sich auch im Romantitel. Oliver Jahraus zitiert zur titelgebenden Blödigkeit eine Studie von Georg Stanitzek über den Begriff im 18. Jahrhundert und zeigt: »Blödigkeit meint damit eine Dislozierung und Deterritorialisierung des Subjekts, sowohl in psychischer als auch in sozialer Hinsicht, und eine grundlegende Orientierungslosigkeit des Menschen.«247 . Während sich Jahraus auf die Liebesthematik beschränkt, lässt sich diese Orientierungslosigkeit, das hat die Analyse gezeigt, als grundlegend verstehen. Die in weiten Teilen des Romans erzählte Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit wird im tableauartigen Schluss abgelöst von einer Akzeptanz der eigenen Mittelmäßigkeit und Belanglosigkeit. Eine Belanglosigkeit, die dennoch utopische Momente aufweist, da sich hier verschiedenste Menschen im öffentlichen Raum versammeln: Am Flußufer spielt eine abgehalfterte Popgruppe auf einer Bühne. Um die Bühne herum sind ein paar Holzbänke, Tische und Sonnenschirme aufgebaut, außerdem eine Pommesbude und ein Bierausschank. Die Stadtverwaltung nennt dieses jährlich im Sommer wiederkehrende Angebot ein »Kulturprogramm für Daheimgebliebene«. Einzelne vereinsamte Kinder und Männer mit Biergläsern in der Hand suchen sich einen Platz unter den Sonnenschirmen. Ein paar Rentner wanken herbei und lassen sich stöhnend auf die Bänke sinken. Eine Handvoll Obdachlose kommen mit ihren verwahrlosten Frauen und Hunden dazu. (GeL, 202f.)248 Die sich versammelnden Daheimgebliebenen sind so auch eben die ›Überflüssigen‹, die zuvor in den Blick genommen wurden. Ob ihre individuelle Nichtpartizipation am Konsum zu einem Akt der Solidarität führt, bleibt offen. Wenn nicht von Solidarität, dann erzählt dieser Schluss doch von einem Seinlassen249 . Dies schließt auch eine immer noch festzustellende Verweigerungshaltung ein, symbolisiert im Fortschrittslärm, der übertönt wird: »Es entsteht ein Bild wie nach der Apokalypse« heißt es, und weiter: »Die Überlebenden müssen beruhigt werden. Ich gehöre zu ihnen, ich lehne mich gegen einen Baum. Die Musik ist laut und mittelmäßig, aber die Leute sind froh, daß es außer dem Verkehrslärm, den Polizeisirenen und dem Gedröhn der Flugzeuge noch etwas anderes zu hören gibt.« (GeL, 203) Der letzte Satz des Romans erinnert daran, dass die Reste immer auch Schweigen begleitet: »Mir gefällt meine wirre Schweigelust und das Herumstehen in der öffentlichen Belanglosigkeit.« (GeL, 203)250 247 248 249 250

Jahraus 2011, 112. Zum Begriff vgl. auch Fischer 2006, 16. Zu dieser Textpassage vgl. auch Marx 2011, 58f. Zum Lassen vgl. Kapitel 6 und 7 dieser Arbeit. Das Hamlet-Zitat greifen auch Nebelung/Pick 2003 auf, die ihre Studien zu Abfall mit Der Rest ist Schweigen: Die Dinge und ihre Vernichtung betitelt haben. Zu Schweigelust in den Texten Genazinos vgl. Marx 2011, 58, der sich ebenfalls auf die genannte Textstelle in Die Liebesblödigkeit bezieht.

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3.5.2

Gestrandete Dinge, gestrandete Menschen in Siegfried Lenz Fundbüro

Auch der Roman Fundbüro (2003)251 von Siegfried Lenz nimmt das Nebensächliche in den Blick, verweigert sich mit einigen wenigen Ausnahmen außergewöhnlichen Erlebnissen. Dies führt in der Literaturkritik252 mitunter dazu, im Text zwar eine »abgeklärte Ruhe«253 und die »lebhafte Abwesenheit von Unruhe, das Fehlen einer vibrierenden inneren Spannung«254 zu konstatieren, aber, wie Gustav Seibt, auch ein wenig verächtlich von einem »halbrealistischen Märchenton«255 zu sprechen, der vor allem eines in den Blick nimmt: ein Deutschland, das wesentlich »farbloser, freundlicher und altmodischer [ist, CHG] als das wirkliche: viel schöner, weil grauer und wärmer.«256 Was ist damit gemeint? Was macht das Märchenhafte, das Altmodische dieses Textes aus und lassen sich Verbindungen zu dem Märchen Momo und den Überlegungen Zygmunt Baumans herstellen? Von Wichtigkeit für eine ding- und abfallfokussierte Analyse ist der Ort, an dem der Roman spielt: der Bahnhof einer bundesdeutschen Stadt. Im Raum der Ströme – von Menschen und von Dingen bzw. Gütern, wenn wir an die oftmals parallel zum Personenverkehr stattfindenden Gütertransporte denken – ist der Bahnhof Anlegestelle, Ort im Raum.257 Der Bahnhof ist aber nicht nur ein Ort der Moderne, ein Knotenpunkt der Stadt, ein Verbindungsort, ein Ort der Menschen- und Dingströme.258 Er ist, der Konzeption von Marc Augé und Zygmunt Bauman folgend, auch ein Transitort, ein Nicht-Ort, ein unziviler Ort: ein Ort ohne Identität und ohne Relationen, ein Ort ohne Geschichte.259 Ein Ort also, in dem es eben nicht oder nur erschwert zu Verbindungen zwischen Menschen (und zwischen Menschen und Dingen) kommen kann. Hier ist es erneut sinnvoll, das Konzept des Transitortes vom Abfall her zu denken: Der Bahnhof ist, wie bereits dargestellt, ähnlich der shopping mall ein reglementierter Ort, der unter dem Credo des 3-S-Systems (Sicherheit, Sauberkeit und Service) arbeitet. Unkontrollierte Abfälle werden sofort vom Reinigungspersonal entfernt, Reisende werden zur Mülltrennung aufgefordert. Wenn nach der von Bauman aufgegriffenen Definition 251

252

253 254 255 256 257 258 259

Vgl. Lenz 2003, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle LeF und Seitenzahl zitiert. Zum Roman findet sich erstaunlicherweise keine, zumindest mir bekannte, Forschungsliteratur, mit Ausnahme einiger Rezensionen, die in der nachfolgenden Analyse Beachtung finden. Deshalb beschränke ich mich im Folgenden auf eine abfallfokussierte Primärtextlektüre, die versucht, den Roman mit den vorausgegangenen Ausführungen zu Strömen, Setzung, Sitzen und Gegenbewegungen zu verbinden. Die beiden exemplarisch herangezogenen Rezensionen aus der Süddeutschen Zeitung (vgl. Seibt 2003) und der NZZ (vgl. Langner 2003) betonen, nicht ohne eine gewisse Häme, die märchenhaften Züge des Romans, der, »[p]oetisch wie ein alter Dachboden« (Seibt 2003), ein »schönes Gutenachtmärchen für Optimisten« (Langner 2003, 51) erzähle. Langner 2003, 51. Langner 2003, 51. Seibt 2003, 14. Seibt 2003, 14. Zum Konzept des Ortes als Möglichkeit des Raumes, als Prozess des Erfindens von Orten, um sie individuell und konkret erfahrbar zu machen vgl. Wöhler 2008, besonders 79-81. Zum Bahnhof vgl. Schivelbusch 2007, 152-157, der die »Transformatorenfunktion des Bahnhofs« (Schivelbusch 2007, 154) betont. Vgl. Augé 1994, 93.

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von Richard Sennett die Stadt ein Ort ist, an dem Fremde sich begegnen bzw. begegnen können, dann ist der Bahnhof kein Teil der Stadt, sondern ein Ort außerhalb der Stadt, Nicht-Stadt.260 Kann es überhaupt so etwas geben wie Nicht-Stadt? Der Roman zumindest unterstützt zum einen diese Lesart durch die Weigerung, den Bahnhof zeitlich und räumlich konkret zu verorten – wir erfahren weder den Namen der Stadt, in der er sich befindet, noch das Jahr, in dem die Handlung spielt. An diesem Ort zeigt der Roman, wie Verbindungen von Menschen und Dingen möglich sind. Durch Momente des Innehaltens macht er Verluste sichtbar und bietet Gegenbewegungen an.261 Was mit Dingen passiert, die tatsächlich aufgegeben sind, daran erinnert eine eindringliche Passage in der zweiten Hälfte des Romans. Während wir bis zu dieser Textstelle wieder und wieder Zeuginnen werden, wie verlorene Dinge, vermittelt durch das Fundbüro, zu den Menschen zurückkehren, finden die Dinge, das wird ebenfalls deutlich, eben nicht immer zurück zu den Menschen. Wenn, wie bei der Auktion, die weiter unten noch ausführlicher beschrieben wird, niemand gefunden wird, der sich der verlorenen Dinge als neuer Besitzender annimmt, sind diese der endgültigen Vernichtung preisgegeben. Der Müllstatus ist ein Status, der, das legt der Roman nahe, auf jeden Fall vermieden werden soll. Dennoch tritt dieser Fall manchmal ein, etwa wenn alte, ramponierte Koffer von den Fundbüromitarbeitern zur Abholung bereit gemacht werden, mit dem Ziel einer »Anlage, in der Abfälle verwertet w[e]rden, verbrannt, zerschreddert, zu tauglichem Rohstoff umgewandelt.« (LeF, 184) Als zwischen profanem Gebrauchsgegenstand und Erinnerungsstück, das an Reisen und Emigration, aber auch an Krankenhausaufenthalte erinnern kann, oszillierendes Ding ist der Koffer ein Haltepunkte in einer Welt der Ströme, ist er doch in seiner primären Nutzung an die Mobilität von Menschen gebunden.262 Das Wort ›Rohstoff‹ knüpft an die diskutierten Versuche an, Abfall in neue Wertigkeit zu transformieren – sei es durch thermische Nutzung oder Recyclingprozesse. Klar ist: Es kommt zu einer Löschung von Vergangenheit. Dies korrespondiert, erinnern wir uns noch einmal an die Thesen von Zygmunt Bauman, mit einer generellen Verflüchtigung der Beziehung zwischen Menschen und Dingen sowie

260 Schivelbusch 2007 zeigt, dass Bahnhöfe, besonders Kopfbahnhöfe eine Schleusenfunktion innehaben, die die Ströme in und aus der Stadt kanalisieren – und traditionellerweise deshalb auch meist in der Peripherie der Städte lokalisiert waren (vgl. Schivelbusch 2007, 154). 261 Zum Aspekt des Innehaltens vgl. auch Schivelbusch 2007, 157. 262 Vgl. zum Koffer auch Ecker 2006, die sich ebenfalls kurz auf die Koffer-Episode in Fundbüro bezieht (vgl. Ecker 2006, besonders 221f.). Ecker weist darauf hin, dass die Koffer die praktischen Elemente des Reisens materialisierten, aber auch Ballast bedeuteten, die Reisenden mit »Mühen, Gewicht, Unsicherheiten und einer Menge von Einschränkungen« (Ecker 2006, 215) belasteten. Der Koffer verbindet das Unterwegssein mit einem stagnierenden Element, ähnlich anderen Behältern oder Transporthilfen wie dem Container (vgl. Klose 2009) oder der Palette (vgl. Dommann 2012). Aber auch Transportfahrzeuge wie das Schiff, der Zug oder die Straßenbahn verbinden beide Momente, wie Bernadette Malinowski in ihrer Interpretation von Bölls Der Wegwerfer am Beispiel der fahrenden Straßenbahn zeigt: »Dem Bild von der fahrenden Straßenbahn ist dabei eine doppelte Raumdimension eingeschrieben: der gleichbleibende, stagnierende Innenraum des Wagens und der aus der subjektiven Perspektive der Reisenden sich verändernde, bewegende Raum der abgefahrenen Strecke.« (Malinowski 2003, 426) Was für die Menschen die Bahn, der Zug, ist für die Dinge der Koffer, der Container – Bewegung und Stagnation. Koffer im Zug, aber auch Abfälle im Schiffscontainer wären dann zweifach in diese Bewegungen eingebunden.

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der Dinge selbst, etwa durch Mode, geplanten Verschleiß oder andere Konsumverstärker – und auch einer Verflüchtigung der Beziehung der Menschen untereinander. Die obige Textpassage lässt zunächst offen, was genau mit den Koffern passiert ist, wo und unter welchen Umständen sie verloren und warum sie nicht zurückgefordert wurden. Daran erinnert Fundbüromitarbeiter Albert Bußmann, dem es schwer fällt, die Dinge, die den Menschen gedient haben, den Löschungs- und, zumindest im Hinblick auf eine Zukunft als Koffer, Vernichtungsprozessen preiszugeben. Er stellt die Verbindungen der Koffer zu den Menschen erzählerisch her und beklagt gegenüber seinem jungen Kollegen Henry, der neu zum Fundbüroteam gestoßen ist und um dessen Erlebnisse sich die Episoden im Roman gruppieren, ihre Entsorgung: Resigniert deutete Bußmann auf den Hügel von Koffern. »Schau dir das an, Junge«, sagte er, »das hat einmal seine Dienste getan, das hat auf Schränken gelegen, auf Böden gewartet, das hat irgendwo in Kammern gestanden, bis eine Reise anstand, bis etwas transportiert werden mußte, Geschenke oder das, was man brauchte, ich kann nicht diese Dinger angucken, ohne daran zu denken, und ich stelle mir auch vor, wo überall die gewesen sind, verstehst du? Und jetzt? Vergessen, verloren, ausgedient; jetzt kommen sie unter die Messer oder wandern ins Feuer.« (LeF, 184f.) Auch Henry sieht in den ramponierten Koffern mehr als Gebrauchsgegenstände und erkennt die Verwobenheit dieser Dinge mit den Menschen: Henry taxierte einen geräumigen Holzkoffer, der bepflastert war mit schon verblichenen Aufklebern großer Hotels, und sagte: »Der könnte bestimmt etwas erzählen, wer weiß, was der alles mitgemacht hat.« »Irgendeine Geschichte könnte wohl jeder Koffer erzählen«, sagte Bußmann, »überhaupt: An jeder Fundsache hängt etwas, du glaubst nicht, was da manchmal zum Vorschein kommt. Aber das wirst du schon noch selbst erleben!« (LeF, 185) Den Verbindungen folgend, die durch die Fundsache möglich sind, werden Dinge zum Anlass genommen, Geschichten zu erzählen. Aber was hat es auf sich mit diesen Geschichten? Erzählen verschiedene Funddinge unterschiedliche Geschichten? Warum werden manche Dinge verloren, andere dagegen nicht? Gibt es eine Hierarchie oder Gruppierungsmöglichkeit der verlorenen Dinge? Dies sind einige Fragen, mit denen sich Utz Jeggle263 in seinem Aufsatz zur Geschichte von Fundbüros und Fundanzeigen beschäftigt hat. Wenn er formuliert, dass wir »in Fundbüros mit Gegenständen konfrontiert [werden], die im Verlieren auch ihre Geschichte verloren haben und die nur selten über ihren Kontext informieren«264 , spricht er eine der Funktionen von Lenzʼ Text an: Diese Geschichten zu erzählen. Die mit den Dingen verlorenen Kontexte herzustellen, ist so auch eines der Verdienste von Fundbüro. Zudem wird sichtbar, was zwar nicht gelöscht wird, aber meist im Verborgenen stattfindet: An vielen Textstellen erfahren wir etwas über die Motivation, das Leben und den Arbeitsalltag der Fundbüromitarbeiter. Der, wenn auch imaginierte und poetisierte, Arbeitsalltag einer Institution und deren administrativen Vorgänge. 263 Vgl. Jeggle 1998. 264 Jeggle 1998, 145.

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So heißt es zu Beginn des Romans, dass das Vorgehen bei Verlusten Folgendes vorsieht: »Nach einer Frist […] haben wir hier das Recht, einen Rucksack oder einen Koffer zu öffnen; auf diese Weise ist es uns schon oft gelungen, einen Eigentümer zu ermitteln.« (LeF, 20) Generell müssen die Dingsuchenden beweisen, dass die Sachen ihnen gehören – etwa durch genaue Beschreibungen oder durch Angaben und Details zu den Umständen des Verlustes. Dieses Verfahren der Beweiserbringung wird im Roman genutzt, um die sonst ungehörten und durch die endgültige Zerstörung der Dinge gelöschten Geschichten und Verbindungen zu den verlorenen Dingen zu erzählen. Dabei wird die formalisierte Sprache der Verwaltungsakte und deren oftmals wenig flexiblen Vorgänge ersetzt durch eine menschenfreundliche, einfache und alltagsgerechte Sprache mit Raum für Ungewöhnliches. Zudem sind die Episoden von Mitgefühl für die Verlustsituation der Menschen und Achtung vor den Dingen geprägt. Doch zurück zum Beginn des Romans: Das Erzählen setzt mit dem ersten Arbeitstag der neuen Fundbüro-Hilfskraft Henry Neff ein, 24 Jahre alt und, wie wir erfahren, Neffe des Bereichsleiters. Der Text führt uns direkt in den Alltag dieser Institution, in der neben Henry zwei ältere Kollegen arbeiten, Fundbüro-Chef Hannes Harms und Albert Bußmann, sowie Paula Blohm, die Sekretariatsaufgaben erfüllt. Durch den Umstand, dass Henry ein neuer Mitarbeiter ist, der von außen auf das eingespielte Fundbüro-Team blickt, werden alltägliche Abläufe sichtbarer. Zusammen mit Henry werden wir im Verlauf des Textes in die Welt der Institution Fundbüro eingearbeitet. Dies wird erzählerisch beispielsweise vermittelt durch Beschreibungen der Fundsachen, wenn wir Henry und Harms durch die Lagerräume folgen. Mit Henrys Augen sehen wir ein »Fach, in dem ein Haufen Regenschirme lag, schwarze und weiße und bonbonfarbene Schirme« (LeF, 16). Harms geht mit Henry die Lagerräume ab, um ihm die Palette der Fundsachen vorzuführen, die unter anderem Kinderspielzeug und Geschirr einschließt. Schließlich verharren beide: [A]n der umfangreichen Abteilung mit vergessenen und verlorenen Kleidungsstücken blieb er [Harms, CHG] stehen und lenkte Henrys Aufmerksamkeit auf Mäntel, Jacken, Schals und Pullover; er tat es schweigend, tat es ausdauernd, als wollte er Henry selbst ermessen lassen, wie vielfältig die Verluste sein können bei der Bundesbahn. (LeF, 19) Obgleich sich Henry zunächst im Fundbüro zurechtfinden muss, scheint er sich von Anfang an heimisch zu fühlen. Dies kann auch daran liegen, legt der Text nahe, dass er selbst Bewahrer und Sammler ist: Henry sammelt, wie wir an verschiedenen Textstellen erfahren, Lesezeichen (vgl. LeF, 15f., 47, 139). Während Harms ein Mann zu sein scheint, der sich der Ernsthaftigkeit von Verlusten gewahr ist, ist der Blick Henrys auf die Fundsachen oftmals ein kindlicher, spielerischer – etwa an der Stelle, an der es heißt, Henry konnte an einem Fach mit Kinderspielzeug nicht »vorübergehen, ohne eine Puppe und einen Teddybär so aneinanderzudrücken, daß sie in verzweifelter Umarmung dalagen.« (LeF, 23) Der Text knüpft an dieser Stelle an die Abfallaffinität von Kindern an, aber auch an deren Vermögen, den Dingen mit Begeisterung und Fürsorge zu begegnen. Dass dieser Umgang Vorbildcharakter hat, zeigt ein Dialog zwischen Paula und Henry. Paula kommentiert eines ihrer Gespräche mit Henry: »Wenn uns einer zuhörte, Henry, der fühlte sich bestimmt an Kindergespräche erinnert«, woraufhin Henry entgegnet: »Na und? Kindergespräche muß man ernst nehmen.« (LeF, 316)

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Dennoch hat die Märchenwelt des Fundbüros, davon schweigen die beiden exemplarisch herangezogenen Rezensionen von Seibt und Langner,265 auch Grenzen: Henry überschreitet, das wird sich im Verlauf des Textes wiederholen, die, trotz der immer wieder herausgestellten unkonventionellen Arbeitsweise des Fundbüros, doch vorhandene Angemessenheit und Alltagsnormalität der Institution. Zumindest ist dies aus den Reaktionen seiner Kollegen zu schließen. Als ein Messerwerfer, der sein Arbeitswerkzeug verloren hat, sein Messerset zurückfordert, muss er, um seine Besitzansprüche zu beweisen, drei Messerwürfe tätigen (vgl. LeF, 31-33). Vor dem letzten Wurf wird er jedoch von Fundbüro-Chef Harms aufgehalten. Henry wird daran erinnert, dass er »einfach zu weit gegangen« (LeF, 35) sei. Doch auch Harms scheint durch seine Arbeit an mancherlei Setzung zu zweifeln. Nach dem Messervorfall resümiert er, allerdings eher resigniert: »manchmal möchte man aufhören, an die Normalität zu glauben.« (LeF, 35) Dass nicht nur Hannes Harms, sondern auch die Dingverlierer nicht immer einverstanden sind mit Henrys unkonventionellen Verfahren, die sich durchaus an den vorhandenen Normen des Teams orientieren, zeigt eine andere Textstelle gegen Ende. Ein Mann muss, um den Besitzbeweis für seinen verlorenen Schlüsselbund266 zu erbringen, zunächst exakte Angaben zu den Verlustumständen machen – dazu heißt es: »Obwohl Henry erkannte, wie sehr der Mann seine Fragen als Zumutung erkannte, forschte der unerbittlich weiter, nur Paula spürte sein mühsam unterdrücktes Vergnügen bei dieser Ermittlung« (LeF, 303). Im Anschluss wird er von Henry aufgefordert, den Schlüsselbund mit Talisman – nach Auskunft des Mannes »ein Andenken an die letzte Jagd, ein Querschläger, erwischte mich unterm linken Schulterblatt« (LeF, 306) zweifelsfrei als seinen Besitz zu bestätigen, indem er die Narbe der Verletzung zeigt. Der Mann reagiert empört, beschuldigt Henry der Schikane und beschwert sich bei Harms über die Vorgänge. Der verteidigt Henrys Verfahren mit dem Hinweis auf dessen »Eifer der Jugend« (LeF, 308) und erklärt: »Was wir hier tun, tun wir sorgsam, nach bewährten Regeln, es geschieht allemal zum Schutz des ehrlichen Verlierers.« (LeF, 309) Trotz des Hinweises auf die selbstgesetzte Richtigkeit und Wichtigkeit des Verfahrens zeigt sich an dieser Stelle auch die Machtposition der Fundbüro-Mitarbeiter Henry, Bußmann und Harms. Sie können, das impliziert die Empörung des Mannes, über das Schicksal von Dingen, und dadurch auch von Menschen, entscheiden. Wenn eine solche Institution es will, so legt diese Passage nahe, kann das Finden von Dingen verhindert werden. Im Verlauf des Romans breitet sich neben den profanen Dingen des Alltags auch ein Repertoire kurioser Sachen aus, Dinge, die sich im Zwischenstadium zwischen menschennahem Gegenstand und menschenfernem Abfallding befinden. So betrachtet Henry verlorene Gebisse und Prothesen. Für diese körpernahen Dinge, so erfahren wir, werden fast nie Suchanträge gestellt. Dennoch geben sie Anlässe für Geschichten und Phantasien über die Umstände des Verlustes. Henry muss sich so beim Betrachten vorstellen, »was alles sie einst zerbissen, zerkauten, er glaubte dabei ein schwaches 265 Vgl. Seibt 2003 und Langner 2003. 266 Henry wirft angesichts der großen Anzahl verlorener Schlüsselbunde diesen Dingen vor, absichtlich verloren zu gehen: »›Schlüsselbund‹, wiederholte Henry seufzend, ›wieder einmal‹, und an den Mann gewandt: ›Großer Gott, wenn ich daran denke, wie viele bei uns eingeliefert werden: Man möchte glauben, Schlüsselbunde machen sich ein Vergnügen daraus, verlorenzugehen; im Augenblick liegen wohl zehn im Regal.‹« (LeF, 302).

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mahlendes Geräusch zu hören, und einmal war es ihm, als verspürte er selbst den heftigen Hustenstoß, der die Prothese aus dem Mund warf.« (LeF, 206) Zu den merkwürdigen Fundsachen gehört auch ein Vogel, wie Harms erklärt, »eine Fundsache wie alles hier, in einem Eilzug aus Fulda wurde er gefunden« (LeF, 11). Während Henry sich wundert – wie kann ein Vogel vergessen werden? – ist für Harms mittlerweile zur Routine geworden, dass merkwürdige Dinge vergessen werden: »Solch eine Frage hätte ich auch gestellt«, sagte Harms, »vor fünfzehn Jahren, als ich hier anfing – mittlerweile habe ich mir das Staunen abgewöhnt. Sie glauben nicht, was alles die Menschen heute verlieren, vergessen; selbst Dinge, von denen ihr Schicksal abhängt, lassen sie einfach im Zug liegen und kommen dann zu uns und erwarten, daß wir ihnen zu ihrem Eigentum verhelfen.« (LeF, 12) Dabei scheinen gerade die Bewegungen des Verlierens und Findens mit dem Ort Bahnhof verbunden zu sein und dort neue Verbindungen zu schaffen. »Verlieren und Finden ist eine Doppelbewegung« schreibt so auch Utz Jeggle, »die soziale Seiten von menschlichen Kooperationen festhält, Solidarität auch mit Unbekannten entwickelt und Respekt vor fremdem Eigentum lehrt«.267 Auch wenn wiederholt beschrieben wird, wie Dinge und Menschen wieder zusammen finden, ist Fundbüro ein Roman über endgültige Verluste. Viele Menschen, so erfahren wir, stellen überhaupt keinen Nachforschungsantrag, die Mitarbeiter sind verwundert darüber, »wie viele sich mit ihren Verlusten abfinden. Viele belagern uns, aber viele finden auch nicht den Weg hierher, geben früh ihre Hoffnung auf.« (LeF, 14) Auch Henry ist zunächst niemand, der Dingen nachtrauert: «[I]ch hab mir angewöhnt, verlorenen Sachen nicht lange hinterherzuweinen; das meiste ist doch ersetzbar, oder?« (LeF, 14f.) Harms widerspricht ihm und gibt Beispiele für solch unersetzbare Dinge: Etwa ein blauer Marine-Schal, der aus nicht weiter ausgeführten Gründen für einen Verlierer so unersetzbar ist, dass er sein Monatsgehalt für die Wiederbeschaffung spenden würde (vgl. LeF, 89f.). Ein weiteres Beispiel für ein solch unersetzbares Ding ist der Aluminiumlöffel von Harmsʼ Vater, den dieser während seiner Kriegsgefangenschaft im Ural mühsam geschnitten und ausgehämmert hat (vgl. LeF, 90f.). An einem Tag verbindet solch ein abhandengekommenes, ein unersetzbares Ding langfristig. Eine verlorene Tasche stiftet Freundschaft zwischen Henry und Fedor Lagutin, einem Mathematiker und Gastwissenschaftler aus Baschkirien (»Die Tasche hat viel mitgemacht, hat vieles getragen, nichts hätte ausgereicht, mich zu trösten, wenn sie nicht zu mir gefunden hätte […]« (LeF, 73)). Das Fundbüro wird erneut zum, wie Henry seiner Mutter berichtet, Ort, an dem Schicksale »sich kreuzten, es kam ihm jetzt so vor, als sollte der Mann aus Sarátow seine Dokumente verlieren, nur damit sie sich begegneten.« (LeF, 127) Neben der Freundschaft zwischen Henry und Fedor kommt es auch zu einer Annäherung zwischen Fedor und Henrys Schwester Barbara. Henry und Barbara erachten Fedors Fremdheit, die sich zusammensetzt aus Elementen wie seiner Kleidung, seiner Art zu sprechen, seinem Status als Wissenschaftler, aber auch seiner unkonventionellen

267 Jeggle 1998, 150.

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Art, allesamt Elemente, die im Roman nicht klischeefrei geschildert werden (beispielsweise, wenn er auf der Flöte eine alte Volksweise seiner Heimat anstimmt, vgl. LeF, 232), als gegeben und sogar wertvoll. Dennoch offenbart Henrys Mutter in einem Gespräch mit dem Sohn auch ihre Ressentiments: »[M]an sieht ihm an, daß er aus dem Osten kommt, aus dem weitesten Osten«, um dann gleich abzuschwächen, dass ihr Fedor durchaus sympathisch sei (vgl. LeF, 127f.). Anders als in den Texten Genazinos, in denen dem und den Fremden ambivalent begegnet wird, die Begegnung zwischen Neugier, Solidarität und Abscheu changiert und mitunter innerhalb von Momenten kippen kann, wird das Fremde in der Person Fedor sympathisierend geschildert. Diese Sympathie bleibt im Roman allerdings auf wenige Personen beschränkt. Sie manifestiert sich eher grundlegend in der Konstruktion des Fundbüros als Schutzraum: Während das Bahnhofsfundbüro fast märchenhaft als Ort der Ding- und Menschenfreundlichkeit beschrieben wird, als ziviler und Zivilität schaffender Ort, an dem Fremdbegegnung möglich ist, die zu Freundschaft und dauerhafter Bindung werden kann, ist die Welt außerhalb des Fundbüros eine Welt von Distinktion und Trennung. Dies wird neben der Abwehrhaltung der Mutter Henrys vor allem deutlich bei zwei Ereignissen. Auf dem Weg zu Henry, um mit ihm gemeinsam ein bewilligtes Sonderstipendium zu feiern, wird Fedor vor Henrys Wohnung von einer Motorradgang, zu der auch Paulas Bruder gehört, überfallen, rassistisch beschimpft, gejagt und geschlagen (vgl. LeF, 194). Als die Glasscheibe des Hauseingangs zu Bruch geht, verletzt sich Fedor an der Hand und muss im Krankenhaus behandelt werden (vgl. LeF, 197-199). Weniger zu körperlichen Schmerzen, sondern eher zu Gefühlen der Demütigung führt eine zweite Episode, dieses Mal an der Technischen Hochschule. Während Fedor die Wissenschaft, vor allem die Mathematik, eigentlich lobt als eine Sphäre der kollegialen Kooperationen jenseits von Konkurrenz und Prestigedünkel (vgl. LeF, 237) kommt es im Rahmen einer Studentenparty zu Diskriminierungen. Während des Festes, zu dem Fedor von Henry und Barbara begleitet wird, wird Fedor von ihm unbekannten Personen beleidigt – sie fühlen sich von Fedors Aussehen und Geruch offenbar gestört, eine Frau am Nachbartisch wirft in den Raum, es rieche nach Schweiß und Leder, nach Stall, ein Mann ergänzt »Ziege eigentlich, streng nach Ziege« (LeF, 286). Daraufhin verlässt Fedor das Fest und kurz darauf Deutschland. Henry und Barbara finden einen kurzen Brief an der Rezeption seines Hotels mit dem Satz: »Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer.« (LeF, 319) Während des Festes bezeichnete Henry zwar die Person, von der die Diskriminierung vorrangig ausging, als »erbärmliche[n] Widerling« (LeF, 290), rückgängig machen kann er den Vorfall jedoch nicht. Neben den eher subtilen, im Verborgenen stattfindenden Diskriminierungen setzt sich Henry den fremdenfeindlich motivierten Gewaltakten der Motorradgang tatkräftig entgegen. Nach der Abreise Fedors überfallen die Mitglieder der Gang den aus Nigeria stammenden Briefträger, der sich Joe nennt. Als er angegriffen wird, versucht Joe die Post zu retten, »das, was ihm anvertraut war, mit seinem Körper zu schützen; er legte sich auf die Tasche, schmiegte sein Gesicht an den Boden und wartete bewegungslos.« (LeF, 320) Nun kommt es zu folgender Entwicklung, in der sich von verschiedenen Seiten […] mehr und mehr Männer auf sie [die Gang, CHH] zu [bewegten]; sie kamen aus den kleinen gegenüberliegenden Geschäften, kamen aus

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Hauseingängen und den beiden parkenden Lastautos, auch zwei Erdarbeiter stiegen aus ihrem Loch, griffen sich ihre Schaufeln und schlossen sich den anderen an. (LeF, 323) In der märchenhaften Passage kommt es kurz zu einem Ausbruch von Gewalt, als die Angreifer durch Schaufelhiebe vertrieben werden (vgl. LeF, 324). Sie kann als Beispiel eines Widerstands gegen diejenigen gelesen werden, die zu bestimmten Orten nur bestimmte Menschen zulassen möchten – gegen Exklusion und Exklusivität. Auch andere Erzählstränge setzen menschliche Solidarität, setzen Anständigkeit ausgrenzendem und egoistischem Verhalten entgegen. Weitere Beispiele für solidarisches Verhalten in der engen Welt des Fundbüros stellen Episoden um die Figuren Hannes Harms und Albert Bußmann vor. Harms hatte, wie wir im Romanverlauf erfahren, die Schuld an einem Unfall, den eigentlich sein Lehrling verschuldet hatte, auf sich genommen und wurde ins Fundbüro strafversetzt (vgl. LeF, 215). Henry schlägt vor, dass er selbst an der Stelle Albert Bußmanns entlassen wird, damit Bußmann, der seinen alten Vater pflegt, weiterhin im Fundbüro arbeiten kann (vgl. LeF, 262 f.). Dass die Welt des Fundbüros trotz aller Märchenhaftigkeit kein idyllischer Ort ist, zeigt der Umstand, dass auch diese Institution mit den von Bauman skizzierten Verflüchtigungstendenzen in der Arbeitswelt konfrontiert wird.268 Das Fundbüro, das uns im Roman als Ort der Aufbewahrung und Bewahrung begegnet, das sich verlorenen Dingen annimmt, soll ironischerweise eventuell selbst entsorgt werden, ist von der Wegrationalisierung bedroht (vgl. LeF, 53f., 61f.). So erscheint ein Gutachter, ein vornamenloser Herr Fensky, der die Effizienz der Institution prüfen soll. Henry kommentiert das Gespräch, das er mit Fensky und seinem Onkel führt, zur Allgegenwart dieser Kontrollbewegungen: »›Begutachtet‹, sagte Henry, ›heute haben Gutachter und Controller Konjunktur, nichts geht ohne sie.‹« (LeF, 66) Solchem Denken der Effizienz und Rationalität verweigert sich das Fundbüro, wie wir es im Roman kennenlernen. Schon zu Beginn des Romans wird es von Harms als »Abstellgleis« bezeichnet, wenn er Henry ausbreitet, »von hier aus beginnt man keine Laufbahn, bei uns gibt es keine Aufstiegsmöglichkeit, irgendwann fühlt man sich ausrangiert.« (LeF, 13) Während im Fundbüro die Verwaltungssprache zurücktritt und Raum öffnet für das Erzählen von Geschichten, herrscht in der Begutachtung eine Sprache vor, die an die rational-präzise Sprache in Der Wegwerfer erinnert: »Personalanpassung«, »Bahnreform«, »Gutachten«, die Menschen müssen sich nach den »Gesetzen der Sanierung« (LeF, 263) richten. Generell durchzieht den gesamten Roman eine Debatte über die Idee von Arbeit, von Leistung und von Fortschritt im Sinne von Weiterkommen. Wie sehr die Positionen von Henry auf der einen Seite und dessen Onkel, Bereichsleiter Richard Neff, auf der anderen Seite divergieren, zeigt ein Aufeinandertreffen der beiden. Als der Onkel Henry nach dessen Zielen fragt und dieser darauf nichts zu sagen weiß, konkretisiert der Onkel, indem er deutlich macht, dass das Fundbüro in Henrys Karriere bestenfalls 268 Dies wird auch in den Rezensionen angesprochen: Gustav Seibt weist auf den »Zwang zur Einsparung« (Seibt 2003) bei der Deutschen Bahn hin und Beatrix Langner macht als ein Thema des Textes das Kippen der »Solidargemeinschaft des modernen Sozialstaats mit ihren Sicherungssystemen« (Langner 2003) aus.

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eine Zwischenstation darstellen kann: «Tu nicht so, du weißt genau, was ich meine: die Position, auf die man hinarbeitet, die einem entspricht und in der man am meisten bewirken kann, oder doch glaubt, es tun zu können.«(LeF, 264f.) Er fährt fort: »Es tut mir leid, Henry, aber ich finde diese Einstellung nicht lustig, finde sie ganz und gar nicht lustig. Man muß sein Leben doch rechtfertigen, oder? Eine gewisse Zeit kann man wohl so dahinleben, kann die ersten Jahre vergeuden, aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man seine Wahl treffen und handeln muß. Du gibst mir doch wohl das Recht, dir zu sagen, daß ein Mann mit deinen Fähigkeiten weiter sein könnte, viel weiter.« (LeF, 265) Henry sieht sich jedoch im Fundbüro am Ziel und breitet seinem Onkel aus, dass ihm nichts daran liege »weiterzukommen, ich will nicht aufsteigen, will nicht die von dir erwähnte Position erklimmen; das überlasse ich gern anderen.« (LeF, 265) Statt dessen legt Henry großen Wert darauf, dass er sich »wohl fühle bei der Arbeit und daß man mich zufrieden läßt, verschont von allem Gerenne und Getöse.« (LeF, 265) Dies verärgert den Onkel, der ihm vorwirft, nicht der Realität der Arbeitswelt ins Auge blicken zu wollen: »›Dann such dir mal eine Welt‹, sagte er, ›die dir alles erlaubt, was du zu deinem Wohlgefühl brauchst, eine Welt, in der du ganz nach deinen Bedürfnissen leben kannst; ich fürchte, du wirst lange suchen müssen […].‹« (LeF, 266) Die generelle Verweigerung Henrys, an karriereorientierten Lebenskonzepten zu partizipieren, schafft eine Verbindung zur Leistungsverweigerung, die im Rahmen von Bölls Roman Gruppenbild mit Dame diskutiert wurde. Der solidarische Umgang und die Bildung spontaner Assoziationen – in Fundbüro etwa durch das gemeinsame Einschreiten gegen die Misshandlung des Briefträgers – lassen Verbindungen zu Böll erkennen. Auch an anderen Textstellen wird diese Verweigerungshaltung sichtbar, Henrys Abneigung gegen das Vermessen. Als ein Jugendfreund ihm vorschlägt, sich bei der Bundeseichbehörde zu bewerben, beschließt Henry, postalisch abzusagen: »Eichbeamter, dachte Henry, dachte: prüfen, stempeln, ätzen, einschlagen, und er lächelte und nahm ein loses Blatt, um Volker endlich zu antworten, ihm zu danken und ihm schonend beizubringen, warum er sich für ungeeignet hielt, diese Karriere anzustreben.« (LeF, 193) Die Konnotationen, die der Eichberuf bei Henry auslöst, erinnern an die Bewegungen, die im Rahmen der von Markus Krajewski beschriebenen Weltprojekte ausgeführt wurden,269 aber auch an die Tätigkeiten des Wegwerfers. Sie knüpfen damit, mit einem Fokus auf Abfall gelesen, an die Phantasmen der Restlosigkeit und der technischen Beherrschbarkeit von Abfall an. Zwei zentrale Textstellen in Bezug auf Abfall finden sich in der zweiten Hälfte des Romans. Zum einen die bereits erwähnte Auktion der Fundsachen, die auf zwölf Seiten detailliert geschildert wird.270 Bei der Auktion handelt es sich, so wird schnell deutlich, um einen letzten Versuch zur Rettung von verlorenen Dingen. So unterschiedlich wie die zu versteigernden Dinge ist auch die Gruppe der potenziellen neuen Dingbesitzenden, die aus Henrys Perspektive beschrieben werden. So sitzen im Auktionsraum »Penner neben Hoteldirektoren, einem glaubte er den Kleingärtner anzusehen, einem 269 Vgl. Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 270 Auch in Meckels Plunder kommt es zu einer Fundsachenversteigerung, vgl. Meckel 1989, 17.

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anderen den fahrenden Kaufmann, der die Flohmärkte bediente, Henry entdeckte für sich Handwerker und Kunstsammler und gewitzte Beutemacher, die auf schnellen Gewinn aus waren, aber er musterte auch das erwartungsvoll dasitzende junge Paar, das hier vermutlich etwas für den unvollkommenen Hausstand preiswert zu ergattern hoffte.« (LeF, 176) Die Beschreibung der Menschen wird unterbrochen durch die Aufmerksamkeit für die Dinge. Spazierstöcke werden nicht einzeln, sondern nur als Palette von siebenundzwanzig Spazierstöcken versteigert: »Da, sehen Sie, meine Damen und Herren«, sagte der Auktionator, »zwei anspruchslose Wanderstöcke, man hat sie im Zug vergessen, und nun wünschen sie sich einen neuen Eigentümer, dem sie als Stütze dienen; wenn’s sein muß, taugen sie auch zur Abschreckung; na, wer erbarmt sich ihrer? Dreihundertachtzig sind geboten, wer bietet mehr?« (LeF, 178) Dinge werden hierbei, das ist auffällig, wie Menschen, zumindest wie Lebewesen behandelt: Der Auktionator gab nicht zu erkennen, ob er zufrieden war; zu bescheidenen Späßen aufgelegt, rief er Nummer nach Nummer auf, wobei er die einzelnen Fundsachen nicht nur anpries, sondern sie auch als Lebewesen erscheinen ließ, denen ein gleichgültiges Schicksal übel mitgespielt hatte und die nun darauf hofften, in fürsorgliche Hände zu kommen […]. (LeF, 178) Das Werben um Mitleid, um neue Fürsorge für die Dinge wird besonders dringlich vor dem Hintergrund ihres Schicksals, wenn es zu keinen neuen Besitzverhältnissen kommt: ihrem Tod als Dinge. Auch wenn es hinsichtlich ihrer Vergangenheit zu einer Löschung kommt, leben sie dennoch als die Dinge weiter. Nach der Auktion werden wir nämlich Zeuginnen der endgültigen Vernichtung der ungewünschten Dinge – hier kommt es zu den zu Beginn der Interpretation aufgeführten Kofferentsorgungen, die Henry und Bußmann beobachten: Sie standen auf, denn von der Zufahrt zum Bahnhofsplatz näherte sich ein Laster, kam ruckelnd an die Rampe heran, mit abgeklappter Seitenfront. Zwei Männer im Overall stiegen aus, grüßten durch Zuruf und schätzten die Last ab, dann begannen sie, die Koffer aufzuladen. Zuerst stapelten sie sie oder stellten sie dicht nebeneinander, später schleuderten sie die Koffer einfach dahin, wo sie Platz sahen auf der Ladefläche. (LeF, 185) Es kommt zu einem letzten Aufbäumen der Dinge: Ein Holzkoffer prallt gegen das Gestänge, springt auf und liegt da »wie mit offenem Maul« (LeF, 186). Zum Vorschein kommt ein blaues Hemd, das einer der Müllwerker sich lachend an den Leib hält, woraufhin Bußmann kommentiert »manches wird noch im letzten Augenblick gefunden, und wenn’s nur ein Hemd ist« (LeF, 186). Der Fund des Hemdes führt ihn zu einer Geschichte, die einen wiederkehrenden Topos im Erzählen über Mülldinge darstellt: der Schatz im Müll.271 In Bußmanns Geschichte handelt es sich um einen alten Holzkoffer, 271

Vgl. Windmüller 2004a, 293-295, die das versehentliche Wegwerfen von Wertvollem als »Wegwerf-Irrtümer« (Windmüller 2004a, 292) bezeichnet.

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in dem durch Zufall ein doppelter Boden entdeckt wurde, der ein altes Bild verborgen hatte, »ein altes spanisches Bild, ein Olivenhain, einmalig, als der Schätzer den Wert taxierte, fiel uns der Unterkiefer runter« (LeF, 186). Dies ändert jedoch nichts daran, dass es keine Rettung mehr für die Koffer nach der geschilderten Auktion gibt. Auf die Frage Henrys, wie oft die Entsorger kommen, antwortet Bußmann mit abwesendem Gesichtsausdruck, der auf Trauer oder zumindest Traurigkeit schließen lässt: »›Einmal im Monat‹, und leise fügte er hinzu: ›Es lohnt sich für sie, es wird genug verloren und vergessen.‹« (LeF, 186) Diese Entsorgungen nach der Fundsachen-Auktion korrespondieren mit der Diskussion über die Ersetzbarkeit von Menschen, die im Zusammenhang mit den Bahnumstrukturierungen anklingt. Bußmann hat erfahren, dass er in den Vorruhestand entlassen werden soll aus Gründen der »Personalanpassung« und hat sich während seines Dienstes betrunken, trauernd über die Tatsache, »wie leicht wir ersetzbar sind, man sollte sich das nur früh eingestehen.« (LeF, 252) Henry findet den Kollegen und bringt ihn nach Hause. Auf den Heimweg spielt sich folgendes ab: Auf der Brücke blieben sie stehen, Bußmann umfaßte das Geländer und nickte auf den Kanal hinab; ein Ponton hatte dort festgemacht, Männer in schlammbespritzten Wathosen räumten den Grund ab. Mit Spezialharken und an Leinen befestigten Haken holten sie herauf, was unter der öltrüben Oberfläche im Schlamm steckte, Sprungfedern und Autoreifen, Konservendosen zuhauf, einen schmiedeeisernen Stuhl, einen Stahlhelm, ein Fahrrad; alles, was sie ans Licht brachten, warfen die Männer in eine Schute. Stiefel, mit Schlick gefüllt, flogen in die Schute, ein Medizinschränkchen flog über die Schute hinweg und versank wieder im Kanal, eine Kinderkarre erhöhte den Hügel mit Gerümpel. (LeF, 254f.) In einem Moment des beruflichen Stillstands, durch das Gefühl des Ausrangiertwerdens ist Bußmann besonders empfänglich für die verworfenen Dinge, so ist zu vermuten. Er, der gerade von seiner eigenen Ersetzbarkeit erfahren hat und am Abgrund steht, betrachtet die verlorenen Dinge, die vom Flussgrund geborgen werden. Es können keine der früheren Verbindungen zu den Menschen mehr ausgemacht werden, sichtbar wird stattdessen die Bearbeitung durch spezialisierte, rational-effizient arbeitende Entsorgungskräfte, die sich durch Spezialausrüstung schützen. Wenn diese Dinge in der Zwischenstation des Fundbüros ausharren würden: Was könnten sie berichten, was könnten die Menschen über ihre Verbindungen zu diesen Dingen und die Umstände des Verlustes erzählen? Diesen Verlust der Verbindungen stellt auch Henry heraus: »Keine Eigentümer«, murmelte Henry, »für diesen Kram gibt es keine Verlustmeldungen.« Er dachte: Abgestoßen, versenkt. Das meiste heimlich versenkt, im Dunkeln. Entledigt. Namenlose Fundsachen. Nicht verloren, vergessen – entsorgt. All die Dinge unter Wasser, auf dem Grund der Flüsse, der Seen. Auf dem Grund der Meere. Untergegangen. Abgesoffen. »Das Zeug will keiner zurückhaben«, sagte Bußmann, und Henry darauf: »So ist es, hier hätten wir nichts zu tun.« (LeF, 255)

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Die Art der Lagerung, auf dem Grund von Gewässern, von Seen, Flüssen und Meeren, entspricht am ehesten der Deponierung von Abfällen.272 Auch wenn ihre Bergung und Bearbeitung durch Spezialkräfte nahelegt, dass sie, wie die Auktionskoffer, danach eher den üblichen Weg einer thermischen Behandlung gehen oder in Recyclingprozesse integriert werden, ist die Ablagerung zunächst einer ungeordneten Kippe ähnlich: Die Entsorgung erfolgt vorbei an Gesetzen und Reglementierungen. So ist es kein Wunder, dass gerade im Kriminalgenre die ungeordnete Müllkippe eine prominente Rolle spielt bzw. Ausgangspunkt des Erzählens ist.273 Die entsorgten Dinge behalten zunächst ihre Form, wie die obige Beschreibung zeigt: Die Dinge sind noch als Sprungfedern und Autoreifen, als Konservendosen, Stuhl, Stahlhelm, Fahrrad usw. zu erkennen. Die Flussgrundepisode appelliert in ihrer Eindringlichkeit an die Pflicht der Menschen, nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit den sie umgebenden Dingen fürsorglich umzugehen. Diese Fürsorge schließt, in Bezug auf die Vergangenheit, die zu bewahrende Geschichte und Geschichten, auch ein Erinnern ein und wird somit auch zum Appell gegen sorgloses Vergessen. Diesem Vergessen setzt Siegfried Lenz eine Utopie des Erinnerns entgegen. Dass es kein Vergessen gibt, kein Verlassen und Verlieren ohne Verluste, dass Erinnern aber auch eine anstrengende, unbequeme Tätigkeit ist, ist vielleicht eine der grundlegenden Einsichten, die Fundbüro vorschlägt. In seinem Essay Über das Gedächtnis274 schreibt Lenz in Bezug auf seine Erzählung Der Spielverderber, die von einem Mann handelt, der nichts vergessen kann: »Klar, daß solch ein Mann zumindest als Ruhestörer empfunden werden muß, als lästige Erscheinung in einer Zeit, in der schädliche Erinnerungen aussortiert werden.«275 Mit dem Begriff der »Gedächtnisarbeit« beschreibt Lenz »die Mühen, die Widerstände, die Verluste und Gewinne, die im Prozeß des Erinnerns auftreten. Gedächtnisarbeit: das ist Suche und Befragung und Aneignung. […] Gedächtnisarbeit: das heißt auch bekennen, urteilen und für die Gegenwart handeln.«276 Der Versuch eines Aussortierens von vielleicht quälender Erinnerung, von Identität und somit auch das Gegenteil von Gedächtnisarbeit wird sichtbar in einer Episode, in der Paula einen Mann beobachtet, der absichtlich einen Lederkoffer auf dem Bahnsteig zurücklässt (vgl. LeF, 154). Mehr noch: Er ignoriert eine Frau, die ihn an den vermeintlich vergessenen Koffer erinnert. Paula trägt den Koffer dem Mann nach, der ihn »mit einer Gleichgültigkeit, die Paula verletzte« (LeF, 155) entgegen nimmt – um ihn dann aus dem anfahrenden Zug zu werfen. Der verschmähte, entsorgte Koffer fliegt auf den Bahnsteig, überschlägt sich und bleibt »neben einem Abfallbehälter liegen« (LeF, 155). Dieses unfreiwillige Arrangement macht die Unerwünschtheit und Überflüssigkeit des Koffers sichtbar und erinnert an die therapeutischen Aufgaben in Die Liebesblödigkeit, in deren Zusammenhang der Protagonist ungewollte Kleidung in einen Koffer packen

272 Vgl. zur Deponie auch die Ausführungen in Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 273 So wird die Kippe beispielsweise in Jacques Berndorfs Eifel-Müll zum zweifachen Ort des Verbrechens, als hier nicht nur Fässer mit Giftmüll abgeladen werden, sondern auch ein toter Körper aufgefunden wird (vgl. Berndorf 2000, 19). 274 Vgl. Lenz 1992. 275 Lenz 1992, 11. 276 Lenz 1992, 18f.

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und in der Stadt abstellen soll. Ebenso werden Erinnerungen an die Episoden in Abschaffel wach, in denen Abschaffel ein altes Kissen entsorgen will, aber nicht weiß, wie er dies anstellen soll. Als das Fundbüro-Team nämlich den Koffer öffnet, findet sich darin Kleidung – aufgeführt wird das Fundstück nun in der Kategorie ›abgetragene Kleidung ohne Wert‹: »Lumpen, ihr erster Gedanke war: Lumpen; da lag ein zusammengeknüllter karierter Stoff, verblichen, fleckig, an einer Stelle eingerissen, und darunter zeigte sich etwas Graues, das in einem Hosenaufschlag auslief, der abgetragen und zerfranst war.« (LeF, 157) Um welche Vergangenheit es sich handelt, warum gerade diese Kleidungsstücke entsorgt wurden, ob sie einfach aus Bequemlichkeit entsorgt wurden oder ob es sich um ein Experiment handelt, wird im Roman nicht aufgelöst. Stattdessen wird spekuliert. Henry ist sich sicher, dass das Entsorgen der Kleidung, und auch des Koffers, ein grundsätzlicher Entsorgungsakt ist, der vielleicht das gesamte Leben des Mannes betrifft: »Der Kerl wollte etwas loswerden, bestimmt, und zwar nicht nur die alten Klamotten, sondern auch das, was er selbst zuletzt war, oder das, wofür er gehalten wurde, […] und darum gab er sich selbst […] einen äußeren Abschied.« (LeF, 158) Paula stellt daraufhin in Frage, ob dies überhaupt möglich sei: »[E]s gibt keine neuen Anfänge, so im reinen Sinn; etwas von früher bleibt immer an einem haften, etwas, das man nicht abschütteln kann.« (LeF, 158) Neben individuellen Entsorgungsakten sind es, auch im Hinblick auf das obige Lenz-Zitat bezüglich der Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit von Gedächtnisarbeit, gerade auch kollektive Akte des Verwerfens und Vergessens, die in Lenzʼ Romanen und Erzählungen zur Sprache kommen.277 Gedächtnisarbeit heißt in Fundbüro vor allem, auch wenn es nie explizit zur Sprache kommt, sich gerade angesichts der deutschen Vergangenheit gegen Diskriminierung und Exklusion einzusetzen. Dabei werden verschiedene Modelle des Erinnerns diskutiert. In einem Gespräch zwischen Henry und Gutachter Fensky kommt es zu einer Kontroverse über die Bedeutung und Wichtigkeit von Tradition, aber auch von Symbolen. Eine alte Reichkriegsflagge, die im Zug vergessen wird und so im Fundbüro landet, führt Henry zur Erläuterung seiner Position, eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, die lediglich aus dem ritualisierten Wiederholen von alten Traditionen und Setzungen bestünde, sei abzulehnen (vgl. LeF, 64f.). Diese Diskussion kommt ohne explizite Bezugnahme auf die Rituale bestimmter Personengruppen aus. So deutet Henry auch nicht die Flagge als Symbol einer rechtskonservativen bis rechtsradikalen Einstellung. Gutachter Fensky kann Henrys Kritik nicht teilen: »Sie kommen sich sehr überlegen vor, Herr Neff, sehr aufgeklärt. Es ist klar, wer nichts hinter sich gebracht hat, der wird den Wert der Tradition nicht begreifen. Man muß wohl eine Vergangenheit haben – oder eine lebensentscheidende Erfahrung besitzen –, um erkennen zu können, was Überlieferung bedeutet.« (LeF, 65) Dem starren, exkludierenden Beharren auf dem Wert von Überlieferung und Tradition wird, verkörpert durch die Figur Henry Neff, die inkludierende Kraft von Phantasie und Geschichten entgegengesetzt, die eine Form der Gedächtnisarbeit sein kann. Ein inkludierende Kraft, die sich am Alltag der Menschen und an den kleinen Dingen orientiert. So gilt für Fundbüro, was Walter Hinck zum Verhältnis von Erinnerung und imaginärer Geschichtsschreibung in Bezug auf Lenzʼ Heimatmuseum feststellt: Lenz verwende eben nicht, anders als 277 Vgl. hierzu besonders den Roman Heimatmuseum (Lenz 1998).

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etwa Alexander Kluge in seiner historischen Collage zur Schlacht von Stalingrad, ein Schreibverfahren, das »mit Hilfe der Montage von Prosatexten und Filmen Faktisches und Fiktives vermischt und durch eine Fülle von Formen des Kommentars Diskontinuität herstellt und so das historische Geschehen verfremdet.«278 Lenz orientiert sich stattdessen am Alltag der Menschen. Ein Alltag, der jedoch durch märchenhafte, weil allzu ideale Elemente angereichert und dadurch verfremdet wird. Auch im Zusammenhang mit Fedor Lagutin kommt es immer wieder zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie Geschichte erzählt werden kann. So besucht Barbara mit Henry und Fedor das völkerkundliche Museum (vgl. LeF, 226-234). Der Form von inszenierter Erinnerung in dieser Art des Museums – zu Themen gruppierte Alltagsdinge und die Bräuche verschiedener traditioneller Gesellschaften und Gemeinschaften werden anhand imaginierter Szenen nachgestellt – setzt Fedor seine Form der Konkretisierung und Personalisierung in einem Akt der Aneignung entgegen: Er setzt sich in eines der Zelte und fängt an, auf der Ausstellungflöte ein Lied seiner Kindheit zu spielen (vgl. LeF, 231f.).279 Anhand der Geschichte und Geschichten der Baschkiren, die Fedor an vielen Stellen des Romans erzählt – Nomaden mit einer ausgeprägten oralen Tradition, zu denen viele Kunst- und Musikschaffende und -praktizierende gehören – ist anzunehmen, dass in den Fedor-Episoden die Wichtigkeit von Geschichten für die Geschichte, für die Gedächtnisarbeit unterstrichen werden soll. Auch der alte Vater Bußmanns erzählt, als Henry zu Gast im Hause Bußmann ist, von seiner Zeit bei der transsibirischen Eisenbahn (vgl. LeF, 218) – ob die Geschichte wahr ist oder nicht, scheint fast nicht wichtig. Die Bedeutung von Geschichten für die Geschichte stellt Siegfried Lenz in einem Text aus dem Jahr 1986 heraus, der sich dem Verhältnis von historischen Fakten und Fiktionalisierungen widmet. Sein Fazit: Dennoch […] wird Geschichte auch weiterhin in Geschichten aufgehen, und es wird der Erzähler sein, der uns den Strom des vergangenen Lebens am anschaulichsten erfahrbar machen wird. Ihm jedenfalls werden wir bereitwillig zuhören, denn er kann vereinen, was in der Analyse auseinanderfällt, und was sich nicht zu erkennen geben will, das bringt er zum Vorschein, indem er die Wahrheit erfindet.280 Henry wird immer wieder daran erinnert, dass seine Idee, die Akte des Verlierens und Findens als Auslöser von phantasievollen Geschichten zu nehmen, nicht immer akzeptiert wird. So ermahnt Paula ihn, als er einen Bericht anfertigen soll, diesen nicht zu sehr auszuschmücken und erklärt ihm: »Sie sind und bleiben ein Junge, der Geschichten

278 Hinck 2006, 57. 279 Im Rahmen der Völkerkundemuseums-Textstelle wird offensichtlich, dass Barbara Fedor dorthin bringt, weil sie den Mann, der durch die Ausstellung führt, für einen guten Wissensvermittler hält (LeF, 231). 280 Lenz 1992, 34. Die Bedeutung einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Erinnerns lässt sich auch daran ablesen, dass die Textpassage deutliche Bezüge herstellt zu einem anderen Text Siegfried Lenzʼ, den bereits kurz erwähnten Roman Heimatmuseum (vgl. Lenz 1998). Zu den Formen des Erinnerns in Heimatmuseum vgl. Westerwinter 2008, die den selektierenden, ideologischen Zugriff auf die Vergangenheit, etwa durch die Nationalsozialisten herausarbeitet und diesen mit einem Erinnern kontrastiert, das Bestandteil des Alltags ist, sich in Alltagshandlungen äußert und keinen besonderen Ort braucht (vgl. Westerwinter 2008, 53).

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erzählen will, erst hören und dann erzählen will, ein Bericht aber muß nüchtern sein, nackt, da darf nichts verkleidet oder verdunkelt werden.« (LeF, 141) Gänzlich vertraut aber auch Paula nicht der Aussagekraft von nüchternen Berichten: »›Nie kriegt einer zusammen, was er erlebt hat‹, sagte Paula, ›etwas verbirgt sich immer.‹« (LeF, 142) Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf das Erzählen, auf den Stellenwert von Phantasie für ihre Arbeit werden auch deutlich, als Henry den Film eines gestrandeten Fotoapparates entwickelt, weil die Bilder eventuell Hinweise auf die Besitzer geben könnten oder als Beweis des rechtmäßigen Besitztums dienen könnten, und die Bilder Paula zeigt. Paula sieht zunächst nur Wasser, woraufhin Henry ihr erklärt, sie müsste genauer hinsehen: »Wenn du ein paar Photos nebeneinanderhältst, dann erkennst du es: Wellen, es sind immer nur Wellen, die der Photograph im Auge hatte, ihre Entstehung, ihr Ende, ihre wechselnden Erscheinungen.« Er legte einige Photos wie Spielkarten in Reihe aus, und jetzt sah sie es: die Welle mit dem zerrissenen Kamm, die sich reckte und gleich überschlagen würde; die flache, schaumbedeckte Zunge, die über den Strand leckte, nah am Versickern; die auslaufenden Heckseewellen eines Schleppers, auf denen eine Möwe landete, und die tänzelnden, von Sonnenkringeln bedeckten Wellen, die ein nacktes kleines Mädchen umspülten. (LeF, 313) Henry kommt zum einzigen für ihn sinnvollen, dennoch unkonventionellen Schluss: »Der Photograph ist ein Wellenforscher, vielleicht ein Wellenliebhaber« (LeF, 313). Nur wenn in einer Welt der Ströme die Details, aber auch die materielle Rückseite bzw. räumliche Verortung dieser Ströme wahrgenommen werden, kann ein Forscher oder ein Liebhaber, eine Forscherin oder eine Liebhaberin sein und sowohl menschenals auch dingfreundlich handeln. Dies kann als implizite Kritik an den gerade am Bahnhof tagtäglich vorbeirauschenden Menschen- und Warenströmen gelesen werden. So ist eines der Verdienste des Fundbüros eben auch, Dingen und Menschen eine Anlegestelle, eine Haltestelle zu bieten. Diese Lesart unterstreicht eine weitere Episode, in der Henry, seine Schwester Barbara und Fedor auf der Straße einen dänischen Kühlwagen mit Forellen überholen: »›Die wissen nicht, daß sie unterwegs sind‹, sagte Henry. ›Vermutlich halten sie den Kühlwagen für die Welt‹, sagt Fedor.« (LeF, 237) Die Menschen, die im Fundbüro arbeiten, wissen, dass sie gegen den Strom schwimmen, wissen aber auch, dass das Fundbüro nicht die Welt ist, sondern eine Insel. Dennoch, und das impliziert das Forellen-Beispiel, sind auch sie abhängig von den sie umspülenden Rationalitäten einer Gesellschaft und eines Wirtschaftssystems, das Konkurrenz, Leistung, Vorankommen und Effizienz vor Solidarität setzt und dem das Entsorgen der Dinge immer leichter fällt. Der andere Umgang, den Lenzʼ Fundbüro für Menschen und Dinge vorschlägt, ist Respekt und Fürsorge. Ausgeschlossen wird auch, wie die Fedor-Episoden zeigen, die Nivellierung oder Integration von Andersheit und Fremdheit. Beide werden stattdessen als Bereicherung beschrieben. Die, wie herausgearbeitet allesamt mit der Abfallthematik verbundenen relevanten Themen des Romans – unbürokratische Solidarität mit Menschen und Dingen gegen ökonomische Rationalität, Fremdheit als Chance, nicht als Bedrohung, und Erinnerung und Gedächtnisarbeit, Festhalten statt Vergessen, ohne dass Traditionen das mitunter mühevolle Erinnern ersetzen können – finden sich im nachfolgenden Gedankengang

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Henrys vereint. Bei einer sonntäglichen Radiosendung wird die Frage gestellt: Was würden Sie tun, wenn Sie Deutschland für einen Tag unumschränkt regieren könnten? Henry »steckte sich eine Zigarette an und erwog, welche Anordnungen zur Verbesserung oder Erleichterung des Lebens er erlassen würde: Abschaffung der Bürokratie? Jährlicher Kurzaufenthalt im Ausland? Strafsystem für vergeßliche Bahnreisende?« (LeF, 191) Henry ruft jedoch nicht im Studio an. Vielleicht ist er sich bewusst, dass seine Vorschläge keinen Anklang finden würden. Eine weitere Erkenntnis in Bezug auf die Dinge legt Fundbüro nahe: Wenn alle Verbindungen reißen, wenn die Dinge zu Abfall, zur Ablagerung auf dem Flussgrund und damit bestenfalls zu ökonomisch wertvollen Rohstoffen werden, gibt es irgendwann keine Verbindungen, keine Geschichten, keine Zukunft dieser Dinge als Dinge mehr. Löschung führt zu neuen Dingen, neuen Geschichten, die aber nichts mehr mit den alten Dingen und Geschichten zu tun haben. Dass dieser Löschungsprozess ein Verlust ist, legt Siegfried Lenzʼ Roman ebenfalls nahe. Eine weitere Erkenntnis eröffnet eine ding- und abfallzentrierte Lesart von Fundbüro: Diese Verluste sind Ausdruck eines, und hier lassen sich Anschlüsse an Zygmunt Bauman erkennen, allgemeinen krisenhaften Verhältnisses zwischen Menschen und Dingen. Auch für Utz Jeggle, der in der Passage einen direkten Bezug zu Müll herstellt, sind das leichtfertige Verlieren und Vergessen von Dingen, aber auch deren Hierarchisierung Ausdruck eines gestörten Verhältnisses: [D]aß unser Verhältnis zu den Dingen in einer Krise steckt, das zeigen nicht nur die Müllhaufen, sondern auch die Spezialisierung der Dingwelt in geschichtsträchtige Erinnerungsstücke und nüchterne, ersetzbare Gebrauchsgegenstände – Schirme, Taschen, Schlafsäcke, alles Gegenstände, die im Fundbüro niemand mehr abholt und die man gewissermaßen einschläfert.281 Dagegen setzt das Fundbüro eine Achtsamkeit und Fürsorge, die den Mitarbeitern innezuwohnen scheint. So beschreibt Paula in einer Passage Henry, dem, wie wir erfahren, die »tägliche Begegnung mit Verlierern, mit den Leuten, die uns einen Verlust anzeigen« (LeF, 334) gefällt: »Es gibt hier keinen, bei dem die Fundsachen sich so wohl fühlen wie bei dir, du gehörst hierher.« (LeF, 315). Dass nicht nur tatsächliche, sondern auch vermeintliche Verlierer in Fundbüro zu den Gewinnern gehören, ist ebenfalls eine Erkenntnis, die der Text nahelegt. Am Schluss, erfahren wir, verbleibt Henry im Fundbüro. Er wird, auf Vorschlag von Paula, der stellvertretende Fundbüroleiter. Dass dieser, für Fundbüro-Verhältnisse, große Karrieresprung auch eine Kehrseite hat, zeigt sich am Grund für diese Ernennung: Bußmann hat einen Schlaganfall erlitten. Es ist fraglich, ob er ins Fundbüro zurückkehren wird (vgl. LeF, 328). Beide Bewegungen, das Verlieren und das Finden, das Finden und das Verlieren, verschränken sich im Fundbüro. An diesem Ort wird die Ding-Mensch-Nähe deutlich, die analogen Strukturen um die Sorge um Dinge und die Sorge um Menschen. So heißt es gegen Ende des Romans, dass sich Henry, wie es heißt, »mitunter selbst wie eine Fundsache vor[kommt, CHG].« (LeF, 316). Eine Fundsache allerdings, die an einem Bewahrungsort idealerweise dauerhafte Entsorgungsimmunität, auch im Zustand der

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Jeggle 1998, 149.

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Verlorenheit, genießt. Dass Abfälle wie in der Flussgrund-Episode entstehen, soll unbedingt verhindert werden. Ob das Fundbüro im Roman weiterhin ein Bewahrungsort, ein Ort des Findens in einer Welt der Verluste bleiben kann, ist fraglich. Der Fortbestand der Institution Fundbüro bleibt offen.

3.5.3

Verlassenes und Verworfenes in Inka Pareis Die Schattenboxerin

Nicht auf der Kippe, sondern ganz draußen befindet sich die Protagonistin von Inka Pareis Roman Die Schattenboxerin (1999)282 . Im Gegensatz zu den Texten Genazinos, insbesondere Abschaffel, wird nicht aus einer Perspektive der Teilinklusion, des Auf-derKippe-Seins das Wegwerfen verweigert, sondern gezeigt, welche neuen Sichtweisen auf Alltagshandlungen ein Leben im Ausnahmezustand eröffnet. Dabei handelt es sich um keine selbstgewählte Verweigerungshaltung, eine Haltung, die ebenfalls oftmals in den Texten Genazinos anklingt, sondern um die Isolation in Folge einer traumatischen Erfahrung. Im Unterschied zu Siegfried Lenzʼ Fundbüro widmet sich der Text auch nicht den Möglichkeiten, an Durchgangsorten temporäre und längerfristige Verbindungen zu schaffen: Die Zeit für Geschichten, für das Erzählen ist rar im Ausnahmezustand. So bleibt nichts von den märchenhaften Zügen, die immer wieder in Fundbüro aufblitzen. Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte an die zuvor untersuchten Texte: Auch in diesem, oft im Kontext von (Post-)Wende- bzw. Berlin-Literatur283 rezipierten, Roman vermitteln verlorene und verlassene, aber auch persönliche Dinge zwischen Menschen, verbinden Zeiten und Orte. Es stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit und nach der Vermittlungsarbeit, die Abfälle leisten. Und auch im Ausnahmezustand gibt es Orte und Momente solidarischen Handelns. Was diese Themen mit Abfall, mit Wegwerf-, Bewahrungs- und Löschungsakten zu tun haben, wird die folgende Interpretation zeigen. Die in Fundbüro so bedeutsamen Durchgangsorte spielen in Die Schattenboxerin ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Ich-Erzählerin der Erzählgegenwart des Textes, eine junge Frau namens Hell284 , lebt in Berlin nach der Wiedervereinigung heimlich in einem verfallenen Hinterhaus, das, mit Ausnahme ihrer Nachbarin Dunkel, die sie kaum sieht und nur flüchtig kennt, verlassen ist. Hell hat sich nach einer traumatischen Erfahrung, die ihr kurz vor der Wiedervereinigung im Mai 1989 widerfuhr, von der Außenwelt zurückgezogen. Obgleich die das Trauma Hells auslösende Tat nie konkretisiert wird, lassen die Spuren,

282 Vgl. Parei 2001, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle PaS und Seitenzahl zitiert. 283 Vgl. Gerstenberger 2008, 35-40 und Meise 2005. 284 Dass es sich bei der Ich-Erzählinstanz um eine Frau handelt, erfahren wir erst auf Seite 23, dass ihr Name Hell ist, auf Seite 55.

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die der Text legt, vermuten, dass es sich um eine Vergewaltigung handelte.285 Von den Umständen dieser Nacht sowie der Zeit unmittelbar danach wird immer wieder bruchstückhaft durch in die Erzählgegenwart des Textes eingeschobene Rückblenden erzählt. Während Hell vor der Gewalttat in der Gegend um den Hermannplatz, also im Übergang zwischen Kreuzberg und Neukölln gewohnt hat, zieht sie, inzwischen immer isolierter lebend, einige Monate nach der Wiedervereinigung in die Lehniner Straße 14, eine Straße in unmittelbarer Nähe des Rosa-Luxemburg-Platzes und des Rosenthaler Platzes im Bezirk Prenzlauer Berg. Was sie genau zum Ortswechsel bewegt hat, bleibt unklar. Zur Zeit des Umzugs beginnt Hell, in Wang Yings Kampfschule in Wedding Unterricht in chinesischem Kungfu zu nehmen. Das harte, höchst unorthodoxe KungfuTraining, aber auch die Freundschaft mit dem rumänischen Cafébesitzer Mirca, dem sie durch ihre neugewonnenen Kampfkünste gegen Erpresser beistehen kann, helfen Hell allmählich, ihre Isolation zu überwinden. Während diese knappe Inhaltsangabe notwendig ist, um den Kontext einer abfallzentrierten Analyse von Die Schattenboxerin herzustellen und einzelne Passagen in die Gesamthandlung einordnen zu können, täuscht sie aber auch. Im Gegensatz zu der sortierten und weitgehend chronologischen Inhaltsangabe erfahren wir zu Beginn des Romans erst einmal recht wenig darüber, mit wem wir es zu tun haben und müssen die Ereignisse der Erzählgegenwart und der Vergangenheit rekonstruieren.286 Dies gilt auch für die anderen Figuren, über deren Vorleben wir ebenfalls aus Erzählungen, Andeutungen und anderen, mitunter unzuverlässigen, Fragmenten erfahren, die nicht immer ein schlüssiges Bild ergeben. Figuren wie Hells Nachbarin Dunkel bleiben, der Name ist sprechend, weitestgehend im Verborgenen. Die oben angedeutete Gegenwart des Romans setzt im ersten Kapitel fünf Jahre nach der traumatischen Gewalttat, im Jahr 1994, ein. Hell wohnt noch immer in der Lehniner Straße und hat ihre Kungfu-Ausbildung bei Wang Ying beendet. Ihre Nachbarin Dunkel ist seit kurzer Zeit verschwunden. Hells Alltag, so erfahren wir zu Beginn des Romans, ist von Entbehrungen und immer noch weitgehender Isolation gekennzeichnet. Gleich auf der zweiten Seite des Romans begegnet uns Abfall. »Mit einer langen Hakenstange bewaffnet«, heißt es dort, »will ich den Abfall der vergangenen Woche fortschaffen.« (PaS, 8) Dieser Alltag wird durcheinandergebracht durch den jungen Bankräuber Markus März, ein alter Schulfreund und Verehrer von Dunkel, der wie Dunkel aus Bad Homburg nach Berlin kam. März ist, wie wir erfahren, auf der Suche nach seinem leiblichen Vater, der in der DDR blieb, während März und dessen Mutter in die Bundesrepublik flohen. 285 Zur Schwierigkeit der Konkretisierung der Gewalttat vgl. Hannes Fricke: »Ihr muss etwas angetan worden sein – das Wort ›Vergewaltigung‹ fällt zwar an keiner Stelle, liegt jedoch nah [….].« (Fricke 2004, 185) Elke Gilson fasst das im Text Leerstelle bleibende Trauma Hells folgendermaßen in Worte: »Am Anfang ihres zurückgezogenen Lebens stand ein traumatisches Ereignis, eine mutmaßliche, jedoch nie als solche beschriebene Vergewaltigung am Abend des 1. Mais 1989.« (Gilson 2010, 321) 286 Gilson spricht von einer erforderlichen detektivischen Leistung beim Lektüreprozess. Auch nach mehrmaligem Lesen des Romans gelingt eine Rekonstruktion der Geschichte der Protagonistin »nur unvollständig« (Gilson 2010, 319). Ein Hinweis auf Detektivarbeit findet sich auch bei Gerstenberger 2003, 267, hier wird jedoch auf die Fähigkeit Hells verwiesen, Spuren zu folgen.

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Nach einer Annäherung zwischen Hell und März, dem Auffinden von Märzʼ Vater und einer erneuten, unvollständig bleibenden Konfrontation Hells mit dem Mann, mit dem sie durch die nie explizit geschilderte traumatische Erfahrung verbunden ist und der sich ebenfalls als alter Bekannter von März herausstellt, will Hell ihr Leben ändern. Da sich abzeichnet, dass sie nicht länger im Abbruchhaus bleiben kann, beschließt sie, ermuntert von der wiederaufgetauchten Dunkel, bei einem gemeinsamen Frühstück in Mircas Nachbarschaftscafé mit der Nachbarin das Abbruchhaus zu verlassen. Tatsächlich ist auch mit dem Hinweis auf Rückblenden der komplexen Zeit- und Raumstruktur des Romans nicht Genüge getan. Die mitunter recht kurzen Kapitel oszillieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Erzähltextes, ohne dass immer klar ist, in welcher der Romanzeiten wir uns gerade bewegen. Erst gegen Romanende – warum, wird die folgende Interpretation zeigen – kommt es zu einem Ineinanderfließen der Zeitebenen, die letzten Kapitel sind in der Erzählgegenwart angesiedelt. Die Rekonstruktion der Ereignisse wird zudem erschwert durch etliche Leerstellen und rätselhafte Zufälle. Wie die Fragmentierung der Stadt, die sich im Roman nur unzureichend ausbreitet, werden Lücken im Erzählen offenbar, besonders offensichtlich in Verbindung mit Hells Trauma. So erfahren wir zwar, wie Hell sich am Abend des 1. Mai 1989 während der Konfrontation zwischen Demonstrierenden und Polizei ins Brachland um den ehemaligen Görlitzer Bahnhof flüchtet. Weiter erfahren wir, wie Hell sich verläuft, von einem Hund angefallen und gebissen wird und wie sie, erst gerettet, dann gefangen in der Baracke eines ehemaligen Bahnhofshäuschens, von einem kleinwüchsigen, rothaarigen, Pfeife rauchenden Mann blutig einen Ohrring ausgerissenen bekommt (vgl. PaS, Kapitel 3, 15-22, die Begegnung mit dem mutmaßlichen Vergewaltiger 21f.).287 Zwischen dem ausgerissenen Ohrring des Abends und dem nächsten Morgen, an dem Hell aus einem »betäubungsähnlichen Zustand« (PaS, 61) im Bahnhofshäuschen aufwacht, sich zurück nach Neukölln schlägt und auf der Polizeiwache Anzeige erstattet, klafft aber eine Lücke von vier, unterschiedliche Zeitebenen umfassenden, Kapiteln – und etlichen unerzählten Stunden. Der Roman hat, vor allem aufgrund seiner komplexen Komposition und der Berlinbzw. Wendethematik, Aufmerksamkeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung erhalten. Kategorisieren lassen sich die Forschungsbeiträge, meist in Form von Aufsätzen oder kurzen Buchkapiteln, in um die Analogien von verwundetem Körper und verwundeter Stadt kreisende Interpretationen wie die von Doerte Bischoff288 , Interpretationen, die Fragen nach den Verortungen und Räumen des Textes stellen, vor allem auch, wie die Beiträge von Helga Meise289 und Katharina Gerstenberger290 zeigen, mit Blick auf das Nachwende-Berlin. Hannes Fricke liest den Roman im Kontext seines literaturwissenschaftlich inspirierten Beitrags zur Traumaforschung.291 Umfangreicher, dies vielleicht auch dem zeitlichen Abstand geschuldet, gestaltet sich der im Jahr 2010, also mehr als zehn Jahre nach Erscheinen des Romans, publizierte Aufsatz von Elke

287 288 289 290 291

Zu den Textstellen vgl. auch Gilson 2010, 340, Fußnote 6. Vgl. Bischoff 2005. Vgl. Meise 2005. Vgl. Gerstenberger 2003, 264-267 und, ausführlicher, Gerstenberger 2008, 35-40. Vgl. Fricke 2004, 185-192.

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Gilson.292 Gilson nimmt sich der zahlreichen Verdoppelungen, Spiegelungen und Spaltungen an und stellt den Roman sowohl in die Tradition romantischer Erzählliteratur als auch in den Kontext einer Stadtliteratur, die sich vor allem an Umbrüchen abarbeitet. Mehrere der aufgeführten Interpretationen erwähnen explizit, wenn auch nur kurz, die Rolle von Abfällen in Die Schattenboxerin: Meise, Bischoff und Gerstenberger lesen Abfall vor allem als Ausdruck einer Vernachlässigung, die vorrangig urbanes Ödland und städtische Nicht-Orte kennzeichnet und mit den historischen Veränderungen Berlins zusammenhängt.293 Thematisiert werden zudem die desolate Situation im abfälligen Abbruchhaus und der Zusammenhang zwischen Müll und Vergangenheit.294 Zur bereits zitieren Abfallpassage zu Beginn des Romans schreibt Gilson, die kriegerische Metaphorik der Alltagshandlung (»[m]it einer langen Hakenstange bewaffnet«, PaS, 8) betonend: »Die Hindernisse, welche die Protagonistin bei der Entsorgung ihres Mülls erfährt, bilden ein Sinnbild für ihre Schwierigkeiten, sich von der Vergangenheit zu befreien.«295 Dass Abfall weitaus mehr Funktionen im Text hat als die Manifestation einer (traumatischen) Vergangenheit zu sein, von der es sich zu lösen gilt, will die folgende abfallzentrierte Interpretation zeigen. Zu Beginn des Romans werden wir in eine Welt der Verlassenheit, des Verlassenseins katapultiert. Zunächst erfahren wir nur, dass in einem fast leerstehenden Abbruchhaus noch zwei Menschen leben. Dies berichtet uns die Ich-Erzählerinstanz: Seit einer Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße, den wir als einzige noch bewohnen, sie und ich. Ein Trakt mit düsteren Berliner Zimmern, geformt wie Quadrate, denen man eine Ecke abgehackt hat, Zimmer mit drei Außenwänden, praktisch unbeheizbar, und das Klo liegt auf halber Treppe. (PaS, 7) Die berichtende Person holt uns in die Gegenwart ihres Alltags. Wir erfahren, dass der harte Winter wohl der Grund war, auch die letzten Mieter zum Auszug zu bewegen. Die Nennung der Ortsangabe Lehniner Straße und das Stichwort Berliner Zimmer verorten den Text in Berlin, gleich darauf fallen ebenfalls auf der ersten Seite des Romantextes die Ortsangaben Marzahn und Hellersdorf. Ein Berlin freilich, das zwischen Gegenwart des Textes und Vergangenheit oszilliert und so, trotz der Markierungen verschiedener Orte, merkwürdig nebulös bleibt.296 Die Unannehmlichkeiten der alten Wohnungen haben die ehemaligen Hausmitbewohner, so die Vermutung der Erzählerin, gegen neugebaute Plattenbauwohnungen ausgetauscht. Wohnungen, die zwar uniform gestaltet sind, aber dennoch mit allerlei Annehmlichkeiten ausgestattet den Alltag erleichtern: 292 293 294 295 296

Vgl. Gilson 2010. Vgl. zu den urbanen Räumen und Orten im Text Meise 2005. Vgl. Gilson 2010, 339. Gilson 2010, 339. Gilson weist darauf hin, dass es zur Zeit der Romanhandlung keine Lehniner Straße in Berlin gibt, sondern lediglich in den Jahren zwischen 1897 und 1927 – da allerdings nicht im Prenzlauer Berg, wie die Lehniner Straße im Roman, sondern zwischen Kreuzberg und Neukölln (vgl. Gilson 2010, 324f. und 341, Fußnote 14 und 15).

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Vor Beginn des Winters sind die wenigen noch vorhandenen Mieter ausgezogen, meist in die Nähe irgendwelcher Verwandter, in den Plattenbau, mit Zentralheizung und Müllschlucker, draußen in Marzahn oder Hellersdorf. (PaS, 7) Dass hier, auf der ersten Seite des Textes, der Müllschlucker erwähnt wird, zeigt die Bedeutung des Komplexes Entsorgen, Verlassen, Wegwerfen in Die Schattenboxerin. Während die Plattenbauten im Roman für die Bequemlichkeit, aber auch die Uniformiertheit eines geregelten Lebens stehen, erfahren wir gleich zu Beginn, dass der Alltag der Ich-Erzählinstanz weit von solchen Bequemlichkeiten entfernt ist. Im Gegensatz zu den Annehmlichkeiten des Plattenbaus wird erzählerisch die Nähe zu Abfall hergestellt, wenn die Dielenfarbe geschildert wird als »mit den noch im Einheitsbraun der vierziger Jahre gestrichenen Dielen. [….] Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt sie [die Farbe, CHG] dem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen, wenn sie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen ernährt werden.« (PaS, 7) Gleich zu Beginn werden wir, wie bereits kurz gezeigt, mit der Schwierigkeit Hells konfrontiert, an diesem abfälligen Ort den Hausmüll zu entsorgen – normalerweise eine routinierte, mitunter ritualisierte Handlung, die wie andere Alltagshandlungen des Entfernens, Ordnens und Aufräumens, kaum registriert wird. Die Abfälligkeit des Wohnhauses wird dadurch sichtbar, dass es von Entsorgungssystemen abgekoppelt wurde. Die städtische Müllabfuhr hat die Zuständigkeit für das Abbruchhaus eingestellt, was dazu führt, dass die Wegwerfhandlung Planung und Zeit in Anspruch nimmt. So ist kaum ein größerer Kontrast zu denken als zwischen dem Entsorgen des Hausmülls in einem Müllschlucker und der mühevollen Entsorgungsarbeit, die beschrieben wird: Seit im Sommer das letzte Mal Müllmänner hier auftauchten und die alten eisernen Tonnen fortnahmen, ist das ein Vorgang, der spezielles Werkzeug und nicht zu unterschätzende Geschicklichkeit verlangt. (PaS, 8) Während, vor allem von Gilson, die Entsorgungstätigkeit als Teil einer Kampfhandlung, als Schattenkampf gegen die Alltagsabfälle, gegen die täglich anfallenden Reste interpretiert wird (Hinweise liefert für Gilson das Wort ›bewaffnet‹),297 sehe ich hier eher die Problematik einer isolierten, von Infrastrukturen abgeschnittenen Existenz in einer mittunter feindlichen Umgebung. Alltägliche Handlungen wie Heizen oder das Benutzen der sanitären Einrichtungen sind nicht nur mühevoll, sondern bergen immer die Gefahr der Entdeckung und der Räumung. Es wird zugleich deutlich, dass die von Sonja Windmüller und anderen Müllforscherinnen wie Gay Hawkins oder Susanne Hauser meist im Kontext des Recyclings298 diskutierten Rationalisierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen hinsichtlich der Hausmüllentsorgung nicht nur restriktiv sind, sondern mitunter paranoide Züge aufweisen können – wer falsch oder nicht den Regeln entsprechend entsorgt, macht sich verdächtig. So fällt die Wahl des Zeitpunkts der Müllentsorgung Hells auf den späten Vormittag, da zu dieser Zeit weniger Menschen »mißbilligend aus dem Fenster starren« (PaS, 8). Es ist anzunehmen, dass neben der generellen Furcht vor Entdeckung gerade das nicht

297 Vgl. Gilson 2010, 339. 298 Vgl. Hawkins 2006 und Hauser 2010.

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ordnungsgemäße Entsorgen von Abfällen unangenehme Folgen haben kann. Das Problem in der Form eines Bündels Plastiktüten muss unter der Zuhilfenahme von Werkzeugen und Geschicklichkeit über einen Zaun hinweg auf das Nachbargrundstück verschoben werden, um es so wieder den Diensten der geregelten Müllabfuhr zugänglich zu machen: Ich trete an den Maschendrahtzaun, der seit Wiedereinführung des Privateigentums über den kleinen, gemauerten Sockel gezogen wurde, der ihr Grundstück von unserem trennt. Vorsichtig schiebe ich die Stange durch ein handgroßes Loch, bis der Haken den Plastikgriff des Müllbehälters umschließt, und öffne den Deckel, indem ich das Ende meiner Stange nach unten stoße. Dann muß ich die prall verschnürten, hellgrünen Beutel so hochwerfen, daß sie in spitzem Winkel jenseits des Drahtes nach unten fallen […]. (PaS, 8f.) Dies ist bereits ein erster Hinweis auf ein grundlegendes Thema, das vor allem gegen Ende von Doerte Bischoffs Lektüre zur Sprache kommt. Die Wiedervereinigung ist verbunden mit der Etablierung eines neuen Wirtschaftssystems, auf das das Stichwort »Privateigentum« verweist. Dieses Wirtschaftssystem schafft, das ist die eine Seite, neue Möglichkeiten. In Die Schattenboxerin werden diese Möglichkeiten anhand des Warenangebotes der Supermärkte aufgezeigt, zu denen die Menschen nach der Maueröffnung strömen (vgl. PaS, 121: »Und dann kommen sie. Plötzlich, an einem Tag im November, kommen sie. […] Sie starren auf meinen Korb. Ich bin umzingelt von fremden Leuten, und alle blicken auf das, was ich eingekauft habe.«).299 Diese Möglichkeiten führen aber auch, das ist ihre Kehrseite, zu neuen Trennungen, zu Exklusionsprozessen. Hell ist arm, sie kann zum Zeitpunkt der Maueröffnung zwar noch Nahrungsmittel kaufen, lebt aber von ihrer Waisenrente, im weiteren Verlauf des Romans dann 299 Die Ethnologin Milena Veenis untersucht in ihrem Aufsatz Consumption in East Germany. The Seduction and Betrayal of Things (vgl. Veenis 1999) diese Hoffnungen und Enttäuschungen, die die Menschen in Ostdeutschland, exemplifiziert durch Forschungen im thüringischen Rudolstadt zwischen 1993 und 1994, in Bezug auf Konsumdinge hatten. Nikolaus Wegmann widmet sich der Wende als Prozess einer gigantischen Abfallproduktion in Bezug auf Bücher (vgl. Wegmann 2000, 92f.). In dem von ihm zitierten Fallbeispiel eines Pastors, der die abfallnahen Bücher retten wollte, würde im Gegensatz zu sonst unsichtbar stattfindenden Vorgängen des Aussortierens und Verwerfens von Büchern dieser Büchermüll sichtbar werden: »Dank dieser Aktion weiß man jetzt auch, was weggeworfen wurde: Die Liste reicht vom Kochbuch über Bücher zur Augenchirurgie, experimentelle Lyrik, offizielle DDR-Verlautbarungen und sozialistische Pädagogik bis hin zu Klassikern wie Tolstoi oder Anna Seghers – und ist darin ein Querschnitt von dem, was man in einer großen Bibliothek auch findet.« (Wegmann 2000, 93, FN 40) Zugleich zeigt der nach der Wende und Wiedervereinigung stattfindende Prozess einer massenhaften Entwertung und Abfallwerdung von Büchern: Abfall ist keine feststehende Kategorie, im Falle der vermodernden Bücher liegt laut Wegmann der Statuswechsel von wertvollen, von lesenswerten Büchern hin zu Abfallbüchern darin begründet, dass es für »diese Bücher keine ausreichende Aufmerksamkeit« (Wegmann 2000, 94) mehr gebe. Im Fall des DDR-Büchermarktes kam hinzu, wie Wegmann zeigt, dass eine »orthodoxe Obrigkeit« (Wegmann 2000, 94) die Entscheidungsmacht darüber hatte, was lesenswert war, mehr noch durch Zensur gerade erst eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Unerwünschte erzeugte. Nach der Wende fielen diese Instrumente der Aufmerksamkeitserzeugung weg. Zum Aspekt der Entwertung von Büchern nach ideologischen Paradigmenwechseln vgl. am Beispiel der 1968er Literatur die Interpretation von Uwe Timms Rot in Kapitel 4.5 dieser Arbeit.

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lediglich von ihren geringen Ersparnissen. In der zitierten Textstelle weiter oben manifestieren sich die neuen Trennungen im neu installierten Maschendrahtzaun. Damit zusammen hängt auch die weitreichende Umgestaltung der Stadt Berlin.300 Eine Umgestaltung, die mitunter dazu führt, die Vergangenheit zu löschen. Zur vielschichtigen und mitunter widersprüchlichen Bedeutung von Löschungsprozessen in Die Schattenboxerin später mehr. Zunächst sei auf deren Konsequenzen für Berlin verwiesen. Während an manchen Orten repräsentative Prestigebauten entstehen, werden andere, oftmals geschichtsträchtige Häuser ohne Rücksicht auf ihre Vergangenheit saniert oder abgerissen – was zählt, ist die Rentabilität der Immobilie. So wie das Leben der IchErzählerin sich neu strukturiert, so lassen sich auch Neustrukturierungen sowohl in Bezug auf Berlin als auch, im Kleinen, auf Hells Haus feststellen. Es soll saniert werden. Ein Hinweisschild einer Baufirma kündigt die anstehenden Arbeiten an: Unwahrscheinlich, daß man dieses verfallene Haus einfach vergessen würde, während alle anderen nach und nach saniert werden. Es war vorhersehbar, daß ich mich hier nicht ewig würde verkriechen können, ohne Mietvertrag, von keiner Verwaltung gekannt oder registriert. (PaS, 9) Die Zukunft wird im Moment der Entdeckung für Hell zu einer Zukunft, die sich außerhalb des Schutzraumes Abbruchhaus konstituieren muss. Die Textstelle zeigt aber auch: Während die ›Überflüssigen‹ noch teilinkludiert sind, gibt es in den Städten auch die Zonen der Komplettexklusion. Mehr noch, wie das Beispiel Hells zeigt: Menschen, die nicht registriert, verzeichnet sind, leben mitunter nicht am Rand der Existenz, sondern hören auf gewisse Weise auf zu existieren. Während Hell zunächst noch Waisenrente bezieht und, ihr Recht als Bürgerin wahrnehmend, Anzeige erstattet, verschlimmern sich ihre finanzielle Situation sowie ihre Isolation zunehmend. So heißt es zu ihrem dritten Winter, in dem sie auch Mirca kennenlernt, zu ihrem Leben im Abbruchhaus und ihrer Armut: »Es ist derselbe Winter, in dem ich anfange, mich von Haferflocken, Erdnußbutter und einem Vitaminpräparat zu ernähren, heißes Wasser zu trinken und das Stopfen von Kleidungsstücken zu lernen. Meine Ersparnisse sind fast verbraucht.« (PaS, 41) Die desperate Situation verschärft sich für Hell dadurch, dass ihre Nachbarin Dunkel, von der wir ebenfalls gleich zu Beginn des Textes erfahren, verschwunden ist: »Ausgerechnet jetzt läßt sie mich allein. Dabei ist sie in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal länger weg gewesen, noch nicht mal für einen oder zwei Tage.« (PaS, 10) Hell ist nicht nur verwundert, das Verschwinden Dunkels bringt sie aus dem vermeintlich wiedererlangten, immer noch äußerst fragilen Gleichgewicht (vgl. PaS, 10). Das Haus wird durch die totale Menschenleere, einzige Mitbewohner sind abfallaffine, abfallnahe Tiere wie Schaben und Ratten, zum Geisterhaus. Die Vergangenheit, die sich in ihm ablagert, evoziert in der bedrohten Ausgangssituation Hells Alpträume: 300 Dass die Architektur der DDR und anderer sozialistischer Staaten ebenfalls nicht gerade menschenfreundlich war, blitzt an einer Stelle im Roman auf: Als aus der Perspektive Hells die Malereien ihres rumänischen Freundes Mirca beschrieben werden, die die Traumata seines Lebens unter der Diktatur zum Hauptthema haben, heißt es: »Menschen in kalten Prachtstraßen, mit teigigen Gesichtern und Ochsennacken, als wäre der Terror ein Hormon, das den Wuchs verzerrt, Kinderköpfe hinter den rostigen Gittern eines Heimfensters, halslos, leiblos, übereinandergestapelt wie Kohl […].« (PaS, 13)

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Noch dazu bin ich seit Tagen umzingelt von nachtaktivem Getier, von Asseln, Schaben und kleinen Ratten, die mir das Wohnrecht streitig machen. Und kürzlich habe ich den Fehler gemacht, das verödete Vorderhaus zu erkunden. Die im Erdgeschoß verschimmelnden cremefarbenen Polstergarnituren beugen sich jetzt nachts im Traum über mich und schnüffeln an einem vor Schmutz brettharten FDJ-Hemd, das im zweiten Stock am Fensterkreuz hing. Es ist oben am Hals mit meiner Haut verwachsen, so daß ich es nicht ausziehen kann, kurz gesagt: Ich verliere die Nerven. (PaS, 10f.) Das FDJ-Hemd spielt nicht nur auf die Vergangenheit des Hauses an sich an, sondern auch auf die Vergangenheit des untergegangenen Politik- und Wirtschaftssystems der DDR. Das FDJ-Hemd ist so nicht nur Bekleidungsstück, sondern auch Ausdruck der staatstragendenden Ideologie dieses Systems. Das Verwachsensein mit Hells Haut kann auch als Bild für eine totalitäre Erfahrung gelesen werden, die – gleich dem Trauma, das der im Westen der Stadt aufgewachsenen Hell widerfahren ist – nicht abgeschüttelt werden kann.301 Den Hinweisen, die das kurze erste Kapitel gibt, kann vertraut werden: Auch auf den folgenden, insgesamt 21 Kapiteln scheint auf fast jeder Seite das Abfällige aufzutauchen, ganz unscheinbar und nebenbei, manchmal jedoch überaus auffällig platziert. Vor allem die Interpretationen, die den Roman vor dem Hintergrund seines Erzählens über Vergangenheit und Gegenwart Berlins lesen, sehen Analogien zwischen der verwundeten Hell und Berlin als Stadt mit Wunden, die in diese Stadt eingeschrieben sind. Exemplarisch sei auf die Interpretation von Doerte Bischoff verwiesen, die feststellt, dass »die Stadt nach der Wende und das heißt, nach dem Sichtbarwerden verschiedener, sich überlagernder und durchkreuzender gewaltsamer Markierungen, die die Diktaturen in/auf ihr hinterlassen haben, mit einem Körper assoziiert [wird], der von nicht-geschlechtlichen Markierungen wie Narben, Spaltungen, Verletzungen gekennzeichnet ist.«302 In Hells eigener Körperlichkeit zeichnen sich so Verletzungen und Zerteilungen, die gewaltvolle Vergangenheit ein.303 Die Stadt Berlin begegnet uns so im Roman als Stadt der Trennungen, die auch nach der Wende weitergeschrieben werden, wenn sie sich auch verlagern, verschieben. Es kommt zu neuen Trennungen, etwa denen zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, zwischen Eigentümern und Mittellosen, wie auch der neue Zaun in der Lehniner Straße symbolisiert. Auch der Romantext selbst trennt zwischen zwei Zeiten: der Zeit vor und nach der traumatischen Erfahrung.304 Besonders der Ort, an dem die das Trauma Hells auslösende Gewalttat stattfindet, wird im Text als Ort markiert, an dem sich Abfälle sammeln: das Stadtgebiet erinnert an »Wüste und Steppe« (PaS, 16), die Gegend um den Görlitzer Bahnhof 301 Zu Haut im Roman vgl. auch Gilson 2010. Haut wird hier in ihrer Funktion als Mittlerin zwischen Innen und Außen, als Grenze zwischen Selbst und Welt verstanden, die Interpretation fokussiert so auch die Verletzungen und Verletzlichkeit von Hells Haut (vgl. Gilson 2010, 319). So stellt Gilson in ihrer Erwähnung des FDJ-Hemdes keine Verbindung zu Abfall oder zur DDR-Vergangenheit her. 302 Bischoff 2005, 130. 303 Vgl. Bischoff 2005, 138. Vgl. auch Gerstenberger 2008: »The scarred landscape of the divided city burns itself into Hell’s memory about six months before the fall of the wall. Parei fuses the experience of rape and Berlin’s division into images of violation that have left its marks on the city as well as the woman’s body.« (Gerstenberger 2008, 37) 304 Vgl. Gerstenberger 2008, 36.

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begegnet uns als »verwilderte und unstrukturierte Brache voller Müll und verfallener, funktionsloser Gebäudereste«305 . Katharina Gerstenberger macht darauf aufmerksam, um welch besonderen Ort es sich beim Görlitzer Bahnhof handelt. Im Krieg beschädigt, wurde er als Bahnhof in den 1950er Jahren stillgelegt, in den 70er Jahren dann abgerissen. 1989 war der Ort Brachland, bevor er schließlich zur Parklandschaft konvertiert wurde.306 In Die Schattenboxerin erleben wir das Gelände im Zwischenstadium zwischen ehemaliger Nutzung als Verkehrsknotenpunkt und neuer Nutzung als Naherholungsgebiet. Gerade in diesem Rand- und Zwischenstadium ist der Ort ein abfälliger, ein abfallnaher Ort, in dem sich Kultur und Natur überlagern und sich Randständige, gesellschaftlich als ›abfällig‹ wahrgenommene Menschen treffen. Dies thematisiert auch Gerstenberger, wenn sie feststellt: »[T]he terrain is a no-man’s land where anarchists, alcoholics, and looters congregate. An inhospitable nature has taken over the once urban side of the train station.«307 Hell flüchtet sich in die Ruine eines ehemaligen Bahnhäuschens (»Ich stecke zwischen Pfützen, alten Spritzen, im Uringestank.« PaS, 20), das ihr zur Falle wird. Im Kontrast zum Ödland wird das Leben vor der Gewalttat, wird der Wohnort Hells in Neukölln als »von Tagespolitik unberührt[…]« (PaS, 66) beschrieben, ihr früheres Leben als »riskant und sorglos« (PaS 15), wie die Erzählung des traumatischen Tages im dritten Kapitel eingeleitet wird. Direkt nach dem traumatischen Erlebnis hatte Hell Pfeifen und Tabaksbeutel des fremden Mannes an sich genommen. Bereits zuvor gab es Hinweise auf das Pfeifenrauchen Hells, etwa wenn Markus März sie als »die Frau mit der Pfeife« (PaS, 29) bezeichnet. Die Pfeifen und der Tabakbeutel werden zum Mittler zwischen den Zeiten, Auslöser eines Erzählens über die gewaltvolle Tat der Vergangenheit. So triggert308 in Kapitel 3 der Geruch des Tabaks, löst der Rauch den Erzählvorgang aus und holt die Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Hell hat aus Versehen nicht den selbstgekauften, sondern den Originaltabak des Mannes erwischt. Weil dieser Rauch Hell bei einem ihrer Rauchversuche ins Gesicht weht und weil sie, einer Halluzination gleich, daraufhin im Pfeifenkopf den Kopf des Gewalttäters zu erkennen glaubt, beginnt die Erzählung über jenen Tag im Mai 1989: Ich gehe wieder die Straße entlang, an einem Frühlingstag des Jahres 1989. Ich bin wieder im alten, jetzt völlig unwirklichen Leben an der westlichen Achse der Stadt. Noch kenne ich nichts anderes. Noch fehlt mir der Eindruck, daß dieses Leben eine Täuschung war, riskant und sorglos. Gelebt auf Kosten des heutigen, für das ich an manchen Tagen kaum Kraft aufbringe. (PaS, 15) So wird gleich zu Beginn der Erzählung zwischen zwei Vergangenheiten, die beide obsolet wurden, und der Gegenwart des Textes vermittelt. Ob mit den Kosten, die in der

305 Bischoff 2005, 128. 306 Zu diesen Transformationsprozessen vgl. ausführlich die Arbeit von Susanne Hauser (vgl. Hauser 2001, zu den Aufräumarbeiten, die einer Neu- bzw. Umgestaltung vorausgehen vgl. besonders 57-82). 307 Gerstenberger 2008, 36. 308 Zum Begriff des Triggers in Bezug auf Traumata vgl. Fricke 2004, 19.

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eben zitierten Textstelle angesprochen wurden, auch die des sorglosen, müllproduzierenden Lebens gemeint sind, bleibt offen, dies bietet der Text jedoch als eine Lesart an. Das in weiten Teilen des Romans geschilderte Leben nach der Gewalttat, darauf machen viele der Interpretationen aufmerksam, ist ein Leben, das sich durch ein kontinuierliches Gefühl der Fremdheit kennzeichnet.309 So finden sich in der Textpassage, die den Morgen nach der Gewalttat beschreibt, Hinweise darauf, dass auch der eigene Körper fremd wurde (»Ich schaue an mir herunter. Meine nackten Füße stecken in den heruntergetretenen Riemen brauner Sandalen. Von spitzen Sandkörnern gescheuert, brennen die Fußballen, die sich mit Schweiß in den Zwischenraum von Hautsohle und Lauffläche geklebt haben.« PaS, 64) Der bei Abschaffel diagnostizierte Wegwerfwiderwille wird bei Hell, kurz nach dem Trauma, zum Entsorgungsgebot, zum Entsorgungszwang: Zum einen erfolgt eine, als unfreiwillig geschilderte, Abstoßreaktion des Körpers (»Lange, bevor ich meinen Schließmuskel zu einer Abwehrmaßnahme bringen kann, beginnt mein Darm mit dem Abstoß lästiger Stoffe.« PaS, 62), zum anderen, trotz seiner Unmöglichkeit, der Versuch, das Geschehene rückgängig zu machen: »Ich richte mich auf und zerreiße meine Unterwäsche.« (PaS, 62) Der Weg zurück nach Hause wird als beschwerliche Irrfahrt geschildert. Die Zeit nach der Gewalterfahrung ist, darauf weist auch Gilsons Interpretation hin, gekennzeichnet durch Schrumpfungen: Im Gegensatz zu den langen, detaillierten Beschreibungen im ersten Kapitel werden die Zeiträume nach der Tat als Rückblicke erzählt, in denen Monate auf wenige Sätze schrumpfen. Diese Schrumpfung von erlebter Zeit in wenige Sätze erzählter Zeit korrespondiert mit einer gefühlten Rückzugsbewegung Hells, die sich und ihren Körper am liebsten minimieren, gar sich, falls möglich, komplett in ihren Körper zurückziehen möchte (vgl. PaS, 113). Der Radius ihres Lebens beschränkt sich weitestgehend auf die Neuköllner Wohnung und den nahen Lebensmittelladen. Diese Beschränkungen gehen einher mit einer Neuentdeckung der Welt, die anders ist als zuvor: Mit dem Sehen und Hören muß ich ganz von vorn anfangen. Ich muß es neu lernen. Bisher bin ich damit zu ungenau, zu wenig sorgfältig umgegangen. Ich habe mir zu viele, gar nicht benötigte Eindrücke zugemutet. Jeden Tag verwende ich jetzt mehrere Stunden darauf, mir ein Stückchen rauhfaserbeklebte Wand anzusehen. Oder ich studiere den Verlauf der Fußleisten, die unregelmäßigen Linien der Bodenrillen, das Geräusch von Autoreifen auf nasser Straße, Türenschlagen, Schritte, Hundegebell im Treppenhaus. (PaS, 114) Direkt nach der traumatischen Erfahrung heißt es bereits zu diesem neuen Sehen: »[Ich] sehe alles mit einer Genauigkeit, von der ich ahne, daß sie mich nicht mehr verlassen wird.« (PaS, 64). Während Hannes Fricke in seiner traumazentrierten Interpretation nicht auf die Rolle von Abfällen, von Entsorgungshandlungen im Roman zu sprechen kommt, sind die Ausführungen von Bernhard Giesen in diesem Zusammen-

309 Zu den mit der Gewalttat zusammenhängenden Fremdheitsgefühlen vgl. auch Gilson 2010, 323f.

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hang aufschlussreich. Giesen sieht nämlich gerade im Abfall das dingliche Gegenstück zum Trauma: Müll bietet im Reich des Dinglichen und Stofflichen ein Gegenstück zur Gewalttat, zur Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit, die uns plötzlich und schockierend widerfährt und auf die wir mit einem Trauma reagieren. Das Trauma entsteht aus der fundamentalen Verkehrung von Personalität in Dinglichkeit oder Leiblichkeit. Diese Verkehrung verdichtet sich in der Figur des Opfers. Für die Täter sind Opfer nur Fälle einer bestimmten Kategorie, gesichts- und namenslos, ohne Platz in der Gemeinschaft. Sie werden nicht als Personen, sondern als bloße Körper behandelt, ihre Überreste werden zu Asche verbrannt, ihre Spuren werden getilgt.310 Die Gewalttat reduziert den Menschen auf seinen Körper. Hier gibt es Korrespondenzen zu den von Robert Castel und Markus Schroer diskutierten Ausschlussverfahren311 oder der Definition Baumans von ›Überflüssigen‹.312 In der Figur der Hell fällt der Status der ökonomisch Überflüssigen mit dem des Opfers zusammen. Beide verbindet, dass in bestimmten Situationen Menschen auf den Körper zurückgeworfen werden und sich diese Prozesse gleichzeitig in den Körper einschreiben. Giesen zeigt das in Bezug auf die Gewalttat: Das Trauma der Überlebenden einer Gewalttat ist zunächst in den Körper eingeschlossen, das Unerträgliche kann nicht erzählt werden, der wache Alltag leugnet es nicht selten, nur in den abgeschiedenen Kammern des Traums taucht es auf. In ähnlicher Weise wie die traumatisierende Gewalttat ist auch der Müll für uns unerträglich. Seine Gegenwart muss verborgen und verpackt, den Blicken entzogen und geruchsdicht verschlossen werden. Solange er wahrgenommen werden muss, bleibt er ein skandalöser und gefährlicher Hinweis auf die Sterblichkeit der Dinge.313 Während die Strategie, mit Abfall umzugehen, das räumliche Distanzieren ist, ist es hinsichtlich des Traumas vor allem die zeitliche Distanz, die es »erträglich und am Ende vergessen«314 macht. Für die Opfer wird diese zeitliche Distanz zwar notwendig, um die Gewalttat vergessen zu können. Gleichwohl liegt sowohl im kollektivem Ausschluss von Abfällen wie auch im kollektiven Vergessenwollen von Gewalt eine grundlegende Gefahr: Kollektives Vergessen birgt die Gefahr, dass die Gewalt sich eher wiederholen kann, weil keine Sanktionen drohen. Schweigen ist somit nicht nur Unterlassung, sondern auch Mitproduktion von Gewalt. Deswegen, das zeigt auch die folgende Interpretation, muss beides wirken: Erinnern und Vergessen, Schweigen und Erzählen. In Die Schattenboxerin lassen sich tatsächlich beide Bewegungen erkennen. In der ersten Zeit nach dem Trauma versucht Hell, der Vergangenheit erst einmal keinen Raum zu geben, sondern sich einen kontextlosen Schutzraum aufzubauen, der nur in der Gegenwart existiert. So zieht sie nach ihrer Rückkehr und der Anzeige in das fast leere, 310 311 312 313 314

Giesen 2007, 102. Vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Vgl. zu Bauman Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Giesen 2007, 102. Vgl. zum Aspekt des Zurückgeworfenseins auf den Körper, der mit einer Aberkennung des Status Mensch einhergeht, auch Agamben 2002, besonders 145-152. Giesen 2007, 102.

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für sie keine Vergangenheit habende Zimmer ihres Mitbewohners zurück (vgl. PaS, 113): »Ich stöpsele das Telefon aus, beantrage Waisenrente, vermeide Außenkontakte.« (PaS, 113) Zugleich gilt für Hell zunächst ein Gegenwartsgebot, das die Zeit in gleich anmutende Einheiten zerfallen lässt: »Die warme Jahreszeit schleppt sich dahin, zerfällt in Tage ohne Belang.« (PaS, 113) Hell findet auf ihrem Rückweg direkt nach der Gewalttat Trost in der Natur. Einer Natur, in die freilich auch die menschlichen Spuren eingeschrieben sind. So stolpert sie »entlang der kaum quadratmetergroßen, stets kotbedeckten Erdflächen, mit denen in Städten ein Baum auskommen muß.« (PaS, 67) Zu diesen Stadtbäumen heißt es weiter: Die Dinger wachsen trotzdem, sie wachsen einfach überall. Ich weiß einen in Reichstagsnähe, bei einer nach einem General benannten Brücke. […] Zwischen grünbegrützten Quadern hat er sich aus einer Ritze gedrängt, ein knotiger, schiefer Ahorn, der nie den Himmel sieht, aber überlebt, das zähe Ding. (PaS, 68)315 Weiterleben wird zum, fast automatisierten, Weitermachen, für das das Weitergehen Hells zum Sinnbild wird: »Wachsen ist nichts anderes als Weitergehen, die Zeit zerteilen von Stein zu Stein und von Blatt zu Blatt.« (PaS, 68) Das Leben ausschließlich in der Gegenwart stellt dennoch keine Option dar, auch wenn das vergangene Leben vorbei zu sein scheint. Kontinuierliche Isolation von der Außenwelt, aber auch das Löschen von Vergangenheit sind ebenfalls keine Möglichkeiten für Hell. Bereits vor ihrem Umzug ins Abbruchhaus werden über einen alten Fernseher die ersten Verbindungen zur Außenwelt, zum Leben hergestellt. Das Leben draußen, das jedoch, noch, kaum Bedeutung für Hell hat, sind auch die politischen Ereignisse der Zeit in den Monaten vor der Wiedervereinigung, die auf der Fernsehscheibe aufflackern: Botschaftsbesetzung und Ausreiseerlaubnis (vgl. PaS, 116f.). Als sie in die Isolation, die sie bereits ein Stück weit überwunden hat, zurückzusinken droht, als der Fernseher kaputt geht, sucht sie nach Reparaturwerkzeug und gelangt so in ihr altes Zimmer: »Ich drücke die Klinke und trete ein. Es ist kühl und über allem liegt eine zarte Staubspur.« (PaS, 118) Staub als Zeichen der vergangenen Zeit deutet zurück. Es kommt zu einer ersten direkten Konfrontation mit der Vergangenheit: »Im Hinausgehen werfe ich einen Blick auf meinen früheren Schreibtisch. Da liegt das Ledersäckchen, zusammen mit den zwei Pfeifen. Ich hebe die fremden Gegenstände hoch, verlasse das Zimmer und schließe die Tür.« (PaS, 118) Das, zunächst scheiternde, aber weiter beharrlich geübte Rauchen der Pfeife wird so zum Zeichen für die allmähliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit. Dies wird verstärkt durch ihren Umzug ins Abbruchhaus. Das Haus selbst ist ein Vergangenheitsort, ein Ort der Lagerungen, der Ablagerungen von Geschichte und Geschichten – jenseits von Deponie oder Museum. Verschiedene Textstellen schildern, wie Hell das Haus erkundet, wenn auch nicht immer freiwillig. Als im Winter, es handelt sich um den dritten im Abbruchhaus, die Wasserleitungen wieder einmal zugefroren sind, begibt sie sich, zusammen mit Dunkel, ins Vorderhaus. Tatsächlich hat es drei Jahre gedauert, und es ist anzunehmen, dass die Praktik des Kämpfens, das Schattenboxen, das

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Vgl. zu dieser Passage auch kurz Fricke 2004, 186f.

