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German Pages 380 Year 2019
Nerea Vöing Arbeit und Melancholie
Lettre
Für meine Familie
Nerea Vöing, geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stabsstelle Bildungsinnovationen und Hochschuldidaktik an der Universität Paderborn. Hier studierte sie deutschsprachige Literatur, Geschichte und Komparatistik und promovierte 2017. Sie ist Mitglied im Netzwerk Frauen und Geschlechterforschung NRW sowie im Nachwuchsforschernetzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS).
Nerea Vöing
Arbeit und Melancholie Kulturgeschichte und Narrative in der Gegenwartsliteratur
Zugl. Dissertation Universität Paderborn 2017 Gefördert durch ein Stipendium des Präsidiums der Universität Paderborn
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Inhalt
1.
Einleitung | 9
1.1 1.2 1.3
Arbeit und Melancholie: Eine Engführung I | 16 Motivgeschichtliche Überlegungen | 22 Die melancholische Geisteshaltung im Kontext von Rückzug und Verweigerung | 26 Kriterien der Textauswahl | 30
1.4
Kulturgeschichtliche Überlegungen | 39 Von antiken Aristokraten und den Ursprüngen der Melancholie | 39 Arbeit versus Melancholie in der Acedia des Mittelalters | 42 Melancholischer Müßiggang in Spätmittelalter und Früher Neuzeit | 45 Der Melancholiker als ‚Geistesarbeiter‘ im Humanismus | 47 Arbeit und Melancholie in Albrecht Dürers Melencolia I | 48 Endemische Melancholie im Spannungsfeld zwischen Protestantismus und Humanismus | 51 2.7 Das anti-melancholische Programm der Aufklärung | 54 2.8 Entfremdete Arbeit: Industria und Melancholie im langen 19. Jahrhundert | 57 2.9 ‚Arbeitslos‘ und melancholisch: Von Dandys und Flaneuren | 60 2.10 Moderne Acedia | 62 2.11 Spätmoderne ‚Melancholien‘ | 64 2.
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
3.
Gegenwartsliterarische Narrative | 67
3.1
Literarische ‚Arbeit‘ am Bildreservoir der Melancholie | 67 3.1.1 Allegorische Umschreibungen in Lars Gustafssons Nachmittag eines Fliesenlegers (1991) | 67 Arbeit als ‚profane Basis‘ des Romans | 69 – Die allegorische Dimension des Fliesenlegens | 71 – Existentielle Melancholie bei Gustafsson | 75 3.1.2 Der Beamte als Philosoph: Heiko Michael Hartmanns Unterm Bett (2000) | 80 Beamtentum als ‚Lebensform‘ | 80 – Die melancholische Dimension des Beamtentums | 82 – Die conditio humana am Beispiel der Amtsstube | 87 3.1.3 Melancholie des Abschieds in Ralf Rothmanns Junges Licht (2004) | 89 Max von der Grüns ‚Arbeiterliteratur‘ | 94 – Rothmanns milieugesättigte Melancholie | 99 – Arbeit und Melancholie bei Anna Seghers, Allan Sillitoe und Ralf Rothmann | 102
3.2
3.3
Der melancholische ‚Drift‘ | 105 3.2.1 Marion Poschmanns arbeitslose Melencolia: Hundennovelle (2008) | 105 Zur Melancholie der arbeitsgesellschaftlichen Exklusion | 106 – Der Hund als Gefährte und Todesbote | 111 – Die Transformation der Protagonistin als ‚Tier-Werdung‘ | 113 – Das Ende der Novelle zwischen Auflösung und ‚Heimkehr‘ | 115 3.2.2 Exkurs zum Motiv des Melancholiehundes | 117 Die emblematische Dimension des Hundemotivs | 121 – Zu den ‚Hundstagen‘ | 124 – Die philosophische Melancholie und der Hund | 127 – Dürers ‚Windspiel‘ | 131 – Zum Motiv des schwarzen Hundes | 133 – Die Spiegelfunktion des Hundemotivs in Literatur und Kunst | 136 – Melancholiehunde in ausgewählten literarischen Beispielen | 141 3.2.3 Die Müdigkeit der Taxifahrerin: Karen Duves Taxi (2008) | 147 Taxifahren als Beruf jenseits der Berufung | 148 – Eine kurze Geschichte der Müdigkeit | 153 – Vom ‚erschöpften Selbst‘ über die Müdigkeitsgesellschaft zur Melancholie | 156 – Zum Verhältnis von Melancholie und Depression | 159 3.2.4 ‚Wehe Hemmungen‘: Wilhelm Genazinos Angestellte (2009/2011) | 