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weiter unten noch einmal genauer in den Blick genommen wird, Hell die Kraft und die Sicherheit gegeben hat, sich dem Unbekannten zu stellen. Die zugefrorene Wasserleitung, die kältebedingte Weigerung des Wassers, zu fließen, ist ein Bild für den Stillstand der Zeit im Haus. Dieser Mangel an Bewegung, diese Stockung ermöglicht es, auf die Dinge zu blicken, ihnen auf den Grund zu gehen. So wird die Erkundung des fremden Raumes als furchteinflößende, aber notwendige Erfahrung geschildert. In der Kellerwohnung der alten Nachbarin finden sich vor allem Vergangenheitsdinge (»Durch Oberlichter dämmert Hoflicht auf die trostlose Klobigkeit von Möbeln der dreißiger Jahre.« PaS, 41), Dinge der Bewahrung und Erinnerung wie Pappkoffer, Truhen, alte zerschlissene Stoffe. In diesen gespenstischen Arrangements erinnern die Dinge nicht nur an die Truhen und Kisten in Stifters Texten, sondern ebenso an die ramponierten fremden Dinge, die uns bei Kafka begegnen.316 Auch wenn Hell diese Dinge anblickt, herrscht eine Distanz zu ihnen, die Abwehr auslöst: Der Ekel Hells spiegelt sich, wie es heißt, im Gesicht von Dunkel (»Während wir unsere Kanister in ein schmutziges Waschbecken stellen und den Hahn weit aufdrehen, werfe ich hin und wieder Blicke auf die Miene meiner Nachbarin, erkenne meinen Ekel in ihrem Gesicht.« (PaS, 41)).317 In der Erzählgegenwart des Textes, also nach Dunkels Verschwinden, sind es die verlassenen Dinge in der Wohnung der Nachbarin, die sowohl auf die An- als auch die Abwesenheit verweisen. Zunächst sind es die von Hell nur durch die verschlossene Tür wahrgenommen Alltagsdinge, die beschrieben werden: »Durch die fettblinde Scheibe sehe ich verschwommen die Konturen einer Dose Kräutersalz, eine weißblau bedruckte Milchpackung und einen Laib Brot, den ich mir an der Schnittkante schon grün und pelzig vorstelle« (PaS, 11). Es verschwimmen tatsächlich gesehene Dinge – die Blätter der verlassenen Zimmerpflanze färben sich bereits gelb (vgl. PaS, 11) – mit solchen, die lediglich imaginiert werden – der Schimmel auf der Schnittfläche des Brotes. Nachdem sich ein scheinbarer Eindringling als Attrappe, als rätselhaft bleibendes Arrangement entpuppt, erkundet Hell Dunkels Wohnung: Dunkels Zimmer ist der vollgestopfteste Raum, den ich jemals gesehen habe. Mit Ausnahme einer freien Schneise, die von der Tür zum Fenster führt, besteht es aus unzähligen Schichten neben- und übereinander gelagerter Dinge. (PaS, 24) Ermuntert von einer Katze, die im Hof, beobachtet von Hell, mit dem Reißen von Abfalltüten beschäftigt ist (PaS, 24), wagt Hell die genaue Inspektion von Dunkels Wohnung.318 An diesem Ort scheint die Ordnung der Dinge außer Kraft gesetzt, die Zeiten verschwimmen: 316 317 318

Zu fremden Dingen in Kafkas Texten vgl. am Beispiel des Odradek Kapitel 1.3.2 und 2.3 dieser Arbeit. Zu Ekel und Abfall vgl. auch die Überlegungen in Kapitel 5.5 dieser Arbeit. Die Katze, die im Abfall wühlt, wird noch einmal beschrieben – und mit ihr detailliert die Abfälle: »Die hungrige Katze hat auf dem Gebiet jenseits der Drahtmaschen ausgiebig gewildert. Sie hat zwei Müllsäcke umgekippt, sie aufgerissen und vollständig ausgeweidet. Durchwühlt nach katzeneßbaren Bestandteilen liegt der gesamte Abfall auf dem Boden verstreut, Joghurtbecher, Gemüseschalen, Socken und Alufolie, Thunfischdosen, Tampons und die Reste einer Nudelmahlzeit. Im Zaun hängt ein Nest aus Teebeuteln, in quarkähnliche Substanz getaucht und miteinander

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Ich bücke mich und finde eine Zeitung von 1990, mit der sie ein Loch im Fußboden gestopft hat. Wie eine dichte Wolkendecke verläuft Staub entlang der Fußleisten bis zu den Pfosten eines Messingbettes, auf dem dicke Federbetten liegen, hingeworfene Kleider, Bücher, ein Tablett mit Teetassen, Tuben und Flaschen, zerknickte Pfefferminzbonbonschachteln, Batterien, ein Walkman, Kassetten, ein aufgerissenes Päckchen Kondome. Ein fleckiger, zusammengeklappter Seidenmalrahmen, eine schlaffe Gitarrenhülle, Notenblätter, zwei volle Aschenbecher, mehrere Schraubenzieher. Eine umgekippte Vase mit Lackblumen, ein Stein zum Entfernen von Fersenhornhaut, Wäscheklammern, Haarnadeln, Schrauben, Zopfspangen, eine zerkratzte Telefonkarte und falsche Fingernägel, umgeben von einer Schicht aus Sandkörnen und Brotkrümeln. (PaS, 24f.) Diese Aufzählung von Dingen umfasst so verschiedene Objekte wie Naturdinge, intime Dinge oder vernetzende Dinge, Zierdinge, Hüllen, Medien. Gleich einer Mülldeponie liegen sie in einem Zwischenzustand und harren ihres Schicksals. Noch nicht wirklich Müll, sind sie doch in Menschenferne gerückt. Mit der Mülldeponie verbindet das vorgefundene chaotische Arrangement der Dinge in der obigen Textstelle auch das Fehlen einer Dinghierarchie: Alle sind gleichwertig in ihrer Menschenferne. Zugleich sind Spuren des Menschen in den Dingen noch da: Die Dinge können Auskunft geben über den abwesenden Menschen, sie sind indiskret.319 Auch in Die Schattenboxerin offenbaren die Dinge Details über die mysteriöse Nachbarin Dunkel: Hell findet einen Aktenordner, der Hinweise gibt, dass Dunkel »vor Jahren einmal romanische Sprachen gelernt haben muß« (PaS, 25). Ähnlich wie das Trauma Hells ist die Erinnerung an diese Zeit in Dunkels zurückgelassenem Zimmer verschüttet. Während Hell als Folge des Traumas in einer abfallfernen, in einer gereinigten und kontextlosen Behausung lebt, ist die Vergangenheit in Dunkels Wohnung vergraben unter abfallnahen Dingen, unter einer »Lebensschicht« (PaS, 25), wie es heißt, die wie ein Versuch aussieht, Dunkels früheres Leben »durch ein Sediment aus leeren Schokoriegelpapieren, Stoffetzen, Mahnungen für nicht bezahlte Stromrechnungen und einem Hügel gesammelter Pfennige, die aus einer umgekippten Blechdose quellen, allmählich verschwinden zu lassen« (PaS, 25). Ebenfalls vergraben, aber genauso wenig verschwunden und vergessen ist ein auffälliges Zeichen der Vergangenheit: Auf dem kleinen Schreibtisch, vermutlich aus Dunkels Kindheit stammend, finden sich die eingebrannten Initialen »M.M.« (PaS, 25), die – obwohl niemals ganz aufgelöst – für ihre vergangene Liebe zu Markus März stehen könnten. Diese Manifestation von Lebensschichten, die auch ein Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart mit sich bringt, findet sich auch in der Stadt Berlin.320 Eiverknotet, und über dem Abflußgitter flattert eine Papierserviette, bedeckt mit den Schalen geköpfter Frühstückseier.« (PaS, 108) 319 Dies machen sich, wie gezeigt, Abfallarchäologen wie William Rathje und Cullen Murphy (vgl. Rathje/Murphy 1994) zunutze. In den Abfällen Prominenter wird ebenfalls gerne gewühlt – so schildert Windmüller das Beispiel des Musikkritikers A. J. Weberman, der dadurch Berühmtheit erlangte, dass er Bob Dylans Abfälle durchsuchte (vgl. Windmüller 2004b). 320 Gilson weist in ihrer Interpretation darauf hin, dass traumabedingt in Hells Wahrnehmung »vergangene Erfahrungen ihr heutiges Empfinden überlagern« (Gilson 2010, 325), ohne jedoch explizit auf die Bedeutung von Abfällen einzugehen. Mit Blick auf die Stadt, in der sich Hell bewegt,

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ner Stadt, in der sich Hell als Fremde fühlt. Ob dies in erster Linie auf die politischen Veränderungen oder durch die ihr zugefügte Gewalttat zurückzuführen ist, wird nicht vollständig aufgelöst. Für die in Berlin geborene und aufgewachsene Hell wird aber, das zeigt folgende Textstelle, Berlin gerade auch durch die Wiedervereinigung zu einer unvertrauten und sperrigen Stadt: An manchen Tagen laufe ich durch die Stadt, in der ich geboren bin, wie eine Fremde, zum Beispiel neulich, da gerate ich in den Bahnhof Friedrichstraße. Ich bin auf der Suche nach einer S-Bahn, die mich zur Bornholmer Straße bringt, und unfähig, inmitten von aufgerissener und wieder zusammengeflickter Architektur, die sich gegenseitig ausschließenden Gesellschaftssystemen entsprungen ist, ein Schild zu lesen oder einen Ausgang zu finden. (PaS, 76) Dabei weist diese »zusammengeflickte« Stadt parallel existierende Zeitschichten auf, wie Hell reflektiert, als sie im Gespräch mit März von dessen Hass auf seinen Heimatort Bad Homburg überrascht ist. Eine Stadt, die so in Bewegung ist wie Berlin, scheint sich kaum für solche Aversionen zu eignen – zu flüchtig ist das, was diese Stadt ausmacht: Ich bin gefangen in einem Dschungel aus Symbolen und Beschriftungen, deren Botschaften verfrüht oder veraltet sind. Sie beziehen sich auf Gebäudeteile, die nicht mehr existieren, wie der aufdringlich zackige und gleichzeitig gequetscht wirkende Schriftzug Intershop. Oder auf solche, die noch nicht vorhanden sind, wie der Aufkleber mit dem Fahrstuhl, der mich zu einem offenen Schacht führt, notdürftig abgeriegelt mit rotweiß gestreiftem Baustellenplastikband. Nach langem Irrlauf verlasse ich den Ort, aufgerieben an zueinander unpassenden Kachel-, Boden- und Rolltreppenarten. (PaS, 76) In der Stadt scheint Abfall auf Hell einzustürzen, heftet sich an ihren Körper: »Zu Pappbrei vergorene Wurfsendungen des vergangenen Jahres hängen mir wie eine Schleppe am Hacken und entlassen mich erst, als ich sie mit nervösem Scharren an einem Fahrradständer abstreife.« (PaS, 22f.) Wenn der Abfall der Stadt sich kontextlos präsentiert, im Gegensatz etwa zu den sich noch im Nahbereich befindenden Dingen Dunkels, so stellt sich doch die Frage, wie dieser Dreck, der sich an Hell heftet, zu interpretieren ist. Während Gilson vorschlägt, ihn ebenfalls als Vergangenheit, wie die »zerschossenen, verschorften, verschimmelten und bröckelnden Fassaden der ›verletzten‹ Stadt«321 als Ablagerung der Historie zu lesen, legt die Tatsache, um welche Art von Dreck es sich im konkreten Textbeispiel handelt, auch eine andere Lesart nahe: Bei dem sich an Hells Körper heftenden Abfall handelt es sich um Wurfsendungen, um Reklame. Wie auch Bölls Wegwerfer werden wir tagtäglich mit diesem Konsumverstärker konfrontiert. Die Reklame kann nicht als Zeichen einer Vergangenheit von Menschen, nicht als Ablagerung von gelebten Zeitschichten interpretiert werden, wohl aber als Erinnerung an den Warenstatus der Dinge mit all seinen Implikationen. Die Dinge, für die gestern

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spricht Gilson ebenfalls vom besonderen Wahrnehmungsmodus Hells: »Entweder werden […]der Umgebung und den Objekten darin bedrohlich-unheimliche Züge beigemessen, oder die Verletzte erkennt in ihnen die eigene Gemütsverfassung wieder.« (Gilson 2010, 326) Gilson 2010, 338f.

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und heute Reklame gemacht wird, sind unter Umständen, gar mit großer Wahrscheinlichkeit die Abfalldinge von morgen und übermorgen. Am Beispiel der Ware wird im Roman auch die Ausgeschlossenheit der Protagonistin durch ihre Armut aufgezeigt: Nur wer über die monetären Mittel verfügt, kann partizipieren. Der kontextlose Abfall, der sich in den Brachen befindet, stürzt im Gegensatz zum Abfall auf den Straßen der Stadt nicht auf Hell ein, sondern wird aufgesucht und von ihr gesehen, ja erst durch ihr Sehen sichtbar. In Die Schattenboxerin finden sich also sowohl kontextlose Abfälle wie auch Abfälle als Ablagerung von individueller Zeit. Solche Zeichen, solche Ablagerungen von gelebter Zeit finden sich im Text an anderen Stellen. So offenbart ein weggeworfenes Poesiealbum, das Hell im Hof des Abbruchhauses findet, die bis dahin nicht offensichtlichen früheren Verbindungen zwischen März und Dunkel (vgl. PaS, 110ff.). Zugleich sind die Geschichten um dieses Album erneut ein Beispiel dafür, wie Verwirrungen im Text angelegt sind. So haben wir, gestützt von Märzʼ Erzählung in Kapitel 5, bis zum Fund des Poesiealbums geglaubt, März und Dunkel kennen sich erst seit ihrer Begegnung einige Wochen vor Dunkels Verschwinden. Nur die Initialen auf Dunkels Schreibtisch haben einen ersten Hinweis auf eine mögliche Verbindung gegeben. Erst in Kapitel 13 erfahren wir, nach dem Fund des Poesiealbums, zusammen mit Hell, dass Dunkel wie März aus Bad Homburg stammt und sich die beiden aus ihrer Kindheit kennen. Auch der Abfall an für die Protagonistin völlig kontextlosen Orten wie dem Bahnhof, den sie mit März aufsucht, um dessen gestohlenes Geld in einem Schließfach unterzubringen, wird bedeutungsvoll. Eine weggeworfene Zeitung liefert durch Zufall Hell den entscheidenden Hinweis, wo sie Märzʼ Vater suchen könnte (vgl. PaS, 90f.). Die auffällige Spurenfunktion, die Abfälle vor allem in dieser Textstelle innehaben, führt zur Frage, warum diese Spuren im Roman oftmals in der Gestalt von Abfällen auftreten. Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst einmal zu klären: Was ist überhaupt eine Spur?322 Die Spur ist zunächst einmal da, sie ist Faktum, Materie, materielle Anwesenheit und damit das Gegenteil von Verschwinden und Löschung. Zugleich ist die Spur ein Verweis: Sie verweist auf das Abwesende, das sie verursacht hat. Sie hinterlässt einen Abdruck in Raum und Zeit: Als Störung, das hat sie mit Abfall gemein, ist sie als mehr oder weniger dauerhafte und gar gewaltsame Einprägung fremd im Raum. Zugleich weist sie dabei auf eine irreversibel verstrichene Vergangenheit hin. Der fehlende konkrete Bezug auf das Vergangene macht sie vieldeutig lesbar, dennoch durch ihre Stummheit auch eindimensional. Gerade die Materialität der Spur verortet sie zwischen der greifbaren Präsenz des Dings und der Immaterialität der Transzendenz.323 Spuren sind physisch, stofflich – sie »repräsentieren nicht, sondern präsentieren.«324 322 Eine Bestandsaufnahme der kulturwissenschaftlich inspirierten Forschung zum Spurenlesen liefert ein interdisziplinärer Sammelband, Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, den Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube herausgegeben haben (vgl. Krämer/Kogge/Grube 2007). Die Ausführungen dieses Abschnitts beziehen sich auf die zehn Attribute der Spur in Krämer 2007, 14-18. 323 Davon zeugen neben dem Aufsatz von Sybille Krämer auch die Sammelbandbeiträge von Cornelius Holtorf (Holtorf 2007), Gernot Grube (Grube 2007) oder auch Werner Stegmaier (vgl. Stegmaier 2007a) in Krämer/Kogge/Grube 2007. 324 Krämer 2007, 16.

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Es gibt aber auch im weiten Feld der Stoffe und Materialien solche, die sich mehr und solche, die sich weniger für das Hinterlassen von Spuren eignen. Aleida Assmann weist auf die Unfähigkeit von Flüssigkeiten hin, Spuren zu hinterlassen, weil sich Oberflächen automatisch wieder glätten und Löcher wieder füllen und schließen.325 Die an uns vorbeiströmenden Dinge, aber auch die täglich anfallenden Abfälle, dies wurde bereits gezeigt, sind ähnlichen Prozessen des Vergessens ausgesetzt: Dass Abfall im Alltag als Spur fungiert, scheint vor allem durch die bereits mehrfach diskutierten Bewegungen des Unsichtbarmachens und des Ausschlusses von Abfällen im Alltag unwahrscheinlich. Während, wie gezeigt, Abfall-Archäologen um den Anthropologen William Rathje Deponien erforschen und so wichtige Rückschlüsse auf die Konsumgewohnheiten in den Städten ziehen können, gleichen die heutigen Deponien immer mehr unzugänglichen, gar gefährlichen Orten. Zudem werden, wie Kapitel 2 gezeigt hat, Deponien vor allem in Deutschland durch Müllverbrennungsanlagen ersetzt. Beide, die bewachte und kontrollierte Deponie und erst recht die Müllverbrennungsanlage unterscheiden sich signifikant von den Abfallarrangements, die im Roman ausgebreitet werden und die eine Spurenfunktion übernehmen können. Abfall ist, darauf weist der Roman Die Schattenboxerin ebenfalls hin, eine ganz besonders vielschichtige Spur: Abfall verweist mehrfach auf Abwesendes und Vergangenes. Das Ding, das er war, die Funktion, die es vor der Abfallwerdung hatte, den ehemaligen Gebrauchs- und Tauschwert. Gleichzeitig ist Abfall aber, ebenfalls wie die Spur, nicht intentional: Er wird nicht um des Verweisens Willen erzeugt, sondern ist wie die Spur nur ein Nebenprodukt. Sein Zustand als Abfallding ist irreversibel, wenn dieses durch Veredlungsstrategien, durch Recyclingprozesse wieder in Nützlichkeit zurückgeführt wird, ist es kein Abfall mehr. Auch Abfall ist polysemisch, er bietet nicht eine, sondern viele Lesarten an. Dabei bleibt er immer stumm, schweigender Rest. Die Rolle von Abfall und Betrachtendem kann niemals vertauscht werden, eine Hierarchie zwischen Abfallleserin oder -leser und Abfall besteht weiter. Nur weil keine Löschung stattgefunden hat, weil nicht wiederverwerteter Abfall überhaupt existent ist, kann in den Spuren noch gelesen werden. Spuren, die nicht nur auf individuelle Geschichten, sondern auch auf Geschichte, auf historische Prozesse verweisen – und deren Opfer. Mit der Beseitigung der Spuren wird die Erinnerung gelöscht. Es sei noch einmal an das Zitat von Giesen erinnert: »Für die Täter sind Opfer nur Fälle einer bestimmten Kategorie, gesichts- und namenlos, ohne Platz in der Gemeinschaft. Sie werden nicht als Personen, sondern als bloße Körper behandelt, ihre Überreste werden zu Asche verbrannt, ihre Spuren werden getilgt.«326 Beispiele einer Tilgung von Spuren in der Stadt, ob nun der aufgeräumte Potsdamer Platz oder abfallnahe Brachen, werden im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner zu Leerstellen, denen ausgewichen wird. Hier können keine Verbindungen mehr hergestellt oder imaginiert werden. Auch das Abbruchhaus, der Ort, an dem Hell und Dunkel Unterschlupf fanden, soll diesen Prozessen der Löschung ausgesetzt werden: Eine Sanierung setzt solche Löschungsprozesse voraus. Sich erzählerisch solch einer Tilgung von Spuren entgegenzusetzen, ist ein Verdienst von Die Schattenboxerin.

325 Vgl. Assmann 1999, 210f. 326 Giesen 2007, 102.

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Eine ähnliche Verweigerung einer bestimmten Art von Wertigkeit, einer ökonomischen Wertigkeit, evoziert der Text hinsichtlich der titelgebenden Kampfkunst des Schattenboxens.327 Die zeitliche Nähe der beiden Bewegungen, zum einen der Umzug in das Abbruchhaus, zum anderen der Beginn des Trainings des Schattenboxens lassen einen Zusammenhang, lassen aber auch die Wichtigkeit beider Schritte vermuten. Tatsächlich: Auch in den Schattenbox-Episoden kommt es zu dem Aufeinandertreffen verschiedener Ordnungen. Während es im Abbruchhaus verschiedene Zeitordnungen sind, aber auch verschiedene politische Systeme, die sich überlagern, so ist es im Kampftraining das Überlagern von Verstehen und Nichtverstehen, von Sprache und Schweigen, von fremden und eigenen Setzungen. Der Grundstein für das Kampftraining, ein wichtiger Wendepunkt zum Besseren in Hells Leben, wird an einem Machtort gelegt: Im Polizeipräsidium Neukölln, in dem Hell einige Wochen nach der Gewalttat Anzeige erstattete, trifft sie durch Zufall auf die Chinesin Wang Ying und deren Tochter. Mutter und Tochter sollten abgeschoben werden, was sich allerdings als Irrtum durch eine Verwechslung herausstellt. Hell behält die Visitenkarte mit der Anschrift der Kampfschule, die sie von Wang Ying zum Abschied überreicht bekommt, in ihrer Jackentasche. Doch erst an den Tagen nach der Maueröffnung, als sie vor einer Gruppe von DDR-Bürgern, die in die Supermärkte Westberlins strömen, flieht, findet sie den Weg in den Wedding (vgl. PaS, 121f.). In einem Moment, in dem geschichtliche Prozesse Bewegungen von Menschen und Dingen auslösen, die zutiefst folgenreich sind für Individuen, die jedoch von diesen kaum beeinflusst werden können, beschließt Hell ihre Flucht. Die Kampfschule wird im Roman als aus der Zeit gefallener, als abfälliger und schwer zugänglicher Ort präsentiert. So befindet sie sich in einem Hinterhof, der Zugang scheint erschwert, fast unmöglich: Das Haus ist ein schmuckloser Altbau mit blätterndem weißem Anstrich. Im ersten Hof kreischen die Sägen einer Holzwerkstatt. Der Durchgang zum zweiten ist durch einen Wohnwagen versperrt. Unter den ausdrucklosen Blicken eines bärtigen Tischlers zwänge ich mich an den Seitenwänden vorbei zum letzten Hinterhaus, einem zweistöckigen Fabriketagenbau. Die Haustür läßt sich aufschieben. Hinter dem Treppenabsatz entdeckte ich einen klingellosen, unbeschrifteten Eingang. (PaS, 144f.) Mit dem Ort korrespondieren auch die unorthodoxen Methoden des Unterrichts. Hierbei ist aufschlussreich, dass es für Hell keine Möglichkeiten zur Mitgestaltung gibt: Wenn sie sich entscheidet, das Training zu beginnen, ist Unterordnung erforderlich. Das Training ist reglementiert und duldet keine Ausnahmen: »Vier Wochen Vorbereitung, bevor du mit dem Training anfangen kannst«, hat mir der kleine Mann im Rippenhemd gesagt, während er mich zur Tür brachte. »Jeden Tag zwei Stunden, wann immer du Zeit hast. Einen Monat lang. Wenn du einen Tag versäumst, bist du draußen. Überlegs dir. Du kannst jederzeit anfangen, aber wenn du anfängst,

327 Schattenboxen, darauf weist etwa Meise hin, beschreibt den Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner (vgl. Meise 2005, 149). Zum Schattenboxen im Kontext von Hells Trauma vgl. Fricke 2004, 188f.

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mußt du durchhalten. Du mußt nichts können. Du mußt dir nur Mühe geben.« (PaS, 161f.) Dabei sind diese Setzungen keine allgemein gültigen, sondern die Kampfschule ist ein Ort der eigenen Setzungen. Ziel ist es nicht, eine Sportart zu erlernen, sondern eine alltagsrelevante Kampfkunst. Wang Ying lehrt nicht nur Kampftechniken wie Schläge und Tritte, sondern, wie wir gleich zu Beginn von Die Schattenboxerin erfahren, eine Einstellung zum Leben, die höchst alltagstauglichen »sechsunddreißig Überlebensstrategien der Chinesen« (PaS, 14). So unterscheidet sich die Kampfsporthalle Wang Yins sowohl von anderen Orten der Stadt, aber auch von den von Bauman diskutierten Orten der Fitness und der Körperoptimierung wie dem Kraftraum. Es ist auch ein Ort, der die Wichtigkeit von Sprache in Frage stellt. Genau wie das Trauma, das Hells Leben in ein Vorher und ein Nachher unterteilt, ist auch das Schattenboxen, wie es im Roman geschildert wird, jenseits von Sprache, eine stille, fast meditative Übung.328 Das Schattenboxen steht im Text aber zugleich für eine Vorübung in der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, eine Übung im Innehalten und Sehen. Dabei scheint es gleichgültig, ob Hell den Sinn des Trainings versteht. Mehr noch: Gerade das Nichtverstehen ist Teil der Übung. Das Nichtverstehen, das jedoch auch eine Form des Verstehens ist, ein Verstehen jenseits von Worten, kündigte sich bereits in der Begegnung in der Polizeiwache an. Hell und Wang können sich wegen fehlender gemeinsamer Sprache kaum verbal verständigen. Auch das Gespräch zwischen Mutter und Tochter wirkt fremd durch die fehlende Verbindung, die eine gemeinsame Sprache schaffen kann, Mimik und Gestik sind ebenfalls nicht zu deuten. Dennoch herrscht nicht das Gefühl der Feindlichkeit oder Ungeduld vor, sondern des Wohlwollens und Respekts. Beides setzt sich im Training fort. So wurde bereits die erste Begegnung von Hell und ihrer zukünftigen Kampfsportmeisterin nicht nur als Jenseits von Sprache geschildert, sondern auch als ein Jenseits von Setzungen. Mutter und Tochter sind zunächst der Willkür der Polizei ausgesetzt. Während die Tochter auf ihre Mutter wartet und stoisch als Schulhausaufgabe die Bedeutungen von Verkehrsschildern lernt, kommt es zu ersten Annährungen zwischen ihr und Hell. Begleitet wird diese Annäherung von Missverständnissen, die auch aufgrund von kulturellen Unterschieden entstehen. So weigert sich die Tochter zunächst, den ihr angebotenen Kakao von Hell anzunehmen, weil sie keine Milch verträgt (»In China trinken nur die Babys Milch, den Großen wird davon schlecht.« (PaS, 97)) Ein Verstehen jenseits von Worten, aber auch das Aushalten von Nichtverstehen und Missverständnissen begegnet uns immer wieder im Text: Für manche Geschehnisse in der Vergangenheit fehlen die Worte. Stummheit bleibt als Ausweg, wenn das Ausmaß des Schmerzes jenseits des verbal Kommunizierbaren steht. Wenn Worte nicht genügen, lässt sich aber auch über den Körper kommunizieren. Dafür muss er, das zeigt der Text, die alten Muster ablegen und neue Bewegungen lernen. Der Körper, wie Eickhoff gezeigt hat, ist ein Ort der Begradigungen und der ritualisierten Bewegungen, der Ar-

328 Zum sprachzerrüttenden Aspekt von Schmerz und Gewalt vgl. die Überlegungen von Elaine Scarry zur Folter (vgl. Scarry 1992, vor allem 13f.).

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retierungen. Auch gegen sie muss Hell antrainieren: So übt Hell in ihrem Kampfkunsttraining eben nicht die Stillstellung und den Stillstand, sondern die Bewegung.329 Im Verlauf der Einübung von neuen Verständigungsformen und Bewegungsmöglichkeiten verschwimmen die Grenzen zwischen Training und Nichttraining zusehends: Das zunächst nur im Schutzraum der Kampfsportschule geübte Verhalten wird alltagsrelevant für Hell. Dadurch überwindet sie, das zeigt der Romanverlauf, allmählich ihre Passivität. Dennoch bleibt für eine lange Zeit die sie umgebende Welt, wie gezeigt, fremd und bedrohlich. Im Zuge des Schattenbox-Trainings kommt es schließlich auch gegen Romanende zu einem Auflösen der bis dahin fast durchgehend gestalteten oszillierenden Bewegungen zwischen Vergangenheiten und Erzählgegenwart. Eine Pflanze und ein Tier sind dabei von Wichtigkeit, analog zu den Schilderungen der Stadtbäume nach der Gewalttat sowie der Abfallaffinität der Tiere, die im Roman genannt werden, stellvertretend die im Abfall wühlende Katze. Die Passage beginnt mit der Schilderung der Yuccapalmen im Kampfsportstudio: »Die meisten sind krumm gewachsen und nicht sehr groß, mit langem, in der Mitte von Resten abgefallener Blätter verfilztem Stamm und wenigen großen Blättern an der Spitze.« (PaS, 163f.) Diese imperfekten Pflanzen, die trotzdem zu überleben scheinen, werden gegossen: Die größte der Palmen steht auf einem tiefen Suppenteller. Er ist kurz vorm Überlaufen. Der elastische Rand des überhängenden Wassers zittert leicht und wölbt sich schon nach außen. Meine Oberschenkel schmerzen, und ich höre das Summen einer Fliege, die zwischen Blättergewirr und Fensterscheibe hin und hertaumelt. Sie setzt sich auf das unterste Blatt, reibt ihre zitternden Vorderbeine aneinander. Dann versucht sie es erneut, prallt an der Fensterscheibe ab und landet auf der Tellerkante. Der Wasserrand bricht, ergießt sich auf das Fensterbrett und reißt die Fliege mit sich fort. (PaS, 167f.) Durch das Schattenboxen wird in einem Schutzraum der Strom der Zeit, deren Linearität unterbrochen. Dieses Moment des Unterbrechens weitet sich, wie das Wasser im Suppenteller, aus. Hell findet durch das Schattenboxen und durch die zunehmende Distanz zur Gewalttat allmählich ins Leben zurück. Dieser Prozess wird in der obigen Passage, aber auch an anderen Textstellen illustriert durch das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart sowie einer Aufhebung der Trennung von Wertvollem und Wertlosen, von Nicht-Abfall und Abfall. Dabei, so zeigt der Text, kann es durch die Prozesse des Ausweitens dieser Unterbrechung zu Verlusten kommen: In der obigen Textpassage ist es die Fliege, die im Strom fortgerissen wird. Wenn man Elke Gilson folgen möchte, die ihre Interpretation mit der Einschätzung abschließt, dass Parei »versucht hat, eine Geschichte zu erzählen, deren Relevanz über das persönliche Schicksal der traumatisierten Heldin« hinausgeht, »auch wenn

329 So ist Bischoff zu widersprechen, die im Training eher die Annahme traditioneller männlicher Rollenmuster liest, indem Hell ihren Körper instrumentalisiert: »Erst allmählich lernt sie [Hell, CHG], den eigenen Körper nicht als Ding unter anderen (weggeworfenen) Dingen zu begreifen und sich im Müll einzurichten, sondern ihn bewußt zu einem (im Kampfsport trainierten) Instrument zu ihrer Verteidigung einzusetzen.« (Bischoff 2005, 129)

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man den Roman vergeblich nach klaren politischen Stellungnahmen absuchen wird«330 , dann stellt sich die Frage nach dieser, mitunter politischen, Relevanz. Gilson liest sie vor allem in den Biographien der Figuren Hell, Dunkel und März als exemplarische »deutsch-deutsche Biographie[n]«331 , besonders in der Figur Hell spiegle sich, so Gilson, die Spaltung der Stadt.332 Der Text bietet tatsächlich kaum Raum für kollektive Utopien. Menschenmassen, Menschengruppen und -ansammlungen sind im Text als bedrohlich markiert. Die Demonstration des 1. Mai wird so eher als ritualisierte Veranstaltung geschildert, die Gewalt mitunter mitproduziert. Die linke Szene Berlins bietet, folgt man dem Text, keine Alternativen zu den Ausschlüsse erzeugenden hegemonialen Bewegungen.333 Dem entgegen, und hier ähneln sich Die Schattenboxerin und der bereits untersuchte Roman Fundbüro, stehen Handlungen und Orte des Alltags, an denen punktuell und in alltäglichen Momenten Solidarität praktiziert wird. Als weiterer abfallnaher, als gerade dadurch Verbindungen herstellender Ort wird im Text, neben dem Abbruchhaus und der Kampfsportschule, das Café von Mirca markiert. Ein Ort, der gegen die Transitorte und den Rückzugsraum Abbruchhaus als Ankerpunkt in der Stadt fungiert. Nach der Konzeption von Oldenburg kann das Café als sogenannter Dritter Ort gelesen werden, als Ort des Dazwischen.334 Dritte Orte sind Orte, und hier wiederum gibt es Verbindungen zur Idee von Stadt und öffentlichem Raum bei Zygmunt Bauman, an denen Fremde sich begegnen können.335 Mircas Café ist jedoch nicht nur ein Ort, an dem Menschen sich begegnen können, ein Halte- und Ankerpunkt, ein Ort auch der Verbindungen zwischen Menschen336 und Gegenwart und Vergangenheit. Dieser Ort wird im Text auch als ein Ort geschildert, der in Gefahr ist. Dies zeigt die Geschichte von Hells erstem Besuch in Mircas Café, der die Grundlage für ihre Freundschaft bildet. Ein normalerweise billiges, abfallnahes Massenprodukt, ein Kugelschreiber, den sich Mirca bei einem Besuch in dessen Café hinters Ohr geklemmt hat – oder handelt es

330 Gilson 2010, 335. 331 Gilson 2010, 335. 332 Vgl. Gilson 2010, 335f. Gilson ausführlich zur Parallelisierung der Spaltung Hells und der Stadt Berlin: »Das verwahrloste Bahnhäuschen, in dem ihre verhängnisvolle Begegnung mit dem Aggressor stattfand, war Opfer der Teilung der Stadt, bevor sie selber durch das ihr dort zugefügte Leid ihre persönliche Spaltung erfuhr. Hells zweite Flucht im November, nach dem Mauerfall, scheint den Anfang der umgekehrten Bewegung, der Reintegration, einzuläuten. Das Öffnen der Staatsgrenze verursacht für die Protagonistin somit nicht nur eine Wiederholung des Traumas, sondern liefert zugleich einen ersten Anstoß zur Heilung (Gilson 2010, 336). 333 Vgl. auch die Überlegungen in Gerstenberger 2008, 39, die anhand der Darstellung der Unruhen des 1. Mai 1989 Parallelen zwischen individueller bzw. individuell erfahrener und kollektiver Gewalt herstellt: »The violent clash between police and a group of anarchists, based on actual events, casts the radicalism of West Berlin not as a progressive movement against a repressive state but as a chaotic event in whose wake further violence occurs, namely the rape.« (Gerstenberger 2008, 36) 334 Zu Dritten Orten vgl. Wöhler 2008, 81 und Zurstiege 2008, 123f. 335 Diese Konzeption unterscheidet sich maßgeblich zu der von thirdspaces nach Soja oder die bereits diskutierten Nicht-Orte nach Augé (vgl. zur Unterscheidung Zurstiege 2008, 136-140). 336 So wird das Café im Text als Gegensatz zum »Fast Food, altberliner Ecksümpfen und asiatischen Schnellküchen, die den Charme von Bambus aus der Dose verbreiten« (PaS, 44) konstruiert, es finden sich keine Stehtische, sondern, wie es heißt, »Tische und Stühle aus frisch geöltem Holz« (PaS, 44).

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

sich doch um eine edlere Variante, ein »silberner Kugelschreiber« heißt es im Text, »der Stift mit der aufschraubbaren Spitze« (PaS, 38)? – ist zunächst Anlass, eine Geschichte aus der Vergangenheit zu erzählen, in der eben jener Kugelschreiber eine zentrale Rolle spielt. Mirca wird in seinem Café von zwei Männern, wahrscheinlich Schutzgelderpressern, bedroht, die auch andeuten, dass sie seinen fünfjährigen Sohn verletzen könnten. In schnellen, mitunter dennoch seltsam narkotisch wirkenden, sich wie in Zeitlupe abspielenden Szenen mit detaillierten Beschreibungen legt Hell den Weg aus dem Gastraum (in dem »Bier aus einem lecken Hahn in weißen Flocken auf die Zapfstelle tropft« (PaS, 47)) in die Küche zurück (»Ich mache eine halbe Drehung und wende mich zur Küche. Die Tür ist resopalbeschichtet. Ein granitfarbener, mit grünen und roten Sprenkeln durchsetzter Kunststoff, der die Oberfläche rauher Steine imitiert.« (PaS, 47)). Dort verletzt Hell einen der beiden Männer durch den Schlag eines Tabletts gegen dessen Kehlkopf so schwer, dass dieser zu ersticken droht. Zugleich rettet Hell den Mann umgehend: Durch einen Luftröhrenschnitt mit dem Messer, das der zweite Mann gegen sie geworfen hat, kombiniert mit dem Kugelschreiberröhrchen als Luftröhre, gelingt es dem Verletzten, wieder Luft zu holen (vgl. PaS, 49). Danach wird Hell zur Stammkundin in Mircas Café und muss, wie wir erfahren, niemals mehr für ihr Essen bezahlen (vgl. PaS, 51). Auch der Plänterwald ist einer der im Roman geschilderten Orte Berlins, an dem Verbindungen entstehen. In diesem Park, in dem Zeitschichten ineinanderfließen, kommt es zu zwei bedeutsamen Begegnungen. In beiden Textstellen wird der Plänterwald, ein stillgelegter und verlassener Vergnügungspark, als fremder, abfälliger, schmutziger Ort beschrieben (vgl. etwa die Beschreibung: »Im letzten Winkel, kurz vor dem Ende des Zauns, lagert eine Achterbahn, dunkelrote, eiförmige Gondeln, für immer steckengeblieben in den Kurven eines Turms aus rostigem, steil ineinander verschlungenem Gestänge.« (PaS, 153)). Der Plänterwald wird gerade durch seine Abfallnähe zum Ort, an dem sich die Handlungsstränge des Romans ineinander verknoten. Zunächst zur ersten Episode, von der März Hell als Rückblick berichtet (vgl. PaS, 31-38). Die Jugendfreunde März und Dunkel begegnen sich zufällig auf einem Berliner Flohmarkt wieder. Sie verabreden sich im Plänterwald um sich, nach einem kurzen gemeinsamen Abend, erneut zu verlieren (vgl. PaS, 37f.). Während diese Geschichte März, Dunkel und Hell verbindet, aber durch viele Fragen und Leerstellen auch eine fortbestehende Distanz zwischen März und Hell begründet, kommt es zu einem späteren Zeitpunkt im Plänterwald zu einer Konfrontation zwischen Hell und ihrem Vergewaltiger. Eine Konfrontation, die jedoch nicht komplett vollzogen wird, unabgeschlossen bleibt: Hell erkennt und hört zwar den Mann, wird von dessen Hund in Schach gehalten, beide entfernen sich jedoch wieder. Aufschlussreich ist hier die Wassermetaphorik: Während beim Plänterwald-Besuch Dunkel und März Boot fahren und kentern (vgl. PaS, 34f.), Wasser also eine bedrohliche Kraft innewohnt, der März und Dunkel ausgeliefert sind, kommt Wasser im weiteren Romanverlauf eine verbindende Funktion zu. Es symbolisiert die Bewegungen, die Hell im Training des Schattenboxens eingeübt hat und die hilft, das Fließen der Erinnerung zuzulassen (vgl. PaS, 156: »Ich warte darauf, daß die Wellen sich glätten, und versuche mir vorzustellen, der Fluß flösse gleichzeitig in seine eigene und in die Ge-

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218

Abfallverbindungen

genrichtung.«).337 Nach der erneuten Konfrontation mit ihrer Vergangenheit entsorgt Hell diese: Sie wirft, nachdem sie den Gewalttäter noch einmal gesehen hat, die Pfeife und den Tabaksbeutel weg (vgl. PaS, 172). Bereits zuvor wurde die Waffe, die bei seinem Bankraub zum Einsatz gekommen und fortan ständige Begleiterin geworden war, von März entsorgt (vgl. PaS, 95). Gerade in der Unabgeschlossenheit der Vergangenheit lag für Hell das Entsorgungsgebot hinsichtlich mancher Dinge, etwa der Unterwäsche, und das Entsorgungsverbot für andere Dinge, die Pfeife und der Tabakbeutel, begründet. Die Vergangenheit wird entsorgt und somit die Überwindung des Traumas impliziert. Die abfallzentrierte Interpretation lässt aber auch eine andere Deutung des Schlusses zu: So ist der Wegwerfakt gegen Ende des Romans nur möglich, weil er nicht mehr nötig ist. Er musste lange aufgeschoben werden, um so überflüssig zu werden. So unterscheidet er sich grundlegend von den Wegwerfakten im direkten Anschluss an die Gewalttat. Herrschte damals noch das Gegenwartsgebot, kommt es im Verlauf des Romans zu Erkundungen der Vergangenheit. Die Vergangenheit muss nicht gelöscht werden, weil sie zuvor be- und verarbeitet wurde. Mircas Café wird schließlich im letzten Kapitel auch ein Ort des Neubeginns, ähnlich wie die Kampfsportschule: Hell und Dunkel frühstücken gemeinsam und Hell wird nach einem Glas Sekt Dunkel fragen, ob sie beide nicht in Zukunft zusammen wohnen möchten. Der Text bricht vor der eigentlichen Frage Hells ab und lässt den Fortgang, lässt die Zukunft offen. Zahlreiche der gesichteten Analysen von Die Schattenboxerin gehen davon aus, dass es sich bei Hell und Dunkel um zwei abgespaltene Teile einer Person handelt, die – analog zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung – am Ende des Romans wieder in eine Person integriert werden.338 Während die Figur Hell zwar, wenn nicht als Abspaltung, so doch als Ergänzung von Dunkel interpretiert werden kann, öffnet ein abfallzentrierter Blick eine neue Interpretationsdimension: So ist Hell auch das englische Wort für ›Hölle‹. Während das Leben Hells nach der ihr widerfahrenen Verletzung, wenn nicht gar höllengleiche, so doch albtraumartige Züge aufweist,339 so sind es, vor allem in Bezug auf Abfall auch die geschilderten Implikationen der Feuerverbrennung, die sich im Namen der Protagonistin finden. An einer Stelle des Romans wird so auch ein tatsächliches Feuer, ein Zimmerbrand in der Küche der abwesenden Dunkel gelöscht, damit es nicht zur Vernichtung von Dunkels Besitztümern kommt (vgl. PaS, 54f.). Im letzten Kapitel bezeichnet Dunkel Hell als »Feuerwehrfrau« (PaS, 176). Während Hell, wie auch Elke Gilson festgestellt hat,340 im Verlauf des Romans immer zu frieren scheint, bis es durch mühevolle Schrit-

337

Gilson fasst das in ihrer Interpretation als Moment, in dem sich ein »Erinnerungsbild […] über die aktuelle Wahrnehmung schiebt« (Gilson 2010, 325). Generell sei Hells Erinnern, so Gilson, ein »erinnerndes Sehen« (Gilson 2010, 326). 338 Vgl. Gerstenberger 2008, 40. Meise erwähnt explizit den Aspekt der sich komplementär ergänzenden Elemente Hell und Dunkel, wie sie sich in der Vorstellung und im Symbol von Yin und Yang finden (vgl. Meise 2005, 135f.), detailreich Gilson 2010, 330f., vor allem 335. 339 Die halluzinatorischen Erfahrungen, die Gilson herausgearbeitet hat, können auch als Wiederkehr der traumatischen Erfahrungen gelesen werden (vgl. Gilson 2010, 325f.). 340 Vgl. Gilson 2010, 333 – Gilson geht hier auf die gegenseitige Erwärmung von Hell und März ein, auf die körperliche Nähe, die sich zögerlich bei beiden einstellt.

3 Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n)

te wie das Kampftraining und die körperliche und emotionale Annäherung zu März zu einer Erwärmung der Körpertemperatur Hells kommt, sind beide Bewegungen, der Kampfsport und die Annäherung an Menschen sowie die Akte von Solidarität, auf gewisse Weise thermische Behandlungen. Thermische Behandlungen jedoch, die im Gegensatz zum Terminus aus der Entsorgungswirtschaft, keine Vergangenheit löschen. Dass es Entsorgung – von Dingen, von Vergangenheit – ohne Verluste gibt, ist, wie gezeigt und sowohl in den Texten Genazinos als auch in Lenzʼ Fundbüro immer wieder erzählt, eine der die Entsorgungswirtschaft, vor allem in Form des kollektiven »Vernichtungsprogramm[s]«341 Müllverbrennung von Anbeginn begleitenden Phantasmen: der Traum von »einer belästigungs- und belastungsfreien Möglichkeit der ›Entsorgung‹«342 . Das Ende des Romans bleibt offen. Ähnlich wie Abschaffel befindet sich auch die Protagonistin von Die Schattenboxerin in einem Zustand des Wartens, des Zauderns. Auch wenn das Ende offen bleibt, impliziert es: Der Umzug Hells in eine neue Wohnung, die Reintegration Hells in ein geregeltes Leben bedeutet auch eine (Re-)Integration in die Infrastrukturen des Entsorgens.

341 Windmüller 2004a, 155. 342 Windmüller 2004a, 133.

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Zwischenfazit erster Teil

Der erste Teil dieser Arbeit, der sich neben den historischen Transformationen von der Bewahrungs- zur Entsorgungsgesellschaft dem bewahrenden, aufschiebenden und integrierenden Erzählen widmet, zeigt, wie in einer Welt der Ströme und der neuen Quantität und Qualität von Dingen die Verbindungen zwischen Menschen und Dingen immer häufiger immer früher abreißen. Das zweite Kapitel Ströme: Geschichte(n) vom Trennen. Von Müllbergen zur (vermeintlichen) Restlosigkeit erzählt die Transformation von Wegverweigerungen zur Wegwerflust. Am Beispiel von scheinbar banalen Alltagsdingen wie dem Lappen oder Trinkbehältern wird dieser Wandel historisch nachgezeichnet und die heutigen Umgangsarten mit Abfallströmen, die Lagerung bzw. geregelte Deponie und die sogenannte ›thermische Verwertung‹ hinsichtlich ihrer Konsequenzen befragt. Mit Böll folgen wir einem professionellen, aber unglücklichen Wegwerfer in den Keller einer Versicherung und enden bei Franz Kafka. Dessen Texte erzählen von Verweigerungen, Vermischungen und Hybriden. Diese Hybriden können in der Form von Monsterhybriden zum Problem werden, zumindest was Abfälle betrifft. Die Verweigerung, die auch und gerade in der Materialität der Dinge liegt, führt zu neuen Verbindungen und neuen Trennungen. Das dritte Kapitel Verwerfungen: Menschen und Dinge zwischen Ges(ch)ichtslosigkeit und Geschichte(n) beginnt mit einem Märchen, das zeitdiagnostische Züge aufweist, verharrt bei der Arbeit von Straßenkehrern und folgt den Texten eines Soziologen, der mit dystopischen Gegenwartsbeschreibungen arbeitet. Unterschiedliche Bewertung erfährt der Müllwerker: Während Müllwerker in den Texten Baumans als Grenzzieher fungieren, kehrt ein Müllwerker in Momo gegen Verflüchtigungstendenzen an. Neben diesem Kehren wird mit dem abfallfreundlichen Sitzen schließlich eine Gegenbewegung diskutiert, die es erleichtert, Abfälle zu sehen. Dieses Sehen ermöglichen auch die literarischen Texte, deren Analyse im Zentrum des Kapitels steht. Sie zeichnen sich durch eine Ineffizienz des Erzählens aus, da sie dem Gebot der, um mit Günther Anderes zu sprechen, ›Schonungslosigkeit‹ gegenüber den Dingen nicht nachkommen. Die Textanalysen der Romane von Wilhelm Genazino, von Siegfried Lenzʼ Fundbüro und Inka Pareis Die Schattenboxerin haben gezeigt, dass besonders die ökonomischen Zumutungen der modernen Welt Abfälle erzeugen. Auch wenn diese Texte in manchen Aspekten mit den pessimistischen Diagnosen Zygmunt

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Abfallverbindungen

Bauman korrespondieren, setzen sie diesen Diagnosen auch etwas entgegen: So findet sich Solidarität mit Anderen, aber auch Abkehr vom Kollektiv oder Vereinsamung, ›Abfälligkeit‹ in vielen unterschiedlichen Facetten und Gestalten. Gemein ist ihnen eine Reibung am Konzept einer belästigungs- und belastungsfreien Entsorgung, deren Praxis sie sich verweigern. Dem Traum des Kreislaufes und der Restlosigkeit schreiben sie entgegen und bieten bewahrende, aufschiebende und integrierende Erzählformen an. Auch Akte der Devianz, der Abweichung von kollektiven Wegwerfordnungen, -routinen und -erwartungen kommen zur Sprache. Dabei oszillieren die Figuren auf der gesamten Skala der Bewahrungs- bzw. Entsorgungseinstellungen, vom Wegwerfwiderwillen bis zum Entsorgungszwang. Dass Bewahren und Wegwerfen auch situationsgebundene Entscheidungs- und Entsorgungsakte sind, daran erinnern die Texte ebenfalls. Aufschiebendes Erzählen begegnet uns in den Texten Genazinos. Hier erweist sich besonders das Zaudern als abfallvermeidende Haltung. Integrierendes Erzählen findet sich in Lenzʼ Fundbüro, ein Roman, in dem Abfallwerdungen zu verhindern zentral ist. Eine besondere Stellung nimmt die traumatisierte Protagonistin in Die Schattenboxerin ein. Sie steht, wie herausgearbeitet, außerhalb. Außerhalb von geregelten Entsorgungsleistungen, durch ihre Situierung im Abbruchhaus auch außerhalb von Raum und Zeit, zeitweise bzw. zunächst, auch außerhalb von Gesellschaft und Solidarität. Dieser Text wendet sich gegen eine Aufwertung von Abfällen, die fast immer mit einem Löschungsprozess verbunden ist. Hier geben Spuren neuen Sinn, ohne recycelt oder aufgewertet zu werden – Abfälle bleiben Abfälle. Dass zuletzt dennoch eine Integration stattfindet, liegt in der erzählten Bearbeitung des Traumas begründet. Die analysierten Romane halten also aus, was Bernhard Giesen als Skandalon des Mülls bezeichnet: »Müll ist sichtbar und sollte unsichtbar sein, er ist vorhanden und sollte entfernt werden, er ist sinnlose Stofflichkeit und diese Sinnleere des Mülls beunruhigt uns, die wir gewohnt sind, die Dinge der Welt mit Symbolnetzen einzufangen oder sauber zu codieren.«1

1

Giesen 2007, 105.

Zweiter Teil: Erkundendes, ruinöses, resignierendes Erzählen

Wie bereits die Überlegungen zum Warenhaus, zu alten und neuen Trennungen und die nachgezeichneten historischen Veränderungen in den Städten gezeigt haben: Die Stadt ist Produzentin von Abfällen, und zwar in immer größeren Mengen und Ausmaßen. Grassmuck und Unverzagt schreiben zu dieser alten, immer wieder aktualisierten Tatsache: Der Blick in die Geschichte hat bereits gezeigt, daß der Müll von Anfang an der Schatten der urbanen Lebensweise war. Mit dieser wächst er sich ins Ungeheure aus. […] Mit der Weltherrschaft der Städte ist die Entscheidung für den Müll gefallen. Die Stadt ist der Entfaltungsraum des Mülls; sie könnte als »Unternehmen Vernutzung der Dinge« zum Zwecke der Müll-Produktion betrachtet werden. Allein schon ihre Infrastruktur produziert ihn notwendig in immer größeren Dosierungen […].1 Die Stadt war aber nicht nur Ort des Abfalls, sondern, wie bereits mehrfach gezeigt, auch Ort von Reinigungsbemühungen, von Hygienevorstellungen und einer Sehnsucht nach Sauberkeit und Ordnung. Eine Sehnsucht, die in den Auf- und Ausbau der Müllentsorgung führte.2 Die Kontrolle, die Beseitigung und Unsichtbarmachung von Abfällen wurde, das zeigt Gottfried Hösels Kulturgeschichte der städtischen Reinigung, als Fortschritt in der historischen Entwicklung jeder Stadt präsentiert.3 Immer wichtiger wurden deshalb Optimierungen des Stadtbildes, saubere, gerümpelfreie Straßen, wenn möglich übersichtlich und breit gestaltet. Susanne Hauser sieht in der Herstellung dieser gereinigten, dieser sauberen Räume mit Leroi-Gourhan Parallelen zwischen Reinigungsarbeiten im Nahbereich des Menschen, der Höhle, Hütte oder sonstiger Behausung und dem städtischen Raum.4 In beiden Fällen wird zwischen einem Innen und Außen unterschieden: Von einem Punkt her wird geordnet, in einem Prozess der Abgrenzung wird so zwischen dem zu reinigenden bzw. gereinigten Raum und dem chaotischen Außen getrennt. Somit ist Aufräumen ordnungs- und raumbildend. Die Muster der Abfallbeseitigung seien heute und, im Beispiel von Leroi-Gourhan, im 30. Jahrtausend vor Christus strukturell ähnlich. Hauser führt, wie bereits in der Einleitung zitiert, aus: »Ziel der Maßnahmen ist, Müll und Abfall verschwinden zu lassen, und wenn das nicht geht, sie wenigstens irgendwohin zu verbringen, wo sie die Grenzen des sauberen Innenraumes nicht verletzen. Methoden des Verschwindenlassens sind Wegtragen und Aufschütten.«5 Dieses Ideal des Verschwindenlassens zeigt sich in den Mülldeponien, später in den Müllverbrennungsanlagen an den Rändern der Stadt. Für die Idee des sauberen, des gesäuberten Innenraums in Bezug auf die Städte stehen auch, wie Hauser zeigt, Abwasserkanäle, die Schmutzwasser verbergen und zum Teil aus den Städten leiten.6 Durch das Wachstum der Städte kam es jedoch zu einem Problem: »Das Außen der Städte reicht in vielen Fällen bald nicht mehr aus […]. […] Es etablieren sich verschiedene

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Grassmuck/Unverzagt 1991, 217. Vgl. hierzu die Darstellungen in Hösel 1990, Windmüller 2004a, Rogers 2005. Vgl. Hösel 1990. Vgl. Hauser 2001, 26. Hauser 2001, 27. Vgl. Hauser 2001, 27.

Ärgernisse, die mancherorts ein neues Außen suchen lassen.«7 So werden über die Abfälle, die in den Städten oder in Stadtnähe nicht mehr entsorgt werden können, neue Verbindungen geschaffen. Während aus der Sicht des jeweiligen Zentrums das Jenseits der eigenen Stadt-, aber auch Staatsgrenzen, von generell unliebsamen Gebieten zum Außen erklärt werden, wird dieses Außen gerade über Abfälle mit dem Zentrum verbunden: Im 20. Jahrhundert finden vor allem Länder mit großen Territorien den Außenraum für aggressiven Müll innerhalb der eigenen Staatsgrenzen. Länder, die die Möglichkeit haben, auf ihrem Gebiet gefährlichen Müll in einer vom Zentrum abgelegenen Gegend mit wenigen Bewohnern oder mit unerwünschten Bewohnern wie Minderheiten oder den staatstragenden Gruppen unliebsamen Völkern unterzubringen, ergreifen diese Möglichkeit noch heute […].8 Neue Verbindungen entstehen also dadurch, dass kontaminierte Abfälle exportiert werden, um einen gereinigten Innenraum weiterhin gewährleisten zu können.9 In diesem Sinne müssen städtebauliche Veränderungen als Versuch gelesen werden, die Störungsfreiheit zu ermöglichen: The city street was also an elemental component of the industrial infrastructure […]. Sanitation engineers, local governments and business owners understood that clean streets meant ease of movement – ensuring that people arrived easily at the factory, office or market, all necessary preconditions for the economy to function.10 Bekanntestes städtebauliches Beispiel ist die Umgestaltung von Paris Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer 1853 bis 1870 durch Georges-Eugène Baron Haussmann.11 Während die Umbauarbeiten im nachrevolutionären Paris das Verhindern von Protesten, von Straßenkämpfen und Barrikaden zum Ziel hatte, machten sie das Konsumieren leichter. Glatte, feste Straßenbeläge und breite, gerade Straßen erlauben eine ungehinderte Fortbewegung. Wer sich störungsfrei fortbewegen kann, kann seine oder ihre Konzentration ganz auf das Einkaufen verwenden. Zwischen der Haussmannisierung von Paris und der postmodernen Stadt, wie sie uns beispielsweise in den Texten Edward W. Sojas zum Los Angeles Mitte der 1990er Jahre begegnet,12 liegt ein Zeitraum von über 100 Jahren. Eine Zeit, in der die Abfallentsorgung der Städte zunehmend perfektioniert wurde. Die Städte waren schwerer zu Fuß zu erkunden. Phänomene wie die Entstehung und flächenmäßig voranschreitende Ausbreitung von Vorstädten, dem sog. urban sprawl13 sowie die Entstehung von Megastädten wie Los Angeles sind Entwicklungen in der Stadtgeschichte, die in den USA vor allem eines bedeuten: Städte sind so angelegt, dass sie quasi nur mit dem Auto

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Hauser 2001, 27. Hauser 2001, 28. Vgl. hierzu auch die Überlegungen in Kapitel 5.2 zu Schiffen und Inseln. Rogers 2005, 62, die sich u.a. auf Lefebvre 1976 (eigentlich 1970) bezieht. Vgl. hierzu Jordan 1996. Zum Aspekt der Haussmannisierung von Paris in der Passagenarbeit Walter Benjamins vgl. Löwy 2008. Vgl. etwa Soja 1995. Vgl. hierzu Hayden 2004, besonders die Einführung 5-16.

zu erkunden sind.14 Obgleich sich bezüglich der Idee und der Gestalt von Städten vieles grundlegend verändert hat: Die Operationen des Verdeckens und Versteckens von Abfällen und ›Abfälligen‹ bleibt überraschend konstant, ohne das die Produktion von Abfällen in großem Maße zurückgegangen wäre. Die Ideale des Verdeckens und Versteckens lassen sich auch in Bezug auf die Fußgängerzonen bundesdeutscher Städte feststellen, Entschleunigungsversuche in der Geschichte der Stadtgestaltung. Die Ware ist fester Teil dieser Zonen, die Warenpräsentation in Schaufenstern Zweck der Errichtung der ruhiggestellten Geschäftsstraßen. Temporär dem Alltagstrott entflohen, wünschen sich die Schaufensterbummelnden Störungsfreiheit als Luxus: Der Blick ist auf die Schaufenster gerichtet, Störungen werden vermieden oder, falls sie doch eintreten, wenn möglich ausgeschaltet.15 Es gibt wenig, woran sich die Umhergehenden festhalten können: Die Stadt ist eine der geglätteten, der glatten Wege und schmutzabweisenden Oberflächen.16 Hier sind die Straßen zwar auf die Gehenden ausgerichtet, die jedoch vorzugsweise Konsumierende sind.17 Abfälle in der Stadt sind idealerweise eines nicht: existent. Stattdessen werden zugewiesene Räume und Zeiten für deviantes Verhalten bereitgestellt – eine Funktion, die, wie beispielsweise die Studie von Michail Bachtin18 zeigt, der Karneval und in dessen Aktualisierung und Nachfolge Stadtfeste erfüllen können. Sie enden mit den Aufräumaktionen der Müllautos der Stadtreinigung. So sind Festschauplätze zwar Heterotopien, aber auch gereinigte Orte der Stadt.19 Daneben werden Elemente der Stadt, die eigentlich zum Verweilen und Umherlaufen einladen, eher zum Betrachten gestaltet.

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Vgl. hierzu etwa Schlögel 2007, der sich ausdrücklich auf Benjamins Flaneur bezieht, besonders 495-497. Zur Inszenierung der Ware vgl. König 2009, die sich besonders auf die Konsumkultur um 1900 bezieht, die allerdings weitreichende Kontinuitäten zur heutigen Konsumkultur aufweist. Zur Bedeutung der Gestalt der Städte, also zum einen zur Rolle von Architektur, etwa in Bezug auf die Gestaltung von Plätzen, zum anderen aber auch zum Gebrauch bestimmter Materialien in Bezug auf die Entstehung von Abfall vgl. Min’an 2011. Min’an zeigt am Beispiel von Städten in China die Folgen einer, wie er es nennt, Verhärtung der Stadt: Harte Materialien wie Stein und Zement dominieren die Architektur der Städte. Auch Natur in Form kontrollierter Grünanlagen und -streifen zeigt: Das Verworfene muss in diesem Setting zum Abfall werden. Min’an beschreibt: »Concrete, stones and bricks do not accept rejected things; similarly, green strips do not accept rejected things either (many green strips do not even accept people; they prohibit people from walking on them, appearing only as the background of people’s views). The modern city tightly covers the earth, making no room for the rejected. That is to say, the rejected has to exist here as rubbish. The things that can be digested by the earth of the countryside can only exist as rubbish in cities. The more tightly the city is wrapped, the easier it is to produce rubbish; the better planned the city, the more the rubbish.« (Min’an 2011, 342) Zu der Figur des Passanten vgl. Ortheil 1986. Zu Ausgrenzungen im öffentlichen Raum unter Bezugnahme auf Ideale wie Sicherheit und Moral vgl. Ronneberger u.a. 1999, vor allem 171-184. Vgl. Bachtin 1985, zum Karneval besonders 47-60. Ähnliches lässt sich in Bezug auf Sportgroßereignisse konstatieren, die ebenfalls einen Festcharakter aufweisen. Zu Sportstadien und den Versuchen der jüngsten Vergangenheit, diese – auch in Bezug auf Abfall – nachhaltiger zu gestalten, vgl. den Eintrag von Bill Kte’pi in der Encyclopedia of Consumption and Waste (Kte’pi 2012b).

Grünflächen sind oftmals dafür vorgesehen, als visuelle Tupfer in der Stadt zu entspannen und gerade nicht als Wanderwege für die Füße zu dienen.20 Im Märchen-Roman Momo wurde ein neues Stadtleben ausgebreitet, das wenig Zeit und wenig Raum für Reste und nutzlose Gehbewegungen lässt. Abfall ist in solchem Stadtsetting das Gegenteil von Ware, der Überschuss, das Störende, das zu Beseitigende, das Problem. Doch Abfälle können ebenfalls zur Ware werden, werden wie eine solche behandelt: begutachtet, vermessen, positioniert, bepreist – Operationen, die in Bölls Der Wegwerfer in den Blick genommen und ironisiert werden. Im Alltagstrott der Städte werden Fragen des Ergehens zu Fragen des Erfahrens, auch von Abfällen – mit dem Gewinn von Ordnung und Sauberkeit, Bequemlichkeit, Luxus und Sicherheit gehen Verluste bestimmter Erfahrungen einher.21

20 21

Vgl. Ingold 2004, 329. Vgl. hierzu auch Wehrheim 2012.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung Von Abfallergängen, Verfallserkundungen, Ruinen und Ruin

Im dritten Kapitel wurde anhand Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame gezeigt, wie vor allem die Hauptfigur Leni auf die Widerstände ihrer Umwelt trifft. In Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit, in dem die Abfallthematik sowie der Blick auf das Abfällige im Kontext einer Angst vor dem Alter und körperlichem Verfall verhandelt wird, ist die Ruinierung von Dingen eines der Vortragsthemen des freischaffenden Apokalyptikers. Diese Ruinierung verbindet er mit dem »Ruinwort automatic« (GeL, 76). Die Ruinierung fällt mitunter mit einem Ruin von Menschen zusammen. Das zeigt die Episode, in der der Protagonist einen Insolvenzverkauf passiert (vgl. GeL, 176). Der Verfall des Geschäfts ist offensichtlich. In der Insolvenz, dem ökonomischen Ruin, offenbart sich die Ruinierung der Dinge. Das Geschäft wird nach dem Ausverkauf, wenn es nicht weitergenutzt wird, mitunter zur Ruine. Es kommt zu Überschneidungen, Gemeinsamkeiten beider Verfallsbewegungen.1 Dass Insolvenz, der persönliche Ruin von Individuen in Ruinierung von Dingen und ganzen Gebäuden resultieren kann, zeigt nicht nur, freilich in einem Anfangsstadium, die geschilderte Passage in Genazinos Die Liebesblödigkeit, sondern zeigen auch die Fotoarbeiten von Susanne Ludwig.2 Ludwig hat sich dokumentierend den Prozessen des Verfalls von intakten, betriebsamen Räumen, die Schutz, Sicherheit, Abgrenzung bieten bis hin zur Entwertung und schließlich Auflösung der Räume gewidmet. Menschen kommen nur in ihrer, fast gespenstischen, Abwesenheit vor. Ludwig, die ihre Arbeiten als Industriefotografie bzw. als Kontrast zu den »zum Mythos gewordenen Bildern von Arbeitswelt und Markt«3 auffasst, weist vor allem auf den Kontrast zwischen dem, was sein soll und dem, was als Folge eines Ruins passiert, hin. Ein Kontrast, der sich oftmals unsichtbar vollzieht, »denn mit der Insolvenz und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Ableben des Wirtschaftsbetriebes 1

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Eigentlich, so Jochen Hörisch, sollten sich »der Ruin und die Ruine ausschließen.« (Hörisch 1996, 260) Seine Erklärung: »Un- bzw. vorkriegerisch […] nimmt man den (symbolischen) Ruin in Kauf, um Ruinen (und also die Zerstörung von Realien) zu verhindern. Oder aber man riskiert umgekehrt die Ruinen, um so den Ruin, des Staates, der Ehre oder der eigenen Identität etc. zu verhindern.« (Hörisch 1996, 260) Vgl. Ludwig 2006. Ludwig 2006, 256.

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Abfallverbindungen

erlischt der Wunsch der Unternehmer, ihre Wirtschaftsräume zu präsentieren oder die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer darzustellen.«4 Wie sich in ihren Fotoarbeiten zeigt, sind bei den Verfallsprozessen vor allem die Gegenstände entropischen Bewegungen ausgeliefert: Nach dem Verlust der sozialen und wirtschaftlichen Funktion der Räume kommt es zu einer Konzentrierung der Gegenstände, einem Verlust der Beziehungen zu den Gegenständen und der Gegenstände untereinander, zu Orientierungslosigkeit, die in dem Verlust der Funktion der Räume und letztendlich dem Verlust der primären Schutzfunktion der Räume gipfelt.5 Gerade in diesen letzten Phasen sei, wie Ludwig schreibt, der »Übergang vom renovierungsbedürftigen Raum zu einem ruinösen Gebäude […] fließend.«6 Wenn Abfall die Ruinierung der Dinge bedeutet, so kann die Begegnung mit diesen ruinierten Dingen, dies zeigen die in diesem vierten Kapitel analysierten Texte, auch zu einer Ruinierung des Menschen beitragen oder mit ihr verbunden sein. Literarische Texte schreiben zwar gegen die glänzende Vorderseite an, wenn sie die Kehrseiten, die Folgen von finanziellem Ruin erzählen.7 Mitunter erzählen sie auch andere Geschichten: So ist ein Fall, eine Ruinierung auch bei finanzieller Liquidität möglich. Zugleich, dies schlagen ebenfalls Teile der analysierten Texte vor, liegt in der Ruinierung ein Gewinn. Nicht nur die Ruinierung, sondern auch die Ruine ist von Bedeutung für dieses Kapitel. Bereits im Märchen-Roman Momo war die Ruine, um mit Foucault zu formulieren,8 ein anderer Ort am Rand der Stadt. Freilich nur in den Momenten, in der sie jenseits der touristischen Besuche ein Ort der Versammlung und Kontemplation wurde. Dabei ist die Ruine, wie Susanne Hauser zeigt, immer mit Ästhetisierungs- mit Aufwertungsakten verbunden: Nur wer die Ruine als Ruine ansieht und nicht als Haufen alter Steine, erblickt eine Ruine.9 Ähnliches ist hinsichtlich von Abfällen gültig: Wer Abfälle als Abfälle anblickt bzw. liest, findet Abfälle vor. Eine Operation, die ebenfalls Bestandteil dieses vierten Kapitels ist. Dabei macht die Ruine, um die einleitenden Ausführungen abzuschließen, in ihrer Eigenschaft als Ort der Ruinierung, als Ort, in der Zeit stockt und die meist außerhalb von städtischen Strömungsbewegungen liegt, sie mitunter auch zu einem Ort der Gefahr: In Pareis Text Die Schattenboxerin war die Ruine eines Bahnhofhäuschens der Ort, an dem die traumatisierende Gewalttat verübt wurde.10 So können die Orte, an die uns dieses Kapitel führt, sowohl Zuflucht als auch Orte der Gefahr, der Auflösung und des Verfalls sein. Uns begegnen vielfach Müllkippen –

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Ludwig 2006, 256. Vgl. Ludwig 2006, 258-261. Ludwig 2006, 261. Hier dient besonders Thomas Manns Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie als literarisches Beispiel. Vgl. hierzu Hörisch 1996, 265-268 sowie die bereits zitierte Untersuchung von Anna Kinder zu Geldströmen im Werk Thomas Manns, die sich in einem Kapitel ebenfalls auf den Ruin der Buddenbrooks bezieht (vgl. Kinder 2013, 25-56). Vgl. Foucault 1993a. Vgl. Hauser 2001, 181. Vgl. Kapitel 3.5.3 dieser Arbeit.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

tatsächliche Mülldeponien, aber auch Privatwohnungen, die abfallnah sind. Erkundendes Erzählen betrifft vielerlei und verbindet sich in den Fallgeschichten11 dieses Kapitels mit Ruin und Resignation, aber auch mit Hoffnung. Die Geschichten dieses vierten Kapitels sind so zwar Geschichten des Verfalls, aber auch des Neubeginns. Zunächst begleiten wir Rolf Dieter Brinkmann bei seinen abfallnahen Stadterkundungen von Rom, das sich ihm als Ruinenstadt in zweifacher Hinsicht präsentiert: Als Stadt der Ruinen und als ruinierte Stadt.

4.1

Abfalllandschaften: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke

»ich bin plötzlich nur müde, erschöpft, was hatte ich sehen wollen?:Ruinen, die in Abfällen vergammeln, zerstückelte Landschaften, das menschliche Leben verwüstet unaufhörlich den Ort, die Zeit, – ich vermag es nicht, eine winzige Einzelheit aus dem großen Abfallhaufen zu bewundern:das sind doch alles nur Entzückungen, die eine Vergangenheit betreffen, in der Gegenwart läuft ungemindert die Zerstörung weiter, weil die Ausblicke fehlen.«12 Eine herausgegriffene, dennoch in Tonfall, Thematik sowie eigenwilliger Interpunktion bezeichnende Textstelle aus Rolf Dieter Brinkmanns posthum veröffentlichtem Materialband Rom, Blicke (1979)13 . Was Brinkmann beschreibt, sind Abfalllandschaften (so auch an anderer Stelle: »Vorbei:an Eisenbahnviadukten darunter ein Schrottlager, abgewrackte Autos, Papier – und vorbei:an Viadukten, unter deren Bogen Abfälle faulen und stinken, dazwischen Wucherungen einer verkrüppelten Vegetation.« (BrR, 229)). Er, der als Stipendiat Zeit in der Villa Massimo in Rom verbrachte, ergeht und erschreibt diese Stadt. Rom, Blicke wird zu einer Sammlung, einer Ansammlung von Eindrücken und Erkundungen, stets gefiltert durch, geprägt von und in Opposition formuliert zu all dem, was über diese Stadt bereits gedacht und geschrieben wurde. So ist Goethes Italienische Reise 11

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Der Begriff der Fallgeschichte, der sich bereits in der Kapitelüberschrift dieses vierten Kapitels findet, fasst dabei mehrere Aspekte: Zum einen wird er nachfolgend wörtlich und metaphorisch gebraucht. Die Protagonisten der analysierten Texte fallen, es kommt zu Unfällen, Abstiegen und Tod. Dabei bewahrt die Fallgeschichte zugleich eine metonymische Nähe zum Abfall. Christiane Frey weist in ihrem Eintrag zur Fallgeschichte im Interdisziplinären Handbuch Literatur und Wissen darauf hin, dass bis weit ins 19. Jahrhundert die Fallgeschichte eigentlich die Sündenfallgeschichte meinte (vgl. Frey 2013, 282). Auf die ursprünglich über einen langen Zeitraum vorherrschende religiöse und moralische Dimension des Abfallbegriffs als Abwendung von Gott oder einem Herrscher hatte u.a. Ludolf Kuchenbuch in seiner Stichwortgeschichte verwiesen (vgl. Kuchenbuch 1988, 159). Zuletzt verweist der Begriff der Fallgeschichte auf das aus Medizin, Kriminalistik, Psychologie und Anthropologie seit Ende des 18. Jahrhundert in die Literatur ausstrahlende Genre der Fallgeschichte (vgl. Düwell/Pethes 2014, besonders 22). Markus Krause stellt in seinen Ausführungen zu einer Poetologie literarischer Fallgeschichten dar, wie das Genre der literarischen Fallgeschichte stets zwischen »der Rekonstruktion eines singulären Lebenslaufs, -abschnitts oder -ereignisses und ihrer Einordnung in ein dieses übersteigendes Erkenntnisinteresse« (Kraus 2014, 254) oszilliere. Besonders in der Analyse des Romans Der Sammler wird zudem der Begriff der Fallstudie genutzt – die Fallstudie betrachtet das Individuum als Fall, macht es zum Fall. Brinkmann 2006, 231. Vgl. Brinkmann 2006. Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle BrR und Seitenzahl zitiert.

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negative Schablone und wird, der Autorenname persifliert als »Göthe« (etwa BrR, 47: »›Auch in Arkadien!‹, Göthe. Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau. Seien es die modischen Lumpen oder die antiken Lumpen, ein Mischmasch, das so weit von Vitalität entfernt ist. Tatsächlich, das Abendland […] geht nicht nur unter – es ist bereits untergegangen, und nur einer dieser Fabrikanten taumelt noch gefräßig und unbedarft herum, berauscht sich an diesem Schrott – was ist das für ein Bewußtsein, das das vermag!«), häufig genannt.14 Während die Arbeiten Brinkmanns, zu denen neben einem Roman auch Gedichte, essayistische Texte sowie Hörspiele und theoretische Arbeiten zählen, längere Zeit vor allem in Untersuchungen zur frühen bzw. Proto-Popliteratur gewürdigt wurden,15 erlebte die Brinkmann-Forschung ab der Jahrtausendwende eine Renaissance und Erweiterung des Blicks.16 Fokussierte die Forschung zunächst das Schreibverfahren Brinkmanns, werden zunehmend Fragen der Intermedialität, Geschlechterkonstruktionen oder Aspekte der Regionalität in Brinkmanns Arbeiten untersucht. Zuletzt werden die Grenzen und blinden Flecke vorausgegangener Lektüren reflektiert.17 Obgleich der Abfall, das Verworfene und Übriggebliebene in Brinkmanns Texten nicht zu diesen blinden Flecken gehören, sondern stets mitgedacht werden,18 lohnt sich ein erneuter Blick auf Brinkmanns Texte. Während sich die Forschung oftmals auf die späten Texte Brinkmanns ab den 1970er Jahren, besonders Rom, Blicke und die anderen als Materialbände bezeichneten Werke, konzentriert, finden sich bereits in Brinkmanns erstem Roman Keiner weiß mehr (1968)19 ähnliche Ingredienzen, freilich stärker fiktionalisiert: Ein namenloses, schreibendes Ich durchwandert vom Konsum durchzogene bundesdeutsche Innenstädte. Handlungsort des Textes ist in weiten Teilen Köln. Wobei der Begriff ›Handlung‹ vielleicht schon den

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Zu Abfällen in Goethes Italienische Reise vgl. Moser 2005a, 324-328. Zu Goethe und Brinkmann vgl. Menke 1998, Adam 1994 und Nelles 2004, besonders 36f. sowie, die Gemeinsamkeiten zwischen den Blicken beider auf Rom betonend, Schuhmacher 2011. Zur Italienischen Reise als einer Erfahrung, die den Körper gerade auch durch Konfrontation mit Schmutz wiederbelebt, vgl. auch Sennett 1995, wo Sennett feststellt: »Schmutz und Exkremente rannen durch die Straßen, doch der Dichter auf der Flucht wanderte in freudiger Ehrfurcht durch diese Zerstörung.« (Sennett 1995, 341) Frühe Arbeiten sind die Aufsätze in der Reihe text+kritik (vgl. Arnold 1981) sowie, mit Fokus auf das Schreiben Brinkmanns in Bezug auf Alltag und Alltagsphänomene, die Dissertationen von Thomas Groß (vgl. Groß 1993) und, eher die Verbindungen Brinkmanns und seiner Texte zur Popkultur vor allem der 1960er Jahre in den Blick nehmend, Jörgen Schäfer (vgl. Schäfer 1998). Zu einer neuen Generation von Arbeiten zu Brinkmann gehören diverse Sammelbände (Carius 2008, Boyken/Cappelmann/Schwagmeier 2011, Fauser 2011), die Untersuchung von Brinkmanns Italienerfahrungen vor dem Hintergrund seiner kindlichen Kriegserlebnisse von Rainer Kramer (vgl. Kramer 1999) sowie Kapitel in den Arbeiten von Eckard Schuhmacher, der sich Brinkmann auch in Einzelaufsätzen nähert (vgl. Schuhmacher 2003 sowie Schuhmacher 2001 und 2011). Kritisch fragt Schrumpf 2010 auch nach den Grenzen und Defiziten der literarturwissenschaftlichen Brinkmann-Forschung gerade in Bezug auf die Materialbände und gibt ihrem Aufsatz den provokanten Titel »Wie lesbar sind Brinkmanns ›Materialbände‹ für die Literaturwissenschaft?« (Schrumpf 2010) Vgl. hierzu exemplarisch die Arbeit von Thomas Groß (Groß 1993). Vgl. Brinkmann 2005. Zur Funktion von Kunststoffen in Keiner weiß mehr vgl. auch Kapitel 5.4.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Blick in eine falsche Richtung lenkt. Christoph Rauen fasst den Inhalt lapidar zusammen: »Im Zentrum des Geschehens steht ein mittelloser, gescheiter Student und Familienvater wider Willen, der an der Monotonie kleinbürgerlicher Alltäglichkeit verzweifelt.«20 Rauen weiter zu der einzigen möglichen Entwicklung, die er im Roman ausmacht und die an den Ausgangpunkt zurückführt: »Eine Reise bietet Gelegenheit, endgültig mit Frau und Kind zu brechen, doch mangels überzeugender Alternativen kehrt er schließlich zurück und findet sich mehr oder weniger mit den bestehenden Verhältnissen ab.«21 Neben Themen wie Familie und Geldsorgen fokussiert der Text die Ambivalenzen des Stadtlebens. Einerseits bietet die Stadt mit ihren Warenangeboten Gelegenheit zu Erlebnissen und Zerstreuungen, andererseits werden gerade durch die Ausrichtung der städtischen Infrastruktur auf Konsum die Möglichkeiten eines solchen Erlebens minimiert. Den Protagonisten stößt diese Ausrichtung der Stadt auf den Konsum, die sich besonders in den Kaufhäusern und Fußgängerzonen zeigt, ab. Er begegnet ihr mit Ekel und Abwehr. Dies illustriert eine Passage, in der er in einem Kaufhaus Fernsehwerbung auf mehreren Bildschirmen verfolgt und in der Form eines inneren Monologs kommentiert (vgl. BrK, 190f.). Bei dem beworbenen Produkt handelt es sich um das Putzmittel biff, das im Text als bif bezeichnet wird: »Wirkt nicht gefährlich, sondern sichtbar, löst schäumend und sprudelnd den Schmutz.« Es folgt die Paraphrase der Produktwerbung, die das Putzmittel anpreist (»bif reinigt Toiletten und Waschbecken aus Porzellan, mühelos, umspült alle Ablagerungen von allen Seiten, bif ist bif, ist völlig frei von Salzsäure, ein Fortschritt« (BrK, 190)). Nun verlässt der Text die Ebene der paraphrasierten Werbung und wechselt unvermittelt in für Brinkmann typische explizite und mit Fäkalsprache angereicherte Sätze: »Es [das bif, CHG] fällt ins verschissene Becken, an dessen wannenförmig, abfallenden Rändern und in der ovalen Mulde noch etwas von deiner alten Scheiße klebt, hartnäckig sich haltende, festgesetzte Kotrückstände, wie es heißt, Ablagerungen, die weg müssen.« (BrK, 190f.) Der Kontrast zwischen der Sprache der Produktwerbung und des Kommentars ist offensichtlich: »Denn diese Lösung frißt deine alte Scheiße einfach weg. Kein anstrengendes Scheuern mehr, kein langes Reiben, ein Vorteil.« (BrK, 191) Die Wahl des Begriffs Lösung ist, so legt die Textstelle nahe, weiterführend, wenn wir den Text vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung von Ver- und Entsorgungspraktiken der Städte lesen: Die Praktiken des Ordnens, Rationalisierens und Verbergens, kurz des Säuberns und Aufräumens von Städten sind, das zeigt beispielsweise die Untersuchung von Peter Münch,22 verschränkt mit sozialen, wissenschaftlichen und administrativen Praktiken, die die Erfahrung von Stadt grundsätzlich modifizieren. Die Passage Brinkmanns impliziert nun, dass diese Praktiken in der Gegenwart des Textes eine Illusion sein könnten: Die alte »Scheiße«, die Ablagerungen sind immer noch da, auch wenn sie bekämpft werden, auch wenn sie vielleicht nicht immer sichtbar sind.

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Rauen 2010, 92. Rauen 2010, 92. Vgl. Münch 1993.

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So sind in Rom, Blicke und Keiner weiß mehr mehrere, für die Analysen dieses Kapitels zentrale Aspekte versammelt, die an dieser Stelle zunächst nur angesprochen werden sollen: (1) Das Gehen in der Stadt ist zugleich ein Ergehen, in dem die Erkundungen der materiellen Komponenten der Stadt als Zeugen der Vergangenheit, als Manifestationen von Ideen und Ideologien, bedeutsam sind.23 Bei diesen Erkundungen spielen Abfälle eine entscheidende Rolle, die Gänge durch die Stadt werden Abfallergänge24 . Von Bedeutsamkeit sind, analog zu den Überlegungen zum Sitzen und Setzen im vorausgehenden Kapitel, literarische Abfallergänge sowie die Verknüpfung von Gehbewegung und Erkundung, ferner der Geh- und Schreibbewegung. Erkundungsbewegung und Gehbewegung vereint sieht Matthias Keidel im Flaneur. Für Keidel ist Brinkmann einer der »ersten Autoren in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, der sich wieder explizit mit dem Raum der Großstadt auseinandersetzt«25 . So begreift Keidel Brinkmanns Schreiben als Fortsetzung der Arbeiten Hessels, Kracauers und Benjamins, in deren Werken das Schreiben und Gehen konstitutiv für die Wahrnehmung der Großstadt ist. »Es entspricht ebenfalls den Rahmenkriterien der Flaneursfigur«, formuliert Keidel, »daß der Autor die meisten seiner Wahrnehmungen, Reflexionen und Denkprozesse direkt aus der Gehbewegung entwickelt und immer wieder das sinnliche Moment dieses Prozesses betont.«26 Brinkmanns flanierender Blick sammelt so die Eindrücke ein, aber auch die Dinge, denen er begegnet. Eine Sammelbewegung, die das Schreiben maßgeblich strukturiert, wie Keidel ausführt: »[D]ie Forderung nach extremer Geistesgegenwart, die sich bei Brinkmann zu einer Wahrnehmung steigert, die so genau auf die verschiedenen Einzelreize reagiert, daß sie in ihrer Abfolge eine Reihung diskontinuierlicher Momente ergibt.«27 Die Bedeutung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für diese Abfallergänge sowie das Potenzial, Verbindungen zu schaffen, wird Bestandteil der nachfolgenden Überlegungen sein und Kapitel 3 ergänzen und weiterführen.

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So können auch einige Passagen in Die Schattenboxerin als solche Stadterkundungen gelesen werden, etwa die Stadtgänge der Protagonistin Hell, vgl. Kapitel 3.5.3 dieser Arbeit. Der Neologismus Abfallergänge meint zum einen, Abfälle zu sehen, zu suchen, zum anderen aber auch, die Stadt durch und mit Abfälle(n) zu denken, Stadt durch Bewegung zu konstituieren. Ergehen meint somit, sich auf das einzulassen, was den Gehenden in der Stadt widerfährt, wie es den Stadterkundenden ergeht – Abfallergänge sind somit auch Stadtergänge. Ergehen folgt hier, wie etwa Martina Löw in ihrer Raumsoziologie (vgl. Löw 2001) zeigt, der Idee der Konstruiertheit von Räumen. Löw demonstriert in ihrer Verknüpfung von theoretischen Überlegungen, sie bezieht sich unter anderem auf Michel de Certeau, und empirischen Beobachtungen, wie Räume als Ensembles, als Konstellationen von Körpern und Dingen gedacht werden müssen. Sie werden im Alltag durch repetitive Handlungen strukturiert, um Orientierung und Sicherheit zu erlangen (vgl. Löw 2001, 161). Abfallergänge weichen als Wahrnehmungsmodus, wie zu zeigen ist, von diesen Alltagsbewegungen ab, evozieren Desorientierung und Unsicherheiten. Keidel 2006, 49. Keidel, 2006, 50. Zum Zusammenspiel und zur Überschneidung von Brinkmanns Geh- und Schreibbewegungen und Präsenz von Körper und Körperlichkeit in Brinkmanns Texten vgl. Groß 1993, 194-199 und Kramer 1999, 150-153. Keidel 2006, 50.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

(2) Des Weiteren rückt der von Brinkmann so vehement vertretene Verfall ins Blickfeld der Analyse: Die Abfallergänge korrespondieren oftmals mit Verfallserkundungen. Wie Verfall im Einzelfall gefasst wird und was verfällt, ist zu zeigen. Hilfreich ist der Blick auf ein Verfahren, das in Thomas Groß‹ Arbeit zum Schreiben Brinkmanns als inventarisierendes Schreiben bezeichnet wird, das sich eine umfassende Spurensicherung zum Ziel gesetzt hat.28 Dieses inventarisierende Schreiben, das nicht zu verwechseln ist mit dem bewahrenden Schreiben, nähert sich, zumindest teilweise, einem ungefiltert wirkenden Protokollieren29 an und sammelt, mitunter hierarchiefrei, auch das nicht Bewahrenswerte, die Ablagerungen der Städte. Groß nennt das Schreiben Brinkmanns »ent-täuschtes Schreiben«30 , weil es hinter die Fassaden blickt. Mit Verfallserkundung ist zudem gemeint, dass in den in diesem Kapitel verhandelten Texten nicht nur Bewahrungen in den Blick genommen werden, nicht nur Wegwerfhandlungen, sondern ebenso Atmosphären, Empfindungen und Ablehnungen herausgearbeitet werden. Der Blick auf das Verworfene, dies verbindet die Texte Brinkmanns mit Wilhelm Genazinos Abschaffel, das schreibende Ein- und Ansammeln von Abfällen ist nicht gleichzusetzen mit einer Position der Wertschätzung, gar der Solidarität mit diesem Verworfenen. Ekel und Abscheu gegenüber Dingen und Menschen kann eine Reaktion auf das sein, was sich dem oder der Erkundenden eröffnet.31 (3) Die Ungewöhnlichkeit, aber auch die Unmöglichkeit des Blicks, den die Texte einnehmen. Vorgesehene Wege und Orte werden als langweilig, ausgetreten und wenig reizvoll geschildert. Ein Blickwinkel, den Schuhmacher vor dem Hintergrund von Brinkmanns Rom-Erfahrung als anti-touristischen Blick herausarbeitet, weil er einen radikalen Bruch mit dem Konzept des Tourismus vollzieht.32 Diesem anti-touristischen Blick eröffnet sich Rom, wie bereits angedeutet, als doppelte Ruine, als Stadt der Ruinen und als ruinierte Stadt. Mitten in der Stadt sind beide Komponenten von Bedeutung, die bekannten sowie die vergessenen und verborgenen Orte, die Randorte. Für Götz Großklaus sind es, wie er zu den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmanns formuliert, gerade diese in den Texten Brinkmanns so häufig vorkommenden Randorte, zu denen der Weg durch das »Niemandsland aufgegebener, in Brache und Busch wieder zurückgefallener Orte führt über Böschungen, dichtes Gestrüpp, über Abfallberge unter Eisenbahnbrücken«33 . Randorte, die, auch und gerade weil man nur schwerlich zu ihnen gelangt, anschaulich die Stillstellung von Bewegung manifestieren, die, so Großklaus, »Ansichten toter Gleise, ausrangierter Lokomotiven, zugemauerter Fenster an einer ramponierten

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Zum Aspekt der Spurensicherung vgl. Groß 1993, 200-209. Zu Brinkmanns Verfahren vgl. Groß 1993 und, mit Blick auf die Gegenwartsbezogenheit von Brinkmanns Texten, Schuhmacher 2003, 59-109. Groß 1993, 139. Das Schreiben Brinkmanns ist so auch gespickt mit ablehnenden, verachtenden Passagen, die weitaus umfangreicher und sprachlich expliziter sind als in Genazinos Texten. Szmorhun 2011 arbeitet heraus, wie Brinkmanns Texte Frauenkörper als Austragungsort von Gewalt, oftmals sexueller Gewalt (vgl. Szmorhun 2011, 259-263), oder als Tauschobjekt konstruieren (vgl. Szmorhun 2011, 266-268). Vgl. Schuhmacher 2011 und Kapitel 4.3.3 dieser Arbeit. Großklaus 2007, 196. Den Fokus auf das Randständige betont auch Groß 1993, 211.

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Hausfassade, eines Autos in einem ausweglosen, düsteren Hinterhof zwischen Mülltonnen, der Ruine einer Tankstelle etc.«34

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Gehen in der Stadt als Fort-Schritt und Traumwandeln im Wachsein

Zunächst jedoch weg von Brinkmanns Stadtergängen, den Verfallserkundungen und den Randorten inmitten der Städte und hin zu einem ganz alltäglichen Gang durch eine bundesdeutsche Großstadt. Seinen Weg durch eine, genauer in die Stadt, beschreibt der Bewegungsforscher Jürgen Funke-Wieneke in seinem Essay Sich Bewegen in der Stadt 35 : Die morgendliche rush hour am Hamburger Bahnhof Dammtor, den er auf dem Weg ins Universitätsinstitut als Schleuse passiert, ist der Ausgangspunkt seiner phänomenologisch und bewegungswissenschaftlich inspirierten Überlegungen zu dem Bewegen des eigenen Körpers, des eigenen Leibes in der Stadt.36 Das Gehen als Durchqueren eines Raumes, wie Funke-Wieneke es protokolliert, ist Teil einer Übung, einer Einübung, die, ähnlich wie das Sitzen, aus im Körper gespeicherten Bewegungen besteht, die wir tagtäglich reproduzieren. Hinzu kommen jedoch vielfältige Variationen, etwa der von Funke-Wieneke geschilderte Unterschied zwischen seinem Hin- und Heimweg. Obgleich der Ort der gleiche ist, machen die Tageszeit und die Motivation der Bewegung große Unterschiede in der Wahrnehmung sowohl der eigenen Bewegung wie auch des durchquerten Raums aus. Selbst der täglich am gleichen Ort angetretene Rückweg kann sich wiederum anders gestalten, wenn jemand zu Hause mit einem leckeren Abendessen wartet oder es dort noch, mitunter unangenehme, Aufgaben zu erledigen gibt. Funke-Wieneke markiert die Differenz zwischen dem Ort, den er vorfindet und durchquert, und dem Ort, den er durch seine Bewegung und durch sein ästhetisches Erfahren mitgestaltet.37 Diesen mitgestalteten Ort bezeichnet er als »Gegend«38 . Dabei widmet er sich den eigenen Bewegungen sowie den Bewegungen der ihn umgebenden Menschen. Generell konstatiert er für das Durchqueren von Transiträumen wie Bahnhöfen oder U-Bahn-Stationen: Die Bewegungen sind minimalistisch, mit wenig Aufwand verbunden. Ziel dieses Alltagstrotts, wie Funke-Wieneke diese Art der alltäglichen Fortbewegung bezeichnet, ist das »Traumwandeln in einem wachen Zustand«39 , also die Möglichkeit eines Durchquerens, ohne mit dem Kopf, mit den Gedanken wirklich anwesend zu sein. Dabei behilflich ist ein Zusammenspiel aus Architektur, aus Materialien wie Glas, Stahl und Beton, Technik wie Rolltreppen und

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Großklaus 2007, 196. Vgl. Funke-Wieneke 2008. Stadterfahrung ist nach dieser Konzeption sowohl körperlich – was macht die Stadt mit meinem Körper, wie setze ich den Körper zur Fortbewegung ein? – als auch leiblich – welche Einflüsse, Stimmungen und Atmosphären, Begegnungen führen zu leiblichen Erfahrungen? Vgl. Funke-Wieneke 2008, 81f. Andere Konzeptionen unterscheiden, wie am Beispiel des Ortes Bahnhof in Kapitel 3.5.2 dieser Arbeit gezeigt, zwischen Raum und Ort – der Raumbegriff dieser Konzeption entspräche Funke-Wienekes vorgefundenem Ort, den er lediglich durchquert, Gegend entspräche dem Ort, der im Raum individuell konkretisiert wird. Funke-Wieneke 2008, 81. Vgl. Funke-Wieneke 2008, 83.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

automatischen Türöffnern40 , eine »gleitfähige Schleusen- und Zwischenraumarchitektur«41 . Jürgen Funke-Wieneke beschreibt die Funktion solcher Konstellationen: »Es geht […] darum, dass er [der sich Bewegende, CHG] nicht eingebremst oder aufgeschreckt wird durch Abstoßendes, Hässliches, Verschlissenes, sondern in einem ästhetischen Wohlgefühl ganz allgemeiner Art versichert, sich weiter auf das konzentrieren kann, was für ihn jenseits dieses unvermeidlichen Zwischenraums wirklich anliegt.«42 Über dieses von Funke-Wieneke in den Blick genommene Fortbewegen in der Stadt wird, wie er beklagt, überraschend selten geforscht. Während zu Fragen der Bewegung neuere Forschungsimpulse aus der Sport- und Bewegungswissenschaft kommen, sind es in Bezug auf das Fortbewegen in der Stadt soziologische und ethnologisch bzw. anthropologisch inspirierte Studien, die sich der sozialen und kulturellen Formung von Bewegungen widmen. Das Ziel einer motorisierten Fortbewegung in der Stadt, so etwa die Überlegung Erving Goffmans in seinem Essay Individuum im öffentlichen Austausch (1971), ist es, von A nach B zu gelangen. Für Fußgehende kommen eine Reihe von anderen Zielen dazu: Sie sind Käuferinnen, Speisende, Gesprächspartner.43 Trotz der verschiedenen Gestalten des Stadtgehens und -fahrens stellt Goffman bemerkenswerte Betrachtungen über die Gemeinsamkeiten beider Fortbewegungsarten an. Die »Fortbewegungseinheit«44 Mensch steuert, gleich einem Auto, durch die Straßen und gehorcht dabei Regeln und Konventionen, die etwa Zusammenstöße ausschließen oder minimieren und Stauungen des Fußgängerflusses verhindern sollen und die den Gesetzen des Straßenverkehrs ähneln: »Im großen und ganzen kann man […] feststellen, daß es so etwas wie ein Verkehrssystem für Fußgänger gibt, in dem das Individuum selbst die Fortbewegungseinheit darstellt.«45 So wird das Gehen, das Fortbewegen ein Bewegen, das gekennzeichnet ist von Erfahrungen, von Wiederholungen und dem Vermeiden von Zusammenstößen mit anderen Gehenden und, mit meist weitaus schlimmeren Folgen für die Gehenden, mit Autos oder Radfahrenden.46 Der britische Ethnologe Tim Ingold zielt eher auf die materiellen Bedingungen dieser Stadtgänge: Mit Rückgriff auf Marcel Maussʼ Körpertechniken argumentiert er, dass die Gehbewegung nicht nur kulturell geprägt ist, sondern vor allem auch von äußeren Einflüssen strukturiert wird. Nach dem Aufrichten des Menschen, das zu einer dauerhaften Trennung der oberen von den unteren Körperteilen führte und den Händen in 40

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Frers 2007 fasst dieses Zusammenspiel von Menschen, Dingen und Umgebungen in seiner Untersuchung zu Bahnhöfen und Fährterminals als räumlich-sozial-materielle, sich ständig in Bewegung befindende, veränderliche und veränderbare Konstellationen (vgl. Frers 2007, 128-137). Eine kurze Auseinandersetzung mit den Thesen Lars Frers liefert auch Funke-Wieneke 2008, 79 und 91. Zum automatischen Türöffner bzw. Türschließer und dessen Störungsanfälligkeit vgl. auch Latour 2009 (bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus Latours Der Berliner Schlüssel (1996)) sowie die Ausführungen in Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Funke-Wieneke 2008, 83. Funke-Wieneke 2008, 83. Zum Konzept der Säuberungen vgl. Frers 2007, 207-217. Zum Aspekt der Widerstandsfreiheit vgl. Sennett 1995, 25-29. Vgl. Goffman 1974, 29. Goffman 1974, 39. Goffman 1974, 39. Vgl. hierzu Funke-Wieneke 2008, 84f.

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den alltäglichen Tast- und Erkenntnisprozessen Vorrang vor den Füßen gab,47 vollzogen sich zwei Neuerungen, die sich nach Auffassung von Ingold als besonders maßgeblich für das Gehen in der Moderne herausstellten: Das Tragen von Schuhen und das Pflastern von Straßen, das sog. paving. Während das Tragen von Schuhen den Menschen von seinem Untergrund distanzierte, der ständige Kontakt mit dem Bodenbelag unterbrochen wurde, kann das Pflastern als zusätzlicher Versuch gelesen werden, ein geradliniges, störungsfreies, rasches Fortbewegen in den – vor allem – Hauptstraßen der Städte zu gewährleisten. Hieraus resultierte im Idealfall ein Fortbewegen, das keines Suchens mehr bedurfte, ja fast automatisiert ablaufen konnte: No longer did he [the pedestrian bzw. der Fußgänger, CHG] have to pick his way, with care and dexterity, along pot-marked, cobbled or rutted thoroughfares, littered with the accumulated filth and excrement of the countless households and trades whose business lay along them.48 Auf gepflasterten Straßen hinterlassen die Fußgänger zudem keine Spuren mehr, was die Gehbewegung in der Stadt mit dem Vergessen zusammen bringt: »People, as they walk the streets, leave no trace of their movements, no record of their having passed by. It is as if they had never been.«49 Hinzu kommt das Bedürfnis nach einem möglichst großen Abstand vom Boden, der nach Ingold in Europa weitaus ausgeprägter sei als etwa in asiatischen Ländern. Bereits bei Kindern gilt die Maxime: Möglichst weit weg vom Boden, sich selbst und die Dinge vom Boden entfernen.50 Dabei sind Kinder eigentlich prädestiniert, hier auch in Anschluss an die zuvor diskutierte Abfallaffinität von Kindern, die am Boden liegenden Abfälle in den Blick zu nehmen. Kinder sind die Fußgängerinnen und Fußgänger der Gesellschaft – weil ihnen oftmals nichts anderes übrig bleibt.51 Das erkundende Gehverhalten, das Schlendern, das Stolpern und Umwege gehen, wird ihnen jedoch durch ihre, sich oftmals in Eile und auf Durchreise von Punkt A nach Punkt B befindenden Eltern verleidet, wie Tim Ingold mit Michael Wolff zeigt, der sich eingehend mit den Verhaltensweisen von Fußgängern auseinandersetzte.52 Kinder werden, oftmals orientierungslos, wie Koffer oder ähnliche Gepäckstücke neben ihren Eltern hergeschleppt: »Often the children neither look nor even know where they are going, nor are they looked at by those coming in the opposite direction.«53 Das ästhetische Wohlbefinden, wie Funke-Wieneke es nennt, meint die Möglichkeit, mit den Gedanken an anderen Orten zu sein, das auszublenden, was stört. Das Ausblenden lässt sich in einer Maschine besser erreichen als ungeschützt der Witterung und den Umgebungen ausgeliefert wie die Fußgängerin. Eine solche maschinelle

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Ingold 2004, 318. Ingold 2004, 326. Ingold 2004, 329. Diese Spurenlosigkeit war bereits Thema in Parei 2001 – Dinge hinterlassen (keine) Spuren, Menschen auch (nicht) – und wird in Kapitel 5 in Bezug auf Kunststoffe nochmals aufgegriffen. Vgl. Ingold 2004, 324f. Vgl. Ingold 2004, 329. Vgl. Ingold 2004, 328. In Levines Eine Landkarte der Zeit ist auch die Gehgeschwindigkeit Parameter für seinen Vergleich von Lebenstempi in verschiedenen Städten (vgl. Levine 2001, 179-184). Ingold 2004, 328.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Schutzhülle erlaubt es, die Stadt auf andere Weise zu erkunden. Zugleich ist es vor allem auch der Autoverkehr, der die Städte verändert und Fußgehende unter die Erde verbannt und an den Straßenrand drängt.54 Von einer schützenden Fahrzeughülle umgeben, muss sich die Autofahrerin zwar auf den Verkehr konzentrieren, wird aber auch in eine weichere, schönere Welt gehüllt durch Musik, Gespräche und klimatische Verhältnisse, die mitunter signifikant vom Außen abweichen. Sich im Schutz künstlicher Bedingungen fortbewegend, blendet der Blick die kleinen, marginalen Dinge auf den Straßen und Gehwegen aus, die das Auto überfährt. Auf die Rolle des Automobils hinsichtlich einer veränderten Wahrnehmung von Stadtraum hat auch der Soziologe Karl-Heinrich Bette hingewiesen.55 Drei Entwicklungen haben sich nach Ansicht Bettes, der schon Ende der 1980er Jahre zur Raumkonstitution durch Körper und Bewegungen forschte, im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses gravierend auf das Verhältnis des Menschen zum Raum ausgewirkt: (1) Der moderne Mensch ist ein sitzender Mensch – durch Technisierung, Motorisierung und Bürokratisierung bewegt er sich immer weniger aus eigenem Antrieb. (2) Das Sich-Bewegen durch den Raum hat sich durch Motorisierung in Dauer, Reichweite und Art gewandelt. (3) Das Eindringen in Räume, die jenseits des eigenen Horizontes liegen, wird durch Massenmedien wie den Fernseher unterstützt, die zur optischen und akustischen Schrumpfung des Raumes beitragen: »Die Welt jenseits der eigenen vier Wände kann im Wohnzimmer für eine Fremdbeobachtung versammelt werden«.56 Dabei kommt zwar Fremdes scheinbar näher, entfernt sich aber zugleich: Ein körperlicher Kontakt bleibt aus. Wenngleich der letzte Aspekt der Weltschrumpfung für Jürgen Funke-Wieneke keine Rolle spielt, widmet dieser sich der veränderten Wahrnehmung von Raum und der veränderten Bewegung durch Autos und Fahrräder.57 Neben dem Auto war es vor allem die Eisenbahn, das hat Wolfgang Schivelbuschs einflussreiche Studie gezeigt,58 die Bewegung durch den Raum revolutionierte – auch hier sind Verbindungen zu den Ausführungen Funke-Wienekes zu erkennen, der von einer minimalistischen, zweckgerichteten Fortbewegung schreibt. Hierzu führt Bette aus, was sowohl für die Autofahrt wie auch die Zugfahrt gilt: »Sie [die Fortbewegung, CHG] wird schneller, kalkulierbarer, gleichförmiger, linearer und unabhängiger von äußeren Einflüssen.«59 Bette weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Geraden hin: »Die Form der Verkehrswege, die ein hohes Fortbewegungstempo zulassen, 54

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Henri Lefebvre schreibt zur Straße als Durchgangsort: »Wenn die Straße den Sinn hatte, die Begegnung zu ermöglichen, dann hat sie ihn verloren; sie mußte ihn verlieren, indem sie sich im Rahmen einer notwendigen Reduktion darauf beschränkte, nur Durchgangsort zu sein, sich aufspaltend in Passagen für Fußgänger (gehetzt) und Autos (begünstigt). Die Straße hat sich zum organisierten Netz des Konsums durch/für den Konsum gewandelt.« (vgl. Lefebvre 1976, 26) Zur Veränderung der Wahrnehmung von Stadt durch den zunehmenden Individualverkehr, besonders durch das Auto, vgl. Kaschuba 2004. Zur Beschleunigung vgl. auch Borscheid 2004 und Rosa 2005. Vgl. Bette 2005. Zu Automobilen als Abfälle vgl. Zimring 2012. Zimring zeigt in seinem Beitrag, wie besonders in jüngster Zeit Autos verstärkt dadurch zu Sondermüll würden, da sie eine sich steigernde Anzahl toxischer Komponenten enthielten (vgl. Zimring 2012, 58). Bette 2005, 92f. Vgl. Funke-Wieneke 2008, 85. Vgl. Schivelbusch 2007. Bette 2005, 93.

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ist die Gerade. Autobahn und Schnellstraße sind Symbole und Artefakte der modernen Zeit. Sie ermöglichen hohe Geschwindigkeit.«60 So wird die Langsamkeit, werden Zögern, Unentschlossenheit und Störung in der Stadt teilweise eliminiert oder dies zumindest versucht: Langsamkeit und Schnelligkeit stoßen im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander. Der eine wird zur Gefahr für den jeweils anderen. Sich selbst beschleunigende Industriegesellschaften forcieren nicht umsonst die »Herrschaftsästhetik« der Geschwindigkeit in Gestalt der Gerade. Ihre lineare Gleichförmigkeit hat die Kurve als Symbol des Gemächlichen aus Stadt und Land weitestgehend vertrieben.61 Das Traumwandeln im Alltagstrott blendet wie die beschleunigte motorisierte Fortbewegung Dinge, auch Abfälle, aus, solange sie sich nicht als Störung in den Weg legen, aufdrängen, Bewegung verlangsamen oder als Hindernis ganz verhindern. In der Einleitung wurde die Bewegung des Ertastens, wurde die Handbewegung des Greifens und Loslassens als konstitutiv für Kultur herausgestellt, in Kapitel 3 die Bedeutung der Stillstellung und des Sitzens für die Wahrnehmung von Dingen. Aber auch Gehen ist bildend, was im Alltagstrott oftmals vergessen wird: Die Gehbewegung kann Verbindungen herstellen, Räume erschließen bzw. erst errichten, gar die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchbrechen. Diesem vermittelnden Potenzial, sei es zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Dingen oder auch zwischen Zeiten, hat sich Ulrich Giersch in seinem Essay Der gemessene Schritt als Sinn des Körpers: Gehkünste und Kunstgänge gewidmet. Er bezeichnet das Gehen als Balanceakt zwischen zukünftigen und vergangenen Momenten, die durch die Bewegung selbst immer wieder in Bezug zueinander gesetzt werden: Denn das Gleichförmige der Zeit wird durch den Schritt, durch das zurückbleibende und das voranstrebende Bein in die Diskontinuität von Vergangenheit und Zukunft unterteilt. Auf diesen beiden Fußpunkten erheben sich die Pfeiler zu jener steilen Brücke, auf der unser Rumpf ruht. Hier ist die Mitte, wo der Körper beide Bewegungsrichtungen zusammenführt, um sie als augenblicklich wirkende zu erleben. Da das Gehen eine alternierende Bewegung darstellt, gibt es immer wieder einen Moment des Gleichgewichtes, in dem unsere Körpermitte zu schweben scheint.62 Zu diesem Vermittlungspotenzial des Gehens später mehr.

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62

Bette 2005, 94, Hervorhebung dort. Bette 2005, 94. Zu Geschwindigkeit und zum Rausch der Autofahrt vgl. auch die Schriften der Futuristen um Marinetti, beispielweise Marinettis Futuristisches Manifest (vgl. Schmidt-Bergmann 2009, 75-80). Das Ermöglichen von freier, mitunter auch schneller Fahrt hat stadtplanerische Auswirkungen (dazu vgl. weiter unten). Vor allem die gerade Straße ist in Andreas Bernards kulturund literaturwissenschaftlich informierter Untersuchung zum Fahrstuhl charakteristisch für eine Mentalität, die Zufall und Unfall vermeiden oder zumindest minimieren möchte: »Die Bresche, als Korrektor alles Zufälligen, organisch Gewachsenen, ist die architektonische Signatur der Moderne schlechthin« (Bernard 2006, 64). Dass durch die Mentalität, alles Zufällige auszuschließen, gerade der Zufall und der Unfall evoziert wird, ist eines der Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Forschung zum Unfall in der Moderne (vgl. Kassung 2009 und Lieb 2009). Giersch 1984, 272.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Noch einmal zurück zu Funke-Wieneke. Seine Stadtgänge wurden in diesem Kapitel ausführlich rezipiert, weil sie eine weitere Dimension enthalten, die auch für die nachfolgenden Darstellungen und Interpretationen von Bedeutung sind: Der Konnex von Gehen in der Stadt und einem Schreiben darüber, wie zu Beginn dieses Kapitels am Beispiel Rolf Dieter Brinkmanns skizziert wurde. So ist auch Funke-Wienekes Text nicht nur Protokoll: Neben den Schilderungen seiner Bewegungen in der Stadt stellt er auch einen Versuch dar, dieses Bewegen schreibend und lesend zu erkunden. Dabei werden Verbindungen hergestellt, Begrifflichkeiten übernommen, neu besetzt oder verworfen: Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung wird herangezogen, kurze Verweise auf Franz Hessel, Walter Benjamin und Georg Simmel, den bereits oben kurz erläuterten Irving Goffman und Richard Sennett. Der schreibende Versuch, eine alltägliche Situation, eine Begegnung mit Dingen und Menschen, mit der eigenen Leiblichkeit, mit der Stadt festzuhalten, wird so auch eine Form der Erkundung. Auch im Schreiben über Trennungen, über das Fehlen von Verbindendem werden Verbindungen hergestellt. Zwei Aspekte in Funke-Wienekes Ausführungen sind bedeutsam für die Möglichkeit einer Begegnung mit Abfällen in der Stadt: der Traumwandel mit offenen Augen und das dazugehörige ästhetische Wohlbefinden sowie das Verhindern von Störungen. Besonders das Ideal einer Störungsfreiheit beeinflusst die städtische Planung und Gestaltung in architektonischer wie auch infrastruktureller Hinsicht. Bereits in der Darstellung von Zygmunt Baumans Thesen zur flüchtigen Moderne war die menschenunfreundliche Gestaltung des öffentlichen Platzes Esplanade de La Défense in Paris beklagt worden.63 Auch die Bedeutung von breiten, geraden Straßen wurde bereits angesprochen. Vorneweg einige Anmerkungen: Der nachfolgende abfallfokussierte Blick auf die Gestaltung von Städten ist vor allem ein Blick auf die westlichen Metropolen.64 Es soll hier nicht darum gehen, allgemeingültige, keine Ausnahmen zulassende Behauptungen aufzustellen, sondern Tendenzen aufzuzeigen.65 Möglichkeiten, störungsverhindernde Vorgaben in Bezug auf Gestaltung oder auch eigene Routinen zu durchbrechen, sind stets gegeben. Davon handelt dieses Kapitel. Fraglich bleibt, in welchem Umfang diese tatsächlich umgesetzt werden (können), vor allem im Alltagstrott.

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65

Vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Wie sehr sich die Einschätzungen verschieben können, wenn Städte in den Blick genommen werden, die nach anderen Logiken funktionieren, andere Rhythmen haben, zeigt Hausknotz 2011 mit Blick auf eine Straßenkreuzung der nigerianischen Stadt Lagos (vgl. Hausknotz 2011, 285-332). Dass diese Ausführungen zur Stadt trotz der Versuche von Generalisierungen, von Überblicken und dem Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten stets auch Ausschnitte sind, Erkundungen, die an anderen Orten und aus einer anderen Perspektive zu anderen Resultaten und Beschreibungen führen können, wird vorausgesetzt: »Stadt ist kein in seiner Totalität beschreibbarer Umstand, Stadt ist immer etwas, das passiert.« schreibt Florentina Hausknotz, »Städte sind nicht nur örtlich verankert, sondern finden auch immer zu besonderen Momenten statt, sie haben ein Datum.« (Hausknotz 2011, 11, Hervorhebung dort) Dies bestätigen auch literarische Texte. Neben den Texten, die in den nachfolgenden Unterkapiteln analysiert werden, zeugt davon beispielsweise Döblins Montageroman Berlin Alexanderplatz (1929) (vgl. Döblin 2011).

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Abfallverbindungen

4.3

Gegenbewegung: Im Stolperschritt die Dinge kreuzen

Reinhold Görling übertitelt seine Thesen zu Walter Benjamins Stadtwahrnehmung Orte. Über Walter Benjamins Topographie66 und setzt mit einem Verweis auf Benjamins Kommentar zu Proust ein. Dieser Kommentar findet sich in der Passagenarbeit, wo Benjamin schreibt, Proust hätte »mit einer Leidenschaft, die kein Dichter vor ihm gekannt hat, die Treue zu den Dingen, die unser Leben gekreuzt haben, zu seiner Sache gemacht.«67 Reinhold Görling greift die Bewegung des Kreuzens auf: »[W]enn sich zwei Dinge in ihrer Bewegung kreuzen, dann haben sie andere Bewegungsrichtungen und behalten diese auch bei, jedenfalls wenn diese Kreuzung nicht zu einem allzu gewaltsamen Zusammenstoß führt.«68 Die Treue führe eben nicht zu »Besitz, ja nicht einmal zu einer Kontinuität«69 , sondern: Es geht um den Augenblick der Begegnung, in dem die Dinge vor uns in Erscheinung treten. Man kann und muss allerdings dieses Kreuzen der Dinge mit unserem Leben auch in einem übertragenen Sinne verstehen: als eine Begegnung, in der es einen intensiven Kontakt gibt, aber sich das Leben und die Dinge doch fremd bleiben. Diese Treue ist eine Treue in die Andersheit oder vielleicht sogar in das Außen der Dinge, selbst wenn sie uns so kontinuierlich umgeben wie Roben, Möbel oder Landschaften.70 Die Treue des Sammlers, des von der Archäologie faszinierten und in den Ruinen Geschichtszeichen entdeckenden Stadtgängers Walter Benjamin steht im Mittelpunkt eines Unterkapitels, das sich verschiedenen Gehkünsten und Abfall- und Ruinengängen nähert. Es schließt mit der Frage nach der wechselseitigen Bedingtheit von Ruin und Ruine, von Ruinierung – und dem Erzählen darüber.

4.3.1

Bewegungskunst: Gehen als Erkundungsgänge

Den Alltagstrott, der zweckmäßige und minimalistische Bewegungen fordert oder auch nur bedingt, kontrastiert Jürgen Funke-Wieneke mit Bewegungskunst. Als Rahmen für Bewegungskunst gilt mitunter der Sport, wenn etwa beim Joggen der Körper auf andere, auf bewusstere, auf ästhetischere Weise bewegt wird als bei einem Gang zum nächsten Supermarkt oder zur U-Bahn. Ähnlich bewertet Karl-Heinrich Bette das Skateboardfahren als Bewegungskunst.71 Aber auch im sportlichen Bewegen gebe es, beklagt Funke-Wieneke, einen immer deutlicheren Vorrang der Zweckmäßigkeit von Bewegung über deren Ausgestaltung, etwa im Sinne des Auspowerns.72

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Vgl. Görling 2008. Vgl. Görling 2008, 166f., zitiert nach Benjamin GS V.2, 679. Görling 2008, 167. Görling 2008, 167. Görling 2008, 167. Vgl. Bette 2005, 87-89. Zum Skateboardfahren als Taktik einer Aneignung von urbanem Raum vgl. auch Borden 2000. Vgl. Funke-Wieneke 2008, 87f. Die Überlegungen an dieser Stelle korrespondieren mit dem in Kapitel 2 kurz diskutierten Bereich der körperlichen Fitness, die Bauman als eines der unvollendeten und unvollendbaren Projekte der flüchtigen Moderne beschreibt (vgl. Bauman 2005a, 94-97).

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Explorationen im städtischen Raum fordern die eingeübten Bewegungen, fordern den Körper und auch den Stadtraum heraus, bei Durchquerungen zu interagieren. Diese Expeditionen können auch einen anderen Umgang mit den Dingen evozieren, die die Gehenden kreuzen. Diese Dinge müssen nicht per se als Störung wahrgenommen werden, sondern können Herausforderung sein, Inspiration – auch hinsichtlich des Schreibens.73 Gehen als ästhetische Praxis, als Experiment, als Taktik, als Intervention findet sich immer wieder im Kontext, im Schutzraum von Kunstexperimenten. Aber sind es wirklich Schutzräume, wenn die Gehenden nicht als Künstlerinnen und Künstler, wenn die Experimente nicht als solche zu erkennen sind?74 Die Dingbegegnungen auf den Straßen der Stadt sind auch in einer anderen Beziehung herausfordernd: Stets gibt es Momente der Gefahr, wie weiter unten noch gezeigt wird. Zunächst einmal sei auf eine gar nicht selbstverständliche, zuvor schon kurz erwähnte, Verbindung hingewiesen: Diese explorativen Gänge, diese Stadterkundungen korrespondieren nicht selten mit Schreibbewegungen. Mitunter explosive Manifeste, aber auch tastende theoretische Schriften sind Resultate von oder auch Grundlagen für Erkundungsgänge, besonders von den Teilen der Avantgardebewegungen, die sich, im Gegensatz zu den automobilaffinen Futuristen, zu Fuß auf den Weg durch die Metropolen machen. So haben Dadaisten, Surrealisten und Situationisten versucht, der Stadt auf den Grund zu gehen. Walkscapes nennt Francesco Careri die ergangenen Stadtlandschaften, die sich den Gruppen oder Einzelpersonen erschließen.75 Vor allem das Umherschweifen der Situationisten, mit Debord als dérive bezeichnet, trägt das Abschweifen, das Ablenken-Lassen vom Alltagstrott im Namen. In einem Text, den Guy Debord Mitte der 1950er Jahre verfasste,76 umreißt er diese Praxis als eine »Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen.«77 Dabei wechseln sich präzise Operationen, die wissenschaftlichen Anforderungen genügen wollen, mit Phasen des Sich-Treiben-Lassens ab. Das Spielerische, das Spiel78 soll Einzug in die städtische Fortbewegung erhalten, Atmosphären sollen erlebt, Durchgangsorte und Schutzräume wahrgenommen werden. Diese avantgardistischen Gehexperimente beziehen sich auf eine Figur, die Ende des 19. Jahrhunderts in den Metropolen Paris, London und Berlin die Straßen bevölkerte: den Flaneur.79 Dabei sind Schreiben und Gehen beim Flaneur aufs Engste miteinander verbunden: Der Flaneur ist von Anfang an auch eine literarische Figur.80 Dennoch ist auch der Körper beteiligt: Das Flanieren ist als »spezifischer Bewegungs- und Er-

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Zum Aspekt der erschriebenen, der erzählten Stadt mit Blick auf die Zeit 1900 bis 1930 vgl. die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Sabine Becker (Becker 1992). Eine Diskussion, die ähnlich bereits in der Einleitung dieser Arbeit geführt wurde, als die Frage im Mittelpunkt stand, was die Transformation in Schutzräume mit Abfällen macht. Vgl. Careri 2007. Vgl. Debord 1995. Debord 1995, 64. Zum Spielbegriff der Situationisten, Debord/Wolman folgend, vgl. Gehrlein 2005, 84-88. Vgl. hierzu Neumeyer 1999 sowie die Überlegungen zum Flaneur von 1820 bis 1933 in Keidel 2005, 12-46. Vgl. hierzu auch Köhn 1989.

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Abfallverbindungen

kenntnismodus«81 ein Bewegungsmodus, der sich der Stadt aussetzt.82 Das birgt auch Risiken, zu denen die Konfrontation mit Unerwünschtem, mit Verworfenem zählt. Die bereits im Zusammenhang mit Brinkmanns Rom, Blicke zitierte Studie von Matthias Keidel83 widmet sich eingehend den frühen Flaneuren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, um das Flanieren als Geh- und Schreibbewegung, als Wahrnehmungsmodus in die Gegenwart zu verlängern. Ihr soll gefolgt werden, ergänzt um die Frage, welches Potenzial zur Abfallbegegnung, welche Gegenbewegungen zum Alltagstrott dieses Ergehen von Stadträumen bietet. Neben Baudelaires Paris widmet sich Keidel den deutschsprachigen Flaneuren, etwa dem Berliner Schriftsteller Franz Hessel. Die Stadt, die sich Hessel erschließt, ist bestimmt durch dessen Gänge. Während der Spaziergänge Hessels treten die im Alltagstrott unentdeckten Orte, die oft den Blicken verborgenen Seiten der Stadt, hervor. Seiten und Orte, die nicht unbedingt ansprechend oder einladend sein müssen. So schreibt Hessel in den kurzen Ausführungen zu Neukölln: »Um seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen, dazu kann man eigentlich niemandem raten.«84 Gleich zum Auftakt von Hessels Spaziergängen durch Berlin heißt es zu den verborgenen Orten: Manchmal möchte ich in die Höfe gehn. Im älteren Berlin wird das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe mit dem bißchen Grün in einer Ecke, den Stangen zum Ausklopfen, den Mülleimern und den Brunnen, die stehngeblieben sind aus Zeiten vor der Wasserleitung.85 Dass hier Wasserleitung, Brunnen und Mülleimer erwähnt werden, ist bezeichnend für Hessels Blick auf das scheinbar Unbedeutende, das jedoch auch die geheimen Verbindungen und Kanäle der Stadt verkörpert.86 Auch in einer anderen Textpassage wird das Verworfene ins Blickfeld gerückt. Hessel wendet sich den Verlierern von städtischen Veränderungen zu, wenn er im Kapitel Nach Osten die unsichtbaren Randzonen von Berlin beschreibt, die dennoch zentral situiert sein können, etwa direkt am Alexanderplatz: »Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not an. […]«87 Was Keidel die »Ästhetik des Marginalen«88 nennt, das Wahrnehmen von »unbeachteten Menschen und Dingen«89 , umschreibt Hessel selbst als »Ersten Blick«90 , den er behalten oder wiedergewinnen möchte. Ein, wie Keidel ausführt, »kindlicher, absichtsloser Blick, der vor allem bei der Oberfläche des Wahrgenommenen verbleibt, ohne sie sofort analytisch und interpretierend zu durchdringen. Den Dingen soll Zeit gelassen werden, ihre eigene Wirkung zu

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Schlögel 2007, 502f. Vgl. Schlögel 2007, 502f. Vgl. Keidel 2005. Hessel 2013, 202. Hessel 2013, 24f. Zur Geschichte der Müllentsorgung in Berlin vgl. Köstering 2003, insbesondere der Aufsatz von Renate Rüb zu Müll und Stadthygiene um 1900, vgl. Rüb 2003. Hessel 2013, 210f. Keidel 2006, 34. Keidel 2006, 34. Vgl. Hessel 2013, 23.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

entfalten, die normalerweise von der Sichtweise des Betrachters sofort kategorisiert, in ein bestehendes Muster eingeordnet wird.«91 Stadt-Erschreibende, die weit mehr sind als bloße Stadt-Beschreibende, prallen auf die Materialität der Dinge, werden von ihr mitunter abgestoßen: »Der Flaneur folgt der Stadt, sie ist mächtiger als er. Mit Städten oder Orten kann man nicht machen, was einem beliebt. Städte und Orte sind hart.«92 Stadterkunden und Stadtergehen, aber auch Stadt (er-)schreiben, hat wie Abfallerkunden und Abfall (er-)schreiben immer gegen das Scheitern anzugehen und anzuschreiben. Zugleich muss es immer auch scheitern, weil jede Möglichkeit, jeder Weg der eingeschlagen wird, alle anderen Möglichkeiten, jeder Moment, der festgehalten wird, alle anderen Momente missachten muss. Ein Prozess, der notwendig ist, um als Textgängerinnen wie auch als Stadtgängerinnen sich nicht komplett zu verlaufen und zu verirren, nicht steckenzubleiben, sondern in kleinen Schritten voran zu kommen, lesbar zu bleiben.

4.3.2

Geschichte ergehen und ansammeln mit Walter Benjamin

Die Härte der Orte, aber auch die Schwierigkeiten des Schreibens bekommt immer wieder auch Hessels Freund Walter Benjamin zu spüren. Benjamin, der sich begeistert von den Stadterkundungen seines schreibenden Kollegen zeigt,93 hat sich ebenfalls zeitlebens mit der Stadt, mit ihren Möglichkeiten und Kehrseiten, dem Sichtbaren und Verborgenen beschäftigt. Berlin ist in Benjamins Leben und Schreiben der Ort der Kindheit und Erinnerung, später auch der Einsamkeit und des finanziellen Existenzkampfes.94 Stationen seines Schreibens und Erkundens waren neben Berlin auch Moskau, Neapel und Paris.95 Vor allem Paris als Stadt der »urbanen Ruinierung«96 war temporärer Arbeitsort, etwa bei einem gemeinsamen Aufenthalt mit Hessel in den Jahren 1926 und 1927. Zugleich war Paris Ort der Lektüre und Imagination.97 Besonders nach Benjamins Gang ins Exil 1933 wurde die Bibliothèque Nationale der Ort der stetigen Ansammlung und Ausformung der Passagenarbeit, seinem geschichtsphilosophischen Projekt, an dem er von 1927 bis zu seinem Tod 1940 arbeitete.98 Für Benjamin war diese Arbeit ein Werk über das Jüngstvergangene, das in die Gegenwart hineinwirkt.99 Von immenser Be91 92 93 94 95 96 97

98 99

Keidel 2006, 30. Dieser absichtslose Blick findet sich, wie in Kapitel 3.5.1 gezeigt, auch in den Texten Genazinos. Schlögel 2007, 503. Vgl. Benjamin Hessel Rezensionen GS III, 45f., 82-84 und vor allem Die Wiederkehr des Flaneurs (1929) GS III, 194-199. Zum Berlin des erwachsenen Benjamin vgl. Buck-Morss 2000, 52-57. Zu Benjamins Orten vgl. Buck-Morss 2000. Zu Räumen und Raumerfahrung im Werk Benjamins auch die Beiträge in Witte 2008. Emden 2006, 89. Zum Einfluss Prousts und Aragons sowie anderer Surrealisten auf Benjamins Parisbild vgl. BuckMorss 2000, 50-52. Zur Vermittlung zwischen Stadt und Vorstellung von Stadt verweist auch Emden mit Roger Caillios Konzept von Paris als »Paris réel« und »Paris fantôme« (Emden 2006, 93). Zu den Stadien der Be- und Ausarbeitung des Passagen-Werks bzw. der Passagenarbeit vgl. BuckMorss 2000, 67-76. Für Benjamin war hier besonders die Idee der Jetztzeit von Bedeutung, die er gegen die »homogene und leere Zeit« setzt. Die Fokussierung auf das Jetzt, das Vergangenes jedoch nicht vergisst, findet sich in den geschichtsphilosophischen Thesen (vgl. Benjamin GS I.2, 690-708, vgl. zu die-

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deutung für die Passagenarbeit war Paris als städtischer Erfahrungsraum.100 »Straßen«, schreibt Benjamin in den frühen Entwürfen, »sind die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektivum ist ein ewig waches, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen in ihren eigenen vier Wänden.«101 Gehen als Erfahrungsmodus nimmt vor allem in der Figur des Flaneurs einen wichtigen Stellenwert in Benjamins Denken ein – Gehbewegungen des Flaneurs sind Vermittlungsbewegungen.102 Das »Memorieren im Schlendern«103 , wie Keidel unter Bezugnahme auf Benjamins Hessel-Rezension formuliert,104 ist jedoch nicht nur Gehbewegung, sondern flanierendes Denken, flanierendes Schreiben. Keidel zeigt dies detailliert an den Denkbildern der Einbahnstraße105 , ähnliches lässt sich aber auch anhand der Kindheitserinnerungen Berliner Kindheit um neunzehnhundert zeigen.106 Anhand unscheinbarer Dinge, aber auch alltäglich bekannter-geheimnisvoller Orte und solchen des offiziellen Erinnerns werden Verbindungen hergestellt; Fundstücke, objets trouvés der Stadt, seien es Reklame oder ein Schuh, werden Erzählauslöser.107 Die Dinge, die bei den Stadtgängen aufgefunden werden, verbinden Räume und Zeiten. Auch in der Berliner Kindheit werden die Räume der Kindheit in den Blick genommen oder Orte und Plätze aus der Sicht des Kindes, wenn auch gefiltert durch den schreibenden Erwachsenen, beschrieben. Vor allem die Schwellen der Kindheitswohnung waren für Benjamin, wie Winfried Menninghaus herausgearbeitet hat, privilegierte Orte: Diese Vermittler zwischen Räumen, aber auch zwischen dem städtischen Leben draußen und dem Innern der Wohnung wurden Symbole für Benjamins Verständnis von

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sem Aspekt Gandler 2008, 34-37). Gandler zeichnet nach, wie die Konzeption Benjamins gerade das Aufheben des Kontinuums von Zeit, das Ineinandergreifen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ziel hat (vgl. Gandler 2008, 37). Ralf Konersmann führt ebenfalls die Bedeutung von Gegenwart und Augenblick für das Denken Benjamins aus (vgl. Konersmann 1991, 42-51). Schlögel verweist so auf die körperliche Erfahrung von Benjamins Erkunden und Reisen und illustriert dies unter anderem mit dem zuerst von Buck-Morss rekonstruierten Weg, einem der möglichen Wege wohlgemerkt!, von Benjamins Unterkunft zur Bibliothèque Nationale (vgl. Schlögel 2007, 133, die Textpassage bei Buch-Morss findet sich auf Seite 408 in Buck-Morss 2000). Benjamin GS V.2, 1051. Keidel weist auf den Umstand hin, dass Benjamins Flaneurs-Konzeption keine geschlossene Theorie des Flaneurs ergibt: »Unauflösbare Widersprüche ergeben sich erst in dem Moment, in dem versucht wird, seine verstreuten Aussagen in einer großen Theorie zusammenzufassen und womöglich als Maßstab für die Weiterentwicklung der Figur des Flaneurs zu verwenden.« (Keidel 2006, 42) Dass die begriffliche Unschärfe, die Bewegung in Benjamins Arbeiten keine Ausnahme darstellt, sondern diese geradezu charakterisiert, illustriert der von Michael Opitz und Erdmut Wizisla herausgegebene Band zu Benjamins Begriffen. Begriffe wie Aura, Erinnern, Mythos oder Zitat haben in den Phasen von Benjamins Schreiben Transformationen, Erweiterungen, aber auch Verwerfungen erfahren, müssten also stets im Kontext gelesen werden (vgl. Opitz/Wizisla 2000a und 2000b). Benjamin GS III, 194. Neumeyer 1999, 376. Vgl. Benjamin GS IV.2, 83-148. Vgl. Keidel 2006, 40-46, zur Berliner Kindheit um neunzehnhundert mit Blick auf den Zusammenhang von Erinnerung, Sprache und Identität in Benjamins Schreiben vgl. Lemke 2008. Zur Bedeutung der mémoire involontaire für die Berliner Kindheit vgl. Ruppert 2011.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Geschichten und Geschichte.108 Türe, Tore und Treppenhäuser sind trennende und vermittelnde Orte. Gerade Schwellen und Zwischenräume eröffnen Möglichkeiten für all das, was in den Räumen jenseits der Schwellen und fernab der Zwischenräume oftmals keinen Platz findet.109 Menninghaus stellt heraus, dass gemeinhin das Verwischen und Vermischen von Schwellen negativ konnotiert ist,110 etwa das der Grenzen zwischen Stadt und Land, Tag und Nacht, Traum und Wachsein.111 Während im Surrealismus der Traum eine Aufwertung erfährt und gerade auch durch ein Verwischen des Unterschieds von Traum und Realität dem Traum die Möglichkeit von Erkenntnis und Erkennen zugeschrieben wird,112 ist es bei Benjamin ein anderer Zustand, dem ein utopisches Potenzial innewohnen kann. Benjamin geht es um die, wie Menninghaus formuliert, »produktive Transformation« von Schwellen, die ihre »Anerkennung, Respektierung als Schwelle.113 beinhaltet, gar voraussetzt. Hierfür prägt Benjamin den Begriff ›Erwachen‹114 , ein Zustand, der eng mit dem Träumen verwoben ist.115 Heiner Weidmann positioniert diesen für Benjamin zentralen Begriff vor allem in der Passagenarbeit, weist aber in Texten aus der gesamten Schaffensphase Benjamins zahlreiche Textstellen zum Traum bzw. Erwachen aus.116 Weidmann verweist auf das für Benjamin so wichtige Ineinandergreifen von Schlafen und Wachsein, das sich im Moment des Erwachens manifestiert: »Erwachen bedeutet […] nicht das Ende irgendeines dumpfen Schlafzustandes und den Anfang irgendeiner anderweitigen Beschäftigung, Erwachen soll hier nichts anderes sein als das augenblickliche Zum-Bewußtsein-Kommen des bis-

108 Vgl. Menninghaus 1986, 34. Zu Schwellen bei Benjamin vgl. auch Borsò 2008, 175-187. 109 Dieser Fokus auf die Zwischenräume verbindet Benjamin mit Kafka, wie auch Menninghaus zeigt (vgl. Menninghaus 1986, 30-33; zu Kafkas Zwischenräumen vgl. ebenso Vogl 2008, 102-105). Menninghaus bezieht sich vor allem auf Benjamins Kafka-Interpretationen (vgl. Benjamin GS II.2, 409438). Benjamin schreibt zu Odradek in seinem Essay zum zehnten Jahrestag von Kafkas Tod: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.« (Benjamin GS II.2, 431) Auch in der Berliner Kindheit erwähnt Benjamin Kafkas Odradek, und zwar in Zusammenhang mit der kindlichen Beschäftigung mit dem Nähkasten: »Und schwerlich hätte es mich sehr gewundert, wenn bei den Spulen eine redende, die Spule Odradek, gelegen hätte, die ich fast vierzig Jahre später kennen lernte.« (Benjamin GS IV.1, 290, vgl. zu dieser Textpassage auch die Lesart von Lemke 2008, 174f.) Zugleich zeigt Menninghaus mit Benjamins Kafka-Aufsatz, dass die Vermittlerfiguren Kafkas, etwa die Boten, keine Schwellen zu überschreiten haben, weil sie selbst keinem Bereich angehören würden: »Sie stehen noch diesseits der Schwellen-Logik, sind präindividuierte Vorwelt-Gestalten.« (Menninghaus 1986, 116, Fußnote 21) 110 Vgl. Menninghaus 1986, 40f. 111 Vgl. Menninghaus 1986, 41. 112 Zur Bedeutung des Traums im Surrealismus vgl. das entsprechende Kapitel der Studie von Peter Bürger, der sich besonders dem französischen Surrealismus widmet (Bürger 1996, 84-91). 113 Menninghaus 1986, 41, Hervorhebung dort. 114 Weidmann zitiert in Benjamins Texten circa 150 Belegstellen zum Themenkomplex Erwachen und Traum, die zum Teil mehrere Seiten umfassen (vgl. Weidmann 2000, 361). Zur Bedeutung von Traum und Erwachen im Denken Benjamins vgl. auch die entsprechende Passage im Vorwort des Herausgebers Tiedemann, Benjamin GS V.1, 16-20, zum Erwachen vor allem 19f. 115 In diesem Zusammenhang sollte die Erkenntnisrelevanz und das Transgressionspotenzial von Rausch auch bei und für Benjamin nicht vergessen werden, vgl. hierzu etwa Pethes 1999, 219-246, zum Traum ab 233. 116 Vgl. Weidmann 2000.

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her geträumten Traums.«117 Somit sind im Erwachen nicht nur Traum und Wachsein, sondern auch Gegenwärtigkeit und Erinnerung verschlungen: »Erst in der plötzlichen Erinnerung wird das Gewesene zum Gewesenen, und sein Gegenwärtigwerden als Gewesenes macht die Gegenwart der Erinnerung aus. Erwachen ist der Begriff einer Gegenwart, die ebenso völlig durch Vergangenheit hergestellt wird, wie sie umgekehrt diese Vergangenheit erst herstellt.«118 Dabei sind Traum, Wachsein, Erwachen für Benjamin nicht nur individuelle, sondern stets auch kollektive Vorgänge, die für ihn vor allem den Traumcharakter des 19. Jahrhunderts ausmachen. Erwachen ist wie Vergessen ein kollektiver Vorgang.119 Diese Traumkonzeptionen, gleich ob die Erhöhung des Traumzustands bei den Surrealisten oder die Schwellenmomente Traum/Erwachen bei Benjamin stehen dem Begriff des Traumwandelns Funke-Wienekes, des automatisierten und narkotisierten Gehens, diametral entgegen. Zugleich ist der Begriff der Narkose bzw. Narkotisierung verbindend: Sowohl bei Benjamin wie auch den Surrealisten ist das Träumen mitunter durch den Rausch ausgelöst oder weitergetragen, zumindest durch einen Zustand jenseits des Gewohnten. Diese Zustände des Träumens im Surrealismus und bei FunkeWieneke, des Träumens und Erwachens bei Benjamin sind häufig an materielle Dinge und materielle Konstellationen gebunden.120 Vor allem die Passage war eine solche Konstellation.121 Menninghaus verweist auf die Verwandtschaft von Passage und Schwelle, verdeutlicht im französischen Ausdruck rite de passage.122 Die Passage ist so nicht nur Ort, sondern auch als Handlung zu verstehen, als Zäsur im Kontinuum von Raum und Zeit. Den Momenten des Stillstands in der Bewegung, und umgekehrt auch der Bewegung im Stillstand, widmet sich Benjamin besonders in seiner Passagenarbeit. Eine Arbeit bzw. eine unvollendete Sammlung, eine Ansammlung123 die vieles versammelt, was auch in der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung ist: Die Begegnung mit Straßen und Plätzen, ein Nachdenken über die Mode oder Prostitution. Isabel Kranz zeigt in ihrer Dissertation zur Passagenarbeit, Raumgewordene Geschichte (2011)124 , wie sehr Ben117 118 119 120

Weidmann 2000, 342f., Hervorhebung dort. Weidmann 2000, 343, Hervorhebung dort. Vgl. Weidmann 2000, 345. Zu Benjamins Konstellationen-Begriff vgl. Emden 2006, 68f. Zu den materiellen Konstellationen, die für Benjamin bedeutsam waren, formuliert Weidmann 2000: »Den Traumcharakter des 19. Jahrhunderts entdeckt Benjamin in der Technik und in der Mode, vor allem aber in der Architektur, im Interieur, im Mobiliar.« (Weidmann 2000, 345, Hervorhebung dort) Besonders neue Baumaterialien wie Glas und Eisen erweiterten die Möglichkeiten des Bauens. Zum Eisen schreibt Benjamin im Exposé zu Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts: »Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf.« (GS V.I, 46) 121 Zu den Passagen und deren Stellenwert für die Arbeiten Benjamins vgl. Brüggemann 2000. 122 Vgl. Menninghaus 1986, 49 und, direkt bei Benjamin, im Konvolut O [Prostitution, Spiel], GS V.I, 617. Zu den räumlichen und zeitlichen Aspekten der Passage vgl. auch Missac 1991, der auch auf einen anderen wichtigen Begriff Benjamins eingeht: »en passant«, vorbeihuschen, vorbeigehen, passieren (vgl. Missac 1991, 22f.). 123 Zur eingreifenden und ordnenden Rolle des Herausgebers Rolf Tiedemann, der maßgeblich für die Anordnung der disparaten Sammlung verantwortlich war, vgl. dessen Darstellungen in den einleitenden Ausführungen im Passagen-Werk, Benjamin GS V.1, 11-41, besonders 38-41. 124 Vgl. Kranz 2011.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

jamins Geschichtsverständnis an ein Paradigma des Räumlichen gebunden ist. An den Stadt- und Imaginationsraum Paris, an die Architektur der Passagen, an Raumformen des Wohnens. In einer mikroskopischen Lektüre der Hinweise, die in Benjamins Text angesammelt sind,125 zeichnet Kranz Verbindungen nach mit dem Ziel, Benjamins Leitgedanken des Zeigens, des Verwendens von vorgefundenem Material zu prüfen. Dabei fällt Kranzʼ Blick immer wieder auf die Rolle der Lumpen, Abfälle, des Verworfenen in der Passagenarbeit. Vorbilder für diese Herangehensweise formen sich bereits kurz nach dem Erscheinen der von Tiedemann herausgegebenen Ausgabe Anfang der 1980er Jahre, etwa mit dem Aufsatz von Irving Wohlfarth aus dem Jahr 1984. Wohlfarth folgt der Idee des Historiker[s] als Lumpensammler 126 , als Suchendem nach dem Potenzial der »liegengelassenen Dinge«127 . Dies schließt ein, dass sich Benjamin in den Passagenaufzeichnungen nicht nur der Werke der vermeintlichen Hochliteratur und der traditionellen Geschichtsschreibung bedient, sondern einen Großteil seiner Zitate populären Genres entnimmt, den »Lumpen« und dem »Abfall« […] der Literaturgeschichte, die in den Augen der Philosophen seiner Zeit nicht theoriefähig sind und von den Geschichtswissenschaften erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Quellenmaterial ernst genommen werden.128 Kranz zeichnet nach, wie Benjamin beispielsweise im Märchen als kleine literarische Form und als Abfall der Sage sowie generell in der Miniatur eine Hinwendung zum Kleinen vollzieht, sowohl in der Wahl der von ihm konsultierten Texte wie auch in Bezug auf das eigene Schreiben.129 Benjamins Beschäftigung mit den bereits erwähnten Passagen, deren märchenhaften Elementen und dem bürgerlichen Interieur, durch das sich, wie Benjamin formuliert, der Bürger »die Nähe und die Ferne«130 zu sich hole, liest Kranz als eine am Beispiel der Passage vollzogene Beschäftigung mit den Ambivalenzen der Moderne. Besonders die Passage dient als Hohlform und als Hohlraum, beide werden dadurch »Modelle für die Zeit- und Geschichtswahrnehmung des 19. Jahrhunderts«131 . Zugleich erinnert die Passage durch ihre Abgeschiedenheit von der Außenwelt an eine Höhle oder Grotte, also ein Ort des Geheimnisvollen, was durch die dämmrige Atmosphäre und die unwirkliche Akustik verstärkt wird.132 Kranz arbeitet die Ähnlichkeiten mit einem anderen Behälter heraus: Dem Aquarium, das zu dieser Zeit Konjunktur hat.133 Das Aquarium schafft als Einrichtungsgegenstand und Distinktionswerkzeug Verbindungen zur bürgerlichen Inneneinrichtung, holt etwas, was sich sonst außerhalb des Nahbereichs des Menschen befindet, in den Wohnraum, wird Teil des Interieurs. Dem Interieur widmet sich Kranz ebenfalls ausführlich.134 Es versammelt als Passage 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134

Kranz spricht, mit Genette, von Paratexten (vgl. Kranz 2011, 27-34). So der Titel von Wohlfarth 1984. Wohlfarth 1984, 74. Kranz 2011, 117. Vgl. Kranz 2011, 58, zur Miniatur, auch als Phantasma, vgl. Kranz 2011, 121-125. Benjamin GS V.2, 1052. Kranz 2011, 145. Vgl. Hardt 2012, 188. Vgl. Kranz 2011, 177-186, zum Aquarium vgl. auch Kranz 2007. Zum Interieur in Texten des 19. Jahrhunderts vgl. auch Felcht 2013, die die Bedeutung des Interieurs anhand der Märchentexte H.C. Andersens herausarbeitet (vgl. vor allem Felcht 2013, 239-249).

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im Kleinen die Welt in der Wohnung. Die Wohnung wird zum Behälter für Dinge, sichert das Überleben der Dinge – erstarrt aber auch in und mit den Dingen. Im Interieur verbinden sich Schichtung und Geschichte.135 Geschichte, die immer im Begriff steht, in Erstarrung zu verfallen. Eine Erstarrung, die sich in Staubschichten manifestieren kann.136 Nun eröffnen sich im Anschluss an die dargestellten Konzeptionen Benjamins, aber auch die Bearbeitungen der Benjamin-Forschung eine Reihe von Fragen in Bezug auf Abfall: Wenn Benjamins Methode vorsieht, den Abfall der Städte zu beachten, ihn als Material zu verwenden,137 wird durch die Hinwendung zum Potenzial des Verworfenen der Status dieser Abfälle geändert? Das entsprechende Zitat in der Passagenarbeit: Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nicht nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.138 Genauer gefragt: Kommt es in einem Erzählen von und durch Abfälle stets zu einer Aufwertung von Abfällen? Zu einer Umkehrung von Wertigkeit oder, im Anschluss an die Formulierungen von Menninghaus, zur Schwelle, zum Verwischen der Trennung von Abfall und Nicht-Abfall, von Abfall und Wert? Oder doch zu Akten des Erkennens und damit Rettens von Abfall? Wenn nun die Überlegungen Benjamins als Matrix für die nachfolgenden Textanalysen dienen, dann wird auf diese Fragen zurückzukommen sein. Die im Zusammenhang mit dem Interieur diskutierte Erstarrung bildet zudem zusammen mit der Bewegung des Gehens, des Ergehens von Raum und Zeit einen Zustand, der in den nachfolgenden Textanalysen von Bedeutung ist. Ein Gehen, das mitunter das Kreuzen mit Dingen, ein Stolpern, das nicht immer voran führt, ein Ergehen von Geschichten und Orten sowie mitunter auch ein Erstarren sein kann. Zwei weitere, für Benjamins Schreiben und Denken zentrale Begriffe und damit verbundene Konzepte sind für die nachfolgenden Analysen von Bedeutung. Zum einen, im Anschluss an die Eingangsüberlegungen zu Brinkmanns Rom, Blicke, die Ruine, zum anderen, auch hier sind Anschlüsse an Brinkmanns inventarisierendes Verfahren möglich, die Bewegung des Sammelns.139 Christian Emden hat sich der Ruine als Geschichtszeichen vor allem in Benjamins Arbeit über das barocke Trauerspiel, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928)140 , gewid135 136 137

Vgl. Kranz 2011, 156-224. Zu Staub bei Benjamin als Ausdruck der Erstarrung vgl. Buck-Morss 2000, 123-125. Vgl. hierzu Kranz 2011, 102-110. Kranz macht vor allem in Benjamins Textstrategien des Zitierens und Montierens eine Umsetzung seines Programms aus, vorgefundenes Material zu verwenden. 138 Benjamin GS V.1, 574, zum Verwenden vgl. Kranz 2011, 102-104. 139 Während zwar nicht das Sammeln, sondern der Sammler einen eigenen Eintrag in Benjamins Begriffe (vgl. Optiz/Wizisla 2000a und b, zum Sammler vgl. Köhn 2000) erhielt, ist der Ruine kein Einzeleintrag gewidmet. 140 Vgl. Benjamin GS I.1, 203-420. Bettine Menke (vgl. Menke 2010) zeichnet in ihrem Versuch einer Relektüre und zugleich auch Aktualisierung von Benjamins Trauerspiel-Darlegungen nach, wie gerade dieses Buch, Benjamins geplante Habilitationsschrift an der Universität Frankfurt, quasi selbst Abfall wurde: Aus Sicht der Gutachter nicht wirklich verständlich, folglich ein Abfall von den Praktiken und Setzungen wissenschaftlichen Arbeitens. Benjamin zog seine Schrift 1925 auf

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

met. Emden liest mit Benjamin Ruinen als Geschichtszeichen.141 Ihnen kommt eine Vermittlungsfunktion zu, die der der Passage ähnelt und so wichtig für Benjamin ist: Die Vermittlung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die bereits als durch die Gehbewegung vermittelte herausgearbeitet wurde. Diese Vermittlungsarbeit liegt freilich nicht im Bauwerk selbst, sondern in der Art seiner Betrachtung. So formuliert auch Hartmut Böhme zu Ruinen, die als »Dementi des Scheins des Schönen«142 , als »Ästhetik des Schocks« Zeichen sind: »Von sich aus […] bedeuten Ruinen nichts.«143 Erst der Blick auf die Ruine als Ruine mache sie zum Zeitzeichen. Böhme schreibt zu diesem Blick, der »ein Trümmerfeld zu einer Ruinenlandschaft synthetisiert«, er sei der »festgehalte Augenblick zwischen einer unvergangenen Vergangenheit und einer schon gegenwärtigen Zukunft.«144 Wie für Brinkmann ist auch für Benjamin Rom die Stadt der Ruinen. Während Brinkmann sich an ihr durch gerade eben das Ausblenden der eigentliche Bauwerke, das Verblendende an den touristisch genutzten Geschichtsdingen abarbeitet, bleibt Rom für Benjamin in anderer Hinsicht bedeutungsvoll, wie Emden zeigt: »In seinem Denkbild ›Ausgraben und Erinnern‹ entwirft Benjamin eine Form des historischen Erkennens, das nicht nur an die Bildlichkeit und Gegenständlichkeit des historischen Objekts gebunden ist, sondern auch eine psychologische Dimension besitzt.«145 Vor allem vor dem Hintergrund von Freuds Unbehagen in der Kultur werde das Graben in Zeitschichtungen zur maßgeblichen Bewegung der Erinnerungsarbeit stilisiert.146 Dass nicht Rom, sondern Paris die Stadt von Benjamins Passagenarbeit wurde, deckt sich mit den Eindrücken Brinkmanns: zu oft beschrieben, dadurch zu erstarrt scheint Rom.147 Auch in anderen Texten richtet sich Benjamins Aufmerksamkeit immer wieder auf die Frage nach Erinnern und Vergessen. Die Denkbilder der Berliner Kindheit stellen verschiedene Formen des Erinnerns vor, die bereits in der Analyse von Fundbüro diskutiert wurden: Das offizielle Erinnern, das oftmals auch ein nationales und kollektives Erinnern ist,148 und das individuelle Erinnern, in dem willkürliche und unwillkürliche Erinnerung zusammentreffen können.149 Christine Ruppert zeigt an einem Denkbild der Berliner Kindheit, dem sich in der publizierten Fassung an dritter Stelle befindenden

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Anraten der Gutachter zurück. Menke weist darauf hin, dass nicht wissenschaftliche Differenzen, sondern der Antisemitismus der deutschen Universitäten als Hauptgrund für das akademische Scheitern von Benjamin auszumachen ist (vgl. Menke 2010, 8). Vgl. Emden 2006, 38-43. Böhme 1989, 294. Überblicksartige Darstellungen zur Ruine als Geschichtszeichen finden sich in Hauser 2001, 181-189, einzelne Aufsätze versammelt der von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl herausgegebene Sammelband Ruinenbilder (vgl. Assmann u.a. 2002). Im englischsprachigen Raum vgl. die Darstellungen von Hetherington 2010. Böhme 1989, 287. Böhme 1989, 288. Emden 2006, 78. Vgl. Emden 2006, 80. Vgl. hierzu Kranz 2011, 239f. Zu Rom vgl. auch Benjamins Hessel Rezension (GS III, 195). Vgl. Ruppert 2011, 8. Vgl. Ruppert 2011, 8. Zu Benjamins Abgrenzung von Proust und der Differenz zwischen Benjamins Konzeption der mémoire involontaire und der von Proust vgl. ausführlich Schöttker 2000, 262-267.

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Denkbild Siegessäule150 , wie hier die Praxis eines forcierten kollektiven Erinnerns einer mémoire involontaire gegenübergestellt wird.151 Diese mémoire involontaire bricht mit herkömmlichen Verbindungen und stellt neue her. In einem Prozess des individuellen Zugangs kann so ein Platz, ein Ort oder ein Symbol des offiziellen Erinnerns umgedeutet werden. In Benjamins Denkbild ist die Siegessäule für das Kind, wie Ruppert zeigt, nicht der Ort offiziellen Gedenkens, sondern steht eher für ein Eingeständnis der Verwirrung des Kindes, von der retrospektiv erzählt wird. Das Denkmal wird zur Schnittstelle zwischen zwei Formen des Gedenkens: »Sie [die Siegessäule, CHG] ist einerseits ein Erinnerungsort, an dem sich Kindheitserinnerungen des autobiographischen Ichs festmachen, und andererseits ein Monument des institutionalisierten kollektiven Gedächtnisses des Wilhelminischen Kaiserreichs […].«152 Erinnern, mémoire involontaire, Erkundungen, das Große im Kleinen und das Kleine im Großen – dies sind Stichworte, die sowohl für Benjamins Sammeltätigkeit153 wie auch für sein Schreiben und Nachdenken über das Sammeln bedeutsam sind.154 Exemplarisch sei der, ebenfalls unter den Denkbildern gefasste, Aufsatz Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln155 herangezogen. Anhand seiner Büchersammlung verdichtet Benjamin Überlegungen zur Privatsammlung, die, wie er gleich feststellt, zwischen Ordnung und Unordnung changiert. Die Ordnung der Sammlung ist nämlich nur scheinbare Ordnung, eine Ordnung, die sich in erster Linie durch Gewöhnung an die Sammeldinge bildet: »Denn was ist dieser Besitz anderes als eine Unordnung, in der Gewohnheit sich so heimisch machte, daß sie als Ordnung erscheinen kann?«156 Dabei ist jede Privatsammlung nicht nur Ordnung und Unordnung zugleich, sie ist auch untrennbar verbunden mit dem Sammelsubjekt: ohne diese Verbindung ist sie keine Sammlung, sondern verfällt wieder in das Stadium der Unordnung (»Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn.«157 ). Das Sammeln, etwa von Büchern, befreit die gesammelten Dinge aus der Warenzirkulation. Sie werden jedoch nicht nur von ihrem Warenwert befreit, sondern mitunter auch von ihrem Gebrauchswert. Benjamin zeigt dies an der irrigen Annahme, dass Büchersammler die gesammelten Bücher lesen würden.158 Die Suche nach den Sammelstücken wird für die Sammelnden konstitutiv für das Erschließen einer Stadt. Ein Prozess, der Taktiken des Auffindens voraussetzt: »Sammler sind Menschen mit taktischem Instinkt; ihrer Erfahrung nach kann, wenn sie eine fremde Stadt erobern, der kleinste Antiquitätenladen ein Fort, das entlegenste Papiergeschäft eine Schlüsselstellung bedeuten. Wie viele

150 Vgl. Benjamin GS IV.1, 240-242. In der von Ruppert favorisierten Fassung letzter Hand findet sich dieses Denkbild ebenfalls an dritter Stelle (vgl. Benjamin GS VII.1, 389f.). 151 Vgl. Ruppert 2011. 152 Ruppert 2011, 9. 153 Zu Benjamin als Sammler vgl. u.a. den vom Walter Benjamin Archiv herausgegebenen Band zu Benjamins Archiven (vgl. Walter Benjamin Archiv 2006). 154 Zum Sammler bei Benjamin vgl. Eckardt Köhns Begriffsarbeit quer durch Benjamins Schriften in Opitz/Wizisla 2000b (vgl. Köhn 2000). 155 Vgl. Benjamin GS IV.1, 388-396. 156 Benjamin GS IV.1, 388. 157 Benjamin GS IV.1, 395. 158 Vgl. Benjamin GS IV.1, 390f.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Städte haben sich mir nicht in den Märschen erschlossen, mit denen ich auf Eroberung von Büchern ausging.«159 Während Brinkmann im Kaufrausch der Warenhäuser und im Ramsch, der etwa auf den Straßen Roms angeboten wird, einen Ausdruck von Verfall sieht, hat für Benjamin solcher Ramsch, dieses Liegengebliebene durchaus Erkenntnispotenzial. Im Bericht Für arme Sammler 160 landet der Blick Benjamins so auch bei einer der kapitalistischen Beschleunigung eigenen Kategorie von Büchern: die der veralteten Bücher. Im Vorgang des »Verramschen[s]«161 finden sich diese Bücher »auf Bücherwagen, in den Ramschabteilungen der Warenhäuser, wo die Bücher zu 45 oder 95 Pf. gestapelt liegen, in den Papierhandlungen der Provinzstädte und […] vielleicht sogar in der eigenen Bibliothek«162 . Die Ramschware bildet eine Zwischenkategorie der noch nicht wirklich wertvollen antiquarischen und der sich im Sortiment der Buchhandlungen findenden neuen Bücher und ist in diesem Zustand besonders abfallnah. Vor allem Werke Unbekannter fänden sich hier, zugleich »sieht er [der Sammler, CHG] sich mit einem Schlage Broschüren und Bändchen gegenüber, für die man ihm nicht viel mehr abverlangt, als der Papierwert beträgt.«163 Gerade die abfallnahen Bücher bieten für Benjamin besonderes Potenzial, da sie wohlmöglich »über ihre Epoche Bemerkenswerteres zu sagen haben als viele der Arrivierten.«164 Diese bemerkenswerten Botschaften zu erhören und zu entschlüsseln, vielleicht aber auch nur zu sammeln, ist die Aufgabe des Sammlers – des Lumpensammlers und des Historikers.165 Zusammenfassend seien noch einmal die Fragen versammelt, die sich nach den Benjamin-Lektüren und der Sichtung eines Teils der älteren und jüngeren BenjaminForschung in Bezug auf Abfälle, auf das Verworfene stellen und die für die Analysen der literarischen Texte in diesem vierten Kapitel bedeutsam sind: Welche Rolle spielt das Sammeln, das Verwenden von Vorgefundenem in den literarischen Texten? Wie hängt das Sammeln mit Bewahren und Vergessen zusammen? Noch einmal sei die Frage aufgeführt: Führen die Bewegungen des Sammelns oder auch nur des Versammelns zu einer Aufwertung oder bleibt Abfall in seinem Status als Verworfenes bestehen? Welche Bedeutung haben Orte und Räume? Wie können Assoziationen zwischen Menschen und Dingen, zwischen Menschen, wie können Konstellationen, Momente, Orte und Stellen in literarischen Texten beschrieben, mehr noch, erschrieben werden?

4.3.3

Ruinengänge: Archäologie der Jetztzeit

Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels skizziert, zeichnet Eckard Schuhmacher in seinem Aufsatz zu Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke den für Brinkmanns Erleben, Erkunden und Erschreiben Roms so fundamentalen Unterschied zwischen Tourismus 159 160 161 162 163 164 165

Benjamin GS IV.1, 391. Vgl. Benjamin GS IV.1, 598-601. Benjamin GS IV.1, 600. Benjamin GS IV.1, 600f. Benjamin GS IV.1, 599. Benjamin GS IV.1, 599. So schreibt Irving Wohlfarth zum Historiker als Lumpensammler: »Nur dann, wenn sie [die Dinge, CHG] nicht mehr zirkulieren, wie es sich für anständige Waren gehört, fangen die Dinge als Ladenhüter an, Zeichen eines anderen, subversiven Potentials von sich zu geben.« (Wohlfarth 1984, 74) Zum chiffonier, dem Lumpensammler vgl. auch Kranz 2011, 20-23.

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Abfallverbindungen

und Reisen nach. Während Reisen, auch mit und nach Goethe, »Aktivität, Abenteuer, Herausforderung, Erschütterung, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, Individualität, Identität«166 bedeute, wird Tourismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem »Sammelbegriff für die Standardisierung, Industrialisierung und Kommerzialisierung von Reisen.«167 Schuhmacher weist auf die Etymologie des Wortes Reisen hin: Das Wort ›Reise‹ verweist auf das mittelhochdeutsche ›reis(e)‹, ›Aufbruch, Fahrt‹, abgeleitet vom Verb ›reisa‹, ›aufgehen, sich erheben‹, und wird in diesem Sinn sowohl mit einem offenen Ausgang als auch mit Formen der Erhebung verbunden. Durchaus im Sinn des verwandten englischen ›rise‹, das zudem mit der Bedeutung ›aufbegehren‹, ›rebellieren‹, auch daran erinnert, das [sic!] ›reisa‹ nicht zuletzt ›Heerfahrt‹ bedeutet und das Substantiv zum althochdeutschen ›risan‹ ist, das neben ›sich erheben‹ auch, davon zeugt etwa das Wort ›rieseln‹, ›herabstürzen‹ und ›niederfallen‹ heißen kann.168 Nur, dies implizieren Schuhmachers Ausführungen, wer wagt, gegen Althergebrachtes, gegen Gewohntes aufzubegehren, kann sich wirklich fortbewegen. Dabei trägt dieses Fortbewegen immer auch die Möglichkeit des Sturzes in sich. Nur wer sich aufschwingt in ungewohnte Höhen, kann fallen. Tourismus hingegen lässt Gemeinsamkeiten mit dem von Jürgen Funke-Wieneke geschilderten Alltagstrott erkennen, der sich durch wiederholende, fast traumähnlich stattfindende Bewegungen auszeichnet: »Das Wort ist zurückzuführen auf das griechische ›tornos‹, ›zirkelähnliches Werkzeug‹, und gelangte über das lateinische ›tonare‹, ›runden‹, und das französische ›tourner‹ bzw. ›tour‹ für ›kreisförmige Bewegung, Umdrehung, Runde‹, ins Englische und Deutsche.«169 Anknüpfend zum einen an die Ausführungen im zweiten Kapitel zu Kreislaufdenken und dem Ideal der Restlosigkeit, liegt in diesem Denken eine größtmögliche Abfallferne begründet. Die Pfade, die Touristen betreten, sind vorzugsweise vorgesehen und störungsfrei: Das, was der Tourist – seit Anfang des 19. Jahrhunderts auch im Deutschen unter dieser Bezeichnung – tut, hat entsprechend die Grundbedeutung eines Kreislaufs, der sein Ende an seinem Ausgangspunkt findet, von dort aus aber gleichwohl wieder erneut – auch für andere Touren – starten kann. Und das in der Regel regelmäßig, turnusgemäß im Jahresablauf, häufig auf den immer wieder gleichen, von anderen Touristen bereits begangenen und auch für nachfolgende Touristen vorgesehenen Pfaden.170 Anti-Tourismus ist demnach gerade die Vermeidung von vorgesehenen Wegen durch ein Gebiet. Die geschilderten Erfahrungen dieser städtischen Abfallerkundungen sollen mit zwei Erkundungen konfrontiert werden, die das bisher Erarbeitete ergänzen – und die ebenfalls Momente der Gefahr in die Erkundungen bringen: das Gehen in Ruinen und das Abfallsammeln in New York City. Zunächst zum Ruinengehen: Völlig auf sich, auf die Umgebung, auf die ihn oder sie umgehenden Dinge gerichtet, sind die Bewegungen, die eine Erkunderin von – oder, 166 167 168 169 170

Schuhmacher 2011, 54. Schuhmacher 2011, 54. Schuhmacher 2011, 54f. Schuhmacher 2011, 55. Schuhmacher 2011, 55, Hervorhebung dort.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

wie sich zeigen wird, eher Stolperin durch – Industrieruinen auszeichnen. Beschrieben hat dies der Kulturgeograph Tim Edensor in seiner Untersuchung Industrial Ruins. Spaces, Aesthetics and Materiality (2005).171 Edensor führt darin die Erfahrungen seiner ausgiebigen Erkundungstouren in Ruinen der Industrialisierung in Zentral- und Nordengland sowie Schottland mit theoretischen Überlegungen zu Raum- und Zeitwahrnehmungen in den heutigen Städten zusammen und kontrastiert diese mit den Erfahrungen, die der Mensch beim Ergehen unbekannter Gelände macht. Als aufgegebene, dem Verfall überlassene und damit dysfunktionale Orte setzten Industrieruinen nämlich, so seine Argumentation, die Ordnungen des Alltags außer Kraft.172 Materie breitet sich aus, hat die Tendenz zum Chaos, ist Verfallsprozessen und Gewalteinwirkungen von außen, etwa durch Vandalismus, ausgesetzt. Im Inneren der Ruinen entstehen zufällige Arrangements von Dingen, gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen Dingen, Bausubstanz und Raumelementen wie Stützpfeilern und Treppengeländern, Pflanzen breiten sich aus. Der oder die Gehende in der Ruine sieht sich konfrontiert mit abstoßenden Texturen und Gerüchen, überraschenden Stolperstellen und gefährlichen herausstehenden Gegenständen wie abstehenden Nägeln oder offenen Stellen in der Wand. Schimmel bedeckt die Räume, Maschinen sind von Rost zerfressen, Pflanzen breiten sich aus.173 Ruinen bilden Hybriden zwischen organischen und anorganischen Dingen.174 Die vergessenen und zurückgelassenen Gegenstände machen die Erkundung zur Grenzerfahrung, fordern den Körper, wenn er seit langem unbenutzte Wege erkundet. Der Körper wird vor Herausforderungen gestellt, wenn der Alltagstrott unmöglich wird und Erkundende auf sich gestellt sind: »There are few surveillant [sic!] cameras and little of the disciplinary gaze of others, few preferred routes along which bodies are channelled, and little semblance of material and spatial order to suggest the bodies should engage with space in preferred ways.«175 Leibliche Erfahrungen wie Ekel können diese Ruinengänge bestimmen, ausgelöst durch die, wie Edensor sie nennt, »smellscape«176 der Ruine, die nichts mit den Gerüchen der Innenstädte gemein hat.177 Die körperlichen Erfahrungen werden intensiviert durch das Wissen über das, was war und nun nicht mehr ist – Edensor nennt diese geis-

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Vgl. Edensor 2005a. Ähnlich, in konzentrierter Form auch Edensor 2005b. Zur Industrieruine vgl. auch die Habilitationsschrift von Susanne Hauser Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale (vgl. Hauser 2001), die den Schwerpunkt ihrer Untersuchung nicht auf die individuellen Erkundungen, sondern eher kollektive, aufwertende Erschließungen von Industrieruinen legt. Einleitend stellt sie die Relevanz von Industrieruinen als Untersuchungsgegenstand heraus: »Aufgegebene Industriegelände der großen Industrien des 19. und 20. Jahrhunderts, Gelände der Montan- oder der Textilindustrie, zeichnen sich dadurch aus, daß hier Abfall, Müll und Ruinen in beeindruckender Menge auf beeindruckend großen Flächen anzutreffen sind.« (Hauser 2001, 13) Vgl. Edensor 2005a, 47. Vgl. Edensor 2005a, 114f. Edensor 2005a, 51. Edensor 2005a, 92. Vgl. Edensor 2005a, 92f.

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terhafte Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart »The Ghost of Ruins«.178 Hier wird das Vermittlungspotenzial des Gehens in Ruinen offenbar: Die Gänge durch die Industrieruine verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart. Während in den Fabriken stets Zirkulation das Ideal war, das Eingebundensein in Infrastrukturen, steht die verfallende Industrieruine nun still. Die Dinge, die sich dem Menschen in den Räumen zeigen, sind keine Warendinge, sind auch keine Gebrauchsdinge mehr, verkörpern keinen Wert, werden nicht gruppiert und präsentiert, werden überhaupt nicht mehr genutzt. Dennoch zeugen sie von der Funktionalität und Warenförmigkeit ihrer Vergangenheit. Sie gehen neue Verbindungen ein, die ergangen werden. Vielleicht kann dieses Ergehen der Räume auch als Gegenbewegung zum Einkaufen, als Gegenbewegung zum shopping gelesen werden. Die Materialität der Dinge stellt sich den Ruinenerkundenden entgegen: Das Ideal von glatten Dingen und Oberflächen wirkt nicht mehr, wird rückgängig gemacht.179 Es kann beim Ergehen der Orte zu Verletzungen an scharfen Kanten oder dem Abrutschen auf morschen Treppen kommen. Doch nicht nur das Gehen bereitet Schwierigkeiten durch Ungewissheiten: Unterscheidungen werden erschwert, Kategorien werden aufgelöst, Zeit verdichtet sich.180 Im Gegensatz zu den kollektiven und privaten Orten der Aufbewahrung wie Museen sowie Dachböden und Kellern sind die Dinge nicht weggesperrt, nicht arrangiert, sondern zugänglich und chaotisch: Es gibt keine Wegweiser, keine Leitfäden, keinen einzig richtigen Zugang zur Erkundung des Raumes. Edensor bezeichnet diese Erkundungsgänge als »anti-tourism«181 , als Gegen- bzw. Antitourismus. Es wird nicht zuvor entschieden, was sehenswert ist, was konserviert wird. Deshalb grenzt Edensor seine Ruinenerkundungen ab von Ruinen, die als Kunstraum fungieren.182 Zur Klarstellung: Gehen in Ruinen ist keineswegs eine moderne Angelegenheit. Verlassene Dörfer und Überreste der Vergangenheit legten schon immer Zeugenschaft über die Vergangenheit ab. Dennoch dokumentieren die verlassenen Industrieruinen als stumme Zeugen einen Verfallsprozess, der erst in jüngster Vergangenheit begann und bei dem oftmals der Verfall des Gebäudes mit dem Ruin einer Firma, einer Geschäftsidee, eines Industriezweiges und Standortes zusammenfällt oder auf diese unmittelbar folgt: Archäologie der Jetztzeit, um mit Walter Benjamin zu sprechen.183 Die Industrieruinen sind so auch die materiellen Manifestationen ruinierter Träume, Träume von Fortschritt, Erfolg und einem Vertrauen in Technik.184 Diese ruinierten Träume versammeln sich unheimlich bereits 20 Jahre vor Edensors gehenden und schreibenden Ruinenerkundungen auch im Foto- und Textband Tote Technik. Ein Wegweiser zu den 178

Vgl. Edensor 2005a, 146-159. Einen ähnlichen Zugang bietet auch ein Band, der verlassene Orte in und um Berlin in Bild und Text beschreibt (vgl. Specht 2010). 179 Vgl. Edensor 2005a, 118. 180 Vgl. Edensor 2005a, 139. 181 Edensor, 2005a, 95. 182 Vgl. Edensor 2005a, 33-35. 183 Diese andere Archäologie, die nicht weit Zurückliegendes, sondern Jüngstvergangenes in den Blick nimmt, wird durch Forscher wie Gavin Lucas (vgl. Lucas 2002 und 2004), Cornelius Holtorf (vgl. Holtorf 2007 und Holtorf u.a. 2009) oder, in Bezug auf Abfälle, William Rathje (vgl. Rathje/Murphy 1994) vertreten. 184 Zum Konnex von Ruin, Ruinierung und Ruine vgl. das nachfolgende Unterkapitel 4.3.3.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

antiken Stätten von Morgen.185 Noch vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind es Atommeiler, Militärflugzeuge und andere technische Artefakte, die ausrangiert und von Infrastrukturen abgeschnitten verfallen. Auch in literarische Texte findet tote Technik Eingang: In Don DeLillos Underworld nimmt sich die Abfallkünstlerin Klara Sax alter Flugzeugträger an und transformiert sie in einem Akt des Recyclings zu Kunstwerken (vgl. DeLU, 83).186 Mats Burström zeigt in seinem Aufsatz über einen Autofriedhof, den er aus einem archäologischen Blickwinkel heraus betrachtet, was die zentrale Frage ist: »Garbage or Heritage«187 ? Auch im Zusammenhang mit den Terroranschlägen des 11. September und den materiellen Überresten rückt, das demonstrieren die Ausführungen von Shanks, Platt und Rathje,188 die Frage ins Zentrum, was bewahrt oder als Rest entsorgt werden kann oder gar muss.189 Welche Auskünfte geben die Abfälle der jüngsten Vergangenheit bzw. der Umstand, dass manches zu Abfällen wird, anderes nicht, über deren Erzeuger und vor allem auch über uns? Längst sind die Ruinen als Dokumente von Ruin und ökonomischen Krisen zu Tourismusattraktionen geworden. Auch Industrieruinen werden, das zeigen entsprechende Projekte im Ruhrgebiet, zu Attraktionen und Naherholungsgebieten aufgewertet190 – das Gehen in ihnen gewinnt und verliert durch diese Sicherungs- und Aufwertungsprozesse an Qualität, zugleich wird der oder die Gehende den Aspekten des Tastens und Sich-Überraschen-Lassens einer individuellen Erkundung beraubt. So sind die Ruinen der Industrie, die sich im ehemaligen Zentrum der US-amerikanischen Automobilindustrie, in Detroit, finden, mittlerweile beliebtes Objekt für Film und Fotografie – der sogenannte ruin porn – und werden ebenfalls zunehmend touristisch besucht.191 Erkundende, jedoch keineswegs Touristen sind auch die Menschen, die Ted Botha in seinem zwischen journalistischer Reportage und Essay zu verortenden – der Klappentext spricht lediglich von der Gattung eines »reports« – Band Mongo – adventures in trash192 versammelt. Mongo begleitet unterschiedliche Abfallsammelnde durch New York und protokolliert dabei ihre Motivationen, Sammelmethoden und Weltsichten. Botha trifft diejenigen, die alles mitnehmen, ob sie es brauchen oder nicht.193 Junge Menschen, die sich weitestgehend von den Abfällen New Yorker Restaurants, Bäckereien und Lebensmittelläden ernähren,194 Buch-, Möbel- und Dosensammler sowie einen Abfallsammler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Überreste von demolierten Gebäuden

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Vgl. Hamm/Steinberg 1984. Zu Saxʼ Abfallkunst vgl. ausführlich Zapf 2002, 199-204 und Apitzsch 2012, 327-338. Burström 2009, 131. Vgl. Shanks u.a. 2004. Vgl. hierzu, mit Blick auf Abfälle, die weitreichenden Überlegungen von Shanks/Platt/Rathje 2004 und, ebenfalls mit Fokus auf Abfälle, Reno 2012b. Dass die Frage danach, was bewahrt und was entsorgt werden soll, mitunter nicht einfach zu beantworten ist und hier Konventionen und Machtfragen mitspielen, schildert auch Caitlin DeSilvey (vgl. DeSilvey 2006). 190 Vgl. zu diesen Prozessen des Trennens und Säuberns sowie Integrierens ausführlich Hauser 2001, besonders 57-82 sowie James-Chakraborty 2010. 191 Vgl. hierzu Kullmann 2012, 15f. und 91, Fußnote 7. 192 Vgl. Botha 2004. 193 Vgl. Botha 2004, 6-32. 194 Vgl. Botha 2004, 78-102.

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ein- und aufzusammeln und diese gleich einem Häuserfriedhof der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.195 Die Erfahrungen der New Yorker Abfallaufleser haben gezeigt, dass besonders die frühen Morgenstunden sich zu ihren suchenden Rundgängen eignen. Menschenmengen – etwa zahlreiche Passanten oder Berufspendler – werden als störend wahrgenommen. Dabei werden sie selbst allerdings auch zur Störung: Obgleich einige der Abfallsammlerinnen und -sammler ein wenig Geld mit den ersammelten Abfalldingen machen, ihnen also eine Auf- und Verwertung gelingt, ist ihre Sammelarbeit auch stigmatisiert. Ihr Kontakt mit Abfalldingen, die sie aufsuchen, bringt sie mitunter selbst in Abfallnähe. Während die Ruinierung der Dinge, die Verluste für andere, der Wunsch, Dinge loszuwerden ihr Gewinn sind, werden die Abfallsammelnden dabei selbst ein wenig ruiniert. Vor allem, wenn ihre Sammeltätigkeiten mit Maßstäben und Setzungen kollidieren, was wertvoll und bewahrenswert auf der einen und was wertlos und abfällig ist bzw. scheint auf der anderen Seite. In der Person der Computerschrottsammlerin Christiana manifestiert sich die Indiskretion des Abfalls.196 Christiana sammelt und repariert Computerabfälle oder baut Einzelteile zu neuen funktionsfähigen Rechnern zusammen. Zuvor scannt sie die entsorgten Festplatten nach Informationen über die ehemaligen Besitzer – selbst wenn diese scheinbar gelöscht wurden, sind sie wieder reaktivierbar: Es gibt immer einen Rest. Die Geschichten der Menschen, die sich hinter den entsorgten Computern befinden, sind ebenso Abfallfundstücke wie der eigentliche Computerschrott, wie Ted Botha ausführt: »So when Christiana says that ›each computer is like a person‹, she means two things. Each computer, like someone in distress, can be helped if you give it enough love and care, and each computer contains all the elements of an individual.«197 Unbekannte werden vertraut, wie Christiana erklärt: »›It’s like meeting a new person‹, she says, ›There’s always a piece of someone’s life.‹ In this way Christiana has ›met‹ doctors, barkeepers, lawyers, teachers, and schoolchildren who can’t write or spell properly.«198 Auch wenn die Motivation und vor allem auch die ökonomische Komponente dieser Abfallsammeltätigkeiten stark variieren: Was diese Abfallsammelnden verbindet, ist ein Interesse an den Dingen, an der Geschichte und den Geschichten, die sich hinter dem Weggeworfenen verbergen. Was sie ebenfalls verbindet, ist zweierlei: Ihre Tätigkeit ist zum einen für ihren Alltag bestimmend, also zeitlich relevant. Gleich, ob es sich um Gelegenheitssammler handelt, um solche, die aus Liebhaberei oder aus ökonomischen Interessen sammeln – stets strukturiert die Sammeltätigkeit den Tag oder die Nacht. Zum anderen zeichnet sie ein ungewöhnliches Verhältnis zum Stadtraum aus, wirkt also räumlich: Sie konstruieren sich die Stadt, ihre Stadt von den Dingen her, von den Abfalldingen. Auch wenn die New Yorker Abfallsammelnden mitunter auf das Auto zurückgreifen, um an Orte der Deponierung zu gelangen199 : Zum Abfallerkunden müssen sie die Dinge aufsuchen, diese in die Hand nehmen. Dass die Nähe zu den Abfalldingen auch Gefahren mit sich bringt, zeigen schließlich nicht nur die Ruinenwanderungen, die Tim Edensor protokolliert hat. Auch die Abfallergehenden und -sammelnden von 195 196 197 198 199

Vgl. Botha 2004, 223-242. Vgl. Botha 2004, 155-174. Botha 2004, 160. Botha 2004, 160. Vgl. Botha 2004, 18.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

New York City sind Gefahren ausgesetzt. Sie lauern, wenn die Funde nicht abgeschätzt werden können: Berüchtigt sind vor allem die black bags, die undurchsichtigen und undurchlässigen Müllsäcke, die nicht offenbaren, was sich in ihnen verbirgt.200

4.4

Eine Fallgeschichte: Evelyn Grills Der Sammler

In den Anfangsüberlegungen dieses vierten Kapitels, das sich der Stadt und dem Gehen in der Stadt widmet, stand die Frage nach Möglichkeiten und Beschränkungen des Stadterkundens, gerade in Bezug auf Abfälle, im Mittelpunkt. Es wurden Verbindungen zwischen phänomenologisch inspirierten Schilderungen, zwischen den Ruinenerkundungen des Kulturgeographen Tim Edensor, des Philosophen Walter Benjamin und zwischen den dokumentarischen Texten Ted Bothas hergestellt. Dennoch täuschen die Gattungsbezeichnungen, die diesen Texten gegeben wurden, darüber hinweg, dass sie allesamt zwischen den Verfahren journalistischer Dokumentation und literarischen Schreibens, zwischen Protokollierung des Gesehenen und Verarbeitung der gefundenen und vorgefundenen Abfallmaterialien changieren. Besonders deutlich wird dieses Changieren im Fall Rolf Dieter Brinkmann: Einerseits kein Roman und keine Erzählung, ist sein Materialband Rom, Blicke doch mehr als Material(an)sammlung, ist vielmehr zugleich Materialbearbeitung.201 In Brinkmanns Rom wird Geschichte mit Geschichten verknüpft. Geschichten, die auch und immer wieder Abfälle ins Zentrum stellen, sie erzählen, auch wenn es sich in den wenigsten Fällen um ein wohlwollendes Erzählen handelt. Wie sieht es mit dem Stadterleben und dem Erzählen von Abfällen in einem fiktionalen Text aus? Mit welchen Materialien, welchen Geschichten, welchen Diskursen werden das Stadterkunden und die Abfälle verbunden? Dies sind Fragen, denen die Analyse des Romans Der Sammler (2006)202 von Evelyn Grill folgt. Der Roman begleitet den Ding- und Müll-Sammler Alfred Irgang durch die Straßen der Stadt bis in seine Wohnung. Zugleich und parallel zu den Sammelbewegungen stellt er den Fall Irgangs in den Mittelpunkt. Der Sammler ist somit auch eine Fallgeschichte. Der Protagonist verliert seine Sammlung und zum Schluss sein Leben. Der erste Satz des Romans führt zunächst jedoch nicht auf die Straßen der Stadt, sondern die Straße wird in einen Innenraum geholt. Die schummrige Kulisse eines Restaurants bietet den Hintergrund für das Aufeinanderprallen von Gegensätzen: »Im La Grotta flackerten Kerzen in Rokoko-Kandelabern.« (GriS, 9, Hervorhebung dort) Im edlen Ambiente eines Mannheimer Gastronomiebetriebs stößt Irgang auf eine sich in wechselnder Konstellation wöchentlich versammelnde Runde. Der von Professor Voss

200 Vgl. zu den Abfallsammelnden, die sich den sog. black bags, den schwarzen Abfalltüten zuwenden und die in der Szene der US-amerikanischen Abfallsammler in der Abfallhierarchie ganz unten stehen, Botha 2004, 38-40. 201 Groß 1993 bezeichnet in seiner Brinkmann-Studie als eine der Intentionen der späten Texte Brinkmanns die Spurensicherung (vgl. Groß 1993, 200-209). Das Aufzeichnen der »Splitter« der Stadt nehme, so Groß weiter, besonders das Randständige in den Blick (Groß 1993, 210f.). 202 Vgl. Grill 2006, Textstellen werden im laufenden Text mit der Sigle GriS und Seitenzahl zitiert.

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ins Leben gerufene Stammtisch trifft sich seit zwanzig Jahren nach dessen Freitagsseminar in einem Etablissement, das sich »von einem lärmigen Studentenlokal zu einem Restaurant der gehobenen Mittelklasse entwickelt [hat]« (GriS, 9) und in dem Irgang wie ein Fremdkörper gezeichnet wird. So scheint für ihn kaum Platz zu sein: Irgang blieb in der Nähe des Eingangs stehen, bis sich seine Augen an das dürftige Licht gewöhnt hatten. Die Kellner flitzen an der schmächtigen Gestalt vorüber, als wäre sie unsichtbar. Endlich zwängte sich der Mann zwischen den tafelnden Gästen hindurch, nervös gefolgt von einem Kellner, der sich wegen der umfangreichen Bagage des Neuankömmlings um die gedeckten Tische sorgte. (GriS, 9) Die Bagage, die Irgang mit sich führt, sind von ihm ersammelte Dinge. Seine Körpersprache, sein Grüßen mit einem »beinahe anmutigem Neigen seines Kopfes und dem feinen Lächeln des Weltmannes« (GriS, 10) steht im Kontrast zu seiner äußeren Erscheinung, die als heruntergekommen (vgl. GriS, 10) beschrieben wird. Das Durchzwängen im Restaurant ist nicht nur Resultat der Unbeweglichkeit durch die von ihm mitgeführten Dinge, sondern kann auch als Hinweis dienen für Irgangs Hauptbeschäftigung, die in ihrem Ausmaß im Roman als zwanghaft geschildert wird: er ist ein, wie es in einer Textstelle heißt, »Dinge-Pflücker« (GriS, 22), ein zwanghafter Sammler. Er sammelt das, was andere Menschen wegwerfen, weil es für sie funktionslos wurde oder weil sie die Beziehung zu diesen Gegenständen beenden wollen: Irgang ist Abfall-Sammler. Er nimmt sich der entsorgten Dinge an, nimmt sie, um den Ausdruck von Susan Strasser zu verwenden, in stewardship203 , seine Fürsorge. Nach der Aufnahme in seine Fürsorge ist er mit dem Arrangement der Dinge in seiner Wohnung, mit der, wie es heißt, »Umschichtung und Neuordnung seiner Dinge« (GriS, 45) beschäftigt: »Glückliche Stunden, auch wenn er manchmal, erschöpft vom Heranschleppen, vom Hin- und Hertransportieren seiner Habseligkeiten, erst zwischen seinen Schätzen zu Atem kam.« (GriS, 45) Irgangs Sammelbewegungen sind Umkehrungen und Missachtungen von Entsorgungsakten. Missachtungen, die die vorgesehene Einbahnstraße der aufeinanderfolgenden Bewegungen des Erwerbs, Konsums und der Entsorgung aufbrechen, die sich aber zugleich ganz anders gestalten als die ebenfalls vorgesehene Institution des, wie auch immer motivierten, Recyclings. Den Vorgang des Ersammelns von Hausmüllabfällen auf den Straßen der Stadt zeigt eine Textstelle zu Beginn des Romans: Seit er vor fünf Jahren seine Mietwohnung in Mannheim hatte verlassen müssen und er sich im zehnten Stockwerk eines anonymen Hochhauses in Ludwigshafen eine Eigentumswohnung angeschafft hatte, war sein Weg ins La Grotta länger geworden. Deshalb machte er sich frühzeitig auf den Weg, wanderte durch die Einkaufsstraße, ging blicklos an den Schaufenstern vorbei, nahm direkten Kurs auf die Konrad-Adenauer-Brücke, aber schon bevor er auf ihr ankam, hatte er den ersten seiner Beutel mit Fundsachen vollgestopft. […] Doch abgesehen vom Auflesen der Stücke von der Straße, stöberte er in den Abfallbehältern, die seinen Weg säumten. Er stellte fest, daß selbst in Zeiten der strikten Mülltrennung in Altpapiercontainern Yoghurtbecher oder Beleuchtungskörper aufzufinden waren. Über diese regelwidrig gelagerten Funde freute er sich. Er

203 Vgl. Strasser 1999, 22 und Kapitel 2.1 dieser Arbeit.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

nahm sie in die Hände, untersuchte sie, drehte sie hin und her; und wenn er vermutete, was häufig der Fall war, daß er selbst oder irgend jemand aus seinem Bekanntenkreis die Sache noch brauchen könnte, steckte er sie ein. (GriS, 22f.) Mittels der Dinge, die Irgang ersammelt hat, vermittelt er zwischen den Straßen der Stadt und dem geschützten Innenraum des La Grotta. Zugleich zeigt sich Irgangs besonderer, ungewöhnlicher Blick auf die Stadt, die ihm das Abfallsammeln vorgibt. Die Orte des Konsums haben keine Bedeutung für ihn. Die Konrad-Adenauer-Brücke, die Mannheim und Ludwigshafen verbindet, liefert durch die Namensnennung Adenauers zugleich einen Hinweis auf die Ursprünge der Wegwerfgesellschaft, die Irgang diese Funde ermöglicht: das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre wird das Phänomen des Anhäufens von Dingen in der psychologischen Fachliteratur und Diagnostik204 als Messie-Syndrom kategorisiert, der pathologische Sammler als Mensch mit Desorganisationsproblemen bezeichnet.205 Auch im Roman werden solche Begriffe und Pathologisierungen verwendet, Sichtweisen auf dieses ungewöhnliche, dieses grenzenlose Sammeln gesammelt. Meist wird das Ansammeln Irgangs als unverständlich kommentiert, als rätselhaft. Irgang akzeptiert das Nichtverstehenwollen seiner Mitmenschen: »Nein, das Unverständnis der Menschen störte ihn nicht, er brauchte nicht verstanden zu werden, das war keine Kategorie, die ihm etwas bedeutete, aber daß man ihn beachtete, daß seine Tätigkeiten, wenn auch kritisch, erörtert wurden, genoß er.« (GriS, 25) Evelyn Grill versammelt in Der Sammler etliche Topoi sowohl der Messie-Forschung als auch der literarischen Bearbeitung des Messie-Phänomens.206 Hierzu gehört eine den Lebensstil der Ding- und Abfallsammler nicht verstehende, feindliche Gesellschaft mit Repräsentanten der Ordnung und potentiellen Eindringlingen in die Wohnung, etwa Heizungsablesern. Hinzu kommt eine eklatante Differenz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Außenwahrnehmung.207 Die Geschichte, die Grill in 13 Kapi-

204 Pritz u.a. 2009 geben einen kurzen Überblick zur Entstehungsgeschichte (vgl. Pritz u.a. 2009, 3-11). 205 Hierzu vgl. exemplarisch Dettmering 2004, Steins 2003 sowie Pritz u.a. 2009. 206 Als Bezugspunkt dienen hier vor allem zwei Texte: Arne Rautenbergs Der Sperrmüllkönig (vgl. Rautenberg 2002) sowie Homer and Langley von E.L. Doctorow (vgl. Doctorow 2009). In Rautenbergs Text beobachtet der gerade neu in ein Mietshaus eingezogene junge Schriftsteller und Ich-Erzähler zunächst argwöhnisch, dann immer sympathisierender, Hausmitbewohner Hartmut Hellmann, der durch die Straßen der Nachbarschaft streift, um dort Abfälle aufzulesen. Er beginnt, über ihn zu schreiben und dessen Sammeltätigkeiten zu dokumentieren und zu kommentieren, bis hin zu metaphysischen Einsprengseln. Bei Doctorows Roman handelt es sich um eine relativ freie literarische Bearbeitung einer der aufsehenerregendsten Vermüllungsgeschichten überhaupt mit tödlichem Ausgang, die Lebensgeschichte der wohlhabenden Brüder Collyer, die Ende des 19. Jahrhunderts in New York aufwuchsen und dort bis in die 1940er Jahre in ihrem exzessiv mit Dingen angefülltem Haus in Manhattan lebten (zum historischen Vorbild vgl. etwa Pritz u.a. 2009, 3). 207 Mit dieser Differenz arbeitet auch Doctorow 2009. Während die Perspektive Grills vermittelnd ist, wie im Folgenden ausführlich dargestellt, wählt Doctorow ausschließlich den Zugang über die Innenperspektive seiner Hauptfiguren und, vermittelt durch die fiktionalisierte Erzählinstanz Homer, konzentriert seinen Blick auf die zunehmende gesellschaftliche Isolation, die mit Langleys obsessivem Argwohn gegenüber der Außenwelt und Homers fortschreitender Erblindung korrespondiert.

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teln am Beispiel Irgangs erzählt, ist die Geschichte eines Falls, der gerade gegen den ökonomischen Verfall läuft: Irgang ist, wie immer wieder im Bekanntenkreis diskutiert wird, wohlhabend, vermutlich gar Millionär (vgl. GriS 132, zur Familiengeschichte vgl. GriS, 26).208 Die familiäre Herkunft, deren Verfall stetig von Professor Voss beklagt wird, manifestiert sich in einem wertvollen Kunstwerk, ein Beckmann-Stillleben, das sich in Irgangs Besitz befindet und in der vermüllten Wohnung verschollen ist. Dieses Kunstwerk zu retten ist vor allem für Voss wichtiges Anliegen (zum Beckmann vgl. GriS 83f.). Grill nutzt als fortlaufendes Motiv, das sowohl die Gespräche der Stammtischgruppe wie auch die aus ihnen resultierenden Aktionen durchzieht, die Produktion von Normalität. Die normalitätsproduzierende Kraft ist vor allem mit der Figur Uta Aufbau verbunden. Normalität heißt für Uta Aufbau auch, eine Normalität des Wohnens herzustellen, wie sie ausführt: »Der Zweck ist natürlich, daß wir aus Alfred einen normalen Menschen machen, einen, der in einer Wohnung lebt, die man auch betreten kann, der seine Bücher in den Regalen aufstellt und nicht in Kartons vergammeln läßt, der seine Badewanne benützen und in seinem Bett schlafen kann, der seine Wohnung nicht mit Kakerlaken teilen muß« (GriS, 141). Professor Voss, Philosoph und selbsternannter Menschenfreund, empfindet das Abfallsammeln seines Freundes grundsätzlicher als Affront gegen die Vernunft, er formuliert gegenüber seiner Lebensgefährtin Dora Stein: »Als aufgeklärter Mensch ist mir Alfreds Verhalten unerklärlich.« (GriS 123) Gerade in solchen Passagen nähert sich Der Sammler der Form der literarischen Persiflage an. Diese wird definiert als »imitierende Überzeichnung von kollektiven und individuellen Wirklichkeitsvorstellungen und Deutungsmustern, Gefühlsprofilen und Kommunikationsweisen.«209 Was aber wird persifliert? Die Reinigungsbestrebungen der Stammtisch-Gemeinschaft, die, mit unterschiedlichen Gewichtungen, kollektive Reinigungs- und Integrationsphantasien repräsentieren? Oder die Sammeltätigkeiten Irgangs? Zunächst lässt Irgangs Namensgebung neben einem persiflierenden Element vermuten, dass die Irrtümer und Fehlwege eines Individuums im Mittelpunkt stehen. Tatsächlich ist sowohl bezüglich der Sammeltätigkeit Irgangs als auch der Reinigungsund Normalisierungsphantasien seines Umfelds eine Überzeichnung festzustellen. Eine Überzeichnung, die freilich auch auf eine zusätzliche Erzählmotivation deuten könnte: So lassen die oftmals schablonenhafte Zeichnung der Figuren, ihre sprechenden Namen und die Diskussionen, die sie stellvertretend führen (etwa auch in der Person des Galeristen Bosart, der zu bedenken gibt, dass »das Bedürfnis des Sammelns und des Archivierens immer eine Vorstellung von der Überwindung der Zeit zum Inhalt hat, es […] somit ein zentrales Motiv nicht nur historischer, sondern auch künstlerischer Arbeit« (GriS, 142) sei) vermuten, dass hier, angelegt an die Verfahren etwa der Psychologie, eine Fallstudie210 geschildert werden soll. Zugleich ist das Fallen 208 Auch hier sind Gemeinsamkeiten mit Doctorow 2009 festzustellen. Peeters 2010 konzentriert sich in seiner knappen Analyse von Der Sammler auf die Verfallsgeschichte und liest den Roman, Bauman folgend, als Beispiel für wasted identies. 209 Wende 2007, es handelt sich um die Definition im Metzler Lexikon Literatur, Lemma Persiflage. 210 Zum Erkenntnispotenzial von Fallstudien in der empirischen Sozialforschung vgl. beispielweise Borchardt/Göthlich 2007. Beide grenzen Fallstudien explizit von der, wie sie es fassen, »umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs im Sinne von Anekdoten, Fallbeispielen, Storytelling oder

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

in Der Sammler vielfach Thema: Der Roman zeichnet einen Fall nach und endet mit einem tödlichen Unfall.211 Wer aber tatsächlich fällt und wie der Fall im Text mit Verfall zusammenhängt, ist zu zeigen. Neben Geschichten, Schichtung und Fallgeschichte ist ein weiteres Wort von Bedeutung für die Interpretation von Der Sammler: das Wort Ding. Hier sind die Verbindungen zu Stifter offensichtlich, von denen auch das dem Roman vorangestellte Motto aus dem Nachsommer zeugt. Stifters Texte selbst werden, zumindest aus Sicht der Studentin Brigitte, als Plunder abgetan. In einer Passage diskutiert die Stammtischgruppe über Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters – Brigitte hat sich, so heißt es, »so sehr darüber geärgert, daß sie sich aus reinem Widerspruchsgeist, fast schon aus Aggression und Feindseligkeit, entschlossen habe, sich damit auseinanderzusetzen.« (GriS, 75) Bei der Stammtischgruppe handelt es sich um eine Versammlung von Menschen, die durchaus Gerichtsverhandlungen ähnelt. Die Parallelen zur Jurisdiktion sind wiederkehrendes Motiv: Nach den Einzelverhandlungen kommt es schließlich zum Urteil über Irgang und zur Bestrafung, die als Akt der Menschlichkeit getarnt in einer Auflösung von Irgangs Sammlung mündet. Eine Menschenversammlung also, deren verbindendes Element die gewünschte Auflösung einer Ding(ver)sammlung darstellt.212 Die Verurteilung der Sammeltätigkeiten Irgangs, die herkömmliche Vorstellungen von Ordnung und Ordnen angreifen, wird durch den La Grotta-Stammtisch vollzogen, allerdings mit unterschiedlichen Anklagepunkten: Dora Stein, Schriftstellerin und Partnerin von Professor Voss, die Sozialpädagogin und Bewährungshelferin Uta Aufbau, die Germanistikstudentin und Stifterforscherin Brigitte Schneider sowie der Anglist Otto Unlauter. Später stoßen Kyra Wiesel, Psychotherapeutin und Künstlerin, ebenfalls Stammtisch-Mitglied, sowie der Student Witold, Mitbewohner Uta Aufbaus hinzu. Zu Irgang gesellt sich im Romanverlauf eine weitere Einzelgängerin: Charlotte Bieramperl, eine verarmte Frau, die als Obdachlose auf der Straße lebt und wie Irgang Dinge sammelt.213 Daneben gibt es einige Zwischenfiguren: Der Karlsruher Galerist Dr. Hugo Bosart, der zur Stammtisch-Gemeinschaft stößt, weil er künstlerisches Interesse an Ir-

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Business Cases« (Borchardt/Göthlich 2007, 34) ab. Nach ihrer Definition wäre die Fallstudie ›Alfred Irgang‹ eine Einzelfallstudie, sie weist »Parallelen zum Einzelfallexperiment auf und konzentriert sich zumeist auf kritische, extreme, einzigartige, repräsentative, typische oder bisher nicht zugängliche Fälle oder solche, die über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Einzelfallstudien werden z.B. durchgeführt, um theoretische Erkenntnisse in Frage zu stellen oder neue Erkenntnisse in Bezug auf bislang unerforschte Phänomene zu gewinnen.« (Borchardt/Göthlich 2007, 36) In Der Sammler finden sich immer wieder Komponenten der aufgeführten Verfahren: Beobachtung, Interviews, Datenerhebung, die jedoch nicht zur Validierung und Abfassung eines Berichts führen, sondern zu einer Intervention. Auch die Abfallsammler in Rautenberg 2002 und Doctorow 2009 sterben, zwei davon durch einen tödlichen Unfall. Zur Etymologie von Ding und dem Zusammenhang von Ding und dem Begriffsfeld der Streit- und Rechtssache sowie die Verbindung von Ding und Versammlung bzw. Gerichtsversammlung vgl. Steiner 2008, 248. Zu der von Uta Aufbau in den Akten des Sozialamts recherchierten Geschichte Bierampels vgl. GriS, 158f.

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gang und dessen Sammlung hat.214 Auch der promovierte Literaturwissenschaftler Rudi Muster pendelt zwischen den Welten. Eingangs wie Irgang auf den Straßen der Stadt unterwegs, stattet er die Gruppe mit Informationen aus und wechselt im Romanverlauf die Seiten: Er zieht bei Uta Aufbau ein und beteiligt sich an den Aufräumarbeiten, die gegen Ende des Romans beginnen. Während eines der Motive von Irgangs Sammeln, nämlich der Umstand, dass »er selbst oder irgend jemand aus seinem Bekanntenkreis die Sache noch brauchen könnte« (GriS, 23), einen möglichen Akt der Wiederverwertung als wünschenswert erscheinen lässt und somit eine Reintegration in die Nützlichkeit der verworfenen Gebrauchsgegenstände greifbar erscheinen lässt, zeigt sich bei einer späteren, ausführlichen Schilderung der Wohnung Irgangs, dass in ihr selten Wiederverwendung stattfindet. Stattdessen wird kontinuierlich das Nichtverwertete und Nichtverwertbare akkumuliert. Die Wohnung wird gerade durch die neue Funktion als Ort der Sammlung in ihrer Grundfunktion fast gänzlich beeinträchtigt: »Der etwa zwanzig Quadratmeter große Raum, der größte seiner Wohnung, war auf ein begehbares Terrain von etwa sechs Quadratmetern zusammengeschrumpft. […] Jenes Zimmer war von Boden bis zur Decke vollgestopft, weshalb es, in Alfreds Logik, auch keinen Eingang brauchte.« (GriS, 71) Als Gegenpol wird die Straße an etlichen Textstellen weitaus zugänglicher als Alfreds Wohnung geschildert. Die Wohnung, sonst ein Raum mit klar umrissenen Funktionen, etwa dem geschützten Verweilen, wird zum Privatmuseum umfunktioniert. Ein Museum freilich, das durch nichtvorhandene Kriterien, was gesammelt wird und was vernachlässigt werden kann, zum Scheitern verurteilt ist: eine Sammlung, die alles sammelt, nichts aussortiert, macht keinen Sinn. Obgleich es Ähnlichkeiten zum Interieur gibt, das ebenfalls äußerst raumeinnehmend ist, wird bei den Schilderungen von Irgangs Wohnung ein Unterschied deutlich: Die Sammlung wächst ihm über den Kopf, er kann die Räume nur noch über eine Stehleiter betreten (vgl. GriS, 71: »Alfred kam auf der anderen Seite herunter, konnte sich von hier im Zick-Zack springend fortbewegen und in ein Zimmer gelangen, in dem bis zur Decke Schachteln, Dosen, Gläser, Koffer, Plastikwannen in beinahe kunstvoller Ordnung und jedenfalls gewagter Statik aufeinandergeschichtet waren.«) Lediglich Irgangs Schlafsessel bildet eine Insel inmitten der Sammlung (vgl. GriS, 97). Der Hinweis auf Alfred Irgangs Logik im obigen Zitat verbindet den Roman mit einer der Kernideen Benjamins zum Sammeln: Der Sammler ist untrennbar mit seiner Sammlung verbunden, ohne Sammlersubjekt verliert die Sammlung ihre Legitimation und ihren Sinn. Sammeln heißt auch, dass herkömmliche Unterscheidungen zwischen wertvoll und wertlos keine Bedeutung für den Sammelnden haben. In Irgangs angefüllter Wohnung finden sich so auch Verpackungen wieder: »Irgang zwängte sich durch den schmalen Gang in die Küche, in der er auf den Arbeitsplatten leere Yoghurtbecher, Sardinenbüchsen, Margarinebehälter und dergleichen bis an die Decke ineinandergestapelt hatte.« (GriS, 72) Während in einem Supermarkt diese platzsparende Stapelung funktional ist, wirkt die Lagerung leerer Verpackungsmaterialien in einer Privatwohnung absurd. Der Hinweis, dass die Dinge »in beinahe kunstvoller Ordnung 214 Peeters integriert die Kunstdebatte in seine Interpretation, ohne jedoch die im Text markierten Ambivalenzen zu entfalten (vgl. Peeters 2010, 148f.).

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

[…] aufeinandergeschichtet waren« (GriS, 71) verweist hierbei dennoch auf die mit Benjamin herausgearbeiteten Überlegungen zum bürgerlichen Interieur als Schichtung von Geschichte, als Hereinholen von Ferne und Vergangenheit in die Stuben. Zu den Bezügen zur Kunst und den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Abfall und Kunst, die ebenfalls im Roman zu finden sind, später mehr. Der Vorgang des Schichtens erinnert aber auch an die, ebenfalls in Zusammenhang mit Benjamin, herausgearbeiteten archäologischen Operationen, die mit dem Erinnern verbunden sind: Der Erinnernde muss sich durch die Vergangenheit wühlen. Während in dem von William Rathje und Cullen Murphy initiierten Garbage Project Ende der 1970er Jahre, wie gezeigt, die Müllforschenden die Müllkippen durchwühlen, um zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich Alltags- und Konsumpraktiken zu gelangen,215 ist Irgang an solchen Erkenntnissen wenig interessiert. Sein Sammelmotiv ist die Konservierung. Eine Konservierung, die wenig nachvollziehbare Unterscheidungen zwischen wertvoll und wertlos macht und somit bedrohlich wird. So scheint Irgang selbst durch die Prozesse des Ansammelns und Schichtens, durch das Bewahren des Entsorgten in Bedrängnis zu geraten: Seine Sammlung bedrängt ihn, verdrängt ihn zunehmend aus der eigenen Wohnung. Wie in der Eingangspassage ist auch in den Beschreibungen von Irgangs Wohnung auffällig, dass sich Irgang durch seine Ansammlungen hindurchzwängen muss, wie im La Grotta Fremdkörper, Störender ist. Ein Sammelsubjekt also, das eben nicht im Mittelpunkt der Sammlung steht, sondern sich ihr unterordnet. Während die Sammeltätigkeiten, denen sich Museen widmen, aber auch die, die sich in Stifters Nachsommer entfalten, an einem gereinigten Schutzort vollzogen werden, ist der Ding-Schutzort Irgangs zugleich Schmutzort: Seine Wohnung, inklusive der übernommenen und angemieteten Kellerräume wird ein abfallnaher Ort, der zunehmend auch von abfallaffinen Tieren, etwa Kakerlaken, mitbewohnt wird. Gerade die Invasion216 dieser mit Abfall und Unreinheit assoziierten Tiere wird der entscheidende Ausgangspunkt für die großangelegte Säuberungsaktion in Irgangs Wohnung. Gelegenheit dazu bietet, so wird gezeigt, eine zweite Form der Invasion: Ein Rattenbiss, den Irgang sich während seiner Abfallsammeltätigkeit zuzieht, mündet in eine Sepsis. Diese Invasionen lassen eine Verbindungslinie zur Kindheit Irgangs erkennen: Hier sind es die Eltern, die Irgangs Sammeltätigkeit nicht billigen und, wie so viele Figuren um ihn herum, Aufräumarbeit leisten bzw. diese einfordern. Noch einmal zurück zum Romanbeginn im Restaurant, das bezeichnenderweise La Grotta heißt, also die Höhle oder auch Grotte. Als literarisches Symbol wird die Höhle oder Grotte mit dem Geheimnisvollen assoziiert, mit Bedrohung und Erkenntnisferne, mit Schutz, aber auch der weiblichen Sexualität.217 Der Restaurantname stellt jedoch auch eine Verbindung her zu den von Isabelle Kranz herausgearbeiteten wichtigen Begriffen der Höhle und des Hohlraums in Walter Benjamins Passagenarbeit. Obgleich Kranz sich auf die Gegenwart Benjamins, also das endende 19. und beginnende 20. Jahrhundert bezieht, sind diese Ausführungen auch für die Interpretation von Der Sammler aufschlussreich, da der Roman Linien vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zieht.

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Vgl. Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. Zur Archäologie der Müllkippe vgl. auch Ornstein 2012. Zum militärischen Begriff der Invasion in Bezug auf Infektionen vgl. Temkin 2007. Vgl. Hardt 2012, 188.

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Am offensichtlichsten finden sich diese Bezüge über die immer wieder auftretenden Stifter-Referenzen. Diesen Hinweisen ist zu folgen und zu fragen, welche Möglichkeiten dieser Blick auf das 19. Jahrhundert bietet, einer Zeit, die für Benjamin von großer Bedeutung war. Gerade dem für Grills Roman wichtigen Bereich des Wohnraums wird in der Passagenarbeit viel Beachtung geschenkt. Kranz hat in Bezug auf den Wandel des Wohnraums gezeigt, wie Benjamin das Wohnen des aufstrebenden Bürgertums218 des 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer enormen Sammlung, nämlich Konvolut I [Das Interieur, Die Spur]219 machte. Die Wohnung ist einerseits Schutz- und Rückzugsraum, der die lauter werdende Großstadtwelt draußen ausschließt, zum anderen ein Privatmuseum, das diese Welt, und das gilt in erster Linie für die wohlhabenden Stadtbewohner, in die Stube holt, in Form von Möbeln, Nippes und Stoffen. Doch nicht nur die Welt vor der Haustür wird in den Privatraum geholt, sondern auch ferne Länder, deren exotische Objekte zur Schau gestellt werden. Hier folgt die Privatwohnung den zu dieser Zeit äußerst populären Weltausstellungen, etwa den Ausstellungen, denen sich Walter Benjamin schreibend widmet, den Ausstellungen 1851 in London und 1855 in Paris.220 Weiterführend sind zudem die Verbindungen zwischen Wohnraum und Höhle, die Kranz mit Benjamin herstellt: Die Höhle ist Ort des kindlichen Versteckens, der Zuflucht und des Schutzes – gerade in Stifters Texten.221 Sie ist als Naturort oftmals verborgen und kann, unentdeckt von Menschen, ihre Geheimnisse bewahren. Das Verhältnis von Ordnung und Unordnung, von Rationalität und Irrationalität, von gereinigtem und unsauberem Raum wird durcheinandergebracht. Während die Grotte, La Grotta, der Ort der, vielleicht auch nur scheinbaren, Rationalität ist, wird Irgangs Wohnung als eigentliche Grotte und Höhle dargestellt. Die Sicht nach außen ist versperrt, die Wohnung schwer zugänglich. Dies ist auch der Grund, warum Abwehrmechanismen wie Ekel und Abscheu bei der Stammtisch-Gruppe vorherrschen: Die Ordnung der Dinge scheint verrückt. Dabei haben die Abwehrmechanismen auch Schutzfunktion. Die Wohnung Irgangs ist nicht mehr Schutzraum, sondern als Schmutzraum unüberschaubar und gefährlich. Korrespondierend mit diesem Durcheinander bezüglich Innen- und Außenraum, Straße und Wohnung, Orten der Ratio und des Irrens ist auch die Frage nach dem sprechenden Namen des Protagonisten: Ist Irgang vielleicht gar nicht derjenige, der irrt, der irrational handelt? Diese Frage wird am Ende dieser Analyse noch einmal aufgegriffen.

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Zum Begriff des Bürgertums kritisch Felcht 2013, 86, Fußnote 389. Felcht arbeitet das Bürgertum bzw. den Bürger, das bzw. der sich in Phantasmagorien einspinnt, selbst als Phantasma heraus und weist auf das mit vielerlei Verlusten verbundene Unterfangen der Konstruktion eines Idealbürgers hin. 219 Vgl. Benjamin V.1, 281-300. 220 Zum Faszinosum Weltausstellung vgl. Benjamin GS VI, 50-52, mit Bezug auf Benjamin vgl. Felcht 2013, 197-202. 221 Hier sei beispielsweise auf die Höhlen in Stifters Erzählungen Kalkstein, in der der Ich-Erzähler Schutz vor der Hitze des Tages in einem höhlenartigen Felsvorsprung sucht (vgl. Stifter 1982b, 72) und Bergkristall verwiesen, in der die Kinder im Schneesturm Zuflucht finden (vgl. Stifter 1982b, 219).

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Erlebt die Figur Alfred Irgang als Abfallsammler die Stadt noch einmal anders als andere Fußgänger, die im Fokus dieses Kapitels standen? Sein Blick ist gerichtet auf die Dinge, die weggeworfen, verworfen wurden. Dies bestimmt seine Interaktion mit dem Stadtraum. Obgleich Irgang in einem der höheren Stockwerke eines Hochhaus wohnt, bietet seine Wohnung keinen Überblick über die Stadt, im Gegenteil: Die Aussicht wird, wie bei den Aufräumarbeiten festgestellt wird, durch Alfreds Sammlung verstellt (vgl. GriS, 206). Die Tätigkeit des Abfallsammelns erfordert diesen Überblick auch nicht, sondern fordert eine ständige Konfrontation mit dem Verworfenen der Stadt. Dass dies möglich ist, zeugt davon, dass die Ideale einer störungsfreien und sauberen, glatten Stadt Phantasmen bleiben. Eine störungsfreie Stadt ist noch nicht verwirklicht, vielleicht nie vollständig realisierbar. Irgangs Wege durch die Straßen sind bestimmt von der Suche nach Dingen. So sind seine Erkundungen in erster Linie nicht Stadterkundungen, sondern Dingerkundungen. Vielfach werden seine Funde aufgezählt, die mitunter auf abwesende Menschen verweisen, ein Damenmieder, ein leerer Geldbeutel aus Leder, eine blonde Lockenperücke. Hier offenbart sich das Vermittlungspotenzial des Gehens. Die Abfalldinge auf den Straßen werden durchaus auch nach Wertkriterien beurteilt, allerdings nicht nach materiellen Werten, sondern bezüglich ihres Potenzials, Geschichten zu evozieren: Auf jeden Fall nahm er Kuriosa. Ihnen konnte er nicht widerstehen, z.B. Zahnprothesen oder Dildos. Niemand konnte ahnen, wie viele Zahnprothesen sich schon bei ihm zu Hause angesammelt hatten und wie viele farbenprächtige und vielgestaltige Dildos. Wer entledigte sich solcher Dinge? fragte er sich. So etwas verlor man doch nicht einfach. Hinter diesen aufgegebenen Gegenständen witterte er rätselhafte Schicksale. Kürzlich hatte er eine praktisch neuwertige Packung mit Kondomen auf der Straße gefunden; die war sicher jemandem aus der Tasche gefallen. Er stellte sich den Mann vor, wie er in eine Situation geriet, in der er sie brauchte, seine Taschen durchwühlte, sie umkehrte und die Dinger nicht fand, natürlich nicht, denn er, Alfred, hatte sie ja in Händen. Das stellte eine Beziehung zu dem Unbekannten her. Oder zu einer Unbekannten. Vielleicht hatte die Kondome ein Mädchen verloren, und sie würde nun schwanger werden oder Aids bekommen oder keusch bleiben. (GriS, 23) Dildos, Kondome – dass vor allem die körpernahen Dinge, die mit Körperflüssigkeiten in Berührung kommen oder kommen könnten, unter Abfallsammelnden stigmatisiert sind und zu Ekelgefühlen führen, zeigt Ted Botha in dem weiter oben ausgeführten Beispiel eines Sammlers, der beim Wühlen in einem schwarzen Müllsack auf benutzte Tampons und Windeln stößt.222 Bei Irgang bleibt der Ekel aus, die Dinge stellen für ihn Verbindungen zu ihm unbekannten Menschen und Schicksalen her. Er imaginiert ihre Geschichten. Diese Verbindungen bleiben zum einen einseitig – die Menschen, denen die gefundenen Dinge gehörten, trifft Irgang nicht, zum anderen können diese Verbindungen nicht darüber hinweg täuschen, dass Irgang innerhalb und außerhalb der Stammtischrunde ein Einzelgänger bleibt, oftmals auf Verständnislosigkeit trifft, auch bei seinen eigenen Eltern (»Natürlich verstand ihn niemand, es hatte ihn noch nie jemand verstanden, auch seine Mutter hatte nie das geringste Verständnis für ihn gehabt, 222 Vgl. Botha 2004, 27.

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geschweige denn sein Vater, und auch die Schriftstellerin würde ihn nicht verstehen. Er war nicht zu verstehen. Er gefiel sich darin, ein Rätsel zu sein, eine enigmatische Existenz.« (GriS, 24)). Während über die gesammelten Dinge Verbindungen zu unbekannten Menschen hergestellt werden, ist die Sammeltätigkeit auch der Grund dafür, dass Irgang von der Gemeinschaft abgetrennt wird. Zudem ist diese Sammeltätigkeit, die kaum Kriterien gehorcht, von ihrer Anlage her unendlich: Solange es Abfälle gibt, solange findet das Sammeln Irgangs Sammelobjekte. Sein Sammeln wird als fast maschinenhaft markiert: Er mochte die Dinge, und die Dinge zu mögen ist eigentlich wie eine Maschine sein, sagte er zu sich, weil man immer dasselbe tut. Man tut es immer wieder. Man tut es immerfort. Er ertappte sich bei dem Wunsch, wirklich zu einer Maschine zu werden und sich für unbegrenzte Zeit den Automatismen der Bodenlosigkeit ausliefern zu können, obwohl es ausgerechnet diese Automatismen waren, die ihn daran hinderten, rechtzeitig an den Stammtisch zu kommen […]. (GriS, 24) Wenn die Sammeltätigkeiten Irgangs in erster Linie einsame Tätigkeiten sind, die nachts stattfinden und ihn, trotz durchaus vorhandener anderweitiger Bemühungen, eher von Menschen trennen als Verbindungen zu schaffen, gibt es eine Ausnahme: Die Begegnung mit Matroschka bzw. Charlotte, die zu seiner Helferin wird. Auch Charlottes Geschichte wird aus Einzelinformationen, die im Stammtischfreundeskreis kursieren, gesammelt und erzählt. Charlotte selbst erzählt nichts, ist, vermutlich nach einer Operation, stumm. Ein Interesse an verworfenen Dingen, das zeigt die anfängliche Reaktion Irgangs auf Charlotte, bedeutet nicht, sich grundsätzlich solidarisch mit Menschen zu zeigen. Dies wurde bereits zu Beginn des Kapitels am Beispiel der immer wieder geäußerten Abscheu gegenüber Menschen in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns diskutiert. Diese Menschenferne ist auch in Der Sammler festzustellen. Irgang beschimpft Charlotte zunächst, seine Einsamkeit der Sammeltätigkeit wird durch sie durchbrochen (vgl. GriS, 91). Charlotte erscheint ihm als Fremde, die er zwar allmählich mit Sammelaufgaben betraut, die danach aber verschwinden soll, wenn Alfred sie nicht mehr für seine Sammeltätigkeiten benötigt. Zuerst überwiegt die Nützlichkeit, die sich in Anteilnahme und Freundschaft wandelt. Zunächst noch zu einem weiteren Punkt, der unmittelbar mit dem titelgebenden Akt des Sammelns zu tun hat. Auch auf einer anderen Ebene wiederholt der Text die Sammelbewegungen Irgangs, schreibt hier aber weitestgehend, im Gegensatz zu Irgangs Sammeln, die gesellschaftlichen Wertkategorien fort: Er ist angereichert mit intertextuellen Verweisen, die allesamt der Kanonliteratur entstammen, also gerade kein Schund, Ramsch oder trash sind. Isabel Kranz hat, wie dargestellt, in Bezug auf Benjamin gezeigt, dass vor allem die kleinen Formen, das Märchen als Abfall der Sage, aber auch Texte weniger bekannter Autoren, Redewendungen und Zitate, die sonst höchstwahrscheinlich vergessen werden würden, Reste sind, deren Verwendung mit Benjamins Geschichtsverständnis korrespondiert.223 Davon kann in Der Sammler keine Rede

223 Vgl. zum Geschichtsverständnis Benjamins die Ausführungen in Kapitel 4.3.2 dieser Arbeit.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

sein. So wird neben Stifter der ökonomische Verfall Irgangs mit Hinweisen auf Thomas Manns Buddenbrooks kommentiert (vgl. GriS, 57), später wird Camus224 erwähnt. Was sind die Gründe für die Versammlung kanonischer Literatur? Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Verweise auf andere Texte während der akademisch geprägten Gespräche der Stammtischmitglieder fallen. Gerade die Stammtischrunde hat zum Ziel, die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Schutzräumen und den Straßen der Stadt mit ihren Gefahren aufrecht zu erhalten. Die Auffälligkeit, fast Penetranz, mit der auch Irgang über Abfälle und das Sammeln diskutiert, scheint zunächst ein Widerspruch zu sein zu Irgangs Ziel, möglichst nicht aufzufallen. Auffälligkeit kann dazu führen, auf seinen Fall aufmerksam zu machen. So fürchtet Irgang eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie, wie es in einer Textstelle heißt: »[N]icht Auffallen sei für ihn das einzige, das ihm ein gewisses Maß an Unbehelligtheit gewährleiste.« (GriS, 44) Vor der Begegnung mit Charlotte scheint die einzige Verbindung Irgangs zur Umwelt über das Sammeln zu bestehen. Zugleich sind Dinge für Irgang Ausgangspunkte des Erzählens, er wünscht sich diese erzählfördernde Wirkung auch für die Schriftstellerin Dora Stein: »Obwohl sie bisher für keines seiner Stücke mehr als abfällige Worte gefunden hatte, ließ er sich nicht entmutigen, ihr Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Fotos, aus denen sich seiner Meinung nach ein Schicksal entwickeln ließe, vorzulegen.« (GriS, 23f.) So konstruiert Grill den Roman auch als Text über die Kosten des Erzählens. Analog der im Zusammenhang von Stifters Motiven und seinem Arbeitsprozess diskutierten Bewegungen des Schleifens, aber auch in Erinnerung an das Marmorzimmer in Der Nachsommer bezeichnet Schriftstellerin Dora Stein Alfred als Marmorblock, aus dem sich Geschichten hauen lassen (vgl. GriS, 60f.). Nicht nur die stumme Charlotte hat keine Stimme, sondern auch Alfred hat oftmals keine eigene Stimme. Voss kritisiert diese Verwandlung Irgangs in Romanstoff: »Du vergleichst Alfred mit einem Stein. Aber das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein fühlendes Wesen, du betrachtest ihn nur als Material.« (GriS, 61) Dora Stein antwortet: »Natürlich, als Rohmaterial, von dem ich noch nicht weiß, ob sich daraus etwas machen läßt.« (GriS, 61) Zugleich lässt die Konstruktion einer Figur wie Dora Stein vermuten, dass diese Figur als selbstreflexiver Kommentar eines Erzählens über Abfälle, in dem die Abfälle und die Abfallnahen im Zentrum stehen, fungiert: Es nutzt sie, wertet sie aus. Zugleich wird die Figur Alfred Irgang als eine konstruiert, die sich selbst als Künstler, als Chronisten und Archivar des Vergessenen auffasst. Irgang weist so in einer Textpassage auf die Affinität seines Sammelns zu den Arbeiten des diskutierten Künstlers Christian Boltanski hin. Irgang als Materialsammler scheint glücklich, selbst Material zu liefern, gar vollständig zu Material zu werden: Er [Irgang, CHG] fühlte eine Seelenverwandtschaft mit dem Galeristen, vor allem aber mit Boltanski, seit heute wußte er, daß er sich selbst auch zu den Künstlern zählen durfte. Über Utas immer schneidender werdende, banausenhafte Angriffe konnte er nur lächeln. Daß des Professors Freundin tatsächlich entschlossen schien, über ihn einen Roman zu schreiben, gefiel ihm; daß sie sich schon Notizen machte, überzeug-

224 Camus wird noch einmal bedeutsam in den Überlegungen zu Hygiene und Normalisierung weiter unten in diesem Kapitel.

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te ihn von der Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens; sie würde bald merken, daß sie einen Künstlerroman zu schreiben hatte. (GriS, 170) Der Stammtischkreis weigert sich jedoch zunächst grundsätzlich, Alfred als Künstler und die Abfälle als Kunstwerke zu sehen. Die Sammlung Alfreds wird nicht als Sammlung, sondern als Evidenz eines Verfalls wertvoll. Aus Sichtweise einer Kunst, die auf der Suche ist nach dem Besonderen, dem Einzigartigen, vielleicht auch dem Pathologischen, sind geglückte Normalisierungen Unglücksfälle. Dennoch ist es Bosart, der fragt: »Sind Sie sicher, daß Herr Irgang durch die Wandlung zu einem Durchschnittmenschen glücklicher würde?« (GriS, 142) Dies ist nicht der Fall, das zeigen, wie bereits angedeutet, die drei Fallbewegungen, die schließlich in einen Unfall und den endgültigen Fall Irgangs kulminieren. Sie sind verbunden mit drei Invasionen, die Aufräumarbeiten umfassen oder zur Folge haben. Die ersten Eindringlinge und der erste Abfall von der Nähe zum Abfall finden sich in Irgangs Kindheit und jungen Erwachsenenjahren. Hier zeigt sich zum einen die Entfremdung von den Eltern, vor allem von der Mutter. Zum anderen zeigt sich bereits in seiner Kindheit, in welchem Ausmaß ihm die Dinge näher stehen als die Menschen. Sie erwarten nichts von ihm. Nichts, außer bewahrt zu werden. Es kommt zu keinen Missverständnissen, wie sie immer wieder im Rahmen seiner Beziehungen zu Menschen entstehen. Rekonstruiert werden diese Lebensepisoden, im Unterschied zu vielen anderen Geschichten über Irgang, nicht nur durch Erzählungen anderer, sondern auch durch Irgangs Erinnerungen. So wird der erwähnte erste Fall von Irgang erinnert, ausgelöst gar durch seine Sammeltätigkeit (vgl. GriS, 34). Sie führt ihn über die Gerüche einer lauen Mainacht, in der er auf Mannheims Straßen sammelnd unterwegs ist, zurück zu einer Nacht seiner Kindheit: »Solche Nächte erinnerten ihn immer an eine bestimmte Bombennacht, die er als Kind erlebt hatte, bevor man ihn in den Schwarzwald ausgelagert, also in Sicherheit gebracht hatte.« (GriS, 34). In dieser Nacht hatte er sich nicht nach außen hin sichtbar über blühende Bäume freuen können, hatte tatsächlich keine Freude empfinden können (vgl. GriS, 35). Als es am nächsten Morgen doch zu Gefühlsäußerungen kommt, weil Alfred glaubt, die Bombenasche sei Schnee, und seine Mutter diese Verwunderung mit Freude verwechselt, ist sie empört und ohrfeigt ihn. Dies ist zugleich die letzte Bombennacht, die der zehnjährige Alfred miterlebt. Um ihn zu schützen, seine Mutter ist Jüdin (vgl. Gris, 38), wird er in den Schwarzwald gebracht. Das Haus von Onkel Franz und Tante Irma im Schwarzwalddorf, das zu seinem neuen Zuhause wird, ist ein Ort der Bewahrung (vgl. GriS, 37-40). In einer an Stifter erinnernden Idylle wird nichts weggeworfen. Alfred sammelt auf Erkundungsgängen Zapfen, Steine und Wurzeln, er findet einen einzelnen Handschuh, er hebt »Zigarettenstummel auf oder Nägel, Schrauben und Schnüre« (GriS, 38). Tante Irma findet »beinahe alle seiner angeschleppten Dinge aufbewahrungswürdig« und nennt ihn »eine Haushaltsstütze« (GriS, 39). Ihre Worte geben Alfred Zuversicht: »Irgendwann würde alles seine Verwendung finden.« (GriS, 39) Dennoch werden auch dunkle, wenig konkret bleibende Erinnerungen wach, etwa an einen fensterlosen Raum, Verlies genannt, in dem seine Dinge bewahrt wurden (vgl. GriS, 40). Die Beziehung zu den Dingen ist einfach, die Gefühle Alfreds gegenüber seiner Familie kompliziert. So weigert er sich nach dem Tod des Onkels, seine Tante im Altersheim zu besuchen: »Es war ihm ja nicht nur um die

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Tante gegangen, die Tante war nichts ohne das Haus, den Onkel, das Interieur, die täglichen Rituale des Zusammenlebens, zu dem er seinen, wie er meinte, nicht unwichtigen Teil beigetragen hatte.« (GriS, 42) Das Haus wird zu einem »Geisterhaus« (GriS, 42), bis es von Voss als Zufluchts- und Arbeitsort wiedergenutzt wird. Später folgen Jugendjahre, Studium und Promotionsversuch. Das Sammeln, das sinn- und zweckfreie Zusammentragen lässt jedoch nicht nur die Beziehung zu vielen anderen Menschen, sondern auch seine wissenschaftliche Karriere scheitern. Gregor Voss erzählt seiner Freundin Dora Stein die Geschichte von Alfred als Verfallsgeschichte: Von den Eltern, besonders der besorgten Mutter, erfuhr ich, daß Alfred auch nach fünfzehn Semestern immer noch am Sammeln, am Zusammentragen der Quellen für seine Dissertation sei. Ich beruhigte sie mit einem Stifter-Wort: Das Sammeln gehe den Wissenschaften immer voraus, obwohl auch ich fand, daß Alfred zum Sammeln doch etwas viel Zeit aufwendete, und auch Eugen Irgang, damals noch Direktor der Landmaschinenfabriks-AG Mannheim, seufzte, wenn von dem schleppenden Fortgang, eigentlich Stillstand, der Studien seines Sohnes die Rede war. (GriS, 26) Während in der Wissenschaft die Bewegungen des Ordnens, Auslesens, Trennens und Zusammentragens grundlegend sind, verharrt Irgang im Stadium des Zusammentragens und Ordnens, verweigert sich dem Trennen und Auslesen weitestgehend. Dieser Prozess wird etwa durch eine Zimmerwirtin torpediert, die stellvertretend für Irgang Dinge entsorgt (vgl. GriS, 28). In den zweiten Fall sind andere, nichtmenschliche Eindringlinge involviert. So finden sich Hinweise auf Kakerlaken, die Alfred in seiner Wohnung findet (vgl. GriS, 97). Die Funde der Kakerlaken werden in unmittelbarer Nähe zu einer Passage platziert, in der Irgang sich überlegt, wie er seine, ihm zu diesem Zeitpunkt noch fremde, Helferin Charlotte nach ihren für ihn nützlichen Diensten entsorgen könnte. So sinniert er, dass er sie »[e]ines Tages […] wegschicken [würde], wenn er sie nicht mehr brauchte, oder sie würde von selbst verschwinden.« (GriS, 96). Nach diesen abendlichen Gedanken beginnt Irgang, gestärkt von einem kurzen Schlaf, mit seiner Umschichtungsarbeit, die die gesamte Nacht andauert. Diese Arbeit wird beendet durch eine kleine Mahlzeit, bei der er begleitend einige Kakerlaken tötet: In der Küche zerquetschte er vier Kakerlaken, bevor sie auseinanderstieben konnten, dann holte er sich aus dem Kühlschrank ein Sahneyoghurt, aß es, legte danach die toten Schaben in ein neues Zündholzschächtelchen, versah es mit einem Datum und stellte es zu den anderen.« (GriS, 97) Das Motiv für die Tötung bleibt unklar. Es ist nicht wirklich ersichtlich, ob die Kakerlaken ihn stören. Sie scheinen sich als lebendige Tiere nur schwerlich in die Sammlung integrieren zu lassen. Lediglich als totes Material können sie nummeriert und sortiert werden. Zugleich weiß Irgang, das wird in einer weiteren Episode klar, dass die Kakerlaken, die gemeinhin als abfallaffine Tiere und Überträgerinnen von Krankheiten, als Schädlinge225 gelten, ihn und seine Wohnung in Gefahr bringen. So bereut er schnell, 225 Zum Begriff Schädling vgl. die Studien von Sarah Jansen (etwa Jansen 2003) sowie, mit Blick auf Kafka, Markus Jansen (vgl. Jansen 2012, besonders 198-239).

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dass er der Stammtisch-Runde von den Kakerlaken berichtet. Die Mahnungen scheinen nämlich zum ersten Mal nicht genug, das Reden scheint, vor allem aus der Sicht Uta Aufbaus, nicht mehr genug. Die Gefährdung von Leib und Wohl Irgangs verlangt nach einer Intervention: Er hatte die Kakerlaken ganz gezielt erwähnt, denn er wußte, daß sich der Stammtisch über ihn und das Ungeziefer hermachen würde, und er hätte diese Aufmerksamkeit, die ihm nicht zu nahe kam und die sich, wie alles am Stammtisch, in wortreichen Ermahnungen und Warnungen erschöpfte, sogar genossen, wäre ihm nicht heute Utas finstere Entschlossenheit, die er aus ihren Gesichtszügen zu lesen glaubte, aufgefallen, ihre Entschlossenheit, etwas gegen den Schädlingsbefall in seiner Wohnung zu unternehmen. (GriS, 122) Die Blicke auf Kafkas Erzählung Die Verwandlung haben gezeigt, dass Gregor, sobald er seinen Status als Mensch verloren hat, der Vernichtung näher rückt, als Schädling entsorgt werden soll. In einer solchen Gefahr befindet sich auch Alfred Irgang. Durch die Selbst-Parallelisierung – er und das Ungeziefer – stellt Irgang die Verbindung zu einer langen Tradition her: die Degradierung von Menschen zu Schädlingen. Diese Degradierung machte bereits Irgangs Mutter durch: Als Jüdin wurde sie interniert, kurz vor ihrer Ermorderung durch die Amerikaner befreit (vgl. GriS, 41f.). Auch wenn Alfred kein Opfer einer solchen staatlich forcierten Politik der Abwertung und Vernichtung wird, die eine ganze Bevölkerungsgruppe umfasste, werden im Text dennoch Verbindungen zwischen der großangelegten Form der Degradierung und der kleinen, die von der Stammtischgruppe ausgeht, hergestellt oder zumindest angedeutet. So wirken auch bei Irgang die Mechanismen der Identifizierung und Überwachung, die Sarah Jansen am Beispiel der Reblaus als Vorstufe der Vernichtung herausarbeitet.226 Obgleich Alfred Irgang an keiner Stelle des Textes in die Kategorie des ›Schädlings‹ oder ›Ungeziefers‹ rutscht, fällt er von einer Katergorie in eine andere. Sein Fall vollzieht sich in mehreren Stufen und ist sowohl mit den Kakerlaken-Funden, aber auch mit einem weiteren Tier verbunden, das ebenfalls als Schädling gilt – der Ratte. Dabei, dies ist zu zeigen, sind diese beiden Tiere nur indirekt mit dem Fall Irgangs verbunden. Viel direkter ist sein Fall auf menschliche Intervention zurückzuführen – und einen Unfall. Alle Akte hängen jedoch zusammen. Zunächst zur Ratte. Welche Rolle spielt sie in der Verfallsgeschichte Irgangs? Die Stammtisch-Gruppe reagiert, wie gezeigt, schockiert auf die Erwähnung der Kakerlaken in Irgangs Wohnung. Eine der Behörden, die für die Regulationen und Eingriffe zum Schutz von Menschen zuständig sind, ist das Gesundheitsamt, das Uta Aufbau zugleich einschalten möchte. Das Gesundheitsamt hat stets sowohl den einzelnen Menschen, als auch die Gesamtbevölkerung im Blick. In diesem Amt vermischen sich zwei Mächte, die auf den Menschen wirken: Disziplinarmacht und Bio-Macht.227 Geht, so die Frage, die bezüglich Irgangs Wohnen gestellt werden könnte, eine Gefahr für ihn

226 Vgl. Jansen 2003, 194-211. 227 Vgl. hierzu insbesondere die beiden Arbeiten Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Foucaults 1998) zur Disziplinarmacht und Sexualität und Wahrheit. 1: Der Wille zum Wissen (Foucault 1977) zur Bio-Macht.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

und andere Menschen durch Missachtung von Hygienemaßnahmen aus? Während also Behörden und die Stammtisch-Gruppe aktiviert werden sollen, um Irgang zu retten, spielt hinsichtlich des Aktionismus von Uta Aufbau nicht nur die Frage nach (Nicht-)Hygiene eine Rolle, sondern auch und gerade der Aspekt der Kränkung sowie der Wunsch, Normalität herzustellen. Warum lebt jemand, so fragt sich Uta Aufbau, der so vermögend ist wie Irgang, nicht dementsprechend, sondern lässt alles verfallen: »Herr Irgang ist ein Millionär, ein Millionär, und lebt wie ein Hund, wie ein Penner […].« (GriS, 106) So demonstriert Irgang in Bezug auf Hygiene ein unkonventionelles Verhalten. Er, der vor dem Verfall gerettet werden soll, steht diesem Verfall interessiert, zugleich distanziert gegenüber und macht ihn zum Teil seiner Sammeltätigkeit. Dies zeigt sich an dem Umgang mit dem eigenen körperlichen Verfall. Er bedauert ihn zwar, dokumentiert ihn aber auch, etwa wenn er beim Haarkämmen »bekümmert das Büschel [betrachtete], das sich wieder im Kamm verfangen hatte«. Weiter heißt es zum Vorgehen, dass er die Haare, »einzeln aus den Zwischenräumen des Kammes [zog], legte sie nebeneinander aufs Waschbecken und zählte sie.« (GriS, 98) Dann wird archiviert und protokolliert: »Es waren an die zweihundert Stück. Getrocknet steckte er sie in ein altes Briefkuvert, versah es mit Datum und Stückzahl und legte es zu den übrigen Briefumschlägen mit dem gleichen Inhalt. Darüber hinaus führte er in einem alten Taschenkalender genau Buch über seinen Haarausfall; er trug das neue Ergebnis ein.« (GriS, 98f.) Die Haare landen, so ist anzunehmen, neben den toten Kakerlaken. Sie werden Teil der Sammlung. Zum Einschalten des Gesundheitsamtes kommt es nicht. Stattdessen muss Irgang ins Krankenhaus eingewiesen werden – hier kommt die angekündigte Ratte ins Spiel. Während eines nächtlichen Abfallgangs, diskutiert wurden ja schon die Gefahren des Wohnens und der Straße, wühlt Irgang in einem Müllcontainer: Eines späten Abends durchsuchte er seinen bevorzugten Container an den Planken besonders gründlich, er hatte einige unidentifizierbare, aber interessante Objekte ertastet, die er herausholen wollte. Plötzlich durchzuckte ihn an der rechten Hand ein heller, stechender Schmerz, er schrie auf, riß die Arme aus der Öffnung. An seinem Arm, nahe des Handgelenks, hing etwas und zappelte: Es war eine Ratte, die sich in sein Handgelenk verbissen hatte. (GriS, 168f.) Der Biss der Ratte ist symbolisch hochgradig aufgeladen.228 Die Ratte steht für, manifestiert gar die Furcht vor Krankheitsübertragung.229 In Camusʼ Roman Die Pest 230 , der über ein Stammtischgespräch abgerufen wird (vgl. GriS, 174) und somit einen Intertext darstellt, sind es Ratten, die die bevorstehende Epidemie ankündigen. Zugleich wird mit den Ratten als abfallaffine Tiere Unreinheit und Schmutz assoziiert. Wenn, wie auch Ivan Illich zeigt, Hygiene mit sozialem Aufstieg verbunden ist,231 ist ein Verhalten, das einen direkten Kontakt mit Ratten ermöglicht, mit einem sozialen Fall gleichzusetzen.

228 Vgl. auch den Lexikon-Eintrag zu Ratte im Metzler Lexikon literarischer Symbole (vgl. Said 2012). 229 Zur Ratte als Überträgerin von Krankheiten, vor allem als Wirtin von Beulenpest übertragender Flöhe, vgl. Burt 2006, 115-129. 230 Vgl. Camus 1997. 231 Vgl. Illich 1987, 102.

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Der Rattenbiss führt bei Irgang zu einer Sepsis. Sepsis geht zurück auf das griechische Wort sẽpsis, das Fäulnis bedeutet.232 Die bereits diskutierten Fallbewegungen, die Irgang seit Beginn der Erzählgegenwart umgeben, münden in eine schwere Erkrankung. Gerade die Blutvergiftung, eine mitunter schwerwiegende Allgemeininfektion233 ist stets mit einem invasiven Moment verbunden, das ein System (in der Regel den menschlichen Organismus) kollabieren lässt. Bei Irgang führt die Vergiftung zu einem zweifachen Kollaps: Nicht nur sein Körper kollabiert, sondern auch seine Sammlung. Dies ist durch seinen Krankenhausaufenthalt bedingt, der der Stammtischgruppe die Möglichkeit gibt, sich Zutritt zu seiner Wohnung zu verschaffen. Zum anderen spricht die Gruppe, trotz geäußerter Betroffenheit, über ihn noch mehr wie über einen vom Individuum losgelösten Fall, nicht einer ihr bekannten Person. So formuliert Galerist Boshart: »Habe ich gleich gesagt […], Mortalitätsrate 25 bis 40 Prozent.« (GriS, 177) Hier kommen statistische Verfahren zum Tragen, die fester Bestandteil von Biopolitik sind, wie sie etwa Maria Muhle oder, in Bezug auf Kafka, Benno Wagner oder Markus Jansen herausgearbeitet haben.234 Aber auch auf die Fallstudie, die das Individuum in seinen Abweichungen mit dem Regel- bzw. Normalfall abgleicht, wurde ebenfalls schon hingewiesen.235 Die Schonungslosigkeit dieser Verfahren, die jedoch im Selbstbild der Stammtischgruppe immer Handlungen sind, die in Menschlichkeit und Anteilnahme gründen, wird auch in der nachfolgenden Aufräumaktion sichtbar. Ähnlich schonungslos ist zunächst auch der Kommentar von Dora Stein, als Voss sie fragt, ob sie glaube, dass Alfred an der Blutvergiftung sterben könnte. Ihre Antwort: »Nein, das käme mir gar nicht zupaß.« (GriS, 180) Wie sehr der Ort Krankenhaus als Machtort auch ein Ort der Isolierung und Isolation sein kann, zeigt Markus Jansen am Beispiel von Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Nur weil Samsa bereits in der Familie vollständig isoliert ist, bleibt ihm die Abschottung in der biopolitischen Institution Krankenhaus, die, wie Jansen formuliert, »am Kreuzungspunkt von Regulierung und Disziplinierung« arbeite, erspart.236 Irgang hingegen muss ins Krankenhaus. Während zudem in der Geschichte von Gregor Samsa der Fall Gregors mit zunehmender Vermüllung parallelisiert wird, ist bei Alfred Irgang die Entmüllung der Beginn des Falls.237 Der dritte Fall, der Irgangs Ruin vorausgeht, besteht so auch aus den Reinigungsarbeiten in Irgangs Wohnung, die im Kreis der Stammtischgruppe während Irgangs Krankenhausaufenthalt geplant und durchgeführt werden – sie werden im Text als eigentliche Invasion markiert. Die Planungen und Durchführungen der Aufräumaktion nehmen Kapitel 8, 9 und 10 des Romans ein. Aus Alfred Irgangs Wohnung soll, so der Beschluss, wieder eine bewohnbare Behausung und zugleich ein Kunstprojekt werden. Letzteres stellt ein Beispiel einer Überführung eines Schmutzraumes in einen anderen Kontext dar, die geplante Integration dieses Schmutzraumes 232 Vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 25, 50. 233 Vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 25, 50. 234 Vgl. Muhle 2008, besonders 252-260, Wagner 2007 und Jansen 2012, zur Datenerfassung und Datenverarbeitung als Element der Biopolitik besonders 281-310. 235 Vgl. hierzu besonders Borchardt/Göthlich 2007. 236 Vgl. Jansen 2012, 362. 237 Zum Prozess der Vermüllung in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung vgl. auch Gehrlein 2005, 53-57.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

in das Schutzsystem Kunst. Hier nehmen die persiflierenden Elemente zu, die bereits im Zusammenhang mit den Passagen, in denen Voss an die Errungenschaften der Aufklärung erinnert, angesprochen wurden. Sie vermischen sich zudem mit den archivierenden Funktionen des Romans. So kommt es zu einer ausführlichen Beschreibung der Wohnung, wenn Uta Aufbau während Irgangs Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal in den Raum eindringt (vgl. GriS, 180, zur Wohnungsbeschreibung vgl. 184-186). Hier setzen die Abwehrmechanismen voll ein, ekelfördernde Komponenten wie der Gestank in Irgangs Wohnung werden erzählerisch ausgebreitet. Nach der Begutachtung wird ein planvolles Vorgehen beschlossen, das dem von Susanne Hauser beschriebenen Vorgehen folgt. Nach Hauser werde ein Innenraum definiert, der sauber bleiben soll, dann erfolge die »vorgeschriebene, organisierte, gelegentlich auch zentralisierte Entfernung unerwünschter Stoffe aus diesem definierten Bereich […].«238 Es greifen zudem die Machttechniken, die Grassmuck und Unverzagt bezüglich des Recyclings herausgearbeitet haben und die bereits in Kapitel 2 zitiert wurden. Sie schreiben: »Recycling ist die Ent-Scheidung all dessen, was der Fall ist, in das, was uns zufällt und das, was von uns abfällt. Zunächst ist also der Fallensteller gefragt, der den Abfall genau kennt, ihn in Kategorien einteilt und ihn separiert.«239 Weiter heißt es: »Wie bei jeder Herrschaftstechnik wird erst eingeschlossen, um dann zu entscheiden, was reintegriert wird und was als artfremd, unwert, unnütz, gefährlich usw. endgültig ausgeschlossen werden muß.«240 Die Stammtischgruppe als Fallensteller muss also zunächst den Abfall kennenlernen. Ziele sind die Wiederherstellung der Funktionalität der Wohnung und der Ordnung der Dinge durch die Trennung Wert und Unwert, Sammelwertes und Abfall. Alfreds Bekannte werden ihrerseits zu Ruinengängern: Die Schichtungen lassen die Erkundungen gefährlich werden. Leibliche Erfahrungen wie Ekel und Abscheu erschweren die Aufräumaktion. Für alle Beteiligten ist es das erste Mal, dass sie auf tatsächlichen Widerstand hinsichtlich ihrer Aufräumarbeiten stoßen. Dabei handelt es sich um einen Widerstand, der von den Dingen ausgeht.241 Als Teil der Aufräumarbeiten werden die Fortschritte dokumentiert, die Dinge inventarisiert und klassifiziert: In den Kartons waren oft nur weitere Kartons ineinandergeschachtelt, in einem fanden sie 35 Regenschirme: Uta entschied, mehr als einen brauche Alfred nicht. 34 wanderten in den Müll. Damenhandtaschen zu Dutzenden entdeckten sie, Aktenmappen in großer Zahl, Geldbörsen ohne Inhalt, mehr als fünfzig Korkenzieher, einen Karton mit Schnürsenkeln, Hunderte von Schnürsenkeln verschiedener Längen, Farben und Stärken, Flaschenkorken […], natürlich auch Unmengen alter Zeitungen, Zeitschriften, Möbelprospekte, Pornohefte, Theater- und Kinoprogramme, leere Pralinenschachteln, Leuchtstoffröhren, sorgfältig verpackt, aber nicht mehr funktionstüchtig […]. (GriS, 201) Dabei stellen manche Dinge durchaus Verbindungen her, allerdings nur die Familiendinge Alfreds. Alle anderen Verbindungen, die Irgangs Sammlung hergestellt hat, sind 238 239 240 241

Hauser 2001, 27. Grassmuck/Unverzagt 1991, 96. Grassmuck/Unverzagt 1991, 96. Hier lassen sich Verbindungen zu den Ruinengängen Edensors herstellen (vgl. Edensor 2005a und Kapitel 4.3.3 dieser Arbeit).

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gelöscht, da das Sammlersubjekt fehlt. Ab dem Moment, in dem der Sammler im Krankenhaus zur Handlungsunfähigkeit gezwungen ist, wird die Sammlung zu dem, was sie für alle Menschen außer Irgang sowieso schon ist – sie wird zu Abfall, auch wenn in Einzelfällen mitunter ökonomischer Wert festgestellt wird: In den freigelegten Schrank legten sie das kostbare Leinen, unzählige weiße Herrennachthemden, die wahrscheinlich einmal Alfreds Vater getragen hatte, kamen dazu, aber auch Damennachtwäsche mit Lochstickerei. Herrliches, edelstes Leinen, staunte Uta, nur leicht vergammelt. Müßten gebleicht werden, sagte Uta. Süß, rief Kyra, schau nur, diese Fältchen und Rüschen. Dann fand sich in den Schachteln nur noch wüstes Gerümpel, einige kaputte Staubsauger, Besen, Bürsten, Bilderbücher, Zinnsoldaten, Puppen ohne Gliedmaßen oder ohne Kopf, abgeschlagene Töpfe; und sie wurden wieder mutlos. (GriS, 204) Der Text stellt mit dem Hinweis auf die Leinennachtwäsche auch eine weitere Verbindung zu Stifter her, die sich über Stifters Biographie erschließt: Stifters Vater war ursprünglich Leinenweber, arbeitete dann aber als Leinenhändler.242 Zu Beginn dieser Interpretation wurde die Funktion der Wohnung diskutiert, etwa in ihrer Aufgabe als Gewährung von Schutz und Komfort. Illich zeigt, wie mit der Einführung der Wassertoilette und der beginnenden regelmäßigeren Waschungen der oberen Schichten auch Leinentücher bedeutsamer wurden: »In ihnen zu schlafen, und zwar im eigenen Bett, bekam jetzt eine moralische und medizinische Bedeutung.«243 Somit ist die Wiederherstellung des Komforts, die Wiederherstellung von Hygiene und Ordnung, von der wiederholt erzählt wird, auch eine Wiederherstellung der moralischen Ordnung: Irgang soll wieder in seinem Bett schlafen, nicht in seinem Schlafsessel. Die kaputten Staubsauger zeugen davon, wie sich Staub als Zeitzeichen auf den Dingen absetzen kann – und wie Werkzeuge des Reinigens und Ordnens ihrer Funktion beraubt selbst Teil der Sammlung Irgangs wurden. Die Auflistung, das sammelnde und bewahrende Erzählen ist in Der Sammler am eindringlichsten, wenn die Auflösung der Hauptfigur Irgang, der sich über die Sammlung konstituiert, bereits begonnen hat. Susanne Ludwigs Fotos halten, wie weiter oben gezeigt,244 die Auflösungsprozesse von insolventen Firmen fest. Ihr finanzieller Ruin führt zu einer Ruinierung von Orten, die zuvor Knotenpunkte von Kommunikation waren. Diese Ruinierung vollzieht sich schrittweise: Intakte, betriebsame Räume, die Schutz, Sicherheit, Abgrenzung bieten werden über mehre Stufen schließlich menschenfern und zugleich abfallnah. Die Aufräumarbeiten vollziehen sich im Roman umgekehrt: Ein abfallnaher Raum wird in einen, zumindest mehrheitlich betrachtet, intakten Raum zurückverwandelt. Der Ruin Alfreds tritt zu dem Zeitpunkt ein, in dem seine Wohnung wieder der eigentlichen Funktion zugeführt wird: dem Wohnen. Alfred überlebt die erste Invasion, die Entfremdung und das Unverständnis seiner Familie. Er überlebt auch die zweite und dritte Invasion, die Infektion bzw. Sepsis sowie

242 Vgl. Roedl 1991, 13. 243 Illich 1987, 100f. 244 Vgl. die Darstellung in Kapitel 4.3.4.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

die Aufräumarbeiten. Sie führen jedoch zu einem Bruch mit dem Freundeskreis. Seine Reaktion, als er in die aufgeräumte Wohnung geführt wird, ist stark körperlich: Er taumelt, stolpert, als er den Verlust der Dinge registriert, irrt umher »wie ein Blinder« (GriS, 214).245 Der Verlust seiner Dinge, der Sammlung, führt zur absoluten Orientierungslosigkeit. Er jagt die Stammtischgruppe aus der Wohnung. Sein Schmerz äußert sich zunächst in Wortlosigkeit, die zum Schreien wird, das sich wiederum in ein dem Wahnsinn nahes Brüllen verwandelt und schließlich, zusammen mit Charlotte, in ein Lachen kulminiert (vgl. GriS, 217f.). Irgang beginnt in den Tagen und Wochen danach, erneut die Wohnung mit Dingen zu füllen. Die Aufräumarbeiten führen zu einer, wie Uta Aufbau berichtet, neuen, einer beschleunigten Vermüllung (vgl. GriS, 226f.). Mit diesem Abbruch der Verbindungen zwischen Irgang und der Stammtischgruppe sowie der erneut aufgenommenen Sammeltätigkeit könnte der Roman nach Kapitel 12 enden. Aber, so meint jedenfalls Dora Stein, der Bruch Irgangs mit der StammtischGemeinschaft und das Fortführen seiner Sammeltätigkeit ist nur ein vorläufiges Ende. Längst ist die Fallgeschichte für sie zu einer Verfallsgeschichte geworden. Sie setzt sich, so erfahren wir in Kapitel 13, mit Voss in das alte Irgang-Familienhaus im Schwarzwald ab, Irgangs Geisterhaus. Hier erreicht sie der Brief von Uta Aufbau, die vom gewaltvollen Tod Alfreds berichtet. Der Todesfall – oder vielmehr, wie der Text impliziert, Totschlag – Irgangs ist ein buchstäblicher Fall: Sein Tod, auf den die Fallgeschichte, die Verfallsgeschichte zusteuert, ist ein Fall und zugleich ein Unfall. Nach dem Bruch mit der Stammtisch-Gruppe und dem Neubeginn bzw. der Fortsetzung der Sammeltätigkeit Irgangs kommt es im Hochhaus zu einem Brand. Die erzürnten Anwohner beschuldigen Irgang, Verursacher zu sein. Zwei Männer heben ihn hoch und lassen ihn auf den Boden fallen. Irgang stirbt an Schädelbasisbruch mit Gehirnblutung (zum Hergang des Unfalls vgl. GriS, 231-233). So der Bericht von Uta Aufbau. Alfreds körperliche Überreste werden der Forschung übergeben, es gibt kein Grab. Die Dinge bleiben, sie überleben Alfred. Aber so, wie die Sammlung ohne den Sammler verstummt, verstummt auch das Erzählen im Roman. Es sprechen diejenigen, die ihn recyceln: Als Kunstprojekt, als Gedenkausstellung in Erinnerung Irgangs, als die Geschichte Irgangs erzählende Schriftstellerin. Dennoch überleben auch die Dinge Irgangs, zumindest temporär. Erzählt, im Sinne eines mündlichen Weitertragens von Geschichten, kann jedoch nichts mehr werden. Das symbolisiert die Hüterin von Alfreds Dingen, die stumme, zungenlose Charlotte. Noch einmal zurück zu Stifter, der im Text immer wieder als Referenzpunkt genannt wird, allerdings niemals von Alfred, sondern stets von Mitgliedern der Stammtisch-Gruppe. Dessen Nachsommer wird durch das Motto als ein mit Der Sammler eng verbundener Text markiert. Eva Geulen zeigt in Bezug auf die harmlosen Sonderlinge, die Stifters Werk bevölkern, dass deren Sonderbarkeit im Textverlauf oft gemildert wird.246 Ihnen gelingt zumindest teilweise eine Integration. Im Fall von

245 Das Motiv der Blindheit findet sich auch in Doctorows Homer and Langley. Hier wird sie mit der zunehmenden Isolation und dem Unverständnis durch die den bzw. die Sammelnden umgebenden Gesellschaft parallelisert (vgl. Doctorow 2009). 246 Vgl. Geulen 1993, 652.

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Grills Sammler Irgang kommt es nicht zu einer Integration, sondern zum Ruin. Alfred stirbt. Auch im Tod hat Irgang keine eigene Stimme, sondern es wird über diesen Tod in Form eines Briefs von Aufbau an Voss und Stein berichtet. Voss zeigt sich erschüttert (»Das ist ja furchtbar, über die Maßen entsetzlich.« GriS, 235), Schriftstellerin Stein scheint fast erfreut: »Dora schlug sich an die Stirn: Ja, das ist die Lösung. Die Wirklichkeit ist manchmal doch literarisch.« (GriS, 235) Ist Der Sammler ein Text über eine Messie-Existenz als Beispiel von wasted identities, wie Wim Peeters formuliert?247 Elisabeth Vykoukal stellt in ihren psychoanalytisch fundierten Ausführungen zum Messie-Syndrom dar, wie es in therapeutischer Arbeit mit Patienten »zunächst darum [gehe], die Wahrnehmung der Messies anzunehmen, zu verstehen, wie sie die Dinge sehen. Messies machen das, was andere Abfall nennen, zu ihrem Material – er wird eine zusätzliche Schicht in ihrem Leben, er sammelt sich an zwischen ihrer Haut und den Wänden, den Grenzen ihrer Behausung.«248 Auch der Text verhandelt einen solchen Vorgang des Materialmachens, der Grenzen überschreitet. Oder sie bestätigt? Jürgen Link beschreibt in Zusammenhang mit Normalisierung und Normalismus, wie Literatur zur Produktion von Normalität beitragen kann. Sie zeige zwar Anormalität, aber nur, um sie dann gleich wieder zu relativieren oder zumindest eine Rückkehr als Möglichkeit offen zu halten.249 Eine irreversible Denormalisierung wäre »das schlechthin Andere des Normalismus, wäre sein Ende als jener Prozeß, der jede Rückkehr zur Normalität unmöglich machen würde. Die Vorstellung (sowohl individueller wie kollektiver) irreversibler Denormalisierung ist daher die stärkste Quelle von Angst im Normalismus.«250 Auch Der Sammler kann als ein Text gelesen werden, der Normalitätsgrenzen markiert und herstellt. Irgangs Umgang mit Dingen wird als gefährliche Abzweigung markiert – schließlich führt seine Abfallsammeltätigkeit zu einer Infektion. Auch Irgangs Unfalltod hängt mit dessen Abweichung oder gar Überschreitung von Normalität zusammen. Er wird – fälschlicherweise, wie zu vermuten ist – für den Hochhausbrand verantwortlich gemacht. Sein Tod wird in Kauf genommen. Der Sammler zeigt, wie hoch die Kosten der Anormalität sind. Eine Figur, die die Normalitätsgrenzen überschreitet, fällt. Zugleich wird gerade durch diesen Fall die Normalitätsherstellung konterkariert. Dieses vierte Kapitel versammelt Überlegungen zur Stadt, zu Gehbewegungen, zu Ruinen und Ruin. Der Titelheld des Romans Der Sammler heißt Irgang – wer geht den falschen Weg, wer irrt? Vielleicht ist der Roman selbst ein Irrtum. Dies legt das Erzählen nahe. Was ist damit gemeint? Kathrin Luz schreibt zum Verhältnis von Wert und Wertlosigkeit von einem, nicht nur in der Kunst, zu konstatierenden »Verlust der Differenzierungskompetenz für die Kriterien von Werthaltigkeit und Wertlosigkeit«251 . Die Betrachtung zu den Rauminstallationsarbeiten Jonathan Meeses übertitelt sie mit »Messie als Messias«252 . Mit dieser, an die Müllräume-Arbeiten Meeses angelehnte Titulierung, 247 Vgl. Peeters 2010, 147. 248 Vykoukal 2010, 126. 249 Surrealistische Geschichten dienen Link als Beispiel für Texte, »die in eine irreversibel-nichtnormalistische Welt« (Link 2009, 46) führen (vgl. hierzu auch Link 2002, 556f. und Link 2010). 250 Link 2009, 49. 251 Luz 2003, 128. 252 Luz 2003, 128.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

fasst Luz die »nivellierende Wahrnehmung der Welt«253 , die Messie und Künstler teilen, aber auch die tendenzielle Sakralisierung des Abfalls durch den Sammler/Künstler selbst. Eine Sakralisierung, die zugleich auch eine Reintegration des Wertlosen in neue Wertsysteme darstellt, eine Integration durch ästhetische Bearbeitungen in Bildender Kunst und Literatur. Dieser Prozess der Sakralisierung stellt Verbindungen zum Roman Underworld her, der von ebensolchen Operationen in vielerlei Hinsicht erzählt. Beide Operationen, die Reintegration und die Überhöhung, integrieren Abfälle, im Kleinen und im Großen. Eine Integration, die der Text Der Sammler reflektiert. Zudem zeigt der Roman auch: Es gibt nichts Neues zu erzählen, nur Gewohntes, in vielleicht ungewöhnlicher Kombination, zu (ver)sammeln. Dies gilt in Bezug auf die gängigen Topoi der Messie-Narrative, die Diskussionen über Sauberkeit und Schmutz sowie die Exkurse über Abfallkunst.254 Warum also Erzählen? Resigniert wirkt so auch das Erzählen, wenn es darum geht, Abfall sein zu lassen. Lediglich in wenigen Passagen, etwa während der Begehung der Wohnung Irgangs in dessen Abwesenheit, noch vor den Aufräumarbeiten, bleibt Abfall Abfall. In Abwesenheit des Sammlers präsentiert er sich als absurde Ansammlung, nicht als Sammlung. Dass gerade in den Momenten der Abfalltreue der Ruin Alfreds vorausgedeutet wird, zeugt von dem Ausmaß der Schwierigkeiten, sich den Integrationen von Abfällen zu verweigern. Der Sammler ist so auch ein Erzählen über die Schwierigkeiten des Erzählens über Abfälle und über Menschen, die ihm nahe stehen.

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Die Reste der Proteste und die (Un-)Möglichkeit großer Fragen – Abfall, Auflösung und Auflehnung in Uwe Timms Rot

»Jede literarische Arbeit«, formuliert Uwe Timm255 in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt (2009),256 »jedenfalls die mich interessierende, muss sich […] dem individuellen wie dem gesellschaftlichen Erinnern […] öffnen und gerade dem nachspüren, was verschwiegen wird, was nicht im Blick und dennoch da ist.«257 Diese Zuwendung zum, wie er fortfährt, »Misslingen, den Verletzungen, dem Versagen«258 , das Sichtbarmachen von all dem, was zwar vorhanden ist, aber nicht ins Blickfeld und auch nicht zur Sprache kommt, zeigt sich in vielfältiger Weise in seinem Roman Rot (2001)259 . Ein Roman, der meist im Kontext seines Erinnerns an die 1968er Proteste rezipiert wird.260 Er breitet die Lebensgeschichte des Alt253 Vgl. Luz 2003, 128. 254 Ähnliches gilt auch für Rautenberg 2002, der ebenfalls in etlichen Passagen diese Diskussionen versammelt, etwa 94f. 255 Timms Novelle Freitisch wurde bereits in der Einleitung dieser Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) hinsichtlich ihres Blicks auf Abfälle und Abfallwirtschaft befragt. 256 Vgl. Timm 2009. 257 Timm 2009, 82f. 258 Timm 2009, 83. 259 Vgl. Timm 2006, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle TiR und Seitenzahl zitiert. 260 So z.B. die Analyse in Weisz 2009. Jüngst argumentiert auch Kerstin Germer in diese Richtung, fasst Rot aber zugleich auch als einen der Berlin-Romane Timms. Diese Lesart lasse den Text zu

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achtundsechzigers, Jazzkritikers und Beerdigungsredners Thomas Linde aus und dessen Beziehungen zu seiner jüngern Geliebten Iris sowie anderen Menschen. Von der Forschung, zumindest größtenteils,261 übersehen, sind es, neben der 1968er-Thematik, der bereits durch den Titel markierten Farbsymbolik sowie immer wieder auftauchenden Ausflügen und Abschweifungen in die Welt der Musik, gerade Reste und Abfälle, die eine zentrale Rolle in Rot einnehmen. Dabei werden im Nachdenken über Abfälle große Fragen gestellt: Nach der zunehmenden Ökonomisierung vieler Lebensbereiche, nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, nach Sprechen, (Auf-)Zeigen sowie (Ver-)Schweigen und Verstummen. Nachgedacht wird dabei auch über die Rolle von Ästhetik, von Musik, Literatur und Bildender Kunst sowie deren Potenziale, Festhalten und Loslassen zu begleiten, zu verweigern oder auch, wenn nötig, zu unterstützen. Künste, die im Roman immer wieder in Bezug auf und in Abgrenzung zu Abfälle(n) diskutiert werden. Zugleich werden die Grenzen der Abfallkunst, wie sie in Kapitel 1 diskutiert wurden,262 ausgelotet und verschoben. Die angesprochenen Auslotungsbewegungen, so ist zu zeigen, betreffen auch den Text Rot selbst. Der Roman setzt in medias res ein. Dieser Einstieg bildet sowohl den Anfangs- als auch Endpunkt: Der Text, der sich auf so unterschiedliche Weisen dem Thema Abfall widmet, beginnt mit einem Fall – einem Unfall.263 Thomas Linde geht bei Rot über die Straße, wird vom Auto angefahren und, höchstwahrscheinlich tödlich, verletzt. Der erste Abschnitt lässt zunächst im Unklaren, wer spricht oder denkt: Ich schwebe. Von hier oben habe ich einen guten Überblick, kann die ganze Kreuzung sehen, die Straße, die Bürgersteige. Unten liege ich. Der Verkehr steht. Die meisten Autofahrer sind ausgestiegen. Neugierige haben sich versammelt, einige stehen um mich herum, jemand hält meinen Kopf, sehr behutsam, eine Frau, sie kniet neben mir. Ein Auto ist in die Fensterscheibe eines Uhrengeschäfts gefahren, die Marke kann ich von hier oben nicht erkennen, bin aber in Automarken auch nicht sonderlich bewandert. Eine große Schaufensterscheibe, die wie eine glitzernde Wolke aufflog und jetzt am Boden liegt, bruchstückhaft spiegeln sich Häuser, Bäume, Wolken, Menschen, Himmel, von hier oben ein großes Puzzle, aber alles in Schwarzweiß. Seltsamerweise gibt es keine Farbe, seltsam auch das, der da unten spürt keinen Schmerz. Er hält die Augen offen. (TiR, 7)

einer (bundes-)deutschen Chronik werden, die weit über die Archivierung der Studierendenproteste um 1968 hinaus geht (vgl. Germer 2012, besonders 120-130, 211-215 und 224-230). 261 Eine Ausnahme ist die neuere Studie von Markus Lorenz (vgl. Lorenz 2012). 262 Vgl. Kapitel 1.5 dieser Arbeit. Ob jedoch die von Roger Behrens geforderte, bereits ebenfalls in den einleitenden Überlegungen zu Abfall und Museum, Abfall und Kunst diskutierte »Vermüllung der Ästhetik« (Behrens 1994, 29), die einer Ästhetisierung des Mülls vorzuziehen sei, in Rot umgesetzt wird, ist eine der Fragen, der sich die folgende Interpretation stellt. 263 Markus Lorenz konzentriert sich ebenfalls auf die Fallbewegung (vgl. Lorenz 2012, 15) und verbindet den Unfall zu Romanbeginn mit Unfällen in zwei anderen literarischen Texten: »Wie bei Musil und wie bei Kleist steht am Anfang ein Un-Fall, ein Verkehrsunfall. Das erzählende Ich ist angefahren worden und zu Boden gefallen. Sein reflektierendes Bewusstsein löst sich von dem niedergestürzten Körper, das dergestalt gespaltene Ich nimmt sich als Gegen-Stand, als anderes seiner selbst wahr.« (Lorenz 2012, 15, zum Unfall in Musils Texten vgl. auch Bickenbach 2009)

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Auf den fast vierhundert Seiten zwischen diesen ersten Sätzen und dem letzten Wort (»Licht.« TiR, 394) entfaltet Uwe Timm die Geschichten, aus denen sich nicht nur Lindes Leben, sondern viele Leben, mitunter exemplarische, mitunter un- und außergewöhnliche, mitunter aber scheinbar unaufgeregte, normale Leben, zusammensetzen. Diese Verdichtungen eines Lebens, vieler Leben, in beiden Wortsinnen sowohl als Zusammenziehungen, Zusammenfassungen, aber auch als Erzählungen, als Akte des Poetisierens zu verstehen, spielen sich zunächst einmal in wenigen Sekunden ab, eben den Sekunden des Hinausgleitens aus dem Leben am Unfallort. Diese Sekunden werden jedoch erzählend gedehnt und der Ort erzählend erweitert. Die Geschichte bzw. Geschichten eines Lebens aus der Perspektive eines Beerdigungsredners werden zur Totenrede für ihn selbst.264 Dies wird gegen Anfang, chronologisch gesehen Schlusspunkt des Romans, markiert, wenn die Ich-Erzählperspektive in die dritte Person wechselt und durch surreale Komposition ergänzt wird: Person und Roman lösen sich, gleichzeitig und ineinander verwoben, auf. Auch Vermischungen von Zeiten finden immer wieder statt. So werden Anlässe in der Erzählgegenwart und jüngeren Vergangenheit des Textes genutzt, um retrospektiv Szenen aus der Kindheit des Ich-Erzählers zu erinnern. Vermischung findet aber auch in einer anderen, bemerkenswerten Hinsicht statt: Markiert werden die Geschichten, die der Text versammelt, mitunter durch eine direkte Ansprache einer imaginierten Trauergemeinde. Diese Adressierung eines Publikums markiert den Gesamtroman zumindest stellenweise als Totenrede, als oszillierend zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (etwa TiR 117: »Verehrte Angehörige, verehrte Trauergemeinde«).265 Misslingen, Verletzungen und Versagen, was verschwiegen ist und dennoch da: Dies soll zum Einstieg in einen vielschichtigen, verwirrenden, mitunter äußerst traurigen, nie aber hoffnungslosen Text am Beispiel von Alltagsgegenständen gezeigt werden, die vieles sein können und sind, in Rot aber, zumindest zu dem Zeitpunkt, an dem die Interpretation ansetzt, eines sind: Abfall. Genauer: Bücher, die zu Abfall werden.266 Dieser wichtige Erzählstrang wird erst nach Verzögerung inklusive seiner Vorgeschichte ausgebreitet. So berichtet Protagonist Linde aus der Ich-Perspektive: »Vor zwölf Tagen rief mich das Beerdigungsinstitut Thomson an, mit dem ich oft zusammenarbeite […]. Thomson sagte, da hat jemand testamentarisch verfügt, daß Sie die Leichenrede halten.« (TiR, 41) Zuvor kommt es bereits zu Andeutungen, Rück- und Vorausweisungen, zudem werden zentrale Motive des Gesamtromans genannt: Der Beruf des Beerdigungsredners, Lindes Affäre mit der verheiraten Lichtkünstlerin Iris, die er bei einer Beerdigung kennenlernt, die individuelle und kollektive Bedeutung von Musik, oftmals Jazzmusik, aber auch Popmusik oder Kompositionen von Hanns Eisler. Am Beispiel der Einrichtung von Wohnungen wird die im Nachdenken über Abfälle so wichtige Frage nach Leere und Fülle zum ersten Mal diskutiert, nach Verzicht und Überfluss, die nicht immer so klar korrespondieren, wie zu vermuten ist. Ebenso finden sich kryptische Passagen, in denen von einem Totem im Eisfach (vgl. TiR, 32), vom Engel der Geschichte

264 Hierzu ausführlich Jahraus 2007. 265 Vgl. hierzu auch Jahraus 2007, 187. 266 Cornils 2006 bietet ebenfalls eine kurze Deutung an (vgl. Cornils 2006, 57-59).

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(vgl. TiR, 8) und von Sprengstoff (vgl. TiR, 8) die Rede ist. Kurz nach dem oben erwähnten Anruf des Beerdigungsinstituts kommt es zu einer ersten Begegnung mit der Wohnung des noch unbekannten Verstorbenen, der noch in der Wohnung durch die Dinge, die er hinterlassen hat, präsent ist: »Die Wohnung lag im Souterrain, war dunkel, aber nicht feucht, und das lag sicherlich auch daran, daß sie mit Büchern und Papier vollgestopft war. Schon im Gang roch es nach altem Papier.« (TiR, 42) Alfred Irgangs Wohnung in Der Sammler nicht unähnlich, gibt es dennoch Unterschiede: Die thematische Ausrichtung der Ansammlung unterscheidet sich von den Dingakkumulationen Irgangs, die wegen ihrer Dingqualitäten gesammelt wurden. Dass es sich nicht um beliebige Bücher handelt, sondern um solche, die miteinander in Verbindung stehen, zeigt der genauere Blick: »Auf einem größeren Tisch in der Mitte des Raums, auf zwei Stühlen, auf dem Schreibtisch, auf dem Boden lagen Bücher, Marx, Marcuse, Benjamin, Adorno, Althusser, Bourdieu, Dirk Baecker, Bücher, Bücher, Zeitschriften, Zettel.« (TiR, 42) Besonders über die Bedeutung Walter Benjamins für die Interpretation von Rot wird in der Forschung diskutiert.267 Offensichtlich ist die Wichtigkeit von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, die gegen Ende dieser Interpretation kontextualisiert werden. Auch für Linde scheinen diese Bücher aufschlussreich zu sein, scheinen ihm etwas zu sagen, erste Verbindungen zum Toten erkennen zu lassen. So beginnt sich langsam ein Mensch und dessen Vergangenheit durch und über die Bücher, die Notizen, die Dinge, die ihn oder sie umgeben haben, die durch diesen Menschen gesammelt wurden, zu formen. Eine Vorgehensweise, die sich deckt mit der Arbeitsweise Lindes, seiner Vorbereitung auf die Totenreden. Dieser Arbeitsweise begegnen wir bereits vor dieser Textpassage während eines Rückblicks auf eine Beerdigungsrede, bei der Lindes Affäre mit der verheirateten Lichtkünstlerin Iris, die eigentlich Helga heißt, begann. Eine junge, erfolgreiche Filmcutterin war »unvorstellbar schnell« (TiR, 17) an schwerer Krankheit gestorben. Die fassungs- und sprachlosen Angehörigen können wegen ihrer Trauer nur wenig berichten. Sie sind verstummt angesichts dieses schockierenden Todes. So versucht Linde, das kurze Leben der jungen Frau durch Videoaufnehmen und Fotos kennenzulernen. Aus Einzelbildern wird ein Leben zusammengetragen. Linde beschreibt: »Es ist für mich jedesmal wieder erstaunlich, wie aus den Erzählungen, den Fotos, den Zeugnissen langsam eine Person hervortritt, faßbarer wird und immer vertrauter […].« (TiR, 18f.) Anhand von Geschichten werden die Besonderheiten dieser Leben erzählt, aber auch die Versäumnisse und mitunter auch ein »moralischer Defekt« (TiR, 18) treten mit der Zeit hervor. Das Zusammensetzen eines Lebens aus Einzelteilen zeigt sich auch im Fall des zunächst unbekannten Toten. Wir erfahren erst später, bei einem weiteren Besuch in der Wohnung des Toten und zeitgleich mit Linde, dass 267 Während einige Interpretationen, etwa Friedrich 2006, auf Benjamin zurückgreifen, ohne jedoch explizit auf die den Roman durchziehenden Diskussionen über Abfälle einzugehen, wird eine zu starke Konzentration auf Benjamin von Ecker (vgl. Ecker 2007, er bezieht sich auf die Interpretation von Gerard Friedrich, vgl. Friedrich 2006) kritisiert. Ecker glaubt allerdings sehr wohl in dem zum Zeitpunkt seines Todes eine Aktentasche tragenden Linde eine Benjamin-Figur zu erkennen, der ebenfalls zu seiner Todeszeit eine Aktentasche mit Manuskripten mit sich geführt haben soll (vgl. Ecker 2007, 195, zu Benjamins Aktentasche vgl. etliche Hinweise im Band Walter Benjamins Archive, etwa im Vorwort (vgl. Walter Benjamin Archiv 2006, 9)).

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

es sich bei dem Verstorbenen um seinen ehemaligen Weggefährten Peter Aschenberger handelt, der zuletzt Peter Lüders hieß und wie Linde in die Studierendenproteste 1968 involviert war (vgl. TiR, 61: »Ich fand sogar ein Bild, das uns zusammen zeigt, wir stehen da, halten ein Plakat hoch. Spiegelbildlich steht darauf: Schluß mit dem Bombenterror in Vietnam.«) Nach der Auflösung des Rätsels, um wen es sich handelt, kommt das Verfahren weiter zum Zuge: Im Romanverlauf ergibt sich ein immer umfassenderes Bild von Aschenberger, eine Rekonstruktion dessen Lebens während der Studierendenproteste, aber auch nachdem sich die Freunde aus den Augen verloren haben. Zugleich kommt es auch zur Rekonstruktion von Lindes Leben. Linde erzählt mit vielen Sprüngen, Brüchen und Leerstellen einzelne Episoden, aus denen sich sein Leben zusammensetzt bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Roman einsetzt. Neben den Geschichten von Menschen kommen auch nichtmenschliche Akteure von Geschichten und Geschichte zur Sprache, teilweise mit dem Stilmittel der Personifikation. Am deutlichsten findet sich dies bezüglich der für den Roman so wichtigen Berliner Siegessäule, die mit der Geschichte Deutschlands, aber auch mit den individuellen Geschichten Aschenbergers, Lindes und auch Irisʼ verbunden ist (vgl. hierzu etwa die Episode TiR, 94-102).268 Die Siegessäule in die Luft zu sprengen, war der Plan Aschenbergers. Ein Plan, der vor allem, neben vielleicht anderen Gründen, die nicht zur Sprache kommen, durch seinen plötzlichen Tod vereitelt wird. In Aschenbergers Wohnung bezeugen Dinge und Pläne die Vorbereitungen für diese Tat, der wir durch den Blick Lindes gefiltert begegnen: »Immer wieder die Siegessäule. Eine Obsession, diese Säule, der Siegesengel, dachte ich, als ich an seinem Schreibtisch saß, als ich die Bauzeichnungen sah und die Daten, Unterlagen, Zitate, die er gesammelt hatte, las.« (TiR, 93) Warum Aschenberger dieses Symbol angreifen wollte, versucht Linde Iris zu erklären: »Der Siegesengel muß fallen, hat er geschrieben. Es war ihm ernst, wie du siehst. Es sollte nur ein Stumpf stehen bleiben, eine geborstene Säule, ein Kenotaph. Ein Zeichen setzen. Die Siegessäule als Ruine, wie die deutsche Geschichte.« (TiR, 220) Aus dem Symbol, aus dem Ding als Geschichtszeichen eine Ruine zu machen, war das Ziel Aschenbergers. Dass die geplante Ruinierung des Symbols mit dem individuellen Ruin stark verknüpft ist, kann als ein überzeugender kompositorischer Kniff von Rot gelesen werden. Besonders in Zusammenhang mit Benjamins Berliner Kindheit wurden die Unterschiede, aber auch die Überlagerungen von kollektivem und individuellem Erinnern sowie der Besonderheit einer mémoire involontaire herausgearbeitet.269 Christine Ruppert zeigt dies exemplarisch an Benjamins Denkbild Siegessäule. Der besondere Blick des Kindes auf die Siegessäule, freilich durch die Erinnerung des Erwachsenen Benjamin gefiltert, steht dem offiziellen Erinnern gegenüber. Die Verbindungen zu Rot sind offensichtlich: Auch hier wird anhand des Denkmals und die sich um es herum gruppierenden verschiedenen kleinen Anekdoten und Erzählstränge das Überlagern von Kollektiv und Individuum zur Sprache gebracht. Erzählt werden aber auch die Brüche und Leerstellen von Erinnerungen, seien sie nun individuell oder kollektiv.270 Das von Rup-

268 Vgl. hierzu Germer 2012, 211-230. 269 Vgl. Kapitel 4.3.2 dieser Arbeit. 270 Die Siegessäule und die dahinter stehenden Konzepte des Erinnerns stellen einen BenjaminBezug in Rot dar, der von der Timm-Forschung meines Wissens übersehen wird.

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pert herausgearbeitete Motiv des Großen, das sich im Kleinen und des Kleinen, das sich im Großen findet, ist für die nachfolgende abfallzentrierte Analyse von Rot ebenfalls von Bedeutung. Gleich in der Eingangspassage, die, wie geschildert, die erste und letzte Sekunde der Narration zugleich darstellt, sind zwei starke Bilder zu finden, die in ihrer Symbolkraft fast schon überzeichnet wirken. Das Auto, das Linde angefahren hat, landet im Schaufenster eines Uhrenladens. Der Verkehr steht still. Doch nicht nur der Verkehr ist stillgestellt, auch das generelle Fortschreiten scheint unterbrochen: Der Lebensweg Lindes kommt zum Halt. In diesem Augenblick, der, symbolisiert durch den zu Schaden gekommenen Uhrenladen, außerhalb der Zeit zu stehen scheint, gibt es einen der wenigen Momente der Klarheit und des Überblicks im Roman, wenn auch untrennbar verbunden mit der individuellen Katastrophe. Das Fehlen von Farben ist im gesamten Roman mit dem Tod, dem Sterben verbunden: Hier gibt es keine Farben mehr. Das Leben ist hingegen immer auch farbig. Das Auflösen der Farben fällt mit einer Sprachauflösung zusammen: Der verletzte Körper kann sich nicht mehr artikulieren: »Das Sprechen macht mir Mühe, große Mühe […]. Also nichts sagen. Schweigen.« (TiR, 8) Dieses erzählte Schweigen, das Aushalten, findet sich in der Totenrede für die junge Cutterin: Warum Tod ist, warum Leiden, warum wir darum wissen, ist eine Frage, auf die wir keine Antwort finden. Das macht das Bewegende dieser Frage aus. Es ist die Frage aller Fragen, sie erst gibt den Dingen und uns ihr Gewicht. Dieses Unaussprechliche kann im Gerede, im Bereden, Besprechen des Unbegreiflichen nur herabgewürdigt werden. So muß denn das Schweigen beredt sein – lassen Sie uns der Verstorbenen gedenken. (TiR, 22f.) Die Sinnlosigkeit des Todes kennt manchmal nur Schweigen als adäquate Reaktion. Diese Frage nach Sprechen und Schweigen, als Schweigenkönnen und Schweigenmüssen, weil Sprechen nicht möglich ist, durchzieht den gesamten Roman. Das Erzählen gleicht in Rot einem Wettlauf mit der Zeit: Erzählt werden kann nur solange der Erzählende, Linde, noch lebt. Erzählt werden kann aber zugleich nur, wenn erinnert wird. Oftmals sind es die materiellen Dinge des Alltags, die dieses Erinnern begleiten oder sogar erst möglich machen. Wie das Erzählen sind die Dinge jedoch vom Verfall bedroht. Das bringt uns wieder zurück zum Abfall und zum Auftrag Lindes, der zur Zeit des Unfalls kurz vor seiner Ausführung steht, nämlich die Leichenrede für den Freund Aschenberger zu verfassen und zu halten. Linde wird bei seinem ersten Besuch der Wohnung Zeuge, wie ein, für ihn und uns, namenloser Auflöser seine Arbeiten beginnt. Der Auflöser wurde vom vielbeschäftigten Sohn Aschenbergers mit den eigentlich für Menschen, die alleine gelebt und keine Angehörigen haben, so typischen Aufräumarbeiten beauftragt, die auch eine Prüfung von Wert und Unwert beinhalten: Der Auflöser klopfte an den Schrank, ging zum Schreibtisch, klopfte auf die Platte, sagte, fünfziger Jahre, furniert, nix wert, können Sie gleich auf den Müll geben, dann kehrte er zu den Regalen zurück, bückte sich, reckte sich, ging nochmals hin und her: Gott, sagt er, alles blau, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, Theorie des Realismus,

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Lukács, Wirtschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Rubinstein. Das Zeug gibt’s jetzt auf jedem Flohmarkt zwischen Stralsund und Gotha, auch für ne Mark, nimmt Ihnen niemand ab, also nee, die ganze linke Theorie ist hier im Osten wie bei einer Diarrhöe abgeprotzt worden. Der Auflöser blickte einen Moment nachdenklich zur Decke. Die Marx-Engels-Werke können Sie nicht mal ins Altpapier stecken, die DDR-Schinken sind ja auch noch in Plaste eingebunden. (TiR, 47)271 Obgleich sie aus ökologischer Sicht, ähnlich den in der Einleitung geschilderten Schuhen, als Hybriden nur schwer entsorgt werden können, stellen die Bücher auch in anderer, in übertragener Hinsicht Altlasten dar. Vor allem die Marx-Engels-Werke stehen für ein entsorgtes Gesellschaftssystem, dessen utopische Elemente in vielerlei Hinsicht in Dystopien umschlugen. Die Art, wie Linde den Auflöser beschreibt, seine die Augen verdunkelnde Sonnenbrille, dessen Ähnlichkeit mit den Hells Angels im Text markiert wird (vgl. TiR, 48) lässt an Figuren aus der Unterwelt denken. Zugleich manifestiert der Auflöser ein für Linde unverständliches Ausleben von Männlichkeit. Die Ähnlichkeit von Aschenbergers Wohnung mit der Unterwelt oder mit einer von der Außenwelt abgeschnittenen Höhle ist auch in einer weiteren Textpassage zentral. Isabelle Kranz hat in Zusammenhang mit Walter Benjamins Passagenarbeit Grotte und Höhle als Gegenwelt, als Ort des Irrationalen herausgearbeitet. Eine Gegenwelt, die, auch wenn sich Grotte und Höhle unterscheiden, beide eines gemeinsam haben, was sie wiederum mit der Pariser Passage verbindet: Sie teilen die Welt in ein Innen und Außen, wobei das Innen zwischen Licht und Dunkel changiert oder dunkel ist. Wenn Linde den toten Freund Aschenberger in einem Gespräch mit Iris als »Grottenolm« (TiR, 52) beschreibt, spielt er auf dessen Stellung jenseits von bürgerlichen Lebensentwürfen an, vielleicht gar jenseits von Nachvollziehbarkeit für Außenstehende, selbst wenn diese Außenstehenden eine ähnliche politische Sozialisation erfahren haben wie Linde und Aschenberger: »Der Korridor, das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer, alles vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften, Flugblättern. Ein Altpapierlager linker Literatur. Wie der da drin gelebt hat. Glaubst du nicht. Ein Grottenolm der Revolution.« (TiR, 52) Ein Grottenolm, der im Untergrund lebt. So ist es kein Zufall, dass Aschenbergers Wohnung als dunkel beschrieben wird und sich im Souterrain befindet (vgl. TiR, 42). In Grills Der Sammler war es neben dem Restaurant La Grotta ebenfalls eine Wohnung, die Wohnung Irgangs, die als Höhle, als Grotte, als Gegen- und Unterwelt fungierte. Neben den Parallelen zu Benjamin stellen die oben zitierten Passagen auch eine direkte Verbindung zum Roman Underworld her, der die Unterwelt bereits im Titel trägt. Die Unterwelt in DeLillos Text ist integraler Bestandteil des Alltags, ist die Kehrseite dessen, was wir sehen, ist verbunden mit Macht und Ohnmacht, mit Paranoia und immer wieder mit Abfällen.272 Eine Unterwelt, die sowohl stabilisiert, aber auch konterkariert wird durch Narrative,

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Vgl. hierzu auch die Art Deco Lampe, die als wertvoll erachtet und im Gegensatz zu den Büchern äußerst sorgfältig behandelt wird (vgl. TiR, 254). 272 Zapf 2002 liest den gesamten Roman als »symbolische Unterweltreise« (Zapf 2002, 184), eine »Irrfahrt durch ein labyrinthisches Reich von seltsam schattenhaft wirkenden, wenn auch durchaus präzis und detailgetreu beschriebenen Räumen, die von alltäglich-realistisch gezeichneten und doch zum Teil phantomhaft-surreal anmutenden Räumen bevölkert sind.« (Zapf 2002, 184)

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durch Geschichten, Mythen und Erzählungen. In Rot bleibt der Hinweis auf die Unterwelt, zumindest in dieser Passage, isoliert und bezeugt dennoch in der Figur des Auflösers ein ökonomisches Denken, das schonungslos trennt in wertvoll und wertlos, gut und schlecht, bewahrenswert und abfällig. Die Grotte als Gegenwelt findet sich in positiver Konnotation auch in einem völlig anderen Kontext wieder: Das Liebespaar Thomas Linde und Iris trifft sich im Zoo in einer Liebesgrotte. Auch hier fungiert die Grotte als Jenseits von Konventionen, als Zufluchtsort. Anders als die dunkle Wohngrotte Aschenbergers wird Iris, gemäß ihrem von ihr gewählten Beruf und Künstlernamen, mit Licht, mit Lebendigkeit assoziiert.273 Diese Lebendigkeit manifestiert sich kurz vor Lindes Tod in ihrer Schwangerschaft.274 Aber auch die Unterscheidung von Hell und Dunkel, von Leben und Tod lassen sich als Ausdruck eines binären Denkens lesen, das in seiner Gesamtheit in Frage gestellt wird. Hierzu später mehr. Neben der Figur des Auflösers findet sich auch Lüders bzw. Aschenbergers Sohn mit den materiellen Resten eines Lebens konfrontiert, reagiert eher hilflos und stellt die Bindung zwischen Menschen und Dingen in Frage: »Der junge Mann stand da, ein wenig ratlos, ja hilfesuchend sah er zu mir herüber. Er hat ja recht, sagte ich, wir denken immer, die Dinge hängen an uns, geben uns Dauer, aber wir sind ihnen gleichgültig.« (TiR, 48) Der Sohn kann das Leben, kann das Handeln seines Vaters und dessen Ansammeln von Dingen nicht verstehen. Ihm sind die Dinge seines Vaters, die Bücher gleichgültig. Sie werden ihm zum Ballast. Damit müsste er eigentlich auf das Verständnis von Thomas Linde stoßen. Auch Linde hat sich von Dingen befreit. Er lebt, so erfahren wir bereits zu Beginn des Romans, »in weißen leeren Räumen, ohne Ballast, etwas altmodisch […]. Zwei leere Zimmer in einer Dachwohnung, alles weiß. Ansonsten viel Grau und Schwarz, meine Dienstkleidung, altgetragen, aber gute Ware, Sachen, die man auch ausgefranst und mit Löchern tragen kann: Kaschmir, Baumwolle, Seide.« (TiR, 10f.) Sein Ideal ist, dass nach seinem Tod nichts zu entsorgen ist: »Ich kann jederzeit weiterziehen.« (TiR, 11) Im Gegensatz dazu scheint die Wohnung von Iris überladen, wird als Ort des Überflusses und des Farben- und Formenreichtums geschildert (vgl. TiR, 9f.). Wie genau Lindes Entsorgung der überflüssigen Dinge, mit denen sein Leben angefüllt war, sich vollzog, erfahren wir nicht, wohl aber den Zeitpunkt dieser Loslösung von den Dingen. Linde hatte sich in einer Lebenskrise gefunden, die zugleich Sprachkrise war. Er konnte während einer Beerdigungsrede plötzlich nicht mehr in seiner Trauerrede fortfahren und musste die Trauerfeier, musste Berlin und Deutschland verlassen: »In mir war es stumm geworden. Ein Gefühl des Selbstekels, des Selbsthasses.« (TiR, 149) Auf Sizilien findet er schließlich zu sich und zu seinem Beruf zurück – befreit sich aber nach seiner Rückkehr konsequent von materiellem Ballast, »von allem Überflüssigen« (TiR 154) und verzichtet von nun an auf das Wort »Hoffnung« (TiR 154). Was war der Auslöser für Lindes Krise? Um ihr auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein Blick auf

273 Zunächst weckt der Name Assoziationen zur Augen-Iris, die auch Regenbogenhaut genannt wird. Zur Blume Iris vgl. Bös 2012. 274 Der Geburts- und Fruchtbarkeitstopos wird auch von Lorenz 2012 aufgegriffen. Er liest die Iris-Figur als mythologische Figur, die für Linde »zugleich seine Kopfgeburt und Tochter« (Lorenz 2012, 273) ist.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

die Geschichten, die erzählt werden. Besonders anhand der immer wieder in den Text eingeschobenen Beispiele von Trauerfällen, bei denen Linde gesprochen hat, werden die grundlegenden, die großen Fragen des Romans formuliert: (1) Was bleibt? Was kann der Mensch mitnehmen? (2) Gibt es Sinn, gibt es Trost? (3) Gibt es Momente, in denen die Sprache versagen muss? Ein Grund für die Sprach- und Lebenskrise Lindes ist die Erkenntnis, dass es Trost nicht immer gibt. Stattdessen ist Scheitern untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden, auch für einen wortgewandten Beerdigungsredner: »Was für ein beschissener Versuch, immer wieder etwas Tröstliches herauszufiltern, sehr verehrte Trauergemeinde, diese Ratlosigkeit, diese Hilflosigkeit, das ist nicht durch Reden zuzudecken.« (TiR, 151) Hoffnung gibt es also keine. Dennoch lässt sich die Hilflosigkeit angesichts der Sinnlosigkeit des Lebens durch den Blick auf das Kleine, das Unscheinbare mildern. Mildern auch durch eine andere Form von Tun, durch Akte der alltäglichen Menschlichkeit. Zentrale Textpassage hierzu ist die Trauerrede auf einen Obsthändler. Ein Mann, dessen Biographie auf einige wenige Stationen heruntergebrochen werden kann, »in Berlin […] geboren, erhielt dort die Ausbildung zum Gärtner in den Parks von Sanssouci, geflohen in den westlichen Teil der Stadt, zog in einem Schrebergarten Gemüse, eröffnete einen Obststand, dann ein Obstgeschäft« (TiR, 335). Dennoch sind es die oftmals nicht erzählten Kleinigkeiten, die hinter diesen Lebensdaten selten Erwähnung finden: Die Freude des Obsthändlers am liebevollen und ästhetisch-kunstvollen Arrangieren der Ware, das Interesse an alten Apfelsorten, die er der Kundschaft zum Probieren anbot. Diese Eigenschaften werden als selten, als bewahrenswert geschildert vor dem Hintergrund der »Äpfel aus Neuseeland, Birnen aus Kalifornien und Kiwis aus Israel […], überzüchtete Sorten, die nur schön sein sollen, süß, haltbar für den Transport, alles andere ist dann egal.« (TiR, 335) Dass es sich nicht nur um isolierte Entwicklungen handelt, sondern die Veränderungen auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sind, legen andere Episoden in Rot nahe. Immer wieder werden in Episoden der Wandel und das unterschiedliche Verständnis von Arbeit entworfen. Ben, der Ehemann von Iris, ist erfolgreicher Controller. Dem Controlling sind wir schon in Siegried Lenzʼ Fundbüro begegnet. Ben ist beruflich mit Rationalisierung, mit Ordnen und Auslöschen befasst. So heißt es an einer Stelle, dass eine ganze Abteilung auf Kaffeekochen spezialisiert war (TiR, 127). Ob diese wegrationalisiert wird, bleibt offen. Der Obstverkäufer, und hier wird der Blick nostalgisch, setzt der Tendenz zu Rationalisierung und Perfektionierung Individualität entgegen, die auch das Fehlerhafte zulässt. Auch das Beerdigungswesen ist weitreichenden Veränderungen ausgesetzt. Linde kooperiert häufig mit dem Beerdigungsinstitut Thomson. Thomson ist ein »kleines Institut, das noch selbständig agiert und nicht zur Grieneisenkette gehört.« (TiR, 41) Sogleich wird im Zusammenhang mit dieser Kette, und hier ist nicht ganz klar, ob es sich tatsächlich um einen Werbespruch oder eine Persiflage handelt, der Satz zitiert: »Kommt der Tod, krieg keinen Schreck, Grieneisen schafft die Leiche weg« (TiR, 41): Das war Thomsons Zukunftsangst, diese anonymen Beerdigungen, dieser Verfall der Bestattungskultur, das Verbrennen, und dann in eine kleine, schnell rostende Dose, die einfach zu vielen anderen Dosen in die Erde gesteckt wurde. Was für ein Selbst-

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haß, wenn man sich derart aus der Erinnerung herausreißen will, sich selbst möglichst schnell vergessen machen will. Ein Nichts sein, sagte Thomson. Erinnerung und Gedenken, dazu gehört doch immer auch, daß man den Beruf nennt, was die Leute gemacht haben, ihr Leben. (TiR, 314f.) Aber in Rot wird auch klar: Der Tod ist eben auch Verdienstmöglichkeit, wenn entsprechende Dienstleistungen angeboten werden. Auch für Linde ist die Beerdigungsrednerei kein philanthropischer Akt, sondern ein Beruf, genauer ein Handwerk. Ein Handwerk, das erlernt werden musste und perfektioniert werden kann, wie sich in der folgenden Textpassage zeigt, die Linde als erfahrenen Beerdigungsredner ausweist: Ich habe zwei Obergattungen: Feucht und Trocken, und dann die Untergattungen: 1. philosophisch, 2. ökonomisch, 3. ökologisch, 4. ästhetisch. Du bist ein Zyniker, hatte Iris gesagt, als sie bei ihrem einzigen Besuch in dem sonst leeren Raum herumging und die Aufschriften der beiden auf dem Tisch liegenden Schnellhefter las, in denen ich die Reden verwahre. Seit wann ist Systematik zynisch? Nein, die nicht, aber das mit dem Trocken und dem Feucht. Ist genau der Unterschied. (TiR, 32f.) Dabei ist Linde nicht nur erfahrener Beerdigungsredner, sondern auch Sammler. Neben der schwarz-weißen Kargheit, die nach Entsorgung des Überflüssigen sowohl sein Berufs- wie auch sein Privatleben durchzieht, gibt es eine Farbe in Lindes Leben, die auch für den Roman titelgebend war: Die Farbe Rot.275 Linde trägt alles über diese Farbe zusammen, schreibt über sie. Bei der ersten Verabredung mit Iris, die später seine Geliebte wird und ihm von ihrer Lichtkunst berichtet, gesteht er ihr sein Projekt – alles zu sammeln und aufzuschreiben, was ihm zu dieser Farbe begegnet, »Erklärungen, Erläuterungen, Zitate, farbtechnische Untersuchungen […], eine Art Biographie« (TiR, 56). Monika Shafi zählt acht Textstellen, die naturalistische, traditionelle und symbolische Bedeutungen der Farbe archivieren und kommentieren, die sich im Kontext europäischer Farbkonventionen bewegen.276 Dabei sei, so Shafi weiter, die Beschäftigung mit der Farbe Rot begleitet, gar motiviert von einer »existenziellen Sinnsuche«277 . Dass es bei dieser Sinnsuche gerade nicht um Hoffnung geht, sondern um Trost angesichts der Hoffnungslosigkeit, wurde bereits angedeutet. Eine weitere Trostfunktion können auch die zu entsorgenden Bücher haben, wie etwa Ernst Blochs Spuren, das Linde an sich nimmt. Auch dieses Buch, das sich als wertvolle Erstausgabe entpuppt, wird vom Auflöser verworfen (»Können sich ruhig bedienen, die guten sind schon aussortiert, sagte der Mann mit der Bierflasche am kleinen Finger.« TiR, 253). Gleich nach dem Moment des Erkennens, welche Verbindung es zwischen ihm und dem toten Mann gibt, findet Linde in Aschenbergers Wohnung Sprengstoff, der als 275 Monika Shafi weist darauf hin, dass die drei Farben, die Linde begleiten, das Weiß seiner Wohnung, das Grau und Schwarz seiner Kleidung und das Rot, mit dem er sich schreibend und sammelnd beschäftigt, in der Anthropologie drei Körperflüssigkeiten symbolisierten: Milch, Exkremente, Blut (vgl. Shafi 2006, 47). 276 Vgl. Shafi 2006, 47. 277 Shafi 2006, 48.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

potentiell tödliches Ding die Möglichkeit und vielleicht sogar Wahrscheinlichkeit der Umsetzung von Aschenbergers Plan bezeugt. Es bleibt unklar, ob nicht auch die im Raum versammelte Literatur und Theorie neben dem tatsächlichen Explosivmittel als Sprengstoff interpretiert werden kann – wenn sie nicht nur gelesen werden, sondern Handlungen, Aktionen auslösen.278 Aschenbergers Bücher verlieren dieses Potenzial: Während die Bücher aus Aschenbergers Besitz, mit einigen wenigen Ausnahmen, Abfall und als Bücher damit verloren sind, gibt es auch für diese Bücher Schutzräume, die im Roman geschildert werden. Einer dieser Schutzräume ist das Antiquariat des ehemaligen Weggefährten Krause, das Linde und seine Freundin Iris in Anklam besuchen. Eine Erkundungs- und Ausflugsfahrt in räumlich (Anklam) wie auch zeitlich (die gemeinsame Vergangenheit) entfernt liegende Bereiche: Da standen und lagen sie in Holzregalen, grau und schon jetzt stockfleckig, die 68er Literatur, Bücher, die auf ihre Opfer warteten, um denen, die nach ihnen greifen, sie lesen, wie die Vampire das Leben auszusaugen. Bücher, Bücher, Bücher. Gängiges wie Abgelegenes. Erstausgaben, Handdrucke, Manifeste, Nachdrucke von Kropotkin, Bakunin, Landauer, Mühsam, handabgezogene Manifeste […]. (TiR, 290)279 Dabei kommt den, gleich ob verworfenen und weggeworfenen oder bewahrten und gehegten, Büchern im Text noch eine weitere Funktion zu. Uwe Timm beschreibt in seinen Paderborner Poetikvorlesungen das literarische Schreiben als einen Verdichtungsprozess solcher Partikel: »Im Geflecht eines fiktionalen Textes findet eine Verdichtung von Realitätspartikeln statt.«280 Die Bücher sind somit auch als Referenztexte auf die außerfiktionale Realität zu sehen, sind Spuren, denen gefolgt werden kann, sind Möglichkeiten. Möglichkeiten, denen innerhalb des Textes mit der Vermüllung von Aschenbergers Büchern ein Ende gesetzt wird. Im Verlauf des Romans sieht sich Linde mit der Aufgabe betraut, den Sprengstoff zu entsorgen. Wenn Linde sich tatsächlich des Sprengstoffs entledigen würde, käme auch dies einer Entsorgung oder auch Vernichtung von Möglichkeiten gleich: Der Möglichkeit, Aschenbergers Plan auszuführen. Iris sieht in der Vernichtung von Möglichkeiten kein Problem. Der Sprengstoff muss schnellstens entsorgt werden, so ihre Forderung. Auch in Bezug auf andere Möglichkeiten entscheidet sich Iris gegen ein Offenhalten: So entscheidet sie sich im Verlauf des Romans für ihre Beziehung mit Linde und gesteht ihrem Ehemann Ben ihre Affäre. Die Entsorgungsaufforderung an Linde betrifft jedoch nicht nur den Sprengstoff, sondern schließt auch dessen politische Vergangenheit ein, die Iris fremd und antiquiert erscheint: »Das ist doch kindisch. Entschuldige. Nein. Schmeiß es weg, das Zeug. Halte deine Rede auf diesen Aschenberger, und vor allem auf dich selbst. Du bist es nämlich, du hast eine Leiche im Keller. Rede darüber und begrab sie. Du wirst dann ein anderer sein. Danach wird die Welt anders sein.« (TiR, 276) Bis

278 So auch Hans-Peter Ecker, wenn er schreibt, dass gegen Ende des Romans »Aschenbergers Sprengstoff […] schon längst in unseren Köpfen deponiert« (Ecker 2007, 201) sei. 279 Dieser Ausflug findet sich auch in Freitisch, dort allerdings retrospektiv erzählt und kommentiert (»Ich musste an einen alten Mitkombattanten denken, der hier mal mit einer jungen Freundin und einem roten Porsche aufgetaucht war. Einfach peinlich.« (TiF, 23)). 280 Timm 1993, 70.

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zum Ende des Romans begegnet Linde dem von Iris so eindringlich formulierten Anliegen mit einer, zumindest in Bezug auf den Explosivstoff, Entsorgungsverweigerung. Ob er seine politische Vergangenheit entsorgt hat oder dies tun wird, bleibt hingegen offen. Anzeichen hierfür gibt es, so beschreibt Linde sich in einer Diskussion als keiner politischen Gruppe oder Überzeugung zugehörig: »Ich bin Freibeuter. Ich segle allein.« (TiR, 110) Nicht nur zwischen Büchern und Sprengstoff, sondern auch zwischen Abfall und Sprengstoff bestehen weitreichende Verbindungen: Moderne Sprengstoffe, die das Schwarzpulver ablösten und chemische Verbindungen oder eine Mischung chemischer Verbindungen sind,281 werden im zivilen Bereich zur Gewinnung von Gestein in Tagebauen sowie im Bergbau eingesetzt. Aktivitäten, die wiederum, zum Teil problematische und mengenmäßig immense, Abfälle erzeugen.282 So heißt es in einer Abfall-Broschüre des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: »Bau- und Abbruchabfälle sind neben den Bergbauabfällen hinsichtlich der Menge der größte Abfallbereich. Oft handelt es sich um Gemische aus mineralischen Abfällen, Holz, Metallen, Papier und Kunststoff, die teilweise auch mit gefährlichen Stoffen belastet sind.«283 Neben der Gewinnung von Rohstoffen sind Sprengstoffe eng verbunden mit der Schaffung von Infrastrukturen, sie kommen im Verkehrswege- und Tunnelbau zum Einsatz.284 Der Sprengstoff vereint also Konstruktion mit Destruktion und wird zur Wegsprengung von Altem und zur Schaffung von Neuem genutzt. Noch deutlicher wird diese Kopplung an Destruktion im militärischen Bereich und in der Kriegsführung.285 Hier werden Sprengstoffe eingesetzt als Füllmittel für Granaten, Bomben und Minen, als Köpfe von Raketen und Torpedos, bei terroristischen Anschlägen sowie in Atomwaffen zur Einleitung der Kettenreaktion. Auch der Terrorismus, und ein terroristischer Akt wäre die Sprengung der Siegessäule, arbeitet mit dem Verschmelzen von Destruktiv- und Konstruktivkraft. Solange Aschenbergers Sprengstoff nicht entsorgt wird, bleibt beides, seine destruktive und konstruktive Potenzialität erhalten. Die Entsorgungsverweigerung hinsichtlich des Sprengstoffs resultiert in Rot zugleich aber auch aus einer ganz banalen Unkenntnis, die uns vor Augen führt, wie sehr wir in unserem Entsorgungsalltag in

281 Vgl. Böddeker 2001, 383f. 282 Zygmunt Bauman formuliert zum Konnex von Bergbau und Abfall: »Der Bergbau […] ist Inbegriff des Zerbrechens und der Diskontinuität. Das Neue kann nicht geboren werden, wenn nicht etwas anderes abgelegt, weggeworfen oder zerstört wird. Das Neue wird geschaffen im Verlauf der peinlich genauen und unbarmherzigen Trennung des Zielprodukts von allem anderen, das seiner Entstehung im Weg ist. Reine Metalle, ob wertvoll oder schlicht, erhält man nur, indem man Schlacke und Asche vom Erz trennt. Und an dieses Erz kommt man nur heran, indem man Schicht und Schicht des Bodens, der den Zugang zur Lagerstätte blockiert, abträgt und auf Halde legt – nachdem zuallererst der Wald, der der Einrichtung des Bergwerks im Wege war, abgeholzt oder niedergebrannt wurde. […] Die Chronik des Bergbaus zeigt uns einen Friedhof von verbrauchten, abgestoßenen und aufgelassenen Erzadern und Schächten. Bergbau ohne Abfall, ohne Abraum, ist nicht vorstellbar.« (Bauman 2005b, 33f., Hervorhebung dort) 283 BMU 2011, 17. 284 Zum Tunnelbau vgl. Böddeker 2001, 385-387. 285 Zu Militärsprengstoffen vgl. Böddeker 2001, 387.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Systeme, Infrastrukturen, Gewohnheiten sowie Ver- und Gebote der Entsorgung eingebunden sind: Wie entledigt man sich einer Ladung Sprengstoff? Linde lebt, nachdem er den Stoff an sich genommen hat, in der ständigen Angst, dass eine unbedachte Bewegung oder das Wühlen seiner neugierigen Reinigungskraft zu einer Detonation führen könnte. Er besucht einen Sprengmeister, um zu recherchieren und tarnt den Besuch als eine andere Recherche: Linde gibt vor, die Trauerrede für einen Sprengmeister halten zu wollen (vgl. TiR, 343). Zuvor hat er im Foyer des Sprengunternehmen-Büros Zeugnisse der Sprengkunst studiert. Nebeneinander gehängte Fotos, Bildsequenzen (»Schwarzweißfotos mit einem eigentümlichen ästhetischen Reiz« TiR, 341) zeigen Sprengungen, die die Auslöschung in fünf Schritten vom intakten Gebäude bis zur vollzogenen Sprengung dokumentieren. Diese Fotos machen Linde Lust auf den kunstvollen Vorgang, dessen gewünschtes Resultat immer Vernichtung ist: »Und jedesmal ist am Ende ein triumphaler Schutthaufen zu sehen.« (TiR, 342) Während Linde im Gespräch mit Sprengmeister Bechmann zunächst wertvolle Informationen zur Art und Gefährlichkeit von Aschenbergers Sprengstoff sammeln kann (vgl. TiR, 344f.), wird Bechmann im Gesprächsverlauf zunehmend misstrauischer, vor allem, da »vor ein paar Wochen […] schon mal jemand da [war], der danach gefragt hat.« (TiR, 345) Obgleich offen bleibt, wer der Frager war, liegt die Vermutung nahe, dass sich im Büro des Sprengmeisters die Wege von Aschenberger und Linde nach Aschenbergers Tod noch einmal kreuzen. Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass eine Diskussion des Vorgangs eines gnadenlosen Beseitigens, eines gewaltvollen Wegsprengens für die Interpretation von Rot zentral ist. Der Vater von Thomas Linde war Architekt. Auch er arbeitete an der Beseitigung von Altem. Dies erfahren wir bei einem Besuch Lindes bei der Mutter in Norddeutschland, bei dem er auf der Anreise im Taxi an den von seinem Vater gestalteten Gebäuden vorbeifährt. Lindes Vater war Anhänger der funktionalen Nachkriegsbauweise, die architektonisch nach 1945 einen Neuanfang markieren sollte und für die Linde nur Verachtung übrig hat: »Mit welcher Blödheit, ja mit welchem Selbsthaß da entkernt, abgerissen, umgebaut wurde, kann nur damit zusammenhängen, daß man seine Geschichte auslöschen wollte. Was ja auch wieder verständlich ist, bei dieser Geschichte. Ein Neuanfang mit Glasziegeln, rosafarbenem Kunststoffwindfang und Aluminiumlamellen.« (TiR, 112) Eingewoben in die Reflexionen Lindes über die Nachkriegsbauweise ist die Geschichte der drei Brüder, die er der imaginierten Trauergemeinde erzählt: »Es waren einmal drei Brüder, die haben die Bundesrepublik aufgebaut.« (TiR, 118) Es folgt die Spezifizierung: »Der erste war Architekt und sehr fleißig, der zweite machte eine Erfindung, wurde Fabrikant und war sehr faul, und der dritte war Wirtschaftsanwalt und ausgesprochen zäh.« (TiR, 118) In der nachfolgenden detaillierten Ausbreitung dieser Geschichten macht Linde aus der Vorliebe für den faulen Bruder, seinen Onkel Udi, kein Geheimnis. Udi ist es auch, der Musik liebte, Pianist werden wollte und schließlich durch seine Erfindung reich wird. Neben den Geschichten blieben Thomas Linde von Udi auch dreizehn Paar Schuhe, die er erbte (vgl. TiR, 119). Dem Vater hingegen bringt Linde ambivalente Gefühle entgegen, vergleicht dessen Herangehensweise mit der Fülle in Irisʼ Wohnung:

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Natürlich hatte der Vater hohe Ziele. Er wollte alles einfach, alles schlicht, nach der Zeit der bombastischen Gefühle, Aufmärsche, der aufgedonnerten Nazibauten. Funktional, das war sein Leitwort. Keine Schnörkel. Ich hätte ihm gewünscht, die Wohnung von Iris zu sehen, all das, was er von seinen Eltern her kannte, was er abschaffen wollte, radikal entrümpeln, ist bei Iris in einer Edelvariante zurückgekehrt. Mit dem Unterschied: Damals war das tiefernster Repräsentationsdekor, während es bei Iris Spielerei ist und Provokation. (TiR, 113) Während bereits anhand der Siegessäule die Verwobenheit von Macht und Architektur zur Sprache kam und somit auch die Einschreibungen von Macht und Gewalt in Dinge und Orte, wendet sich der Text explizit gegen die Idee des restlosen Beseitigens dieser Verbindungen, gegen die Operationen Sprengen, Abriss, Rückbauen. Der Abriss von Bauwerken bedeutet nicht automatisch ein Niederreißen von Ideen. Aber auch das Spiel, verkörpert durch Lichtkünstlerin Iris, bleibt ambivalent: Die Verluste einer restlosen Ästhetisierung sind ebenfalls groß, weil eine restlose Ästhetisierung das Potenzial einbüßt, das im Aushalten des Abfallstatus liegt. Zugleich verweigert sich diese restlose Ästhetisierung auch den Möglichkeiten, die gerade im ungeklärten Status von Dingen liegen. Iris hat die Idee, die Siegessäule nicht zu sprengen, sondern zu illuminieren: »Weißt du, was hier her muß? Licht! Kein Sprengstoff! Mit Laserschrift auf die Säule projizieren: Auszüge aus den Reden von Bismarck, aus Briefen von Kriegsfreiwilligen, Zitate aus Mein Kampf.« (TiR, 102)286 Wie gestaltet sich das Verhältnis von Abfall und Kunst in Rot? Zu Beginn dieses Unterkapitels wurde an Roger Behrens Forderung nach einer Vermüllung der Ästhetik erinnert, die einer Ästhetisierung von Abfällen vorzuziehen wäre. Behrens schreibt: »Herausfordern läßt sich die kapitalistische Müllproduktion aber nicht durch eine Wahrnehmbarmachung durch die Kunst, sondern nur indem die Kunst als unmißverständliche ästhetische Anklage fungiert, die schließlich eine praktische Herausforderung provoziert. Statt einer Ästhetisierung des Mülls bedarf es also einer Vermüllung der Ästhetik […].«287 An den Beispielen des Künstlers Horch und des Nichtkünstlers Aschenberger wird nachfolgend anhand des Umgangs mit Abfällen diskutiert, wie Kunst in Rot weniger mit dem schöpferischen Akt verbunden ist, sondern mit einer Sammelbewegung. Eines der Kunstwerke Horchs hatte die Aufmerksamkeit von Iris in Lindes ansonsten karg eingerichteter Wohnung auf sich gezogen. Bei diesem Bild handelt es sich um eine Abfallcollage, die dadurch ihr Material findet, dass, wie Linde erklärt, der Künstler Horch »Putzfrauen Berliner Dichter aufspürt und sie bittet, auch zuweilen besticht, für ihn Manuskriptseiten aus dem Papierkorb zu sammeln« (TiR, 14). Es folgt eine ausführliche Beschreibung des Kunstwerks: Der Horch ist kein Bild im herkömmlichen Sinn. Was da gerahmt und etwas erhaben unter Glas zu sehen ist, sind maschinenbeschriebene Seiten, teils sorgfältig gefaltet, teils geknüllt, den Gehirnwindungen ähnlich, sodann fixiert, und in der Mitte, auf der 286 Shafi fasst diesen Unterschied als symptomatisch für einen Wandel von Moderne zu Postmoderne, von moderner zu postmoderner Politik- und Geschichtsauffassung (vgl. Shafi 2006, 52). 287 Behrens 1994, 29.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Papierlandschaft, liegt eine von Stiefelabdrücken verdreckte, abgestempelte Stechkarte eines Bauarbeiters, alles Trouvaillen, allerdings gezielt gesucht, und darauf kommt es an. (TiR, 14) Vielerlei erinnert in den Horch-Textpassagen an Benjamins Sammler. Etwa die Bindung des Sammlers an seine Sammelstücke. Horch erklärt bei seiner ersten Begegnung mit Linde – er hatte ihn gebeten, eine Trauerrede für seinen Vater zu halten – zu den Betrachtern seiner Kunst: »Nicht, was sie sehen oder lesen, ist entscheidend, sondern allein, wie sie es sehen und lesen. Das ist wie eine Brille, die man diesen Leuten aufsetzt, verschieden geschliffen und getönt, bis hin zur Blindenbrille.« (TiR, 266) Dabei hängt die Entscheidung, was Kunst ist oder nicht, mit dem Blick auf Dinge zusammen: »So wie man die Dinge sehen will, so blicken sie zurück. Es sind die vorgeschriebenen Sehweisen, die bestimmen, was Kunst ist.« (TiR, 266) Was für die Kunstwerke Horchs gilt, lässt sich auch auf Abfälle übertragen: Sehen wir etwas als Abfall, ist es Abfall, sehen wir es als Kunst, ist es Kunst. Horch fasst die Mechanismen der Wertschöpfung im Mikrokosmos Kunst zusammen: Alles kommt auf den Künstler an, wie er sich darstellt, wie er selbst Teil seines Produkts wird, ihm erst die Aura verleiht. Was ich mache, könnte natürlich auch ein anderer machen, aber erstens muß man erst mal die Idee haben, wobei ich Ideen nicht so hoch einschätze, Ideen sind die Läuse auf dem Kopf, zweitens aber die begleitenden Formen entwickeln, die Kombination, darauf kommt es an. (TiR, 266) So erfolgt im Falle Horchs eine Reintegration von Abfällen im Schutzraum Kunst. Eine Integrationsleistung, die Alfred Irgang nicht gelingt, ihm so lange verwehrt bleibt, bis andere ihn zum Objekt des Sammelns machen. Auch kommen die Gemeinsamkeiten vom Abfallkünstler Horch und Linde, dem Beerdigungsredner, zur Sprache: »Wir beide sind die Abfallsammler. Die Welt ist eine Ansammlung von Entwürfen, die alle irgendwann auf die Müllhalde wandern.« (TiR, 268)288 Der Materialität von Leben widmen sich beide. Die Sammelorte Horchs sind neben Abfalleimern vor allem die Straßen der Stadt. Linde lässt durch die Sammlung von Geschichten über die Verstorbenen seine Werke – die Trauerreden – entstehen. Somit ist sowohl für Horch als auch für Linde die aufsuchende Gehbewegung zentral für die Entstehung der jeweiligen Werke. Auch zur Vorbereitung auf Reden versucht Linde gehend einen Einstieg in den Text zu finden, dem oder der Verstorbenen sich gehend zu nähern – und trifft bei diesen Geherkundungen mitunter auf Horch: »Hin und wieder, wenn ich in der Nacht vor einer Beerdigung herumlaufe und noch über einer Rede grüble, treffe ich Horch auf der Straße. Immer den Blick auf den Boden gerichtet, hält er Ausschau nach gezeichneten Dingen, Dingen, die etwas über ihren Gebrauch und über die erzählen, die sie gebraucht haben.« (TiR, 273) Den gezeichneten Dingen widmet sich Uwe Timm auch in seinen Poetikvorlesungen: »Die gezeichneten Dinge, so will ich sie einmal nennen, also jene, die mit den

288 Dazu Markus Lorenz: »Der Beerdigungsredner wird zum kreativen Abfallverwerter. Er liest die Spuren dessen, was Wiederholung (eines Ur-Ab-Falls) ist und gerade so als Spur und Wiederholung die novellistischen Begebenheiten, zwar im vorgeprägten und vorzitierten Schema, und doch als unerhörte, erzählerisch herausfordert.« (Lorenz 2012, 290)

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Menschen in Kontakt kamen oder aber von ihnen hergestellt wurden, haben ihre Geschichte, die umso viel-sagender ist, je mehr diese Dinge durch Gebrauch abgenutzt, absichtlich oder unabsichtlich ›verletzt‹ wurden.«289 Ein dritter Gehender findet sich in Rot: Aschenberger. Er verdiente seinen Lebensunterhalt durch alternative Stadtführungen (vgl. TiR, 48). Der Stadtgänger Aschenberger führte interessiertes Publikum vor allem zu Friedhöfen und an andere historisch wichtige Orte, nicht der Universalgeschichte, sondern auch von alternativen Geschichtsschreibungen (vgl. etwa die Stadtführung, die Linde und Iris auf einer Videoaufnahme sehen, und die die Besucher unter anderem zur Berliner Hauptsynagoge und zum Dorotheenstädtischen Friedhof führt, vgl. TiR, 277-282). Obgleich Aschenberger einen Schwerpunkt seines Erzählens auf den Widerstand gegen Uniformiertheit und Obrigkeitshörigkeit legt, lässt sich auch bei ihm, so zumindest eröffnet es sich den Betrachtenden, ein Vorauseilen und Fortschreiten erkennen, das zu Verlusten führt (»Dann eilt er weiter voraus, schnell geht er, der weiße Regenmantel weht aus, er huscht zwischen Passanten hindurch, hinter ihm vier Frauen, die versuchen, Schritt zu halten.« (TiR, 297f.)) Wie Horch, wie Linde nutzt auch Aschenberger Abfallgeschichten, um damit sein ökonomisches Überleben zu sichern – ohne dabei etwa wie Horch Berühmtheit zu erlangen. Während Horch seine Funde in Kunst verwandelt, ist die Kunst für Aschenberger keine Option des Umgangs mit Dingen. Nach seinem Tod, nach der Auflösung seiner Wohnung findet Linde eine handschriftliche Notiz Aschenbergers zur Kunst in der Erstausgabe von Ernst Blochs Spuren. Sie lautet: »Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen. Was in der Tatsächlichkeit als Utopie, Phantasterei, Umsturz gilt, ist dort gestattet. […] Was in der Kunst geschieht, verpflichtet zu nichts.« (TiR, 254, Hervorhebung dort) Während bei Bloch Kunstwerke und generell Kunst als Vor-Schein einer zukünftigen, einer besseren Welt zu lesen sind,290 sieht Aschenberger in ihr nur eine Spielwiese. Obgleich er wie Horch und wie Linde sammelt, ist Aschenberger eher Chronist und Archivar, der die Fundstücke zu einem Wahnsystem verbindet. So bleibt Aschenberger eine Figur, die nicht loslassen kann. Darin ähnelt er der Mutter von Linde, die sich als Sammlerin von Erinnerungen mit einem »Fotofriedhof« umgibt, »all die kleinen und etwas größeren, in Kirschholz oder Silber gerahmten Fotografien von Verwandten, Freunden, guten Bekannten, die schon tot sind.« (TiR, 171) Die Erinnerungen drohen zu erstarren, Leben zu ersetzen. Eine andere Form der Bewahrung findet sich in Lindes Schreiben über die Farbe Rot, hier überlagern sich Schreibbewegung und Sammelbewegung. VorSchein und Lebendigkeit werden im Roman in erster Linie im Bereich der Musik verortet, besonders wenn es sich um spontane Ausbrüche handelt, etwa von Freude und Gemeinschaft. Hierfür steht die Passage, in der Linde Iris von seinen Erinnerungen an die 1968er Proteste und einem überraschenden gemeinsamen Anstimmen der »Inter-

289 Timm 1993, 24f. Zu den gezeichneten Dingen vgl. auch Schöll 2006, 132 und Lorenz 2012, 142. 290 Zu Blochs Ästhetik vgl. Vidal 1994, besonders 39-76, zum Vor-Schein auch die Einleitung in Ueding 1974, 7-27.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

nationale« berichtet oder von einer Frau erzählt, die bei einer Diskussion über Gramsci ein Lied anstimmt (vgl. TiR, 73).291 Während also in Rot sowohl dem Prozess des Wegsprengens, dem, wenn auch nur scheinbaren, restlosen Entsorgen, aber auch der Integration durch Kunst Widerstände entgegengeschrieben werden, ist es eine andere Bewegung, die ebenfalls in vielfachen Varianten erzählt wird: die der Auflösung, des Verfalls. So lässt sich der Roman auch lesen als Sammlung von Geschichten über Auflösungs- und Verfallsbewegungen, Bewegungen, die weitaus langsamer und weniger eindeutig verlaufen als das Wegsprengen, Entsorgen und Integrieren. Zentral ist die fast über die Gesamtheit des Romans sich vollziehende Auflösung der Wohnung Aschenbergers. Zugleich, dies wurde ebenfalls bereits angesprochen, lösen sich Unklarheiten, die mit dem nichtchronologischen Einstieg verbunden sind. Hier meint Auflösung Entschlüsselung. Steht am Anfang noch die Frage, wer ist oder wer war dieser Aschenberger, kann sich die Leserin durch Episoden aus der Vergangenheit dieser Person, durch Spuren und Momente, die zugleich nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen und stets gefiltert und ausgewählt sind durch die Erzählinstanz, der Person nähern. Nicht nur die Person Aschenberger bzw. Lüders, sondern auch ehemalige Weggefährten Lindes, etwa Edmund oder Krause gewinnen so an Kontur, um zugleich aber bruchstückhaft zu bleiben. Ein weiteres Verfahren der Annäherung an Personen: Dialoge, in denen Fragen gestellt werden und sich Menschen zugleich in Frage stellen, in Widersprüche verwickeln. Dieses Verfahren kommt besonders bei den Hauptpersonen der Erzählgegenwart des Textes zum Tragen: Protagonist Thomas Linde, seine Geliebte Iris, deren Mann Ben, die gemeinsame Bekannte Nilgün, eine Kommunistin, mit der sich Linde über politische Ideale der Vergangenheit und Gegenwart austauscht.292 Auflösung kann zugleich interpretiert werden als Prozess der Ab- bzw. Loslösung von der Vergangenheit, von der Theorie und der eigenen Lektürevergangenheit.293 Gefestigte Weltbilder lösen sich auf: Oliver Jahraus beschreibt diese Auflösung einer gefestigten politischen Identität Lindes als Abwendung von Politik und Hinwendung zur Ästhetik und Erotik.294 291 Zu dieser Episode vgl. auch Albrecht 2006, besonders 9-15. 292 Die Frauen in Rot näher in den Blick zu nehmen, wäre lohnenswert. Borries 1995 arbeitet in einem Aufsatz, der allerdings vor der Publikation von Rot erschien, anhand diverser Romane Timms kritisch heraus, wie Frauen in Timms Texten Nebenfiguren mit wenig Handlungsmacht bleiben: »Nur wenige weibliche Wesen in Uwe Timms Romanen vermögen sich als konturierte Persönlichkeiten mit ausgeprägter Individualität in der Männerwelt zu behaupten, die meisten scheinen ihr erfahrungsarmes Dasein im Schatten der Männer zu führen, die die Geschicke des Lebens auch im Roman bestimmen. » (vgl. Borries 1995, 292f.) Dies betrifft auch und gerade seinen Roman über die Studierendenproteste, Heißer Sommer (1974). Hier wird diese einseitige Perspektive jedoch durch die Erzählfigur Ullrich durchaus registriert und kommentiert (vgl. Borries 1995, 295). 293 Vgl. Cornils 2006, 57-59. 294 Vgl. Jahraus 2007. Jahraus bezeichnet dabei die beiden biographischen Lebenslinien Lindes, die im Roman ausgebreitet werden, Politik und Erotik, die sich zum Zeitpunkt seines Unfalls in der Figur Aschenbergers bzw. der Trauerrede für den toten Freund und in seiner Beziehung zu Iris manifestieren, als beide mit dem Tod verbunden: »Genau zwischen diesen beiden Polen und Positionen, zwischen dem Politischen und dem Erotischen, schlägt der Tod zu. Dass zwischen diesen Positionen der Tod lauert, ist kein Zufall, weil beide Positionen selbst mit dem Charakter eines Endes markiert sind. Auf der einen Seite trägt Thomas Linde seinen alten Freund zu Grabe, auf der anderen Seite kommt seine Beziehung an ein wie auch immer geartetes Ende.« (Jahraus 2007, 179)

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Gemeint ist mit Verfall, mit Auflösung auch die körperliche Auflösung des Freundes und ehemaligen Weggefährten. Linde, wie eine kurze Schilderung fast zu Ende des Romans zeigt, hat den toten Aschenberger noch einmal sehen wollen und stattet den Überresten seines Freundes deshalb einen Besuch im Leichenschauhaus ab. Im klinischen Ambiente, weiß gekachelte Wände, Gänge mit grauen Kunststoffbelägen, weißes Neonlicht, ein, wie es heißt, »gnadenloses Licht, in dem, so schien es, nichts verborgen bleiben konnte« (TiR, 385), begegnet er ihm ein letztes Mal. Genauso karg, genau so nüchtern wie das Neonlicht ist auch die Schilderung des toten Körpers: Seine Hände lagen so gleichgültig auf dem Köper, sein Gesicht grau mit grauem Bartwuchs, grau das Haar, verrutscht, eine Perücke, er trug eine Perücke, aber dann, mit einem tiefen Schreck, sah ich, daß ihm der Schädel aufgesägt worden war und man ihm die Kopfhaut zurück auf die Schädeldecke gelegt hatte. Die Augen, geschlossen, waren eingesunken, violett umrandet, schmal sah er aus und so, als fröre er, lag da in dieser eisigen Verlorenheit, mit einem einzigen unstillbaren Wunsch nach Wärme. (TiR, 385) Zwar sind die Augen noch violett umrandet, es ist noch Farbe da. Dennoch scheint sich Grau auszubreiten.295 Das erbarmungslose Licht, dem nichts entgeht, trifft auf den Tod. Auch Der Sammler, wie Rot eine Fallgeschichte, erzählt kontinuierlich von dem unausweichlichen Verfall und der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers. Während Alfred Irgang in Der Sammler seinen Verfall etwa in Form seiner ausgefallenen Haare sammelt, ohne gegen diesen Verfall anzusammeln, wollen sich in Rot viele Menschen mit dem Zurückgeworfensein auf den Körper nicht arrangieren. Lindes Ex-Frau Lena kämpft mit Schönheitschirurgie gegen das Älterwerden (vgl. TiR, 176, 179).296 In einer Episode erzählt Linde erinnernd von seiner Zeit als Klubanimateur in Marbella (vgl. TiR, 295 Die Farbe bzw. Nichtfarbe Grau wird im Roman nicht nur mit Aschenberger verbunden (vgl. Lorenz 2012, 175f. zu den Überlagerungen des an Rot anknüpfenden Timm-Romans Halbschatten in den Figuren Aschenberger und der Graue, diese Überlagerungen betreffen zum Teil aber auch Linde). Grau erinnert zudem an Asche (vgl. dazu unten mehr) und rückt Aschenberger auch in die Nähe zu Thomas Manns Figur Aschenbach (vgl. hierzu auch Lorenz 2012, 176). Die Bücher, die sowohl Aschenberger als auch Linde in der Vergangenheit so viel bedeuteten, sind im Jetzt des Romans grau (vgl. den Besuch in Krauses Antiquariat und die bereits zitierte Textstelle »Da standen und lagen sie in Holzregalen, grau und schon jetzt stockfleckig, die 68er Literatur« TiR, 290). Grau nimmt jedoch in Rot, im Gegensatz etwa zu den grauen Herren in Momo, die durch ihre graue Kleidung und Gesichtsfarbe Konformität, Verfall und Sterilität personifizieren, zumindest teilweise die Funktion einer Trost(nicht)farbe und eines Kristallisationspunktes ein – Grau entsteht, wenn alle Farben übereinander liegen. Dieses Motiv der Überlagerung findet sich in Rot auch immer wieder in Bezug auf das – kollektive wie individuelle – Erinnern: »Das Erinnern steckt in den Zellen der Großhirnrinde, und das ist alles […]. Es arbeitet wie ein Scheinwerfer, einer dieser schnellbeweglichen Scheinwerfer auf Polizeiwagen, die von innen gedreht werden können, es soll ja etwas aufgehellt, entdeckt werden, hier strahlt er in die Vergangenheit, erfaßt immer wieder Orte, Situationen, erhellt die sich darin bewegenden Menschen, ihre Eigenarten, Besonderheiten, dann werden sie mit anderen wie bei einer Gegenüberstellung konfrontiert, werden auf Details untersucht: Geruch, Bewegung, Stimme, Sprache. Schablonen werden übereinandergeschoben und verglichen […].« (TiR, 51) So ist Grau die letzte Farbe und eines der letzten Worte im Roman (vgl. TiR, 394). 296 Zur Schönheitschirurgie vgl. auch Kapitel 5.6 dieser Arbeit.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

197-207). Seine Kollegin Tessy hatte Probleme mit einem Leben, das nur aus Schein und guter Laune zu bestehen hat. Tabletten- und Alkoholabhängigkeit resultieren schließlich im Suizid Tessys: »Sie konnte sich endlich ausruhen. Endlich, nach all den Jahren der Schlaflosigkeit. Sie war stark und schön und gesund. Sie war dafür da, gute Laune zu verbreiten. Keine Traurigkeit aufkommen zu lassen. Die schwerste Arbeit der Welt.« (TiR, 206) Auch die Lebensgeschichte der Jazzlegende Charlie Parker wird als Geschichte des Verfalls erzählt (vgl. TiR, 103f.), die aber in dessen Musik positive Effekte hat. Einzig für Iris scheinen das Alter und der Altersunterschied zu Thomas Linde keine Bedeutung zu haben. Sie ist eine der wenigen Frauenfiguren in Rot, die nicht mit Verfall verknüpft sind: Ihre Schwangerschaft ist eines der letzten Ereignisse im Roman.297 Schließlich ist Linde selbst dem Verfall ausgesetzt: Es gibt Andeutungen, dass er schwer krank sein könnte (vgl. TiR, 310-312, besonders 312: »da stimmt etwas nicht«).298 Letztendlich stirbt Linde jedoch nicht an einer Krankheit, sondern durch einen Unfall, durch eine Kombination aus Zufall und Unvorsichtigkeit. An bedeutender Stelle im Text positioniert, kurz vor Ende des Romans und unmittelbar vor der Aufsuchung seines toten Freundes im Leichenschauhaus, besucht Linde seinen ehemaligen Arbeitsplatz, die Mülldeponie der Stadt Berlin. Dass gerade er einen Job in der Abteilung der Public Relations innehatte, wird in seiner Absurdität durch eine Vordeutung Lindes zynisch kommentiert: »Ich war damals bei der Stadtreinigung. Das ist kein Witz. Bei den Stadtwerken. Der Müllabfuhr. Presseabteilung. Ich hatte den Job bekommen und führte Leute durch die Stadtwerke, durch die Müllsammelstellen, die Müllsortieranlagen, die Müllverbrennungsanlage, über die Mülldeponie.« (TiR, 331f.) Die Arbeit der Public Relations-Abteilung von Konzernen und Verwaltungen unterscheidet sich grundlegend von der des Beerdigungsredners. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten, beschäftigen sich beide doch mit dem positiven Berichten über zwei aus PR-Sicht äußert schwierige Themen: Abfall und Tod.299 Beide Jobs verbindet auch, dass das Ende, sei es nun das Ende menschlichen Lebens oder das Ende von Dingen, Erwerbsgrundlage für Dritte ist. Beim erneuten Besuch der Abfallsammelstelle und ehemaligen Arbeitsstelle Lindes wird zunächst ihre Exterritorialität herausgestellt, ihre Situiertheit als Ort außerhalb der Stadt, des Alltags, der Wahrnehmung (»Die Deponie liegt weit draußen vor der Stadt« (TiR, 382)). Durch die ausführliche Schilderung wird die Deponie erzählerisch integriert, zurückgeholt in die Wahrnehmung.300 Mitgedacht wird hier aber, wie es sich für einen Sammelnden und zugleich immer auch Schreibenden wie Thomas Linde gehört, auch die Lesbarkeit der Kippe: 297 Vgl. Lenas Reden zu der Rolle von Kindern als Ankämpfen gegen den eigenen Verfall und zu der Trostfunktion von Fruchtbarkeit (vgl. TiR, 245). Kontrastriert werden diese Konnotationen durch die Geschichten von Lenas Abtreibungen (vgl. TiR, 239). 298 Dies verbindet Linde mit dem Protagonisten in Genazinos Die Liebesblödigkeit, vgl. Genazino 2005 bzw Kapitel 3.5.1.2 dieser Arbeit. 299 Linde zieht an anderer Stelle Parallelen zwischen seinen Trauerreden und der Arbeit Bens (vgl. TiR, 326f.). 300 Dies verbindet die Deponiepassage mit einer weiteren Schilderung einer Mülldeponie: Die Schilderung der Abfalldeponie in Annette Pehnts Roman Insel 34, vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit.

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Abfall, das, was die Gesellschaft hinterläßt, sagt uns immer etwas über die Gesellschaft. Erfahrene Müllkutscher können am Müll sofort sehen, ob in dem Haus eine ökologisch engagierte Familie wohnt oder eine wurschtige, die können Ihnen anhand der Tüten, in denen der Müll verpackt ist, sagen, was die essen, und Bourdieu könnte sein Diagramm der feinen Unterschiede danach erstellen. Hier das goldene Papier der Butter St. Pierre aus der Bretagne, dort das weiße Pergament der Butter aus dem Billigangebot von Aldi. Mehr noch, der Müllkutscher sieht, was da weggeworfen wird, die Reste des Bratens, halbvolle Joghurtbecher. Ja, was wird konsumiert, was wird weggeworfen. Halbverbrauchtes, Angebrauchtes. Ungebrauchtes. (TiR, 383f.) Die Müllkippe wird für Linde zum Ort des Trostes: »Ich war hergekommen, wo ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen war. Es war der Wunsch, das zu sehen, über diese Halde zu gehen, dieser Anblick, der immer etwas Beruhigendes gehabt hat, sonderbarerweise war nichts Ekelhaftes, nichts Abstoßendes daran.« (TiR, 383) Vielleicht ist es die Schichtung, die Trost spendet, weil sie verbunden ist mit Geschichten und so unsichtbare Verbindungen zu Menschen herstellt. Verbindungen und Spuren, die jedoch kaum mehr mit individuellen Geschichten in Bezug gesetzt werden können. Diese Ablagerung von Geschichten wäre durch eine, abfallhistorisch bereits zur Entstehungszeit von Rot einsetzende, Abwendung von der Deponierung und Hinwendung zu thermischen Verfahren bedroht. Linde wäre, das ist zu vermuten, sicherlich Gegner der Müllverbrennung. Die Bedeutung der Mülldeponie für eine Deutung von Rot nähert sich der des Jazz im Roman an, ein Jazz, der in Rot zugleich ein Jazz der Befreiung, des Verfalls und der Freiheit ist.301 Jazz und Müllkippe symbolisieren eine Gegenordnung des Erzählens, die eine Un-Ordnung, die Improvisation einschließt. Zusammengesetzt ist diese UnOrdnung wie die Müllkippe aus nicht-chronologischen, verbrauchten und entsorgten Momenten, Episoden, Geschichten, oftmals vermittelt durch Dinge, die der aus den Augen verlorene Mensch hinterlassen hat. Eine Un-Ordnung, die auch Aschenbergers Zimmer beherrscht und die keinesfalls gleichzusetzen ist mit einer Nicht-Ordnung (vgl. auch TiR 253, wo es heißt, die Wohnung von Aschenberger sehe aus »wie auf einer Müllkippe«). Diese Un-Ordnung wird abgegrenzt von einer Welt, die durch Fortschritt und Controlling handhabbar scheint: »Jazz funktioniert nicht wie die Autobranche mit ihrem hysterisch permanent verkündeten neuesten Stand der Fortentwicklung aller Systeme.« (TiR, 252)

301 Zur Bedeutung der Improvisation und überhaupt der Jazzmusik für Rot vgl. Durzak 2005 (besonders 74f.) und Albrecht 2006. Vor allem Albrecht widmet sich ausführlich der Rolle von Musik im Roman und arbeitet mehrere Funktionen heraus: Als Begleiterscheinung gelungener Revolutionsereignisse und als Revolutionskonzept, als Mittel der Charakterisierung von Figuren, insbesondere der musikliebenden Freunde Linde und Aschenberger sowie als Klangkulisse und Hintergrundmusik, die Handlung ergänzt (vgl. Albrecht 2006, 13f.). Albrecht betont das Rebellionspotenzial des Jazz, der als Improvisationskunst als Opposition zur Hochkultur, aber auch zum Fortschritts- und Profitdenken stehe (vgl. Albrecht 2006, 15). Die Textstruktur von Rot nähere sich, so die Beobachtung Albrechts, der Improvisationskunst an und setze, wie der Jazz, einzelne Teile in Beziehung sowie arbeite mit sich wiederholenden Grundmotiven (vgl. Albrecht 2006, 23-27).

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Während Aschenberger die Figur ist, die streng trennt in richtig und falsch, gut und schlecht, ist Linde eine Figur des Dazwischen und der Vermittlung. Doch auch Linde hat persönliche Entsorgungsentscheidungen getroffen, etwa sich von überflüssigen Dingen zu befreien oder auch seine gescheiterte Ehe und die darauffolgende Scheidung, die trennend wirken und mit Trennungen verbunden sind. Die ihn zum Zeitpunkt seines Todes umgebenden Menschen gehören, anders als die Polit-Wohngemeinschaft, die auch an inneren Querelen und Verrat scheitert (vgl. die Episode, aus der hervorgeht, warum Aschenberger wegen seiner KPD-Mitgliedschaft kein Lehrer werden konnte, TiR, 295-300), zu den Gewinnern. Die erfolgreiche Künstlerin, der Controller verkörpern diese Seite. Uwe Timm zeichnet beide Figuren jedoch überaus menschlich, anteilnehmend an anderen Menschen. So geht es Controller Ben nahe, dass er die Abteilung eines Freundes prüfen muss, wie Iris Linde berichtet (vgl. TiR, 106). Nicht der Controller ist das Problem, sondern die Idee und Ausführung des Controllings. Aber sind beide voneinander zu trennen? Die Frage bleibt, wie so vieles in Rot, offen. Hinweise könnte eine Beschäftigung mit einem zentralen Motiv des Romans geben: dem Engel. Nicht nur im Zusammenhang mit der Siegessäule, sondern bereits auf den ersten Romanseiten wird der Engel im Zusammenhang mit der Rede für Aschenberger angesprochen. Engel treten in literarischen Texten oft als Symbol des Guten oder Bösen, als Schutzfigur sowie als Verkörperung der Allgegenwart Gottes auf.302 Hinzu kommt in Verbindung mit der Siegessäule aber auch ein Symbol des Sieges. Dabei ist die Bronzefigur, die auf der Siegessäule thront, gar kein Engel. Es handelt sich vielmehr um die Siegesgöttin Viktoria bzw. in der römischen Mythologie Nike, geschaffen vom Bildhauer Friedrich Drake.303 Warum wird diese Figur nun in Rot fortlaufend als Engel bezeichnet? Engel treten oftmals als Vermittlerfiguren auf.304 Eine für Rot zentrale Engelsfigur ist der Engel der Geschichte, der bereits zu Beginn des Romans genannt wird (vgl. TiR, 8), sich aber auch an vielen anderen Textstellen findet (etwa TiR, 141ff., 192). In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen weist Uwe Timm explizit auf die Figur hin.305 Dieser Engel findet sich in Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte in der IX. These, in der er sich auf Klees Bild Angelus Novus bezieht: Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer

302 Vgl. Sammer 2012, 95. 303 Vgl. zu Drake den Eintrag in Zwahr/Brockhaus 2006, Band 7, 249. 304 So schreibt Markus Lorenz mit Blick auf die Rolle von Engeln in Rot: »[S]ie verbinden heidnischantike und christlich-mittelalterliche, immanente und transzendente Vorstellungen des Botenwesens. Sie sind Nachrichtenübermittler, Künder des stiftend-verbindenden Wortes, in dem Archaisches und Reflektiertes, religiöser Offenbarungs-Mythos und aufklärerisch-kommunikativer Logos, Heiliges und Profanes, gegenwärtige Versehrtheit und ferne Hoffnung, Kunde von vergangenem Einst und Verkündigung von künftigem Einst einander berühren und überlagern.« (Lorenz 2012, 161) 305 Vgl. Timm 2009, 41f.

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häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.306 Detlev Schöttker weist auf die Dimensionen eines Geschichtsverständnisses hin, das in den geschichtsphilosophischen Thesen ausgebreitet wird: »Geschichte als Konstruktion, als Stillstellung des Geschehens, als Aufsprengung bzw. Destruktion des historischen Kontinuums, als Zitieren bzw. Heraussprengen von Ereignissen der Vergangenheit, als Herstellung von Monaden und als Rettung der unterdrückten Vergangenheit.«307 In den Kapiteln 1.3 und 3 der vorliegenden Arbeit wurde die in Plunder formulierte Grundidee der weltkonstruierenden Kraft sowie die Magie von Dingen und Worten aufgegriffen (»Nimm ein Wort und mach eine Welt daraus.«308 ). War das Wort in diesem Text der titelgebende Plunder, war es bei Zygmunt Bauman das Liquide, so könnte das Wort für Aschenberger ›Sieg(er)‹ sein. Sieger, die Verlierer und Verlierende, Verluste – Abfälle – mit sich bringen. In der Siegessäule manifestiert sich ein Geschichtsverständnis, das auf die Siege und Sieger schaut. Aschenberger beklagt die Verlierer der Moderne, die für ihn eine flüchtige Moderne ist (so heißt es in einer Textstelle: »Skins, die Obdachlose und Behinderte totprügeln, setzen auf eigene Faust um, was das System zwar nicht ausspricht, aber aus seiner Logik verlangt, alles Überflüssige, Unrentable zu tilgen.« (TiR, 321)). Lichtkünstlerin Iris und der Abfallkünstler Horch zelebrieren diese Verluste eher, integrieren sie aber zugleich. So will Iris nicht nur die Siegessäule illuminieren, sondern auch das profane Wegwerfbehältnis zum Leuchten bringen: »Sie erzählte von ihrem Plan, einen Abfalleimer, ähnlich dem hier im Bad, der mit einem kleinen Fußhebel geöffnet werden kann, innen mit einem intensiven weißleuchtenden Licht auszustatten. Abfallicht könnte das heißen, ein leuchtendes Memento mori.« (TiR, 224)309 Das Sammeln und Gedenken birgt einen Moment der Rettung. Benjamins Geschichtsverständnis verleiht auch dem Sichtbaren ein solches rettendes Potenzial. Dabei kommt in Rot nicht dem illuminierten Abfalleimer, auch nicht der Mülldeponie dieses rettende Moment zu, sondern den Abfällen, die noch beim Menschen sind. Zu diesen Abfällen gehören in Rot Geschichten. Geschichten, Erzählen, unökonomisches Denken und Handeln könnten komplett überflüssig, zu Abfall werden – dies wird, hier gibt es eine Verbindung zu Momo, als negative Entwicklung erzählt. Bereits diskutiert

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Benjamin GS I.2, 697f., Hervorhebung dort. Schöttker 2000, 296, Hervorhebung dort. Meckel 1989, 5. Zu Licht als Material der Kunst vgl. Wagner 2001, 259-264. Wagner schreibt zur Ambivalenz der Lichtkunst: »Die Verwendung von Licht als Material der Künste darzustellen ist schwieriger als die Erörterung aller übrigen Materialien, nicht nur, weil es eine unüberschaubare Zahl künstlerischer Lichtarbeiten gibt, […] sondern auch, weil beim Umgang mit diesem Material Erhabenheit und Trivialität – Kathedrale und Jahrmarkt – besonders nahe beieinanderliegen.« (Wagner 2001, 259)

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

wurden der Wandel von Arbeit und die zunehmende Ökonomisierung von Lebensbereichen, auch des Beerdigungswesens. Eng verbunden ist die Ökonomisierung des Beerdigungswesens mit einer Kommerzialisierung und Ritualisierung von Gedenken. Am Vorabend von Aschenbergers Beerdigung besucht Linde den Friedhof, um Inspiration für die bevorstehende Rede zu finden. Das Regiment des Friedhofs zeichnet sich durch strenge Kompostierung aus, wie Linde durch eine Begegnung mit zwei weiteren Beerdigungsdienstleistern bestätigt bekommt. So erklärt ein alter Totengräber gegenüber Linde, während er mit einem jungen Kollegen ein Grab aushebt, offensichtlich schwer unter der Sommerhitze leidend: »Der Neue kommt dann oben drauf, ein Kreislauf.« (TiR, 165) Schließlich findet sich Linde in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grab Marlene Dietrichs, was ihn zu folgender Beobachtung veranlasst: Was sich auf diesem Grab in den letzten Jahren alles abgelagert hat, ein Ort, an dem sich die Lesben und die Schwulen treffen, im Mai, als ich zuletzt hier war, lagen noch immer Ostereier darauf und ein in Zellophan verpackter Schokoladenosterhase. Aber ich habe auch schon eine Schlangenlederhandtasche gesehen und Lippenstifte, Herrenslips, Parfümfläschchen, im letzten Herbst lagen sogar hellblaue Strapse auf dem Grab. Der Friedhof ist gut gepflegt, es muß massiv mit Rattengift gearbeitet werden, anders ist es nicht zu erklären, daß die Ostereier noch Wochen später zwischen den Blumen lagen. (TiR, 166) Hier werden zwei Arten, zwei Komponenten des Erinnerns angesprochen: Die Ostereier symbolisieren ein festives, befreiendes Erinnern, aber auch die Gefahr einer Ikonisierung von Menschen und Ereignissen, die in Erstarrung enden kann. Das Rattengift lässt sich als Symbol für ein gesäubertes, ein klinisch reines, ein risikofreies Erinnern interpretieren. Die Kosten eines solchen gesäuberten Erinnerns sind hoch, daran erinnert immer wieder Walter Benjamin, weil es die Verluste und die Verlierenden vergisst.310 Was für die individuellen Biographien von Menschen gilt, von denen einige in Rot exemplarisch ausgebreitet werden, gilt auch für die Geschichte von Kollektiven bis hin zu Nationen. Rot zeigt so – und dies gilt sowohl für die Trauerreden Lindes, die Konstruktion der Figur Aschenberger wie auch den Text in seiner Gesamtheit – dass nicht das Zusammenfügen von Bruchstücken zu einem Ganzen das Ziel ist, sondern, Bruchstücke als solche sein zu lassen, wie Christian Emden mit Blick auf Benjamins Trauerspiel-Buch formuliert: »Geschichtsschreibung ist […] stets ein defizitäres Verfahren, das keine Rekonstruktion des Vergangenen im eigentlichen Sinne zuläßt. […] Geschichtliche Methode wird vor allem verstanden als eine Archäologie der vermeintlich Unbedeutenden und Unwesentlichen, die die Bruchstücke der Vergangenheit zwar in eine Ordnung zu bringen sucht, aber sie dennoch Bruchstücke sein läßt.«311 Kann der Roman das, was er vorschlägt, einhalten – Bruchstücke solche sein lassen? Kann Abfall Abfall sein oder wird er erzählerisch integriert? Ferner: können die Verweise auf Benjamins Geschichtsschreibung, auf den Engel der Geschichte, auch als Hinweise auf das poetologische Verfahren von Rot gelesen werden? Nur zum Teil lässt 310 Nebenbei bemerkt: Auch Walter Benjamin hat zu Ostereiern geschrieben, z.B. im Text Der enthüllte Osterhase oder kleine Versteck-Lehre (vgl. Benjamin GS IV.1, 399f.). 311 Emden 2006, 50.

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sich das bejahen. Einzelne Erzählstränge belassen Bruchstücke als solche. So bleiben die Erinnerungen an Lindes politisches Leben fragmentiert, episodenhaft. Auch die Ausführungen zur Musik, zur Farbe Rot brechen immer wieder unvermittelt ab, sind als Fremd- und Fundstücke im Text erkennbar. Andererseits ist es gerade Lindes Profession, die gegen Bruchstücke arbeitet: In der Beerdigungsrede fügt Linde zusammen. So erzählt Rot auch darüber: Abfälle und der Tod können mitunter nur ertragen werden, wenn wir sie nicht abtrennen, auch nicht integrieren, sondern belassen, mitunter auch an den Rand drängen.312 Vielleicht liegt eine Lösung im Verfahren der Montage. Sven Kramer widmet sich der Bedeutung der filmischen Montage für Benjamin.313 Er arbeitet heraus, wie vor allem die radikal neuen Filmtechniken Eisensteins Benjamin beeindruckten. Ein Verfahren, das auch mit dem Beruf der zu Beginn dieser Interpretation geschilderten verstorbenen Cutterin korrespondiert, ihrem Handwerk des Schneidens, des Zerlegens und Zusammensetzens von Sequenzen. Ein Verfahren, das dazu führt, dass sich Vergangenheit und Gegenwart, Nichtwissen und Wissen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit mitunter ununterscheidbar überlagern. Bewegungen, die aber auch als Kennzeichen des poetologischen Verfahrens von Rot gelesen werden können.314 Doch nicht nur Benjamin, sondern auch Ernst Bloch findet, wie dargestellt, in Rot Erwähnung. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass neben Benjamins Montageverständnis auch das von Bloch weiterführen könnte. Wie Francesca Vidal zeigt, wird bei Bloch der Terminus Montage zunächst einmal als Oberbegriff für Verfahren verwendet, die das Montieren zum dominanten Gestaltungsprinzip erheben, ohne von vergleichbaren Techniken bezeichnenden Begriffen zu unterscheiden.315 Vidal erklärt: Ihre Form findet die unmittelbare Montage in Jazz und Revue. Beide arbeiten mit der Zerstörung der Oberfläche, um so ein trümmerhaftes Bild menschlicher Träume vorzugaukeln, sind aber laut Blochscher Kritik durch das Großkapital wieder einzulenken gewesen, da rein formale Experimente tendenziell dem Innovationszwang des Kapitals entgegenkommen, indem sie seinen Marktgesetzen gehorchen.316

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Wobei in einer Textpassage Linde dem Ausspruch Bens widerspricht, der Tod habe an Bedeutung verloren, ist verschwunden: »In dieser Gesellschaft ist der Tod allgegenwärtig. Wo immer du hinblickst. Leute, die sich schminken lassen, liften, falsche Zähne einsetzen, kaufen, edelkaufen, eine unbeschreibliche Lebensgier, eine sich in Verdopplung ausbreitende Sucht der Selbstverwirklichung, die nach einer Zweitwohnung, nach dem Zweitauto, Zweitfernseher, der Zweitfrau verlangt, denn man weiß, auch der Papst ahnt es, nichts kommt danach. Wir leben in der transzendentalen Obdachlosigkeit. Dies bißchen Erde. Das ist alles. Hier, hier, hier. Jetzt, jetzt, jetzt. Sonst nichts. Es ist nur die Frage, wie man damit umgeht, also auf Schnäppchenjagd geht oder etwas anderes sucht.« (TiR, 132) Vgl. Kramer 2000. Dieses Verfahren schlägt eine Brücke zu DeLillos Underworld. Julia Apitzsch arbeitete in ihrer Untersuchung zur Visualisierung von Kunst und Gewalt in den Texten DeLillos die Bedeutung der für Underworld wichtigen Techniken des Schneidens und Zerlegens sowie die Überlagerungen von Realität und Fiktion am Beispiel des Texas Highway Killer-Videos, von Kunstinstallation und einem (fiktionalen) Untergrundfilm heraus (vgl. Apitzsch 2012, 358-407). Vgl. Vidal 1994, 119. Zu Blochs Montage vgl. auch meine Ausführungen in Gehrlein 2012a. Vidal 1994, 120.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

Dagegen habe die Montage höherer Ordnung eine ganz andere Reichweite und Sprengkraft, wie Vidal zeigt: Erst wenn es nicht mehr allein um die Form geht und der Inhalt an Rang gewinnt, wird Erbe an den Formen der Montage möglich. […] Diese Form der Montage, sich der Teile zu bedienen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhang entgegenwirken, wird als »Montage höherer Ordnung« bezeichnet. Die Begründung der Wertung liegt in der Signifikanz des Aufbrechens der Oberfläche als ein vom Subjekt initiiertes. Damit würde das Streben nach Verdinglichung in der Gesellschaft in der Kunst symbolisch gesprengt.317 Im Gegensatz zu Walter Benjamins Montagebegriff, für den nach Achim Kessler die Sprengung des Kontinuums und somit Unterbrechung – also Destruktion und Fragmentierung – wesentlich sind, beinhalte Blochs Konzeption der Montage neben der Destruktion noch stärker als Benjamins Montageverständnis auch die Konstruktion, das Bilden von neuen Figuren und Konstellationen, wie Kessler im Rückgriff auf Blochs Schriften herausarbeitet.318 Rot arbeitet nur sehr verhalten mit Montage. So finden sich montierte Zitate ohne Anführungszeichen, rätselhafte Sequenzen und Titel von Songs, Liedern und Jazzstücken. Timm legt hierbei sowohl mit Benjamin Wert auf die Sprünge und Bruchstücke, die belassen werden, als auch auf das Zusammenfügen zu einer Gesamtheit, dem Gesamttext Rot. Zusammenfügen, aber auch Einzelteile sein lassen, gegen das Vergessen erzählen – auch wenn in Rot Momente aufblitzen, die dieses Programm einzulösen scheinen, die zeigen, dass eine Rettung der unterdrückten, der nichterzählten und nichtzuerzählenden Vergangenheit, ein Aufsprengen des Kontinuums der Zeit möglich ist, ist der vielfach erwähnte Engel der Geschichte auch eine Figur des Scheiterns, des Ruins in Rot. Beide Figuren, die die Bedeutung dieses Engels kennen, sind am Ende des Romans tot oder sterben. Für sie gibt es keine Rettung mehr. Eine weitere Engelsfigur, der Auflöser, dessen Ähnlichkeit mit einem Hells Angel im Text markiert ist, vollzieht die Vernichtung der Dinge und löscht damit Geschichten aus. Oder sind die Figuren doch gerettet? Der Sieg über die Dinge, ihre Vernichtung ist nicht vollständig, solange über die Dinge noch erzählt werden kann und erzählt wird. Noch einmal zurück zu Walter Benjamin und seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte. In These V heißt es, die Vergangenheit husche vorbei und sei »nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt […] festzuhalten.«319 Bereits in der Passagenarbeit findet sich im Konvolut N [Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts] der Passus: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht

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Vidal 1994, 120. Zu Blochs Unterscheidung von unmittelbarer Montage, Montage höherer Ordnung und mittelbarer Montage vgl. auch Kessler 2006, 171-207. Kessler 2006, 189. Blochs Werk selbst kann, so Achim Kesslers These, als Montage gelesen werden (vgl. Kessler 2006, 240-264) – vor allem seine Schriften zur Ästhetik, aber auch Erbschaft dieser Zeit und Das Prinzip Hoffnung lassen sich immer wieder zersplittern und neu montieren, so dass Kessler von »Montage als Methode des Denkens und Darstellens und als Kompositionsprinzip im Werk Blochs« (Kessler 2006, 240) spricht. Benjamin GS I.2, 695.

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in Geschichten.«320 Benjamins Ausführungen zum dialektischen Bild, zur Dialektik im Stillstand werden in der Benjamin-Forschung noch immer diskutiert, zuletzt unter Einfluss der ikonischen Wende, des iconic turn in den Kulturwissenschaften.321 Dabei sind verschiedene Bilder gemeint, reale Bilder, geschriebene Bilder, aber auch gedachte Bilder, wie sie sich in Benjamins Denkbildern manifestieren.322 In Rot wird auch von Bildern erzählt, etwa von den Kunstwerken Horchs oder den Fotos, die Lindes Mutter sammelt. Im Fall der Mutter lässt sich eine Erstarrung feststellen, wenn sie sich in ihrer Wohnung mit den Fotos für sie wichtiger Personen, ihrem Fotofriedhof umgibt. Dass der Roman in Geschichten zerfällt, zerlegt werden kann und dass in diesen Geschichten die Vergangenheit von Individuen und Kollektiven in kurzen Momenten zum Vorschein kommt, hat die Analyse gezeigt. Aber in Bilder? Was könnte das im Zusammenhang mit Rot bedeuten? Vielleicht doch die Einzeldinge der Mülldeponie, die einzelnen Episoden, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, die Bilder, die hängenbleiben. Benjamins Hinweis auf die Bilder führt auch zu der Frage, ob Abfälle sich vielleicht doch dem Erzählen verweigern, sich nicht erzählen lassen? Das lineare Moment des Erzählens, das Anordnen und Voranschreiten kann der Vielschichtigkeit von Abfällen nicht gerecht werden. Die Begrenztheit eines Erzählens über Abfälle, und auch über den Tod, kann zum Schweigen führen. Es muss aber nicht beim Schweigen bleiben. Auch darüber wird in Rot gesprochen. Linde selbst schlägt angesichts des zu Beginn verhandelten Todes der jungen Cutterin eine andere Form der Artikulation vor, die neben der Musik das zum Vorschein bringen kann, was Worte nicht mehr ausdrücken können. Wo Sprache versagt, kann der Körper sprechen, Zeichen setzen.323 Tränen als körperliche Abfälle sind Ausdruck von Verlust: Der körperliche Ausdruck dieses Loslassens ist das Weinen. In einer Gesellschaft, die sich, aufgrund der kargen Natur, über Jahrhunderte durch Sparsamkeit behaupten mußte, geizt man auch mit Tränen. Ich bewundere die südlichen Länder, in denen man den Tränen freien Lauf lässt. Sie sind das körperliche Zeichen der Klage. Sie lassen unseren Schmerz zur Ader. Sittlichkeit ist mit der Fähigkeit zu weinen untrennbar

320 Benjamin GS V.1, 596. 321 Vgl. hierzu überblicksartig Hillach 2000. 322 Giuriato 2008 zeigt, wie Adorno mit diesem Begriff für Benjamin eine Denkform reklamiert, »die philosophischen Gehalt unter der Maske spielerischer Reflexion über unscheinbare Gegenstände« verbirgt und »die nicht sowohl dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren und damit Denken in Bewegung bringen will.« (Giuriato 2008, 199) Die Denkbilder wurden zu einer von Benjamin geprägten Textgattung, wobei viele der Texte, wie Giuriato betont, keineswegs als Denkbilder geschrieben oder beabsichtigt worden sind. Für Buck-Morss schließlich macht es keinen Unterschied, ob in Benjamins Passagenarbeit »die ›Bilder‹ des neunzehnten Jahrhunderts, die er [Benjamin, CHG] für seine Arbeit ausfindig gemacht hat, als regelrechte Abbildungen oder sprachlich wiedergegeben werden.« (Buck-Morss 2000, 96) 323 Scarry argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn sie in ihrer Untersuchung zum Körper im Schmerz in ihren Überlegungen zur Folter darlegt, dass gerade da, wo die Sprache versagt, andere körperliche Artikulationsformen einsetzen: Der Schrei ist körperlicher Ausdruck des Unsagbaren (vgl. Scarry 1992, 13f.).

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verbunden. Es ist die Form der reinen Verständigung über all das, wohin Sprache nicht reicht. (TiR, 22f.) Wie gemeinschaftliches Weinen kann auch gemeinsames Schweigen tröstend sein. Doch über einen Fall schweigt Linde nicht, beginnend mit der so lange herausgeschobenen und nie gehaltenen Trauerrede für Aschenberger: »Verehrte Trauergemeinde, zu reden ist über einen Mann« (TiR, 388). Diese Rede über Aschenberger wird zur Rede von Linde über Linde (TiR, 390: »Von dem, über den ich jetzt rede, wird man nicht sagen können, daß er ein sonderlich mutiges Leben geführt hat, er war Betrachter, wenn man so will, Chronist […].«). Gegen Ende zerfällt der Text, es kommt zu einer Auflösung. Diese Sprengung erfolgt durch das Erzählen selbst. So heißt es am Ende von Rot: »[…] alles stürzt, dieser Lärm, ein Sausen, Reißen, Zischen, Flügelschlag, ich fliege, endlich, Lösung, immer dieses Voranschreiten, Erlösung, endlich, Gegenwart, Sturz, Allgegenwart, Gewölk, sanftes Grau und darüber das Licht.« (TiR, 394) Zuletzt schließlich die Fragmentierung des Textes in Einzelworte. Die Ordnung des Textes ist aufgelöst, er zerfällt.324 Zuletzt kann nicht mehr zwischen einzelnen Erzählstimmen unterschieden werden, es entsteht gar der Eindruck, der von Aschenberger so bezeichnete Engel der Siegessäule komme selbst zu Wort (vgl. TiR, 393). Der Augenblick des Fallens, der den ganzen Text über anhält, beinhaltet die Destruktion von binären Oppositionen wie Auf und Ab, Vorder- und Kehrseite, Gut und Böse, Oben und Unten, tot oder lebendig. Ist, so meine abschließende Frage, Rot in erster Linie ein zurückblickender, ein sammelnder, gar ein nostalgischer Roman, eine Erinnerung an die Studierendenproteste, eine Erinnerung an das, was war? Gegen die Nostalgie spricht auf der Inhaltsebene das Potenzial des Sprengstoffs, der in der Jetztzeit des Textes Konstruktions- und Destruktionskräfte frei setzt. In seinen Bamberger Poetikvorlesungen legt Uwe Timm seine poetologischen Maximen dar: »Mich interessieren […] besonders die Desperados, die moralischen, die ästhetischen, die ökonomischen. Die Desperados sind, Sie wissen es, die Hoffnungslosen, die Verzweifelten, die Einzelgänger, die allein für sich, abseits von Konventionen und herkömmlichen Moralbegriffen, ihren Weg suchen. Intensiv kompromißlos, ungebundener in ihren Entscheidungen. Sie leben diese alltägliche Destruktion. Die Destruktion des Selbstverständlichen.«325 Während sowohl Aschenberger als auch Linde als solche Desperados gelesen werden können, bleibt die Frage: Was wird destruiert in Rot? Der Roman beginnt mit einem Unfall und schildert Vorfälle, Unfälle, Fallbewegungen. Das Auflehnungspotenzial von Abfall, so lässt sich die abfallfokussierte Interpretation von Rot zusammenfassen, das utopische Potenzial von Abfällen liegt gerade im Aushalten von Uneindeutigkeiten, und, wie die komplexen Raum- und Zeitstrukturen von Rot zeigen, auch im Abschied von der Idee des linearen Fortschritts. Im Anschluss an Benjamin wird auch der Fortschritt, wenn er menschenverachtendes Fortschreiten bzw. Voranschreiten meint, als Unfall markiert. Dagegen setzt Timm ein Erzählen des Widerstehens, das die Bewegungen zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Setzungen 324 Zum Fragment bei Benjamin vgl. den Eintrag von Justus Fetscher im historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe (Fetscher 2002, 582-584). 325 Timm 1993, 106.

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und Festsitzen, zwischen Ankommen und Weggehenkönnen, zwischen Bequemlichkeit und Unbequemlichkeit beschreibt. Rot zeigt auch: Mit diesem Erzählen ist stets ein Scheitern verbunden. Uwe Timm ist sich dieses Dilemmas bewusst und erzählt es mit: Jedes Erzählen über Abfälle muss also auch ein Erzählen über die Unzulänglichkeiten des Erzählens sein. So heißt es auf den letzten Seiten, wenn aus der Totenrede für Aschenberger/Lüders eine Rede für Linde wird, die sich zugleich als Rede über den Autor Timm lesen lässt: [G]ewinnt jedoch nicht auch der Chronist allein durch seine Tätigkeit dem Leben Sinn ab? Auch da, wo es so sinnlos schien? Selbst dem, der es gelebt hat? Dafür wurde er bezahlt, ein Hagiograph des Alltagslebens. Er wollte einmal verändern, sich und die Verhältnisse, in denen die Leute lebten. Dann wäre auch ein anderes Reden möglich gewesen. (TiR, 390) Die Möglichkeit eines anderen Redens, die Rot in vielen Episoden andeutet, ist, wie gezeigt, die Hinwendung zum Erzählen von Kleinem, Unbedeutendem. Ein Verfahren, das auch Walter Benjamin nutzte. Rot ist aber auch, das haben die Analysen gezeigt, ein Erzählen über Schweigen, über das Ende, über das Unaussprechliche und das, was jenseits von Sprache bleiben muss, weil es keine Worte dafür gibt. Das ist die Liebe, das ist aber auch die Kapitulation vor zumindest einem: dem Tod. Der Tod bleibt der Skandal, das Hoffnungslose, vor allem jenseits der Religion, des Glaubens an ein Danach. Der Tod ist der Ausgangspunkt und zugleich das Ende von Rot. Vor dem Hintergrund dieser vorgeschlagenen Verbindung zwischen Verfall und Abfall, zwischen Vergehen und Loslassen, das dennoch nicht endgültig vergisst, sondern aus dem etwas Neues entstehen kann, gewinnt auch der Romantitel eine neue, eine weitere Dimension. To rot heißt auf Englisch verrotten, verfaulen, das Substantiv rot bezeichnet zum einen Fäulnis oder Verrottung als Prozess, aber auch das Resultat dieses Prozesses, Verwestes oder Verfaultes.326 Rot erzählt, sowohl inhaltlich wie auch in seiner Komposition, von einem solchen Prozess des Verrottens und Verwesens, von Verfaultem als Resultat. In einer Textpassage kommt ein solches Verrotten zur Sprache, wenn sich Linde an seine Kindheit erinnert, genauer an Birnen: Sie lagen im Gras und faulten, ich roch diese angegorene Fäulnis, wie in dem Garten der Pension in Oldesloe, wohin meine Mutter mit mir gefahren war, in die Sommerfrische. Eine Kriegerwitwe vermietet zwei Zimmer in ihrem Haus. Die Mutter saß im Garten in einem Liegestuhl und las Zeitung. Ich durfte beim Ernten der Birnen helfen. Die Früchte wurden mit einem langen Pflücksack vorsichtig von den Ästen genommen. Und doch lagen immer ein paar Birnen im Gras, braunfleckig, dieser Geruch nach Gärung – wie hier –, und im faulenden Fruchtfleisch saßen die Wespen. (TiR, 86) Die Textstelle ist weiterführend. Hier wird ein Verrottungsprozess erzählerisch ausgebreitet, der schon fortgeschritten ist. Obgleich verrottendes Obst, ähnlich wie Stifters Rosenzucht als Ideal des Kreislaufsystems, Bestandteil eines zyklischen natürlichen Kreislaufs ist und hier kein Abfall entsteht, schlägt Rot nicht um in eine Rückkehr zu 326 Vgl. PONS 2002, 777.

4. Fallgeschichten: Abfälle, Auflösung und Auflehnung

zyklischen Zeitmodellen. Auch das sichtbare Zeichen eines weiteren Zersetzungsprozesses, genauer die Oxidation von Eisen und Stahl, wird nach der Farbe Rot benannt: Rost.327 Der Text Rot trägt so das Rotten und Rosten bereits im Titel. Er erzählt vom Rand des Fortschritts, erzählt von Zeit und was die Zeit mit Dingen und Menschen macht, welche Spuren hinterlassen werden und auch was keine oder kaum Spuren hinterlässt. Das Erzählte steht dabei zwar an der Schwelle zur Aufwertung, wird gerade aber doch nicht aufgewertet. Verrotten meint aber auch ein Zerfällen und Zerfallen von Gesamtheiten. Dies kann Glaube(n) sein und Hoffnung auf Erlösung, gleich ob religiöser oder politischer Prägung, das Zerfallen von Überzeugungen, das Zusammenfallen von politischen Systemen. Hier nähert sich der Text Rot der Müllkippe an, die jenseits und trotz der geführten PR-Touren immer noch das ist, was sie ist: Nicht mythologischer Gegenort, sondern die wirr aufgeschichteten Reste des Alltags. Zwar löst sich in Rot ein Leben, Lindes Leben, als Rahmen für die Erinnerung an die Auflösung vieler Leben, auf. Der Tod seines Freundes und Mitstreiters Aschenberger/Lüders liegt noch weiter in der Vergangenheit, an der Auflösung von dessen Leben lässt der Roman uns teilhaben. Beide Lebensgeschichten zeigen aber auch, und dafür ist der Roman Rot in seiner Gesamtheit, seinen Themen, Motiven, aber auch in seinem Erzählen ein Plädoyer: Der Rest ist nicht nur Schweigen. Der Rest ist Asche.328 Asche, aus der Neues entsteht.329 Davon zeugen vor allem zwei Textstellen. In einer findet Linde Aschenbergers von Marcuse höchstpersönlich signierte und mit einem Zitat versehene Kopie von Versuch über die Befreiung. Der Spruch spielt wohl, so vermutet Linde, auf Aschenbergers Namen an: »The ash is not only the rest, it’s also new fertility.« (TiR, 65) Dieser Sinnspruch korrespondiert mit dem dem Roman vorangestellten Motto, einem Auszug aus Shakespeares Hamlet, fünfter Aufzug, erste Szene, in der der Totengräber singt: But age with his stealing steps Hath claw’d me in his clutch, And hath shipp’d me intil the land, As if I had never been such. He throws up a skull (TiR, [5, ohne Paginierung], Hervorhebung im Original)330 Am Anfang und zugleich Ende von Rot stirbt ein Totengräber, der in Hamlet auch eine Clownsfigur ist.331 Das Totengräber-Zitat aus Hamlet endet mit einem Totenkopfwurf,

327 Zwahr/Brockhaus 2006, Band 23, 379, hier heißt es zur Etymologie: »[ahd. Rost, zu rot]«. 328 Zur Asche als Abfallprodukt vgl. Trumpeter 2012b. 329 Im Motiv des Verfalls gibt es intertextuelle Verweise aus Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911) (vgl. Mann 1986, 493-584). So fällt in Rot beispielsweise der Name Aschenbach (vgl. TiR, 191). Vgl. hierzu auch Lorenz 2012, 176. 330 Vgl. zum Originaltext von Shakespeare Jenkins 1982, 380. In anderen Textausgaben werden die gravedigger auch als clowns bezeichnet (vgl. Hoy/Shakespeare 1992, 86). 331 Vgl. hierzu Marx 2014, zu der Totengräber-Clown-Szene vgl. 41 und 43, in der er mit Dominick M. Grace die komischen Elemente in Hamlet mit Bachtins Konzept des Karnevalesken verbindet (vgl. Marx 2014, 42) und ausführt: »So verschwimmt […] die Grenze zwischen Leben und Tod; sie ist

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der vielleicht zum Lachen bringt.332 So ist neben dem Weinen das Lachen die andere mögliche körperliche Reaktion auf die Hoffnungslosigkeit des Lebens.333 Nebenbei sei auch daran erinnert: Asche ist nicht nur ein Rest, aus dem Neues entstehen kann, sondern als Produkt der Müllverbrennung auch Problemstoff, die entweder als Flugasche eingeatmet wird oder als kontaminierte Asche deponiert werden muss.334 Erneut zeigt sich: Es gibt keinen Rest ohne Reste. Die Siegessäule, zu deren Sprengung es nicht kommt und auch mit Lindes Tod nicht mehr unmittelbar kommen wird, wird am Ende des Auflösungsprozesses von Aschenbergers Wohnung zumindest als Modell entsorgt: »Der Schreibtisch, der Sessel waren verschwunden, in einer Ecke ein Haufen Papier, das Modell der Siegessäule war eingeknickt. Der Papierengel, mit einer Goldfarbe angemalt, war heruntergefallen, die Flügel abgebrochen, der eine zertreten.« (TiR, 161) Gegen diese Form der Entsorgung erzählt Uwe Timm in Rot von Vorgängen des organischen Verrottens, des langsamen Verfalls, der Spuren hinterlässt. Timm erzählt zugleich auch über die Entstehung von Neuem. Ein Neues, das das Alte nicht vergisst. So heißt es nach der vollbrachten Auflösung von Aschenbergers/Lüdersʼ Wohnung: Eine Seite, Schreibmaschinenschrift, lag auf dem Gang, deutlich ein Absatzabdruck darauf. In seinem Zimmer nur noch Papier, Heftklammern. Ein paar verknickte Karteikarten, sorgfältig beschriftet. Und dann lag da noch dieser Papierengel, dem Siegesengel nachgebildet, klein, dreckig, zertreten. Am nächsten Tag würde jemand mit einem schwarzen Plastiksack kommen, den Rest zusammenkehren und in die Mülltonne stopfen. Das war’s dann. (TiR, 284) Das war es nicht. Davon erzählt Rot. Auch wenn Linde nach seiner Krise als Beerdigungsredner das Wort Hoffnung nicht mehr verwendet, leuchtet immer wieder in Rot auch Hoffnung auf. Mitunter in Gestalt von Kindern, die ihren Eltern ähnlich und doch wieder ganz anders sind. In Gestalt von Ideen, von Gesprächen und, auch im Erkennen der Grenzen, in Gestalt von Kunst und Musik. Dabei stellt sich Rot, stellt sich auch der sterbende Protagonist Linde gegen Vereinnahmungen, ergreift aber dennoch Partei. Insofern sind die Reste, wohlgemerkt nur die Reste, der 68er-Bewegung auch die Keimzelle für Hoffnung auf eine neue Kritik des Bestehenden. Gerade durch ihr Scheitern, sei es durch Ökonomisierung, durch Kommerzialisierung oder durch Etablierung des Aufständischen. Diese Reste der Proteste manifestieren sich in den Abfällen. Abfälle, die sich der Ökonomisierung verweigern. Dennoch sind fast alle Geschichten, die in Rot erzählt werden, auch Geschichten eben dieser zunehmenden Ökonomisierung vieler Lebensbereiche. Das zu erkennen und trotzdem weiter zu gehen, weiter zu erzählen und sich auch gegen die Ökonomisierung, wenn auch nur im Kleinen, aufzulehnen, schlägt Uwe Timms Rot vor. keine absolute Grenze mehr, sondern wird als Moment in einem stetigen Zyklus von Werden und Vergehen sichtbar.« (Marx 2014, 43) 332 Vgl. Jenkins 1982, 380. 333 Hier nähert sich Timm Camus an, der generell für Timms Schreiben eine wichtige Rolle spielt. Zur Bedeutung des Absurden und generell des Existentialismus für Rot vgl. Albrecht 2012. 334 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Müllverbrennung in Kapitel 2.2 dieser Arbeit und, zu den Rückständen und Resten dieses Verfahrens, Leonard/Conrad 2011, 214.

Zwischenfazit zweiter Teil

Der zweite Teil bzw. Kapitel 4 dieser Arbeit widmete sich dem erkundenden, ruinösen und dem resignierenden Erzählen. Anhand von Geschichten, die mitunter Fallgeschichten sind, wird der Konnex zwischen Erfahrung und Gehbewegung untersucht. Das stadterkundende Gehen schlagen beispielsweise Texte von Jürgen Funke-Wieneke, Walter Benjamin und die von Tim Edensor beschriebenen Ruinengänge vor. Es fasst Gehbewegungen als Gegenbewegungen. Dieses Gehen bricht mit routinierten Alltagserfahrungen, begreift den Stadtraum als Erfahrungsraum, der es erlaubt, die (Abfall-)Dinge zu kreuzen, über sie zu stolpern, sich ihnen auszuliefern – und mitunter auch nach ihnen zu greifen. In erkundenden Bewegungen, die das Gegenteil von touristischen Erfahrungen sind, sondern eher Reisen in unbekannte Areale darstellen, die mitten in den Städten situiert sein können, kann der Blick auf Abfälle überhaupt erst ermöglicht werden. Der Text Der Sammler von Evelyn Grill nimmt das Abfallergehen am Beispiel eines Sammlers auf. In von Abfällen geleiteten Explorationen von städtischen Räumen, im Ausloten von Seh-, Geh- und Wohngewohnheiten werden Normalitätsgrenzen in Frage gestellt, werden aber auch bestätigt. Dabei offenbart sich die Stadt mitunter als Ruine – sie kann den Ruin derer bezeugen, begleiten oder bedeuten, die sich auf Ruinengänge begeben. In Uwe Timms Rot ist das Gehen als Gegenbewegung ebenfalls bedeutsam. Zugleich nähert sich der Text dem Verworfenen über Geschichten – Geschichten freilich, die ersammelt, erkundet, erzählt werden müssen. Als zentral erweisen sich hier die Konzeptionen Walter Benjamins zu den Verlusten des Fortschritts. Die Mülldeponie fungiert in Rot, ebenso wie die Jazz-Musik, als Ort bzw. Zustand der Un-Ordnung. Diese Un-Ordnung zeichnet eine Kombination aus nicht-chronologischen, verbrauchten und entsorgten Geschichten aus. Die Geschichten werden oftmals vermittelt durch verworfene Dinge. Der Sammler und Rot erzählen davon, dass eine Nähe zu Abfällen, die, entweder im Zustand des Geschichtetseins, aber auch im Zustand isolierter, einzelner Abfalldinge Geschichten inkorporieren, zu einer Aufhebung der chronologischen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führen kann. Dabei zeichnen beide Texte auch die Gefahren, die in einer Nähe zu Abfällen und Abfälligem, zu Verworfenem liegen. So sind beide Romane auch Texte über Fallbewegungen. Fallbewegungen, die in beiden Fällen

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Abfallverbindungen

zum Ruin, zur Ruinierung und Auflösung der Hauptfiguren führen. In diesem Sinne sind beide Texte Beispiele ruinösen Erzählens. Zugleich bleiben, wie bei der Ruine, Bruchstücke eines abfallnahen Erzählens: Was bleibt, sind Geschichten, sind Abfallverbindungen. Zentral für beide literarischen Texte ist die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Abfällen, Kunst und Alltag, Schutzräumen und Schmutzräumen. Sie zeigen, dass dem Erzählen von Abfällen auch immer ein Moment der Resignation innewohnt – wer über Abfälle erzählt, wertet sie auf. Nur im Moment der Auflösung können Abfälle als Abfälle erzählt werden. In Rot finden sich diese Momente der Auflösung in den Beschreibungen von Musik, in kollektiven Erlebnissen, die jenseits des Erzählbaren liegen. Der Materialband Rom, Blicke von Rolf Dieter Brinkmann wurde in Bezug auf Abfälle und Geh- sowie andere Vermittlungsbewegungen analysiert. Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume Aufstände/Gewalt/Morde REISE ZEIT MAGAZIN (Tagebuch)1 ist der Titel eines weiteren posthum publizierten Materialbands Brinkmanns. Der Titel ruft die für sein Schreiben so zentralen Elemente des Zerfällens und Zerfallens von Konstellationen und Situationen ab, zugleich die Verbindung von Sprache und Erfahrung, die sich in seinem Roman Keiner weiß mehr bis zu den späten Schreibexperimenten Brinkmanns findet. Der Moment des Aufständischen oder zumindest eines, um den Titel seines Materialbands aufzugreifen, Gefühls für einen Aufstand stellt ebenfalls ein zentrales Moment in Uwe Timms Rot dar. Auch in diesem Roman werden in der Grundbewegung des Fallens, ein Fallen, das die Gesamtheit des Romans andauert, Bewegungen des Zerfällens, Fragmentierens, Montierens, des Verwendens von Bruchstücken erprobt. Rot zeigt, dass gerade in den Resten der Proteste, hier verstanden als Proteste gegen individuelle und kollektive Zustände, ein utopisches Moment liegt. In einer Zeit der zunehmenden Ökonomisierung, in einer Zeit, in der Fortschritt und Voranschreiten das Ziel sein sollen, ist das Verworfene, ist die Abwärtsbewegung widerständig: Abfall ist Auflehnung. Dieses Auflehnungselement findet sich in den nichtintegrierten Abfällen, den Bruchstücken. Gleichwohl finden sie sich – und hierin liegt ein Widerspruch – in den Gesamttext Rot integriert. Einzelne Bilder, einzelne Passagen bleiben, gerade im Moment der zentralen Auflösung, des Todes, isoliert. Dabei ist auch der Tod kein Grund zur Resignation: Aus der Asche kann Neues entstehen. Zugleich erinnern alle Texte, die in diesem vierten Kapitel versammelt sind, daran: Es gibt keine Restlosigkeit.

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Vgl. Brinkmann 1987, Hervorhebung dort.

Dritter Teil: Utopisches, synthetisierendes, kontaminiertes Erzählen

Susanne Hauser macht in Metamorphosen des Abfalls darauf aufmerksam, dass sich nicht nur die Menge an Abfällen quantitativ verändert hat, sondern auch die Abfälle selbst. Eine Veränderung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt: Ab etwa 1900 beginnt die Entwicklung von Stoffen, die nicht verrotten oder erst nach einiger Zeit in den Stoffkreislauf ohne Gefahr für Lebewesen zurückkehren können, die alle bisherigen Erfahrungen in dieser Hinsicht sprengt. Die Produktion von »KunstStoffen« und neuen Giften stellt einen qualitativen Sprung in den Voraussetzungen der Müll- und Abfallbeseitigung der industrialisierten Länder und aller Länder dar, in die diese Stoffe gelangen.1 Auch die Abfall-Stichwortgeschichte von Ludolf Kuchenbuch bestätigt dies. Kuchenbuch registriert eine kontinuierliche Bewegung in den Lemmata, neue kommen hinzu, andere fallen weg. Die Einträge werden ausführlicher und weiter verzweigt. Obgleich um 1900 Kunststoffe produziert werden2 , finden sich in den von Kuchenbuch untersuchten Lexika erst seit den 1970er Jahren Hinweise zu Kunststoffen in Bezug auf Abfälle. Wie ist diese Verzögerung zu erklären? Der Aufstieg von Kunststoffen ist eng mit dem Aufstieg der Kunststoffindustrie verbunden. Plastik und Plastikverpackungen waren der Traum eines jeden Herstellers: Im Gegensatz zu Naturmaterialien war der Nachschub an Rohmaterial sichergestellt, sie konnten präzise bearbeitet werden, waren leicht zu lagern und zu transportieren und konnten in jede denkbare Form und Wunschfarbe gepresst und eingefärbt werden. Handfertigungs- und Fertigstellungssowie Lagerungskosten konnten minimalisiert werden.3 Weniger in den Blick gerieten während des Aufstiegs dieser Industrie bis etwa Ende der 1970er Jahre die Kehrseiten, zu denen neben gesundheitlichen Schäden durch Kunststoffe auch große Mengen neuer Abfälle gehörten. Wie sollte mit diesen Abfällen umgegangen werden? Die von Hauser beschriebenen, bereits in der Einleitung zitierten vorherrschenden traditionellen Methoden des Verschwindenmachens von Abfällen wurden zum Großteil auch hinsichtlich der neuen Stoffe erprobt, also die gezeigten Bewegungen des Wegtragens, Aufschüttens, Begrabens, Wegschwemmens oder Verbrennens.4 Hierbei treten jedoch immer offensichtlicher die bereits in Kapitel 1 angesprochenen Verweigerungen zutage, die aus den scheinbar so smoothen5 , keine Spuren hinterlassenden Kunststoffen Problemstoffe machen. Verweigerungen, die damit zusammen hängen, dass die neuen Stoffe, wie Mark Jackson formuliert, Gebrauchsdinge zu zombies machen: »[Z]ombie matter like non-biodegradable plastics (one could add to plastics the deleterious effects of enriched nuclear materials, for instance, or persistent organic pollutants like DDT

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Hauser 2001, 26f. Zur Stoffgeschichte von Kunststoffen vgl. Meikle 1995, Fenichell 2001 sowie, mit Blick auf Deutschland, Ulmer u.a. 1997. Vgl. Meikle 1995, 107. Vgl. Hauser 2001, 27. Der englische Begriff smooth kann mit glatt, aber auch mit problemlos bzw. reibungslos übersetzt werden (vgl. PONS 2002, 850). Das Oxford English Dictionary definiert smooth mit: »Having a surface free from projections, irregularities, or inequalities; presenting no roughness oder uneveness.« (Simpson/Weiner 1991c, 808)

etc.)«6 . Jackson spricht die Langlebigkeit, aber auch die Toxizität dieser Stoffe an. Eine Giftigkeit, die sich mitunter potenziert. Diese Langlebigkeit von Stoffen hat auch Don DeLillo zum Thema seiner Romane gemacht. Der bereits zitierte Aufsatz von Todd McGowan zu Underworld, The Obsolescence of Mystery and the Accumulation of Waste in Don DeLillo’s Underworld, trägt den für diesen Abfallroman so zentralen Gedanken der unendlichen Akkumulation und der ebenso unendlichen Überlagerung von Dingen, von Menschen, von Geschichten und vor allem von Abfällen im Titel. Besonders, wie auch Julia Apitzsch zeigt, in einer wohlkomponierten Passage, in der das Alltagsleben der Familie Deming, stellvertretend für so viele USamerikanische Familien dieser Zeit, tableauartig ausgebreitet wird (vgl. DeLU, 513-521). Haushaltshilfen wie Staubsauger, Fast Food und andere Nahrungsmittel, all die nützlichen und praktischen Dinge, das zeigt die Passage, weisen Verbindungen auf, die im Alltag unsichtbar bleiben.7 Eine Passage, die neben der Entzauberung, der Abwertung von Geheimnissen auch die Neuverzauberung in sich trägt. Literarische Texte, das zeigt nicht nur Underworld, partizipieren an den Bewegungen der Ent- wie der Rückverzauberung der materiellen Welt, wenn sie diese Verbindungen zum Erzählstoff machen. Diesen Bewegungen widmet sich ein Forschungsband, an dem auch die bereits mehrfach zitierte Abfallforscherin Gay Hawkins mitwirkte. Der Band nimmt die Idee der Anhäufung, der Akkumulation zum Anlass, um sich unter dem Titel Accumulation. The material politics of plastic Kunststoffen zuzuwenden. Es komme, so eine der in der Einleitung des Bandes formulierten Forderungen, nicht nur darauf an, wie Hawkins bereits in The Ethics of Waste fordert, den Blick auf Abfälle zu schärfen und ihre Verwobenheit mit Alltagspraxen zu erkennen, sondern die Komplexität jedes Materials auch in Hinsicht auf Abfall herauszuarbeiten. Dieser Komplexität kann nur nachgegangen werden, wenn der Blickwinkel sich anpasst, sich weitet: »[T]he aim is to capture the multiplicity and complexity of plastics by engaging with its processual materiality, or plasticity.«8

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Jackson 2012, 220. Eine dieser Verbindungen arbeitet Apitzsch heraus: »In dieser Szene zeigt sich die Verbindung einer vermeintlichen ›domestic innocence‹ der amerikanischen Haushalte in den 1950er Jahren mit der militärischen Ideologie des Kalten Krieges.« (vgl. Apitzsch 2012, 300-305) Gabrys/Hawkins/Michael 2013, 2, Hervorhebung dort.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen Neue Verbindungen zwischen Möglichkeit und Kapitulation

In den bisherigen Kapiteln wurden die Materialien vernachlässigt, aus denen die Dinge, mit denen wir uns umgeben, hergestellt sind.1 Dennoch liegt in der Materialität vieles begründet: Wer von Abfall spricht, spricht eben auch von Materialen und Stoffen, die sich durch Abfallnähe oder auch Abfallferne auszeichnen. Dabei ist Material immer auch in Zusammenhänge, die Verwertungszusammenhänge sein können, eingebettet: Ist Papier bedruckt, kann es, wie Bölls Erzählung Der Wegwerfer zeigt, als Postwurfsendung abfallnah sein, als wertvolles Buch hingegen findet sich dieses Papier in den Händen des Sammelnden in der Kategorie der abfallfernen Dinge.2 Neben Papier ist ein solches Material, das eine bedeutende Rolle in Verwertungszusammenhängen spielt, das Aluminium. Ein Band der Reihe Stoffgeschichten3 widmet sich diesem Leichtmetall, dessen Leichtigkeit konterkariert wird durch eine der energieintensivsten Produktionsweisen überhaupt. Beliebt in der Getränkeindustrie, ist es zugleich abfallnah, was Aluminium aus ökologischer Sicht zu einem Schwergewicht macht, vor allem in der Gestalt kurzlebiger Produkte wie Verpackungen.4 Auch in der Encyclopedia of Consumption and Waste5 ist Aluminium verzeichnet.6 Die jeweiligen Qualitäten von Stoffen und Materialien, ihre Abfallnähe und Abfallferne, das zeigt nicht nur der Eintrag zu Aluminium, sind überaus bedeutsam für abfallzentrierte Analysen. So finden sich neben Einträgen zur Geschichte der Abfallwirtschaft7 , zu Verschmut-

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Zum material turn vgl. Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Eine solche Stoffgeschichte des Papiers liefert Lothar Müller (vgl. Müller 2012), zu Büchern als Abfälle bzw. der Bibliothek als Mülldeponie vgl. das 3. Kapitel in Wegmann 2000, 78-121. Vgl. Marschall 2008. Vgl. hierzu Marschall 2008, 258-261. Vgl. Zimring/Rathje 2012a und 2012b. Vgl. Nading 2012. Vgl. Massen 2012.

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Abfallverbindungen

zung von Land8 , Wasser9 und Luft10 , zu Abfällen in einzelnen Ländern und Regionen11 ebenso Haupteinträge zu Stoffen, zu Kupfer12 , Stahl und Eisen13 , zu Uran14 , zu Gummi15 , Styropor16 sowie mit Kunststoffen verbundene Einträge, etwa Fast Food Packaging oder Shopping Bags.17 Wenn sich schließlich Annie Leonard und Ariane Conrad in ihrem Band The Story of Stuff 18 den Dingen des Alltags widmen, ist es, wie sie zeigen, auch hier notwendig, diese hybriden Alltagsdinge gerade in ihrer Stofflichkeit genau in den Blick zu nehmen. Zum einen, um die ökologischen Bilanzen von Produktion, Konsumption und Entsorgung zu verfolgen, aber auch, um die Träume und Versprechen, die diese Dinge zu begehrten und massenhaft produzierten Konsumprodukten machen, besser zu verstehen. Während Leonard und Conrad den englischen Ausdruck stuff synonym verwenden mit goods, also Sachen oder Gütern, umfasst der deutsche Ausdruck noch andere Dimensionen. Stuff heißt auch Gewebe, Material, Stoff. Ivan Illich breitet in der Vorbemerkung von H2 O und die Wasser des Vergessens die für ihn wichtigen Dimensionen des Begriffs Stoff aus, die zentral für seine essayistischen Betrachtungen zur Geschichte des Umgangs mit Wasser sind: »Im englischen Original spreche ich von ›stuff‹. Das deutsche Wort ›Stoff‹ scheint mir noch besser angebracht. Plastisch und greifbar spricht es von materialem Gewebe und hat doch das Echo weiterer und tieferer Bedeutungen nicht verloren.«19 Die Produktion von Wünschen und Träumen, aber auch der Konnex von Wünschen, Enttäuschung und Abfall wurde bereits in der Analyse von Genazinos Abschaffel angesprochen. Wasser, so zeigt Illich, ist ebenfalls ein Stoff der Träume, vor dem Kommerzialisierungsprozesse nicht haltmachen. Illich markiert diesen Unterschied mit der Verwendung zweier Begriffe: das kommerzialisierte, das kontrollierte, das gereinigte Wasser, das eben diese Qualität eingebüßt hat, Stoff von Wünschen und Träumen zu sein, bezeichnet er mit dem chemischen Begriff H2 O. Untrennbar verbunden mit H2 O ist Abwasser, verunreinigtes, verschmutztes Wasser – die Kehrseite von Träumen. Die Einleitung des Sammelbandes Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in Künsten und Wissenschaften20 geht ebenfalls auf die mehrdimensionalen Bedeutungen von Stoff ein. Gemeint ist hier Rohstoff, Naturstoff, Werkstoff, aber auch Kunststoff. Barbara Naumann, Thomas Strässle und Caroline Torra-Mattenklott zeigen in ihrem Hinweis auf die Etymologie von ›Stoff‹, wie bei diesem relativ spät bezeugten Wort, im Deutschen erst 8 9 10 11

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Vgl. Thompson 2012. Vgl. Fitz-Henry 2012. Vgl. Korbas-Magal 2012. So liefern vier chronologische Einträge eine umfassende systematische Konsum- und Abfallgeschichte der USA von 1800 bis zur Gegenwart (vgl. Liboiron 2012a, Nikolova 2012c, White 2012 und Farina/Zimring 2012). Vgl. Fisher 2012. Vgl. Birch 2012. Vgl. Laviolette 2012. Vgl. Boslaugh 2012. Vgl. Lukas 2012c. Vgl. die Artikelübersicht in Zimring/Rathje 2012a, vii-xii sowie den Index Zimring/Rathje 2012b, 1115-1176. Vgl. Leonard/Conrad 2011. Illich 1987, 8. Vgl. Naumann/Strässle/Torra-Mattenklott 2006.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

seit dem 17. Jahrhundert, die wirtschaftliche Dimension eine große Rolle spiele. So wurde der Begriff zunächst von Kaufleuten für Textilien, vor allem Seidenstoffe verwendet und verbreitete sich zeitgleich mit der Expansion der Seidenfabrikation.21 Diese Dimension des textilen Gewebes findet sich auch in der Literaturwissenschaft, wenn von Stoff gesprochen wird: Aus Worten werden Texte gewebt. Stoff meint in engerem Sinn aber auch »Konstellation aus Figuren, Ereignissen, Handlungen und Konflikten«22 . In einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung sind, das zeigt nicht nur die Beschäftigung mit Stifters Texten, diese vielfachen Dimensionen des Stoff-Begriffs von Bedeutung. Der Blick ist darauf zu richten, wie der Text gewebt ist, welche Stoffe verarbeitet werden und wie diese Konstellationen mit konkreter Stofflichkeit korrespondieren. Ivan Illich formuliert zu seiner Untersuchung zum Wasser: »Mir geht es um die Möglichkeit einer Geschichtsschreibung der stoffartigen Selbstverständlichkeiten, aus denen die materielle Kultur einer Epoche gewoben wird.«23 Während sich Illich dem Wasser widmet, sollen im Mittelpunkt des nachfolgenden Kapitels mit den Kunststoffen neue Stoffe stehen, die jedoch mit dem uralten, elementaren Stoff Wasser vieles gemeinsam haben: Die Transparenz des Stoffes, die Form- und Wandelbarkeit, aber auch die Kehrseiten der ökonomischen Nutzung, die schwerwiegende ökologische Folgen hat. Während Wasser jedoch ein Naturstoff ist, waren Kunststoffe, organische polymere Festkörper, schon immer wenigstens halbsynthetische, kontrollierte, gereinigte Stoffe, waren zugleich seit ihrer Erfindung ebenfalls abfallnahe Stoffe. Plastikhistoriker Jeffrey Meikle fasst diese Komplexität, die Plastikdichotomien, wie er sie bezeichnet, zusammen als changierend zwischen den Eckpfeilern »tradition and progress, nostalgia and utopia, the natural and the artificial, immanence and transcendence, balance and imbalance, conservation and waste […].«24 Ob es sich tatsächlich um diese Dichotomien handelt, welche anderen Themen und Diskurse mit diesen Stoffen und Motiven verbunden sind, darauf soll der Analyseschwerpunkt im fünften Kapitel liegen – immer verbunden mit den beiden großen Themen, dem Abfall und den Verbindungen, die über und durch Abfall geschaffen werden. Während sich, wie zu zeigen ist, im Erzählen über die neuen Stoffe Formen des utopischen und des synthetisierenden Erzählens finden, zeigen sich die Kehrseiten dieser Stoffe durch ein Erzählen, das als ›kontaminiertes Erzählen‹ bezeichnet wird. Was ist mit kontaminiertem Erzählen gemeint? Susanne Hauser weist in Bezug auf kontaminierte Brachen hin, wie prägend die Aufgabe des kompletten Aufräumens und dadurch der Glaube an die Möglichkeiten der Dekontaminierung sind: »Die Rede von der Dekontaminierung suggeriert, daß es einen Prozeß gab, der reversibel ist. Was in der Zeit der industriellen Produktion angerichtet wurde, kann heute wieder rückgängig gemacht werden. Zeit und Folgen der industriellen Produktion können materiell gelöscht werden.«25 Literatur legt dagegen offen, dass ein solcher Löschungsprozess nicht immer möglich ist – und erzählt die Konsequenzen dieser Verweigerung der Stoffe, restlos zu

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Vgl. Naumann/Strässle/Torra-Mattenklott 2006, 8. Doering 2007, 735. Illich 1987, 9. Meikle 1996, 325. Hauser 2001, 71.

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verschwinden. Dabei bleiben die Konsequenzen oft im Hintergrund, sind nicht zentrales Erzählmotiv. Ähnlich wie kontaminierte Flächen strahlen die Stoffe und Kontaminationen jedoch auf das Erzählte ab. In den nachfolgenden Analysen eines Erzählens über und mit Stoffen soll auch ein weiterer Begriff von Bedeutung sein: das Motiv. Dirck Linck fasst Motiv in zwei Dimensionen, wenn er über Dinge im Pop schreibt: »[E]rstens sind die Dinge und eine anerkennende Haltung zu ihnen zentrale Sujets, Vorlagen, Themen der Darstellungen des Pop, seine Motive also, zweitens ist das ›liking things‹ der Antrieb zur Darstellung, das Motiv, diese in Angriff zu nehmen«26 . Dies führt in den Analysen dieses Kapitels, auch von Texten, die nicht zur Popliteratur zählen, zu der Frage: Über welche Dinge, über welche Materialien wird erzählt und, darauf geben die Texte nicht immer eine eindeutige Antwort, welche Gründe im Sinne von Motiven könnte es für dieses Erzählen geben? Kunststoffdinge sind so in den Texten Brinkmanns, Pareis, Genazinos oder Meineckes zwar Stoffe des Erzählens, Realitätspartikel; die Motive dieses Erzählens könnten jedoch ganz unterschiedliche sein. Dies kann von einer Faszination bezüglich neuer Stoffe bis hin zu einer demonstrativen Abneigung oder Kopplung mit beispielsweise Herrschaftsapparaten reichen. Diese Vielgestaltigkeit von Stoffen und Motiven in Bezug auf Kunststoffe korrespondiert, so eine der Thesen, mit der Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit des Stoffes und seiner Verbindungen.

5.1

Müllinsel: Annette Pehnts Insel 34

Inseln haben in Erzähltexten grundsätzlich die Funktion einer Projektionsfläche für Träume und Sehnsüchte. So auch in Annette Pehnts Roman Insel 34 (2003).27 Fast gegen Ende eines Textes, in dem wir der Protagonistin und Ich-Erzählerin durch ihre Kindheit und Pubertät gefolgt sind, die zugleich den Beginn ihrer Inselforschungen markiert, nach mehreren Aufenthalten auf verschiedenen Inseln und merkwürdigen Prüfungen, landen wir mit der Protagonistin auf einer weiteren Insel. Es ist Insel Dreiunddreißig28 . Sie ist der titelgebenden Insel Vierunddreißig, die zwar über die Gesamtheit des Romans gesucht wird, aber bis zum offenen Ende unerreichbarer Sehnsuchtsort bleibt, vorgelagert. Dem Roman ist sie, nach einem langen Verweilen mit der Protagonistin auf Insel Achtundzwanzig, zwar nur einige Passagen wert. Dennoch zeichnet sie sich,

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Linck 2006, 156. Rudolf Drux (Drux 2007) weist darauf hin, dass diese zweite Bedeutungsebene, die Motivierung bzw. Motivation »in der modernen literaturwissenschaftlichen Motivforschung zugunsten seines stoff- und strukturorientierten Verständnisses zurückgedrängt [werde], […] die Bedeutungsdichotomie [jedoch] nach wie vor virulent […]« (Drux 2007, 640) sei. Vgl. Pehnt 2004, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle PeI und Seitenzahl zitiert. Im Gegensatz zum Romantitel werden im Romantext alle Inselnamen als Zahlworte geschrieben. Die Nummerierung der Inseln ist zugleich Realität im Text, die Figuren verwenden allesamt Zahlennahmen zur Bezeichnung der Inseln. Diese Bezeichnung wird für die vorliegende Interpretation übernommen.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

nach der Kargheit von Insel Achtundzwanzig, durch ihre Fülle aus.29 Eine Fülle, die, wie das eröffnende Zitat andeutet, bedeutsam ist.30 Insel Dreiunddreißig ist nämlich eine Insel, die aus den Resten der sie umgebenden Zivilisation besteht. Insel Dreiunddreißig ist eine Müllinsel: »[V]or uns erstreckte sich der Müll in unendlicher Farbigkeit. Zuerst sah ich nur gelbe, blaue und grüne Flecken, so weit der Blick reichte, dazwischen Erdstreifen, Rostrot, Schlammbraun, matschige Furchen, dann lila Fetzen, ein rissiges Rohr, eine zerfetzte Matratze, ich begann, immer mehr Gegenstände zu erkennen […]«. (PeI, 180) Hier lebt und arbeitet Herr Wiesent. Dennoch steht zunächst nicht Herr Wiesent, stehen nicht Menschen im Zentrum der Erfahrungen auf dieser Insel, sondern schiere Stofflichkeit ist es, die die eingangs zitierte Beschreibung evoziert. Der Blick der IchErzählerin, der vom Allgemeinen zum Speziellen, von der Müllkippe als Ganzem und als Anderes sich schnell wandelt zum Erkennen von Details der entsorgten und versammelten Dinge, der sortiert und genauer wahrnimmt, und Materialien, ehemalige Funktionen und weitere Details der jeweiligen Dinge aufzählt: »Schaumstoffreste, ein eingesunkenes Sofa, eine zerbrochene Klobrille, aufgequollene Papiere, Plastikeimer, Farbdosen, alte Fässer, aus denen Flüssigkeit heraussickerte, einen Kühlschrank ohne Tür, ein Klavier ohne Tasten, aufgetürmte Gummireifen, einen aufgeweichten Schneemann aus Pappe.« (PeI, 180) Als eine der »bemerkenswertesten Müllbeschreibungen der deutschen Literatur«31 bezeichnet Wolfgang Schneider diese Textpassage. Wie die Abfälle, denen wir in anderen literarischen Texten begegnet sind, sind auch die in Pehnts Text versammelten Abfalldinge nicht zufällig da: Sie wurden platziert. Die massenhafte Deponierung von Abfällen ist, wie gezeigt, eine Entsorgungstechnik, die mittlerweile durch die Müllverbrennung, die sogenannte thermische Verwertung abgelöst wurde, zumindest in Deutschland. Auch wenn die Zeit, in der die Handlung spielt, uneindeutig bleibt, gibt es einen Hinweis, dass auf dem Festland der Müll nicht deponiert, sondern verbrannt wird (vgl. PeI, 19). Eine Mülldeponie wurde in Michael Endes Momo als anderer Ort, als Nicht-Ort jenseits von Raum und Zeit diskutiert. Sie wurde von den grauen Herren genutzt, um fernab der Menschen zu agieren und konspirative Treffen abzuhalten. Die Müllkippe war auch zentraler Ort in Uwe Timms Rot. Die Interpretation des Romans hat gezeigt, wie die Deponie als Speicher von Geschichten und Geschichte ein Bewahrungsort ist, der auch Trostort sein kann. Obgleich in der Asche das Potenzial neuer Anfänge, neuer Geschichten liegt, ist für Uwe Timms Narrativ die Deponierung der ›thermischen Verwertung‹ vorzuziehen. Denn diese Ablagerung von Geschichten

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Zu den Aspekten der Kargheit und des erzählerischen Minimalismus vgl. Bartl 2013, besonders 44. Allerdings werden, zeigt Andrea Bartl, sowohl im Zusammenhang mit Insel Achtundzwanzig eine ›Poetik der Kargheit‹, wie Bartl sie nennt, als auch die Müllkippe als Ort der Fülle erzählerisch vorbereitet. Bartl illustriert das am Motiv der Nahrung und der Nahrungsaufnahme, die von der üppigen Familienmahlzeit zur kargen Verpflegung auf Insel Achtundzwanzig changiert. Zugleich zeigt Bartl, dass bereits in der Pubertät Fülle und Leben, Kargheit und Verfall für die Protagonistin nah beisammen liegen: Der pelzig schimmlige Käse am Familientisch (vgl. PeI, 13) verweise bereits auf den Müll der Insel Dreiunddreißig (vgl. Bartl 2013, 43). Schneider 2013, 34. Auch Bieber 2007 (75-78), Bartl 2013 (43f.) und Hermann 2013 (62) analysieren diese Deponie-Beschreibung.

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wäre durch eine, abfallhistorisch bereits zur Entstehungszeit von Rot einsetzende, Abwendung von der Deponierung und Hinwendung zu thermischen Verfahren bedroht. Beide Elemente finden sich auch in Bezug auf die Müllinsel Dreiunddreißig. Die Fülle der Dinge, Stoffe und Eindrücke auf der Kippe zeugen von Menschen. Dennoch bleiben viele Fragen offen: Woher kommt der Abfall, warum wird er lediglich von nur einer Person verwaltet und bearbeitet, wie gelangt er auf Insel Dreiunddreißig? Warum wird ein Teil des Mülls dennoch auf diese schwer erreichbare Insel transportiert, um dort deponiert zu werden? Diese Fragen, das sei schon verraten, können nicht beantwortet werden. Sie bleiben, genauso wie die titelgebende Insel Vierunddreißig als Insel nebulös bleibt, ungeklärt. Nicht nur ungeklärte Fragen machen den Gesamtroman Insel 34 rätselhaft, wenig (be)greifbar. Dabei bleibt die geschilderte Stofflichkeit der Müllkippe das vielleicht greifbarste und begreifbarste Element dieses Textes. Die Geschichte, die vor der Ankunft der Protagonistin auf der Abfallinsel erzählt wird, ist leicht und zugleich kaum zu rekapitulieren: Wir folgen der Ich-Erzählerin durch die Schulzeit, das Studium sowie die ersten eigenständigen Forschungen. Ihr Weg führt sie über ein stetig zunehmendes Interesse an Inseln schließlich zu Professor Losten und der Insel- bzw. Dialektforschung. Die Protagonistin arbeitet daran, dass ihr die Inseln weniger fremd werden und wählt den Weg einer wissenschaftlichen Beschäftigung. Ausführlich können wir an ihren Recherchen teilhaben (»Ich las Bücher über Leute, die auf Inseln lebten, über Robinsons und Einsiedler, Reisende und Wahnsinnige, über Wilde, die auf Inseln zu Gott fanden, und über Priester, die über Inselmädchen herfielen. Ich las Statistiken über Helgoland, Abhandlungen über ägäische Inselschulen, über das dorische Kreta, die frühe inselkeltische Erzähltradition, die Mythen der Isländer und die Geographie der Südseeinseln.« (PeI, 29)). Weiter heißt es: »Ich verstand wenig. Ein bißchen was wird doch auch für meine Inseln stimmen, dachte ich und stellte mir meine Inseln jeden Tag anders vor, je nachdem, was ich gerade las.« (PeI, 29f.) So wenig greifbar wie Abfälle sind die Inseln. Wir begegnen ihnen, dennoch können wir nie das ganze Bild sehen, sondern nur Puzzleteile – so, wie für die Protagonisten die Inseln in der Kindheit fremd und randständig waren (vgl. PeI, 5). Ada Bieber widmet sich in ihrer ausführlichen Interpretation von Pehnts Roman vor allem diesem Element der Fremdheit, bezieht sich hier jedoch vor allem auf die angedeuteten Erlebnisse auf Insel Achtundzwanzig.32 Sie zeigt, wie wir als Leserinnen der Protagonistin auf ihrem Weg folgen, der Fremdheit mindert, aber auch auszuhalten bereit ist: »Das ›Nicht-Vertraute‹ wird von Ort zu Ort vertrauter, so dass es das Merkmal der Fremdheit allmählich verliert. […] Es kann vermutet werden, dass gerade durch das ›Bestehen-Lassen‹ der lebensweltlichen Fremdheit ein Zugang eher möglich ist als durch den absoluten Willen zum Abbau [von Fremdheit, CHG].«33 Sie führt weiter aus: »Durch die alltägliche Erfahrung von Fremdheit und Vertrautheit gleichermaßen vollzieht sich der Prozess des Fremdheitsabbaus sukzessiv.«34

32 33 34

Bieber 2007, besonders 55-122. Bieber 2007, 113. Bieber 2007, 113.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Inseln eignen sich vor allem durch ihre Begrenztheit35 gut zum Nachdenken über Fragen des Zusammenlebens von Menschen, als Experimentierfeld, als Ort der Imagination.36 Inseln sind wichtige Handelsräume und, das illustriert auch der Blick auf Insel 34, Experimentier- und Imaginationsräume. Iris Hermann fasst den Roman als »Poetik der Adoleszenz«37 und sieht in ihm »eine Poesie, die Gelerntes abstreift, Erworbenes vergessen, Nichtgefühltes fühlbar machen kann und letztendlich auf eine Intensität der Wahrnehmung und des Fühlens zielt.«38 Dies gilt in besonderem Maße auch für den Umgang mit Abfällen. Fremdheit wird sichtbar durch eine Isolierung von Alltagsbewegungen, wie sie besonders gut literarische Texte leisten können. Bieber zeigt, dass gerade »das Leben im Müll und auch der bewusste Umgang mit Abfall eine Lebensweise dar[stellt], die zunächst unvertraut ist.«39 Dass diese Abfallerkundungen auch gefährlich sein können, zeigen die Hinweise auf Kontaminationen, die Gefahr der Vergiftung auf Insel Dreiunddreißig: »Ich ordne auch den Sondermüll, mit großen Handschuhen aus Teflon und einem Mundschutz vor dem Gesicht, den mir Herr Wiesent geschenkt hat, sogar eingewickelt in Geschenkpapier, das sich oft findet auf dem Müll, zwischen Zeitungen und Akten flachgepreßt, kariert oder mit weihnachtlichem Glitter.« (PeI, 185f.) Auch Kunststoffe finden sich auf der Deponie: »Ich sah zu, wie der Bagger sich haufenweise Müll griff, Bauschutt, Plastikplanen und Gummifetzen, alles durch die Luft schwenkte und in einen orangenen Schredder stopfte, der einen Strahl zermalmten Mülls auf die Halde spie.« (PeI, 181) Bereits zu Beginn des Romans kommt eine weitere Verbindung zwischen Inseln und Abfällen zur Sprache, wenn kurz eine Kunstinstallation Christos erwähnt wird, in deren Rahmen er eine Insel in Plastik verpackte (vgl. PeI, 67f.). Nicht geklärt wird jedoch, was nach den inszenierten Verpackungsaktionen Christos mit den Verpackungsmaterialien passiert. So bleiben, wie angedeutet, viele Rätsel offen, wie Bieber betont: »Die Gleichzeitigkeit von erzählten und verweigerten Informationen wird im Text durch unauflösbare Rätselstrukturen, Ablenkungen und Nebensächlichkeiten hervorgehoben. Die konsequente Aussparung der Insel 34 ist die auffälligste Verweigerung an Information.«40 Auch die Verbindungen, die hergestellt werden, müssen von der Leserin selbst entschlüsselt werden. Dabei wird zugleich, markiert durch die Insel-Zitate zu Beginn der Kapitel, an die Rolle von Erzählungen, von Mythen und Geschichten erinnert, die unser Bild von Inseln – aber auch von anderen Stoffen – prägen.41 Wie die Müllkippe akkumuliert der Roman: Er versammelt Erzählungen über Inseln. Diese Erzählungen werden jedoch nicht kontextualisiert oder weitergeführt, sondern bleiben als kapiteleinleitende Motti oder auch intertextuelle Bezüge isoliert – wie die Inseln selbst.

35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Moser 2005b, der darauf hinweist, dass dieser Topos der Begrenztheit die Kolonisation von Inseln begünstigte (vgl. Moser 2005b, 410). Vgl. auch die Beiträge in Wilkens u.a. 2011. Hermann 2013, 53. Hermann 2013, 62. Bieber 2007, 113. Vgl. Bieber 2007, 82-90. Zu Insel und Mythos vgl. Billig 2010, 24-35.

321

322

Abfallverbindungen

5.2

Bändigungsversuche und Verweigerungen

Insel Dreiunddreißig ist, wie gezeigt wurde, eine Abfallinsel. Was in Insel 34 nur marginal zur Sprache kommt, sind die Verbindungen von Abfällen und Schiffen. Während Abfälle und Inseln in der kurzen Episode auf Herrn Wiesents Abfallinsel fast zu einer untrennbaren Einheit werden, bleibt in der Episode vieles ungeklärt: Woher kommen die Abfälle? Werden sie lediglich deponiert? Wie passt die Begrenztheit der Insel mit der Deponierung zusammen? Welche Verbindungen bestehen generell zwischen Abfällen und Schiffen sowie Inseln und Abfällen? Verbindungen, die der Text nur andeutet. Immerhin legt er eine Fährte, die von Bedeutung ist für dieses fünfte Kapitel: Inseln sind Stationen, Schiffe Fortbewegungsmittel. Ein Müllschiff ist es schließlich auch, das die Protagonistin sowohl auf Insel Achtundzwanzig als auch auf Insel Dreiunddreißig bringt: »Also, sagte der Mann schließlich, da hinten ist irgendwo der Müllfrachter, der fährt jeden dritten Tag nachmittags zur Achtundzwanzig, manchmal auch bis zur Dreiunddreißig, vielleicht hast du ja Glück, und er nickte mir zu und ging zurück in die Kajüte.« (vgl. PeI, 73) Schiffe und Inseln können so als Orte und Medien der Transformation und des Übergangs bezeichnet werden. Dem utopischen Potenzial von Inseln und Inselimaginationen widmet sich Judith Schalansky in ihrem Atlas der abgelegenen Inseln.42 »Revolutionen werden auf Schiffen verkündet, Utopien auf Inseln gelebt. Dass es etwas anderes geben muss als das Hier und Jetzt, ist ein tröstender Glaube«, schreibt Schalansky im Eintrag zur Insel Tristan da Cunha.43 Volkmar Billig zeigt mit Michel Foucault, dass Insel und Heterotopie quasi deckungsgleich sind, dass »die Insel nicht nur eine Heterotopie, sondern jede Heterotopie auch eine Art Insel vorstellt.«44 Der Begriff der Heterotopie begegnete uns bereits im Nachdenken über Stifters Rosenhaus, über das Bordell sowie im Zusammenhang mit Festen.45 Während Utopien unwirkliche Räume sind,46 bezeichnet Foucault die Heterotopien als Orte, die mit dem Hier und Jetzt in enger Beziehung stehen, in denen »die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.«47 Heterotopien weisen als andere Räume zugleich auch andere, eigene Zeitordnungen auf, die Foucault Heterochronien nennt.48 Auch das Schiff, darauf spielt Schalansky an, findet in Foucaults Nachdenken über Heterotopien, über andere Räume, Erwähnung. So schreibt Foucault, dass »das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage nicht nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist (nicht davon spreche ich heute), sondern auch das größte Imaginationsarsenal«49 . Gleich, ob sie Heterotopien sind:

42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Schalansky 2009. Schalansky 2009, 48. Billig 2010, 256, Hervorhebung dort. Zu Foucaults Heterotopie-Konzept in Bezug auf Inseln vgl. ausführlich Billig 2010, 255-257. Vgl. Foucault 1993a, 44. Vgl. Foucault 1993a, 39. Foucault 1993a, 39. Vgl. Foucault 1993a, 43. Foucault 1993a, 46.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Schiffe schaffen Verbindungen, sind, »the glue and the grease of the global economy«50 , der Klebstoff, der die globale Ökonomie zusammenhält und zugleich der Antrieb von Globalisierungsprozessen. Sie ermöglichen, dass über Warendinge neue Verbindungen, aber auch Machtverhältnisse geschaffen und bestätigt werden. Verbindungen, die etwa in Heinrich Bölls Der Wegwerfer erkennbar wurden. Wie das Schiff, wie die Insel ist auch die Mülldeponie ein anderer Raum, ein heterotopischer Raum. In Insel 34 nähern sich Deponie und Schiff (und ebenfalls auch Insel) einander an, wenn im Text von einer Müllinsel, von Müllfrachtern und Mülltransporten die Rede ist. Zudem sind Schiffe selbst eng mit Abfall verbunden.51 Zum einen werden global operierende Schiffe selbst zum Sondermüll, zum Problemabfall.52 Zum anderen verbinden sich Schiffe und Abfälle besonders in Gestalt von Mülltransporten. Dystopische Elemente erhält das Schiff immer wieder durch Transporte von Giftmüll. So finden sich auch in Underworld, diesem großen Roman zu Verbindungen, die auch und gerade durch Abfall geschaffen werden, Hinweise auf solch ein Giftmüllschiff. In einer Textpassage kommt ein Gespräch auf ein Schiff, das keine Anlegestelle findet53 : »The ship’s been out there, sailing port to port, it’s almost two years now.« (DeLU, 278) Todd McGowan erklärt zu diesem Schiff: »This ship has an aura of mystery surrounding it precisely because it cannot find a receptive harbor, even in a ›less developed country‹ that would ›take a fee amounting to four times its gross national product to accept a shipment of toxic waste‹«54 . Die Randständigkeit dieses Schiffes macht den Ozean, dieses verbindende Gewässer, zu einem Symbol der Trennung – und mit ihm das Giftmüllschiff.55 Im Wien Stifters wurde Abfall dadurch entsorgt, dass er aus dem Fenster gekippt wurde. Auch wenn Stifter Wien 1848 endgültig verlässt,56 zeigte sich bereits in dieser Zeit, dass durch eine neue Quantität von Abfällen die Entsorgung auf die Straßen und Gassen der Stadt nicht mehr praktikabel bleiben konnte.57 Die Abfallströme mussten anders entsorgt werden. Die sogenannten Unratsschiffe waren das Mittel zu einer Neuregelung der Entsorgung, wie Gerhard Meißl anhand einer Quelle aus dem Jahr 1879 zeigt: »Der in Kübel gefüllte Aushub wurde zum Donaukanal gebracht, dort auf Schiffe verladen, kanalabwärts bis zur Ausmündung in die Donau transportiert und dann einfach in den Strom geleert. All das geschah nächtens […]«58 . Die Meere der Welt sind heute unbewachte, riesige Müllkippen geworden.59 50 51 52

53 54 55

56 57 58 59

Crang u.a. 2012, 59. Vgl. Alexander/Reno 2012. Vgl. hierzu Reuß/Dannoritzer 2013, die darauf hinweisen, dass Schiffe wegen vieler gefährlicher Stoffe, etwa Asbest, Kühlmittel, Rückstände von Ölen sowie sich an Bord befindender Schwermetalle in die Kategorie des Sondermülls fallen (vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 119). Vgl. zu dieser Textstelle auch McGowan 2005, 136. McGowan 2005, 136. Zu dieser Passage vgl. auch Apitzsch 2012, 287, zur historischen Vorlage des Schiffes, die Khian Sea vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 255-257 und Leonard/Conrad 2011, 224. Das Schiff sollte im August 1986 giftige Verbrennungsrückstände der Stadt Philadelphia entsorgen und konnte erst im Oktober oder November 1988, nach 24 Monaten auf Reise und der Ablehnung von Häfen in fünf Kontinenten, die Fracht entsorgen (vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 255). Vgl. hierzu Lachinger 2006, 54f. Zur Abfallentsorgung in Wien vgl. die historische Darstellung in Payer 1997. Zitiert nach Meissl 2001, 168. Vgl. hierzu das Kapitel »Das Meer und der Müll« in Grassmuck/Unverzagt 1991, 260-266.

323

324

Abfallverbindungen

Weiter oben wurde Judith Schalanskys Eintrag zur Insel Tristan da Cunha zitiert: »Revolutionen werden auf Schiffen verkündet, Utopien auf Inseln gelebt. Dass es etwas anderes geben muss als das Hier und Jetzt, ist ein tröstender Glaube«, schreibt sie. Der Untertitel ihres Kompendiums Atlas der abgelegenen Inseln, nämlich Fünfzig Inseln, auf denen ich niemals war und niemals sein werde, erinnert an das historische Vorbild dieser Art von Insel-Atlanten, das Insularium der Renaissance.60 Im Insularium verschwimmen Imagination und tatsächliche Entdeckung. Christian Moser schreibt zu den Inseln, die in diesen Insularien erfasst wurden: »Die neu entdeckten Inseln Asiens und Amerikas stehen darin gleichberechtigt neben den altbekannten Inseln der mediterranen Welt und den erfundenen Inseln der Poesie.«61 Moser zeigt, wie das Zusammentragen von heterogenen Quellen auch ein Mittel der Einverleibung, der restlosen Aneignung darstellte und welche Bedeutung Wissensbestände und Traditionen spielten, aus denen ein Ausbrechen kaum möglich war.62 Sinnbild für radikale Ausbruchversuche war in der frühen Neuzeit so auch das Denken mit und durch Inseln, wie Moser am Beispiel von Thomas Morusʼ Utopia zeigt.63 Auch die namenlose Protagonistin in Insel 34 wird Forscherin, will die ihr unbekannten Inseln zähmen. Was wir in dieser Erzählung verfolgen können, ist zwar zum einen ein Abbau an Fremdheit, zum anderen bleiben Rätsel bestehen. Der Text erzählt so nicht nur über erfolgreiche Kartierungen, sondern auch über misslungene Tastversuche, über Scheitern, Verluste und über fehlende Verbindungen.64 So berichten sowohl Insel 34 wie auch das Projekt Schalanskys nicht nur von Expeditionen, von Aufbrüchen zu Neuem. Sie arbeiten, und deshalb sind beide Texte für diese Untersuchung bedeutsam, mit ähnlichen Operationen, wie sie Markus Krajewski am Beispiel der Weltprojekte aufzeigt.65 Zugleich reflektiert der Atlas der abgelegenen Inseln diese Operationen der Zähmung der Welt durch »gnadenlose Generalisierung, welche die Vielfalt der realen Geografie reduziert, sie durch stellvertretende Zeichen ersetzt und darüber entscheidet, ob ein paar Bäume mehr schon einen Wald ergeben, ob eine menschliche Spur als Pfad oder Feldweg registriert wird.«66 Jede Kartierung ist so auch immer ein Bändigungsversuch. Im Bändigungswillen, im Versuch der Eingrenzung und Zähmung, im Versuch, einen Überblick zu bekommen, verbinden sich die Operation der Kartierung und der hegemoniale Umgang mit Abfall. Solch ein Bändigungs-, gar ein Versöhnungsversuch wird in Bezug auf abfallnahe Plastikflaschen in Thomas Meineckes Tomboy67 (1998) erwähnt. Es handelt sich um eine ökonomisch inspirierte Versöhnung. In der von einer der Figuren zitierten Zeitungsmeldung wird illustriert, wie im Zuge eines neuen Recyclingprozesses alte Plastikflaschen benutzt werden, um daraus die Rohmaterialen für die Produktion von Da-

60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Moser 2005b, 421f. Moser 2005b, 422. Vgl. Moser 2005b, 422f. Vgl. Moser 2005b, 424f. Zu Kartierungsprozessen in Insel 34 vgl. auch Bieber 2007, 128-135. Vgl. Krajewski 2006 und Kapitel 2.4 dieser Arbeit. Schalansky 2009, 8f. Meinecke 2000, 74f. Zu Meineckes Tomboy vgl. auch die ausführliche Interpretation in Kapitel 5.6 dieser Arbeit.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

menunterwäsche zu gewinnen. Diese Unterwäsche soll dann in Japan auf den Markt kommen: Ein paar Tage später ließ sich auf den Frauenseiten der Wochenendzeitungen nachlesen, daß die deutsche Unterwäschefirma Triumph Büstenhalter und Höschen aus wiederverwertetem Kunststoff, in diesem Fall aussortieren, alten Plastik-Flaschen, auf den japanischen Markt zu bringen trachtete. Anläßlich einer Tokioter Pressekonferenz hatte der Marketing-Direktor des Münchner Unternehmens erklärt, wie sich aus genau dreieinhalb zu Plastik-Granulat zerkleinerten Anderthalb-Liter-Flaschen ein zartgrünes, BH und Slip umfassendes Wäscheset herstellen ließ. Auch die blumige Spitze dieser, dem Grundstoff gemäß, nicht in Weiß erhältlichen Dessous sollte, naturgemäß, aus Abfall bestehen.68 Im Text selbst wird der Prozess zumindest aus der Sicht einer der Nebenfiguren, Bodo Petersen, kritisch kommentiert, gar abgelehnt. Petersen erklärt: »Die Wiederverwertung von industriellem Abfall auf weiblicher Haut, ob japanischer, italienischer oder deutscher […] stelle seines Erachtens eine nicht hinzunehmende Herabwürdigung der Frau dar.«69 Der Firma Triumph dürfte dieser Einwand gleichgültig sein. Sie präsentiert den Recycling-Triumph auf einer Pressekonferenz durch den Marketingchef und zeigt, was dieser Recycling- bzw. Upcycling70 -Prozess vor allem ist: Ein ökonomischer Triumph, flankiert durch offensives Marketing, aber auch der Versuch einer Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Der Verkauf von verpacktem, in Einweg-Plastikflaschen abgefülltem Trinkwasser hat immer Abfall zur Folge. Für die Inseln Japans werden in fast magisch anmutenden Akten Plastikflaschen in Unterwäsche verwandelt. Der Triumph ist vielleicht komplett, wenn ganze Inseln aus Plastikabfällen gezaubert werden können. Dass dies nicht abwegig ist, zeigt Jenny Bryant-Tokalau am Beispiel künstlicher Inseln. Anhand verschiedener Projekte diskutiert sie die Vor- und Nachteile solcher künstlicher Inseln und kommt in Bezug auf Inseln aus Plastikabfällen zu dem Schluss, man solle von der Möglichkeit verstärkt Gebrauch machen, aus Plastikabfällen Neues entstehen zu lassen »Until the globe can minimise waste everywhere, the possibilities of plastic islands, or at the very least, island extensions, should be seriously considered.«71 Dabei scheinen die beiden Möglichkeiten im Kleinen und im Großen den Wunsch zu illustrieren, Lösungen zu finden für die Probleme, die aus Kunststoffen einen Problemstoff machen. Das Ausmaß der Herausforderungen wird immer globaler, zugleich greifbarer und doch unbegreifbar: In der Encyclopedia of Consumption and Waste findet sich direkt vor dem Eintrag zu Verpackung und Plastikaufbewahrungen der Hinweis auf den Great Pacific Garbage Patch, im englischen Sprachraum auch bekannt unter dem Begriff Great Pacific Garbage vortex – der Große Pazifische Müllfleck.72 Plastic Ocean nennt Charles Moore seine Arbeit zu diesem Müllfleck. Er macht darauf aufmerksam, dass 68 69 70 71 72

Meinecke 2000, 75. Meinecke 2000, 75. Zum Begriff des Upcycling vgl. MacLennan 2012, 705. Bryant-Tokalau 2011, 83. Vgl. Reno 2012a. Pretting/Boote 2010 bezeichnen dieses Phänomen als Plastikstrudel (vgl. besonders 59-69).

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Abfallverbindungen

der Ausdruck patch irreführend ist: Es handele sich vielmehr um eine Plastiksuppe.73 Die Suppe stellt die ultimative Entgrenzung von Plastikmüll dar: Eine nicht mehr zu trennende Einheit aus organischen und synthetischen Stoffen, die langfristig in die Nahrungsketten des Menschen übergehen.74 Der Garbage Patch östlich von Hawaii ist außer Kontrolle geratener Abfall. Hinsichtlich der neuen Stoffe lassen sich nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Entgrenzungen konstatieren. So sprengen diese neuen Stoffe Vorstellungen von Raum und Zeit. Die von Susanne Hauser herausgearbeiteten Verfahren der Abfallbeseitigung, »Wegtragen und Aufschütten, Begraben, Wegschwemmen, Verbrennen; […] Versenkung im Meer«75 greifen bei Kunststoffen nicht, wie die Entgrenzung von Abfällen durch neue Stoffe zeigt. Wie kann von diesen Entgrenzungen, den neuen Trennungen, aber auch neuen Verbindungen, die diese Stoffe schaffen, erzählt werden? In den Diskussionen um den Bau von Müllverbrennungsanlagen oder der Anlage von Mülldeponien kommt, wie gezeigt, oftmals die NIMBY-Mentalität zum Zuge.76 Lieber nicht vor meiner Haustür – die Verschiebung und Verfrachtung von Entsorgtem, von Problemstoffen und somit auch von Problemen greift bei den neuen Stoffen wegen ihrer räumlichen und zeitlichen Entgrenzungen wenig. Im Fall von Kunststoffprodukten, die sich im Ozean in Kleinstteilchen auflösen oder auch Langzeitfolgen von Kunststoffdingen, deren Nutzung zu Erkrankungen führt, gibt es keine oder wenige backyards, die verschont werden könnten.77 Dennoch findet eine weitere Verschiebung von Problemen, die nicht lösbar sind, statt: Die ferne Zukunft, so die Hoffnung, könnte Lösungen anbieten – das Genre des Plastikmüll-Science Fiction wird die nächsten Jahrzehnte eventuell Furore machen.

5.3

Kunststoffe zwischen Versprechen und Vergessen

Manchmal sind es die unscheinbarsten und flüchtigsten Dinge, die Alltags- und Konsumprodukte, anhand derer sich sowohl Geschichten als auch Geschichte von Konsumdingen und deren Materialien, aber auch ihre Nähe zum Status des Abfalls besonders gut darstellen lassen. Ein Beispiel für solch ein kleines Ding ist ein Fruchtsaftgetränk. Einige dieser Geschichten, die ein ganz bestimmtes Fruchtsaftgetränk, nämlich die Capri-Sonne erzählt, breitet Niklas Maak im Band Das war die BRD. Fast vergessene Geschichten (2001)78 aus. Anhand der an ein Märchen angelehnten Schilderung des ersten

73 74 75 76 77

78

Vgl. Moore 2011, 75-92. Vgl. Moore 2011, 248f. Hauser 2001, 26. Zu NIMBY vgl. Kapitel 1.1 dieser Arbeit. Welche Tragweite unsere Verknüpfungen mit Plastikdingen im Alltag haben, führt Jody A. Roberts aus. Sie beschreibt, wie sie versuchte, den Gefahren auszuweichen, zur überzeugten plastiphobe wurde und dann doch auf Plastikdinge angewiesen war, weil das eigene Kind auf intensivmedizinische Hilfe angewiesen war und nur durch etwa Plastikschläuche versorgt werden konnte (vgl. Roberts 2013). Vgl. Maak 2001. Im Band finden sich auch weitere Plastikdinge, etwa die Polizeikelle (vgl. Diez 2001, 97-102).

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Capri-Sonnen-Kaufs von Anna, Tochter ökologisch bewusster Eltern, im Jahr 1986 beschreibt Maak die Tragweite dieser Alltagshandlung: Capri-Sonne war der fruchtsaftgewordene Antichrist der Ökobewegung: Nur sieben Prozent Orangensaft, dazu fünf Prozent Zitronensaft. Die restlichen 88 Prozent bestehen aus Wasser, Zucker, Glukosesirup, dem Anti-Oxidationsmittel L-Ascorbinsäure und Aromen. Die Verpackung: eine Hülle aus Aluminium, Polyester und Polyethylen, ein Strohhalm aus Plastik, eingeschweißt in eine Plastikfolie. Mehr Abfall geht für 0,2 Liter wässriger Flüssigkeit nicht.79 Die Felder, die Niklas Maak am Beispiel eines so scheinbar profanen Artefakts und Konsumprodukts wie der Capri-Sonne aufmacht, könnten gegensätzlicher nicht sein: Beflügelung und Ablehnung, Verbot und Übertretung, Sehnsucht und Realität. Das Wort »Antichrist« verweist gar auf die im Wort Abfall eingeschriebene, bereits diskutierte religiöse Dimension des Abfallbegriffs. Im Fall der Capri-Sonne verschiebt sich die religiöse Dimension in die Sphäre der Markenverehrung bzw. in diesem Fall -verachtung: Die Capri-Sonne kann als verflüssigter Sündenapfel, allerdings mit Orangengeschmack80 , in verführerischer Silberverpackung gelesen werden. Besonders die offensichtliche Diskrepanz zwischen Verpackung (»Mehr Abfall geht für 0,2 Liter«…) und Inhalt, zwischen Oberfläche (die Verheißung) und Tiefe (…»wässriger Flüssigkeit nicht«) scheint charakteristisch zu sein. Dabei ist die Capri-Sonne als Produkt in all ihrer Oberflächlichkeit keineswegs zeitlos, sondern zweifellos historisch kontextualisierbar. Verpackung, Name und Motiv erzählen die Geschichte der bundesrepublikanischen 1970er Jahre: lustvolles Spiel mit grellen Farben und Formen, aber auch Erdölkrise und aufkeimendes ökologisches Gewissen sind die Stichworte, die diese Zeit kennzeichnen. Die Geschichte des Produkts Capri-Sonne ist so auch untrennbar mit der Geschichte von Kunststoffen in Deutschland verbunden. Im Zeitalter billigen Erdöls kam es ab den 1950er Jahren zum Plastikboom. Der Capri-Sonne gelang vor allem in den 1970er Jahren der Durchbruch.81 Zwei Geschichten werden anhand der Capri-Sonne erzählt, die für die Geschichten stehen, die Kunststoffe generell von Anfang an begleiten: die von Versprechen und die Enttäuschungen dieser Versprechen. Geschichten, die ihrerseits eng verwoben sind mit Geschichte, mit historischen Entwicklungen von Stoffen. Bereits gezeigt wurde, wie Plastik durch die optimalen Lager- und Transportbedingungen sowie seine Formbarkeit ein idealer Stoff für die Industrie wurde und ist.

79 80

81

Maak 2001, 64. Zur Orange bzw. auch zur Symbolik der Farbe Orange in Underworld vgl. Apitzsch 2012, 313-315. Schaub 2011 liefert ebenfalls Überlegungen zur Frucht und zur Farbe Orange, die in Underworld in eine Verbindung von Orangensaft und Agent Orange münden – beide, so heißt es in einer Passage in Kapitel 4, würden vom selben System produziert (vgl. DeLU, 465 und Schaub 2011, 81) – wie die beiden jedoch konkret zusammenhängen, welche Logik dahinter steckt, bleibt nebulös (eine mögliche Deutung der Verbindungen bietet Bruce Robbins im Rahmen seines Aufsatzes Orange Juice and Agent Orange an, vgl. Robbins 2010, besonders 4f.). Vielleicht ist, wie so oft in Underworld, das Verworfene und die Verwerfungsbewegungen, die beide begleiten, das Verbindende – ohne dass klar wird, wie diese Verbindungen zu entschlüsseln sind. Vgl. Pfister 2004, 156, zur Produktgeschichte der Capri-Sonne vgl. kurz Maak 2001, 65.

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Abfallverbindungen

Für die Konsumierenden war Plastik ebenfalls ein Gewinn: leicht, pflegeleicht, weitestgehend unzerbrechlich. Als exemplarisches Produkt kann die Tupperware aufgeführt werden, die zusehends zur fast einzigen Alternative zu hergebrachten Unterbringungsund Transportbehältern aus Blech oder Glas wurde.82 Die Tupperware verkörperte wie andere Kunststoffdinge Fortschritt durch Technik, Industrialisierung und die dadurch geschaffenen neuen Möglichkeiten: Plastikoptimismus ist Zukunftsoptimismus. Dieser Optimismus fand auch im Bereich der Kunst Widerhall. Hier waren es die Popkultur und vor allem Pop Art, die bereits in den 1950er Jahren Plastik zu dem Material eines neuen, synthetischen Lebensgefühls erhoben und in der unendlichen Reproduzierbarkeit von Dingen, inklusive Kunst, und in der Flexibilität der neuen Materialen Momente von Freiheit sahen.83 Andrea Westermann hat sich in ihrer Dissertation einem Kunststoff gewidmet.84 Sie zeigt, wie solch ein Kunststoff, nämlich der erste vollsynthetische thermoplastische Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC), in Deutschland integrative und strukturierende Kräfte entwickeln konnte. Dies vor allem im Hinblick auf die Verschränkungen von technisch-ökonomischem Fortschritt auf der einen und gesellschaftlich-politischem Wandel auf der anderen Seite. Plastik war nicht nur ein von den Herstellern präferiertes Material, sondern wurde auch durch die Konsumierenden der Nachkriegszeit fortschrittsoptimistisch konnotiert und rezipiert und sogar mit gesellschaftlicher Teilhabe in Verbindung gebracht: Ein wichtiger Aspekt der Modernität von Kunststoffen stellte ihre semantische Anschlussfähigkeit an den neuen Gesellschaftsentwurf der Bundesrepublik dar. Kunststoffe und soziale Marktwirtschaft wurden häufig miteinander in Verbindung gebracht. […] Konsumphänomene erlangten im Programm der sozialen Marktwirtschaft […] eine besondere Sichtbarkeit und ein spezielles politisches Gewicht. […] Aus einer vornehmlich politisch begründeten Teilhabe am Gemeinwesen wurde ein vor allem ökonomisch begründetes Recht auf Partizipation am bundesdeutschen Gemeinwohl.85 Diese integrative Funktion von Kunststoffen, die globale Dimensionen annahm, entfaltete sich, einhergehend mit ihrer semantischen Verschränkung von Technik und Modernität, später in der Kunstrichtung der Pop Art am deutlichsten. Kunststoff war Werkstoff und Medium. Fortschritt war die Botschaft, die übermittelt wurde. Dennoch sind die ausgeführten optimistischen Lesarten des neuen synthetischen Materials nur eine Seite der Kunststoffwahrnehmung, wie auch die Widersprüche der Capri-Sonne gezeigt haben: Seit seinem Einzug ins Alltagsleben vor allem USamerikanischer und europäischer Stadtbewohner und der massenhaften Produktion von Plastikprodukten wird dieser Stoff überaus kontrovers diskutiert. Dabei bleiben

82 83

84 85

Zur Tupperware vgl. Russo 2000 und Mühlestein 2007. Monika Wagner stellt in ihren Überlegungen zu Kunststoffen als künstlerischem Material die These auf, dass das Plastik-Zeitalter die Pop Art erst ermöglichte (vgl. Wagner 2006, 238f.). Zu Pop Art, vor allem Warhols, vgl. auch Kapitel 5.4 dieser Arbeit. Vgl. Westermann 2007. Westermann 2007, 179.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

die Debatten seit der Einführung und Verbreitung vollsynthetischer Kunststoffe erstaunlich konstant. So lässt sich seit dem Aufstieg von Bakelit, das in den Jahren 1907 bis 1909 durch den belgischen Chemiker Leo Baekeland entwickelt wurde und ab den 1930er Jahren eine rasche Verbreitung fand,86 die gesamte Palette von Kunststoffeuphorie bis zur Kunststoffphobie vorfinden. Je nach Kontext werden die Debatten mit Überlegungen über Echtheit bzw. Authentizität und fake, mit Fragen nach Originalität und Kopie zusammengeführt.87 Bereits in den 1950er Jahren, also noch vor der Ökologiebewegung der 1970er Jahre, kam es zu Aversionen gegen den massenkompatiblen Stoff.88 Roland Barthes stellt in seinem Aufsatz Plastik (1957)89 im Band Mythen des Alltags der schönen, aber kalten Oberfläche eine Kritik gegenüber, die genau diese Oberfläche als Angriffspunkt wählt. Im Kunststoff macht er schnell den gefährlichen Versuch aus, sich über die Natur zu erheben.90 Diese Stoßrichtung der Kritik fürchtet die Totalität des Stoffes – Szenarien bis hin zu einer kompletten Plastifizierung der Welt werden entworfen. So verwendet Barthes Formulierungen, die im Kontext der Ware und des Exund-hopp-Prinzips diskutiert wurden: »Das Plastik geht gänzlich in seinem Gebrauch auf; im äußersten Fall würde man Gegenstände erfinden um des Vergnügens willen, Plastik zu verwenden.«91 Wo Gebrauch und Kurzlebigkeit zusammenfallen, entsteht Abfall. Dabei ist es nicht primär die Abfallnähe der Plastikdinge, die Barthes und andere Intellektuelle zu ihrer scharfen Polemik gegen die neuen Kunststoffe bewegen. Douglas Smith kontextualisiert diese Aussagen von Barthes und anderen französischen Intellektuellen der 1950er Jahre und spitzt die Diskussion auf folgende Themenfelder zu: (1) den Kontrast zwischen natürlichen und synthetischen Materialien, (2) ein Beklagen der fehlenden Identität von Kunststoffen und schließlich (3) einen alternierenden Blick auf Plastik als homogenisierenden und gleichzeitig vielgestaltigen, polymorphen Stoff.92 Besonders Barthes gesteht dem Plastik keine eigene Identität zu, im Gegensatz zu Naturmaterialien wie etwa Holz, die individuell verschieden sind, manifestieren Kunststoffe die Austauschbarkeit der neuen, der synthetischen Welten. Plastik steht für Barthes, wie Smith zeigt, als Metapher für Ideologie und Konsumgesellschaft, gar generell für den Warenkapitalismus.93 Nicht nur unter französischen Intellektuellen, sondern auch in den USA kam es zu heftiger Ablehnung der neuen Materialien. Jeffrey Meikle zeigt in seiner Kulturgeschichte der Kunststoffe in den USA am Beispiel Norman Mailers, welche Tragweite Plastikverachtung annehmen konnte. Für Mailer war Plastik der schon 86 87 88

89 90 91 92 93

Zur Herstellungsgeschichte vgl. Meikle 1996, 31-62. Vgl. hierzu auch Pressing/Boote 2010, 50-52. Kritik an Plastik war hier oftmals verbunden mit einer Kritik an Massenphänomenen, an – vermeintlichen oder tatsächlichen – Oberflächlichkeiten, die auch in einem anderen Bereich ausgemacht wurden, wie Westermann feststellt: »Aus dieser Sicht fielen Technik- und Konsumkritik an zwei Artefakten systematisch zusammen, an den Massenmedien und an den Kunststoffen.« (Westermann 2007, 214) Vgl. Barthes 2006, 79-81. Vgl. Barthes 2006, 79. Barthes 2006, 81. Zu Barthes vgl. auch Westermann 2007, 319-323. Vgl. Smith 2007, 148. Vgl. Smith 2007, 147-149.

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von Maak zitierte Antichrist, Kunststoffe wucherten wie Krebsgeschwüre in der amerikanischen Gesellschaft: »Everywhere […] we are assaulted by the faceless plastic surfaces of everything which has been built in America since the war«94 . Meikle schreibt weiter: To explain why plastic provoked Mailer is harder than to cite examples of his animosity. If traditional materials, those Mailer regarded as natural, retained a sense of earthly origin, then plastic was unique in retaining nothing of its raw materialsʼ earthiness. Artificial surfaces, colors, textures, and odors bore witness to a dominant technocratic mentality of precision and efficiency in the service of instrumental goals.95 Warum dieser Bezug auf Naturstoffe? Neben der mangelnden Individualität des Materials müssen sich Kunststoffe von Anfang an am Ideal der Naturmaterialien messen.96 Meikle zeigt, wie Jane Fiske Mitarachi, Redakteurin der Zeitschrift Industrial Design, vor allem drei Gründe aufführt für eine, wie sie es beschreibt, mangelnde emotionale Verbindung zwischen Menschen und Plastikdingen, gar synthetischen Materialien insgesamt: (1) Sie weisen meist glatte Flächen auf und wenig Tiefgründigkeit (Mitarachi nennt es depth97 ), die durch Herstellungsprozesse oder durch Wachstum natürlicher Materialien entstanden sein können, (2) sie zeigen keine Irregularitäten und (3) sie zeigen keine Zeitzeichen, also keine positiven Effekte des Reifens oder Alterns, keine Gebrauchsspuren oder Patina.98 So macht Fiske Mitarachi auf die hohe Funktionalität von Plastikdingen aufmerksam: Sie werden hergestellt, gebraucht, verbraucht und verworfen. Die Vielgestaltigkeit von Plastikdingen wird im Alter zur Gleichförmigkeit dadurch, dass sie spröde und mürbe werden und die Farben verbleichen.99 Zugleich sind mit Plastikkritik weitere Diskurse verbunden, die sich in der von Meikle zusammengefassten Kritik Mailers wiederfinden. Am Beispiel eines literarischen Texts, dem Roman Häutungen von Verena Stefan, der Mitte der 1970er Jahre erschien, zeigt Westermann, wie sich aus feministischer Perspektive die Geschlechterproblematik manifestiert im Intrauterinpessar aus Plastik, als »mechanische[s] Verhütungsmittel aus Kunststoff, das exemplarisch für die männlich bestimmten medikalisierten Herrschaftsverhältnisse«100 stehe. Stefans Text, das zeigt Westermann implizit, spricht durchaus reale Risiken an, die bestimmte Kunststoffe für die Gesundheit des Menschen bedeuten können. Krebserkrankungen, wie sie als Folge von Langzeitbelastungen durch PVC aufgetreten sind,101 können so eine Folge dieser toxischen Verschmelzung von Körper und Kunststoffen sein. Obgleich die 1970er Jahre noch zum Zeitalter der Plastikeuphorie gezählt werden,102 kam, wie bereits erwähnt, vor allem bedingt durch die Erdölkrise und die beginnende So Mailer 1963 in seiner Esquire-Kolumne The Big Bite, zitiert nach Meikle 1995, 244. Meikle 1995, 245. So zeigt auch Anne Sudrow, dass verschiedene Arten von synthetischen Schuhen zwar jeweils einige Vorzüge von Lederschuhen abdecken können, keines der Surrogate jedoch alle dieser Vorzüge in sich vereinen kann (vgl. Sudrow 2010, 310f.). 97 Vgl. Meikle 1995, 194. 98 Vgl. Meikle 1995, 194. 99 Vgl. Meikle 1995, 194. 100 Westermann 2007, 309. 101 Vgl. Westermann 2007, 242-246 und 293-301. 102 Vgl. etwa Ulmer u.a. 1997, 78-87.

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Ökologie-Bewegung, eine andere Form der Kritik an Plastik auf: Im Verweis auf die rohstoffverschwendende Herstellung und die ökologischen Folgen von Kunststoffen in Form von Plastikabfällen wird die ökologisch motivierte Kunststoffkritik in den öffentlichen Diskursen sichtbar.103 Auch der Blick von Maak auf die Capri-Sonne ist somit schon ein gefilterter Blick: Er ist weniger inspiriert von der Kunststoffkritik von Mailer und Barthes. Wenn Maak über die Capri-Sonne als Antichrist der Ökobewegung schreibt, dann sind die Ökologiebewegung der 1980er Jahre, die Diskussionen um Entsorgung, die Müllberge und das Duale System Deutschland schon mitgedacht. Vor allem die Debatten um und über Kunststoffverpackungen lassen sich in den beiden von Reiner Keller herausgearbeiteten Diskursen verorten: Während die kulturkritische Position generell die Quantität von Verpackungen ins Zentrum der Kritik stellt, würde die strukturkonservative Position eher auf die Techniken der Entsorgungswirtschaft setzen, um mit den entstandenen Abfällen umzugehen.104 Wie sehr diese Diskurse unser heutiges Verhältnis zu Plastikdingen bestimmen, legt auch Gay Hawkins dar. Hawkins macht ein Alltagsding aus Plastik zum Ausgang ihrer Überlegungen. Zu Beginn des Kapitels Plastic Bags ihrer Studie The Ethics of Waste schildert sie die ambivalenten Gefühle, die die Plastiktüten-Szene im US-amerikanischen Spielfilm American Beauty evoziert: In dieser Szene zeigt einer der jugendlichen Protagonisten, der neu ins Nachbarhaus gezogene introvertierte Ricky, seiner Nachbarin Jane einen kurzen Film, den er gedreht hat. Wir sehen, wie eine Plastiktüte sich im Wind bewegt. Die Videokamera verharrt einige Minuten auf dem so bekannten wie auch ungewohnten Anblick der scheinbar schwerelos tanzenden Tüte. Während diese Szene, wie Hawkins fortfährt, generell eher als »beautiful«105 , also als schön, erhaben, beeindruckend aufgenommen wird, ist das vorherrschende Gefühl bei ihr selbst eher Trauer und Traurigkeit106 . Dieser Traurigkeit versucht sie auf den Grund zu gehen. Es könnte sein, so die Überlegung der Abfallforscherin, dass gerade ihre Beschäftigung mit Abfall, mit den Resten des Alltags und mit ökologischen Fragestellungen dieses Gefühl in ihr auslöst und ihre Sicht auf Plastikdinge, auf Wegwerfdinge wie Plastiktüten verändert und verkompliziert hat. So bleibt die Plastiktüte für Hawkins immer eine Plastiktüte, da mag sie noch so sehr tanzen – und als solche trage sie trotz und gerade wegen ihrer scheinbaren Leichtigkeit in dieser Tanzszene die Last ihrer Abfallnähe: »The bag seemed to carry the whole enormous weight of ecological crisis. The lightness of the bag was in contrast with its burden as the penultimate sign of environmental catastrophe: a world drowning in plastic bags.«107 Die versöhnende Geste, die die Filmszene vorschlägt, löst auch Widerstand gegen die Möglichkeit einer Versöhnung aus. Während die Plastiktüten-Szene in American Beauty bestimmte positive Reaktionen herausfordert, lassen etwa die Kampagnen von Umweltorganisationen und Behörden wenig Spielraum: Plastiktüten sind ein Übel, so der Tenor. Die Ästhetisierung im Film, so einseitig und wenig komplex sie sein mag, 103 104 105 106

Vgl. Westermann 2007, 301-310. Vgl. Keller 1998, 128f. und Kapitel 2.4 dieser Arbeit. Hawkins 2006, 21. Zu Traurigkeit im Zusammenhang mit Alltagsdingen vgl. auch den in Kapitel 3.3 dieser Arbeit besprochenen Aufsatz von Hawkins (vgl. Hawkins 2007). 107 Hawkins 2006, 21.

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öffnet somit Raum für eine Sichtweise auf Plastik, die bei der einhelligen Ablehnung aus Gründen des Umweltschutzes oft vergessen wird: Die komplexen Interaktionen, die wir alltäglich mit diesen Dingen erleben. Sie sind praktisch, sie sind leicht zu transportieren, sie werden für verschiedene Gelegenheiten zweckentfremdet.108 Ihre Abfälligkeit, ihr Status als Übel ist immer da, aber nicht die einzige Verbindung, die wir zu diesen Dingen herstellen können. Die Gefühle von Schuld, von Verpflichtung und von (schlechtem) Gewissen, die Umweltkampagnen und Anweisungen zu Müllvermeidung und Mülltrennung hervorrufen, verdecken diese Verbindungen gerade dadurch, dass sie den Abfall, den Plastikabfall mit denselben Mitteln bekämpfen möchten, die generell im Umgang mit Abfall dominant sind: Mit Kontrolle und Disziplinierung, mit der Herausbildung eines ›richtigen‹ Verhaltens zu und gegenüber Abfällen, das keinen Spielraum lässt für andere Umgangsformen, für andere Sichtweisen im Alltagsverhältnis zu Abfällen. Die Folge sei, so Hawkins weiter, ein statisches und unterkomplexes Verhältnis zu unseren Resten, das keinen Platz lasse für Gefühle des Ekels oder Horrors, aber auch Freude oder einfach Abneigung.109 Ein anderer Umgang mit Abfällen, gerade auch mit Plastikabfällen sei, so Hawkins, jedoch nur möglich, wenn nicht Kontrolle und Beherrschung von Abfällen das Ziel sind, sondern die Einsicht, dass wir, dass unser Alltag und unser Handeln untrennbar mit Abfällen verbunden sind. Zugleich zeigen die Beispiele, die Hawkins wählt, die Plastiktüte in American Beauty und der Abfall, der durch eine reißende Mülltüte plötzlich wieder hervortritt und zum Ärgernis wird, eine Möglichkeit, Plastikdinge überhaupt wahrzunehmen. Filme und literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie gestörte Alltagsbegegnungen aufzeichnen, sich den Abfällen mit einem gegen-ökonomischen Blickwinkel nähern.110 So bestehen, ähnlich der Verbindungen, die durch PET-Flaschen111 zwischen Menschen und Dingen, zwischen Orten und Zeiten bestehen, zwischen Material, zwischen Materialität wie Plastik und Ideen wie Naturverständnis keine eindeutig zu entschlüsselnden kausalen Beziehungen, sondern komplexe Verflechtungen. Diese Verbindungen werden ebenfalls oftmals vergessen. Dieses Vergessen liegt auch in den Eigenschaften der Plastikdinge begründet, keine oder wenige Spuren zu hinterlassen – gerade weil sie so praktisch und, wie gezeigt nur scheinbar, einfach zu entsorgen sind. Wie Jeffrey Meikle am Beispiel eines grünen Abfalleimers, eines »green polyethylene wastebasket« illustriert, lebt dieser nämlich stets auf der Kippe, ist »cheap, cheerful-looking, easy to clean, easy to discard when one [is] tired of it.«112 Die Mehrzahl der Plastikdinge sind zudem zu ephemer um, wie Meikle formuliert, mehr Spuren zu hinterlassen als »a vague consciousness of an ever greater flow of plastic.«113 Nützlich, praktisch, günstig – und unsichtbar. Die Plastikdinge werden nur registriert, bemerkt, gesehen, wenn sie nicht funktionieren.114 Oder wenn sich die Entsorgungsfrage stellt.

108 Zur Zweckentfremdung vgl. auch Flusser 1993, 17f. und, unter anderem auf Flusser bezugnehmend, Gehrlein 2005, 80-84. 109 Vgl. Hawkins 2006, 34. 110 Vgl. zum Potenzial von Störungen auch die Überlegungen in der Einleitung, Kapitel 1.3.2. 111 Vgl. hierzu Kapitel 2.4. 112 Meikle 1996, 185. 113 Meikle 1996, 185. 114 Vgl. Meikle 1996, 186.

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Ganz unten in der Hierarchie der Materialien steht auch für Wilhelm Genazino das Plastik. Dies lässt zumindest sein Blick auf ähnlich banale Plastikdinge wie die Tüte in American Beauty vermuten. Das in Filmen bereits archivierte abfallnahe Ding interessiert Wilhelm Genazino in seinem Essay Das Banale ist das Unaufräumbare115 aber gar nicht. Stattdessen übernimmt er eine solche Archivierungsfunktion selbst. Dabei bleibt fraglich, ob sich eine solche Bewahrungshandlung überhaupt lohnt. Denn weder schlechtes Gewissen, noch Ästhetisierung zeichnen seinen Blick auf die Plastikdinge aus, sondern Ärger und Abwehr. Abfällig sind für ihn nämlich Dinge, deren Existenz und Ausbreitung er in seinem Essay beklagt und in einem Atemzug mit Verpackungen wie Bierdosen und Pizzakartons nennt: Die allgegenwärtige Existenz von Plastikstühlen. Wir haben die Verpackung schon kennengelernt als einen Konsumverstärker, bei dem der Gebrauch und der Verbrauch, der Erwerb und die Abfallwerdung fast zusammenfallen. Mit diesen Verpackungen vergleicht Genazino die Plastikstühle, wobei er eine wesentliche Differenz herausstellt: »Die Objekte«, schreibt Genazino »über die ich mich hier verbreite, sind in der urbanen Welt inzwischen so heimisch wie Bierdosen und Pizzakartons; aber sie haben bis jetzt nicht, im Gegensatz zu Bierdosen und Pizzakartons, zu widerstandsähnlichen Stimmungen unter den Konsumisten geführt.«116 Er fährt fort: »Sie sind aus Plastik, man sieht sie an fast jeder Straßenecke, meistens in großen Rudeln. Sie stehen auf vier Beinen, die Sitzflächen sind durchbrochen, ebenfalls die Rückenlehnen. Richtig! Ich spreche von den Plastikstühlen, auf die sich weite Teile unserer Gastronomie inzwischen eingeschworen haben.«117 Warum diese Aversion gegen Plastikstühle? Wie die Plastiktüte, die als Abfall im Wind tanzt, leisten sie im Stadium des Gebrauchsdings gute Dienste. Warum ihre Nennung im Kontext von Verpackungen wie Pizzakartons und Bierdosen? Hier lässt sich eine Verbindung zur Kritik von Barthes und Mailer herstellen: Die Kritik an Massenprodukten, an (zu) leichter Handhabbarkeit, an der scheinbaren Eindimensionalität der Beziehungen, die wir zu diesen austauschbaren Dingen einnehmen können. Gerade die Verpackung, das hat die Analyse von Bölls Erzählung Der Wegwerfer gezeigt, steht im Zentrum einer Kritik am Umgang mit Dingen und Menschen, einer Kritik an der Oberfläche und Oberflächlichkeit. Hinzu kommt, was Liz Bachhuber zu Verpackungsmüll schreibt: »Verpackungsmüll ist einerseits Dauerwunde in der Beziehung Mensch zu Natur, aber auch kulturstiftender Träger von Identitäten in unserem täglichen Umgang mit Nahrungsaufnahme und Verbrauch von Zivilisationsgütern.«118 Auch in der Geschichte von Niklas Maak ist die Plastik-Verpackung der Capri-Sonne zentral für deren Wert. Sie schafft Identität, kann als Stifterin und Trägerin von Kultur diskutiert werden. Eine Verpackung, die im Gegensatz zum wässrigen Inhalt verheißungsvoll und verführerisch wirkt, aber auch eine futuristische Komponente aufweist: Keine ordinäre Flasche, sondern ein geheimnisvoll weltraummodernglitzerndes Paket, das aussah, wie für die gerade vollzogene Mondlandung entwickelt. Capri-Sonne war flach und weich wie die futuristischen Möbel dieser Zeit und schimmerte verführerisch 115 116 117 118

Vgl. Genazino 2004, 88-90. Genazino 2004, 88. Genazino 2004, 88. Bachhuber 2001, 16.

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wie ein Trink-Ufo. In diesem Zusammenhang sah die Orange auf der Verpackungshülle vor dem tiefblauen Himmel aus wie ein fremder Pop-Planet oder eine ferne Südseeinsel.119 Nicht futuristisch, aber weich und glatt, smooth sind auch die Eigenschaften eines anderen Getränks. Das zeigen die Erinnerungen von Charles Moore. Moore zeichnet nach, wie der smoothie, der einst nichts war als ein Shake aus pürierter Frucht, der von gesundheitsbewussten Hippies am Straßenrand verkauft wurde, zu einem industriellen Massenprodukt wurde, das sich in Plastikflaschen abgefüllt im Supermarkt aufgereiht findet.120 Der Supermarkt-smoothie vereint Bequemlichkeit, convenience, mit dem von Zygmunt Bauman beschriebenen und in Kapitel 3 diskutierten fortschreitenden mobilen Lebensstil vieler Menschen. In der Metapher der flüchtigen, der flüssigen Moderne fasst Bauman diese Bequemlichkeit, die Handlichkeit mobiler Lebensstile, die neue Dinge und neue Container erfordern – die flüchtige Moderne, wie Bauman sie interpretiert, ist eine Plastikmoderne. Was ist von Monika Wagners Einschätzung zu halten, wenn sie mit Fokus auf die Transformationen des Materials Kunststoff in der Kunst herausgearbeitet hat, wie vor allem die Kriegsproduktion den Blick auf den Werkstoff Kunststoff und dessen utopisches Potenzial radikal verändert? Wagner schreibt: »In dem Masse, in dem sich nach dem Krieg transparente Kunststoffe im Alltag durchsetzten, der Nylonstrumpf den Siegeszug an Damenbeinen antrat und schliesslich Transparenz vom Regenschirm bis zum Sitzkissen in Mode kam, schrumpfte das utopische Potential der Kunststoffe gegen Null.«121 Entgegen dieser Einschätzung Wagners zeigen gerade literarische Texte wie die nachfolgend diskutierten, wie auch in einer Zeit der Allgegenwart von Kunststoffen deren utopisches Potenzial vielfach zur Sprache kommen kann. Dass auch diese utopischen Qualitäten von Kunststoffen Abfälle zur Folge haben können oder produzieren, wird als Ausdruck eines neuen Vergessens womöglich in Kauf genommen. Hawkins und Genazino blicken aus unterschiedlicher Perspektive, einmal als Wissenschaftlerin, einmal als Essayist und Schriftsteller, auf Plastikdinge, erkennen das Vergessen, das die Dinge umgibt, und machen auf unterschiedliche Weise auf dieses Vergessen aufmerksam. Beide stellen ephemere Alltagsdinge ins Zentrum ihres Schreibens. Während Genazino durch seine Texte in einem Akt des bewahrenden Erzählens zugleich Kritik an Entwicklungen übt, die sich in seiner Sichtweise im Material Plastik manifestieren – oder auch, umgekehrt, durch das Material erst ermöglicht werden –, versucht Hawkins durch das Versammeln sich teilweise widersprechender Narrative die komplexen Diskurse einzufangen, die durch und über dieses Material zirkulieren. Eine Komplexität, die, wie mit Zygmunt Bauman gezeigt, auch durch die Metapher des Liquiden einzufangen ist. Die Verbindungen zwischen Meer und Abfall sind dabei weitaus wirkungsmächtiger als die Liquiditätsmetapher andeutet, wie die Entgrenzungen von Abfällen zeigen. In Getränken bzw. Trinkgefäßen und Getränkeverpackungen, in der Capri-Sonne, in kommerzialisiertem Wasser und smoothies in Plastikflaschen verbinden sich Verflüchtigungen, verbinden sich Potenzial und Abfälligkeit von alten und 119 Maak 2001, 67. 120 Vgl. Moore 2011, 150f. 121 Wagner 2006, 237.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

neuen Stoffen. Dabei spielt auch hier die monetäre Liquidität eine nicht unerhebliche Rolle.122 Gerade Trinkwasser ist zum einen verantwortlich für zunehmende Plastikabfälle, zum anderen wird es zur umkämpften Ressource und zum Konfliktstoff des 21. Jahrhunderts – dies gehört zu der von Ivan Illich in den Blick genommenen Transformation von Wasser zu H2 O.123

5.4

Möglichkeiten und Kapitulation, fake und Bedrohung: Plastik in ausgewählten Texten von Rolf Dieter Brinkmann, Wilhelm Genazino und Inka Parei

Wie sieht es bezüglich der Materialisierung von Träumen und Wünschen in Kunststoffen aus, welche Rolle spielen Kunststoffeuphorie und Kunststoffphobie in literarischen Texten? Finden sich in ihnen Vorschläge zu Gegenbewegungen? Insel 34 von Annette Pehnt zeigt, wie mitunter erst durch Akkumulation, auf einer Abfallinsel, auf der Deponie die Materialität der Dinge hervortritt. Zwar ist davon auszugehen, dass wie Abfälle auch die Kunststoffdinge in Texten Realitätspartikel sind, also zum Inventar des Erzählens gehören wie Schuhe und Autos. Zugleich sind sie mehr: Da in literarischen Texten weder die Abfälle noch die Plastikdinge zufällig vorhanden sind, sondern dort platziert wurden, soll den durch die Texte evozierten Verbindungen gefolgt werden. Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt in einem Hinweis aus der bereits mehrfach zitierten Kunststoff-Studie von Andrea Westermann.124 Westermann lenkt die Aufmerksamkeit zum Abschluss ihrer Ausführungen zu den Kehrseiten und Kritikpunkten an PVC, zu denen Krebserkrankungen ebenso gehören wie die Frage nach einer neuen Quantität und Qualität von Abfällen, in einer kurzen Bemerkung explizit auf literarische Texte. Neben dem bereits zitierten Hinweis auf Verena Stefans Roman Häutungen verweist Westermann in einer Fußnote auf zwei von Rolf Dieter Brinkmanns umfangreicheren Texten.125 Texte, die bereits in Kapitel 4 im Hinblick auf ihren erkundenden, Wirklichkeit in all ihrer Abfälligkeit registrierenden Modus analysiert wurden: Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr 126 sowie der Materialband Rom, Blicke127 . In diesem Unterkapitel liegt zunächst der Fokus auf diesen Arbeiten Brinkmanns, die in einem weiteren Schritt mit Interpretationen der Texte Wilhelm Genazinos sowie dem bereits ausführlich in Bezug auf Abfälle analysierten Roman Die Schattenboxerin von Inka Parei zusammengebracht werden.128 Was bei Genazino in Bezug auf die Plastikstühle Empörung auslöst, wird bei Brinkmann zu Hass, zu Verachtung und Wut. Erstaunlich, bleiben doch für gewöhnlich die Zur Privatisierung und Kommerzialisierung von Trinkwasser, das zu bottled water wird, vgl. Royte 2009, mit Fokus auf den Aspekt der convenience besonders 40-43, mit Blick auf Abfälle und Recycling besonders 156f. und 163. 123 Vgl. hierzu etwa den von Corinna Bastian herausgegebenen Band Wasser – Konfliktstoff des 21. Jahrhunderts (Bastian 2008). 124 Vgl. Westermann 2007. 125 Vgl. Westermann 2007, 309, Fußnote 291. 126 Vgl. Brinkmann 2005 bzw. die Sigle BrK. 127 Vgl. Brinkmann 2006 bzw. die Sigle BrR. 128 Zu den Texten Genazinos vgl. Kapitel 3.5.1, zu Pareis Text vgl. Kapitel 3.5.3 dieser Arbeit.

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körperlichen Reaktionen bei den glatten, gefälligen synthetischen Oberflächen aus.129 Anders bei Brinkmann, wie eine bekannte130 Textstelle illustriert, die hier nur auszugsweise zitiert werden soll: Verrecke, auf der Stelle, sofort. Mit deinen Dralonmännern. Lupolenmännern. Deinen ausgebufften Polyesterjungs in all den Büros von halb neun bis fünf Uhr nachmittags und den tapferen, kleinen Frauen, die es immer noch einmal aufs neue versuchen. Mit deinen ausgeleierten Triumphmieder-Mädchen. Fanta-Mädchen. Helanca-Mädchen. (BrK, 186) Warum ist die Textpassage aus Keiner weiß mehr für dieses Kapitel bedeutsam? Brinkmann wird der frühen Popliteratur, auch Pop I bezeichnet, zugerechnet.131 Zentral für Pop ist, etwa der Definition von Ernst folgend, dass es sich um eine Literatur handelt »die sich der Massen- und Alltagskultur öffnet und damit die Idee einer guten und wahren bürgerlichen Hochkultur in Frage stellt.«132 Die Funktion dieser Öffnung ist zugleich eine bewahrende. Moritz Baßler stellt die Archivierungsfunktion von Popliteratur ins Zentrum seiner Untersuchung von neueren Poptexten.133 Auch und gerade die Texte Brinkmanns sind Archive. Brinkmann archiviert so etwa Markennamen: Dem obigen Zitat folgen die Aufzählung von Pepsi-Mädchen Gitte, Palmolive-Frau, Onkel Tschibo, Langnese, Mon Cherie.134 Ebenfalls ein Markenname ist die oben erwähnte Kunstfaser Helanca. Diese Strumpfhose zeichnet sich durch hohe Elastizität aus.135 Den Kundinnen bot sich eine farbenfrohe, glänzende Palette an Strümpfen, die zudem perfekt saßen. Für die Produktion ergab sich ebenfalls ein Vorteil, nämlich dass aufgrund der hohen Elastizität weniger Strumpfgrößen hergestellt werden mussten. Etwas mehr als dreißig Jahre vor dem Erscheinen von Zygmunt Baumans Thesen zur flüchtigen Moderne wiesen Mailer und Barthes auf die smoothen, elastischen neuen Dinge hin – und kritisierten sie. Warum wird die Strumpfhose von Brinkmann nicht als Strumpfhose, sondern als Helanca verzeichnet?136 In seiner Komposition offenbart sich eine enge Verbindung zwischen Menschen und Dingen: Helanca-Mädchen macht aus Kleidung und Mensch eins. Oliver Uschmann bezeichnet die Nennung der Markennamen, generell das namedropping und dessen Verweisfunktion in der deutschsprachigen Popliteratur als »assoziative Hyperlinks«137 . Links, die Jahrzehnte später mühsam entschlüsselt werden müssen. Uschmann fasst es so: »Man muss eben wissen, warum es uncool ist, diese oder 129

Zu Ekel und dessen Verbindung mit bestimmten, meist organischen Stoffen, aber auch zu den ideologischen Komponenten von Ekel vgl. Menninghaus 2002, besonders die Einleitung 7-38 sowie Unterkapitel 5.5 dieser Arbeit. 130 Diese Textstelle wird etwa in Baßler 2005a (164f.) aufgeführt. 131 Zur auf Diederichsen zurückgehenden Unterscheidung von Pop I und Pop II vgl. Degler/Paulokat 2008, 53-62 oder Feiereisen 2011, 188. 132 Vgl. Ernst 2001, 9. 133 Vgl. Baßler 2005a. 134 Zu Markendingen in literarischen Texten vgl. Baßler 2005a und 2005b. 135 Zu Strumpfhosen vgl. auch Kapitel 5.6 dieser Arbeit. 136 Eine Frage, die Baßler ganz ähnlich in Bezug auf Christian Krachts Roman Faserland stellt (vgl. Baßler 2005a, 111f.). 137 Uschmann 2004, 43.

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jene Band zu mögen, dieses oder jenes zu tragen oder diesen oder jenen Film zu favorisieren.«138 Uschmann formuliert zu den neuen Herausforderungen einer solchen Lektüre gerade für die Literaturwissenschaften: Wo es heute wichtig ist, zu wissen, was genau etwa die Kenntnis von Nietzsche oder Schopenhauer oder die Liebe zu Wagner zur Zeit Thomas Manns bedeuten und was es uns sagt, wenn er seine Figuren mit Hilfe dieser Geschmackspräferenzen und kulturellen Distinktionen charakterisiert, werden die Geisteswissenschaftler der Zukunft nicht drumherum kommen, herauszufinden, wer verflixt noch mal Tocotronic, Blur, Tori Amos, Wolle Petry, Hartmut Engler oder Stephen Malkmus waren.139 Eine Aufgabe, die Uschmann mit Baßler als kulturwissenschaftliche Dechiffrierungsarbeit bezeichnet.140 Bei Brinkmann sind es nicht Bands wie Tocotronic und Blur oder die Künstlerin Tori Amos, sondern Langnese, Mon Cherie und eben auch Dralon. So, wie Wissen über bestimmte Popmusik vielleicht in der Zukunft mühsam generiert werden muss, so müssen bestimmt Materialien und ihre Eigenschaften retrospektiv entschlüsselt werden. Was erfahren wir über die von Brinkmann aufgezählten Kunststoffe, wenn wir die von Uschmann geforderte Dechiffrierungsarbeit leisten? Dralon ist einer der Markennamen von Polyacrylnitril, einem Acrylnitril-Polymer (ABS thermoplastischer Kunststoff), das zum einen eingesetzt wird in der Textilherstellung, mitunter gemischt mit Wolle oder Baumwolle, zum anderen aber auch alleinig verarbeitet wird.141 Lupolen ist Polyethylen bzw. Polyäthylen. Es kann je nach Dichte weich oder hart sein und kommt in der Elektroindustrie ebenso zum Einsatz wie in der Herstellung von Haushaltswaren wie der Tupperware.142 Polyester ist zudem ein Ausgangsstoff für PET-Flaschen.143 Die Verbindungen, die über PET-Flaschen hergestellt werden können, wurden mit Hawkins nachgezeichnet.144 Was schreibt nun Brinkmann zu diesen Verbindungen, welche stellt er her? »Verrecke« – die Verachtung und Abneigung Brinkmanns ist in der Textstelle offensichtlich. Sie trifft auch und gerade Kunststoffe, synthetische Fasern als Surrogate. Gilt diese Abneigung des Synthetischen generell für Brinkmanns Texte? Lädt eine oberflächliche Lektüre Brinkmanns dazu ein, seine Abneigung gegen Kunststoffe mit dem elitären Blickwinkel Roland Barthesʼ, seine Ablehnung mit der Genazinos gleichzusetzen, sind die Kunststoffverbindungen bei Brinkmann tatsächlich vielschichtig. Um in dieser Frage weiterzukommen, mag ein Blick auf die Rezeption Brinkmanns helfen, den in seinen Texten angelegten Spuren zu folgen und sie hinsichtlich der enthaltenen PlastikDiskurse zu strukturieren. Anders als in Abschaffel findet sich in Keiner weiß mehr, wie auch in den Erzählungen Brinkmanns, eine hohe Affinität zur Populärkultur: Bandnamen, Autoren und Marken-

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Uschmann 2004, 43. Uschmann 2004, 47. Vgl. Uschmann 2004, 47. Vgl. Ulmer u.a., 156. Vgl. Vgl. Ulmer u.a., 157. Vgl. zu den Materialeigenschaften und Verwendungszwecken dieser Kunststoffe das Glossar in Ulmer u.a. 1997, 56-58. 144 Vgl. Kapitel 2.4 dieser Arbeit.

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namen werden zitiert, Reklame paraphrasiert, auf Diskurse Bezug genommen. Gut erforscht ist, wie in den Texten Brinkmanns das Banale, das Unaufgeräumte, der Abfall zum Material wird. Eckhard Schuhmacher zeigt in seiner ausführlichen BrinkmannAnalyse, wie das Verworfene, das Abfällige oft unerwartete Dynamiken entfaltet: Brinkmann geht es allerdings weder um eine einfache Umkehrung vorgegebener Wertmaßstäbe noch um die Etablierung von neuen, dauerhaften Werten. Abfall wird weder als wertloser noch als besonders wertvoller Rest begriffen, sondern als Material, das, gerade weil es aus konventioneller Perspektive fehlerhaft, mißlungen oder verbraucht erscheint, unvorhersehbare Dynamiken entfalten kann […].145 Der Fokus von Schuhmachers Interpretation liegt darauf, wie die Gegenwart, das Jetzt in den Poptexten Brinkmanns – sowie in anderen Texten, etwa von Rainald Goetz – präferierte Zeitform ist.146 Die Schaffung und das Zelebrieren einer, wie Schuhmacher es mit Brinkmann nennt, »neuen Sensibilität«147 findet sich neben der Fokussierung auf das Jetzt auch in den von Brinkmann angewandten Verfahren, korrespondiert mit ihnen: »Brinkmann löst syntaktische Strukturen auf, präsentiert Zitate, Satzfragmente, heterogenes Material, aneinandergefügt durch Montagetechniken, Schnitte und andere auf die Form der Schrift übertragene ›filmische‹ Verfahren […].«148 Wenn Plastik ein Stoff mit relativ kurzer Vergangenheit ist, Kunststoffe nach Barthes Spuren einer Bewegung sind und zudem ihre Kurzlebigkeit sie immer auch in Abfallnähe bringt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Stoffe zum Schreiben Brinkmanns. Es kann, so der Vorschlag, eine Korrespondenz der Kunststoffe als Erzählstoffe mit den Verfahren Brinkmanns konstatiert werden. Mehr noch: Plastik kann als Gegenwartsindikation per se in Brinkmanns Texten gelesen werden. Um diese These zu verifizieren, wird zunächst ein wenig ausgeholt. Erinnern wir uns noch einmal an den Abschnitt zum Zukunftsoptimismus in der Capri-Sonnen-Beschreibung: die Verpackung war »flach und weich wie die futuristischen Möbel dieser Zeit und schimmerte verführerisch wie ein Trink-Ufo«. Die orangefarbene Frucht vor blauem Hintergrund, die fast die gesamte Vorderseite der Verpackung einnahm und von unten wie ein Theaterscheinwerfer den leuchtend-herausstechend gestalteten Markenschriftzug anstrahlte, verfremdete das sowieso schon unheimlich perfekt aussehende Orangenensemble mit der zentralen aufgeschnittenen Frucht derart, dass »die Orange auf der Verpackungshülle vor dem tiefblauen Himmel aus[sah] wie ein fremder Pop-Planet«149 . Es ist kein Zufall, dass Maak den Pop-Begriff verwendet, der sowohl auf Popliteratur, aber auch auf Pop Art verweist. Die Orange führt im Kontext von Pop über assoziative Verbindungen schnell zu Warhols Banane. Eine Banane, die zwischen Naturding und Kunstprodukt changiert – und zugleich, wie die Orange, ihre eigene Verpackung mitbringt. Die Banane ist uns bereits in der Einleitung begegnet, wenn David H. Evans in seinem Aufsatz zu Underworld vorschlägt, eine Bananenschale mit einem Tampon zunächst einmal als das zu nehmen bzw. zu 145 146 147 148 149

Schuhmacher 2003, 94f. Vgl. Schuhmacher 2003, 97. Schuhmacher 2003, 76f. Schuhmacher 2003, 78. Maak 2001, 67.

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lesen, was sie sind: eine Bananenschale mit einem Tampon.150 Die Banane weckt zuletzt Erinnerungen an die Verbindungen, die Greg Kennedy hergestellt hat: Wenn wir eine Bananenschale wegwerfen, werfen wir mit ihr auch die Autoreifen, Frachtpapiere, Transportboxen und all die anderen Dinge weg, die benötigt werden, um diese Ware zu produzieren, zu transportieren und zu vermarkten.151 Auch in den Texten Brinkmanns spielen Bananen eine Rolle. Das zeigt Gerd Gemünden in einem Aufsatz, in dem er den Verbindungen zwischen Brinkmann und Warhol folgt.152 In diesen Verbindungen liegt ein Schlüssel zum Verständnis von Brinkmanns Blick auf die Alltagsdinge, auf den Abfall, aber auch seiner Abneigung gegenüber Kunststoffen. Für Christoph Eykman sind die Themen Brinkmanns klar auszumachen: Die Erstarrung und der Zerfall vor den Kulissen der Großstadtwelt, der Verlust an Individualität angesichts der Massen, kurz: Die Stadt als Ort der Zersetzung.153 Brinkmanns Ideal sei das einer »erfüllten Ursprünglichkeit und einer echten, von Cliché-Zwängen freien Individualität«154 , eine »gültige, authentische, sich selbst bedeutende und wahre Gegenständlichkeit«155 . Die Warenwelt der Konsumgesellschaft und deren Kehrseite, die Gerümpellandschaften der Großstädte, sind nach Eykman für Brinkmann Ausdruck und Symptom einer kaputten Welt. Die Gegenwelt, die Brinkmann in seinen Werken zeichnet, liegt laut Eykman verborgen, jenseits von Politik und weise gar anti-moderne Züge auf.156 Freigelegt werden kann diese verborgene Welt durch die Aktivierung eines alternativen Wahrnehmungsmodus, der auch mit Hilfe von Literatur und generell Kunst hergestellt werde.157 Zu einem ganz anderen Schluss in der Bewertung Brinkmanns kommt Gerd Gemünden. Was sich bei Eykman als Gegenentwurf zu den Ideen Warhols liest, wird bei Gemünden zusammengedacht.158 Fundstücke aus dem Alltag in Kunst zu integrieren, ohne sie zu transformieren, wird in der Kunstkritik nicht so sehr mit dem Namen Warhol, sondern eher mit Rauschenberg verbunden.159 Dennoch sind Alltagsgegenstände – etwa die ikonische Suppendose – ebenso wie die Stars seiner Generation – Marilyn Monroe, die Barbie-Puppe – zentrale Motive im Werk Warhols. Kunsthistoriker Michael Lüthy reduziert die Themen und Motive Warhols in einer Zuspitzung auf ein einziges Thema: Warhols Thema ist die technische, industrielle Zivilisation. Deren Erzeugnisse sind seine Motive: die Konsumgüter als Produkte der Warenindustrie, die Stars und die fetischisierten Kunstwerke als Produkte der Kultur- und Vergnügungsindustrie, die Autounfälle als Folgen unbeherrschter Technik, der elektrische Stuhl […] als Instrument der 150 Vgl. Kapitel 1.2 dieser Arbeit. 151 Vgl. Kennedy 2007, 52 und Kapitel 2 dieser Arbeit. 152 Vgl. Gemünden 1995, 240f., er analysiert hier das Brinkmann-Gedicht Andy Harlot Andy. Der Aufsatz von Gemünden bezieht sich zwar auf die Lyrik Brinkmanns, es ist aber dennoch erhellend, seine Überlegungen für eine Analyse der Materialbände heranzuziehen. 153 Vgl. Eykman 1999, 75. 154 Eykman 1999, 77. 155 Eykman 1999, 77. 156 Vgl. Eykman 1999, 82. 157 Vgl. Eykman 1999, 83. 158 Vgl. Gemünden 1995. 159 Vgl. Casser 1992, 63-87.

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mechanisierten Tötung. Warhols Inspirationsquellen sind der Supermarkt, die Massenmedien, die Treffpunkte der New Yorker Society.160 Seine Bilder sind dabei reproduktiv und seriell. Der Siebdruck wurde zur bevorzugten Arbeitstechnik. Das Verfahren ist zugleich simpel und wandlungsfähig. Mehr noch: es erlaubt die Bedienung durch unterschiedliche Personen mit nahezu identischem Ergebnis, das wieder und wieder – in ganzen Serien – reproduziert werden kann. Auch wenn Lüthy gezeigt hat, dass diese angestrebte perfekte Serialität Warhols scheiterte und auch beim Siebdruckverfahren Abweichungen und Fehler auftraten,161 näherte es sich doch der industriellen Produktion von Massenprodukten an. Es sei an die eingangs erwähnten produzentenfreundlichen Qualitäten von Kunststoffen erinnert: Ihre relativ geringen Materialkosten, die Simplizität und Wandlungsfähigkeit des Materials. Dass es beim Siebdruckverfahren auch zum massenhaften Einsatz von Kunststoffgeweben wie solchen aus Polyester oder Nylon kam, untermauert die Wichtigkeit, die Kunststoffe als Arbeitsthema und Arbeitsmaterial bei Warhol spielten. Mit den von ihm präferierten Motiven, Materialien und Verfahren korrespondiert auch das Selbstverständnis sowie die Selbstinszenierung Andy Warhols, die er in zahlreichen Interviews und eigenen Publikationen ausbreitet162 . Dabei gibt es stets ein Beharren auf der Oberfläche, sowohl der Dinge als auch bezüglich seiner Person: Warhol inszenierte sich als »emphatische Oberfläche«163 , stellte sein Selbst durch Selbstdementi dar.164 Die Aura der Unzulänglichkeit und Oberflächlichkeit, die Warhol als Künstler und Person stets umgab, speist sich aus diesem Verneinungsgedanken. Dies passt zum oftmals geäußerten Maschinen-Gedanken, den Warhol häufig in Bezug sowohl auf seine künstlerische Arbeit als auch auf seine Person äußerte: In der Maschinenhaftigkeit lag ein utopisches, aber auch demokratisches Element. Jeder, so die Aussage, kann Künstler sein, jeder kann Maschine sein, alles – sei es noch so banal und profan – kann Kunst sein. Dieser Demokratisierungsgedanke trifft auch auf Kunststoffe zu. Plastik steht symbolisch für diesen Maschinengedanken, die Austauschbarkeit, die Banalität – kurz: die Oberfläche. Wie gezeigt, ist bei der Capri-Sonne die Verpackung fast das einzige, was noch auf die Orange, das zentrale Naturprodukt, verweist. Während Warhol, so die Interpretation von Gerd Gemünden, der Verpackung eine besondere Aufmerksamkeit widmet und mehr noch, als künstlerisches Verfahren die Verpackung in einem Akt des WiederVerpackens, hier verstanden als die beschriebenen künstlerischen Bearbeitungen, zur eigentlichen Ware macht, kann Brinkmann eher als Entpackungs- bzw. Enthüllungskünstler begriffen werden. Sein Verfahren besteht darin, zu zeigen, was hinter den Dingen steht, wie Gemünden am Bespiel eines Brinkmann-Gedichts zeigt: »Brinkmann […] tells us in his poem about Graham Bonney what happens when the commodity appears without a package or when the package is unwrapped: nothing.«165 Sowohl Brinkmanns 160 161 162 163 164

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Lüthy 1995, 105, Hervorhebung dort. Vgl. Lüthy 1995, 73. Vgl. Warhol 1977. Müller 2009, 211. Müller kam zu dem Schluss, dass gerade in den Dementi des Selbst – aufgeschlüsselt in die Bereiche Kreativitätsdementi, Intellektualitätsdementi und Authentizitätsdementi – der Kern Warhols lag (vgl. Müller 2009, 211-218, besonders 216). Gemünden 1995, 243.

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als auch Warhols Verfahren ist es so auch, Alltagsdinge, die wir verpackt kaufen und entpacken, wieder zu verpacken – dieses Mal als Kunst. Diese Akte laden sie jedoch mit symbolischem Wert auf – auch wenn sich Brinkmann diesem Wert verweigert, ihn zerstören möchte. Die Oberfläche, die Serie und das automatisierte Verfahren werden zum Faszinosum, das sich auch in einer Faszination für Kunststoffdinge ausdrücken kann. Zugleich liegt in der Standardisierung ein Moment, an dem sich Brinkmann kontinuierlich stößt. Während also Warhol kommuniziert durch Kommunikationsverweigerung, zugleich dennoch die Idee einer »verläßlichen Referenz durch Standardisierung und Gleichförmigkeit«166 bietet, verweigert sich Brinkmann dieser Standardisierung, schreibt gegen sie kontinuierlich an. Dieses Anschreiben führt mitunter, vor allem im Spätwerk wie dem Materialband Rom, Blicke, zu einer regelrechten Plastik-Verachtung. Hier lassen sich Verbindungen zur Plastik-Kritik Mailers erkennen, die im Falle Brinkmanns auch mit einer impliziten Kritik an den USA bzw. einer Amerikanisierung zusammenfällt.167 Sie taucht in vielen Textpassagen auf (Textbeispiele sind Plastiktüten und ein Plastikmaulkorb (vgl. BrR, 182f.), ein Plastikvogel-Spielzeug (vgl. BrR, 69), »Martini-Neon-Zeichen, PepsiCola-Zeichen, J&B’s, ›rare‹ Whisky-Zeichen, Alte-Tanten-Parfum, amerikanische Laute vor Schuhgeschäften, Wimpy-Bar, Nippes-Läden und ein wahnsinniger plötzlicher Motorrad-Kamikaze-Lärm.« (BrR, 52)). Standardisierung findet sich nach Brinkmann auch in den Plastikkitschdingen, die als billige Nachbildungen an Touristen verkauft werden (etwa der »Aschenbecher mit Tivoli-Brunnen aus Kunststoff«, BrR, 226f.). Technikkritik ist ein weiteres Thema (etwa: »So trage ich auch hier in Rom meine Existenz hindurch, und erfahre das Allgemeine einer mörderischen, verwüsteten Zivilisation und Technik./« (BrR, 184). Sie mündet in eine allgemeine Anklage der Uniformität der bundesdeutschen Großstädte: Weder besonders eilig noch besonders langsam bewegten sie sich mit den anderen Leuten auf die Treppe zu, wo sie dann in kleinen steifen Rucken verschwanden hinein in die Stadt, wo sie Bestimmtes zu erledigen hatten und auch selbstverständlich und sicher erledigten, wie von ihnen erwartet an irgendeiner bestimmten Stelle, sicher, genau, ohne Hast und Unsicherheit und wieder mit so eindeutigen, unmißverständlichen Erwiderungen, Anfragen, Vorschlägen, stellte er sich vor, während er hinter den nebeneinanderliegenden Bahnsteigen, leeren Betonstreifen die Gebäude sah, Bürohäuser, Geschäftshäuser, blockartige Gebäude, dazwischen Straßen mit Passanten, Autoverkehr, klein und sehr schnell zwischen den kahlen, betongrauen, hohen Wänden, in denen unten die Ladentüren waren, die Schaufensterkästen mit winzigem Kleinkram vollgestellt, alles voll, alles war da, es gab da alles, als brauchte man es sich nur im Vorübergehen zu nehmen. (BrK, 230f.) Brinkmann arbeitet mit Plastik als Alltagsgegenstand, als Metapher, als Symptom und verleiht diesem Stoff eine dystopische Konnotation. Zugleich ist in die Texte Brinkmanns schon eingeschrieben, was Westermann als Begleiterscheinungen des Konsums 166 Linck 2006, 159. 167 Gemünden zeigt, wie Brinkmanns Amerikaeuphorie zu einer Amerikaverachtung wird (vgl. Gemünden 1995, 239).

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herausarbeitet – der Plastikmüll. Der Müll wiederum fungiert als Störfaktor: »Der sich ansammelnde (Kunststoff-)Müll konterkarierte die Vorstellung einer reibungslosen, die Bürger in die Verbraucherdemokratie einbindenden Warendistribution. Die ›Wohlstandsgesellschaft‹ zeitigte unerwartete Begleiterscheinungen.«168 In Keiner weiß mehr zeigt eine Passage, wie die Materialität der Dinge mit dem menschlichen Miteinander korrespondieren kann. Die Kälte, die den Protagonisten umgibt, korrespondiert mit einem Mantel aus synthetischem Material: »[D]er kurze, schwarze Lackmantel war nicht gefüttert. Das Material glich sich der Kälte an, anstatt sie abzuhalten, so daß der lackierte Kunststoff starr um ihn herum war, eng […].« (BrK, 187) Diese Kälte, kombiniert mit der scheinbaren Reibungslosigkeit von Plastik ist, so die These, eben auch verantwortlich für einen der zentralen Sätze in Rom, Blicke: »Ich habe Schwierigkeiten, die ganz enorme Häßlichkeit der Gegenwart zu akzeptieren.« (BrR, 202) Eine Kritik der Massenhaftigkeit und Austauschbarkeit der Alltagsdinge, die sich auch in der zitierten »Verrecke«-Textstelle von Keiner weiß mehr findet, verbindet Brinkmann mit Genazinos Texten ebenso wie eine Technikkritik, die sich im Spott gegen Massentourismus oder grundsätzlich gegen die Warenförmigkeit als wichtigstes Stadium der Dingbiographie wendet. So ist in der von Brinkmann konstatierten »ganz enorme[n] Häßlichkeit der Gegenwart«, die mit der Austauschbarkeit, der Serienhaftigkeit zusammenhängt, die uns in Wilhelm Genazinos literarischen und essayistischen Texten begegnende Plastik-Aversion begründet. Im oben zitierten Essay über die Banalität von Plastikstühlen bringt Genazino seine Kritik folgendermaßen auf den Punkt: »Es ist fast gleichgültig, wohin wir verreisen, der blaue, grüne, oder weiße Plastikstuhl ist schon vor uns da.«169 Obgleich diese Stühle Massenprodukte sind und, wenn wir den Überlegungen dieses Unterkapitels folgen, ihre Lebenszeit bis hin zur Ewigkeit verlängert ist, sind doch Zeichen der Zeit, Zeichen des Verfalls erkennbar: Verlassen und ein wenig abstoßend steht er [der Plastikstuhl, CHG] herum, oft schon rissig und rauh geworden, weil er auch dann, wenn es regnet oder schneit, nicht abgedeckt wird. Der pausenlose Einsatz bei allen Witterungen hat ihm viel von der sommerlichen Leichtigkeit genommen, die er anfangs vielleicht einmal ausgestrahlt haben mag. Auch die Farben haben gelitten; sie sind verblaßt und an einigen Stellen einheitlich grau geworden.170 Dabei ist, im Gegensatz zu Naturmaterialien, das Verblassen kein Zeichen für Patina, für Geschichte, sondern es scheint eher Materialermüdung zu sein, die das austauschbare Ding, aus der Sicht Genazinos wahrscheinlich glücklicherweise, in Abfallnähe bringt. So ist die Entsorgung dieser abfälligen Dinge ein Wunsch, der nicht immer in die Tat umgesetzt wird: »Aber es findet sich niemand, schon gar nicht ein Kellner oder ein Wirt, der die Dinger entschlossen an der Lehne packt und auf die Ladefläche eines vorüberfahrenden Müllwagens wirft.«171

168 169 170 171

Westermann 2007, 306. Genazino 2004, 88. Genazino 2004, 88. Genazino 2004, 88.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Für die Klärung der Abneigung Genazinos gegen die Plastikstühle könnten die Ausführungen Renate Flagmeiers hilfreich sein. Flagmeiers Kommentar zur Ausstellung der Depot-Bestände des Werkbundarchivs gibt Aufschluss über die besondere Problematik einer Institution, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, gerade die oft nicht als besonders bewahrenswert erachteten profanen Alltagsobjekte vor dem Untergang zu retten, etwa serielle Plastikprodukte.172 Dabei geht sie auch auf die Grenzen des Museums ein, Alltagsobjekte zu sammeln. Ein Problem liege in der fehlenden Einzigartigkeit dieser Museumsdinge und dem Problem der Darstellbarkeit dieser Serialität: »Ein großer Teil unserer [d.h. des Werkbundarchivs, CHG] Sammlungsobjekte sind serielle Massenprodukte; aber der Aspekt, kein Einzelstück, sondern Teil einer Serie zu sein, verliert im musealen Kontext leicht an Bedeutung.«173 Gelungen sind die Versuche, die mangelnde Einzigartigkeit wenigstens anzudeuten. So zeigt die im Ausstellungskatalog abgebildete Fotostrecke Bilder einer Sammlung Dinggruppierungen anhand verschiedener Regale, in denen Dinge aus dem Werkbund-Depot fast chaotisch anmutend arrangiert wurden, darunter jeweils ein kurzer Text. Es finden sich Regale zu DDR-Produkten, zu Alltagsdingen in gelb-schwarz, eine Sammlung von Dingen aus den Bereichen Haushalt, Freizeit und Büro oder Dinge aus nur einem Material, etwa Aluminium.174 Eine zweite Grenze des Museums liegt in der nur schwer zu vermittelnden Tatsache, dass der Ort dieser Dinge eigentlich unter keinen Umständen das Museum ist, sondern eben Alltagsorte wie Wohnungen, Schulen oder Restaurants. Schon aufgrund der Masse dieser Dinge kann das Bewahren eines Gegenstandes jeder Art nicht die generelle Tendenz der Entwertung aufheben: »Ebenso gehören zahlreiche Sammlungsobjekte [des Werkbundarchivs, CHG] zur Plastikkultur im Sinne des Flusserschen Zeugs […], d.h., die wesentlich sinn- und wertlosen Dinge, deren Existenz im Grunde die Aufhebung des Dingcharakters in unserer Wegwerfgesellschaft und Müllkultur sichtbar machen. Auch hier läßt die museale Präsentation die Entwertung, die diesen Dingen eingeschrieben ist, zurücktreten.«175 Ein Versuch dieses Bewahrens findet sich in der Präsentation eines Regals, das mit »Plastik, Plaste und Elaste« unterschrieben ist. Zu sehen sind Eierbecher, Tragetaschen und -körbe, Mickey Mouse- und Donald Duck-Figuren, Schüsseln und andere Behälter sowie ein synthetischer Miniaturweihnachtsbaum. Dazu heißt es: »Ein Überblick über 50 Jahre Plastikkultur, in kaum unterscheidbarer Ost-West-Parität. […] Die massenhafte Allgegenwart dieser Dinge macht das Sammeln zum Problem. Die Müllhalde ist ihr eigentliches Museum.«176 In ihrer Depot-Präsentation versucht die Werkbundausstellung zweierlei festzuhalten: Das Moment der Gleichförmigkeit, das diesen Dingen innewohnt, aber auch das bunte, vielschichtige Gesicht dieser Gleichförmigkeit, eine »schier unendliche Formen- und Farbenvielfalt, die aber nur die Erscheinungsebene betrifft und substantiell keinen Unterschied zur Gleichförmigkeit der abstrakt geometrisch gestalteten Dinge erkennen läßt.«177 In Plastikdingen vereinen sich so zugleich Vielfalt und Gleichförmigkeit der Dinge. 172 173 174 175 176 177

Vgl. Flagmeier 1995. Flagmeier 1995, 66. Vgl. Werkbund-Archiv 1995, 33-48. Flagmeier 1995, 66. Werkbund-Archiv 1995, 42. Flagmeier 1995, 71.

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Bereits in Abschaffel gibt es Schilderungen des ›Abfälligen‹, die auffällig oft Kunststoffe und andere billige, abfallnahe Materialien beinhalten. Wenn gegen Ende des Romans Abschaffel im Kaufhaus Woolworth, bekannt für seine billigen, oft ramschigen Waren, umhergeht, drückt die Schilderung Verachtung aus: »Sein Blick schweifte über die Anhäufungen geschmackloser schlechter Waren. Billige Unterwäsche, Pullover, Schürzen, Berge von Plastikeimern, jede Menge Waschlappen und Wecker und gräßliche Nachthemden, wie Frau Schönböck sie trug.« (GeA, 563) Auch in Genazinos Roman Ein Regenschirm für diesen Tag (2001)178 finden sich Hinweise, die die Deutung unterstützen, dass die Abneigung, die in Genazinos Texten gegen das Abfällige artikuliert wird, mit Fragen nach Individualität, nach Zweckmäßigkeit eng verknüpft ist. Besonders in einer Episode, in der der Protagonist und Schuhtester eine Schulklasse an einer Straßenbahnhaltestelle beobachtet und Zeuge folgender Anweisung wird: »Plötzlich sagt die Lehrerin zu den Kindern: Nehmt den Leuten nicht so viel Platz weg, sondern stellt euch raumsparend auf!« (GeR, 92) Die Empörung des Schuhtesters ist groß – er empfindet es als Zumutung, die an den Horror vor den Plastikstühlen in Das Banale ist das Unaufräumbare erinnert: Diese Bemerkung nimmt mich sofort gegen die Lehrerin ein. Es gelingt mir eine innere Empörung wie schon lange nicht mehr. Stellt euch raumsparend auf, murmle ich vor mich hin, mit solchen Sätzen beginnt das Elend. Die Lehrerin behandelt die Schüler wie Sonnenschirme oder Klappstühle, die man je nach Bedarf mal dahin und mal dorthin buchten darf. Ist es ein Wunder, daß die Menschen von Kindheit an die Lebensgenehmigung verweigern? (GeR, 92) Der Grund der Zumutung, so lässt sich vermuten, liegt in der eingeforderten Zweckmäßigkeit. Sie, wenn auch nur temporär, zu ignorieren, heißt, die Dinge anders zu betrachten. Ein Blick, der in Kapitel 1 als kindlicher Blick herausgearbeitet wurde. Ein Blick, der Abfälle integriert bzw. sie gar nicht erst entstehen lässt. In der Analyse von Inka Pareis Die Schattenboxerin in Kapitel 3 wurden Kunststoffe bisher noch nicht in den Blick genommen. Dennoch sind, wie gezeigt, Akte des Versorgens, des Sorgens und Entsorgens im Text präsent. Es wurde ebenfalls gezeigt, wie Entsorgungszwang und Abfallverweigerung sowie das Herausfallen aus der geregelten Abfallentsorgung korrelieren mit der Traumatisierung der Protagonistin. Der Text inszeniert an auffällig vielen Stellen eine kohärente Blickweise auf Kunststoffe als abfällige Materie. Dieser Blick legt nahe: Abfall ist nicht das Abstoßende der Stadt, sondern das Abgestoßene. Aber es sind auch dienende Dinge. Die Plastikfolie einer alten Frau bietet Schutz vor Regen (vgl. PaS, 81), eine Plastiktüte dient als Transportmittel (vgl. PaS, 72). Hier sind Plastikdinge, wie bei Brinkmann, zunächst einmal Realitätspartikel179 , wenn auch noch marginaler platziert als andere Dinge. Zugleich symbolisieren und illustrieren sie, und das schafft eine Verbindung zu Genazinos Abschaffel, ein Leben ohne Halt, in der die Protagonisten in Fastfoodketten essen und in Großstädten unterwegs sind. Während Abfälle, wie gezeigt, an vielen Stellen zwischen Vergangenheit und 178 179

Vgl. Genazino 2001, Textstellen werden im fortan laufenden Text mit der Sigle GeR und Seitenzahl zitiert. Zu diesem Begriff vgl. die Ausführungen in der Einleitung, Kapitel 1.1 dieser Arbeit.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Gegenwart vermitteln, ist das Abstoßende in der Stadt vor allem Plastik. Das Material steht für Ramsch – für Oberfläche und Oberflächlichkeit, Kommerzialisierung und den vergänglichen Rausch der Ware, kombiniert mit Trostlosigkeit und Hässlichkeit. Nach der Gewalttat muss die Protagonistin Hell den Hermannplatz passieren, um zur Polizeiwache Neukölln zu gelangen. Zunächst trifft sie auf ein Kind, dem es noch gelingt, mit dem faltbaren, durchsichtigen Plastik-Kopfregenschutz einer alten Frau zu spielen, dabei wird es jedoch von der Mutter unterbrochen. Das Kunststoffding hat eine schützende Funktion, befindet sich aber durch seine Materialität durchaus in Abfallnähe und ist zudem unauffällig-transparent. Dann kommt es zu folgender Beobachtung am Hermannplatz, an dem Hell und die anderen Buspassagiere, wie es heißt, »ausgespuckt« (PaS, 81) werden: Mir fällt kein Ort ein, der die Bezeichnung Platz weniger verdient als dieser Hermannplatz, ein mit unübersichtlichen Ampelanlagen bestückter Knotenpunkt, von dem aus die mehrspurigen Straßen des Südostens sternförmig abgehen. […] Dazwischen liegt, wie eine Art Insel im Verkehr, ein rechteckiges, mit kleinen Steinen belegtes Terrain, auf dem an vier von sieben Tagen ein schlechtsortierter Wochenmarkt zeltet. Schnell bin ich zwischen den Ständen eingekeilt und gerate in das typische Sammelsurium unnützer und häßlicher Dinge, die den hiesigen Kaufrausch ausmachen: Zinnoberrote Polyesterleggings und mit Plastikperlen bestickte, schlecht vernähte Handtaschen […]. (PaS, 81f.) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Konfrontation mit Plastik, mit Kunststoffen häufig an den von Helga Meise in ihrer Interpretation herausgestellten Transitorten180 wie Imbissbuden, Parks oder Bahnhöfen stattfindet: Am Rand der weißen Absperrung zur Straße hin, auf den wenigen Bänken, neben übervollen, mit Senf und alten Kaugummis beschmierten Abfallbehältern sammeln sich Männer zu zweit oder zu dritt, um Mädchen anzusprechen, windige Deals einzufädeln oder jemandem gegenüber so zu tun, als ob. (PaS, 82) Verbunden sind die Nennungen von Kunststoffen auffällig oft mit dem Auftreten von Ordnungskräften bzw. repressiven Instanzen. So beginnt ein Kapitel mit den sich öffnenden Augen Hells, die als erstes auf »ein handtellergroßes Viereck aus geschweißtem Plastik, eingeklemmt in eine Frauenhand, gelbschwarz beschriftet, mit farbkopierten Paßbild, Loch und Kette am oberen Rand« (PaS, 142) blicken. Es handelt sich, wie sich gleich darauf zeigt, um eine Fahrkartenkontrolle. Hier manifestiert sich die in Bezug auf Mailers Plastikabneigung und Verena Stefans feministischen Roman formulierte Verbindung von Kunststoffen und (im Fall von Stefan) männlich konnotierten Herrschafts- und Unterdrückungsapparaten. Ebenfalls detailliert wird der Kunststoffboden der Polizeiwache, in der Hell die Gewalttat anzeigt, beschrieben (»taubengraue, mit Flughafen-PVC belegte Stufen, auf denen meine Kreppsohlen quietschen« PaS, 83). Neben den durch die Gewalttat evozierten Verlangsamungen, die eine GegenÖkonomie des Sehens mitverursachen und so die Plastikwahrnehmung schärfen, sind

180 Vgl. Kapitel 3.5.3 dieser Arbeit.

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es auch die Bürokratie und ihre Macht, die in plastiknahen Welten offenbar werden.181 Wie bereits dargestellt ist die Welt, die sich Hell im Abbruchhaus aufgebaut hat, das Gegenteil dieser zuvor beschriebenen öffentlichen Welt: Sie lebt in einem aufgeräumten, fast leeren Zimmer, das mit Naturmaterialien eingerichtet ist. Als Dekoration und Trinkgefäße dienen zerbrechliche chinesische Teetassen, aus denen Hell den von ihrer Kampfsportlehrerin zum Abschied geschenkten Tee trinkt. Die einzige Erwähnung von Plastik in der Zuflucht Hells betrifft eine Plastiktüte. März, der an vielen Stellen des Textes, trotz einer körperlichen Annäherung zwischen Hell und ihm, als Eindringling markiert wird, besorgt Essen. Seine Rückkehr in die Wohnung mit der Plastiktüte in der Hand wird für Hell zu einer überaus bedrohlichen Situation. Sie hat kurz zuvor Märzʼ Pistole entdeckt und konfrontiert ihn mit ihrem Fund, ohne zu wissen, wie März reagieren wird (vgl. PaS, 72). Die Plastiktüte in Märzʼ Hand symbolisiert diese Bedrohung. Um zu systematisieren: In Die Schattenboxerin begegnen uns nicht nur Abfälle, sondern immer wieder Kunststoffe. Während Abfälle oftmals mit dem Gefühl der Verlorenheit der Protagonistin korrespondierend, als verworfene, aber dennoch menschennahe Materie beschrieben werden, zu der Verbindungen bestehen oder aufgenommen werden, gibt es zu den Kunststoffen nur isolierte, meist negativ konnotierte Verbindungen. Integriert man diesen Fund in die vorausgegangene abfallzentrierte Interpretation des Romans, so lässt sich dreierlei feststellen. Erstens: In der instabilen Welt der traumatisierten Protagonistin ist kein Platz für ein Material, das für schnelle Aneignung und schnellen Verbrauch steht, welches zudem nicht Stabilität und Festigkeit verspricht, sondern Flexibilität und Möglichkeiten. Das Einüben des Schattenboxens und die Annährung an Menschen brauchen Zeit. Zweitens: Eine weitere Nuance ist die in Die Schattenboxerin skizzierte Aversion gegen alles Unechte, gegen fake, gegen Konsumversprechen unter Einbezug der Kritik von Roland Barthes und anderen französischen Intellektuellen der 1950er Jahre. Sie zeigt Drittens: Natur wird in Die Schattenboxerin als ein Gegenentwurf zur gewalttätigen Welt des Menschen gezeichnet. Auch oder gerade weil diese Natur, wie die Protagonistin, oftmals als geschundene, vom Menschen zugerichtete geschildert wird. Zugleich wird klar: In der Stadt gibt es eine solche Natur ohne Menschen kaum, sie findet sich nur an menschenfernen Orten. Kann Natur überhaupt Gegenentwurf sein? Gerhard Pretting und Werner Boote zeigen in Plastic Planet. Die dunkle Seite der Kunststoffe im Kapitel Plastik ist Pop182 , wie sehr Naturerfahrung heutzutage mit Kunststoffen verbunden ist. Ein Aufenthalt in der Natur ist ohne sogenannte Funktionskleidung, synthetische Materialien wie Gore-Tex oder wärmende Funktionsunterwäsche für einen Großteil vor allem der Stadtbewohner kaum vorstellbar.183 Hier bietet sich eine ökokritische Lesart an, zumindest in den Texten Brinkmanns. Dies zeigt beispielsweise die Bedeutung von Landschaften als Gegenentwurf zu dem ruinösen Leben in den Großstädten, etwa in Keiner weiß mehr: »[E]in

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Westermann weist darauf hin, dass gerade PVC-Böden in die Verwaltung aus ökonomischen und praktischen Gründen Einzug hielten, zu ihrer Standardisierung beitrugen (vgl. Westermann 2007, 186-188). Vgl. Pretting/Boote 2010, 55-62. Pretting/Boote 2010, 56f.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Waldstück, sehr licht, mit viel Helligkeit zwischen den Stämmen und Baumkronen, ein Kiefernwald, der Boden gepolstert, graubraun und voller abgenagter, eckiger Zweige und Äste, die abgefallen waren.« (BrK, 228) Dennoch bleibt dieser Gegenentwurf unerreichbar. In Keiner weiß mehr wird die Landschaft nur vom Zugfenster aus betrachtet, der Protagonist kehrt in die Stadt zurück. Die Distanz bleibt verbindendes Element der analysierten Texte: Weder in den Texten von Rolf Dieter Brinkmann noch Inka Pareis Die Schattenboxerin ist Natur tatsächlich mehr als ein kurzfristiger Trost. Sie bleibt fremd. Resümierend: Anhand der Texte von Rolf Dieter Brinkmann, Wilhelm Genazino und Inka Parei wurde gezeigt, wie Kunststoffe als Erzählgegenstand mit Diskursen über Macht und Kontrolle, mit Kritik von Kommerzialisierung und Serialisierung verbunden sind. Diese Verbindungen sichtbar zu machen, ist ein bedeutsames Erzählmotiv. Während in den Romanen Pareis und Genazinos Kunststoffdinge als abfällig markiert werden, das Gegenteil von Individualität und Stabilität, aber auch von Zukunft sind, ist die Konnotation in Brinkmanns Texten ambivalent: Einerseits stehen die Materialien im Kontext einer Kritik an Oberfläche und Uniformität. Sie sind zugleich Realitätspartikel und Ausdruck von Gegenwärtigkeit und Bewegung. In den Texten Brinkmanns, und dabei lässt sich, trotz aller Unterschiede, durchaus eine Linie von den frühen Texten hin zu den späten Materialbänden ziehen, kommen Momente von Versprechen, von Möglichkeiten, aber auch von Stagnation und Kapitulation hinzu. Gerade das Sichtbarmachen ihrer materiellen Realität und ihrer Verflechtungen zeugt von einer Anerkennung der Wirkmächtigkeit dieser Stoffe. Zeigen die diskutierten Texte Gegenbewegungen auf? In Brinkmanns Texten wird zwar der Natur, ähnlich den untersuchten Texten von Genazino und Parei, eine Trostfunktion zugesprochen. Alle drei Texte zeigen aber auch: Die Natur bleibt unerreichbar.

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Kurze nachreichende und vorausgreifende Betrachtung zu Gegenbewegungen

In den vorausgehenden Kapiteln wurde mit Christoph Eykman die Anti-Ökonomie des Sehens, mit Hajo Eickhoff und Zygmunt Bauman das Sitzen und unter anderem mit Walter Benjamin und Tim Edensor das Gehen als Gegenbewegung, als Modus der Abfallwahrnehmung und -erkundung in den Blick genommen. Gegenbewegungen, die in den analysierten literarischen Texten vielgestaltig auftreten. Die Abfälle, die bisher eine Rolle spielten, waren entsorgte Möbel, verlassene Häuser und andere Dinge. Im Mittelpunkt dieses fünften Kapitels steht eine neue Kategorie von Abfällen, die im Gegensatz etwa zu Abfallsammlungen und Geisterhäusern im Alltag an uns vorbeigleiten. Hinsichtlich der beschriebenen Entgrenzungen von Abfällen, die sich in kontaminierten Dingen und Orten und auch im Great Pacific Garbage Patch manifestieren, gestaltet sich hier die Frage nach Gegenbewegungen weitaus diffiziler. Der konventionelle Schuh wurde im ersten Kapitel mit Braungart und McDonough eine Monsterhybride genannt. Produktionsabfälle verschmutzen Ökosysteme, Schuh-

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sohlen enthalten Blei und schädliche Polymere.184 Mark Jackson bezeichnet langlebige hybride Materialien auch als »zombie matter« und macht damit auf die Gefahren aufmerksam. Monster, zombie – die Wortwahl ist bezeichnend. Gehört es doch zum Gemeinplatz der Untoten-Forschung, dass gerade in der Gestaltung der Untoten und ihrem Verhältnis zu den Sterblichen Erkenntnisse über die Phantasmen und existentiellen Ängste der Lebenden gewonnen werden können.185 Wenn die neuen Stoffe sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie zum einen im Alltag übersehen werden, zum anderen sich durch Entgrenzungen, etwa als Plastiksuppe im Meer oder ihre Umgebung kontaminierende Stoffe, in ihrer räumlichen Ausdehnung der Greifbarkeit und somit auch der Begreifbarkeit weitestgehend entziehen – wie sind da Gegenbewegungen möglich? Neue Stoffe erfordern einen neuen Blick auf die Dinge, weil diese neuen Stoffe trotz vertrauter Komponenten das Bekannte hinter sich lassen. In welcher Tragweite ein solcher Blickwechsel vonnöten sein könnte, zeigt Max Liboiron. An mehreren Stellen fand bisher schon das Konzept des Miasma Erwähnung, das bis ins späte 19. Jahrhundert eine Verbindung zwischen der Verbreitung von Krankheiten und übel riechenden Ausdünstungen aus dem Boden herstellte. Liboiron schlägt im Aufsatz Plasticizers: A twenty-first-century miasma186 vor, das Miasmen-Konzept, obgleich es aus heutiger Sicht in erster Linie altertümlich, wissenschaftlich widerlegt und generell nur noch schwer nachvollziehbar erscheint,187 zu aktualisieren und auf Weichmacher – im englischen Original plasticizers – zu übertragen, die in vielen Plastikprodukten verwendet werden. Diese Weichmacher sind es erst, die den heutigen Plastikprodukten die Eigenschaften verleihen, die oftmals mit Plastikdingen verbunden werden: ihre Formbarkeit, ihre Vielseitigkeit in Bezug auf Anwendung und Gestalt. Warum schlägt Liboiron diese Rückbesinnung auf das Miasma-Konzept vor? Menschliche und nicht-menschliche Körper, Umwelten und Erkrankungen sind, so ihr Gedanke, auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Diese Verbindungen lassen sich nicht reduzieren auf simple lineare Kausalitäten wie das Vorhandensein eines Schadstoffes und eine direkt aus diesem Vorhandensein resultierende Schädigung, etwa eine Erkrankung.188 Während die Miasmen-Theorie, wie Liboiron zeigt, mit komplexen Parametern der Gefährdung und des Schutzes arbeitet, die vom falschen Umgang mit dem eigenen Körper, geographischen Gegebenheiten bis zu Wetterbedingungen und Sternkonstellationen reichen,189 setzt die moderne Bakteriologie, verbunden mit den Namen Robert Koch oder Louis Pasteur, auf Kausalität.190 Eine Sichtweise, die bis heute fortdauert. In der Analyse von

184 Vgl. Braungart/McDonough, 130f. 185 Vgl. exemplarisch Miess 2010, die Monster vor allem als das sexuell Andere interpretiert (Miess 2010, besonders 58-65). 186 Vgl. Liboiron 2013b. Zur Miasmen-Theorie vgl. auch Corbin 2005, Illich 1987, 97-112 und Nikolova 2012d, zu Bakterien-Theorie vgl. Nikolova 2012b. 187 Vgl. Liboiron 2013b, 134. 188 Vgl. Liboiron 2013b, 137. 189 Vgl. Liboiron 2013b, 136. 190 Zu den Verflechtungen von Bakteriologie und Moderne vgl. Sarasin u.a. 2007a, direkt zum Miasma vgl. den Aufsatz von Erwin H. Ackerknecht. Ackerknecht zeigt, wie sich die Miasmen-Theorie in einigen Aspekten fortschrittlich darstellte, wenn durch sie, und hier findet sich eine Gemeinsamkeit

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

Der Sammler wurde gezeigt, wie Invasionen den Organismus gefährden – und wie diese Invasionen von Grill als Metapher und zur Gestaltung ihrer Fallgeschichte genutzt wurden.191 Eine isolierende Betrachtungsweise kann die Auswirkungen, die Weichmacher auf Organismen haben, jedoch nicht fassen. Statt einer auf eine einzige Ursache zurückzuführenden Erkrankung sind die Folgen oftmals schleichend oder nicht wirklich greifbar, etwa Veränderungen im Hormonhaushalt bereits bei Föten.192 Eine Erinnerung an die Miasmen-Theorie kann helfen, die vielfältigen, nicht immer messbaren Verbindungen zwischen Menschen, Dingen, Stoffen und Ökosystemen sichtbarer zu machen. Liboiron ist sich bewusst, dass die Miasma-Theorie heute als »unscientific and folksy concept«193 gilt. Eine Rückkehr zu dieser Theorie ist weder wünschenswert noch sinnvoll. Die Betonung der Unwissenschaftlichkeit und der folksiness ist dennoch weiterführend. Folksy hat laut des Oxford Dictionary folgende Definition: »Sociable; also, unpretentiously companionable; informal, casual.«194 Aufschlussreicher gestaltet sich die Definition in der Online-Ausgabe des Oxford Dictionary: »Having the characteristics of traditional culture and customs, especially in a contrived or artificial way.«195 Während der zweite Teil der Definition auf eine Künstlichkeit hinweist, die sich im MiasmenKonzept wiederfindet, wenn wir es retrospektiv als Konstruktion interpretieren, weist der erste Teil auf traditionelle Kultur(praktiken) und Bräuche hin. Diese Praktiken haben eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Bei Prozessen der Gemeinschaftskonstituierung kommt literarischen Texten eine zentrale Rolle zu. In deutschsprachigen Märchen wie denen der Brüder Grimm, das zeigt Stefan Neuhaus, manifestiere sich sowohl ein Bedürfnis nach gemeinsamem Geschichts-, Kultur- und Sprachraum als auch ein allgemeines Bedürfnis nach Transzendenz.196 Gerade Märchen, welche sich weitestgehend durch eine einfache, stereotype Handlung sowie ein happy end auszeichnen, sind, wie Neuhaus formuliert, zudem »offen für jede Art von Glauben, der über die täglichalltäglichen Erfahrungen hinausreicht«197 und können somit »zwischen tradierten religiösen und modernen, naturwissenschaftlich basierten oder philosophischen Auffassungen von Welt«198 stehen und vermitteln. Wenn wir das Miasmen-Konzept, das zwar weder die einfache Handlung noch das happy end vieler Märchen aufweist, ebenfalls als Mittler verstehen, wird deutlich, wie im Miasmen-Konzept sowohl wissenschaftliche wie auch, aus heutiger Sicht, irrationale Elemente nebeneinander existieren konnten.

zu den Ausführungen Liboirons, komplexe Missstände in den Städten in den Fokus gerieten (vgl. Ackerknecht 2007 und die einleitenden Ausführungen in Sarasin u.a. 2007b, 15-19, besonders 17). 191 Vgl. Kapitel 4.4 dieser Arbeit. 192 Ähnlich auch Pretting/Boote 2010, 103-119. 193 Liboiron 2013b, 134. 194 Simpson/Weiner 1991b, 1143. 195 Oxford Dictionary 2014, Eintrag folksy, ohne Paginierung. 196 Vgl. Neuhaus 2005, 5. Zu den Charakteristika des Volksmärchens – hierzu zählen zudem ein ortund zeitloses Geschehen, das Vorkommen von Kontrastfiguren, eine stereotype Handlung sowie einfache Sprache und einfaches Weltbild – vgl. Neuhaus 2005 und Lüthi 2004, 25-32. Zur Unterscheidung Volksmärchen und Kunstmärchen vgl. Neuhaus 2005, 9. Hier findet sich auch eine Kritik des Begriffs: Neuhaus arbeitet vor allem die mündliche Überlieferung als Mythos heraus und stellt den, wie er schreibt, »nebulösen ›Volks-Begriff‹« (Neuhaus 2005, 4) in Frage. 197 Neuhaus 2005, 6. 198 Neuhaus 2005, 6.

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Nichtsdestotrotz war die Miasmen-Theorie von ihren Befürwortern immer als streng wissenschaftliches Konzept betrachtet worden. Dies führt zur Frage, wie Wissenschaft und Glaube, wie Wissenschaft und Mythen oder Märchen, wie letztlich Wissenschaft und Narration sich gegenseitig bedingen und stabilisieren. Auch der Hinweis Liboirons auf die Unwissenschaftlichkeit des Konzeptes ergibt in Kombination mit ihrer darauffolgenden Demonstration, wie nützlich das Konzept für die Einschätzung der Langzeitfolgen des Einsatzes von Weichmachern sein könne, die implizite Kritik einer Wissenschaft, die vor multiplen, mitunter verworrenen Verbindungen die Augen verschließt. Auf die wichtige Rolle von Narrativen in Bezug auf Risiken, die durch neue Technologien und neue Stoffe evoziert werden, weist auch Ursula K. Heise in ihren vom Ecocriticism beeinflussten Literaturanalysen hin.199 Heise stellt unter anderem Don DeLillos White Noise ins Zentrum ihrer Überlegungen zu chemischen Kontaminationen und bezieht sich hierbei auf Becks Modell der Risikogesellschaft.200 Dabei eröffnen sich gerade der Literaturwissenschaftlerin Rückschlüsse auf die Veränderungen, die die neuen Stoffe evozieren und die wiederum neue Risiken bedeuten. Heise untersucht narrative Muster, Plotentscheidungen bis hin zu Fragen der Genres, in denen diese Risiken verhandelt werden.201 Darüber hinaus mache aber gerade die Verschiebung realer Risiken auf die Ebene eines literarischen Textes Brüche aus, die mit den Unsicherheiten bezüglich solcher Risiken korrespondierten. Mit Heise lassen sich so auch Fragen sowohl in Bezug auf reale wie auch fiktionale Risiken formulieren: Wer ist Expertin, wer Laie? Ist Expertentum tatsächlich etwas, das im Falle einer chemischen oder radioaktiven Verseuchung greift?202 Oder sind Experten nicht auch hilflos gegenüber bestimmten Risiken? Welche Rolle spielen Fakten und Daten, wie werden sie generiert und welcher Grad an Unsicherheit ist verschmerzbar? Letztlich, das zeigen die Fragen, verwischen die Grenzen zwischen realen und fiktionalen Risiken. Ein Nachdenken über und ein Eingrenzen von Risiken ist immer verbunden mit Narrativen über sie. Ernstfälle werden imaginiert, um sie handhabbar zu machen.203 199 So etwa in ihrem Essay Toxins, Drugs, and Global Systems: Risk and Narrative in the Contemporary Novel (vgl. Heise 2002) oder dem Band Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global (vgl. Heise 2008). 200 Vgl. Heise 2002. 201 Vgl. Heise 2002, 762f. 202 Zur Rolle von Expertentum in Bezug auf Umweltrisiken vgl. die Ausführungen von Radkau: »Verwissenschaftlichung schafft Hierarchien, mit den Laien zuunterst, auch wenn die Initiative von ihnen kam. Das Wissen der Laien wird abgewertet, auch wenn es für die Praxis des Umweltschutzes mindestens so nützlich ist wie das Expertenwissen. Bei Fachsimpeleien über Grenzwerte kann der Laie kaum noch mitreden, auch wenn die Grenzwerte letztlich ausgehandelt und nicht aus Laborexperimenten deduziert werden.« (Radkau 2000, 309) 203 Bei Beck überlagern sich der Ernstfall und das Nachdenken über ihn auf fast unheimliche Weise: So verfasste er wenige Monate vor dem GAU in Tschernobyl seine Studio Risikogesellschaft. Beck sieht im GAU die Bestätigung seiner Thesen, wie er im nachträglich verfassten Vorwort schreibt: »Vieles, das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde – die Nichtwahrnehmbarkeit der Gefahren, ihre Wissensabhängigkeit, ihre Überrationalität, die ›ökologische Enteignung‹, der Umschlag von Normalität in Absurdität […] liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart.« (Beck 1986, 10f.) Vgl. zur Überlagerung von Fiktion und Realität auch Hempel 2012, der die Evakuierungszone als zentralen Ort der Moderne in den Blick nimmt und zeigt, wie in Kriegsspie-

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

In der nachfolgenden Analyse von Thomas Meineckes Roman Tomboy wird die Frage nach dem Verhältnis von Verpackung und Inhalt, von Oberfläche und Tiefe, die bereits bei Brinkmann diskutiert wurde, erneut gestellt. Während Brinkmann einerseits der Oberfläche Präsenz und Sinnlichkeit zugesteht, verweigert er sich andererseits gerade nicht dem Schmutz der Städte. Andere Vertreter der Popliteratur der 1960er Jahre wie Hubert Fichte zelebrieren ebenfalls das Unreine, das Vermischte und Hybride.204 Wo sind Kunststoffe einzuordnen? Sie gelten als cleane Materialien, auch wenn, wie die Ausführungen zu Entgrenzungen gezeigt haben, sie weitreichende Verschmutzungen etwa des Ozeans verantworten. Roland Barthes schreibt zudem zu Plastik, dass es »weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung [sei], es ist, wie sein gewöhnlicher Name anzeigt, die sichtbar gemachte Allgegenwart. Und gerade darin ist es ein wunderbarer Stoff.«205 Dabei sei, um Barthes weiter zu folgen, Plastik nicht nur Gegenstand, sondern »die Spur einer Bewegung.«206 Zur Materialität von Kunststoffen gehört also scheinbar auch die Tendenz einer Körperlosigkeit, einer Immaterialität. Wenn Kunststoffe zwar abfallnah sind, zugleich aber immateriell und schmutzfern – welche Konsequenzen hat das für das Erzählen über diese Stoffe? Kunststoff gilt als cleaner, schmutzabweisender Stoff. Er passt deshalb gut in eine Zeit, die Schmutz weitestgehend bekämpft oder in Schutzräume wie Museum und Kunst verlagert. Gerade Körperflüssigkeiten gelten als schmutzig, als unrein. Seit Norbert Eliasʼ Über den Prozeß der Zivilisation wissen wir beispielsweise, dass das Aufkommen von Gefühlen wie Peinlichkeit und Scham allmählich verhinderte, dass in der Öffentlichkeit gespuckt wurde.207 Elias zeigt, wie das einst übliche und täglich praktizierte Ausspucken im Verlauf der Zeit, er datiert den Wandel auf die Zeit ab dem 16. Jahrhundert, zunehmend tabuisiert wird.208 Dabei ist es nicht nur eine neue Schamhaftigkeit das Körperliche betreffend, die zu der Tabuisierung führt: In der Bannung des Spuckens manifestieren sich ebenso hygienische Vorstellungen, in der sich wiederum tatsächliche und imaginierte Bedrohungen vermischen,209 mit dem Willen zur sozialen Distinktion.210 Dass diese Distinktion auch heute nicht immer zu plausiblen Handlungen führt, zeigt auch Michael Thompson, wenn er als Einstieg in seine Mülltheorie anhand eines Rätsels zeigt, wie Nasensekret als Ausdruck von Klasse bei den Reichen kontra-intuitiv gerade nicht sofort weggeworfen wird, sondern im Taschentuch und in der Hosentasche landet.211 Frank Degler widmet sich in einem Aufsatz zur Popliteratur den Körperflüssigkeiten und denkt diese mit der Bewegung der Zirkulation in Raum

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len und anderen Übungen der Ernstfall geprobt wird (vgl. Hempel 2012, 100). Vgl. hierzu auch Kapitel 5.7 dieser Arbeit. Vgl. zu Vermischungen bei Brinkmann die Ausführungen von Eckhard Schuhmacher (Schuhmacher 2003, 78), zu Vermischungen bei Fichte den Aufsatz von Dirck Linck (vgl. Linck 2009). Barthes 2006, 79. Barthes 2006, 79. Zu Scham und Peinlichkeit vgl. Elias 2004b, 408-420. Vgl. Elias 2004a, 300-311. Vgl. Elias 2004a, 308. Vgl. zu diesem Aspekt auch Bourdieu 1987, besonders die Passagen zu Körper, Nahrung und Hygiene (etwa Bourdieu 1987, 322-332). Vgl. Thompson 2003a, 23.

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und Zeit zusammen.212 In den popliterarischen Texten, die er untersucht, bleibt es nicht beim Nasensekret. Es wird uriniert, geweint, es kommen Flüssigkeiten wie Speichel, Schweiß, Erbrochenes und Sperma vor. Christian Krachts Faserland etwa dient als Beispiel einer solchen, wie Degler es nennt, sekreten Kommunikation. Dabei spielt sekret sowohl auf die Körpersekrete an, meint aber auch eine geheime oder vertrauliche Mitteilung. Deglers These zur Kommunikationsleistung von Sekreten: Eigentlich sollte, und hier folgt er Albrecht Koschorke und Friedrich Kittler, gerade die verschriftlichte Kommunikation, zu der auch literarische Texte gehören, durch ihre Körperlosigkeit die Körpersäfte trockenlegen.213 Besonders die Epoche der Empfindsamkeit operiere aus einer Logik des Mangels und ersetze »körper- und affektbetonte […] Sekrete durch die Tinte der Schrift (oder die Träne des reinen Gefühls […]).«214 Die sekrete Kommunikation zwischen Empfindsamkeit und neuerer deutschsprachiger Popliteratur bestünde in einer spiegelbildlichen Korrespondenz: »Während sich die Literatur der Empfindsamkeit durch eine Konzentration auf die Innerlichkeit der Subjekte auszeichnet und dabei die Körper als reale Objekte verdeckt, wird in der Popliteratur die Oberfläche der Objekte zum Gegenstand und der Körper in einer höchst provokanten Form wieder zum Thema gemacht.«215 Was in diesem fünften Kapitel mehr interessiert als die Korrespondenz zwischen Empfindsamkeit und Popliteratur, ist die Kommunikationsleistung der Popliteratur in Bezug auf Abfälle. Nicht nur bei Kracht, sondern etwa auch bei Stuckrad-Barre, findet sich eine »literarische[…] Diagnose zeitgenössischer Pathologien«216 , die das zelebriert, was er »Logik des Überschusses«217 nennt. Degler erschließt die Kommunikationsleistung aus den dieser konstatierten Trockenlegung entgegenwirkenden Bewegungen. So schließt sich der Boden zu den zu Beginn des zweiten Kapitels herausgearbeiteten Bewegungen des Zirkulierens, des Strömens, aber auch des Stockens von Fließbewegungen.218 Degler nennt dies eine ›zirkuläre Konstellationen‹ und konkretisiert: »Ein beschleunigter zirkulärer Leerlauf – häufig über das Bild der Onanie selbst oder aber im Motiv des geschilderten, schnellen und übermäßigen Konsumierens und ›Wieder-vonsich-Gebens‹ von Drogen, Alkohol oder Nahrung.«219 Was hat die Entledigung eines Überschusses mit Gegenbewegungen, was mit Abfällen zu tun? Waren in den bisherigen Kapiteln die Körperhaltung des Sitzens zum Erkennen sowie das Ergehen von Abfällen Gegenbewegungen, könnte auch das von Degler erwähnte Erbrechen das Potenzial einer Gegenbewegung haben. Degler zeigt, dass erbrochen wird, um Überfluss an Konsum, an Nahrung, an Genuss, Sexualität etc. zu kompensieren oder zumindest auszudrücken. Es macht aber, wie Degler ebenfalls zeigt, in den von ihm untersuchten Texten nur Platz für neuen Konsum.220 Die Be-

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Vgl. Degler 2006. Vgl. Degler 2006, 280-283. Degler 2006, 281. Degler 2006, 265. Degler 2006, 265. Degler 2006, 284. Vgl. hierzu besonders Kapitel 2.2 dieser Arbeit. Vgl. Degler 2006, 283. Vgl. Degler 2006, 285.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

wegung, so lässt sich folgern, wird zu einer Endlosbewegung, die nur durch den Tod unterbrochen wird. Dieser Überkonsum korrespondiert mit der Materialität von Kunststoffen. Hier findet sich zugleich eine Materialeigenschaft, die Kunststoffe für die Verbraucher so nützlich macht: Sie sind abwaschbar. Während die Körperflüssigkeiten in den popliterarischen Texten durchaus Ekel evozieren können, zugleich aber von den leicht zu reinigenden Flächen der die Figuren umgebenden Welt wieder abgewaschen werden können, generieren die von Liboiron herausgearbeiteten Langzeitschäden von Weichmachern für den Menschen und andere Organismen, generiert auch die Vermüllung des Ozeans mit kleinsten Plastikteilchen keine Abwehrreaktionen. Auch sie hinterlassen kaum sichtbare Spuren. Für Abfälle und abfallnahe Dinge gilt: Kontakt zwischen Haut und Abfällen wird gemeinhin weitestgehend vermieden. Schutzkleidung sollte getragen werden, wenn es zu Berührungen kommt. Wenn keine Schutzvorkehrungen getroffen werden oder getroffen werden können, das haben auch die Beispiele in Der Sammler gezeigt, setzt sich der oder die Abfallgreifende einer Gefahr aus. Gerade das Bedürfnis, sich zu schützen, greift bei den neuen Stoffen nicht. Sie dringen über Nahrungsmittel, über Luft, Wasser und über die Dinge, mit denen wir uns täglich umgeben, in unsere Körper ein und sammeln sich mitunter an. Dies geschieht oftmals unbemerkt, diese Kontaminationen lösen, im Gegensatz zum Spucken, keinen Ekel aus.221 Das erklärt, warum in den Materialbänden Brinkmanns oder den Essays Genazinos die Plastikdinge, mit denen sich die Schreibenden unfreiwillig und unablässig konfrontiert sehen, zwar Abscheu, Empörung oder Verachtung auslösen, aber keine Ekelgefühle. Wenn auch die Haut Grenze zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt bleibt,222 wird die Hautbarriere durch die neuen Stoffe unbemerkt durchbrochen. Das Weinen oder auch Spucken, die Absonderung und Ausscheidung von Körpersekreten kann so als Gegenbewegung gelesen werden. Eine Gegenbewegung die allerdings, und dies liegt in den neuen Stoffen begründet, scheitern muss. Ein anderer Weg, über diese unbemerkten Kontaminationen, aber auch über die Gründe und Umstände zu diskutieren, durch die es zu einer solchen Kontamination kommen konnte und könnte, sind literarische Texte. So können unsichtbare Verbindungen erzählerisch sichtbar gemacht werden, können Abwehrgefühle auch in Hinblick auf unsichtbare Gefahren imaginiert werden – auch und gerade, wenn Gegenbewegungen nicht greifen. Dabei werden zugleich aber auch die Gewinne der neuen Stoffe miterzählt, die bereits in den beiden vorausgegangenen Unterkapiteln in den Blick genommen wurden: Sie schaffen neue Möglichkeiten.

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Zum Ekel vgl. Menninghaus 2002; Kunststoffe kommen in Menninghausʼ Überlegungen allerdings nicht vor. 222 Vgl. hierzu König 1997, 436: »Die Haut ist Inbegriff einer Grenzfläche. Sie steht zwischen uns und der Welt und ist in diesem Sinne sowohl in ihrer Materialität wie auch als Symbol(-träger) Ausdruck unserer unüberwindlichen Trennung von unserer Umwelt und Mitwelt als Grundlage des Seins.«

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5.6

Thomas Meineckes Tomboy – neue Stoffe, neue Verbindungen, neues Vergessen in hybriden Zeiten

In der nachfolgenden Analyse von Thomas Meineckes Roman Tomboy (1998)223 rücken neben den bereits im Zusammenhang mit Kunststoffen diskutierten Themen – Bändigungsversuche und Verweigerungen, Versprechen und Vergessen, fake und Kapitulation – weitere Fragen in den Blick: Wie werden die zuvor beschriebenen räumlichen Entgrenzungen, die noch größere Ausmaße annehmende Abfälligkeit der neuen Stoffe nicht in den 1950er und 1960er Jahren, sondern zu Ende der 1990er Jahre erzählt? Gibt es eine Veränderung des Erzählens über diese Stoffe? Lassen sie sich überhaupt erzählen? Elf Jahre nach der Entdeckung bzw. ersten Beschreibung des Great Pacific Garbage Patch, des Großen Pazifikmüllflecks im Jahr 1987224 erscheint Tomboy. Auch wenn die Entgrenzungen von Plastikabfällen Ende der 1990er Jahre nur in Fachkreisen diskutiert wurden, blitzen in Meineckes Roman die toxischen Verbindungen, die mit, um und durch Plastik eingegangen werden, immer wieder auf. Das Plastikinventar des Romans würde zudem zusammengenommen zumindest einen kleinen Müllfleck ergeben: Der Text versammelt Plastiktüten, Plastikstühle, die Barbie-Puppe, einen Plastikdildo, die bereits zu Beginn dieses Kapitels zitierte Unterwäsche aus alten Plastikflaschen. Sogar eine Doppel-LP mit passendem Namen findet Erwähnung, nämlich »Kunststoff von Move D aus Heidelberg auf Source Records« (MeiT, 58), die die Protagonistin Vivian auf die einsame Insel mitnehmen würde. Tomboy ist in Bezug auf Kunststoffe ein Text, der die Überlegungen dieses fünften Kapitels ergänzt und weiterführt, der Kunststoffe jedoch zum Teil auch signifikant anders behandelt und einsetzt, sie anders erzählt, als dies in den bisher untersuchten Texten der Fall war. Deshalb ist es lohnend, etwas länger bei diesem Roman, der meist im Kontext der Popliteratur rezipiert wird,225 zu verweilen und die unterschiedlichen Verbindungen herauszustellen, die darin anhand des Materials Kunststoff hergestellt werden.226 Verbindungen, die in Tomboy auffällig 223 Vgl. Meinecke 2000, Textstellen werden im fortan laufenden Text mit der Sigle MeiT und Seitenzahl zitiert. 224 Zur Entdeckungsgeschichte vgl. Reno 2012a, 645. 225 Vgl. etwa Baßler 2005a, 135-154 und, mit Blick auf Popverfahren, Feiereisen 2011. Zu den Verfahren vgl. meine Überlegungen weiter unten. 226 Dieser Umstand wird von den Arbeiten zu Tomboy weitestgehend übersehen. So finden sich in Feiereisen 2011, der bisher ausführlichsten Studie zu Tomboy, zwar Hinweise auf Plastikdildo, Vinylschallplatten und Nylonstrumpfhosen, diese werden aber in erster Linie im Kontext des von Feiereisen vorrangig ausgemachten Genderthemas gelesen. Eine Ausnahme stellt die Diplomarbeit von Martin Fritz (vgl. Fritz 2008) dar: Fritz widmet sich in seiner Mikro- und Makroanalyse von Meineckes Verfahren in Tomboy der Herstellung von Kontexten durch Verbindungen von Begriffen. Fritz arbeitet folgende Hauptkontexte bzw. -begriffe heraus: Gender-Diskurs, Amerika, Deutschland, Popmusik, Mode, Technik und als, wie er es nennt, zweite Reihe von Kontexten, »die auch mehrmals, jedoch bereits deutlich weniger oft als die bereits genannten vorkommen« (Fritz 2008, 97): Kunststoff, Literatur, 1997, Katholizismus, RAF, Rassismus, Sozialismus, Riot Girl, Psychoanalyse und Nationalsozialismus (vgl. Fritz 2008, 97f.). So erwähnt Fritz beispielhaft die Kombination des Themas Deutschland mit dem der Kunststoffe über den Konzern BASF oder den Zusammenhang zwischen der elektronischen Musik des Albums »Kunststoff« und dem Gender-Diskurs (vgl. Fritz 2008, 100). Fritz hat zudem in beachtlicher Fleißarbeit in einer an seine Ausführungen anschließenden Makroanalyse die ersten 111 Seiten des Textes in 100 Abschnitte unterteilt und

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

häufig auch Abfall, Abfälligkeit, Verwerfungen und Entsorgungen zur Sprache bringen. Es wird mit Ausnahme von Tränen zwar wenig über Körperflüssigkeiten erzählt, Ekel spielt kaum eine Rolle, aber auch hier geht es um nicht immer sichtbare Mitteilungen. Kurzum: Ein Roman, dessen Kunststoffausstattung überaus eindrucksvoll ist und der diese Kunststoffe einerseits mit Gefahr und Risiken, andererseits aber auch mit Möglichkeiten, mit Utopien und Revolution(en) in Verbindungen bringt. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe von Mittzwanzigern um die Protagonistin Vivian Atkinson. Eine Handlung ist kaum auszumachen, vielmehr liest sich der Text als Aneinanderreihung, als Sammelsurium von Zitaten, Gesprächen, Fragestellungen und scheinbar zufällig aufeinander folgenden Alltagsepisoden. Ergänzend zu den Hauptfiguren um Vivian, ihrem engen Freundeskreis Korinna Kohn, Frauke Stöver sowie Hans Mühlenkamp, gehört eine Vielzahl von Nebenfiguren zum Inventar, etwa die Mitbewohnerinnen Fraukes, Pat Meier, Ilse Lehrerin und Genoveva Weckherlin, der Chemiker Bodo Petersen sowie der/die transsexuelle Kellner/in Angelo/a. Dennoch sind die Zusammenstellung der Personen, deren Denken, Reden und Tun sowie die in den Roman eingeflossenen Realitätspartikel in Form von Zeitungsmeldungen oder Exzerpten theoretischer Texte u.a. von Otto Weininger, Judith Butler, Donna Haraway und Ernst Bloch, nicht beliebig. Diese Zusammenstellung hat, wie auch Moritz Baßler zeigt, Fokus und Intention: Eines der Ziele des Romans ist die Archivierung.227 Baßler hat richtig festgestellt, dass Tomboy durch sein Verfahren die Funktion einer Archivierung des vor allem akademischen Gender-Diskurses übernimmt, dabei jedoch zwei Kunstgriffe anwendet – der Roman verortet den Diskurs räumlich und zeitlich.228 Geographisch lässt sich der Roman im Rhein-Neckar-Gebiet verorten, hier in erster Linie das Städtedreieck Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen sowie der angrenzende Odenwald, zeitlich ist er auf das Jahr 1997 beschränkt. Dabei werden die Grenzen einer Lokalisierung wie auch Terminierung kontinuierlich überschritten, indem Verbindungen hergestellt werden. Vor allem die Verweise auf theoretische Texte, die archivierten historischen Begebenheiten, etwa die Erfindung der Nylon-Strumpfhose oder die Benennung des Bikinis, aber auch die immer wieder aufblitzende Familiengeschichte der Protagonistin und, wie es heißt, »Army Brat« (MeT, z.B. 15, 105) Vivian Atkinson, weisen zeitlich und räumlich weit über die angesprochenen Koordinaten hinaus. Welche Funktionen diese Art der Archivierung sowie die vielfältigen Verbindungen haben, die uns im Text begegnen, steht so auch im Zentrum der Analyse. Verbindungen, die der Text eröffnet, sind auch und gerade im Hinblick auf die flüchtigen und abfallnahen Kunststoffe bedeutsam. Eingeflochten in die verworrenen Handlungs- und Verweisstränge sind zahlreiche Erwähnungen des Industriestandorts und der räumlich angrenzenden Chemiefirma BASF, des weltweit größten Chemiekonzerns und einer der Begriffe/Kontexte, Orte und Figuren tabellarisch aufgelistet (vgl. Fritz 2008, [108, ohne Paginierung]-117). Für den Begriff Kunststoff lassen sich 25 Nennungen zählen. Den von ihm freilich nur kurz aufgelisteten bzw. erwähnten Kontexten u.a. Technik und Gender, und den Verbindungen, die über jenen Stoff hergestellt werden, soll in meiner Analyse nachgegangen werden. 227 Vgl. Baßler 2005a, 135. Thomas Ernst kategorisiert den Roman mit Hubert Winkels als »Textzwitter«, der »Grenzen zwischen literarischer und wissenschaftlicher Sprache« auflöse (vgl. Ernst 2008, 116). 228 Vgl. das entsprechende Kapitel in Baßler 2005a, 135-151.

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führenden Kunststoffhersteller.229 Mehr noch: Kunststoffe sind, neben dem Genderthema, omnipräsent – mehr als vierzig verschiedene Kunststoffmarken und -arten werden aufgezählt. Neben der »glorreichen Erzeugung von Plastik« (MeiT, 72) kommt auch das Gefahrenpotenzial sowohl der räumlichen Nähe zu solch einem Industrieunternehmen als auch generell dieser Art der chemischen Industrie zur Sprache, die bis zu wahrlich toxischen Verbindungen reicht. Zunächst jedoch zurück zum Anfang: Bereits auf der ersten Romanseite werden zahlreiche Verbindungen zum Thema Abfall hergestellt. Der erste Satz führt gar den Raubbau an der Natur – zum Konzept der Natur in Tomboy später mehr – vor, wenn wir Vivians Blick aus dem Fenster des von ihr bewohnten ehemaligen Tabakspeichers in Edingen folgen: »Rosarot leuchteten die Steinbrüche vom nahen Odenwald herüber.« (MeiT, 7)230 Mit den Steinbrüchen werden die Folgen menschlicher Arbeit angesprochen, die ressourcenintensiv ist und Abfälle hinterlässt.231 Was auf Meineckes abfallnahe Exposition folgt, ist einerseits in Bezug auf den Erzählduktus exemplarisch für den gesamten Roman, führt andererseits zugleich in wichtige Themen des Gesamttextes ein: Künstlichkeit versus Natürlichkeit, Arbeit versus Muße bzw. Disziplin und Sinnlichkeit, das fragende Kreisen um wichtige und weniger wichtige akademische und nicht-akademische Fragestellungen, Sexualität, die Kombination und immer wieder durchscheinende Inkompatibilität von Alltag und Diskurs (und umgekehrt), Konzentration und Ablenkung. So heißt es: War der künstliche Eingriff in die Natur zum Bestandteil sogenannter natürlicher Schönheit geworden? Hatte sich Vivian nicht gerade deshalb von ihrer Arbeitsplatte erhoben, war sie nicht, mit nahezu traumwandlerischer Bestimmtheit, ans Fenster getreten, eben weil die Steinbrüche an diesem sonnigen Spätnachmittag so ganz besonders rosarot, knallrosarot gleichsam, herüberleuchteten? Vivian genierte sich ein bißchen, daß die Berge überhaupt, ein vernarbtes Mittelgebirge zudem, eine gewissermaßen sinnliche Ausstrahlung auf sie auszuüben imstande waren, wandte sich also vom Fenster wieder ab und ließ sich kurz darauf aufs Sofa plumpsen, um die Laufmasche zu begutachten, welche sich seit dem späten Vormittag an ihrer rechten Fessel hinaufzog. (MeiT, 7) Nach dem reflektierten Einstieg geht es nicht geschliffen weiter, sondern eher rau – das Abfallen auf das Sofa und der Blick auf die beschädigte Kleidung legen nahe, dass es um Profaneres geht als die Frage nach Schönheit und Sinnlichkeit – vorläufig zumindest. Anschließend wird nicht nur die Herkunft der Laufmasche entschlüsselt, sondern das, wiederum äußerst raue und plumpe, laufmaschenauslösende Ereignis des Vormittags führt seinerseits zu hochkomplexen Fragen: 229 Zur Unternehmensgeschichte des Konzerns vgl. Abelshauser 2002. 230 Feiereisen 2011 konzentriert sich eher auf die Farbgebung, weniger auf die Steinbrüche, wenn sie feststellt, dass »die ›rosarot‹ leuchtenden Steinbrüche auf der ersten Seite des Romans die Stimmung des gesamten Buches« bestimmen; weiter heißt es: »Meinecke spielt mit Farben und ihren Assoziationen […], hier mit rosa, was mit homosexuell assoziiert wird. Meinecke wird diese stereotypischen Farbzuordnungen jedoch im weiteren Verlauf des Romans schon bald hinter sich gelassen haben.« (Feiereisen 2011, 97) 231 Vgl. Brockhaus, Lemma Tagebau (vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 26, 817).

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Ein ungeschlachter Rüpel, zwei Meter lang, hatte ihr im Supermarkt, unmittelbar vor der Kasse, eine monströse Zwillingskarre in die Ferse gerempelt. Würde nun Vivians Laufmasche, den Steinbrüchen des Odenwalds gleich, jemals als sexy gelesen werden können? Oder war das unverletzte Chemiefasergewebe selbst bereits textiler Euphemismus und damit als künstliche Überhöhung der Natur zu bewerten, die ihre ambivalente Entsprechung in jenen Glanzlichtern fand, welche die Abendsonne dem von Steinmetzen blankgelegten und zerfurchten Odenwaldgestein aufsetzte? (MeiT, 7) Während mit den Verben »blankgelegt« und »zerfurcht« noch einmal die Ertrag und Abfälle erzeugenden menschlichen Eingriffe zur Sprache kommen, werden sie bereits in dieser frühen Textstelle mit dem weiten Feld des menschlichen Konsums verbunden, wenn auch nicht explizit kausal, sondern assoziativ. Die in Meineckes Textpassage gestellte Frage nach dem Stellenwert der Chemiefaser, nach den Kunststoffen bleibt eine, die zwar an die diskutierten Thesen Barthesʼ zum Changieren des Stoffs zwischen Alltagsgegenstand und Mythos anknüpft, die aber im gesamten Roman unbeantwortet bleibt. Mit diesem Verfahren – Fragen stellen, die nicht unbedingt beantwortet werden (müssen) – korrespondiert auch die Hauptbeschäftigung von Protagonistin Vivian: das wissenschaftliche Arbeiten. Im Fall Vivians entpuppt es sich, hier gibt es Verbindungen zu Alfred Irgang in Der Sammler, als Ansammlung, also aufwändige Exzerpiertätigkeit, besteht aber hauptsächlich aus dem Formulieren von Fragen. Es nähern sich, so wird sich zeigen, Erzählverfahren und Inhaltsebene des Romans an. Was ist damit gemeint? Noch einmal zurück zu den ersten Textseiten. Nach einem durch eine Langspielplatte, die sich auf dem Plattenteller Vivians dreht, ausgelösten Exkurs über die Riot Girls der US-amerikanischen Westküste führt der Text zu Marjorie Garbers Vested Interests, eine 1991 publizierte wissenschaftliche Untersuchung zu Cross-Dressing. Von hier aus startet die Erzählung einen Ausflug ins Jahr 1917, in dem an der US-amerikanischen Ostküste Männer in Frauenkleidern eine Revue tanzten, um die Zensurmaßnahmen der Behörden zu umgehen (vgl. MeiT, 8). Es schließen sich Vivians Fragen und Stichpunkte an – ist doch das Aneinanderreihen solcher Fragen die von ihrem Betreuer bewilligte Form der Magisterarbeit Vivians (vgl. MeiT, 9f.). Eine Arbeit, die während des Romans immer wieder Erwähnung findet und in der Jahreschronologie strukturierend wirken könnte und die tatsächlich auf den letzten Seiten des Textes als »so gut wie fertig geschrieben« (MeiT, 248) bezeichnet wird, dennoch innerhalb der erzählten Zeit keinen Abschluss findet. Drei Aspekte sollen eingehender untersucht werden mit Blick auf Kunststoffe und die im Text erzählten Verbindungen, die aus und durch diese Kunststoffe entstehen: (1) Beginnen möchte ich mit Ausführungen zu einem synthetisierenden Erzählen in Tomboy. Hier gibt es Anknüpfungspunkte zum bewahrenden und erkundenden Erzählen. In Bezug auf Kunststoffe lassen sich jedoch neue Fragen zu Archivierungen stellen. (2) Sodann wird unter dem Schlagwort ›Neue Körper? Neue Möglichkeiten, neue Abfälle‹ die für den Roman so wichtige Gender-Thematik analysiert und, hiermit verbunden, Fragen nach Schönheit und Prothese verfolgt, die auch die Frage nach Natur und ihren Grenzen bzw. den Kosten einer Überwindung dieser Grenzen umfassen. (3) Zuletzt werden mit dem Blick auf toxische Verbindungen weitere Dimensionen des Vergessens sowie die Kehrseiten und die Gefahren der Synthesen untersucht.

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(1) Zunächst zum synthetisierenden Erzählen. Analog zu den fortschrittsoptimistischen Plastikerzählungen sind auch die Geschichten, die Tomboy im Kontext von Kunststoffen erzählt, optimistische Geschichten. Plastiktüten sind leichte und zugleich verhüllende Transportmedien, Plastikstühle sind günstige und wetterbeständige Außenmöbel und die Unterwäsche aus alten PET-Flaschen zeigt, dass diese auch nach dem Ausdienen als Transportdinge neuem Wert zugeführt werden können. Die bereits angeführte Plastikflaschen-Meldung in der Zeitung, die auf einen Recycling-, genauer Downcycling-Prozess verweist, macht zugleich auf den für Tomboy so wichtigen Vorgang der Synthese aufmerksam. Der Vorgang der Synthese meint in der Welt der Naturwissenschaft, genauer in der Chemie, die künstliche Gewinnung in der Natur vorkommender oder neuer chemischer Verbindungen: Jeder Kunststoff ist Resultat einer Syntheseleistung. Aber auch die Herstellung von Wäsche aus alten Plastikflaschen ist Synthese. So heißt es im entsprechenden Lemma im Brockhaus: »[griechisch sýnthesis, zu syntithénai »zusammensetzen«, »zusammenstellen«] […] Herstellung chem. Verbindungen aus i.d.R. einfacher aufgebauten Stoffen. Dabei führt die S. von Ausgangsstoffen (Edukte) über isolierbare Zwischenprodukte und/oder nichtisolierbare Zwischenstufen zu Endprodukten.«232 Dabei wird nicht nur, wie im integrierenden Erzählen, erzählerisch bewahrt und das Erzählte wieder in eine Ordnung zurückgeführt, sondern es wird durch Prozesse des Zusammenfügens, durch Rekombination Neues gestaltet. In welcher Hinsicht dieses Zusammenbringen von Stoffen zu neuen Stoffen, die Bewegungen des Zerlegens und Zusammenführens zu etwas Neuem bedeutsam für die Analyse des Textes ist, bleibt zu klären. Ebenfalls zu klären ist, was in diesem Kontext als Ausgangsstoffe, als Zwischenprodukte bzw. Zwischenstufen und als Endprodukt zu bezeichnen wäre. Erzählt werden jedoch nicht nur optimistische Geschichten, sondern auch die Kehrseiten dieser Syntheseleistungen. Eine nicht mehr zu trennende Verbindung, die der Text vollzieht und die mit dem Eingangsbild der Odenwälder Steinbrüche bereits angesprochen wurde, ist so auch die Verknüpfung von Konsum und Abfall. Die Mülldeponie als Rück- und Kehrseite des Warenhauses, der Mall und des Supermarktes wurde bereits in Kapitel 2, aber auch anhand der Texte Genazinos diskutiert: Konsumakte, dies eine implizite Erkenntnis des Textes, sind untrennbar verbunden mit Abfällen. Nur einige wenige Male begegnet uns das Wort Abfall explizit, und zwar im Kontext von anfallendem Hausmüll, von Verpackungsabfall. Gemeinsam werden im Freundeskreis die von Vivians Großmutter, die in Cincinnati residiert und es sich nicht nehmen lässt, »regelmäßig leckere Versorgungs-Päckchen nach Deutschland zu schicken« (MeiT, 63), gestifteten Leckereien aus den USA verspeist. An dieser Stelle tritt die synthetisierende Erzählstrategie Meineckes hervor, die zugleich vom Abfall wegführt: Das German-American Einzelkind winkte noch ein bißchen hinterher, als die tschechoslowakische Limousine in die Hauptstraße einbog, welche nach ein- bis zweihundert Metern zur Heidelberger Straße wurde, nahm im Tabakspeicher nicht den Lift, sondern die Treppe, lüftete ihr Zimmer und schob den enormen Haufen angefallenen Verpackungsabfalls in den Flur. Bevor sie sich auszog, nahm sie noch kurz Caroline Walker 232 Zwahr/Brockhaus 2006, Band 26, 752. Zur chemischen Synthese vgl. auch die Studie von Esther Leslie, Synthetic Worlds. Nature, Art and the Chemical Industry (Leslie 2005), speziell zu Kunststoffen und der Kunststoffindustrie vgl. dort Kapitel 6, 167-192.

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Bynums 1996 ins Deutsche übersetztes Buch Fragmentation And Redemption zur Hand […]. (MeiT, 67) Nach der Benennung des Verpackungsabfalls folgt also zugleich ein Sprung zu einem der vielfach zitierten wissenschaftlichen Texte: Caroline Walker Bynums Essaysammlung über Gender und Körper in mittelalterlichen Texten, deren deutsche Übersetzung Vivian in die Hände nimmt. In diesen Texten, in denen »sich die mittelalterlichen Anfänge einer eigenständigen weiblichen, nämlich klösterlichen, Wissenschaft ausgerechnet um die Vorhaut Jesu, damit den einzigen nicht zum Himmel aufgefahrenen Körperteil des Heilands« (MeiT, 67) finden, geht es, wenn nicht um Konsum, doch implizit auch um Abfall von Körpern, Körperabfälle. Unabhängig von der inhaltlichen Ebene evoziert der oben zitierte Passus, eigentlich aber die Gesamtgestaltung des Textes, erneut die Frage nach der Art und Weise des Erzählens: Warum nutzt Meinecke die Strategie des Abschweifens, der Ablenkung, aber auch der, meist sprunghaften, akkumulierenden Sammlung von Verbindungen? Die beispielhaft an den obigen Zitaten demonstrierte grundlegende Arbeitsweise Meineckes, das an die Pop- und später DJ-Kultur angelehnte literarische Verfahren des Spinning, Mixing und Sampling, die der Roman fast ausschließlich nutzt, ist gerade in der jüngeren Meinecke-Forschung, exemplarisch die Dissertation von Florence Feiereisen, gut bearbeitet.233 In Bezug auf Abfälle stellt sich die Frage: Wenn sich der Roman als Sample, als Mix gestaltet, der integrativ wirkt, dann gibt es innerhalb dieses Textes zunächst einmal keine Abfälle. Was ist damit gemeint? Die Verbindungen und Hinweise, die der Roman liefert, sind in einer Textpassage zu finden, in der die Stadt Heidelberg mit den literarischen Texten des Pop und Beat verbunden wird: Der Amerikaner Allen Ginsberg hatte einst oben am Philosophenweg gestanden und gleich über die gesamte, zumeist dunstige Ebene, welche sich vor ihm ausbreitete, ein Beat Poem verfaßt, das sogar die chemischen Werke Ludwigshafens inkorporierte. Vivians Mutter hatte daraus die folgenden Zeilen auswendig gekonnt: Highdelbergh below, orange roofed, misty under grey cloud flowing over oak ridge, across the red stone bridge, over brown Neckar waters, flowing west to the Rhine plains; supporting BASF. (MeiT, 10f.) Wie auch Brinkmann breitet Ginsberg in seiner Literatur Realitätspartikel aus, die in diesem Fall geographisch mit der Rhein-Neckar-Region verbunden sind. Die Frage, die sich stellt und die bereits in den Brinkmann-Analysen in Kapitel 4 und 5 diskutiert wurde: Handelt es sich um Ästhetisierungen oder nicht? Dirk Linck hat sich mit dieser Frage in seinen Überlegungen zu den Dingen im Pop beschäftigt. Er bezieht sich unter anderem auf Allen Ginsbergs Sunflower Sutra aus dem Jahr 1956, das den Blick auf die Ufer des Hudson River wiedergibt.234 Linck kommentiert zunächst einmal die Sammeltätigkeit Ginsbergs: Was hier beieinander liegt und von Ginsberg aufgelistet wird, ist Abfall in seiner buchstäblichen Bedeutung: die weggeworfenen und fallengelassenen Realien der Indus233 Vgl. hierzu ausführlich Feiereisen 2006, besonders 57-61. 234 Vgl. Linck 2006, 147.

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triegesellschaft, die am Boden zu formlosem Müll werden und in der Vergangenheit verschwinden, weil mit dem Wegwurf ihre Aneignung abgeschlossen ist. Der Blick aber, der auf den Abfall fällt, identifiziert die einzelnen Gegenstände wieder, verwandelt sie in Dinge und holt sie in die Gegenwart zurück.235 Dabei werden über diese Inventarisierungen Verbindungen generiert. Ob diesen Verbindungen gefolgt werden kann, ist fraglich und auch nicht immer notwendig. Dies fasst Linck mit den im Zusammenhang mit Andy Warhols Kunst angesprochenen Elementen einer »Wiederverwendung und Transformation von Dingen aus einer etablierten Ordnung, die durch das Spiel ihre Funktionen verändern.«236 Pop Art und Popliteratur nähern sich an in ihrer sich als »Dingbegeisterung zeigende[n] Stoffbegeisterung«237 . Die Bewahrung und Archivierung von gesichts- und geschichtslosen Dingen zeigt sich in Tomboy besonders in Auflistungen, beispielsweise in einer Passage, in der Protagonistin Vivian auf einer Straßenbahnfahrt die Plastikwelt in einer Zeitschrift betrachtet. Bodo Petersen hatte ihr die Abbildung aus den 1950er Jahren unter der Tür hindurchgeschoben und wir betrachten durch ihren Blick gefiltert das Inventar: Das Hochdruck-Polyäthylen der Kaffeetassen, das Trolitul der Eierbecher-Garnitur, das Lupolen des Frühstückkörbchens, des öligen Vaters bügelfreies Perlon-Oberhemd, sein strapazierfähiger Diolen-Straßenanzug, das pflegeleichte Perlon-Spielkleid des braven Kindes, die steife Trevira-Kombination der demütigen Mutter, ihre Damenstrümpfe aus Cupresa; die Anbauküche mit Hornitex-Belag und schwarzem Linoleum-Sockel. Ansonsten flogen noch Eimer aus Hostalen herum, Schüsseln aus Stratoplast, Kehrschaufeln aus schlagfestem Polystyrol. (MeiT, 192) Dabei ist die Künstlichkeit dieser Liste auffällig – niemand, wenn nicht eine Kunstfigur wie der Chemiker, Plastikexperte und Kunststoffliebhaber Petersen, erfreut sich an einer derart detaillierten Benennung der unterschiedlichen Untergruppen von Synthetikmaterialien. Auch Vivian quittiert sie mit einem lapidaren »Na und?« (MeiT, 192) Angereichert wird im aufgeführten Beispiel die Auflistung der Kunststoffe jedoch, und das dürfte sie auch für Vivian interessant machen, mit der Lebenswelt der 1950er Jahre, aus denen der Warenkatalog stammt: Die Idylle des Wohnzimmers wird erzählerisch verbunden mit stereotypen Geschlechterzuweisungen und die ebenfalls inszenierte Welt der harmonischen, der idealen (heterosexuellen) Kleinfamilie – der ölige Vater, das brave Kind, die demütige Mutter. Die Biederkeit und Verstaubtheit dieses Familienlebens, das durch die Plastikaccessoires als für die damalige Zeit modern und fortschrittlich markiert werden sollte, wird vor allem durch den Rückwärtsblick, durch Vivians Blick verdeutlicht. Andrea Westermann zeigt, wie gerade die Hausarbeit in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zur Regeneration Deutschlands beitrug.238 Die Hausfrau wurde, durchaus als Fortschreibung des Frauenbildes im Nationalsozialismus, eine Figur, die in deutlicher Abgrenzung zu etwa den emanzipatorischen Frau235 236 237 238

Linck 2006, 147. Linck 2006, 156. Linck 2006, 156. Vgl. Westermann 2007, 200.

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enpolitiken der Weimarer Republik stand.239 Die Distanz Vivians zu diesem Leben, die sich im »Na und« ausdrückt, ist auch aus diesem Kontext heraus verständlich und entpuppt sich zugleich als überraschend deckungsgleich mit dem zuvor analysierten verächtlichen Blick Rolf Dieter Brinkmanns auf die Familienidyllen der 1950er und 1960er Jahre. Eine weitere bemerkenswerte Liste findet sich jedoch bereits vor der eben zitierten Textstelle.240 Es ist zugleich auch die umfangreichste monothematische Aufzählung des Romans: 1966, als ich in Brunsbüttel eingeschult wurde und meinen ersten Chemiebaukasten geschenkt bekam, umfaßte das Verkaufsprogramm der BASF etwa fünftausend Produkte, führte Petersen mit spitzer Stimme aus: Kunststoff-Sortimente für die verschiedensten Anwendungsgebiete als Werkstoffe zur Verarbeitung durch Spritzguß, Blasen, Extrudieren, Kalandrieren, Tiefziehen, Gießen, Aufschäumen und Sintern wie Lupolen, Luparen, Oppanol, Luran, Terluran, Polystyrol, Styropor, Iporka, Ultramid, Vinoflex, Palatal; Kunststoff-Dispersionen als Veredlungsprodukte für die Klebstoff-, Papier-, Verpackungs- und Textilindustrie wie Acronal, Diofan, Propiofan; Lackrohstoffe, zum Beispiel Plastopal, Ludopal, Luprenal, Larodur; Weichmacher wie Palatinol oder Plastomoll; Lösungsmittel, Glykol und Glykolderivate; GlysantinKühlerfrostschutz; Vorprodukte für Synthesefasern; Kondensationsprodukte auf Basis Harnstoff-Phenol-Melamin für die holzverarbeitende Industrie wie Kaurit-Leim und Kauresin-Leim sowie für die Textil- und Papierindustrie; weiters organische Vor- und Zwischenprodukte für die pharmazeutische und kosmetische Industrie; Katalysatoren; anorganische Grundchemikalien; Farbstoffe zum Färben und Bedrucken von Textilien aller Art, zum Färben von Lacken, Papier, Leder, Kunststoffen und anderem; darüber hinaus Hilfs- und Veredlungsprodukte für die Textil-, Leder-, Papier-, Mineralöl-, chemisch-technische Industrie sowie andere Industrien; technische Stickstoffprodukte; Düngemittel, zum Beispiel Nitrophoska und Floranid; des weiteren Pflanzenschutzund Schädlingsbekämpfungsmittel wie Pyramin, U 46, Polyram-Combi, Kumulus und Perfekthion; sowie, last but not least, das gute alte Magnetophonband BASF. (MeiT, 72f.) Filtert man die Kunststoffnamen heraus, die in diesem Abschnitt fallen, ergibt sich eine eindrucksvolle Liste: Lupolen, Luparen, Oppanol, Luran, Terluran, Polystyrol, Styropor, Iporka, Ultramid, Vinoflex, Palatal – dies erinnert an die bereits zitierten Verbindungen zwischen Plastik und Transformation, der sich Roland Barthes in seinem Essay Plastik widmet. Die Verbindungen, die durch die Liste generiert werden, stellen die Themen des Gesamtromans und zugleich seine Verfahren in nuce vor: Kunststoff als Werkstoff ist vielfach in Prozesse der Transformation, mitunter der Veredlung eingebunden. In der Idee der Transformation manifestiert sich zum einen die im Roman auf Episoden verteilte, immer wieder als Motiv auftauchende Rolle von Mode, von Verkleidung und Maskerade und damit verbunden auch die Verwobenheit von Geschlechtsidentität und Inszenierung von Geschlecht. Doch nicht nur auf thematischer bzw. motivischer 239 Vgl. Westermann 2007, 200. 240 Baßler nennt die Stelle den »schönsten Katalog« des Romans (Baßler 2005a, 141).

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Ebene lässt sich die obige Liste als programmatisch für den Gesamttext Tomboy lesen: Entfernt man die mit den einzelnen BASF-Produkten verbundenen industriellen Methoden der Stoffbearbeitung und interpretiert sie als Hinweise auf das genutzte erzählerische Werkzeug, kann die oben beschriebene Textpassage als eine immanente Poetik Meineckes gelesen werden. Hier sind erneut die von Feiereisen herausgearbeiteten Verfahren Meineckes, das Spinning, Mixing und Sampling grundlegend, die eben auch ein Sammeln, ein Aussortieren, Verwerfen und Zusammenstellen umfassen. Der Hinweis auf Vorprodukte, auf Veredlungsprodukte, auf Hilfsprodukte, aber auch auf Verfahren der direkten Stoffbearbeitung wie Färben und Bedrucken von Textilien verbindet Meineckes Verfahren zudem mit den im Zusammenhang von Stifters Texten bereits mehrfach erwähnten Vorgängen der Stoffveredlungen, der Prozesse des Schleifens und Polierens. Dabei bleibt es jedoch nicht bei der Bearbeitung, sondern es entsteht, analog zum Kunststoff, durch eine Syntheseleistung Neues. Die Kunststoffe, aber auch die archivierten Markennamen, Ortsangaben, montierten Zeitungsmeldungen und Exzerpte wissenschaftlicher Texte lassen sich ähnlich wie zum einen die Ausgangsstoffe, aber zum anderen auch die Synthesefasern als Vorprodukt des Erzählens interpretieren. Als Vorprodukt, als Rohstoff, aber zugleich auch als Motiv, als Katalysator, der das Erzählen vorantreibt, wenn auch nicht im Sinn eines klassischen Plots. Eine letzte weitreichende Verbindung, die in dieser Textstelle abgerufen wird und der weiter unten noch ausführlicher gefolgt werden soll, ist die destruktive Seite dieser Industrie. Mit dem großen Zweig Düngemittel, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel wird zum einen die Förderung von Erwünschtem, aber auch die Beseitigung von Unerwünschtem angesprochen. Besonders letzteres ist über weite Strecken des Romans verbunden mit dem Industriekonzern BASF bzw. der I.G. Farbenindustrie AG, oder auch kurz I.G. Farben, einem Unternehmenskonglomerat mit Hauptsitz in Frankfurt a.M., zu dem auch die BASF gehörte. Dazu später mehr. In Bezug auf Abfälle gibt es gerade durch Meineckes Verfahren auch eine Annäherung von literarischem Text und Fach- und Expertenliteratur: Die Liste, der Katalog sind präferierte Darstellungsarten der Abfallwirtschaft. Mit Hilfe von Listen lassen sich benutzerfreundlich Stoffe kategorisieren und Entsorgungshinweise liefern. So besteht etwa das alphabetische Gesamtverzeichnis von Abfallarten der Länderarbeitsgemeinschaft Abfall aus einer fünfzehnseitigen Aufzählung von Abfällen mit jeweiliger Kennziffer, die von »172 Abbruchholz«241 bis »351 Zunder«242 reicht. Bereits bei Brinkmann findet sich ein Rhythmus, der zum einen durch den Vorgang der Aufzählung in dessen Texten, zum anderen eben auch durch die Nennung von Markennamen entsteht. Florence Feiereisen hat diese Rhythmen bei Meinecke untersucht.243 Während Feiereisen in den Texten Meineckes eher die synthetisierenden Aspekte des Spinning, Mixing und Sampling herausstellt,244 ermöglichen die Ausführungen von Sabine Mainberger eine andere Fragestellung: Die Aufzählung ist nach 241 Länderarbeitsgemeinschaft Abfall 1992, 104. 242 Länderarbeitsgemeinschaft Abfall 1992, 118. 243 Vgl. Feiereisen 2006, besonders 48-57. Nach ihrer Analyse sind auch die Aufzählung von Kleidungsstoffen und das Abhandeln von Modethemen ein Mittel, um Rhythmen zu produzieren (vgl. Feiereisen 2006, 119). 244 Vgl. Feiereisen 2006, 57-61.

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Mainberger ein zugleich egalisierender, immer höchst artifiziell bleibender Text. Dabei schafft die Liste nicht nur Verbindungen, sondern trennt auch: »Ein Schriftprodukt wie eine Liste schaltet Gewichtungen und sinnhafte Querverbindungen aus.«245 Die Aufzählung kann verschiedene Grade von Zusammenhang und Kohäsion, als Verbindungen, aber auch von Desintegration und Streuung, folglich Trennungen, aufweisen.246 Damit korrespondiert auch die Funktion eines solchen Aufzählungssegments im Hinblick auf den Gesamttext. Es kann »rhetorische oder ästhetische Funktion« haben, als Ornament den Text schmücken oder ergänzen, es kann faktisch ergänzend wirken oder Monotonie erzeugen.247 Dabei ist die Aufzählung immer auch verknüpft mit dem Faktor Zeit, sie gestaltet Zeit und benötigt Zeit, wie Mainberger betont: »Als […] sprachliches Ereignis, das sich weder substituieren noch entbehren läßt, ist das Aufzählen ein Tun, das Zeit benötigt, beim Sprechen, aber auch beim stillen Lesen.«248 Welche Funktion hat die Kunststoff-Aufzählung im Hinblick auf die Zeitgestaltung des Textes? Wird mit ihr, wie Mainberger unterscheidet, Zeit gedehnt, gleichmäßig getaktet, abwechslungsreich rhythmisiert?249 Viele der tendenziell unendlichen bzw. der zwar nicht prinzipiell unendlichen, aber empirisch kaum zu zählenden Aufzählungen werden in Texten abgebrochen, oftmals wird ihre Unvollständigkeit markiert durch Zusätze wie »etc. usw.«250 Während diese Art der Aufzählung also oftmals abbricht, mag im Falle Petersens doch ein Abschluss erreicht sein – obwohl die Aufzählung prinzipiell unendlich ist. Das scheint Vivian zu ahnen. Der Aufzählung Petersens folgt keine wortreiche Entgegnung, sondern wortloses Ausdrucksverhalten, das dennoch die Aufzählung kommentiert: »Als ihr erhitzter Nachbar endlich fertig war, mußte Vivian Atkinson lauthals loslachen; womit sie ihn schlagartig verunsicherte, wenn nicht sogar beleidigte.« (MeiT, 73) Auch hier lässt sich mit Mainberger fragen, ob die fragmentierte Sprache, die verschiebbaren sprachlichen Elemente, die »gewissermaßen auf Initiativen, auf Interventionen und Transformationen«251 warten, nur eine solche erzählerische Auflösung nach sich ziehen können. Mainberger bezeichnet die Aufzählung als »das ›Andere‹ zur Rede, zum Text, zum literarischen Werk.«252 Dabei löst der Text Tomboy dieses Fremdsein von Elementen gleich wieder auf, indem er synthetisiert, scheinbar oder tatsächlich Disparates verbindet. Mehr noch: Der Roman selbst nähert sich in seiner Gesamtheit einer solchen von Mainberger beschriebenen Aufzählung an. Gerade diese Listenhaftigkeit ist die List Meineckes, das Erzählen von Einzelmomenten, Einzelstoffen zu einem Narrativ zu verdichten. Eine List, die der Strategie eines Chemiekonzerns gar nicht unähnlich ist. Während im Fall der BASF das Narrativ eines von Optimismus und Fortschrittlichkeit ist,253 zeigt Tomboy, wie bereits angedeutet, auch die Kehrseiten dieser Geschichte.

245 246 247 248 249 250 251 252 253

Mainberger 2003, 8. Vgl. Mainberger 2003, 8. Vgl. Mainberger 2003, 9. Mainberger 2003, 9. Vgl. Mainberger 2003, 9. Vgl. Mainberger 2003, 10f. Mainberger 2003, 12. Mainberger 2003, 7. Vgl. hierzu beispielsweise die Broschüre der BASF, Kompetenz in Kunststoff (BASF 2011).

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Dabei liegt in der Entstehung neuer Stoffe, neuer Verbindungen und neuer Kombinationen durchaus das Potenzial zu Veränderungen zum Wohle der Menschen. Der Bezug auf Ernst Bloch ist nicht nur für die Analyse von Uwe Timms Rot, sondern auch bezüglich Tomboy weiterführend. Wie bereits dargestellt, steht bei Benjamin und Bloch vor allem das Verfahren der Montage für das Aufsprengen von Altem und das Zusammenfügen zu Neuem. Eine Textstelle nimmt darauf direkt Bezug, gewinnt aber durch Meineckes Coup, den Roman nicht nur am Standort des Chemiekonzerns BASF, sondern zugleich auch in der Geburtsstadt Blochs zu verorten, eine über geographische Korrespondenzen hinausgehende Relevanz. Inhalt und Verfahren fließen in folgender Passage zusammen: Schließlich verschwanden die beiden für zwei, drei Stunden in einem gut sortierten Plattenladen, wo Vivian ihr gesamtes Bargeld ausgab, und fanden sich nach Geschäftsschluß erneut im kurfürstlichen, von zahlreichen Auf- und Abfahrten zur großen Rheinbrücke durchkreuzten Schloßgarten wieder, mit Blick auf den Strom und Ludwigshafen drüben, Blochs proletarisch-kapitalistische Mischwirklichkeit ohne Maske, die desolate, dem Abriß preisgegebene Walzmühle, Vivians Ex-Freund und DJ hatte dort oft Platten aufgelegt, wie, nordwärts, die florierende chemische Fabrik. Ernst Bloch: Der harte, seltsame, knisternde Akkord zwischen dem Futurum links des Rheins und dem Antiquarium rechts des Rheins ging mir ziemlich deutlich durch mein ganzes Philosophieren nach. Noch das Alte zu plündern, zu Neuem zu montieren, gelänge vom Standpunkt solcher Städte am besten. (MeiT, 181) Das Alte nehmen und Neues daraus montieren ist so nicht nur für Bloch, sondern auch für Meinecke grundlegende Bewegung.254 Wenn aber montiert wird und durch das Verfahren der Montage Neues entsteht – welcher Platz bleibt dann noch für Abfälle? Wenn alles integriert wird, wenn quasi alles recycelt wird, dann gibt es keine Abfälle mehr. So kann das Verfahren Meineckes tatsächlich auch als Aufwertungsprozess gelesen werden. Dass von tatsächlichen Abfällen nur in wenigen Textpassagen erzählt wird, mag als Bestätigung dieser Lesart gelten. Obgleich Abfälle kaum eine Rolle spielen, wird auch das Billige, Austauschbare, das Abfallnahe von Kunststoffdingen archiviert, etwa synthetische Kleidung. Hier gibt es Korrespondenzen zu den Darstellungen in den Texten Genazinos und in Die Schattenboxerin. Plastik meint in Tomboy auch trash, also das Billige und die Abfallnähe von Dingen, die gemeinhin mit Popkultur assoziiert werden.255 So in einer Passage, in der ein Mädchen-Saxophon-Orchester vor allem durch die Beschreibung der billigen Plastikminiröcke oder bunten elastischen Hosen charakterisiert wird (vgl. MeiT, 54f.). Diese Entwertung der Dinge durch Pop ist auch anderen aufgefallen. So formuliert Dirck Linck zu Brinkmanns Schreiben: »Pop sammelt ›Abfall‹, produziert ihn aber auch; er entwertet Dinge, die ihren Reiz verlieren, nämlich umgehend.«256 Pop wirkt in seiner Marken- und Dingfixiertheit also auch mit an der Abfallwerdung von Dingen. Ein im Roman erwähntes Gerät mit etlichen Plastikkomponenten wie der Discman (vgl. MeiT,

254 Zu Bloch und Pop vgl. auch Gehrlein 2012a. 255 Vgl. zu Literatur und bzw. als trash Lukas 2012a, 302. 256 Linck 2006, 160.

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27) ist bereits wenige Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Textes obsolet und landet auf dem Müll – oder im Museum. Die Erinnerung im und durch den Text ist gesichert, die Archivierung solcher Dinge kann aber auch als Mahnung verstanden werden – alles, was wir nicht mehr kennen, wurde zu Abfall. Hinsichtlich der Funktion der Liste in Tomboy sind nicht nur die Überlegungen von Feiereisen und Mainberger, sondern auch die Ausführungen von Diedrich Diederichsen zu Popliteratur weiterführend. Diederichsen arbeitet einen seiner Meinung nach entscheidenden Unterschied zwischen der Funktion von literarischen Listen in den 1950er bis 1970er Jahren heraus, wo er vor allem den »stark profanisierenden und provozierenden Einbruch in die Rhetorik jeder Literatur«257 herausstellt, während die Liste ab den 1980er Jahren ihm zu Folge eher Ausdruck einer generellen Orientierung an Alltagssprache ist.258 Dennoch bleibt auch in Diederichsens Konzeption die Liste eine Randerscheinung in ihrer »Orientierung[…] nicht nur einfach an den außerliterarischen, sondern an den außersprachlichen, alltagsrhythmischen, externen, unsymbolischen, kommerziell und bürokratisch bestimmten, auch mechanisch-antiphysischen, aber gerade auch an den sehr physischen und, wenn man es so will: realen Rändern der literarischen Rede.«259 Gerade der Liste kommt somit eine archivierende Funktion zu. Das archivierende Erzählen in Tomboy erfüllt generell zweierlei Aufgaben: Für diejenigen, die die oft nur angedeuteten bzw. aufgezählten, anskizzierten Referenzen kennen, eröffnet sich ein Referenzuniversum. Gleich dem World Wide Web entsteht ein System an Links, denen gefolgt werden kann – die bereits erwähnten assoziativen Hyperlinks. Im Gegensatz zu dem, von Uschmann, aber auch von Moritz Baßler konstatierten Verzicht der Popliteratur, irgendetwas zu erklären, wird in Tomboy recht viel erklärt: Warum diese Mädchenpunkrockplatten wichtig sind oder warum sich beispielsweise manche der Musikerinnen mit Absicht Laufmaschen in die Nylonstrumpfhosen machten. Dennoch ist auch bei der Tomboy-Lektüre die anstrengende Arbeit vonnöten, die Uschmann mit Baßler als kulturwissenschaftliche Dechiffrierungsarbeit bezeichnet.260 Wir erinnern uns an die bereits im Kontext von Rolf Dieter Brinkmanns Texten diskutierte Unterscheidung von Popliteratur in Pop I und Pop II. Die Liste in Pop I, um noch einmal zu Diederichsen zurückzukehren, habe das Undarstellbare im Visier, das zugleich auffindbar sei »im Alltagsleben, im Exzess oder in der Politisierung und der Arbeit am neuen Bewusstsein«261 . Durch den Versuch, dieses auffindbare Undarstellbare darzustellen, weist die Liste in Pop I eine utopische Komponente auf, die über den Status quo herausreicht. Die Liste in Pop II hat eine ganz andere Intention: In der Pop-Literatur II ist es das spezifische Undarstellbare, das den Horizont darstellt, die Tatsache überhaupt eine Geschichte zu haben. Die Umgebungskultur befindet sich in einem ewigen Präsens der sich abwechselnden Kulturangebote ohne dass man an Geschichte und Wandel beteiligt wäre, geschweige denn über sie verfügte. Daher ist

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Diederichsen 2006, 112. Vgl. Diederichsen 2006, 113. Diederichsen 2006, 113. Vgl. Uschmann 2004, 47. Diederichsen 2006, 122.

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der Horizont der Versuch, den Serien von Waren und Produkten eine Geschichte abzuringen.262 Die Gegenwart der Dinge anzuerkennen, war ein Anliegen der Texte Brinkmanns. Wenn diese Dinge als Plastikdinge keine Geschichte haben – ergibt es nicht zunächst Sinn, ihnen Geschichte(n) zu geben? Beides leistet Meineckes Text. So entsprechen nach Diederichsens Ausführungen zur Liste in Poptexten die Aufzählungen in Tomboy sowohl den Intentionen von Pop I (Brinkmann) als auch denen von Pop II (Pop der 1990er Jahre) – oder stehen wahlweise auch dazwischen.263 Sie verweisen also zum einen auf die Möglichkeiten, auf die utopischen Elemente von Dingen, von Verfahren, von Musik und auch von Kunststoffen. Thomas Ernst zeichnet nach, wie sich Meinecke durch die Parallelität von Pop- und Wissenschaftsbezügen »gegenüber den noch immer vorhandenen Geltungsansprüchen der wissenschaftlichen Sprache und ihrer Regelsysteme [verweigere], die auf die Produktion von ›Wahrheit‹ zielen.«264 Gerade durch das gleichberechtigte Miteinander dieser Bezüge werde die Hierarchie von Sprechweisen aufgelöst.265 Zum anderen gibt der Text den Dingen gerade auch durch die Auflistung eine Geschichte. Die Geschichte von Kunststoff-Dispersionen, Weichmachern oder Magnethophonbändern wird (bisher noch) selten erzählt. Dabei imitiert und konterkariert die Aufzählung bei Plastikdingen ihre Gleichförmigkeit und Warenhaftigkeit. Zugleich stellt sie sich der Abfallwerdung der Dinge durch den Archivierungsprozess entschieden entgegen. (2) Es folgt ein Blick auf die Rolle der Mode in Tomboy, auf neue Körper, neue Möglichkeiten und neue Abfälle. Zu der zuvor angesprochenen Entwertung von Dingen trägt auch und gerade die Mode bei.266 Die Industrie entwertet Dinge, um neue zu verkaufen. Mode findet sich in Tomboy in vielerlei Verbindungen, die auch das magische von neuen Stoffen, deren Wandelbarkeit und Flexibilität zum Vorschein bringen. Detaillierte Beschreibungen zu den aktuellen Outfits der Hauptfiguren finden sich häufig (vgl. etwa der grüne Frotteehosenanzug Vivians, MeiT, 41), besonders zur Sprache kommen immer wieder Accessoires wie Hüte, Handtaschen und Schuhe. In der Mode verbinden sich, wie im Kunststoff, magische Momente mit kontinuierlichen Entwertungsprozessen, die mit dem stetigen Wandel der Mode verbunden sind. Beide Seiten finden sich im Text, wenn Vivian für ihre Magisterarbeit Walter Benjamins Notizen über die Mode

262 Diederichsen 2006, 123. 263 Feiereisen siedelt Meinecke, auch in Bezug auf dessen Generationszugehörigkeit, ebenfalls an der Schwelle zwischen Pop I und Pop II an (vgl. Feiereisen 2011, 188f.). 264 Ernst 2008, 117. 265 Vgl. Ernst 2008, 117. Hier ähnelt das Verfahren Meineckes dem eines anderen Popschriftstellers: Rainald Goetz. Zu Goetz vgl. Schuhmacher 2001, 206f.: »Fast unterschiedslos verarbeitet, registriert, inventarisiert Goetz in Abfall für alle die verfügbaren Kanäle und Sendeflächen, Fernsehen, Internet, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Platten, Partytalk, Privatgespräche, Wettermeldungen, Zeitansagen, Kassenzettel, Führerscheinprüfungsformulare.« Zu Goetz und Abfall vgl. ausführlich auch Jeong 2011. 266 Zu Mode vgl. auch, mit anderem Analyseschwerpunkten als die vorliegende Interpretation, Feiereisen 2011, 114-120.

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exzerpiert.267 Sie notiert: »Walter Benjamin hatte geschrieben, die Mode sei die ewige Wiederkehr des Neuen: Gäbe es trotzdem gerade in der Mode Motive der Rettung? Ganz klar, ja.« (MeiT, 42) Mit Mode verbunden ist in Tomboy auch die Konstruktion und Destruktion oder zumindest Subversion von Gender-Zuschreibungen. So heißt es weiter in der zuvor aufgeführten Textstelle: »Nein, Vivian war keine unkritische Mitläuferin der Mode, und tatsächlich, fand sie, könne per ästhetischer Differenz, im Benjaminschen Circulus, durchaus politische Dissidenz zum Ausdruck gebracht werden.« (MeiT, 42f.) Zwei Aspekten, zwei Themen soll im Kontext von Kunststoffen und den Verbindungen, die über sie hergestellt werden, gefolgt werden: Den im Roman vielfach präsenten Nylonstrumpfhosen und der Verbindung von Kunststoffen mit dem ebenfalls omnipräsenten Thema der Performanz von Geschlecht. Nach einem Blick auf Prothesen schließen die Überlegungen mit den Verflechtungen eines im Text wie nebenbei erwähnten Kunststoffspielzeugs, der Barbie-Puppe. Vor allem dem Synthetikmaterial Nylon kommt eine Möglichkeit der Dissidenz zu, wenn man Meineckes Text folgt. Einerseits wird Nylon seine Körpernähe, seine Gabe, sich dem Körper anzuschmiegen, körperähnlich zu werden, attestiert, etwa wenn es heißt, Vivian blicke auf ihre Knie, die verhüllt seien in »hauchdünnem, hautfarbenem Kunstgewebe. Fleischfarbenem, wie Gerlinde Atkinson immer gesagt hatte.« (MeiT, 239) Andererseits wird bereits auf den ersten Seiten des Romans auf die Praxis des Punk, in Tomboy oftmals vertreten durch die feministischen Riot Girls,268 aufmerksam gemacht, sich Materialien und Stoffe anzueignen: »Riot Girls wie Bikini Kill hatten sich seit jeher absichtlich Laufmaschen in die Nylons gemacht.« (MeiT, 8) Die Aneignung von Materialien und Stoffen ist zugleich der Versuch, eine eigene, eine Gegengeschichte, zumindest aber Gegengeschichten zur hegemonialen Geschichtsschreibung zu formulieren.269 Dabei ist auch hier eine Nähe zu Abfall, zum trash gewollt – und zugleich umfasst diese Praxis eine Wegwerfverweigerung. Ist doch gerade die Nylonstrumpfhose, das zeigen Jürgen Reuß und Cosima Dannoritzer in Kaufen für die Müllhalde, ein Paradebeispiel für die Bemühungen der Industrie, durch Materialveränderungen den Absatz anzukurbeln. Der Nylonstrumpf wurde 1934 von dem Chemieunternehmen DuPont auf den Markt gebracht, das Anfang des 19. Jahrhunderts als Sprengstoffhersteller gegründet worden war.270 Zunächst verdrängte die Nylonstrumpfhose ein Naturprodukt: Die Kunstfasern konkurrierten seit ihrer Einführung in den 1880er Jahren mit Naturgarnen.271 Die Nylonstrumpfindustrie warb in ihrer Anfangszeit damit, dass die Strümpfe haltbar und dauerhaft seien. So waren die Nylons tatsächlich zuerst recht dick und lange haltbar, zugleich gab es, weil die Strümpfe als kostbar galten, Reparaturshops, in denen Laufmaschen entfernt werden konnten.272 Im Verlauf der Produktion kam es je267 Benjamins Überlegungen zur Mode finden sich in verdichteter Form in Konvolut B [Mode] der Passagenarbeit, vgl. GS V.I, 110-132. 268 Zu Riot Girl, hierzu zählen die in Tomboy häufig erwähnten Bands Bikini Kill und Sleater-Kinney, vgl. Feiereisen 2006, 108f. 269 Vgl. hierzu die Beiträge in Peglow/Engelmann 2011 und Volkmann 2011, besonders 249-285. 270 Vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 60. 271 Vgl. König 2000, 417f. 272 Vgl. König 2000, 417.

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doch zu einer Verkürzung der Lebensdauer.273 Die Reparaturgeschäfte verschwanden in diesem Zuge, wie Wolfgang König betont: »Damenstrümpfe und Strumpfhosen [gehören] heute zu den Wegwerfprodukten; ihr Verfallsdatum setzt die Laufmasche.«274 Gerüchte besagen, dass vor allem die Reißfestigkeit eingeschränkt wurde durch einen Verzicht auf Zusatzstoffe, die Nylon vor Zersetzung durch UV-Licht oder Sauerstoff schützen.275 Generell wurden Strumpfhosen immer feiner und empfindlicher. Dabei sind Nylonstrümpfe nicht nur ein begehrtes modisches Kleidungsstück, sondern zugleich tragbare Manifestation macht- und geopolitischer Auseinandersetzungen. Zuvor bestimmten auch den US-amerikanischen Markt Strümpfe aus Seide, die aus Japan importiert wurden. Als Seidenimporte aus politischen Gründen unerwünscht wurden – die USA wollten nicht indirekt Japans militärische Intervention in China mitfinanzieren – begann die Suche nach einer Ersatzfaser.276 Die Nylons kamen im Oktober 1939 auf den Markt (Slade schreibt zu diesem historisch auch anderweitig bedeutenden Monat: »[O]n October 30, 1939–in a month when German invaders had annexed western Poland, and President Roosevelt had received a letter, signed Albert Einstein, urging the United States to develop the atomic bomb–stockings went on sale to local customers in Wilmington, Delaware, and four thousand pairs were sold in three hours.«277 ). In den ersten sechs Monaten wurden 36 Millionen Paar Strümpfe produziert und verkauft, im Jahr 1941 erhöhte sich diese Zahl auf 102 Millionen Paar Strumpfhosen.278 Dabei waren auch in späterer Zeit die Strumpfhose und Patriotismus in den USA eng miteinander verknüpft, wie Reuß und Dannoritzer zeigen: »In der Wochenzeitschrift The New Yorker erscheinen Karikaturen von Frauen, die Strumpfgeschäfte überfallen oder ihre im Garten zum Trocknen aufgehängten Nylons mit dem Gewehr auf dem Schoß bewachten.«279 Weiter führen sie aus: »Zu höchsten Ehren als Siegerin über die japanische Seide kommt Nylon jedoch 1942, nach dem Angriff auf Pearl Harbour. Da weht auf dem Weißen Haus eine Flagge aus Nylon, ein Symbol für Amerikas industrielle Überlegenheit und Unabhängigkeit.«280 Der Erfolg von Nylon war so ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren, wie Reuß und Dannoritzer betonen: »Die Kombination aus funktioneller und psychologischer Obsoleszenz, Innovation und patriotischem Marketing

273 Vgl. hierzu den Hinweis in Reuß/Dannoritzer 2013, dass empirische Marktforschung gezielt eingesetzt wurde, um Konsumentinnen am Prozess der Namensgebung zu beteiligen (vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 61). Die befragten Frauen entscheiden sich zwar für Norun (no run – keine Laufmasche), die Firma wählt dennoch den Namen Nylon (vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 66). 274 König 2000, 417. 275 Vgl. Reuß/Dannoritzer 2013, 63. Slade weist jedoch darauf hin, dass es für diese verkaufsfördernden Manipulationen keine Beweise gäbe (vgl. Slade 2006, 125). 276 Slade führt aus: »The contest between silk and nylon is not really the story of a superior technological innovation replacing an inferior natural product. It is the story of a symbolic contest between two cultures fighting for economic dominance. America’s eventual victory in World War II did not make silk disappear. Silk simply lost the power it once had to industrialize a feudal country and turn it into a major international player within the space of three generations.« (Slade 2006, 127f.) 277 Slade 2006, 125. 278 Vgl. Slade 2006, 126. 279 Reuß/Dannoritzer 2013, 61. 280 Reuß/Dannoritzer 2013, 61.

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scheint unschlagbar. Aber gerade der Erfolg bringt die Dritte im Bunde, die qualitative Obsoleszenz, in Sichtweite.«281 Zurück zum Konnex von Dissidenz, Subversion und Mode. Das Thema wird in Tomboy auch anhand weiterer Beispiele verhandelt. So stellt sich Vivian in einer Textstelle die Frage, ob es Frauen- und Männerschuhe bzw. die dazugehörigen Männer- und Frauenbeine überhaupt gibt. Eine Unterscheidung, die in der Modeindustrie üblich ist und vor allem von Hans Mühlenkamp konterkariert wird (vgl. MeiT, 134), wenn er beispielsweise »brandneue, ausgesprochen klobig aufgeschäumte, sandfarbene Fila Sneakers an den Füßen« (MeiT, 134) trägt, die Vivian zu folgender Überlegung veranlassen: Vivian fand und sagte auch, daß das komisch aussah. Fast ausschließlich an Mädchenbeinen hatte sie solch athletisches Schuhwerk in letzter Zeit gesehen, so daß sich dessen eigentlich grobe, wenig elegante, Androzentrismus mit Futurismus vertuschende Optik in Vivians Wahrnehmung ganz und gar mit dem Femininen verknüpft hatte. Was aber waren überhaupt Mädchenbeine? (MeiT, 134) Bei einem Konzert von Bikini Kill, bei der Männer keinen Zutritt hatten, hat sich Hans gar gleich als Frau maskiert: »Vivian in ihrem maßgeschneiderten Anzug, Hans in einem schlechtsitzenden Stewardessen-Kostüm der AUA. Hatten sie damit nicht quasi, für einen Abend, einen Frauenbund gebildet?« (MeiT, 153) Auf die Wichtigkeit der Genderthematik für Tomboy, die einerseits die Archivierung des akademischen Gender-Diskurses, andererseits auch die Performanz dieser Diskurse durch die Romanfiguren belegt, weisen Moritz Baßler und Florence Feiereisen mehrfach hin.282 Wie ist diese Genderthematik im Roman mit Kunststoffen, vielleicht sogar mit Abfällen verbunden? Hier ist vor allem der Bezug auf die Theorien von Judith Butler weiterführend. Ein, für Tomboy-Verhältnisse, in eindrücklicher Länge geschilderter Ausflug, der Frauke, Angela, Vivian und Hans zu Butlers Gast-Vorlesung am 12. Juni 1997 an die Münchener Universität führt, bildet so auch einen der Plothöhepunkte des Romans (vgl. zum kompletten Ausflug MeiT, 86-95). Die Textpassage beschreibt nicht nur Hinfahrt, Rückfahrt und Vorlesung selbst, sondern zitiert und diskutiert auch, vermittelt durch die Romanfiguren, wichtige Theorien Butlers. Warum Butler? Die Theorien Butlers, einen Intertext für Tomboy bildet besonders das 1990 erschienene Gender Trouble, korrespondieren mit den Überlegungen dieses Kapitels, weil hier die Fragen nach Materialität und Konstruktion neu verhandelt werden.283 Im Zentrum steht die Frage: Was ist überhaupt ein Körper, was ist Geschlecht, gibt es den geschlechtlichen Körper jenseits von Oberfläche? Bereits bei der plastikzentrierten Lektüre der Texte Rolf Dieter Brinkmanns wurde das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, Verpackung und Inhalt

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Reuß/Dannoritzer 2013, 60. Zu Fragen der Nationalstaatlichkeit und des (Anti-)Patriotismus in Tomboy am Beispiel der US-Amerikanerin/Deutschen Vivian vgl. Feiereisen 2006, 108-114. 282 Vgl. Baßler 2005a, besonders 138-141 und Feiereisen 2006, besonders 97-108. Hilfreich für die nachfolgenden Überlegungen auch die psychoanalytisch inspirierte Interpretation von Gabrijela Mecky (vgl. Mecky 2001). 283 Der Verweis auf Butler bezüglich der Fragen zu Original, fake und Imitation finden sich auch bei Baßler 2005a (besonders 138-141). Baßler geht allerdings weder auf die Rolle von Kunststoffen in Tomboy noch auf Barthes ein.

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angesprochen. Bei Butler ist Körper Oberfläche, auf und mit der Geschlecht geformt wird: Wenn der Körper kein »Seiendes« ist, sondern eine variable Begrenzung, eine Oberfläche, deren Durchlässigkeit politisch reguliert ist, eine Zeichnungspraxis in einem kulturellen Feld der Geschlechter-Hierarchie und der Zwangsheterosexualität – welche Sprache bleibt dann noch, um diese leibliche Inszenierung – die Geschlechteridentität, die ihre »innere« Bedeutung auf ihrer Oberfläche darstellt – zu verstehen?284 Geschlechtliche Identität ist nach Butler Zuschreibung, ist »Praxis, und zwar als Bezeichnungspraxis«285 . Moritz Baßler weist in seiner Analyse von Tomboy mit Butler auf das Konzept des Pastiche hin.286 Pastiche meint Nachahmung oder Kopie. Dabei gibt es im Nachahmungskonzept Butlers kein Original mehr. Im Pastiche wird imitiert, ohne dass wichtig oder überhaupt klar ist, was imitiert wird. Baßler weist hier vor allem auch auf die komischen Elemente in Tomboy hin. Dem ist zuzustimmen: Meinecke schreibt Butlers Theorien in seine Protagonistinnen und Protagonisten ein, schafft es aber zugleich, diese Einschreibungen, auch durch komische Momente, kontinuierlich in Frage zu stellen. Die Fragen, die Vivian in ihrer Magisterarbeit versammelt, sind ein Beispiel für dieses Verfahren. Neben der Komik interessieren im Pastiche vor allem die Verbindungen zu Kunststoffen. Besonders das Moment der Imitation ist für Kunststoffe grundlegend, da synthetische Materialien, wie gezeigt, zunächst Surrogate für Naturmaterialien waren.287 Roland Barthes nennt Plastik so auch eine »Haushaltssubstanz«288 , die Imitation verkörpere: »Es ist die erste magische Substanz, die zur Alltäglichkeit bereit ist.«289 Ein Imitationsakt, den Barthes auch mit Bekleidungsimitationen verbindet: »Die Mode des Plastiks zeugt von einer Entwicklung im Mythos der Imitation. Bekanntlich sind Imitationen, historisch gesehen, ein bürgerlicher Brauch (die ersten Bekleidungsimitationen stammen aus der Anfangszeit des Kapitalismus).«290 Wird die Imitation bei Barthes noch kritisiert, wird sie in Tomboy als Möglichkeit gedacht. Gender ist Kunst-stoff gerade dadurch, dass Geschlechtszuweisungen gemeinhin als natürlich dargestellt und vorgestellt werden. Nicht nur gender, sondern auch sex, generell der Körper und Körperlichkeit sind mit Butler als Prozesse zu denken, sind nichts Fertiges. Geschlechtsidentität ist dabei kontinuierliche Performanz, ständige Wiederholung von Akten, die diese Identität konstruieren und konstituieren.291 Was bleibt, wenn Butler gefolgt wird? Nicht zwei Geschlechter, sondern eine Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten. So verwendet Gudrun Perko in ihrer Darstellung zu 284 Butler 2000, 204. Im englischen Original verwendet Butler das Wort ›surface‹ (vgl. Butler 1999, 177). 285 Butler 2000, 212, Hervorhebung dort. 286 Vgl. Baßler 2005a, 140. 287 Wolfgang König weist darauf hin, dass Surrogate und Imitate zu den Konsumverstärkern zu zählen sind: »Meist ersetzen sie teurere Produkte und eröffneten damit den weniger Begüterten die Möglichkeit des Erwerbs.« (König 2000, 415) Dies exemplifiziert König an Kunststoffen (vgl. König 2000, 415-418) sowie an Wegwerfdingen (vgl. König 2000, 419-421). 288 Barthes 2006, 81. 289 Barthes 2006, 81. 290 Barthes 2006, 80f. 291 Vgl. Butler 2000, 206f.

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Queer-Theorien, und hier gibt es direkte Bezüge zum Verfahren von Tomboy, mehrfach Aufzählungen, Listen, wenn sie versucht, queere Identitäten zu fassen, etwa wenn es heißt: »Im Versuch der Auflösung von Genderkategorien (Mann/Frau) werden transgender Personen, Gay-Lesbian-Bi, Cross-Identifikationen, Intersexen, Cyborg oder Travestie u.a. ins Blickfeld gerückt […].«292 Auch in Tomboy finden sich Crossidentitäten, wie die Transgender-Identität Angela/o, die bisexuelle Korinna oder auch Tomboy Vivian.293 Die Präsenz von Plastikmaterialien kann so auch als Hinweis auf die Möglichkeiten gelesen werden, diese Akte und Narrative zu gestalten. Zugleich, und das kommt weiter unten im Zusammenhang mit toxischen Verbindungen ausführlicher zur Sprache, ist es gerade die Welt der Plastik- und Chemieindustrie, die bisher wenig erforschte Auswirkungen auf Organismen verursacht. Geographisch wird diese Verbindung über die Nähe zur BASF hergestellt, zugleich aber durch die schiere Präsenz von Plastikdingen daran erinnert, dass nicht nur die Erzählfiguren in Tomboy kontinuierlich diesen Auswirkungen ausgesetzt sind. Max Liboiron macht darauf aufmerksam, dass die Weichmacher, die plasticizers, die erst aus den harten und spröden synthetischen Kunststoffen die formbaren, flexiblen Materialien machen, die uns im Alltag begegnen, als eine der Langzeitfolgen Auswirkungen auf den menschlichen Hormonhaushalt haben.294 So kann es zu einer Zunahme von weiblichen Hormonen bei männlichen Föten kommen. Gerade eine solche Veränderung fordert aber, auch im Anschluss an Butler, die Vorstellungen davon heraus, was als Schaden, als Beschädigung zu interpretieren ist. Liboiron fragt so auch, ganz im Stile Vivians: »Is feminization of male foetuses abnormal, or even pathological? Is it a form of harm?«295 Die Antwort: »The lesbian, gay, bisexual, transgender and queer (LGBTQ) community has argued that it is not. So, too, has the chemical industry.«296 Ursula K. Heise zeigt in ihren Überlegungen zu Kontamination, dass es vor allem die Risiken sind, denen wir uns nicht entziehen können, die als besonders bedrohlich wahrgenommen werden.297 Obwohl die zuvor geschilderten Auswirkungen von Plastikweichmachern solche sind, denen wir uns kaum entziehen können, steht hier das Empfinden einer Bedrohung immer noch am Anfang. Kunststoffdinge, Plastikdinge können, wie gezeigt, gelesen werden als Ausdruck von und Symbol für die Möglichkeiten, Identitäten zu gestalten und zu (per)formen. Dabei sind diese Möglichkeiten im Text zwar omnipräsent, können zugleich aber, eben weil sie ephemere Alltags- und Realitätspartikel sind, leicht übersehen werden. Dies verbindet die Dinge mit den Möglichkeiten: Ob sie genutzt werden, ob sie gar erkannt werden, bleibt den Einzelnen überlassen. Dass die Möglichkeiten zudem nicht so offen

292 Perko 2005, 30. 293 Zu Vivian – der Vorname kann sowohl weiblich als auch männlich gelesen werden – als Zwitterwesen vgl. Feiereisen 2011, 110. Feiereisen spricht mit Blick auf den Gesamtroman von einem »GenderKabinett« (Feiereisen 2011, 102). 294 Vgl. Liboiron 2013b, 143. Ähnlich argumentieren auch Gerhard Pretting und Werner Boote in Plastic Planet. Die dunkle Seite der Kunststoffe (vgl. Pretting/Boote 2010, 119-163). 295 Liboiron 2013b, 143. 296 Liboiron 2013b, 143. 297 Vgl. Heise 2002, 760f. Heise argumentiert hier unter anderem mit Beck und dessen Risikogesellschaft (Beck 1986).

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sind, wie sie scheinen, daran erinnert Michel Foucault in seinen Schriften zum Sexualitätsdispositiv.298 Moderne Sexualität ist nach Foucault ein mit Machtpraktiken versehener Diskurs, der gegen Anfang des 18. Jahrhunderts produziert und konstruiert wird.299 Sex als Praktik wird zudem von nun an verwaltet. Religiöse Beichtpraktiken werden durch die Polizei und Demographen übernommen, um Verbote und Normalität zu konstruieren. Teil des Sexualitätsdispositivs ist z.B. die Medizin, sind neue Parameter wie Geburtenrate, Heiratsalter, Empfängnisverhütung und Überwachung der Prostitution.300 Ebenfalls mit Foucault und Butler deutet die Soziologin Paula-Irene Villa nicht nur die Sexualität, sondern auch den Körper als Synthese, dessen »spezifische Realität und Materialität […] durch historische Prozesse und soziale Deutungen konfiguriert«301 sei. Dabei zeigt die Beschäftigung mit Butler (und Foucault), dass es hinsichtlich der Disziplinierung erstaunliche historische Gemeinsamkeiten von Sexualität und Abfall gibt. Beide Bereiche sind durch entsprechende Behörden bzw. Verwaltungen, durch großangelegte Vermessungen, das Anlegen von Akten stark reglementiert worden. Zugleich gibt es noch eine weitere Verbindung zwischen Körpern und Abfällen: Beide, Körper und Abfälle werden diskursiv hergestellt. So wie gender und sex nach Butler Zuschreibungen sind, die durch Akte der Wiederholung performativ hergestellt werden, sind auch Abfälle Resultate von Zuschreibungen. So kann auch in Bezug auf Abfälle ein Erkennen, dass Kategorien nicht natürlich sind, sondern, auch und gerade, sprachlich vermittelte Zuschreibungen, die Kategorie Abfall erschüttern. Wir halten fest: Tomboy verhandelt, oder bietet diese Möglichkeit zumindest an, gender und sex, Geschlechtlichkeit und Geschlechtskörper als formbar und gestaltbar, aber auch als Kreuzungs- und Kristallisationspunkt von Machtbeziehungen. Wenngleich Abfälle und Körper über Diskurse produziert werden, gibt es dennoch eine materielle Seite – sowohl von Abfällen als auch von Körpern. Davon zeugt im Bereich des Körpers der Wille, insbesondere im Fall von selbst gewählten Identitäten, den Körper deckungsgleich zu diesen Identitäten gestalten zu wollen. Wo Körper jedoch anfängt und aufhört, ist fraglich. Dass die Grenzen von Körpern durchlässig und erweiterbar sind, zeigt Meinecke in Tomboy anhand vieler Episoden. In einer zentralen Passage findet sich der bereits erwähnte Plastikdildo. Die schwangere bisexuelle Korinna Kohn penetriert Tomboy Vivian mit Hilfe des Dildos, der im Text als das »permanent erigierte, lehmfarbene Kunststoffglied« (MeiT, 215) markiert wird. Wie

298 Foucault führt dies vor allem im ersten Band von Sexualität und Wahrheit, Der Wille zum Wissen (Foucault 1977) aus. Zur Bedeutung der Schriften Foucaults für die Gender Studies vgl. knapp auch Schößler 2008, 93-95. 299 Eine der Grundthesen von Sexualität und Wahrheit: Sexualität wird nicht unterdrückt, im Gegenteil gibt es ein permanentes Reden über Sexualität. Zugleich aber, das zeigt beispielsweise Petra Gehring in ihrem Lexikon-Eintrag zu Sexualität und Wahrheit im Foucault-Handbuch, dringt die Macht bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vor, durchdringt und kontrolliert die alltägliche Lust – »mit Wirkungen, die als Verweigerung, Absperrung und Disqualifizierung auftreten können, aber auch als Anreizung und Intensivierung« (Gehring 2008, 88). 300 Vgl. hierzu Jäger 2008, besonders 42. 301 Villa 2008c, 212.

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nun diese Passage lesen im Rahmen der Überlegungen zu Kunststoffen? Der Sexualverkehr, so die These, bündelt die im Roman nicht immer explizit artikulierten, im Rahmen der abfall- und kunststoffzentrierten Interpretation diskutierten Themen, die vielleicht sogar in dieser Passage kulminieren: Verkleidung, Imitation, Geschlechterperformanz, schließlich ein Kunststoffdildo als Erweiterung der körperlichen Möglichkeiten.302 Weiterführend ist hier die Prothese. Werner Schneider definiert die Prothese als Ersatzteil des Organischen, als teilweise hochspezialisiertes technisches Artefakt, das defizitäre Körper ergänzt, »nicht vorhandenes, verlorengegangenes Natürliches, vorgängig gegebene organische Sinne und Funktionen.«303 Karin Harrasser zeigt die Verquickungen der Prothetik mit dem Militärischen auf:304 Mit dem Militärischen hat die Körperoptimierung durch Prothesen, hier bezieht sie sich auf die einer Gazelle nachgebildeten Prothesen des Läufers Oscar Pistorius,305 auch den Gedanken der Disziplinierung und Optimierung des Körpers gemein. Eine Disziplinierung, wie sie Foucault in Überwachen und Strafen beschreibt.306 Harrasser sieht in der Prothese so einen Ausdruck einer, wie sie es nennt, »instrumentellen Vernunft […], die besonders gut mit Metall, Holz und Kunststoffen umgehen kann.«307 Während nach den Definitionen von Harrasser und Schneider der Dildo keine Prothese zu sein scheint, lassen sich viele der Ausführungen zur Prothese auf ihn übertragen. Tomboy selbst stelle diese Interpretation zur Verfügung: »Und was spricht aus Korinna Kohns koitaler Konstruktion: das zweischneidige Zwischenprodukt organischen Penisneids oder des synthetischen Cyborgs sprichwörtliche Eigenständigkeit?« (MeiT, 216) Vor allem die Erwähnung des Cyborgs bzw., bei Harrasser, der Cyborg sind weiterführend.308 Harrasser liest das Cyborg-Manifest von Haraway309 als »Holzschuh […], der den Motor des pfeilschnellen Zukunftsgefährts namens Informationstechnologien ins Stottern bringen sollte, als ein Virus, der ein mehr an möglichen Zukünften implementieren sollte.«310 Für Harrasser sind besonders die Möglichkeiten bedeutsam, die durch Technik, und so auch durch Prothesen, entstehen. Wenn Schneider zwar zum einen auf die Fremdheit und Andersartigkeit hinweist, die im Eigenen durch die Prothese quasi eingeschrieben ist, gesteht auch Schneider ihr weitreichende Konsequenzen zu. Seine These zur Prothese ist, dass diese binäre Unterscheidungen wie »›menschlich/nicht-menschlich‹, ›lebendig/nichtlebendig‹, ›natürlich-gegeben/technisch-künstlich hergestellt‹«311 unterlaufe. Der begrenzte Körper wird erweitert. Auch der Dildo stellt binäre Unterscheidungen in Frage, erweitert die Grenzen des Körpers. Mehr noch: Der Penis selbst kann als Kunst-stoff

302 Vgl. hierzu auch Baßler 2005a, 137, der die ineinander greifenden Diskurse in drastische Worte kleidet: »Im Judenwald (Weininger!) führt die hochschwangere (!) Korinna einen Dildo in die mit einem Tennisdress auf Navratilova (Lesbe!) zurechtgemachte Vivian ein […].« (Baßler 2005a, 137) 303 Schneider 2005, 374. 304 Vgl. Harrasser 2013, 30-33. 305 Vgl. Harrasser 2013, 41-52. 306 Vgl. Foucault 1998, besonders das Kapitel Die gelehrigen Körper, 174-219. 307 Harrasser 2013, 24. 308 Vgl. Harrasser 2013, 13-15. 309 Vgl. zum Cyborg besonders Haraway 1991. 310 Harrasser 2013, 15. 311 Schneider 2005, 373.

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interpretiert werden, der trotz seiner Materialität und Fleischlichkeit vor allem Imagination ist. Preciados Kontrasexuelles Manifest zeigt, inspiriert durch die Schriften Judith Butlers, Donna Haraways312 oder auch Jacques Lacans, wie in »unserem heterozentrischen Imaginären«313 der Dildo lediglich als Ersatz dient, wenn die Natur nicht mehr funktionsfähig ist, also der Dildo als Ausgleich eines Mangels eingesetzt wird. Preciado schlägt stattdessen vor, die Natur, den Körper, den Sexualakt selbst als künstlich anzusehen. Diese Künstlichkeit hat weitreichende Konsequenzen: »Der Dildo macht aus dem Fick einen paradoxalen Akt, in dem man die Position männlich/aktiv oder weiblich/passiv nicht identifizieren kann.«314 Der Dildo ersetzt somit nicht als Mangel das, was der menschliche Körper nicht bzw. nicht mehr leisten kann, sondern stellt vielmehr »die Vorstellung in Frage, nach der die Grenzen des Fleisches mit den Grenzen des Körpers zusammenfallen.«315 Nicht der Dildo, sondern der Penis sei »die falsche Pose einer Herrschaftsideologie.«316 Es können, das zeigt Tomboy, auch verhältnismäßig einfache Mittel genutzt werden, um den Körper in seinen Möglichkeiten zu erweitern und ihn dadurch zu transformieren. Auch Preciado verweist beim Dildo auf seine Zugänglichkeit, das »Billige am Dildo, seine Cheapness«, die dadurch eines erreiche: Die Zugänglichkeit »de-mystifiziert das habituelle Band zwischen Liebe und Sex, zwischen Leben und Lust«317 . Der Dildo ist aber zugleich ein alltägliches Ding, »das man mit kochendem Wasser reinigen muss, das als Geschenk dienen, in den Mülleimer geworfen oder als Briefbeschwerer genutzt werden kann.«318 Diese Eigenschaften, die auch an die diskutierte Abfallnähe und die cheapness von Plastikdingen generell erinnern, lassen die Möglichkeiten, die über Dinge möglich sind, greifbar erscheinen. Die Greifbarkeit von Transformationen findet sich auch in anderen Textstellen und stellt ein Beispiel für utopisches Erzählen in Tomboy dar. So tragen Korinna und Vivian Schuhe mit Plateausohlen – auch hier werden Kunststoffe319 genutzt, um Körpergrenzen, in diesem Fall die Körpergröße, zu erweitern, gar zu optimieren: »Abends ließen sich die beiden Kommilitoninnen dann auf einem im gesamten Landkreis plakatierten Feuerwehrball am Rand der nächstgelegenen Kleinstadt sehen. Mit ihren aus schwarzem Gummi gegossenen Plateausohlen waren sie größer als die Mehrzahl der versammelten Männer […].« (MeiT, 122) Die oben diskutierte Dildo-Episode endet mit Tränen, Korinnas Tränen. Welche, um noch einmal auf den von Frank Degler geprägten Ausdruck zu verweisen, »sekrete

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Neben Butler wird Haraway in Tomboy ebenfalls mehrmals zitiert bzw. einzelne Figuren beziehen sich auf die Theorien (vgl. etwa MeiT, 57f.). Preciado 2003, 63. Preciado 2003, 66. Preciado 2003, 67. Preciado 2003, 64. Preciado 2003, 67. Preciado 2003, 67. Während Gummi früher meist das Naturprodukt Kautschuk bezeichnete, wird er heute weitestgehend synthetisch hergestellt, wie etwa Anne Sudrow am Beispiel der Verwendung von Gummi in der Schuhproduktion zeigt. Naturkautschuk wurde zunächst als Ersatzstoff für Lederschuhe verwendet, ab 1936 kam es im Rahmen eines Mangels an Latex und Kautschuk in Deutschland zum einen zum vermehrten Gummirecycling, zum anderen zu einer Verwendung von durch die I.G. Farben-Firmen hergestellten Synthesekautschuk (vgl. Sudrow 2010, 322).

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Kommunikation« sich hier vollzieht, kann nur vermutet werden. Zunächst einmal sind die Tränen als Manifestation des Körperlichen handfeste Beweise, dass sich eben nicht alles in Diskurs auflöst. Weisen sie vielleicht auch auf die Kapitulation vor dem Ausmaß und den Folgen der Möglichkeiten hin? Oder zeigen sie bezüglich dieser Möglichkeiten, dass sie nicht immer genutzt werden müssen, nur weil sie genutzt werden können? Zugleich werden, hier durch Vivian, die Mängel der Sprache herbeizitiert, diesen Akt adäquat zu fassen. Ist im Zeitalter von neuen Möglichkeiten keine Sprache mehr da, diese Möglichkeiten zu erzählen? Vielleicht sind dann die Tränen Korinnas als minimale Gegenbewegungen zu interpretieren? Im Nachdenken über die Konstruiertheit und die Formbarkeit von Körpern soll zuletzt auf ein Plastikspielzeug verwiesen werden: die Barbie-Puppe.320 Gegen Ende des Romans findet sich ein kurzer Hinweis auf Barbie, eine Montage bzw. Paraphrase einer Meldung über die Puppe: »Das Wall Street Journal hatte, im örtlichen Käseblatt zitiert, auf der Titelseite angekündigt, daß der Spielzeughersteller Mattel seiner weltberühmten Glamour-Puppe Barbie 1998 ein neues Aussehen, ein sogenanntes natürlicheres Design, verpassen wollte.« (MeiT, 229) Daraufhin werden die Neuerungen ausgeführt: Die legendäre Oberweite werde verschwinden, las Korinna vor, dafür an Barbies Taille, bei gleichzeitig deutlich schlankeren Hüften, etwas zugelegt werden. Ihre nach wie vor hyperfeminine Haarpracht werde spürbar weicher sein sowie, bislang selbstredend blond, dunkler, mit nur vereinzelten goldenen Strähnen drin, ins fast Brünette spielend. Und jetzt kam das, was für Korinna Kohn die eigentliche Revolution im Hause Mattel ausmachte: Barbies seit den siebziger Jahren nicht wegzudenkendes Dauerlächeln sollte, quasi ersatzlos, abgeschafft werden. (MeiT, 229) Warum diese Transformation? Zunächst einmal lassen sich Verbindungen zu den bereits analysierten Texten herstellen. Hier fällt besonders die Episode in Michael Endes Momo ein, in der Momo von den grauen Herren die Puppe Bibigirl geschenkt bekommt. Momo lehnt diese Puppe ab, weil sie zu ihr aufgrund ihrer Perfektion, die jedoch mit Austauschbarkeit einhergeht, keine emotionale Bindung aufbauen kann (vgl. EnM, 93). Dabei verkörpert und produziert, entgegen der Ablehnung Momos, auch die austauschbare Plastikpuppe Barbie, die mit vollen Namen Barbara Millicent Roberts heißt,321 Wünsche und Träume. Zugleich ist die Barbie, wie Mary F. Rogers in ihrer Untersuchung zur Barbie Culture vor allem im Kapitel Plastic bodies zeigt, auch Manifestation eines Idealkörpers: »Culturally, Barbie is aligned with contemporary bodies shaped by consumer markets, fantastic desires, and new technologies of the flesh. She symbolizes how today’s bodies defy boundaries once deemed constants of nature.«322 Der Barbiekörper inkorporiert die Idee der (endlosen) Arbeit am Körper, die zugleich unsichtbar bleibt. Barbie ist kein Prozess, sondern in Kunststoff gegossenes Resultat. Dabei lässt das perfekte Resultat

320 Vgl. zur Geschichte der Barbie Fennick 1996 und Warnecke 1995, aus kulturwissenschaftlicher bzw. feministischer Perspektive Rogers 1999, aus feministisch-posthumanistischer Perspektive Toffoletti 2007. 321 Vgl. Gentzke 2007, 24. 322 Rogers 1999, 112.

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die Gestaltungsarbeit vergessen. Eine Arbeit, die auch Zygmunt Bauman am Beispiel der Fitness analysiert hat. Dabei steht die Barbie für ein Körperideal, das nicht, oder nur unter Schwierigkeiten zu erreichen ist, wie Rogers mit Joan Riviere zeigt, nämlich Frauen »with no visible facial hair and no observable blemishes, with smooth, hairless leg, nicely contoured eyebrows and gently curled eyelashes, hair that never turns gray, and (among white women) a constant tawny tan[…].«323 Sie schließt, dass dieses Frauenbild vor allem eines sei, »a fiction.«324 Obgleich der Körper der Barbie nicht formbar, sondern statisch ist, evoziert die Barbie dennoch die Idee des Körpers als formbare Fläche, als, wie Rogers formuliert, cultural plastic325 : Gerade weil der Körper der Barbie anatomisch schwer erreichbar, vielleicht sogar unmöglich ist, kann er als Matrize eines Formungsprozesses verwendet werden.326 Der Gedanke von Formbarkeit des Körpers öffnet den Blick auf zweierlei: Erstens erinnert die Formbarkeit daran, die Begrenztheit, die scheinbare Natürlichkeit des menschlichen Körpers in Frage zu stellen. Auch die Barbie kann als Cyborg gelesen werden, der bzw. die biologische Körpergrenzen transformiert oder zumindest über die Möglichkeiten der Transformationen nachdenken lässt.327 So erhält die Cyborg/Barbie durchaus utopisches Potenzial, etwa wenn ihr prothesennaher Körper gerade die Künstlichkeit des scheinbar natürlichen Körpers zur Schau stellt und darauf verweist, dass mittlerweile zahlreiche Körperteile ersetzbar sind. Es werden, dies als Randbemerkung, Barbie-Puppen in Kinderkrankenhäusern bei Kindern eingesetzt, um die Amputation von Körperteilen zu begleiten. Wie Rogers beschreibt, werden den Barbiepuppen die Körperteile als Prothesen ersetzt, welche auch bei den Kindern ersetzt werden müssen.328 Die Möglichkeiten der Transformation des Körpers führen zurück zu Andy Warhol. Die Barbie-Puppe war eines der Motive Warhols. Motiv ist hier, Dirck Linck folgend, in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Als Thema, aber auch im Sinne von Motivierung und Antrieb. Andy Warhol, und darin ähnelt er der Barbie, folgt deren Vorgabe, dass Schön-

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Rogers 1999, 115. Rogers 1999, 115. Rogers 1999, 124. So heißt es bei Rogers zu dem durch Barbie evozierten Körperideal: »[T]he feminine body par excellence requires a flat stomach, boyish hips, and slim, firm thighs, together with sizable breasts.« (Rogers 1999, 119, Hervorhebung dort) Die drastischen Maßnahmen, um dieses unmögliche Ideal zu erreichen, seien Brustveränderungen, extreme Gewichtsreduzierungen und kosmetische Chirurgie (vgl. Rogers 1999, 120). In Tomboy finden sich ebenfalls Hinweise, dass auch Menschen dieser Idealisierung von (weiblichem) Körper nacheiferten und die Grenzen zwischen Kunstprodukt und Körper verschwimmen: »Marylin Monroe, als Kunstprodukt, Weiblichkeitsmythos und Opfer einer unmenschlichen Kulturindustrie in einem, ließe sich nicht nachträglich in eine natürliche und eine künstliche Frau spalten […].« (MeiT, 211) Zu Marlene Dietrichs Körper heißt es kurz darauf, bezugnehmend auf die Überlegungen von Silvia Bovenschen, es wäre die »Selbstinszenierung des glatten, wie von einem unbekannten Kunststoff überzogenen Körpers […].« (MeiT, 211) 327 Vgl. zum Cyborg Rogers 1999, 126 und Toffoletti 2007, besonders 57-80. Zum Cyborg bzw. zur Cyborg im Zusammenhang mit Körpererweiterungen durch Prothesen vgl. unter anderem die diskutierten Ausführungen Harrassers (Harrasser 2013, 13-15). 328 Vgl. Rogers 1999, 127.

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heit herstellbar ist.329 Dirk Schultheiss und Katja S. Krämer zeigen in ihrem Beitrag über Warhols plastische Nasenkorrektur, wie sehr die ästhetisch-plastische Chirurgie und hier besonders die Nasenkorrektur in allen Phasen von Warhols Schaffen präsent war.330 Während bei Warhol zum einen medizinische Gründe für Korrekturen vorlagen – es wird ein beginnendes Rhinophym, also eine knollenartige Wucherung der Nase vermutet – waren es ästhetische Ansprüche, die zu den Operationen führten. So wird Warhol, darauf weisen auch Schultheiss und Krämer hin, zu einem Katalysator für bestimmte Entwicklungen: »Andy Warhol war in dieser Zeit [Anfang der 1960er Jahre, CHG] ein wesentlicher Motor für die Veränderung der Gesellschaft hin zu allgemeinem Streben nach definierten Schönheitsidealen, wie es uns noch heute durch Werbung und Medien alltäglich vor Augen geführt wird.«331 Ziel von Schönheitschirurgie ist es oftmals, den jungen, den jugendlichen Körper zu erhalten bzw. wiederherzustellen durch Korrekturen am Fleisch, vor allem durch Wegnehmen bzw. künstliches Verkleinern oder Vergrößern. Die Schönheitschirurgie kämpft so, das haben auch die Beispiele von Animateurin Tessy und Lindes Ex-Frau Lena in Uwe Timms Rot gezeigt, mehr oder weniger erfolgreich, aber kontinuierlich gegen den Verfall des Menschen, gegen die eigene Abfallwerdung. Paula-Irene Villa fasst die Überkreuzungen von Bedeutungen und Diskursen in der plastischen Chirurgie folgendermaßen: Im Feld der ästhetisch-plastischen Chirurgie werden zentrale soziale, ethische, anthropologische und nicht zuletzt politische Fragen verhandelt, die weit reichende Konsequenzen für uns alle haben – egal, ob wir uns nun an der Nase operieren lassen oder nicht. Denn an diesen Techniken kristallisieren sich die sozialen Auseinandersetzungen um das, was wir mit unseren Körpern überhaupt können, dürfen und sollen.332 Was Körper sind, sein können und sein sollen, das verhandelt auch Popliteratur wie Tomboy über darin zirkulierende Schönheitsideale und Körperbilder, aber auch durch ein Erzählen von Körperformung und damit verbundenen Schmerzen.333 Dabei kommt zur Gestaltbarkeit auch der Aspekt der Kommerzialisierung des Körpers. Wenn der mit Perfektion und Unerreichbarkeit assoziierte Körper der Barbie, wie die Zeitungsmeldung verkündet, umgestaltet wird, lässt sich vermuten, dass diese Transformation nicht in einer Anpassung an imperfekte menschliche Körper begründet ist, sondern aus verkaufsstrategischen Gründen geschieht. Vielleicht findet sich deshalb gerade diese Transformation in Tomboy: Waren sind im fluiden Kapitalismus verwandelbar, anpass-

329 Rogers fasst das in Bezug auf Frauen in folgende Worte: »In many respects cosmetic surgery pinpoints the pressures on women to do what icons like Barbie imply is necessary for achieving feminine success.« (Rogers 1999, 120) 330 Vgl. Schultheiss/Krämer 2000. 331 Schultheiss/Krämer 2000, 104. 332 Villa 2008b, 15. 333 Vgl. zum Konnex von Körper, Schönheit und Schmerz den von Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband (Villa 2008a). Zu künstlerischen Arbeiten zum Themenfeld Schönheitsoperationen und plastischer Chirurgie vgl. den Aufsatz von Brunner über die Performancekunst von Stelarc und Valie Export (vgl. Brunner 2008).

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bar – das gilt auch und gerade für Geschlechtsidentitäten und andere Identitäten. Auch sie sind Waren. Dabei führen Transformationen nicht immer zum gewünschten Erfolg: Andy Warhol war von seiner Nasenkorrektur enttäuscht.334 Wie an den Diskussionen zur Ware gezeigt wurde, ist die Enttäuschung, zusammen mit dem Element der Täuschung, integraler Bestandteil der Ware. Ebenso gehört zu ihr der Abfall. Produziert werden dennoch kontinuierlich Träume und Phantasien. Dabei, und dies ist ebenfalls ein wesentlicher Teil dieser Produktion von Phantasien (Rogers nennt die Spielzeughersteller auch »fantasy manufacturers«335 ), sind die Phantasien und Wünsche, die im Kapitalismus generiert werden, einerseits an Abfälle gebunden, andererseits an Ausbeutung. So auch die Barbie-Puppe: Die Plastikpuppen werden zum Großteil in Billiglohnländern hergestellt, in China, Indonesien und Malaysia.336 In allen Herstellungsschritten entstehen Abfälle. Beides bleibt unsichtbar. Denn die Phantasien, die diese Puppe evoziert, sind ausbeutungs- und abfallfreie, sind cleane Phantasien. Diese Träume manifestieren sich in der leicht zu reinigenden Oberfläche der Puppe, die im Idealfall kaum Spuren des Gebrauchs und des Alterns zeigt. So bereichert auch Janine Fennick ihre Ausführungen zur Geschichte der Barbie-Puppe und Empfehlungen zum Aufbau einer Barbie-Sammlung mit dem Hinweis auf die guten Reinigungsmöglichkeiten des Spielzeugs: »Da Barbies aus Plastik bestehen, können Sie viele moderne Haushaltsprodukte für Reinigungsaktionen verwenden.«337 Dass ihr Dauerlächeln verschwindet, wie die weiter oben zitierte Zeitungsmeldung berichtet, ist vor dem Hintergrund der hier diskutierten Aspekte konsequent. Leicht zu reinigen, glatt und mit unsichtbaren Verbindungen versehen bleibt die Barbie dennoch. (3) Andere Textpassagen von Tomboy erinnern daran, dass Reinigungsaktionen nicht immer greifen. Der Blick der Analyse wird zuletzt auf toxische Verbindungen und weitere Dimensionen des Vergessens gelegt. Wie bereits angedeutet, kommen nicht nur die Möglichkeiten von Kunststoffen, sondern auch die Kehrseiten, das Bedrohungspotenzial der neuen Stoffe bis hin zu, historisch betrachtet, äußerst unheilvollen, gar toxischen Verbindungen zur Sprache. Das Label Pop und Popliteratur wird immer noch mit oberflächlichen Themen wie Konsum und Party assoziiert, als beispielhaft hierfür gelten Benjamin von Stuckrad-Barres markenfixierte Texte, etwa der frühe Pop-Roman Soloalbum.338 Frank Degler und Ute Paulokat haben in ihrem Band zur neuen deutschen Popliteratur eindringlich darauf hingewiesen, dass die Popliteratur nicht schweigt zu Themen wie Krankheit, Verfall und Tod.339 Auch in der Pop Art, hier vor allem der Kunst

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Vgl. Schultheiss/Krämer 2000, 103. Rogers 1999, 110. Vgl. Rogers 1999, 102. Fennick 1996, 139. Vgl. Stuckrad-Barre 1998. Vgl. Degler/Paulokat 2008, besonders Kapitel 9, 97-105.

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Warhols, werden Unfälle zu Motiven, finden sich der elektrische Stuhl und andere todesnahe Motivik.340 Zugleich ist eine weitere Bedeutung von Pop weiterführend. In der Fachsprache der Abfallentsorgung hat Pop eine große Relevanz, wie in der Broschüre des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erläutert wird: Bei POPs handelt es sich um schwer abbaubare organische Stoffe, die sich in Organismen anreichern können (POPs: persistente organische Schadstoffe – persistent organic pollutents). Diese Stoffe sind auch deshalb gefährlich, weil sie über Wasser, Boden und Luft weiträumig verbreitet werden und damit globale Bedeutung haben. Es handelt sich unter anderem um Pestizide, um Industriechemikalien wie polychlorierte Biphenyle (PCB) und um Dioxine und Furane.341 POPs sind also langlebige organische Schadstoffe, hybride Verbindungen, die sich gegen die problemlose Entsorgung und damit auch gegen eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie stellen. Sie erfordern spezielle Aufmerksamkeit und eine besondere Behandlung. Vor allem der Faktor Zeit verbindet die POPs mit anderen Gefahrenstoffen wie Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW). Anhand der langen Debatten über die Gefährlichkeit von FCKW342 zeigen Böschen und Weis in Bezug auf Chemierisiken, wie schwer der Umgang mit solchen Schadstoffen ist, wenn nicht klar ist, welcher Zeithorizont relevant sei, um die Folgen eruieren zu können.343 Auch das zweite von Böschen und Weis gewählte Beispiel, das Pestizid und POP namens Dichlordiphenyltrichlorethan, kurz DDT, illustriert durch seine Stoffgeschichte diese Gefahren, zugleich aber auch die Veränderung der Wahrnehmung solcher Chemierisiken.344 Christian Simon bezeichnet so auch die Geschichte dieser chemischen Verbindung als Geschichte von »Aufstieg und Fall«345 . DDT, das Ende des 19. Jahrhunderts erstmals synthetisierte, aber erst 1939 vom Schweizer Chemiker Paul Müller als Insektizid entdeckte Dichlordiphenyltrichlorethan wurde zum Synonym für eine langlebige und unkontrollierbare Toxizität. DDT gehört heute zum sogenannten Dreckigen Dutzend der besonders schädlichen

340 Zur Desaster-Serie Warhols, die neben Autounfällen, Bränden und Lebensmittelvergiftungen auch eine Serie von elektrischen Stühlen (Little Electric Chair, 1965, Blue Electric Chair, 1963 vgl. McShine 1989, 274f.) sowie die Atombombe (Atomic Bomb, 1965, vgl. McShine 1989, 276) umfasst, vgl. McShine 1989, 11-21. 341 BMU 2011, 40. Zu POPs vgl. auch Moore 2011, der einen Zusammenhang zwischen fortgeschrittener Industrialisierung und der Verwendung toxischer Stoffe ausmacht (vgl. Moore 2011, 241f.). Moore exemplifiziert dies am Beispiel von PFCs (perfluorinated compounds). Als hochgiftige Stoffe hinterlassen PFCs Spuren in Organismen: »PFCs have been detected in fish, loons, sick sea otter, and endangered loggerhead sea turtles, whose blood samples showed markers of liver damage and compromised autoimmune function in a 2010 study.« (Moore 2011, 248) 342 Vgl. Böschen/Weis 2007, 110-119. Hier sei auf die Rolle des Chemieunternehmens DuPont verwiesen, das als FCKW-Hersteller (vgl. Böschen/Weis 2007, 112), als Erfinder der Nylonstrümpfe und, dem Mythos nach (vgl. hierzu Hawkins 2013, 52f.), auch der PET-Flaschen gilt. Bei Moore findet DuPont häufig negative Erwähnung (etwa Moore 2011, 247). 343 Vgl. Böschen/Weis 2007, 111. 344 Vgl. Böschen/Weis 2007, 119-129. Zur Geschichte von DDT ausführlich, zum Teil mit Fokus auf die Schweizer Industrie, die Kulturgeschichte von Christian Simon (vgl. Simon 1999). 345 Simon 1999, 11.

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Stoffe.346 Es wurde 2004 im Rahmen des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe, auch POP-Konvention genannt, verboten.347 Zu den Ausnahmen, die explizit in der Konvention beschrieben werden, gehört die Bekämpfung von Krankheiten.348 Die offenkundigen Vorteile des Einsatzes von DDT, die in der vollständigen Tötung sämtlicher Insekten lagen, wurden konterkariert durch die verborgenen Langzeitfolgen, die zunächst wenig bekannt waren. Anfang der 1960er Jahre hat Rachel Carsons ökokritischer Klassiker Silent Spring (1962)349 diese Folgen für Ökosysteme an die Öffentlichkeit gebracht. Sie stellte sie von der Kontaminierung von Böden über die Auswirkungen auf die Vogelpopulation bis hin zu den Veränderungen der menschlichen Zellen und des Hormonhaushalts dar. Vor allem in den A Fable for Tomorrow übertitelten Eingangsüberlegungen arbeitet Carson mit literarischen Mitteln.350 Carsons Text wurde ein Beststeller, führte 1974 in den USA zum Verbot von DDT und trug zugleich zur Formierung der US-amerikanischen Ökologiebewegung bei. Narrative können, Ursula K. Heises Ausführungen zum Erzählen über chemische Kontamination folgend, Verbindungen herstellen, die schwer nachzuvollziehen sind. Ein Erzählen über POPs, das zeigt auch Carson, erfordert drastische Mittel. A Fable for Tomorrow wurde so auch als wichtiger Teil von Silent Spring kontrovers diskutiert.351 Generell fordern POPs ein Nachdenken darüber heraus, was wir als Nutzen und als Schaden kategorisieren und welche hohen Kosten die sogenannte Schädlingsbekämpfung hat. Gerade im synthetischen Pestizid DDT verbinden sich so die utopischen und dystopischen Elemente, die auch in Kunststoffe eingeschrieben sind, auf das eindringlichste. Hiermit verbunden ist die Frage nach der Rolle von Expertinnen und Experten, die Richtwerte erstellen, Prognosen aufstellen und Entwicklungen kommentieren. Diese wichtige Rolle des Expertentums kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass alle Menschen, darin äußert sich das willkürliche Moment der POPs, von den Folgen eines Einsatzes dieser Stoffe betroffen sind.352 Genauer: Die Verursacher trifft es mit Sicherheit nicht stärker als andere Menschen. Zugleich demonstriert gerade das Beispiel von DDT, dass chemisch-technischen Lösungen stets auch Gefahren innewohnen. So wie es niemals Restlosigkeit gibt, so wie die Müllverbrennung, wie gezeigt, eben auch kontaminierte Schlacken mitproduziert, so produzieren auch andere vermeintliche Wunderstoffe unerwünschte Beiprodukte. Diese Beiprodukte, also die Verbindungen, die POPs wie das DDT mit Ökosystemen eingehen, die auch die Weichmacher in Plastikdingen mit Menschen, Tieren und Pflanzen eingehen, sind nicht leicht nachzuvollzie346 Vgl. hierzu Lammel 2007, 277. 347 Vgl. Stockholmer Übereinkommen 2014, zu DDT besonders 48f. 348 Zum Konnex von DDT und Kriegsführung, sowohl auf metaphorischer Ebene als auch im Sinne von tatsächlichem, pharmazeutischem Einsatz in Kriegszeiten, um Epidemien durch von Insekten übertragene Krankheiten zu verhindern, wie dies im Ersten und Zweiten Weltkrieg flächendeckend praktiziert wurde, vgl. Russell 2001, besonders 17-52 und 95-164 sowie Simon 1999, 50-54. 349 Vgl. Carson 1991. Zu Silent Spring und den Auswirkungen auf die Stoffgeschichte von DDT vgl. auch Simon 1999, 146-163 und, kurz, Westermann 2007, 299f. 350 Vgl. hierzu Bergthaller 2007, 252-256, zur zeitgenössischen Rezeption 256-264. 351 Vgl. Bergthaller 2007, 256-264. 352 Ulrich Beck fasst das in seinen Überlegungen zu grenzübergreifenden Modernisierungsrisiken mit der Formel: »Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch.« (Beck 1986, 48, Hervorhebung dort)

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

hen. Durch eine Ablagerung im Boden, in Gewässern oder Pflanzen gelangen sie mittels Verdunstung in die Atmosphäre.353 Der sog. ›Grashüpfer-Effekt‹354 sorgt dafür, dass mitunter weite Strecken überwunden werden. Dies hat zur Folge, dass durch stärkere Kondensation in kälteren Gebieten hier eine erhöhte Konzentration der Schadstoffe auftritt. So sind die höchsten Konzentrationen von chemischen Stoffen, inklusive derer, die sich in Kunststoffen finden, in den Körpern der Bewohnerinnen und Bewohner Grönlands und Teilen Kanadas messbar.355 Zurück zu Tomboy. Hier werden die Geschichten solcher entgrenzenden Stoffe, auch die Wirkungen von Kunststoffen oder der Chemieindustrie, nicht als ökologische Katastrophe erzählt. Aber sie sind im Text virulent. Die BASF ist einer der weltweit führenden Hersteller von Pestiziden und Pflanzenschutzmitteln und steht somit auch für die Folgen einer solchen Industrie. Dabei ist die destruktive Seite der Chemieindustrie im Text weitaus präsenter als lediglich eine Verbindung, die durch geographische Nähe zum BASF-Standort entsteht. In einer Textpasssage wird berichtet, wie Genoveva, die Mitbewohnerin Fraukes, in einer Mischung aus Paranoia und möglicher tatsächlicher Bedrohung – sie fürchtet Angriffe durch chemische Kontamination von Lebensmitteln (vgl. MeiT, 40f.) – zu einer Ladendiebin wird. Sie müsse, so ihre Argumentation, die Nahrung in einer undurchlässigen Plastiktüte verbergen, um sie und sich vor Vergiftungen zu schützen (vgl. MeiT, 40f.). Dabei lässt die Textstelle offen, ob die Angst vor Kontamination nicht ein Vorwand ist, um die Ladendiebstähle zu legitimieren. Genoveva, das erfahren wir an späterer Stelle, wird verhaftet (vgl. MeiT, 34). Weitaus häufiger finden Fragen nach Risiken und toxischen Verbindungen der Chemieindustrie im Zusammenhang mit der Figur Pat Meier Erwähnung. Der Mitbewohnerin von Genoveva und Frauke scheint die Rolle der Mahnerin in Tomboy zuzukommen. Sie wird, neben Genoveva, ebenfalls gezeichnet als kritische, aber auch als paranoide,356 nicht wirklich sympathische, sich immer wieder dem erzählerischen Blick entziehende Figur. Dabei ist Pat Meier, im Gegensatz zu anderen Figuren des Romans, die in Bezug auf ihr Konsumverhalten in erster Linie in der Gegenwart denken und handeln oder sich durch und mit Texten der Vergangenheit zuwenden, durch ihre politische Arbeit Vermittlerin zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wie Genoveva macht sie unsichtbare Verbindungen sichtbar – oder stellt diese erst her.357 Kontinuierlich positioniert sie sich an einem Ausguck oberhalb der Dossenheimer Steinbrüche, um, wie es heißt »mit Hilfe diverser optischer Analysegeräte« (MeiT, 35), die Chemiefabrik zu observieren. Zu sehen gibt es freilich nichts: Gerade die Unsichtbarkeit und die Unfreiwilligkeit der Risiken, die diese Industrie mit sich bringt, machen sie zur Bedrohung. Dabei seien, wie sich Vivian

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Vgl. Lammel 2007, 281. Vgl. Lammel 2007, 281f. Vgl. Liboiron 2013b, 134 und Moore 2011, 250. Vgl. zur Figur der Pat Meier auch Ernst 2008, 122. Die Kontaminations-Textstelle lässt sich auch als Vorausschau des paranoiden Denkens nach den Anschlägen des 11. September 2001 lesen – hier wird ein abstraktes Bedrohungsgefühl in konkrete Abwehr übersetzt, ohne jedoch jemals ein tatsächliches Ziel zu haben. So zeigt Lars Koch, wie die Figur und das Phantasma des Schläfers dazu beiträgt, »abstrakte Gefahrenmeldungen über die Virulenz des Terrors in konkretere, den Nahbereich tangierende Furcht-Narrative« (Koch 2010, 74) zu transformieren.

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wundert, weder Pat noch Genoveva Anhängerinnen der Ökologiebewegung, was Vivian zu der Frage führt: »[W]as also konnte das Gefasel vom chemischen Angriff bedeuten?« (MeiT, 35) Meinecke entwirft mit Bodo Petersen, dem plastikliebenden und gerne auch die Errungenschaften der Plastikindustrie zitierenden Mitarbeiter der BASF eine Gegenund Komplementärfigur zu Pat Meier. Eine Figur, die dem Fortschritt zugewandt ist und zunächst nichts als Bewunderung für den Chemiekonzern und Arbeitgeber BASF aufzubringen scheint. Besonders eindringlich findet sich diese Bewunderung auch in folgender Passage, in der Petersen, atemlos und stakkatoartig, die BASF zum Ausgangspunkt und -ort einer anderen Art von Geschichtsschreibung nimmt – selbstverständlich aus seinem subjektiven Blickwinkel eines ehemaligen Azubis bei Bayer, der bei diesem Konzern angestellt ist und überzeugt ist von den »zivilisatorischen Errungenschaften der chemischen Industrie« (MeiT, 72): Sie [die BASF, CHG] hatte im Jahr 1882 den Fernsprechanschluß Nummer 1 des Königsreichs Bayern erhalten, zu welchem die Pfalz damals exklavisch gerechnet wurde. Schon 1897 fand die bahnbrechende Erfindung des synthetischen Indigo statt, 1913 die Grundsteinlegung für die weltbewegende Herstellung von Stickstoff-Düngemitteln, 1927 die sensationelle Gewinnung von Benzin aus Braunkohlenteer, und ab 1930 die explosive Entwicklung ständig neuer Kunststoffe durch die Badische Anilin- & Soda-Fabrik. Bereits 1936 zeichnete sie die Londoner Philharmoniker unter Sir Thomas Beecham im Ludwigshafener Feierabendhaus mit dem nur ein Jahr zuvor erfundenen BASF-Magnetophon auf. Der Ritter von Beecham war zutiefst beeindruckt, und bei Kriegsbeginn hatte die BASF bereits zwölf Millionen Meter Tonband fabriziert. Nach dem Krieg waren nur sechs Prozent aller Werksgebäude unversehrt geblieben, doch der große Siegeszug des Polystyrol ließ sich nicht aufhalten, und Bodo Petersen war bei seinem Lieblingsthema, der glorreichen Erzeugung von Plastik, angelangt. (MeiT, 72) Was im Text folgt, ist die zuvor zitierte und analysierte ausführliche Liste zu den Produkten der BASF. Pat Meier hingegen ist, wie es heißt, »Jahrgang 1954, nach eigenen Angaben endgültig politisiert seit dem durch die Gewerkschaften verratenen Chemiearbeiter-Streik von 1971« (MeiT, 71). Zwischen beiden Figuren kommt es im Romanverlauf zu einer Annäherung. Dazu später mehr. Eine andere, ebenfalls toxische Verbindung, die mit der Firmengeschichte der BASF verbunden ist und von Petersen zunächst ausgespart wird, wird dennoch in Tomboy über einen Text zugänglich gemacht. Dieser Text wird nicht, im Gegensatz zu Vivians Magisterarbeit, als interessante Frage oder akademische Übung exzerpiert, sondern im Rahmen einer politischen Lesegruppe gemeinsam bearbeitet. Eine von Pat Meier organisierte Privatlesung, zu deren Besetzung neben Pat, Bodo und Vivian auch Ilse Lehrerin sowie eine »Handvoll verfilzter Autonomer, deren riesige Hunde im Flur herumtobten« (MeiT, 96) gehören, macht eines der kuriosesten Settings des Romans aus. Lektüre ist, neben Texten der RAF, Karl Aloys Schenzingers Roman Anilin.358 Zum 358 Zu diesem Text und Schenzinger als Schriftsteller des Nationalsozialismus vgl. Leslie 2005, 175f. und Adam 2010, 87-92, Adam arbeitet heraus, dass eine Syntheseleistung »das NS-typische« an

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Einstieg der Schenzinger-Lesungs-Episode wird es für Tomboy-Verhältnisse ungewohnt handgreiflich, als es heißt: »Der Aufseher schlug dem Hindu die Peitsche mitten durch das Gesicht.« (MeiT, 95) Um die Leserschaft nicht zu sehr im Unklaren zu lassen, wird ein Orientierungsangebot nachgeliefert: »Mit dieser Formulierung eröffnete der Nazischriftsteller Karl Aloys Schenzinger seinen 1936 erschienenen historischen Roman Anilin über die Badische Anilin- & Soda-Fabrik [die BASF, CHG], durch den er gewissermaßen lückenlos an Hitlerjunge Quex, seinen großen Erfolg von 1932, anknüpfen konnte.« (MeiT, 95f.) Meinecke verknüpft die Geschichten der BASF und der I.G. Farben, deren wirtschaftliche, aber auch ideologische Verbindungen mit dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus359 mit der belletristischen Darstellung360 eines Nazischriftstellers. Der deutsche Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge isolierte Anilin erstmals 1834.361 Im Brockhaus heißt es im kurzen Eintrag zu Runge neben der Nennung der Lebensdaten 8.2.1795 bis 25.3.1867 lapidar, dass er »die Alkaloide Koffein und Atropin [entdeckte] und […] Anilin, Chinolin, Phenol, Pyrrol u.a. Verbindungen im Steinkohlenteer [isolierte]; damit wurde er zum Wegbereiter der modernen Teerfarbenchemie.«362 Der Rohstoffroman Anilin, das zeigt Christian Adam, erzählt zum einen die Geschichte Runges, zum anderen eine Stoffgeschichte: »Im Buch skizziert Schenzinger mit kühnem Strich die Geschichte der Entdeckung der Teerfarbstoffe und in ihrer Folge die Geburt der modernen chemischen Industrie, in der deutsche Werke und deutsche Forscher eine Schlüsselstellung einnahmen.«363 Die Geschichte mündet in die Zeit des Nationalsozialismus und die Gründung der I.G. Farben.364 Der Roman wurde ein Bestseller: Bis 1945 verkaufte er sich fast eine Million Mal, im Frühjahr 1951 lagen die Verkaufszahlen bei über 1,6 Millionen.365 Warum konnte dieser Text eine so ungeheure Popularität erlangen? Christian Adam geht davon aus, dass sie sich vor allem in der Zusammenführung der Themen Wissenschaft und Nationalismus begründet. Eine Engführung, die am Beispiel des Nylonstrumpfes weiter oben auch am Beispiel der USA herausgearbeitet wurde. Zudem kam dem Roman, wie vielen anderen Texten des Genres populäres Sachbuch, eine Vermittlungsfunktion zu: Die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Laien.366 Adam fasst

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Anilin ausmachte, wenn »die Technikgläubigkeit der zwanziger Jahre nun ganz klar nationalistische Züge annahm.« (Adam 2010, 91) Zur Firmengeschichte der BASF vgl. die Beiträge in Abelshauser 2002, zur Firmengründung die Darstellung von Wolfgang von Hippel (Abelshauser 2002, 27-46), zur Zeit von 1900 bis 1925 die »Die Macht der Synthese« übertitelte Darstellung von Jeffrey Allan Johnson (vgl. Abelshauser 2002, 117-219), speziell zum Nationalsozialismus von der Machtergreifung über die Kriegsvorbereitung bis zur Zerschlagung des I. G. Farben-Konglomerats vgl. die Ausführungen von Raymond G. Stokes (Abelshauser 2002, 221-358). Die Verbindungen von I.G. Farben und Kriegswirtschaft sind auch Thema in Pynchons Roman Gravity’s Rainbow (1973) (vgl. Pynchon 1973). Zu Pynchons Texten und der Chemieindustrie vgl. Leslie 2005, 7-9. Während Pat Meier den Text als »futuristische[s] Epos« (MeiT, 98) fasst, kategorisiert Adam 2010 den Text als populäreres Sachbuch (vgl. Adam 2010, 86-92). Vgl. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 23, 502. Zwahr/Brockhaus 2006, Band 23, 502. Adam 2010, 91. Vgl. Adam 2010, 91. Vgl. Adam 2010, 87. Vgl. Adam 2010, 88f.

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diese Vermittlungsarbeit folgendermaßen: »Die absurde Situation sei, dass die Welt immer stärker verwissenschaftlicht werde, die Mehrheit von der Wissenschaft aber fast nichts mehr verstünde.«367 Auch Meinecke, und hier gibt es eine spannende Annäherung an den Text Schenzingers, vermittelt zwischen Laien und Wissenschaft. Sein Thema ist, wie gezeigt, der akademische Genderdiskurs. Aber vermittelt er wirklich? Tatsächlich wird durch die Exzerpte wichtiger Texte und die Nennung zahlreicher Theoretikerinnen und Theoretiker der Diskurs greifbarer. Meineckes Verfahren des Spinning, Mixing und Sampling kommt erneut zum Tragen. Allerdings wird die Montage, wie an vielen anderen Textstellen auch, durch eine oder mehrere Figuren kommentiert, gebrochen und kontextualisiert. Während Schenzingers Text sich in den Dienst von Nationalismus und Nationalsozialismus stellt, also dem hegemonialen Diskurs zuarbeitet, versammelt Meinecke, unter antinationalistischen und postkolonialen368 Vorzeichen, subversive Stimmen.369 In dem Textpassus erfüllen diese Funktion vor allem die Kommentare Pat Meiers. Die Lesung integriert also eine Erzählung in die Erzählung, macht den Plot von Tomboy gewissermaßen zur Rahmenhandlung einer Binnenerzählung über den Stoff Anilin und die Firma BASF. Durch die Lesung wird die von Bodo Petersen so leidenschaftlich vorgetragene »glorreiche[…] Erzeugung von Plastik« (MeiT, 72), diese Geschichte von Optimismus und Fortschritt, auch eine Geschichte von geopolitischen Erwägungen, die in (völkischem) Nationalismus, im Nationalsozialismus mündet. So heißt es zur Verbindung von Krieg und Industrie: »Herr Engelhorn rechnet mit Bestimmtheit damit, daß die neue Fabrik sich in allerkürzester Zeit mächtig vergrößern muß, und dazu gehört Platz, Platz und nochmals Platz. Fabrik ohne Raum, sozusagen, kommentierte die Vorleserin […].« (MeiT, 97) Vor diesem Hintergrund verlieren die Plastikdinge, die in Tomboy versammelt sind, ihre Unschuld. Dass mit den Dingen generell Phantasmen mitproduziert werden, zeigten die Exkurse zur Barbie-Puppe. Auch ein scheinbar harmloses Modeding wie der Schuh, das nebenbei, wie die Passage zu den Plateauschuhen zeigt, Möglichkeiten zur Transformation bietet, ist in die Geschichte, die Pat Meier und ihre Freundinnen am

367 Adam 2010, 89. 368 Zum Aspekt des Postkolonialismus in Meineckes Texten vgl. Feiereisen 2011, 185f. 369 Hier ist teilweise den Thesen von Thomas Ernst zuzustimmen, der sich in einem Aufsatz der Frage von Subversion in bzw. von Tomboy widmet (vgl. Ernst 2008). Ernst schlägt vor, zwischen der im Text erzählten, gesammelten und historisierten politisch-revolutionären (im Text terroristischen) Subversion und der ebenfalls im Text immer wieder auftauchenden dekonstruktivistischen Subversion zu unterscheiden (vgl. Ernst 2008, 124f.). Während die eine Spielart gerade das Gegenteil ihrer Intention zur Folge hat – nämlich nicht die Zunahme von Freiheit und Abschied von Repression, sondern die Kontrolle eher stärke, hätte die zweite Spielart bessere Chancen zu wirken. Ernst weist darauf hin, dass gerade die Vielstimmigkeit das Subversive des Textes ausmache: »Subversive Konzepte werden präsentiert, archiviert, mit- und gegeneinander diskutiert, das eine subvertiert das andere. Die vorgeführten Konzepte werden wiederum von der Erzählerfigur ironisiert und parodiert – ein solcher literarischer Text erscheint als Komplex subversiver Konzepte, Motive und Figuren, die einander widersprechen und die Einnahme einer Position der ›Wahrheit‹ oder die Präsentation einer ›Lösung‹ unmöglich machen.« (Ernst 2008, 125) Dennoch, so macht die vorliegende Analyse deutlich, ist es gerade auch die von Meinecke getätigte Auswahl an Texten und Diskursen, die zeigt, dass eine Beschäftigung mit diesen Konzepten lohnend sein kann.

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Beispiel von Schenzingers Text diskutieren, verwickelt. Das zeigt Anne Sudrow in ihrer umfangreichen, bereits in Kapitel 2 erwähnten historischen Untersuchung zum Schuh im Nationalsozialismus.370 Sie zeichnet den Schuh zunächst als begehrte Ware, als Forschungsobjekt, dann im Kriegseinsatz. In der von Sudrow erzählten Schuhgeschichte sind Kunststoffe zunächst schlechte Surrogate für das Naturmaterial Leder. Im Kontext der Versorgungspolitik und der Produktionslenkung im Nationalsozialismus, die schließlich zur Kriegswirtschaft wird, kommt der Suche nach Ersatzmaterialien höchste Priorität zu.371 An der Front wird zwar recycelt, dennoch kommt hier den Ersatzstoffen große Bedeutung zu. Diese Ersatzstoffe werden von Insassen des KZ Sachsenhausen auf der sogenannten Schuhteststrecke optimiert.372 Die Geschichte des unschuldig anmutenden Modedings Schuh wird, ähnlich der Geschichte des Nylonstrumpfes, eine politische Geschichte, die mit Geopolitik und Kolonialismus373 , mit Ausbeutung und, mit dem Blick auf die Schuhteststrecke, mit Leid und mit Verbrechen verbunden ist. Diese Verbindungen bleiben jedoch, wie auch die Verbindungen zu Abfall, bei einer oberflächlichen Lektüre von Tomboy unsichtbar. Sie müssen herausgearbeitet werden über den Umweg der Schenzinger-Lesung. Schuhe sind zunächst einmal Modedinge, die, wie die Barbie, wie die Nylonstrumpfhosen, jedoch transformiert werden können, befragt werden müssen. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass die Arbeit einer politischen Lesegruppe gezeigt wird: Verbindungen herzustellen kann mühsam sein, ist aber notwendig – das könnte eine der Erkenntnisse sein, die Tomboy vorschlägt. Welche Verbindungsarbeit leistet die Lesegruppe um Pat Meier außerdem? Wenn Pat Meier Schenzingers Erzählung vorliest, dass die neuen Entdeckungen der Chemieindustrie Anlass zu Optimismus geben, wird diese Entwicklung durch die Hintergründe, die Pat Meier und ihr Kreis herausarbeiten, durch die Verbindungen zu Krieg und Zwangsarbeit, konterkariert, gar fast persifliert: »Das Neue. Die Ergänzung. Es kam zwangsläufig. Zu dem Einfall gesellte sich die Überlegung. Aus der Idee entstand die greifbare Form. Aus der Erfindung drängte die Nutzanwendung. Aus der Theorie wurde durch Verwertung der praktische Wert, die Ware.« (MeiT, 98) Im Plot von Schenzingers Anilin wiederum finden sich zwei Motive, die auch an anderen Stellen in Tomboy aufgegriffen werden: Die Verschmutzung von Wasser und Luft durch die chemische Industrie.374 Rachel Carson beschreibt, wie gezeigt, die Zerstörung der Harmonie und des ökologischen Gleichgewichts: »The most alarming of all man’s assaults upon the environment is the contamination of air, earth, rivers, and sea with dangerous and even lethal materials.«375 Gerade in den 1980er Jahren entstanden, oftmals ökologisch inspirierte, Warnliteratur bzw. Warnutopien.376 370 371 372 373

Vgl. Sudrow 2010. Vgl. Sudrow 2010, 298-346. Vgl. Sudrow 2010, 511-571. So beginnen sowohl der Roman Schenzingers wie auch der Einstieg in Meineckes Text in die Schenzinger-Passage, wie gezeigt, mit der Arbeit auf einer Indigo-Plantage. 374 Zum Thema BASF und Umweltverschmutzung vgl. die Darstellung von Wolfgang von Hippel in Abelshauser 2002, 82-84. 375 Carson 1991, 23. 376 Vgl. Gnüg 2001, 66. Gnüg bezieht sich unter anderem auf eine frühe Warnutopie, den Roman Schwarze Spiegel von Arno Schmidt. Dieser Text wird auch in Kapitel 5.7 mit Fokus auf Abfälle befragt.

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In Schenzingers Roman heißt es, wie Pat Meier zitiert, wenn sie ins Jahr 1865 springt, dass »ein sentimentaler Gärtner namens Klingele mit der kleinbürgerlichen Verhinderung des nationalen Fortschritts namens BASF droht, indem er dummdreist von der Dreckküche des Herrn Engelhorn tönt, und daß seine Kohlköpfe wohl demnächst nach Schwefel schmecken würden, nach Chlor sein allseits so gerühmter Apfelwein.« (MeiT 96f.) Im Fortgang des Textes von Schenzinger, immer wieder unterbrochen von den Kommentaren Pat Meiers, kommt es zu einer Diskussion zwischen dem fortschrittsgewandten Bürgermeister und Klingele, hier wird die Wichtigkeit der Chemiefabrik als Wirtschaftsfaktor offenbar: »Herr Engelhorn ist ein Mann mit geradezu genialem Geschäftsgeist. Er sagt sich, die Teerfarben sind eine deutsche Erfindung, aber es gibt nicht eine deutsche Fabrik, die sie ausnützt. Dagegen schießen im Ausland die Farbenfabriken wie Pilze aus der Erde, und da müsse endlich etwas unternommen werden.« (MeiT, 97) Während Herr Klingele also als rückständiger, als die deutsche Wirtschaft schädigender Kleingeist dargestellt wird, zeigt der Plot auch, wie sehr die Regionalgeschichte der Rhein-Neckar-Region mit größeren Geschichten verknüpft ist, die auch Geschichten von länderübergreifenden Kontaminationen sind. Tomboy stellt nicht nur, vermittelt über die Beobachtungen oder Erinnerungen einzelner Figuren und über einen historischen Text, noch dazu von einem Schriftsteller wie Schenzinger, der sich in den Dienst des Nationalsozialismus stellte, Verschmutzungen und Beschädigungen dar. Der Roman zeigt auch die Gewinne der neuen Möglichkeiten, die Überwindung von alten Konzepten, das Schaffen von Neuem – auch durch die chemische Industrie. Tomboy ist somit keine Warnliteratur; auch die Harmonie, die etwa Rachel Carson heraufbeschwört, gibt es hier nicht, weder in der Erzählgegenwart noch in der erzählten Vergangenheit gab es sie. Lässt sich in Bezug auf Tomboy vielleicht stattdessen das ausmachen, was Keith Bullivant und Bernhard Spies in ihrer Einleitung des Bandes Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert literarischen Texten, etwa denen von Christa Wolf, Arno Schmidt oder Günter Grass, bescheinigen?377 Ob Meineckes Text tatsächlich ein solches, vielleicht gar ökologisch motiviertes, Krisenbewusstsein aufweist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die ökologischen Folgen menschlichen Handelns bleiben im Hintergrund. Dennoch sind sie da. Die Veränderungen von klimatischen Bedingungen durch Industrieemissionen, die von Vivian konstatiert werden (MeiT, 173) sowie die durch die Industrie verursachten Geruchsbelästigungen (MeiT, 35) finden so kurz Erwähnung.378 Auch die bereits näher in den Blick genommene Nylonstrumpfhose, dies als Randbemerkung, galt nach der Verschlechterung ihrer Qualität als Parameter zur Ermittlung von Luftverschmutzung, wie Reuß und Dannowitzer zeigen: »Ihre spezielle Zusammensetzung machte sie als Detektoren für Luftverpestung offenbar genauso wertvoll wie Kanarienvögel für den Untertage-Bergbau: Im März 1952 berichtete der New Yorker von einer auffälligen Laufmaschenhäufung rund um die

377 Vgl. Bullivant/Spies 2001. 378 Zu Luftverschmutzung durch Emissionen vgl. den Eintrag von Mauricio Leandro in Zimring/Rathje 2012a. Leandro zeichnet die ökologischen Implikationen von Verschmutzung durch Kohlenmonoxide oder Schwefeldioxide nach und widmet sich ebenfalls der Rolle von Treibhausgasen im Klimawandel (vgl. Leandro 2012, 225f.).

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Penn Station. Nachfragen bei DuPont ergaben, dass Nylons sich bei erhöhtem Rußgehalt der Luft aufzulösen beginnen.«379 Neben den toxischen Verbindungen zwischen Farben- und Kriegsindustrie gibt es in Meineckes Text immer wieder Hinweise auf die Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre. Im Rahmen der Pat Meier-Lesung wird auch Stadtguerilla und Klassenkampf erwähnt, ein Text der Roten Armee Fraktion aus dem Jahr 1972. Ein, wie Meier findet, »Supertext der RAF« (MeiT, 98), in dem es auch um die Verstrickungen der Chemieindustrie geht. So heißt es darin, wie Meier paraphrasiert: »Konzerne und Staat; die westdeutsche Innen- und Außenpolitik als Innen- und Außenpolitik der Konzerne; die multinationale Organisation der Konzerne und die nationale Beschränktheit des Proletariats; […].« (MeiT, 97f.) Chemie- und Kunststoff-Kritik wird, wie Andrea Westermann am Beispiel des tatsächlich existierenden Heidelberger Kollektivs zeigt – auch hier findet sich eine Verbindung zum Setting von Tomboy – ist häufig verknüpft mit einer generellen Kapitalismus- und Staatskritik: »Im neulinken Spektrum war es auch möglich, sich gegen die eindringliche Anrufung individueller Verantwortung zu bewahren. Ein ›Heidelberger Kollektiv‹ sah darin eine ›Kollektivschuldthese zur Vernebelung der ökonomisch-gesellschaftlichen Ursachen‹, hinter der Kalkül stecke.«380 Dabei seien es vor allem auch die Plastikverpackungen, die auch werbewirksame Hüllen sind, die zur ökologischen Katastrophe und zur Bereicherung von Konzernen beitrügen, wie es in der Einschätzung des Kollektivs heißt: »›Einwegflaschen (›ex und hop‹)‹ schädigten die Umwelt, ließen aber die Kassen der Unternehmer noch lauter klingeln, so die These des Kollektivs zum ›Profitschmutz und Umweltschutz in der Bundesrepublik‹ 1973.«381 Ob Pat Meier zur (Öko-)Terroristin wird, bleibt offen.382 Pat Meiers Privatlesung endet mit Bloch-Zitaten (vgl. MeiT, 100). Gilt also in Bezug auf die Anerkennung von Gefahren der Chemieindustrie, aber auch hinsichtlich der Beschäftigung mit ihren toxischen historischen Verbindungen das Prinzip Hoffnung? Die Lesung hat jedenfalls für die Figuren in Tomboy Auswirkungen. Während Petersen zunächst weiter die positiven Errungenschaften dieser Industrie herausstellt, so finden sich seine Ausführungen zu den zivilisatorischen Errungenschaften der chemischen Industrie und die Plastiklisten in der Chronologie des Romans zeitlich nach der von Meier organisierten Lesung, verändert sich Vivians Blick auf die Dinge. In ihrer Magisterarbeit wird die toxische Verbindung zwischen Chemieindustrie und Zwangsarbeit später im Text noch einmal über eine Recherchenotiz von Vivian hergestellt. Nachdem sie bei Petersen klingelt, um ihn nach Werbeanzeigen der BASF aus den 1960er Jahren zu fragen, in denen »die damals brandneuen Kunststoffe der BASF auf weiblicher Haut angepriesen würden« (MeiT, 156), heißt es später bei der Sichtung ihrer Notizen zu eben dieser Kombination von Haut und Kunstfaser: »Im August-Heft der Zeitschrift konkret hatte Otto Kühler geschrieben, das Bunau-Werk in Auschwitz sei 1941 vom Ludwigshafener BASF-Standort aus geplant worden: Außerordentlich schöne Landschaft, im

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Reuß/Dannoritzer 2013, 65. Westermann 2007, 310. Westermann 2007, 310. Dies versucht Thomas Ernst plausibel zu machen, vgl. Ernst 2008, besonders 121-124.

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Süden des Ortes ein Konzentrationslager mit zwanzigtausend jüdischen Arbeitskräften.« (MeiT, 157) Die bereits zitierte Textpassage zum bundesdeutschen Wohnzimmer der 1950er Jahre verweist noch einmal auf Schenzinger und die Zusammenführung von Kunststoffproduktion und völkischem Nationalismus: »Petersen hatte diese Abbildung […] aus einem bald zwanzig Jahre alten, offenbar eher nostalgisch als analytisch angelegten Buch namens Die Pubertät der Republik herauskopiert« (MeiT, 192), weil es »möglicherweise interessant [ist] als quasi entnazifiziertes Nachspiel auf den unheilschwangeren Karl Aloys Schenzinger, nämlich dessen und seiner Gleichgesinnten Idee von der mobilmachenden Gewinnung nationaler Kunststoffe« (MeiT, 192). Auch die »Kontinuität des Dritten Reiches während der florierenden Bundesrepublik« (MeiT, 192) wird angesprochen, vermittelt durch die von Pat Meier ikonisierte Beate Klarsfeld, die 1968 Bundeskanzler Kiesinger ohrfeigte (MeiT, 193). Ob generell, vor allem vor dem Hintergrund der Verbindungen, die im Text zwischen Kunststoffen und Nationalismus, Ausbeutung und Nationalsozialismus hergestellt werden, von einer Kontinuität des Dritten Reiches gesprochen werden kann, lässt Tomboy offen. Hinsichtlich der Figur Bodo Petersen ist zuletzt eine, recht überraschende, Transformation zu konstatieren. In einer unvermuteten Plotentwicklung, eine der wenigen im Roman überhaupt, kommt es zu einer Vereinigung zwischen Pat Meier und Bodo Petersen, zumindest wird eine solche angedeutet. Kann die Liaison zwischen dem BASFChemiker Petersen und der Aktivistin oder, je nach Lesart, auch paranoiden Verschwörungstheoretikerin Meier als Verbindung zwischen den utopischen und den dystopischen Seiten der Chemieindustrie interpretiert werden? Ist die Verbindung der beiden Seiten, so lässt sich fragen, möglich? Der Roman gibt darauf keine eindeutige Antwort: So wie die Gefahren, die toxischen Verbindungen, weitestgehend unsichtbar bleiben und herausgearbeitet werden müssen, bleibt auch die Verbindung zwischen Meier und Petersen vage. Sie endet, das impliziert der Text, mit einer Verhaftung oder zumindest eine Hausdurchsuchung bei den beiden (vgl. MeiT, 251).383 Ob wegen Werksspionage, wegen Ladendiebstahls oder aus anderen Gründen, bleibt offen. Im symbolträchtigen Kleidungsstück des Bikinis (der auch auf dem Cover abgebildet ist384 ) schließlich manifestieren sich die im Roman stets miteinander korrespondierenden Themen Konsum und Mode, die Verbindungen von Möglichkeit und Gefahr, der Fortschritt, der ebenfalls in einer tödlichen, einer kontaminierten, einer toxischen Verbindung kulminiert: Die Studentin schloß ihre Wohnungstür hinter sich, trat an eine geflochtene Kleiderkiste und zog den einzigen Bikini, den sie besaß, heraus. Die eigentümliche verbale Gleichsetzung von militärischer Atombomben-Zündung und modeschöpferischer

383 Vgl. hierzu Ernst 2008, 123. 384 Bei der Coverabbildung handelt es sich, wie es in der Titelei heißt, um die Zeichnung Tomboy von Michaela Melián (vgl. MeiT, [4, ohne Paginierung]). Feiereisen 2011 stellt eine Verbindung her zwischen dem Titelbild und dem in Tomboy immer wieder auftauchenden Musikthema, wenn sie schreibt: »Der Bikini ist […] Kleidungsstück und gleichzeitig eine Referenz auf Vivians Lieblingsband Bikini Kill und so auch wieder ein Sample aus dem Universum der Musik.« (Feiereisen 2011, 115)

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Markierung weiblicher Körperlichkeit durch Louis Reard, den Erfinder des knappen, zweiteiligen, die generativen Leibesinseln junger Frauen in sowohl ent- als auch verhüllender Strategie ausstellenden Badeanzugs, erregt abermals ihren Argwohn. Reard hatte seinen Fummel der westlichen Öffentlichkeit, Korinna Kohns Aufzeichnungen zufolge, 1946, nur vier Tage nach dem ersten von unzähligen verheerenden Atomversuchen, welche die USA über dem unschuldigen Bikini-Atoll durchführten, vorgestellt, und zwar namentlich vorgestellt als le bikini, wodurch die bombardierte SüdseeInselgruppe zusätzlich kolonisiert, nämlich sprachlich besetzt worden war. (MeiT, 75f.) Am Beispiel des Bikinis werden nach einer Erwähnung der Produktgeschichte Verbindungen zum Kolonialismus hergestellt, die gemeinhin in Vergessenheit geraten sind. Auch Fritz W. Kramer weist im Vorwort seiner Untersuchung Bikini. Atomares Testgebiet im Pazifik auf die vergessene Bedeutung hin: »An Gegenständen des täglichen Gebrauchs verliert sich die Spur ihrer Herkunft, auch ihre Symbolik spaltet sich vom historischen Bewußtsein ab. So läßt uns das Wort Bikini an Schwimmbäder und sommerliche Strände denken; die Erinnerung an das Versuchsgelände, das bei der Namensgebung des minimalistischen Kleidungsstücks Pate stand, ist darin aufgehoben.«385 Vivian zieht aus dieser Verbindung Konsequenzen. Ihr Bikini landet im Abfalleimer (MeiT, 76). Im Bikini verbinden sich erneut geopolitische Interessen mit wissenschaftlichen Errungenschaften. Die Insel ist somit nicht nur ein Experimentierfeld für Utopien, sondern auch Ort der Ausbeutung von Menschen und Ökosystemen. Judith Schalansky weist in ihrem Insel-Atlas auf das tödliche Potenzial von nationalem Machtstreben hin. Dort heißt es im Eintrag zu einem anderen Ort, der Insel Fangataufa bzw. dem TuamotoArchipel, wie das Bikini-Atoll ebenfalls im Pazifischen Ozean zu finden: »Die Kolonien sind verteilt, zwei Weltkriege gewonnen. Um eine Großmacht zu werden, braucht man die Bombe.«386 Während in der Bikini-Passage die Atombombe sowie die Absurdität, ein Kleidungsstück nach einem Atombombentestgebiet zu benennen, im Zentrum stehen, taucht auch die sogenannte friedliche Nutzung387 der Kerntechnik im Roman auf: Das Atomkraftwerk Biblis wird bei einer Zugfahrt gestreift (vgl. MeiT, 55), in einer Textstelle wird die Hauptfigur Vivian mit dem Standort langjähriger Querelen der deutschen Atomindustrie in Verbindung gebracht (»Nur einmal hatte Vivian ihre Großmutter in Hanau besucht, einer faszinierend trostlosen Stadt, deren atomindustrielle Betriebe sie immer wieder in die Schlagzeilen brachten.« MeiT, 45), an anderer Stellte betrachtet Vivian mit ihrem Nachbarn Petersen auf einem Aussichtsturm »die BASF […], rechts

385 Kramer 2000, 7. 386 Die Bombe teilt die Welt in ein Vorher und Nachher – und verwandelt das Leben auf der Insel in Tod, wie Schalansky weiter schreibt: »In den Himmel wächst eine gigantische Wolke mit einem gedrechselten Schweif aus gesprengtem Wasserdampf. Die Druckwelle wandert nach außen, wirft ihren ringförmigen Schatten auf die Lagune, das Atoll, die See und drängt den Ozean mit einer Flutwelle gen Horizont.//Danach ist nichts mehr da. Keine Häuser, keine Anlagen, keine Bäume, gar nichts. Die ganze Insel wird wegen der radioaktiven Verseuchung evakuiert. Sechs Jahre lang darf Fangataufa von niemandem mehr betreten werden.« (Schalansky 2009, 80) 387 Radkau/Hahn 2013 zeigen, dass der Ausgangspunkt der ›friedlichen Nutzung‹ der Nukleartechnik die Kernwaffe war und blieb (vgl. Radkau/Hahn 2013, 58).

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und links davon die monumentalen Kühltürme der Kernkraftwerke Biblis und Philippsburg, vor deren jeweils größtem anzunehmenden Unfall er [Petersen, CHG] sich unbändig fürchtete […].« (MeiT, 69)388 Ebenso steht Karlsruhe, in Tomboy evoziert durch die von dort stammende Richtertochter Korinna und eines Ausflugs zum Konzert der dort spielenden Band Sleater-Kinney für einen Kristallisationsort der deutschen (zivilen) Atomgeschichte.389 Zuletzt verfolgte auch die BASF ab dem Jahr 1967 fast ein Jahrzehnt Pläne, ein Atomkraftwerk auf dem Werksgelände zu errichten.390 Die Debatte um den Bau wurde in der Bundesrepublik zu einer Debatte um die generelle Sicherheit von Kernkraftwerken sowie die Frage, ob ein solches Kraftwerk in der Nähe von Ballungsgebieten betrieben werden darf.391 Sind diese Diskussionen, ähnlich wie die, die im Zusammenhang von Standorten von Mülldeponien geführt wurden, ein Ausdruck der NIMBY-Logik? Oder zeugen sie von einer generellen Kritik an einer risikoreichen Technik, deren Hinterlassenschaften, deren Abfälle und Folgen die Menschen auch in den nächsten Generationen noch beschäftigen werden?392 Tomboy stellt bezüglich dieser Fragen keine Antworten bereit. Resümierend lässt sich festhalten: Im gesamten Roman werden über und mit dem Stoff Plastik Verbindungen hergestellt. Der Prozess der Synthese findet sich in den Möglichkeiten, aus Ausgangsprodukten Neues entstehen zu lassen und beschreibt zugleich das Verfahren des Romans. Zugleich schimmern immer wieder die Gefahren, die Kehrseiten dieser Möglichkeiten durch – oder werden von einzelnen Figuren hergestellt bzw. ausgearbeitet. In den Analysen der Texte Brinkmanns und Pareis wurde gezeigt, wie Landschaft und Naturmaterialien wie Holz als Gegenentwürfe zu einer als kalt und standardisiert wirkenden Plastikwelt gezeichnet werden. Wie verhält es sich in Tomboy mit diesen Gegenentwürfen? Was ist überhaupt Natur? Bereits der Steinbruch als Symbol eines vom Menschen genutzten, herausgehauenen Naturmaterials wirft diese Frage auf. Eindeutiger scheint, mit Rekurs auf die Theorien Butlers, die Bewertung des menschlichen Körpers auszufallen. Der Körper, die Geschlechtlichkeit wird in Tomboy nicht als Natur, sondern als Kunst-stoff gezeigt. Weitere, scheinbar natürliche Grenzen des Körpers werden mit Hilfe von Prothesen überwunden. Tomboy zeigt auch: Das Walten und Gestalten des Menschen macht auch vor dem Menschen selbst nicht halt. Barthes schreibt zu Plastik: »Die Hierarchie der Substanzen ist zerstört, eine einzige ersetzt sie alle: die

388 Zur Bombe und zur radioaktiven Verseuchung sowie zu radioaktiven Abfällen vgl. auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 389 Vgl. hierzu beispielsweise Hoffmann 2006. 390 Vgl. Radkau/Hahn 2013, 263. 391 Zur Geschichte des Projekts vgl. Radkau/Hahn 2013, 263-270. Die Pläne der BASF wurden jedenfalls 1976 ad acta gelegt. Zur Diskussion um Kerntechnik und radioaktivem Abfall vgl. auch Kapitel 6 dieser Arbeit. Zu Kernkraftwerken und Abfällen vgl. auch den Eintrag von Bill Kte’pi in Zimring/Rathje 2012b. Kte’pi erklärt, wie eine neue Generation von Reaktoren mit dem Ziel konstruiert würde, Abfälle zu minimieren: »Goals of the Generation IV include minimized waste and natural resource consumption, maximum safety, and a plant model that ist not prohibitively expensive to build or to operate.« (Kte’pi 2012a, 617) 392 Zu diesen Fragen vgl. ebenfalls Kapitel 6.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

ganze Welt kann plastifiziert werden, und sogar das Lebendige selbst, denn, wie es scheint, beginnt man schon Aorten aus Plastik herzustellen.«393 Die Bemerkung Barthesʼ über eine mögliche Überwindung der Grenzen von Leben und Tod, die die Natur setzt, findet in Don DeLillos Underworld ein Pendant, wenn gegen Ende des Romans berichtet wird, dass synthetische Exkremente hergestellt werden, um Marktforschung zu betreiben. Diese synthetischen Körperabfälle sind gereinigte, cleane Versionen des schmutzigen, tabuisierten, gefährlichen Abfalls: »They are making synthetic feces in Dallas. They have perfected a form of simulated human waste in order to test diapers and other protective garments. The compound comes in a dry mix made of starches, fibers, resins, gelatins and polyvinyls. You add water for desired consistency. The color is usually brown.« (DeLU, 805)394 Auch Tomboy präsentiert ein solches Pendant: Eine Passage, in der die umstrittene Ausstellung Körperwelten im Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit Erwähnung findet, verweist ebenfalls auf die mögliche Überwindung der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind. Vivian wird zur Ausstellung von ihrem – im Text namenlosen – Professor und Betreuer ihrer Magisterarbeit mit folgenden Worten eingeladen: Tote Menschen, Frau Atkinson, sind dort zu besichtigen, fragmentiert, doch keinesfalls erlöst, dafür konserviert wie noch nie dagewesen, mit Hilfe eines hier an der Heidelberger Universität entwickelten Vakuumverfahrens, bei dem die Körperflüssigkeiten durch Spezialkunststoffe ersetzt werden. (MeiT, 248) Spezialkunststoffe – das lässt aufhorchen. Tatsächlich handelt es sich bei dem von Gunter von Hagens erfundenen Plastinationsverfahren um einen Transformationsprozess: Wasser und Fette im Leichnam werden durch Silikonkautschuk, Epoxid- oder Polyesterharz ersetzt.395 Nachfolgend beschreibt Vivians Professor die Folgen des Verfahrens der Plastifizierung und erwähnt Details der Präsentation: Alle Körperzellen, auch ihre Struktur, seien in ihrer ursprünglichen Form, nämlich jener zu Lebzeiten, erhalten geblieben, die ausgestellten Präparate, nach Körperfunktionen geordnet, vom Bewegungsapparat über den Blutkreislauf bis zur Entwicklung des Menschen im Mutterleib, Frau Atkinson, nach der konservierenden Behandlung geruchsfrei und trocken geblieben, im wahrsten Sinne des Worts begreifbar. Einige Exponate seien tatsächlich zur Berührung freigegeben; das müsse man sich einmal vorstellen. (MeiT, 248f.) Besonders der Begriff der Begreifbarkeit ist in der Textpassage bedeutsam: Wie die Kunststoffe, die, nach Barthes, Spuren von Bewegungen sind und deshalb erst einmal wenig greifbar, bleibt auch der Tod zunächst un(be)greifbar. Anhand der Diskussionen über die Ausstellung lassen sich die in dieser Arbeit vielfach verhandelten Fragen noch einmal stellen. So heißt es in einer kritischen Auseinandersetzung, der tote menschliche Körper würde zum Werkstoff degradiert: »Der Leichnam ist bei von Hagens zwei-

393 Barthes 2006, 81. 394 Vgl. zur Textstelle auch McGowan 2005, 141 und Keskinen 2000, 72. 395 Vgl. Wetz/Tag 2001b, 8.

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fellos zum Arbeitsmaterial geworden, Marmor oder Farbe gleich.«396 Von Hagens selbst schreibt zum Verfahren: »Mit den Gestaltplastinaten erhält der Tod ein neues Gesicht. Er erhält eine Realitätsnähe, die der Vorstellung vom Tod eine besondere Versöhnlichkeit gibt.«397 Während von Hagens in seiner Darstellung die aufklärerischen Aspekte der Ausstellung betont, lesen Andere sie vor allem als Ausdruck einer Kommerzialisierung des Todes, als Traum vom Sieg gegen den Tod, aber auch Ausdruck einer Thanatopolitik, also eines (Ver-)Waltens, das nicht, wie die Biopolitik, auf das Leben, sondern auf den Tod abzielt.398 Noch ein weiterer Punkt erhält im Rahmen von Körperwelten Relevanz: Gefühle des Ekels. Führte in den wenigsten Texten die Konfrontation mit Plastikdingen und Kunststoffen zu Ekelgefühlen, zeigt auch die bereits zitierte Einleitung des Sammelbandes zur Körperwelten-Ausstellung, wie sogar aus einem Leichnam eine cleane Angelegenheit gemacht wird: »Durch Plastination ist es erstmals möglich, das natürliche Oberflächenrelief des gesamten Körpers sowie dessen Organe bis in die einzelnen Gewebezellen lebensecht, trocken, geruchs- und keimfrei sowie auf optisch ansprechende Weise zu erhalten.«399 Generell lässt sich das Verfahren der Plastinierung als eine Manifestation des Traums gegen Verfall und Tod lesen. Die Zergliederung des Körpers und die Diskussionen darüber hängen, wie Franz Josef Wetz und Brigitte Tag in ihrer Einleitung zu einem Körperwelten-Sammelband formulieren, eng mit »menschlichen Phantasien, Ängsten und unbewußten Wünschen«400 zusammen. Phantasien, Ängste und Wünsche, die sich auch im Stoff Plastik materialisieren. So kann der von Monika Wagner geäußerten These widersprochen werden, dass die utopischen Elemente von Kunststoffen nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Null gingen. Zugleich werden im Zusammenhang mit Körperwelten weniger Gefühle des Ekels, eher des Schauderns wirksam.401 Ähnlich wie die von Frank Degler analysierten Rückführungen der abgestoßenen Körperflüssigkeiten, etwa das Trinken von Erbrochenem oder Urin, zu Ekel führen, kann die Begegnung mit den plastinierten Körpern, die immer noch tote Körper sind, zu Ekelgefühlen führen. In Tomboy bleibt Ekel im Zusammenhang mit der Körperwelten-Ausstellung aus. Dennoch findet sich eine Textstelle, in der die Begegnung mit Plastikdingen solche Ekelgefühle auslöst – allerdings wird von diesem Ekel nur in einer Meldung berichtet, über die sich Vivian und Korinna am Telefon unterhalten. Es handelt sich um einen Artikel in der Tageszeitung über einen US-Amerikaner, der auf einen Hamburger beißt, welcher versehentlich mit einem Kondom belegt ist und darauf kaut, weil er es für eine eingelegte Gurke hält (vgl. MeiT, 132). Durch den Wechsel der Sphären vom Schutz vor ausgestoßenen Körperflüssigkeiten hin zu einer Rückkehr zu – einem anderen – Körper, durch die Kombination aus essbaren und nicht

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Bergdolt 2001, 206. Hagens 2001, 61. Vgl. verschiedenen Positionen in Wetz/Tag 2001a. Wetz/Tag 2001b, 8. Beide betonen auch den Unterschied zu älteren Erhaltungsverfahren, etwa der Mumifizierung oder, ab Ende des 19. Jahrhunderts, die Konservierung von Organen mithilfe des Stoffes Formalin, der die »Präparate naß, übelriechend und grau« (Wetz/Tag 2001b, 8) hinterlassen hätte (vgl. Wetz/Tag 2001b, 8). 400 Wetz/Tag 2001b, 15. 401 Zum diesem Aspekt vgl. Wetz 2001, 107-109.

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

zum Verzehr geeigneten Stoffen kommt es zu einer körperlichen Abwehrreaktion, die ebenfalls in der Meldung verzeichnet ist: »Auf die schließliche Entdeckung hin, daß er die ganze Zeit auf einem schnöden Kunststoff-Präservativ herumgebissen hatte, war ihm extrem übel geworden.« (MeiT, 132) Zuletzt ein Blick auf die Frage: Wie endet der Text? Der Romantext bricht einfach ab, die letzten Sätze implizieren weitere Handlungen, etwa einen Besuch in einer Mannheimer Diskothek (vgl. MeiT, 251), die jedoch unerzählt bleiben. Generell kommt es innerhalb des Textes nicht zur Präsentation einer Lösung, eines Endes oder Abschlusses, sondern eher zu einem Prozess der Ablösung, der jedoch ins Unendliche weitergetragen wird. Fast als beendet bezeichnet wird Vivians Magisterarbeit – die allerdings in ihrer endgültigen Form nur aus Fragen besteht. Antworten gibt es keine. Auch hinsichtlich der Frage nach der Bewertung von Kunststoffen, ihrer Abfälligkeit, bleiben die Ambivalenzen bestehen. Dabei ist der Roman mehr als nur Archiv: Bewahrendes Erzählen wird hier abgelöst von kontaminiertem Erzählen. Dies meint in Tomboy ein Erzählen über die Verweigerungen von Stoffen zu verschwinden. Das Erzählmotiv Meineckes korrespondiert mit dem Erzählgegenstand bzw. dem Erzählstoff Kunststoff. POP ist nicht nur der Kurzbegriff für popular bzw. Populär(kultur) oder das englische Akronym für langlebige organische Schadstoffe, sondern POP bezeichnet in der IT-Sprache auch den point of presence, einen Knoten- oder Zugriffspunkt.402 Dieser ist physischer Knoten für eine Verbindung in ein Datennetzwerk und versorgt den Endverbraucher mit Datenpaketen. Welche Daten werden in Tomboy übermittelt? Der Text greift auf im Alltag Unbegreifliches zu, wenn er dreierlei große Geschichten in Bezug auf Kunststoffe erzählt. Geschichten, die sich rhizomatisch in viele weitere Geschichten verzweigen: Er erzählt von Synthesen und Möglichkeiten, die durch neue Verbindungen entstehen können. In neuen Körpern zeigt sich der Wunsch, Leben zu gestalten – und zuletzt gar der Wunsch, Unsterblichkeit zu erlangen. Die Kehrseiten dieser Verbindungen, die auch toxische Verbindungen sein können, werden jedoch nicht verschwiegen. Obgleich: Die Verbindungen, die im Text über Kunststoffe hergestellt werden, sind zwar vorhanden. Zugleich werden sie, auch von der Forschung, größtenteils übersehen. Dass sie nicht gesehen werden (wollen), liegt vielleicht auch an der Fähigkeit des Kunststoffs, uns in die von ihm, und freilich auch der dahinter stehenden Industrie, evozierten und produzierten Träume einzuhüllen. Einzuhüllen, bis nicht nur die Figuren in den analysierten Texten, sondern auch wir verpackt sind wie eines von Christos Gebäuden – und die Abfälle, die uns umgeben, die Entsorgungsaufforderungen, die in Dinge eingeschrieben sind, nicht sehen können.

5.7

Alles ist Abfall, nichts ist Abfall: Arno Schmidts Schwarze Spiegel und ein Erzählen über das Ende des Erzählens

Gehörten die Abfälle, die im Fokus der Kapitel zum bewahrenden und zum ruinösen Erzählen standen, noch zum Alltag der Menschen, waren zwar mitunter gefährlich, aber dennoch zeitlich und räumlich begrenzt, veränderten sich die Abfälle grundlegend mit 402 Vgl. IT-Wissen 2014, ohne Paginierung.

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neuen Stoffen und neuen Möglichkeiten. Während bereits in Bezug auf Kunststoffe, die prominent in diesem fünften Kapitel behandelt wurden, Entgrenzungen zu konstatieren sind, potenziert sich diese Entgrenzung in Bezug auf Giftmüll und radioaktive Abfälle. Volker Grassmuck und Christian Unverzagt versuchen den signifikanten Unterschied zwischen herkömmlichen Abfällen, etwa Schrott, und entgrenzten Abfällen zu fassen. Während im Schrott, wie sie feststellen, »das Altern der Dinge, ihr vorzeitiges Altern im Verhältnis zu ihrer Materialdauer«403 offenbar würde, zeige sich im Giftund Atommüll »ein Nicht-vergehen-wollen der Dinge«404 . Gift- und Atommüll zeigen uns, »wie wenig die Macht, Dinge zu schaffen, wert ist, wenn man sie nicht auch selbst wieder verschwinden lassen kann.«405 In der Analyse von Tomboy wurden die Bezüge zu den Atomtests auf dem BikiniAtoll, die für die deutsche Kerntechnikgeschichte bedeutsamen Orte Karlsruhe und Hanau und die Nennung der Kernkraftwerke Biblis und Philippsburg herausgestellt. Diese Bezüge stehen für die militärische wie auch die sogenannte zivile Nutzung der Technik. Historiker wie Joachim Radkau oder Holger Nehring zeigen, dass beides nicht klar voneinander zu trennen ist.406 Das Element Plutonium verbindet die Atombombe mit der Kerntechnik.407 Beide verbindet ebenfalls, wie Nehring herausarbeitet, die Furcht vor Kontamination.408 In den 1950er und 1960er Jahren manifestierte sich dies besonders in der Bedrohung durch die Folgen von Atomwaffentests. Die Angst vor dem radioaktiven Fallout, etwa bei den Tests im Pazifik, dem die Menschen scheinbar hilflos ausgesetzt sind, führte zu Widerstand gegen die Nukleartechnik.409 Als, wie Radkau beschreibt, ein japanisches Fischerboot im Jahr 1954 in den Fallout einer US-amerikanischen Wasserstoffbombe kam,410 beschwor das Schicksal des Bootes zusammen mit den zirkulierenden Bildern der Folgen des Atombombenabwurfs von Hiroshima das Bild einer bevorstehenden atomaren Apokalypse herauf: »Da erkannte man, daß das atomare Unheil kein einmaliges und örtlich begrenztes Ereignis war, sondern eine dauernde Gefahr, die alle bedrohte, ja selbst künftige Generationen.«411 Besonders die mögliche Kontamination von Nahrungsmitteln besorgte die Menschen, verstärkt durch die Befürchtung, Radioaktivität könnte sich in der Nahrungskette ablagern und den Menschen nachhaltig schädigen.412 Der Fallout, aber auch die Bedrohung von Nahrung verkörperte die räumliche und zeitliche Entgrenzung von Kontamination. Zugleich war in den 1950er Jahren, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, die Angst

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Grassmuck/Unverzagt 1991, 233. Grassmuck/Unverzagt 1991, 234. Grassmuck/Unverzagt 1991, 234. Vgl. Radkau/Hahn 2013, besonders 56-78 und Nehring 2004, 167-169. Vgl. Radkau/Hahn 2013, besonders die Darstellungen zu den 1950er Jahren (56-123). Vgl. Nehring 2004, 155. Vgl. Nehring 2004, 153-155, der sich besonders auf Großbritannien und Deutschland bezieht. Vgl. Radkau 2000, 299f. und Nehring 2004, 155. Radkau 2000, 300. Vgl. Radkau 2000, 302. Holger Nehring schreibt hierzu: »The growing perceptions of the dangers of radioactivity in the air increasingly found expression in worries about radioactive fall-out from the bomb tests in the Pacific reaching Europe and, especially, about Strontium-90 in milk.« (Nehring 2004, 156)

5. Stoffe: Von Inseln und Schiffen, von Kunststoffen und Kontaminationen

vor einem Weltkrieg virulent, der als Atomkrieg die Auslöschung der gesamten Menschheit bedeuten konnte. Menschen hatten eine Technik geschaffen, die in der Lage war, die gesamte Menschheit zu vernichten.413 Eine Angst, die im Verlauf der 1970er Jahre abnahm und durch ein verstärktes Sicherheitsbedürfnis während des Kalten Krieges zu einem atomaren Wettrüsten in den USA und der UdSSR führte. Dennoch existieren Kontinuitäten von der Anti-Atomwaffenbewegung zur Ökologiebewegung, die Joachim Radkau herausgearbeitet hat. Das Bedrohungspotenzial über Raum und Zeit hinweg wird zum Leitmotiv einer Kritik der zivilen Nutzung der Kerntechnik. Die Angst vor der atomaren Apokalypse – beziehungsweise auch die Instrumentalisierung von Katastrophenszenarien, die Radkau durchaus kritisch kommentiert414 – koppelte sich im Bewusstsein der Menschen an eine neue Bedrohung, die das Individuum betraf: die Angst vor einer durch Radioaktivität ausgelösten Krebserkrankung.415 Allen Bedrohungsformen durch Radioaktivität – die durch Krieg, durch Verseuchung und durch Unfälle – ist das Moment der Entgrenzung gemein. Alle Bedrohungen sind zudem mit Abfällen verbunden. Während das nachfolgende Kapitel 6 radioaktive Abfälle und das Erzählen darüber in den Blick nimmt, sind die Abfälle, die zunächst im Fokus stehen, auf andere Weise Folgen des Atomzeitalters. Eine Erzählung widmet sich diesen Folgen: Arno Schmidts frühe Erzählung Schwarze Spiegel (1951).416 Zu Schwarze Spiegel existiert umfangreiche Sekundärliteratur. Besonders zwei Handbücher, die beide im Jahr 2009 publiziert wurden, sind zu nennen: Niemand. Ein kommentierendes Handbuch zu Arno Schmidts »Schwarze Spiegel« von Heinrich Schwier417 sowie das von Lutz Hagestedt und André Kischel verfasste Herr der Welt. Kommentierendes Handbuch zu Arno Schmidts Schwarze Spiegel418 . Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Verweise, verschlüsselte und rätselhafte Verbindungen auf- und auszuführen.419 Besonders in diesem Kapitel zu utopischem, synthetisierendem, kontaminiertem Erzählen, zu Kunststoffen und Entgrenzungen soll eine andere Frage im Mittelpunkt stehen: Wie macht das Erzählen radioaktiver Kontamination das Erzählen selbst zum Abfall? Aus der Zeit der Atombombentests stammt der Text Arno Schmidts, der nicht unbedingt zur ökologischen Warnliteratur, generell aber durchaus dem Genre der Warnliteratur bzw. Warnutopie420 , sicherlich jedoch dem Genre der Weltuntergangsphantasien

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Dies auch das Grundthema von Günther Andersʼ Nachdenken über die Atombombe (vgl. Anders 1994, 233-306). Vgl. Radkau 2000, 305. Vgl. Radkau 2000, 300. Radkau interpretiert die zirkulierende Krebsangst als eine Spielart einer neuen Welle von Krankheitsängsten, die sich seit den 1960er Jahren vor allem auf Krebs fokussierte und, wie er herausarbeitet, mit der Sorge um Umwelt und Natur verbunden hat (vgl. Radkau 2000, 300f.). Vgl. Schmidt 1992a, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle ScS und Seitenzahl zitiert. Vgl. Schwier 2009. Hagestedt/Kischel 2009a. So finden sich in beiden Handbüchern unzählige Verweise auf Verbindungen, die der Text herstellt, Zitate, Anspielungen oder mögliche Kontexte – sich gleichwohl bewusst, dass es sich bei der Auflösung und Kommentierung von Referenzen, besonders in Bezug auf Arno Schmidt, um einen unendlichen Prozess handelt (vgl. hierzu Schwier 2009, 5f.). Vgl. Gnüg 2001, 66.

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zugerechnet werden kann. Bereits die Exposition von Schwarze Spiegel ist abfallnah. Fünf Jahre nach der atomaren Katastrophe in Form des Dritten Weltkriegs, die die Menschheit fast vollständig ausgelöscht hat, fährt der letzte Mensch und Ich-Erzähler mit dem Fahrrad durch eine Landschaft. Eine Landschaft, die zum wasteland wurde: »Wie immer : die leeren Schalen der Häuser. Atombomben und Bakterien hatten ganze Arbeit geleistet.« (ScS, 202, Hervorhebung dort) Im Verlauf wird offenbar, dass es zumindest noch einen anderen überlebenden Menschen gibt: Der namenlose Erzähler trifft auf eine Frau. Nachdem sich beide eine Zeitlang zusammentun, trennen sich zuletzt ihre Wege erneut. Das Ende der Menschheit scheint besiegelt. Bereits der Titel der Erzählung mag Aufschluss geben über ihre thematische Ausrichtung, wie Heinrich Schwier vorschlägt: Schwarze Spiegel oder Schwarzspiegel ist ein optisches Instrument, das vor allem die Landschaftsmaler des 17. und 18. Jahrhunderts als Hilfsmittel verwendeten, um daraus die Natur abzubilden. Es handelt sich dabei um eine Linse oder ein einfaches gewölbtes Glas, das, auf der Rückseite geschwärzt, zum Spiegel wird, der Gegenstände wie in einem Weitwinkelobjektiv abbildet. Überschüssiges, blendendes Licht tritt im Schwarzspiegel im Gegensatz zum herkömmlichen Spiegel nicht auf. Auf diese Weise wird dem Maler eine genaue Abbildung der Natur ermöglicht.421 Was wird abgebildet, was wird durch die Erzählung verstärkt? Auch hier macht Schwier einen Vorschlag, nämlich die Erzählung als Abbild der Entwicklung der Menschheit zu betrachten, den »Weg des Menschen vom Jäger, Sammler und Nomaden über den Ackerbauern und Viehzüchter bis hin zum Schriftkundigen und Künstler […], eine Entwicklung, die der Ich-Erzähler als zweiter Robinson und Lederstrumpf nach der Apokalypse erneut durch- und nachlebt.«422 Betrachtet man diese Entwicklung mit Abfällen im Blick, so lässt sich eine Abwärtsbewegung feststellen, die jedoch zugleich eine Maximierung der Abfälle bedeutet. Was ist damit gemeint? Zunächst nehmen die Entwicklungen, die im Verlauf dieser Arbeit gezeichnet wurden, wieder ab. Das Warenhaus, das in Kapitel 2 im Fokus stand, wird zur Ruine: »Ein Baräckchen: ›Gemischtwarenhandlung‹. Da ging ich hinein (vielleicht war doch noch etwas eßbar); aber in dem armseligen Räumchen ruhte auch nur noch der Staub auf giftgelben Bonbons, Kaffee war längst verduftet, die Konservenbüchsen aufgetrieben und zerplatzt (drei mit Rindfleisch steckte ich ein; nachher mal probieren).« (ScS, 205, Hervorhebung dort) Überall findet sich Staub als Zeichen der vergangenen Zeit. Auch die Knotenpunkte der Industrialisierung, das Fabrikgelände und der Bahnhof (vgl. ScS, 211), werden zu Ruinen. Der Alsterdampfer (vgl. ScS, 223) wird zur Geistermaschine. Dieser Prozess der allumfassenden Ruinierung betrifft auch andere Symbole der menschlichen Infrastruktur, die in den vorausgegangen Analysen von Bedeutung waren, etwa das Büro (vgl. ScS, 209). Die Natur, obgleich kontaminiert, holt sich die menschlichen Siedlungen zurück: »Die Trümmer : tischgroße Zementbrocken. Die Wände waren erst nach außen geblasen worden; dann ist das Dach eingefallen; auf dem Hügel wucherte es von Gras und Ampfer, Hirtentaschen und Taubnessel : 421 Schwier 2009, 29. 422 Schwier 2009, 30f.

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hatten sie auch das kleine Ding in die Luft jagen müssen ! » (ScS, 219, Hervorhebung dort) Die Technik wird zur toten Technik.423 Zugleich erinnern die Erkundungen des Protagonisten von Schwarze Spiegel an die Ruinenerkundungen, die Tim Edensor beschreibt. Mit einem signifikanten Unterschied: Erkundungen werden in naher Zukunft, dies impliziert der Text, nicht mehr möglich sein, weil niemand mehr da ist zum Erkunden. Der Staub in den aufgesuchten, nun funktionslosen Gebäuden zeugt von einer absoluten Erstarrung, die im Text nur von den erkundenden Gehbewegungen der letzten Menschen aufgebrochen wird. Wie bereits angeschnitten: Die Erzählung ist gespickt mit zahlreichen Verweisen, die von literarischen Anspielungen, etwa intertextuellen Bezügen auf Adalbert Stifter424 , die Nennung von Heinrich Heine (vgl. ScS, 238) oder »Wieland […], Poe, Hoffmann, Cervantes, Lessing, Tieck, Cooper, Jean Paul« (ScS, 258), bis zur Erwähnung von Gebrauchstexten, beispielsweise des Oetker-Kochbuchs (ScS, 250), reichen. Diese Verweise führen ebenfalls ins Nichts: Wenn alles Ödland ist, wenn alles verseucht ist, dann verweist alles auf nichts – nichts ist Abfall, alles ist Abfall. Literatur kann diese allumfassende Vermüllung vorausahnen – und in all ihrer Unheimlichkeit versuchen zu fassen. So heißt es: »Ob es den Leuten nicht unheimlich dabei war ? … […] wenn sie so diese Zukunftsromane erfanden ?« (ScS, 250, Hervorhebung dort) Die Paradoxie eines jeden Schreibens über den Super-GAU, die atomare Katastrophe, fasst Olaf Briese, indem er auf den grundlegenden Fehler hinweist: In aller Rede über einen Größten Anzunehmenden Unfall steckt bekanntlich mindestens eine elementare Aporie: Über ihn, den GAU, kann im faktischen Sinn nichts gewusst werden. Er entzieht sich dem Wissen, da er sich nie ereignet hat. Und hätte er sich ereignet, wäre menschliches Wissen über ihn nicht produzier- und kommunizierbar, da mit jeglichem humanen Subjekt auch jegliches Wissen verschwände.425 Der GAU muss die endgültige Kapitulation jedes Erzählens sein. Arno Schmidt bedient sich, darauf weist Briese hin, eines populären Kunstgriffs: Er konstruiert einen bzw. zwei letzte Menschen, die noch Bericht erstatten können, die allumfassende Abfallwerdung bezeugen können, indem sie Tagebuch schreiben. Der letzte Mensch, das liegt auf der Hand, hat kein Publikum mehr, an das er oder sie sich wenden kann. Die Katastrophe, von der Schmidts Text Zeugnis ablegt, ist das Resultat einer Entwicklung, in der immer ausgereiftere Artefakte einer mangelhaften Menschheit bzw., im Singular, dem Mangelmenschen gegenüberstehen, der immer wieder auf seinen sterblichen Körper zurückgeworfen wird, wie Jörn Ahrens Günther Andersʼ Konzept

423 Tote Technik ist auch, wie bereits gezeigt, der Titel eines Bandes von Manfred Hamm und Rolf Steinberg, Hamm fotografierte u.a. Atommeiler und aufgegebene Militärstützpunkte (vgl. Hamm/Steinberg 1984). Vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.3 dieser Arbeit. 424 Vgl. zu diesen Bezügen die Erläuterungen in Hagestedt/Kischel 2009a (Stifter ist sechs Mal im Register verzeichnet, vgl. Hagestedt/Kischel 2009a, 331) und Schwier 2009 (Stifter ist sechzehn Mal im Register verzeichnet, vgl. Schwier 2009, 318). Beide verzeichnen sowohl die direkte Nennung Stifters, Zitate, die auf Stifter zurückgehen, aber auch Anspielungen auf Stifter und sein Werk. 425 Briese 2009, 361.

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der »Prometheischen Scham«426 zusammenfasst: »Für Anders artikuliert sich durch die wachsende Perfektibilität der Artefakte ein proportional wachsendes Bewusstsein der Menschen von ihrer Inferiorität, die ihrer organisch kontingenten Ausstattung geschuldet ist.«427 Dass in Schwarze Spiegel die Artefakte, die Häuser und Werkzeuge, die Bücher und Maschinen, die Menschen überleben, ist so nur folgerichtig. In Andersʼ Überlegungen zum Potenzial von durch Menschen geschaffener Technik, den Menschen bzw. die Menschheit zu vernichten, findet sich eine Kritik der Logik, die die Entwicklung einer solchen menschen- und zukunftsfeindlichen Technik ermöglicht. Fast sechzig Jahre nach Anders zeigt Leon Hempel in seinen Ausführungen zu einem bedeutungsvollen Ort der Moderne, der Evakuierungszone, mit welchem Kalkül versucht wird, den möglichen, aber auch den unwahrscheinlichen Folgen dieser Technik zu begegnen.428 Hier wird deutlich, wie sehr sich gerade im Bereich des Katastrophenszenarios Fakten und Fiktionen vermischen. Hempel arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund der Möglichkeiten einer atomaren Katastrophe das Gefühl bedeutsam wurde, vorbereitet, prepared zu sein. Dabei kommt der Simulation eine besondere Rolle zu, wie Hempel am Beispiel von Hermann Kahn feststellt: »Bei Hermann Kahn, dem US-amerikanischen Strategen und Futurologen des Kalten Krieges, werden Szenario und War Game zu Verfahren, die Katastrophe eines Dritten Weltkriegs als logisches Phänomen präventiv aufzurufen und Wissen durch Inszenierung und Vorführung zu erzeugen.«429 Vorbereitet zu sein auf die Katastrophe – dies mag auch für Arno Schmidts Schreiben bedeutsam gewesen sein.430 Dieser Logik der war games, der Simulation der Katastrophe als militärische Strategie setzt Schmidt ein Erzählen entgegen, das Fülle und Verschwendung zelebriert. Eine Fülle, die sich auch und gerade gegen die Macht- und Ordnungsstrukturen der Gegenwart vor der Apokalypse richtet. Hagestedt und Kischel illustrieren, wie für »den Autor Schmidt […] die Absenz sinnstiftender Ordnungsstrukturen zum Programm«431 wurde. Diese Ablehnung von Ordnung bzw. die Schaffung einer eigenen Ordnung zeigt sich auch in der Orthographie und Interpunktion Schmidts. Sie zeigt sich jedoch nicht, und das ist bemerkenswert, in der Abkehr von, gerade literarischen, Koryphäen und Vorbildern. Schmidts Texte zeigen, was bewahrenswert bleibt – auch, wenn alles zu Abfall wird. Hiltrud Gnüg knüpft an das Konzept der Simulation an, wenn sie fragt, ob Schmidts Schwarze Spiegel nicht »die Folgen eines atomaren Vernichtungskrieges verharmlost, ja, ob er [Schmidt, CHG] die Katastrophe nicht nur als Gedankenspiel veranstaltet hat, um seinen Helden, der ›an keine heroes‹ mehr glaubt, seine individuelle Utopie eines einfachen Lebens in einer abgeschiedenen, mehr ebenen, nördlichen Landschaft ausleben

426 Anders 1994, 21-95. Andersʼ Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (vgl. Anders 1994) erschien fünf Jahre nach der Publikation von Schmidts Erzählung. 427 Ahrens 2009, 188. 428 Vgl. Hempel 2012. 429 Hempel 2012, 100. 430 Zum Motiv des Weltuntergangs in Schmidts Texten vgl. Drews 2014, zu Schwarze Spiegel besonders 130f., zur Katastrophe in Schmidts Denken 131f. 431 Hagestedt/Kischel 2009b, 18.

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zu lassen […].«432 Auch Schmidt-Forscher Jürgen Drews weist auf das beinahe lustvolle Zelebrieren des Weltuntergangs hin: Es lassen sich Hinweise darauf finden, dass es mitunter kein Verlust ist, dass die Menschheit ein Ende gefunden hat.433 Momo hat gezeigt, wie in einer Welt, in der alles bzw. die selbst komplett durchrationalisiert ist, das Erzählen zum Abfall wird. In Bezug auf Schmidts Text findet eine Verschiebung statt, die zum selben Resultat führt: In einer Welt, in der – entweder durch die Atombombe oder den GAU – alles kontaminiert ist, entfällt das Erzählgegenüber und damit der Erzählsinn. So erzählt Schmidt wie der letzte Mensch – ob ihm jemand zuhört, ist in der Logik des Textes zweitrangig. Dass, wie gezeigt, all das Wissen, die Fülle und die Errungenschaften, die Schwarze Spiegel versammelt, der dummen Menschheit nichts nutzen werden, wenn sie sich selbst vernichtet, ist, so würde Schmidt wohl formulieren, ihr Pech. Eine letzte Betrachtung zu Abfällen sei mit Arno Schmidt erlaubt: Schmidts Erzählung KAFF Auch Mare Crisium (1960)434 , die auch einen Intertext zu Uwe Timms Freitisch bildet und explizit genannt wird (vgl. TiF, 33) entwirft in einer der Textebenen eine utopische Geschichte. Die Erde ist nach einem Atomkrieg unbewohnbar geworden, es wurde eine Siedlung im Mondmeer des Erdmondes, im Mare Crisium, errichtet.435 Dort leben sowjetische und US-amerikanische Wissenschaftler, die den Kalten Krieg weiterführen. Ausweichen auf den Mond, wenn die Erde zerstört ist? Am Beispiel von MondKolonialisierungs-Phantasien besonders der 1970er Jahre zeigt Claus Pias, wie unter dem Eindruck des Club of Rome-Berichts von 1972 über die negativen Zukunftsoptionen des Menschen auf der Erde, über Ressourcenknappheit und ökologische Katastrophen verstärkt Phantasien zirkulieren, den Weltraum zu erobern.436 Dieses Gedankenspiel korrespondiert mit Ideen, Abfälle auf dem Mond zu deponieren.437 Hermann Utermann greift die Phantasien in seiner die Weltraumkolonisierung persiflierenden Streitschrift Mülldeponie Mond. Eine phantastische, aber realistische Idee!438 auf und konzentriert sich auf das auf der Erde ungelöste Problem der Abfallentsorgung. Der Erdenmüll, so seine Ausführungen, könnte zu Allmüll werden. Allmüll – ein Wortspiel, dass auch in Don DeLillos Underworld oder in Christian Grassmuck und Volker Unverzagts Das Müll-System seinen Platz hätte, die kontinuierlich in ihren jeweiligen Texten die Frage stellen: Wo fängt der Abfall an, wo hört er auf, was machen die Menschen mit den Abfällen und die Abfälle mit den Menschen? Auch wenn die Darstellungen von Pias und Utermann Zukunftsvisionen bleiben, stellt sich bereits heute mit Weltraummüll bzw. Weltraumschrott ein neues Problem

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Gnüg 2001, 66f. Vgl. Drews 2014, 129. Vgl. Schmidt 1992b. Zu dieser Erzählung vgl. auch Drews 2014, 133-135. Vgl. Pias 2007, besonders 56-62. Grassmuck und Unverzagt weisen auf die Versuche hin, Abfälle im Weltraum zu entsorgen (vgl. Grassmuck/Unverzagt 1991, 281-283). Auch für radioaktive Abfälle wurden Deponierungen im Weltraum diskutiert (vgl. Jacob 1997, 45). Zur Ortslosigkeit von radioaktivem Abfall vgl. auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 438 Utermann 1996.

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dar, das sich in diesen Phantasien zumindest partiell begründet.439 Der Fotokünstler, Autor und Aktivist Trevor Paglen, der besonders durch seine Weltraumfotografien bekannt wurde, für die er unter anderem Spionagesatelliten nutzte und dokumentierte,440 beschreibt die Entgrenzung des Weltraumschrotts im Interview mit Elizabeth Ellsworth und Jamie Kruse folgendermaßen: »When it comes to time scales and cultural artifacts, we usually think of things such as pyramids or cave paintings. The time scales associated with cave paintings go back to a few tens of thousands of years or so. Pyramids are between two and three thousand years old. And they are falling apart.«441 Weltraummüll hingegen weise eine neue zeitliche Dimension auf: »When you look at the time scales that satellites exist on, you’re talking tens of thousands, hundreds of thousands, millions, billions of years. This is quite dramatic in terms of a human footprint in the cosmos.«442

439 Julie H. Ernstein definiert den Weltraumschrott folgendermaßen: »Known variously as space junk, space objects, orbital debris, and space waste, the term space debris refers collectively to the wider assortment of human-made objects found in orbit around the Earth and for which there is no current use.« (Ernstein 2012, 857, Hervorhebung dort) 440 Zu Paglens Arbeitsweise und Motivik vgl. Walleston 2013, ohne Paginierung. 441 Ellsworth/Kruse 2012, 152. 442 Ellsworth/Kruse 2012, 152.

Zwischenfazit dritter Teil

Der dritte Teil dieser Arbeit nimmt neue Stoffe, neue Verbindungen und neue Abfälle in den Blick und widmet sich utopischem, synthetisierendem und kontaminiertem Erzählen. Es beginnt mit einem Ausflug auf eine Insel und fragt nach der Verbindung von Abfällen und Schiffen. Während die Insel als Heterotopie Projektionsfläche für Imaginationen, auch im Hinblick eines anderen Umgangs mit Abfällen, liefert, steht ein ebenfalls im Ozean anzutreffendes Phänomen stellvertretend für die Entgrenzung von Abfällen – der Große Pazifikmüllfleck bzw. Great Pacific Garbage Patch. Die Plastiksuppe im Meer ist materielle Kehrseite von neuen Stoffen, die mit Versprechen und Wünschen, mit Imaginationen und Träumen verbunden sind. Zugleich ist den Stoffen inhärent, dass sie zwar neue Abfälle zur Folge haben, dass diese Abfälle zugleich einem individuellen und kollektiven Vergessen obliegen. Die Arbeiten und die Person Warhols sowie generell Pop Art und Pop wurden ebenfalls diskutiert als Projektionsfläche von Wünschen, die auch in das Material Kunststoff eingeschrieben sind. Zugleich finden sich hier Momente der Täuschung und Enttäuschung. Aus der Perspektive der bildenden Künste konstatiert Monika Wagner hinsichtlich des Werkstoffs Kunststoff: »Die faszinierende Vorstellung von Plastik als einem absolut flexiblen, alle Formen annehmenden und ständig umgestaltbaren Stoff ist in der Praxis bis heute keineswegs einlösbar.«1 Dennoch bleiben Kunststoffe Materialien, die Möglichkeiten liefern, etwa die Grenzen von Natur und dem, was der Mensch gestalten kann, zu überwinden oder zumindest zu erweitern. Kunststoffe können zugleich zu subversiven Materialien werden, wenn diese Stoffe anders genutzt oder eingesetzt werden als ursprünglich gedacht. Zugleich bleiben sie abfallnahe Stoffe, die, gerade auch bedingt durch ihre Stoffqualitäten, kaum Spuren hinterlassen. Auch in literarischen Texten werden Kunststoffe und die Verbindungen, die durch und über sie hergestellt werden, oftmals übersehen. Als Realitätspartikel bereichern sie zwar beispielsweise popliterarische Texte, gehen jedoch im Strom der Waren, in den täglichen Mensch-Ding-Begegnungen unter. Als Stoff der Täuschung und Enttäuschung finden sie sich auch in Thomas Meineckes Roman Tomboy. Der Roman analysiert anhand von

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Wagner 2006, 193.

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Kunststoffen Machtverhältnisse. Machtverhältnisse, die in Bezug auf die untersuchten literarischen Texte zur Frage führen: Wer spricht hier, wer hat eine Stimme in den Plastikdiskursen, wer kann die Möglichkeiten der neuen Stoffe nutzen, wer wird mit den Kehrseiten konfrontiert? Kurz: welche Verbindungen lassen sich über Kunststoffe herstellen? In Tomboy klingen in Bezug auf Plastik postkoloniale und feministische Diskurse an. Zugleich zeigt der Text, dass die Kehrseiten, die Schattenseiten einer Entwicklung, die zum Möglichkeitsstoff Kunststoff führte, zahlreich sind. Die heute mitunter unsichtbaren katastrophischen Verbindungen und Taten der Chemieindustrie, aber auch aktuelle Ausbeutungsverhältnisse sind in diese Stoffe eingeschrieben. Dies macht deren unschuldige Nutzung zur Illusion.2 Zugleich rufen diese Stoffe weitere Verbindungen ab, die mit der Entgrenzung von Kontaminationen, die herkömmliche Raum- und Zeitmodelle sprengen, zusammenhängen. Haben sich die für Kapitel 2 titelgebenden Müllberge verflüchtigt, verflüssigt – sind sie verschwunden? Zwar gibt es bald keine Deponien mehr in Deutschland. Dennoch gibt es nicht weniger Abfälle. In ihnen zu lesen wird schwieriger. In einer Zeit, in der in Deutschland Plastikabfälle eben nicht mehr sichtbar auf Mülldeponien gelagert werden, sondern, nachdem sie gereinigt und gesammelt wurden, dann entweder dem Stoffkreislauf in Downcycling-Prozessen wiederzugeführt, im Rahmen ›thermischer Verwertung‹ verbrannt werden oder als Teil der Plastiksuppe in die Ozeane gelangen, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten eines Erzählens über diese Abfälle. Eine Verlagerung von Abfällen und veränderte Verfahren im Umgang mit Abfällen bedeuten nicht, dass Abfälle aufhören zu existieren. Dennoch bleiben tägliche Verwerfungen Realität. Diese Realität kann durch literarische Texte sichtbar werden. Dekontaminierung heißt nach Susanne Hauser der Prozess des Aufräumens, nachdem die industrielle Produktion zum Stillstand gekommen ist. Das Verfahren der Dekontamination umfasst mehrere Stufen, wie Hauser am Beispiel von durch Altlasten der Industrie verseuchten Böden zeigt. Sie schließen die Erfassung, die Gefährdungsabschätzung, eine grobe und detaillierte Untersuchung der Kontaminationen sowie eine Bewertung der Befunde ein, die gegebenenfalls in eine Sanierung münden.3 Hier spielt Zeit als Faktor eine große Rolle, schnelles Handeln ist notwendig, erfordert in hohem Maße Expertise. Dennoch sind viele Folgen irreversibel. Kontaminiertes Erzählen heißt, das zeigt nicht nur Tomboy, sondern das verdeutlichen, wenngleich subtiler und weniger konzentriert, auch die in diesem Kapitel hinsichtlich von Kunststoffen als Motiv, als Stoff des Erzählens untersuchten Texte von Inka Parei, Wilhelm Genazino und vor allem auch Rolf Dieter Brinkmann, sich den Reinigungsversuchen, den punktuellen und generellen Reinigungsverfahren der Dekontami2

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Vgl. hierzu den Unterschied zwischen den Texten DeLillos und Pynchons, die Thomas Schaub herausstellt: Während DeLillo, in Underworld und anderen Texten, die Figuren eher als »unknowing participant in some vast system« (Schaub 2011, 80) zeichne, zugleich seine Texte eher mit Atmosphären und Gefühlen arbeiteten und somit etwa für chemische Verschmutzung keine Verantwortlichen benannt würden, sei Pynchon darauf bedacht »to name names and target particular agents« (Schaub 2011, 80), indem er etwa in seinem Roman Gravity’s Rainbow Akteure wie die Chemiegiganten DuPont oder I. G. Farben explizit nennt. Bei den in Tomboy erzählten Episoden werden Akteure teilweise genannt, teilweise bleiben Ausbeutungsverhältnisse vage. Vgl. Hauser 2001, 76.

Zwischenfazit dritter Teil

nation erzählerisch zu verweigern. Eine Verweigerung, die erst ein Nachdenken über die Folgen menschlichen und nicht-menschlichen Handelns ermöglicht. Die Entgrenzung von Abfällen potenziert sich im Giftmüll und in durch Radioaktivität verseuchten Kontaminationen. Die destruktiven Verbindungen sind sowohl in der Vergangenheit vorhanden als auch in der Zukunft wahrscheinlich. Kontaminiertes Erzählen bedeutet, dass Zukunft durch die Unvernunft des Menschen generell bedroht ist – alles wird zum Abfall, gar die Menschen und die Dinge, die sie umgeben, selbst. Während kontaminiertes Erzählen als Erzählmodus und -duktus eine Gegenbewegung darstellt, findet sich auch auf Textebene eine Gegenbewegung, die, das zeigt Unterkapitel 5.5, ungleich schwerer zu fassen ist als die in Kapitel 3 und 4 herausgearbeiteten abfallfokussierenden Gegenbewegungen des Sitzens und Gehens: das Spucken. Spucken meint zum einen den tatsächlichen Ausstoß von Körperflüssigkeiten, auf metaphorischer Ebene aber auch den verächtlichen, den fragenden, devianten oder den spielerischen Umgang mit Konventionen, gerade im Kontext von Verworfenem. Beides findet sich in Schwarze Spiegel von Arno Schmidt. Hier ist das verächtlich-verachtende, das fragende, spielerische jedoch eine Gegenbewegung, die erst nach dem Ende der Menschheit einsetzt. Ein Ende, auf das der Ich-Erzähler allerdings spuckt: »Draußen : Früher wars wohl adrett genug gewesen; jetzt schlotterte der Garten ums hohle Haus. Schöne starke Kiefern aber. Graue Mauer, von der graue Kräuter nickten, auch Lupinen und Wegerich. Aus grauen Mauern machte man Häuser; aus Häusern Städte, aus Städten Kontinente : wer fand sich da noch durch ! Bloß gut, daß Alles zu Ende war; und ich spuckte aus : Ende !« (ScS, 202. Hervorhebung dort) Das Ende von Arno Schmidts Schwarze Spiegel ist ein strahlendes Ende. Ein Ende, das auch ein Ende des Erzählens miterzählt.

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6. Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen

Arno Schmidts Schwarze Spiegel erzählt vom Ende des Erzählens. Das Erzählen von und über radioaktive(n) Abfälle(n) ist auf den ersten Blick weitaus weniger spektakulär. Dennoch fragt dieses sechste Kapitel nach der formierenden Kraft dieser Abfälle, nimmt deren Strahlkraft in den Blick – und stellt erneut die Frage nach erzählerischer Kapitulation angesichts dieser Abfälle. Die Frage nach der Lagerung von radioaktiven Abfällen in Zwischen- und in Endlagern begleitet die Debatte um die Kerntechnik von Beginn an.1 Der von Peter Hocke und Armin Grunwald herausgegebene Sammelband fragt bereits im Titel: Wohin mit dem radioaktiven Abfall? und eröffnet Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung2 , ein Beitrag von Wolfgang Kromp und Roman Lahodynsky zeichnet den aktuellen Stand und den Problemhorizont der Debatte um eine Endlagerung nach.3 Die Grenzen zwischen Wissenschaft und dem Phantastischen verwischen in einem Nachdenken darüber, was mit den unerwünschten und gefährlichen Abfällen passieren soll: Bei der Suche nach einer Lagerstätte für radioaktiven Abfall wurden und werden phantastisch anmutende Entsorgungsszenarien realistisch betrachtet, etwa das Versenken im Meer, von dem mittlerweile Abstand zumindest in Bezug auf hochradioaktiven Abfall genommen wurde.4 Die mögliche Entsorgung außerhalb der Erde im Weltraum war trotz des phantastischen Elements eine Idee, die ebenfalls als diskussionswürdig erachtet wurde.5 Kevin Trumpeter fasst die Möglichkeiten der Entsorgung folgendermaßen zusammen: »There are three methods of dealing with the excess: storing it indefinitely on-site […], reprocessing it, or disposing it through some method of burial

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Vgl. Radkau/Hahn 2013, 239f., die die Debatte um radioaktive Abfälle in den 1960er Jahren nachzeichnen, als, wie es heißt, »die innertechnischen Gefahrenquellen der Kerntechnik den interessierten Laien noch nicht geläufig waren […].« (Radkau/Hahn 2013, 239) Eine Klassifikation von radioaktiven Abfällen bieten Schmidt/Neles 2012, 164-169, zur Frage der Zwischenlagerung 169-172. Grunwald/Hocke 2006a. Vgl. Kromp/Lahodynsky 2006. Zu den Vorschlägen vgl. Trumpeter 2012d, 725f. Aus der Sicht des Widerstands gegen die Kerntechnik vgl. Jacob 1997. Vgl. Radkau/Hahn 2013, 240 und Grassmuck/Unverzagt 1991, 281f.

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or isolation.«6 Konsens besteht darüber, dass die momentan präferierte Lagerung das Begraben, das Versenken in tiefen, isolierten geologischen Formationen darstellt.7 Eine Eigenschaft von radioaktiver Strahlung ist für diese Technik des Begrabens relevant: ihre Langfristigkeit und deren Konsequenzen für zukünftiges Leben. Die Entsorgenden von radioaktiven, besonders hochradioaktiven Abfällen stehen so vor der Aufgabe, zukünftige Generationen vor möglichen Gefahren der Abfälle zu warnen. Hier könnte der atomsemiotischen Beschäftigung mit der zukünftigen Lagerung und vor allem Kennzeichnung von radioaktiven Abfällen eine besondere Rolle zukommen.8 Da es, so der Grundgedanke der Atomsemiotik, keine Gewissheit darüber gibt, dass zukünftige Generationen Nachrichten in Schriftzeichen entziffern können, wird der Oralität eine große Bedeutung beigemessen. Gerade die orale Kommunikation könnte helfen, Wissen über gefährliche Lagerstätten von Generation zu Generation zu überliefern. So war einer der Vorschläge zu möglichen Warnzeichen, den Thomas A. Sebeok vorlegte, Rituale und Mythen unter der Bevölkerung zu verbreiten, die Menschen von den Lagerstätten hochgiftiger Stoffe fernhalten sollen.9 Das tatsächliche Wissen über diese Stoffe läge dagegen exklusiv in den Händen einer Atompriesterschaft, einer Gruppe von Expertinnen und Experten, die ihr Wissen an die jeweils nächste Generation weitergäbe.10 Ein Wissen, das zumindest in Arno Schmidts Erzählung keine Rolle spielt. So wie die literarischen Texte, die Kunstwerke, die Bibliotheken, alles Wissen der Menschheit durch die Auslöschung der Menschen zu Abfällen werden, so wird jedes Erzählen über Gefahren in Schwarze Spiegel obsolet. Die ungelöste Entsorgungsfrage der Gegenwart findet, zumindest in Deutschland, in einem Behälter sein Symbol. Der Castor fungiert als »Symbolisierung, aber auch als Visualisierung eines mehrschichtigen Technikkonflikts, der sich um den Verbleib erzeugter und bereits absehbarer Abfälle, vor allem aus der Produktion von Nuklearstrom, dreht.«11 Zugleich verbindet der Castor, dieser Container, der Abfälle mit Ewigkeitsdimension in sich trägt und sich im Raum, auf »normale[n] Verkehrswegen […]; auf Güterzügen über Schienen durch Bahnhöfe und Ortschaften«12 bewegt, Orte, etwa das französische La Hague mit dem Zwischenlager in Gorleben.13 Der Castor, das zeigen Grunwald und Hocke ebenfalls, ist bereits durch seinen Namen mit Mythen verbunden: Eigentlich ein Akronym, nämlich die Abkürzung für »cask for storage and transport of radioactive material«14 , verweist dieser Name auf die griechische Mythologie.15 Castor ist der Sohn des Königs von Sparta und somit sterblich.16 Sein Zwillingsbruder Pollux ist der Sohn des Gottes Zeus und deshalb unsterblich – der gleichnamige Behälter ist 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Trumpeter 2012d, 725. Zur Debatte um eine Endlagerung vgl. Schmidt/Neles 2012, bezogen auf Deutschland 172-181, zur internationalen Debatte 181-184. Vgl. Grunwald/Hocke 2006b, 15 und Trumpeter 2012d, 726. Vgl. hierzu etwa Posner 1984. Vgl. Sebeok 1984. Zur Atompriesterschaft vgl. auch Grassmuck/Unverzagt 1991, 290-294. Grunwald/Hocke 2012, 59. Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 58. Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 58. Grunwald/Hocke 2012, 58, Hervorhebung dort. Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 58. Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 57.

6. Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen

für die Endlagerung vorgesehen.17 Im Plutonium, das fasst eine Textstelle in Don DeLillos Underworld, offenbart sich eine mythologische Dimension, durch sie zeigt sich der Bezug zur Unterwelt und damit zum Tod: »The more hazardous the waste, the deeper we tried to sink it. The word plutonium comes from Pluto, god of the dead and ruler of the underworld.« (DeLU, 106)18 Eines der Themen von Arno Schmidts Texten ist, wie bereits in der Einleitung gezeigt, die Provinz. Nur dort, wo Menschen rar sind, ist ein gutes Leben möglich. Dennoch zeigt Schmidts Erzählung, dass die atomare Verseuchung die Unterschiede von Stadt und Land nivelliert. Die Kontamination ist restlos. Doch auch ohne radioaktive Kontamination ist die Provinz in Bezug auf Abfälle kein Zufluchtsort, sondern sie wird zum bevorzugten Lagerort. Gleiches gilt für Uwe Timms Freitisch, das sechzig Jahre nach Arno Schmidts Erzählung Schwarze Spiegel erschien. Hier ist die Provinz der Ort, an dem neben dem utopisch anmutenden Leben des Antiquars Krause und dessen Frau die dystopischen Elemente des doch ganz erfreulichen Lebens in Europa manifest werden: Es soll eine Giftmülldeponie entstehen. Die Diskussionen um Giftmülldeponien, um Zwischen- und Endlager haben gezeigt, dass gefährliche Stoffe bevorzugt weit entfernt von Ballungsgebieten gelagert werden.19 Die peripheren, abgelegenen Orte sind zudem Orte, an denen mit weniger Widerstand gegen solche Lagerungen zu rechnen ist. Ludwig Fischer konzentriert sich in seinen Marginalien zur Sozialgeschichte des Umgangs mit Wasser darauf, wie solche Gegenden als Peripherie überhaupt erst konstruiert werden, um dort unliebsame Abfälle lagern zu können: Die ›strukturschwachen Regionen‹ werden auf den Landkarten überhaupt erst abgegrenzt durch den Grad, nach dem sie vom Fortschritt der Metropolen ausgeschlossen sind – nach dem Zwang also, mit dem sie das Gedächtnis an die vormodernen Existenzbedingungen lebendig erhalten müssen. So lassen sich diese räumlichen Vermessungen des Sozialstaats auch als Landkarten des Vergessens lesen, das in den Ballungsräumen erzeugt wird und dessen gewaltsame Ausgrenzungen von dort inzwischen auch substantiell als Abfall in die Provinz verfrachtet werden: Die auf Tausende von Jahren unvermeidbare Erinnerung an die Atomkraft-Industrie wird in den benachteiligten Regionen eingelagert, damit den Fortschritt der Metropolen kein bedrohliches Eingedenken aufhält. Doppelt wird also die Provinz mit Gedächtnis geschlagen: Mit dem unfreiwilligen Rückstand in Elementen vormodernen Lebens und mit der aufgezwungenen Endlagerung der Fortschrittsrisiken.20

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Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 58. Vgl. zu dieser Textstelle auch Apitzsch 2012, 286. Nach dem Lexikon der Elemente ist dieses 94. Element »nach dem Planeten Pluto benannt; Pluto war der Beiname der griechischen Gottheit Hades. Der Name wurde in Anlehnung an die Planetenreihe Uranus, Neptun und Pluto entsprechend Uran, Neptunium und Plutonium gewählt. (engl.: plutonium)« (Rutherford Online 2014, ohne Paginierung) Dies zeigt auch der seit den 1970er Jahren diskutierte Ort für ein US-amerikanisches Endlager, Yucca-Mountain in der Wüste Nevadas (vgl. hierzu Kromp/Lahodynsky 2012, 74f., Schmidt/Neles 2012, 183 und Trumpeter 2012d, 726). Fischer 1988, 315.

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Zugleich greift bei der Suche nach einem Endlager, was in mehreren Kapiteln dieser Arbeit diskutiert wurde: Das NIMBY-Syndrom, das Verdrängen der Abfälle aus dem eigenen Nahbereich. Dennoch, das zeigen die Proteste in Gorleben oder die Einwände gegen den geplanten Standort Yucca-Mountain in den USA, ist die Kritik weitreichender, richtet sich gegen die Abfälle selbst. Zugleich werden, dies zeigen die Fragen, die die Atomsemiotik bearbeitet, die Grenzen eines Erzählens über eine Gefahr sichtbar, die gerade eben nicht sichtbar ist. Unsichtbare, un(be)greifbare Abfälle erfordern besondere Erzähltechniken. So ist das Erzählen über radioaktive Abfälle so notwendig wie diffizil. Die Entsorgungsherausforderung wird zur Erzählherausforderung. Einen Versuch, die Verbindungen und Trennungen, die radioaktive Abfälle mit sich bringen erzählerisch einzukreisen, stellt Andreas Maiers Roman Kirillow (2005)21 dar. In drei Kapiteln und einem Prolog folgt der Text einer Gruppe von Menschen in Frankfurt a.M. durch ihren Alltag: Frank Kober, der gemeinhin Kober genannt wird, dessen Freund Jobst, den ebenfalls mit Kober befreundeten Geschwistern Julian und Anja Nagel, eine Frau Gerber, Eva Bieroth, die aus Russland stammenden Anton, Julia und deren Schwester Olga sowie der Bewohnerschaft eines Mietshauses im Frankfurter Stadtteil Ginnheim. Zu ihnen zählen unter ihnen die als ordnungsfanatisch charakterisierte Doris Badinski und die Ehepaare Böhler und Koch. Zentrales Moment im Plot ist die Teilnahme an und zum Teil Organisation von Protesten gegen einen Castortransport, an denen etliche der Hauptfiguren beteiligt sind. Zugleich täuscht die Nennung eines zentralen Plotmoments darüber hinweg, dass sich der Text einem tatsächlichen Fokus auf seine Figuren oder deren Handlungen verweigert. Ausflüge wie eine Schifffahrt werden erzählerisch ausgebreitet, ohne ein Motiv für dieses Ausbreiten erkennen zu können. Yvonne Hütter zeigt in ihrer einschlägigen Studie zu Andreas Maiers Werk detailreich, wie sich der Roman in seinem Verlauf öffnet zugunsten einer »personale[n] Multiperspektive«22 , die einem Wahrheitsanspruch entgegensteuere.23 Dabei gilt, was bereits hinsichtlich Stifters Texten festgestellt wurde: Handlungen treten zurück zugunsten von mäandernden Schilderungen.24 Kirillow erzählt größtenteils durch Gespräche, Eindrücke und philosophische Abschweifungen einzelner Figuren. Als Intertext dient, darauf verweisen Titel und Motti des Textes, russische Literatur, insbesondere Die Dämonen von Fjodor Michailowitsch Dostojewskij.25 Kirillow, eine Nebenfigur in Dostojewskijs Roman, wird in Kirillow zu einem Freund Antons und Olgas, den sie beim gemeinsamen Studium in Chabarowsk kennenlernten (vgl. MaK, 121, zur gesamten Geschichte von Andrej Kirillow vgl. MaK, 119-123). Andrej Kirillow ist der Verfasser eines politischen Traktats über den Weltzustand, der für die Figuren bedeutsam scheint. Die durch den Titel und das häufige Rekurrieren auf den Traktat zu vermutende Wichtigkeit verliert sich im Romanverlauf zunehmend. Julian Nagel löscht schließlich den Server, über den

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Vgl. Maier 2005, Textstellen werden fortan im laufenden Text mit der Sigle MaK und Seitenzahl zitiert. Hütter 2011, 137. Vgl. Hütter 2011, 135. Vgl. Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. Zu den Texten und Themen Dostojewskijs als Matrix für diverse Texte Maiers vgl. Hütter 2011, 228-250, zu Kirillow besonders 234f., 241-243.

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die Abhandlung im World Wide Web zugänglich gemacht wurde, verbrennt das Original und die Übersetzung (vgl. MaK, 318).26 Im Zentrum des ersten Kapitels steht neben der Bekanntschaft mit den Russen die Selbstverletzung Kobers bei einer Abendveranstaltung im Elternhaus seiner Freunde Anja und Julian Nagel: Als Julian mit einem Politiker diskutiert und die Diskussion eskaliert, greift Kober zu einem Glas, zerbricht es und schneidet sich damit tief in den Arm (vgl. Mak, 99f., zur gesamten Episode vgl. MaK, 73-105, im Anschluss wird Kober im Krankenhaus verarztet, vgl. MaK, 105-115). Hier kulminieren zum ersten Mal die später im Text mehrfach bedeutsamen Themen Suizid und Rausch, wenn der Kober behandelnde Arzt in Abwesenheit Kobers gegenüber der Freundesgruppe zur Sprache bringt, dass es sich bei der Tat um einen Suizidversucht gehandelt haben könnte, der zugleich unter Umständen nicht Kobers erster Versuch war (vgl. MaK, 108f.).27 Zentral im zweiten Kapitel ist, neben den bereits angeschnittenen Vorbereitungen des Widerstands gegen einen bevorstehenden Atommülltransport, eine Episode um eine Reihe von Sachbeschädigungen an parkenden Autos (vgl. MaK, 189-193). In diesem Kapitel rückt Julians Freund Jobst als Figur in den Erzählfokus. Ausufernd wird eine Landschaftsbetrachtung geschildert. Julian und Jobst blicken, berauscht durch die sich nur ihnen offenbarenden Verbindungen, vom Feldberg aus auf die Ebene. Die Existenz der Kerntechnik macht die Welt zu einer anderen und dominiert den Blick auf die Zivilisation zu ihren Füßen – auch, wenn eigentlich gar nichts zu sehen ist: Und als Grundierung des Bildes: die Brennstäbe, die Castoren, das Plutonium, die täglich in den Kraftwerken produzierten Stoffe, die sie in den nächsten hunderttausend Jahren von der »Biosphäre« technisch abschließen wollten (beziehungsweise mußten). Das war die »gute Welt« des Ministerpräsidenten, gemacht von den »guten Menschen«, die ein »glückliches«, ein »erfülltes« Leben lebten. Ein Schnitt in den Arm war in dieser Welt ein Skandal. Eine solche Handlung war nicht zu verstehen. Genausowenig wie alle Gedanken, mit denen man gegen dieses totale Geschehen andachte. Nein, man konnte nicht dagegen andenken. (MaK, 215) Dazu später mehr. Das abschweifende und ausufernde Erzählen gilt in besonderem Maße für den bedeutsamen Erzählstrang, der sich den Vorbereitungen des Widerstands gegen einen Castortransport widmet. Die überwiegend aus studentischem Umfeld stammenden Figuren besuchen Informations- bzw. Mobilisierungsveranstaltungen und diskutieren über den bevorstehenden Transport von radioaktiven Abfällen. Der Eventcharakter des Protests wird detailliert, aber distanziert geschildert.28 Der Text folgt seinen Figuren schließlich ins Wendland. Bei den Protesten und Blockaden, die im Rahmen des Castortransports stattfinden, wird Julian verletzt und Kober kommt durch einen Unfall ums Leben. Verwirrung und Instabilität des Erzählens exemplifiziert Hütter besonders an den Versionen und Leerstellen, die zum Unfall führen.29 Die zuvor erwähnte Pro26 27 28 29

Zu diesem Traktat vgl. Hütter 2011, 267f. und 349. Zum Motiv des Rauschs in den Werken Maiers vgl. Hütter 2011, 424-431, zum Suizid vgl. Hütter 2011, 378-384. Vgl. Hütter 2011, 310-314. Vgl. Hütter 2011, 138-140.

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blematik von radioaktiven Abfällen, die besonders durch ihre Langlebigkeit bedingt ist, findet sich in Kirillow wieder. Der Text begegnet der Herausforderung eines Erzählens über radioaktive Abfälle mit der Anerkennung der notwendigen Kapitulation. Obgleich nur ein Handlungsstrang von Mülltransporten handelt, durchziehen Entsorgungsfragen den gesamten Text. Die erzählerische Konzentration auf das Nebensächliche zeigt sich bereits zu Beginn. Hier werden von Doris Badinski die Entsorgungspraktiken Kobers kommentiert: »Vor allem konnte sich Kober an keine Ordnung halten, er tat nie, was er dem Hausplan zufolge hätte tun sollen, weder putzte er je die Treppe, noch trennte er seinen Müll, er warf vielmehr alles wahllos in die graue Tonne, alles, ich, Doris Badinski, habe es mehrfach mit eigenen Augen gesehen.« (MaK, 7) Die Empörung auch der anderen Hausbewohner richtet sich jedoch viel grundlegender gegen Kober: Mehrfach verwendete Frau Badinski das Wort »Sozialschmarotzer«, und insgesamt kann man sagen, daß Frank Kober eines ihrer [Frau Badinskis, CHG] glücklichsten Themen war; was wäre sie all die Jahre in der Kellerstraße ohne Kober gewesen? So hatte sie den Feind und das Abartige als Nachbarn im selben Haus und damit eine Beschäftigung. (MaK, 9f.) Die als »Prolog der Hölle« (MaK, 28, Hervorhebung dort) bezeichnete Romaneröffnung nimmt zugleich in Vorausdeutungen das Ende Kobers durch den Unfall vorweg. So wird eine Verbindung hergestellt zwischen der abfallnahen, den Hausmüll und die Entsorgungsrituale einer beliebigen Hausgemeinschaft in den Blick nehmenden Exposition und dem Finale im Wendland, wo Kober stirbt. Darüber hinaus gibt es andere verbindende Motive im Text. Das erste Kapitel greift mit dem Besuch eines Friedhofs sowie der Freundschaft zwischen den Protagonisten und der alten Frau Gerber die Themen Tod und Freundschaft auf. Das Thema der Freundschaft findet sich ebenfalls in der Begegnung der Frankfurter Gruppe mit der Gruppe aus Russland, es wird gemeinsam gegessen, getrunken, es werden Ausflüge unternommen (vgl. etwa MaK, 153). Neben diesen freundschaftlichen Verbindungen, die in Maiers Roman hergestellt werden, ist es eine andere Verbindung, die jedoch nur in einer einzigen, dennoch zentralen Episode ausgebreitet wird: die zwischen Konsum und Abfall. An erwähnter exponierter Stelle des Romans erklimmen Julian und sein Freund Jobst in einer ihrer rauschhaften politischen Reflexions- und Agitationsphasen den Feldberg, »[…] von dort betrachteten sie das Land. Ein einziger sich umherund herumschiebender Kreislauf aus Handel und Verkehr, zu Wasser, zu Luft und am Boden. Das Gesetz der Menschheit war: Handel und Verkehr. Jobst und Julian beschrieben sich alles, den ganzen Kreislauf, und sie blickten nach Frankfurt, dem Zentrum …« (MaK, 214). Die Verbindungen, die sich ihnen in dieser Nacht offenbaren, sind die Verbindungen einer Wohlstandsgesellschaft, die über globale Verkehrs-, Transport- und Datenwege ungeheuerliche Mengen an Strömen erzeugt – die auch Abfallströme sind: Und die Menschen fuhren, um in Restaurants ihr Geld zu lassen, in Kinos Filme zu sehen, vom Flughafen nach Indonesien zu fliegen, und jede Ware war auf die vielfältigste Weise mit der gesamten Welt und allen möglichen Handels- und Verkehrswegen verknüpft; alles überquerte die gesamte Welt und kam hier zufällig in diesem Augenblick auch im Rhein-Main-Gebiet vorbei, der indische Fluggast ebenso wie die Ananas oder

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fünf Prozent des Fleischkäses aus der Firma X in Rußlingen bei Hanau etcetera etcetera etcetera etcetera. (MaK 214f., Hervorhebung dort) Es folgt die weiter oben zitierte Passage »Und als Grundierung des Bildes: die Brennstäbe, die Castoren, das Plutonium, die täglich in den Kraftwerken produzierten Stoffe […].« (MaK, 215) Die Verbindungen von Flugreisen – hier lassen sich Verbindungen zum Massentourismus und den hohen ökologischen Kosten von Mobilität herstellen, von tropischen Früchten wie Ananas – die ebenfalls lange Transportwege in der globalisierten Warenwelt zurücklegen, von Fleischkäse – hier werden die Themen der Massentierhaltung und deren ökologische Folgen angeschnitten – und Brennstäben zeigt die Verwobenheit von Alltagshandlungen, Ausbeutung von Menschen und Tieren mit hochproblematischen Abfällen. Das »etcetera etcetera«, ein in Kirillow häufiger eingesetztes Stilmittel Maiers (vgl. beispielsweise auch MaK, 9, 21, 25, 59, 79, 89, 90, 104), das meist in Figurendialogen die Machtlosigkeit der Sprache markiert,30 zeigt zugleich: Die Verbindungen reichen weiter, könnten noch ausgeführt werden, werden in einer nachfolgenden Textpassage weitergeführt, müssen und können jedoch nicht zu Ende gebracht werden. Es besteht keine Möglichkeit, deshalb auch keine Notwendigkeit einer Fortführung der Verbindungen, weil es kein Ende gibt, zugleich keine Lösung und kein Zurück. Es handelt sich um Verbindungen, die nicht mehr lösbar sind.31 Der radioaktive Abfall ist somit nur eines der Resultate dieser Gesellschaft: »Und die Halbwertszeit dieser Menschheit betrug Ewigkeiten. Sie hatte alles, was noch kommen würde, mit sich verseucht.« (MaK, 216) Die Menschen sind verbunden durch Milliarden von Handlungen, die Wegwerfbewegungen gleichkommen: Dort oben auf dem Feldberg wußten sie: Was geschah, geschah nicht nach Plan, es gab keine Vernunft und würde nie eine geben, es gab nur Milliarden Menschen, Milliarden Menschen, die alle ihren Handlungen nachkamen, die leben wollten, die dies und das wollten, aus irgendwelchen Gründen wollten, und selbst wenn sie es aus gar keinen Gründen wollten: sie taten es.« (MaK, 215) Jedes vom Menschen geschaffene Ding, jede Handlung trägt Abfall in sich und ist somit Teil des radioaktiven Abfalls, der wiederum Teil der Gesellschaft, nicht von ihr zu trennen ist, also allumfassend wird:

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Dabei ist nicht ganz klar, ob dieses, im Text stets kursivierte »etcetera« von unterschiedlichen Figuren eingesetzt wird oder durch die Erzähldistanz die Rede bzw. die inneren Monologe so verkürzt und kommentiert werden. Im Text selbst findet sich ein Hinweis, der zugleich eine Lesart mitliefert, wenn die Figur Julian denkt: »Blablabla ist die ideale Übersetzung von etcetera. Man müsste immer sagen: Taxifahrer etcetera, der und der etcetera, und dann hätte man die Welt in ihrem Gerede, in ihrem Blablabla, kurz: in ihrem Zustand.« (MaK, 199, Hervorhebung dort) Frank Uekötter fasst diesen Riss zwischen individueller Ökologisierung und jeweiliger Ökobilanz in Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert folgendermaßen: »Die Frage, inwiefern eine Ökologisierung des persönlichen Konsums stattgefunden hat, ist nach wie vor in hohem Maße umstritten und kann an dieser Stelle nicht näher verfolgt werden. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass die subjektive Ökologisierung deutlich größer ist als der materielle Wandel der persönlichen Ökobilanz. Die Entwicklung des Flugverkehrs und des Ferntourismus spricht in dieser Beziehung eine deutliche Sprache.« (Uekötter 2007, 30)

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Die Katastrophe war elementar, sie steckte in jedem Schuh, in jedem Meter Straße, in jedem Auto, in jeder Jacke, in jedem Gramm Mehl, das man kaufte im HL. Das man kaufte im Penny. Auf dem Markt. In jedem Russen, der kam. Im jedem Deutschen, der ging. In jedem Flug, der flog. In jeder zivilisatorischen Handlung, die ausgeführt wurde. (MaK, 215) Konterkariert wird die Episode durch die generelle Zeichnung der Figuren, die deren Glaubwürdigkeit stark einschränkt. Beide Figuren, die sich zwar als politisch denkend und handelnd verstehen, werden, gerade in Bezug auf Julian, als schwärmerisch veranlagt beschrieben. Beide scheinen in erster Linie auf sich zurückgeworfen. Auch der Abschluss verrät, dass es beiden um das Erleben des Moments geht (vgl. MaK, 216) – in der Fixierung auf das Jetzt nähern sie sich dem Umgang mit radioaktiven Abfällen an, der gleichfalls die Langlebigkeit dieser Abfälle weitestgehend ignoriert. Die tatsächliche Begegnung der Protagonisten mit dem Castor folgt gegen Ende des Romans im dritten und letzten Kapitel. Die von Hocke und Grunwald genannten Hauptakteure, Stromwirtschaft, Bundespolitik, Massenmedien, antinukleare Opposition, Experten und Wissenschaft,32 sind hier zumindest durch Stellvertreter präsent. Maier erzählt den Widerstand als Inszenierung mit dem Wendland als Theaterbühne. Neben Schilderungen der Protest-Folklore – die Polizeikontrollen, das Versteckspiel, die Aufregung – kommt es zum Unfalltod Kobers.33 Yvonne Hütter macht darauf aufmerksam, dass es Andreas Maier nicht um die Diskreditierung des Widerstands gegen Atomtransporte gehen kann.34 Im Text zeigen gerade die Castor-Episode und der tödliche Unfall Kobers: Jenseits einer Feststellung der Ungeheuerlichkeit von Atommüll gibt es keine Wahrheit, sondern nur Versionen. Dies unterstreichen die Schlussspassagen des Romans. Analog zum Prolog kulminiert der Text in ein assemblageartiges Finale, das erneut in die Frankfurter Kellerstraße führt: »In der Kellerstraße siebzehn in Frankfurt-Ginnheim herrschte teilweise Betroffenheit und teilweise Empörung.« (MaK, 347) Die Mieter und Mieterinnen der Kellerstraße sehen medial vermittelte Bilder, die den Transport als Spektakel darstellen. Den Zuschauerinnen und Zuschauern vor den Fernsehern fehlt, zumindest in der Kellerstraße, der Kontext, es fehlen sowohl die Geschichten wie auch die Motivationen der Einzelnen, an den Protesten teilzunehmen. Hier führt die Zeichnung der Figuren dazu, Aussagen zu relativieren, etwa wenn Herr Schäfer formuliert, »das ganze Thema Atom werde sowieso immer ideologisch mißbraucht. Die Gegner treten da immer mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auf, das sei schon sehr unangenehm.« (MaK, 348) Herr Schäfer führt weiter aus: »Er halte das nach wie vor für die sauberste Form der Energiegewinnung. Und wäre sie technisch nicht beherrschbar, würde man sie ohnehin nicht praktizieren. Man sehe ja jeden Tag, daß sie technisch beherrschbar sei, denn es sei ja noch nie etwas passiert in Deutschland.« (MaK, 348) Auch Doris Badinski hat einen erneuten Auftritt. Ihr Anliegen ist noch immer, die Wichtigkeit der Mülltrennung zu proklamieren und deren korrekte Umsetzung zu überwachen. Als neues Thema der Diskussionen im Treppenhaus bieten sich die Ratten an, die Frau Koch sich nun anscheinend als Haustiere hält (vgl. MaK, 348f.). 32 33 34

Vgl. Grunwald/Hocke 2012, 59-61. Zu diesem Unfall vgl. Hütter 2011, 138-140. Vgl. Hütter 2011, 311, besonders Fußnote 324.

6. Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen

Der Prolog, zu dem diese Schlusspassagen den Bogen schlagen, endete mit der lapidaren Feststellung der Erzählinstanz, die Gespräche im Haus kommentierend: »Wenn man beginnen würde, nach den hier vorgezeichneten Gesprächsmustern bis zu seinem Lebensende Papiere vollzuschreiben, ohne die Muster je zu variieren, würde man dem, was die Welt ist bzw. was in dieser der Fall ist, sehr nahekommen, aber das wäre natürlich eine quälende Aufgabe […].« (MaK, 28) Was bleibt, ist Gerede, das zu nichts führt.35 Einen Vorschlag, was jenseits dieses Geredes sein kann, macht der Text dennoch, ganz leise und unauffällig und ganz im Gegensatz zu den lauten Aktionen Julians oder den verzweifelten, schließlich ins Nichts führenden Aktionen des Schweigers Kober. Die Figur von Julians Schwester Anja ist es, die nicht nur immer wieder im Romanverlauf den Aktionismus ihrer Gefährten sowie generell einfache Lösungen in Frage stellt, sondern dieser Verweigerung von einfachen Lösungen etwas Alltägliches entgegensetzt: die Sorge, die Fürsorge für Andere. So zeigen gerade die Episoden mit der alten Frau Gerber, dass praktisches Handeln nicht ohne Sinn sein muß: »Frau Gerber starb im folgenden Januar. Sie hatte das Krankenhaus nicht mehr verlassen. Anja war bis zum Schluß bei ihr geblieben.« (MaK, 349)36 Während in Uwe Timms Rot die Vielstimmigkeit des Textes in dessen Zentrum führt, verweigert sich Kirillow einem Zentrum und bietet doch, über Umwege, eines an. Zunächst zur Verweigerung: Die Stimmen ergeben kein Ganzes, ergänzen sich nicht. Auf die Frage, was bleibt nach der Lektüre dieses Textes, ist eine mögliche Antwort: Nichts. Genau dieses Nichts ist aber von immenser Bedeutung. Es führt in das angekündigte Zentrum des Textes. Der Text selbst lässt sich zum einen als Blockade interpretieren, als Protest gegen die Ungeheuerlichkeit des radioaktiven Abfalls. Dieser Protest greift jedoch zu anderen Mitteln als der im Text geschilderte Widerstand. Andreas Maier formuliert in seine Poetikvorlesungen Ich zu seinem Schreiben: Meine Literatur und ihre Form ähneln einem silly walk, und wenn ich hier über ihre Form reden werde, dann stimmt das zwar zum einen, es gibt wirklich eine Form, aber es ist eben die eines Menschen, der ins Ministerium für silly walks gehört. Es gibt dort ungeheuer virtuose Gangarten, man könnte sie geradezu bewundern und für genial halten, für artistisch, wenn man nicht wüßte, daß sie aus einer Behinderung entstanden sind und daß Gehen normalerweise etwas Normales und nicht weiter Auffälliges bedeutet, im Gegensatz zum silly walk. Literatur ist, vermute ich, eine Form des Nichtkönnens, die dann zu einer besonderen Gangart wird, wie jedes Nicht-normalLaufenkönnen zu einer besonderen Gangart wird, die aber den meisten nicht interessant scheint, es sei denn bei Monty Python.37 Dieses Gehen weist die spielerischen Qualitäten auf, die auch den Text Kirillow auszeichnen. Es ist die Gegenbewegung, die der Text vorschlägt: Verwirrung und Unübersichtlichkeit verhindern das Geradeausgehen. Gerade durch ihr »Nicht-normalLaufenkönnen« kreuzen die Figuren in Kirillow zentrale Themen und Fragen. Zugleich

35 36 37

Vgl. hierzu Hütter 2011, 202-205. Vgl. zum Aspekt der Fürsorge in Kirillow auch Hütter 2011, 384f., zur Anja-Figur Hütter 2011, 395398. Maier 2006, 65f., Hervorhebung dort.

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wird Maiers Text gerade durch dieses spielerische Element, das – trotz der wenig komisch anmutenden Themen wie Atommülltransporte, Rausch, Suizid und Tod – komische Elemente aufweist,38 mit Verwirrung und Irreführung arbeitet, genau dadurch abfallnah. Genauso, wie man sich mit einem, wie Maier formuliert, »Nicht-normalLaufenkönnen« schwerer, langsamer und anfälliger bewegt, erweist sich auch der Text Kirillow als schwerfällig, als besondere Gangart. Bernd Herrmann wurde in der Einleitung zitiert mit der Feststellung, dass Gewaltkataloge anthropogen und anthropozentrisch seien. Dies unterstreicht ein Text wie Kirillow. Wenn nun auf den Schildern der Anti-Atom-Proteste geschrieben steht »Alle Gewalt geht vom Castor aus«39 , lässt sich mit Kirillow dagegen halten: Nein – die Gewalt geht nicht vom Castor aus, die Gewalt geht vom Menschen aus. Oder, um genauer zu sein, von seinen Handlungen. Sie steckt zudem in seinen Dingen. Um noch einmal die zentrale Textstelle auf dem Feldberg zu zitieren, die jedoch wie fast alle anderen Episoden ins Leere läuft: »Die Katastrophe war elementar, sie steckte in jedem Schuh, in jedem Meter Straße, in jedem Auto, in jeder Jacke, in jedem Gramm Mehl, das man kaufte im HL. […] In jeder zivilisatorischen Handlung, die ausgeführt wurde.« (MaK, 215) Die Konsequenz der Feststellung, die von Kirillow vorgeschlagen wird, ist weitreichend: Jedes Erzählen seit der Existenz von radioaktiven Abfällen ist ein (Nicht-)Erzählen über radioaktive Abfälle. Der Ekel, der wiederholt zur Sprache kommt (so heißt es von der Figur Olga: »Es ekelte sie vor Deutschland.« MaK, 185), steht stellvertretend für den Ekel, der bezüglich der unsichtbaren, der haptisch nicht erfahrbaren radioaktiven Abfälle ausbleiben muss, aber nicht ausbleiben sollte. Grunwald und Hocke schlagen vor, den Castor »nicht nur als technisches Artefakt, sondern auch als Chiffre für die Modernität mit ihren Ambivalenzen, aber auch für eine oder eigentlich mehrere Legenden zu sehen.«40 Diesen Legenden widmet sich Andreas Maiers Kirillow auf ungewöhnliche Weise, indem der Text sich selbst, wie die stets in ihm präsenten Castoren, zum Entsorgungscontainer macht. Der Text wiederholt erzählerisch die Umgangsarten mit radioaktiven Abfällen, die, wie gezeigt, aus zeitlich unbegrenzter, unter Umständen sogar unendlicher Lagerung, aus Wiederverwertung und aus – vermeintlicher – Entsorgung durch Akte des Vergrabens oder andere Formen der kontinuierlichen Isolation (»storing it indefinitely […], reprocessing it, or disposing it through some method of burial or isolation«41 ) bestehen. Der Text lagert die Debatten um diese Abfälle, lagert die Verbindungen, die über und durch ihn vorhanden sind, verwertet diese Debatte, stellvertretend durch die Wendland-Episode als Plot-Katalysator. Die Debatten wie auch die Handlungen von Kirillow laufen schließlich ins Leere. Hierzu passen auch die Abschlusspassagen in der Frankfurter Kellerstraße, die zeigen, dass Entsorgen auch und gerade heißt, Dinge und Menschen aus-der-Sorge zu nehmen und

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Zur Rolle von Komik in Maiers Texten vgl. Hütter 2011, 178-193. Gorlebener TurmbesetzerInnen 1997, [317, ohne Paginierung]. Zugleich ist dieser Slogan ein Verweis auf Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes, »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« (Gesetz im Internet 2014, ohne Paginierung) Grunwald/Hocke 2012, 62. Trumpeter 2012d, 725.

6. Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen

sich der individuellen Verantwortung für die Existenz von raum- und zeitsprengenden Abfällen nicht zu stellen. Zentral bleibt in Kirillow der Castor als Monument und als Container, in dem zugleich das Unerzählbare in Bezug auf radioaktive Abfälle, das Nichterzählen(können) stets präsent ist. Übertragen auf den Text macht sich das Erzählen über diese Abfälle, und damit nähert er sich Arno Schmidts Schwarze Spiegel an, überflüssig, da die radioaktiven Abfälle allein durch ihre Existenz alle Handlungen durchziehen. Zugleich bietet der Text keine Lösungen an, wie mit radioaktiven Abfällen umzugehen ist. Der Fehler der Abfälle liegt bereits in ihrer Existenz, die sie zum globalen, zum universellen und langfristigen Problem werden lassen. Gerade weil literarische Texte keine endgültigen Lösungen hinsichtlich der Entsorgungsfrage anbieten können, stehen sie in diesem Punkt dem Hauptproblem radioaktiver Abfälle besonders nahe: Ein Endlager ist nicht in Sicht. Zurzeit ist so der zweite Behälter, der für die Endlagerung bestimmt ist und nach Castors Zwillingsbruder Pollux heißt, vor allem eines: abfallnah.

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7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang

Mit einem Blick auf radioaktive Abfälle, die neben Kunststoffen als Entsorgungs- und Erzählherausforderungen für die zeitliche und räumliche Entgrenzung von Abfällen stehen, findet diese Untersuchung ihr strahlendes Ende. Sie widmete sich in insgesamt drei Großteilen und sechs Unterkapiteln Verwerfungen und Verworfenem in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Impulse aus dem Bereich der Discard Studies, der Garbology, Archäologie, Kulturwissenschaften und dem Forschungsfeld des Ecocriticism aufgreifend, werden literarische Texte nach ihrem Wissen über Abfälle, ihrem Wissen über Bewahrungs- und Verwerfungshandlungen und durch Abfälle und abfallnahe Stoffe erzählte Trennungen und Verbindungen befragt. Zugleich sucht diese Arbeit besonders nach einem, wie in der Einleitung ausgeführt, kleinen Erzählen über Abfälle, einem Erzählen vom Rand. Sie fokussiert dabei Bewegungen – Bewegungen, die Abfälle erzeugen, begünstigen oder auch übersehen sowie Gegenbewegungen, die das Wahrnehmen von und die Begegnung mit Abfällen, mit Verworfenem und Verworfenen erlauben, aushalten, gar herausfordern. Obgleich der Fokus auf Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liegt, wurden auch Texte herangezogen, die nicht zu dieser Kategorie gehören. Don DeLillos großer Abfallroman Underworld wird nicht nur im Rahmen der Einleitung zitiert, sondern es wird auch im Verlauf der Arbeit immer wieder zu ihm zurückgekehrt, weil seine Schilderung der zeitliche und räumliche Distanzen überbrückenden Verbindungen von Abfällen zentral bleibt. Daneben bilden Texte von Adalbert Stifter und Franz Kafka als Beispiele eines bewahrenden, eines hybriden Erzählens einen Referenzrahmen, zu dem ebenfalls vielfach zurückgekehrt wird. All diese Texte zeigen, wie Entsorgungsentscheidungen mit politischen und ökonomischen Entwicklungen verbunden sind. Der Hauptteil dieser Arbeit fragt nach dem Potenzial literarischer Texte, verschiedene Modi, verschiedene Zuständlichkeiten von Abfällen, Verworfenem und Verwerfungen, aber auch Wegwerfverweigerungen zu erzählen. Dieses Erzählen begegnet den vorherrschenden Umgangsformen mit Abfällen: Entweder sie werden schnellstmöglich entfernt, sie werden übersehen – oder integriert. Dabei wurden auch Texte analysiert,

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die gegen eingeschriebene Entsorgungsaufforderungen, gegen die Schonungslosigkeit gegenüber Dingen erzählen. Der erste Teil dieser Arbeit, der sich aus den Kapiteln 2 und 3 zusammensetzt, hat bewahrendes, aufschiebendes und integrierendes Erzählen in den Blick genommen. Unter Heranziehen des Konzepts der flüchtigen Moderne Zygmunt Baumans wurden abfallerzeugende und exkludierende Bewegungen nachgezeichnet. Sitzen als Gegenteil von Setzungen wird als Gegenbewegung vorgeschlagen. In diesem Sitzen, das auch ein Aussitzen sein kann, zeigen sich die Taktiken des Aufschiebens und des Zauderns deutlich. Zugleich wird das Potenzial von Störungen untersucht. Dabei steht die Besonderheit, dass es in Inka Pareis Die Schattenboxerin zu einer Integration und damit zur Auflösung von Abfällen kommt, im Kontrast zu anderen diskutierten Integrationen. In Pareis Text handelt es sich nicht um eine ökonomische oder künstlerische Integration, sondern einen individuellen Integrationsakt, der nach einer traumatischen Gewalttat den Abschied von einem Leben am Rand – auch der Entsorgungsinfrastruktur – bedeutet. Die in diesen Kapiteln diskutierten Bewegungen setzen als Gegenbewegungen einen Kontrapunkt zur Effizienz der Abfallentsorgung, wenn sich die in diesem Teil analysierten Texte die Ineffizienz des Erzählens gönnen. Sie sind in diesen Momenten besonders abfallnah. Der zweite Teil, bestehend aus Kapitel 4, hat sich Formen des erkundenden, ruinösen und resignierenden Erzählens gewidmet. Gehbewegungen werden zu Gegenbewegungen, wie am Beispiel von Ruinengängen gezeigt wurde. Das im Rahmen des Kapitels vorgeschlagene Gehen bricht mit routinierten Alltagshandlungen und fasst den Stadtraum als Erfahrungsraum, der es erlaubt, die Abfälle zu kreuzen und sich ihnen auszuliefern. Resignierendes Erzählen meint den Umstand, anzuerkennen, dass Abfälle als Ressource, als Ware fast immer integrierbar sind. In Zeiten, in denen das Abfallverhalten reglementiert, effizient, in den Händen von Profis liegt, ist es selten geworden, dass sich Menschen Abfällen zuwenden. Ist das Abfallverhalten ungewöhnlich, wie am Beispiel des Sammlers Alfred Irgang gezeigt, kann diese Abfallzugewandtheit zum Fall führen. Abfallgeschichten werden zu Fallgeschichten. Der dritte Teil schließlich, bestehend aus Kapitel 5 und 6, hat sich Formen von utopischem, synthetisierendem und kontaminiertem Erzählen zugewandt. Am Beispiel neuer Stoffe, genauer Kunststoffe, werden Motive des Erzählens untersucht. Dabei umfasst Motiv die Doppelbedeutung von Erzählstoff und Erzählmotivation. Die neuen Stoffe sind besonders durch räumliche und zeitliche Entgrenzungen charakterisiert. Durch die Auflösung von Begrenzungen sind Gegenbewegungen kaum mehr möglich. Dennoch wurde das Spucken als Möglichkeit einer solchen Gegenbewegung vorgeschlagen. Die in diesen Kapiteln untersuchten Texte versuchen verschiedentlich, den Entgrenzungen von Abfällen erzählerisch zu begegnen. Einen Weg stellt der Versuch dar, den Verbindungen der neuen Stoffe zu folgen. Zugleich schwingt ebenfalls eine Resignation in diesem Erzählen mit, die sich besonders im Erzählen über Verstrahlung und über radioaktive Abfälle äußert. Mit NIMBY, dem Akronym für not in my backyard wird gezeigt, dass in Bezug auf Abfälle die von Susanne Hauser beschriebenen Mechanismen, die im diese Arbeit eröffnenden Zitat beschrieben werden, immer noch wirksam sind: Da wo ich bin, sollen die Abfälle nicht sein.

7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang

Im Zusammenhang mit den Texten Rot, Der Sammler, aber auch Schwarze Spiegel wurde ein weiteres Moment der Abfallnähe diskutiert: Besonders in Stadien der Auflösung konnte in den untersuchten literarischen Texten eine besondere Abfallnähe konstatiert werden. Auflösung meint hier die Fragmentierung von Zeit und Raum, die Auflösung des linearen Erzählens. Der in Kapitel 6 in Bezug auf radioaktive Abfälle analysierte Text von Andreas Maier führt zur letzten Gegenbewegung, die im Text vorgeschlagen ist: Lassendes Erzählen. Lassendes Erzählen bedeutet zweierlei: Resigniertes bzw. resignierendes Erzählen und belassendes Erzählen. Lassendes Erzählen meint die Erkenntnis: Jedes Tun hat Abfälle zur Folge. Das Lassen als Unterlassen fasst Andreas Maier in seinen Poetikvorlesungen Ich folgendermaßen: »Alle müßten sich gleichermaßen, in einem Augenblick, sein lassen. Dann wäre alles gut, gesellschaftlich, ökologisch etcetera.«1 Während sich etwa in den Texten Genazinos individuelle Wegwerfverweigerungen finden, fokussieren Maiers Texte individuelle und kollektive Verwerfungen und Unterlassungen. Zugleich schwingt immer die Einsicht mit, dass ein abfallverhinderndes Lassen, das eine andere Form des Unterlassens bedeuten würde, keine Option darstellt, weil das Lassen für die meisten Menschen keine akzeptable Form des Lebens ist. Sie möchten nicht lassen, möchten nicht unterlassen, sondern handeln und haben Pläne, Wünsche und Träume.2 Dabei nehmen sie in Kauf, dass ihr Tun von Verwerfungen und Verworfenem begleitet wird. Auch diejenigen, die das erkennen, kapitulieren mit und in dieser Erkenntnis. Eine abfallzentrierte Literaturwissenschaft, die sich als Teil der Discard Studies versteht, kann nicht nur in literarischen Texten vorhandenes Wissen über Abfälle, über Verworfenes und Verwerfungen herausarbeiten. Sie kann helfen, neue Perspektiven eines Nachdenkens über Abfälle zu eröffnen, andere Formen des Abfallwissens zu ergänzen oder diesen zu widersprechen. Folgt man den in der Einleitung dieser Arbeit angesprochenen Impulsen des Ecocriticism in zukünftiger Abfallforschung weiter, ließen sich beispielsweise das im Rahmen der Analysen in Kapitel 5, besonders von Thomas Meineckes Roman Tomboy begonnene Zusammenlesen von materialhistorischen Darstellungen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und literarischen Texten weiterführen. Der Gedanke des Weiterführens ist auch hinsichtlich der Leerstellen dieser Arbeit bedeutsam. Diese Leerstellen sind teilweise dem Material geschuldet. Bestimmte abfallrelevante Themen, die in den ersten Vorarbeiten für diese Arbeit versammelt waren, werden in den literarischen Texten, die schließlich Eingang in den Hauptteil fanden, nicht be- und verhandelt. Dazu zählt etwa, mit wenigen Ausnahmen, das Berufsfeld der Müllwerkerinnen und -werker. Hierzu gibt es zwar historische Darstellungen, beispielsweise die Untersuchung von Brian Maidment, Dusty Bob. A Cultural History of Dustmen, 1780-18703 mit Fokus auf England sowie die Studien von Donald Reid mit Blick auf Paris4 und Robin Nagle auf New York City5 . In den für diese Arbeit konsultierten literarischen Texten fehlte jedoch, mit Ausnahme von Momo oder kurzen Andeutungen in anderen Texten, eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Berufen der Entsorgungsin1 2 3 4 5

Maier 2006, 97. Zum Aspekt des Lassens im literarischen Werk Maiers vgl. Hütter 2011, 386-388. Maidment 2007. Vgl. Reid 1991. Vgl. Nagle 2013.

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dustrie. Stattdessen finden sich andere Müllwerker in diesen Texten versammelt, etwa Stadt- und Abfallergehende sowie Sammler. Damit verbunden zählen zu den Leerstellen häufig auch die Entsorgungsinfrastrukturen der Städte bzw. auch infrastrukturelle Netzwerke der Entsorgung selbst, die mitunter, wie in Inka Pareis Die Schattenboxerin, nur erzählerisch gestreift werden. Gerade in diesem Feld liegen mittlerweile Publikationen vor wie Elizabeth Roytes Garbage Land. On the Secret Trail of Trash6 und Vivian E. Thomsons Garbage in, Garbage out: Solving the Problems with Long-Distance Trash-Transport 7 . Dennoch sind die Verbindungen von Warendingen und Abfällen, von Ware und Verwerfung in literarische Texte eingeschrieben. Sie herauszuarbeiten, kommt einer mühsamen Bewahrungsarbeit gleich. Hier lassen sich Aufgaben für künftige literaturwissenschaftliche Forschungsprojekte formulieren: Weitere literarische Texte warten, um hinsichtlich ihres Wissens über Verworfenes und Verwerfungen befragt zu werden. Die Nichtsichtbarkeit infrastruktureller Verbindungen gerade im Hinblick auf individuelle und kollektive Entsorgungshandlungen stützt zugleich die These, wonach die Entsorgungsinfrastrukturen derart als gegeben vorausgesetzt, die Entsorgungshandlungen derart ritualisiert verrichtet werden, dass eine Erwähnung nur in Momenten der Störung notwendig wird. Auch die Rolle von Tieren könnte der Fokus weiterer Studien über ein Erzählen über Abfälle sein. Die im Rahmen der Analyse von Evelyn Grills Roman Der Sammler in den Blick genommene Ratte als abfallnahes Tier könnte so einen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen darstellen, die Forschungsfragen der Animal Studies mit denen der Discard Studies verbinden. Aus dem Forschungsfeld des Ecocriticism stammt auch ein weiterer Gedanke, der zum Abschluss verfolgt werden soll. Kevin Trumpeter argumentiert, dass eine ökokritische Wissenschaft, wenn diese ihre Fragestellungen und Themen ernst nähme, die materiellen Aspekte von Wissenschaft stärker als bisher fokussieren müsste.8 Trumpeter untersucht wissenschaftliche, besonders kulturwissenschaftliche Arbeiten über Abfälle. Er zeigt, wie wenig bedeutsam für die meisten dieser Forschungstexte die Herkunft oder Beschaffenheit des Papiers oder der Farbe scheint, mit denen die abfallfokussierende Publikation gedruckt wurde – kurz: die materielle Seite von Wissenschaft, die Ressourcen und Abfälle, die in der Forschung über Abfälle erzeugt werden.9 Auch das Ausweichen in digitale Formen des Publizierens, dies demonstrieren die Darstellungen im Hauptteil, ist nicht mit weniger Abfällen verbunden, sondern bedeutet eine weitere Verschiebung in Zonen der Unsichtbarkeit, wie die stetig steigenden Mengen an E-Waste zeigen. Auch diese Untersuchung ist von der Kritik Trumpeters nicht ausgenommen. Nicht nur durch die Publikation selbst werden neue Abfälle erzeugt und Ressourcen in Anspruch genommen. In der Einleitung wurde gezeigt, wie hinsichtlich des Verfahrens der Textauswahl Analogien zwischen dem Kunsthandwerk des Schleifens und Polierens von Rohsteinen zu Edelsteinen und dem Verfassen von literarischen Texten bestehen.

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Royte 2005. Thomson 2009. Trumpeter 2013. Vgl. Trumpeter 2013, besonders 10-13.

7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang

Damit sind die Verwerfungen, die Reste und Abfälle angesprochen, die die Ausarbeitung der vorliegenden Untersuchung begleiteten. Auch darüber hinaus ist diese Arbeit in ihrer Produktion mit unzähligen Abfällen verbunden: Ein Notebook wurde in der Zeit der Ausarbeitung dieser Arbeit zu E-Waste, Papier durch Korrekturausdrucke zu Altpapier, intensive Arbeitsphasen wurden von convenience food wie Tiefkühlpizza begleitet oder Bibliotheksbesuche durch zahlreiche Becher coffee to go verlängert. Generell lässt sich für die Wissenschaft, auch für eine abfallzentrierte Wissenschaft, feststellen, dass auch sie untrennbar verbunden ist mit hochgradig abfallerzeugenden Bewegungen: Wissenschaftliche Vernetzung bedeutet den Einsatz von Technik, bedeutet Mobilität in Form von Zug- und Flugreisen. Bedeutsam bleiben in der Wissenschaft, gerade auch der Literaturwissenschaft, verwertbare Endprodukte. Was zählt, sind nicht die Abfälle, die verworfenen Bruchstücke, die Irrwege, sondern das, was übrig bleibt: Veröffentlichungen in Form von Aufsätzen oder Monographien. Und auch, wenn Forschung schließlich publiziert wird, als ein weiteres Buch in den Regalen steht – ist dies mitunter abfallnah. Nikolaus Wegmann stellt zur Abfallnähe von Büchern fest: »Jedes Jahr wird der Büchermarkt in Zahlen vermessen […], jedoch ohne Hinweis, wieviele Titel eingezogen und zu Makulatur geworden sind. Auch die Bibliotheken geben ihre Bestandszahlen und Neuerwerbungen an, reden jedoch kaum über die – aus welchen Gründen auch immer – aufgegebenen Bestände.«10 Könnte die Konsequenz der Überlegungen Trumpeters, der Feststellung Wegmanns sein, der Abfallwerdung von Büchern, dieser ressourcenintensiven, ebenfalls abfallerzeugenden Wissenschaft nichts mehr hinzuzufügen, keine Bücher, überhaupt keine Texte mehr zu verfassen und zu publizieren? Aber gilt diese Frage nicht für alles, was wir tun, um mit einem Zitat Andreas Maiers zu formulieren, für jede zivilisatorische Handlung? Müsste also ein konsequentes Nachdenken über Abfälle in anderen Foren und Formen stattfinden, die noch zu erproben sind? Diese Fragen müssen, zumindest im Rahmen dieser Arbeit, unbeantwortet bleiben. Der Rest ist manchmal doch Schweigen. Das Konzept des Anthropozäns besagt, dass nach vergangenen geologischen Epochen, dem Pleistozän und Holozän, nun das Zeitalter des Menschen angebrochen sei – der Mensch wird zur formierenden Kraft, weil seine Spuren sich bis in geologische Formationen graben.11 Besonders am Beispiel anthropogener CO2 -Emissionen,12 die zu Veränderungen des Klimas führen und weiterhin führen können, wurde dieses Konzept zunächst in den Naturwissenschaften diskutiert, dann von anderen Wissenschaften, etwa den Kulturwissenschaften, aufgegriffen,13 weil es im Kern vor allem eine unbestreitbare Aussage beinhaltet: Die Folgen des menschlichen Handelns sind weitreichender als jemals zuvor. Neben den CO2 -Emissionen stützen besonders Abfälle diese These. So gehören zu den von Menschen erzeugten Abfällen, die wie gezeigt, Raum und Zeit überbrücken, Plastikabfälle im Ozean, Aluminiumdosen oder Silikonbackformen, die erst in Hunderten oder Tausenden von Jahren verschwinden. Zugleich gehen viele dieser

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Wegmann 2000, 91, Fußnote 36, zu Büchern als Abfälle vgl. auch Trumpeter 2012a. Vgl. Crutzen/Stoermer 2000 und Leinfelder 2012, 257. Vgl. Crutzen 2011, 7f. Vgl. Leinfelder 2012, 259f.

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Abfälle hybride Verbindungen mit Ökosystemen ein, hinterlassen Spuren in der Nahrungskette oder im Hormonhaushalt von Lebewesen. Auch radioaktive Abfälle, die die Zeitdimension von Abfällen ins Unendliche verlängern, haben anthropogene Ursachen: Ohne Menschen gäbe es diese Abfälle nicht. Zugleich müssten sich die Menschen der Verantwortung stellen, die diese Erkenntnis mit sich bringt.14 Hier lässt sich eine Aufgabe in mehrfacher Hinsicht formulieren: Eine Aufgabe als Lösung von Gewohntem, als Aufforderung, aber auch Kapitulation, als Anfang, als Beginn einer neuen Verbindung von Wissen und Praxis. So ist für diese abschließende Betrachtung grundlegend, die Verbindungen zwischen literarischen Texten und außerfiktionaler Realität, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Alltag und sich in literarischen Texten findendem Wissen über diesen Alltag in den Blick zu nehmen. Neben Abfällen war Wasser ein vielfach auftretendes Motiv in dieser Untersuchung, besonders in Kapitel 3 als Metapher für die flüchtige Moderne. Auch in Kapitel 5, das sich unter anderem Plastikabfällen im Pazifik widmet, wurde die Plastiksuppe im Meer schließlich eines der Sinnbilder für die räumlichen und zeitlichen Entgrenzungen von Abfällen. Ludwig Fischers Ausführungen zu Aspekten einer Sozialgeschichte des Wassers15 , führen uns zur Halbinsel Eiderstedt. Südlich von Husum gelegen, stellt dieser Landstrich, dünn besiedelt und wirtschaftlich fast ausschließlich auf agrarische Produktion angewiesen, ein Beispiel für eine geographische und ökonomische Randlage dar.16 Wasser und Vergessen, das zeigt nicht nur Ivan Illich, gehen mitunter eine besondere Verbindung ein. Dies gilt und gilt zugleich nicht in Bezug auf Eiderstedt. Fischer zeigt, wie dort der vormoderne Umgang mit Wasser in Zeiten des Überflusses ein »lebendiges, aber überflüssiges Gedächtnis an das überwundene Verhältnis zum täglichen Wasser«17 darstellt. Durch den Umstand, dass es auf der Halbinsel keine Bäche und Flüsse gibt, herrschte Mangel an gutem und ausreichendem Trinkwasser. Zugleich gab es kein Abfallwasser, kein Abwasser. Diese Zeit war geprägt von Entbehrungen,18 wie Fischer am Beispiel eines Bauernpaars zeigt, das erst im Jahr 1962 fließendes Wasser bekam.19 Das von Fischer beschriebene Vergessen meint vor allem ein, wie er es nennt, lebenspraktisches Vergessen, das gegen die Einlagerung von Erinnerung in Bewahrungsorten wie Museen stehe.20 Modernisierung fasst Fischer als Prozess der Vereinheitlichung, die neue Verbindungen möglich macht, aber auch Trennungen bedeutet: Innerhalb von wenigen Jahren lösten diese drei Elemente der Modernisierung – feste Straßen bis zum abgelegensten Winkel, Elektrizität und Leitungswasser in jedem Haus – grundlegende Züge des Alltagslebens auf, die sich zumindest in besonders entlegenen Nischen über Jahrhunderte kaum gewandelt hatten: Zeitrhythmen und Raum-

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Vgl. Leinfelder 2012, 260. Vgl. Fischer 1988. Vgl. Fischer 1988, 316. Fischer 1988, 334. Vgl. Fischer 1988, 321. Vgl. Fischer 1988, 322. Vgl. Fischer 1988, 315f.

7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang

wahrnehmungen, Vorratshaltung und Eßgewohnheiten, Ressourcenhandhabung und soziales Verhalten, Hygiene und das Wissen von den Hausmitteln.21 Am Beispiel der Texte Theodor Storms, die in der Region situiert sind, versucht Fischer zu zeigen, dass literarische Texte keine Möglichkeit des Erinnerns an diesen besonderen Umgang mit Wasser sein können. Fischer spricht im Zusammenhang mit den Texten Storms von einer Bewegung der »Entleerung des realen Wassergebrauchs«22 , im Zuge derer eine Verflüchtigung des alltäglichen Umgangs mit Wasser in der Region einhergehe: »Die Romantisierung der Gewässer, die Storm gewissermaßen ins Nordfriesische transformiert, bezeichnet bereits eine erste Stufe einer intellektuellen Distanzierung von den Zwängen einer alltagspraktischen Arbeit auch mit dem Element Wasser […].«23 Was für den alten und neuen Gebrauch von Wasser gilt, ist ebenso für den Umgang mit Abfällen gültig, wie die Textanalysen im Rahmen dieser Arbeit gezeigt haben: »Wer den vormodernen Umgang mit Wasser in unserer Überflußgesellschaft nicht vergessen mag, wird zum Sonderling.«24 Dies treffe besonders auf ältere Menschen zu, sie »erscheinen als schrullig, ein lebendiges, aber überflüssiges Gedächtnis an das überwundene Verhältnis zum täglichen Wasser.«25 Auch ein unkonventioneller Umgang mit Abfällen kann zum Status des Sonderlings führen. Zugleich zeigt Fischer, und das lässt sich ebenfalls auf den Umgang mit Abfällen übertragen: Eine Rückkehr zu alten Zeiten ist nicht möglich, nicht einmal wünschenswert. Dennoch sind andere Formen der Versöhnung denkbar. Dies könnte bedeuten, gerade vor dem Hintergrund eines Erinnerns, eines Eingedenkens an Vergangenes nach Formen der praktischen Auseinandersetzung mit Alltagsgewohnheiten, nach Konsumpraktiken zu fragen, in Bezug auf Trinkwasser, aber auch im Hinblick auf Bewahrungs- und Verwerfungsbewegungen: Die Arbeit, die wir zu lernen haben, um den modernen Umgang mit Wasser hinter uns zu lassen, lehrt uns unmittelbar weder das Wasser noch eine Maschine, noch die Geschichte, noch unser eigener Körper. Ob wir Erinnerungen aus der vormodernen Lebensweise in den Zusammenhang unserer Praxis übersetzen wollen und können, ist nicht eine Frage der Erzählkunst, sondern der Kämpfe um diese Praxis.26 Abfälle sind nicht intuitiv zu verstehen. Sie sind eingebunden in Verbindungen, die weit über alltägliche individuelle Wegwerfbewegungen hinausgehen, in Diskurse, Konventionen, ökonomische, politische und geopolitische Interessen, Unterdrückungsverhältnisse und infrastrukturelle Entscheidungen. Dennoch spielt auch der individuelle Umgang mit Abfällen, spielen individuelle Wegwerfentscheidungen eine maßgebliche Rolle in einem Nachdenken über Abfälle – gerade, wenn sie Eingang finden in literarische Texte. Zugleich gilt es, hier ist Fischer zuzustimmen, dieses Wissen wieder in den Alltag, in alltägliche Wegwerfbewegungen zurückzuübersetzen. Scheinbare Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten werden kontinuierlich herausgefordert, die durch ein

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Fischer 1988, 318. Fischer 1988, 330. Fischer 1988, 330. Fischer 1988, 334. Fischer 1988, 334. Fischer 1988, 335.

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Wissen über die in dieser Arbeit nachgezeichneten Verbindungen zu anderen Entscheidungen führen können, als Plastikabfälle zu recyceln oder nach ökologischen Grundsätzen produzierte Waren einzukaufen – oder zumindest hier nicht enden. Die Texte Andreas Maiers, besonders der im Rahmen dieser Arbeit mit dem Blick auf radioaktive Abfälle analysierte Roman Kirillow, erzählen, wie gezeigt, vom (Unter-)Lassen als Aufgabe – und zugleich als Anerkennung einer Kapitulation. Im Zusammenhang mit einem anderen Text, der auch von den Folgen einer Technik erzählt, die nicht kontrollierbar sind, dominiert weniger die Resignation, sondern der Glaube daran, dass Veränderung möglich ist. In den Materialien zu Christa Wolfs Novelle Störfall27 findet sich ein Brief des Bielefelder Lehrers Herbert Zobel. Obgleich der darauffolgende Briefwechsel zwischen Wolf und Zobel die Kernenergie und deren Folgen fokussiert, wird dieser Briefwechsel zugleich zu einer Diskussion über ein Denken, das zu solch einer Technik führt, eine Diskussion über Möglichkeiten, über Verantwortung, über Bequemlichkeit und deren Kosten. Ein Denken, das – wie gezeigt – auch zur Zunahme und zur räumlichen und zeitlichen Entgrenzung von Abfällen führte. Zobel schreibt im Jahr 1987, nach Beendigung seiner Störfall-Lektüre: »Asketisch muß der Verzicht sein und global, weh muß er tun, sonst nützt er nichts. Aber darf der Aufruf zur Askese von uns Privilegierten kommen? Ich glaube das nicht und bin daher ratlos.«28 Christa Wolf antwortet darauf: »›Lösungen‹ für das schier unlösbare Problem, unsere Zivilisation auf einen weniger aggressiven und weniger gefährlichen Weg der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu führen, habe ich auch nicht.«29 Ein erster Schritt sei jedoch der eines Erkenntnisprozesses: »Zunächst sind wir wohl noch alle auf der Stufe des Erschreckens, des Warnens, der möglichen Bewußtseinsveränderung von vielen durch Erkennen des Problems.«30 Weiter formuliert sie: »Mir ist bewußt, daß […] die Arbeit eigentlich erst anfängt und daß es, auf Dauer gesehen, eine Arbeit an den Wurzeln des Irrgangs dieser Kultur sein muß: Wir, unsere Kinder und Enkel müssen unsere, ihre Bedürfnisse ändern.«31 Folglich beinhaltet der Verzicht eine andere Form von Aufgabe. Eine Aufgabe, die, das hat diese Untersuchung gezeigt, den Kern jeder Wegwerfbewegung trifft, indem sie deren Beweggründe in Frage stellt: Wünsche, Träume, Hoffnungen, aber auch Bequemlichkeit und Kurzsichtigkeit. Diese Erkenntnis auszuhalten, ist

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Störfall. Nachrichten eines Tages (Wolf 2002), 1987 publiziert und unter unmittelbaren Eindrücken der Katastrophe von Tschernobyl verfasst, kreist um die Gefahren und Folgen der Kerntechnik bzw. eines Super-GAUs und somit um die Zerstörung und Beeinträchtigung der Zukunft der Menschheit durch von Menschen geschaffene Maschinen und Lebensweisen. Parallelisiert wird das Erzählen über die Tschernobyl-Folgen mit einer notwendigen schweren Operation des Bruders der Erzählerin. Ihm wird ein Tumor entfernt, bei ungünstigem Ausgang kann diese Operation den Tod oder eine vollständige Erblindung zur Folge haben. In der Forschungsliteratur werden besonders die Verbindungen analysiert, die der Text schafft, namentlich die zahlreichen Intertexte. Andere Interpretationen widmen sich dem Themenkomplex Utopie und Dystopie, bei Wolf oftmals im Kontext eines Nachdenkens über den Sozialismus sowie die Thematik der Technik bzw. Technikkritik, die wiederum häufig mit Genderfragen verbunden ist (vgl. hierzu etwa Rechtien 1992 und Eysel 1992). Wolf 2001, 196. Wolf 2001, 196. Wolf 2001, 196. Hervorhebung dort. Wolf 2001, 197.

7. Schlussbetrachtung: Lassendes Erzählen sowie (Erzählen über) Abfälle als Aufgabe und Anfang

ebenfalls eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die einen Blick voraussetzt, der kein Überblick sein kann, besonders nicht der Blick aus der Höhe, von einem Turm oder Flugzeug aus, sondern ein Blick, der ins Detail gehen muss.32 In einer Aufgabe, in einem Aufgeben dieser Träume, die durch andere, durch neue – oder alte? – Träume ersetzt werden müssten, kommt das Phantastische ins Spiel, kommen zugleich Literatur und Alltag erneut zusammen, wie Christa Wolf zeigt: Sie sprechen von Verzicht, der gehört ganz sicher dazu, aber ich denke, wirksamer könnte es sein, von der positiven Seite heranzugehen: auf gewisse Weise nicht verzichtender, sondern sogar anspruchsvoller werden, indem wir es lernen, unsere wirklichen, unsere förderlichen Bedürfnisse zu befriedigen – ein sehr unbequemer Weg. Ob realistisch, weiß ich nicht, aber man muß anfangen damit, als sei er realistisch. Sie werden wissen, was ich meine.33 Literarische Texte können helfen, den Blick zu weiten, sich der Vergangenheit und der Gegenwart so zuzuwenden, dass der historische und aktuelle Umgang mit Verworfenem sichtbar wird und zugleich zu sehen ist, wie und wodurch solche Verwerfungen tagtäglich vollzogen werden. Darüber hinaus kann die Beschäftigung mit literarischen Texten auch eine Zukunftsdimension innehaben, wenn sie zeigen, welche anderen individuellen und kollektiven Möglichkeiten des Umgangs mit Dingen und Menschen, welche Möglichkeiten eines guten Lebens vorstellbar sind – ein Leben, das nicht zwangsläufig zu einem Mehr an Verwerfungsbewegungen und Verworfenem führen muss. So endet diese Untersuchung mit der Hoffnung, dass ihre Ergebnisse, das ›unreine‹ Wissen von Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur über Abfallverbindungen, über Verworfenes und Verwerfungen als Teil der Discard Studies im Gegenzug eine Aufgabe und einen Anfang darstellen, um weiteres Nachdenken über Abfälle und deren Verbindungen zu inspirieren.

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Zum Blick aus dem Cockpit, der vielfach in Unterhaltungsmedien simuliert wird, vgl. Kaschuba 2004, 248-256 und, mit einem Fokus auf Los Angeles und die Zukunft der Städte, Schlögel 2007, 496f. Wolf 2001, 197, Hervorhebung dort.

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Literatur

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5

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Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3

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