162 Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie und Martin Walsers ‚Arbeitstexte‘ | 163 – Ein melancholischer Angestellter: Das Glück in glücksfernen Zeiten | 168 – Die Melancholie des ‚gedehnten Blicks‘ | 172 – Die Klinik als Ort der Exklusion und des Auswegs | 174 – Zur gesellschaftlichen Dimension der Warlich’schen Melancholie | 178 – Die melancholische Leerstelle | 183 – Ein melancholischer Selbstständiger: Wenn wir Tiere wären | 184 – Tiermetaphern im Kontext von Freiheit und Gefangenschaft | 187 – Melancholische Haltungen von Walser bis Genazino | 188 3.2.5 Melancholie 2.0: Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer (2009/2013) | 192 Vereinzelung in der New Economy | 193 – Der ‚Drift‘ des Darius Kopp | 197 – Melancholie 2.0 | 200 – Vom ‚einzigen Mann‘ zum Ungeheuer: Der Weg aus der und in die Krise | 206 Ennui und Entfremdung | 214 3.3.1 Zwischen Ennui und Destruktion: Frédéric Beigbeders 39,90 (2000) | 214 Zur kreativen Arbeit | 216 – Der Ennui des Erfolgs | 219 – Zur Unmöglichkeit einer Utopie | 222 – Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone | 224 – Ennui und Arbeit bei Houellebecq und Beigbeder | 228 3.3.2 Die Suche nach einem Ausweg in Joachim Bessings Wir Maschine (2001) | 231
Von anfänglichem Enthusiasmus und folgender Resignation | 233 – Terror wider den melancholischen ‚Zeitgeist‘ | 239 – Auswege in die oder aus der Wir Maschine | 242 – Christian Krachts 1979: Das Glück des Dandys im Gulag | 247 – Zu einem Ennui der Freiheit bei Bessing und Kracht | 252 3.3.3 Beschleunigung und Entfremdung: Don DeLillos Cosmopolis (2003) | 256 Arbeit bei DeLillo: Von Americana bis Cosmopolis | 257 – DeLillos Protagonisten zwischen Melancholie und Ennui | 262 – Beschleunigung und Entfremdung | 265 – Mögliche Auswege zwischen Flucht und Auflösung | 267 – Kein Ausweg in Sicht: Bret Easton Ellis’ American Psycho | 271 – Die Melancholie des M-(C)M’ | 281 – Affirmation statt Verweigerung bei DeLillo und Ellis | 286 4.
Fazit | 293
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Arbeit und Melancholie: Eine Engführung II | 298 Die Protagonisten zwischen Verweigerung und Anpassung | 303 Arbeit und Melancholie: (K)ein Ausweg in Sicht | 306 Die Kritik der literarischen Melancholie | 314 Das abwesende Objekt melancholischer Trauer | 318 Ausblick | 325
Literatur | 329
1. Einleitung
„In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, […] um dann völlig ‚beruhigt‘ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. […] Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“1
Diese Diagnose traf Hannah Arendt bereits im Jahr 1958 angesichts der ökonomisierenden Tendenzen der Neuzeit, im Zuge derer ‚Arbeit‘ zur vorrangigen Tätigkeit des Menschen erklärt und der moderne Mensch damit, so Arendt, zum animal laborans wurde. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen scheint die Konstitution dieses animal laborans – also des sich über Arbeit definierenden sowie in soziale Gruppen und Gemeinschaften inkludierenden Menschen – jedoch zunehmend problematisch zu werden. Prekäre Beschäftigungen weiten sich aus2, die Arbeitslosigkeit ist hoch3 und 1 2
3
Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper 22003 [1958], S. 410-411. Vgl. Günther Schmid: „Arbeitsplätze der Zukunft: Von standardisierten zu variablen Arbeitsverhältnissen.“ In: Jürgen Kocka u. Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 269-292: 273 sowie Martin Baethge: „Subjektivität als Ideologie. Von der Entfremdung in der Arbeit zur Entfremdung auf dem (Arbeits-) Markt?“ In: Gert Schmidt (Hg.): Kein Ende der Arbeitsgesellschaft. Arbeit, Gesellschaft und Subjekt im Globalisierungsprozeß. Berlin: Edition Sigma 1999, S. 29-44: 31-32. Für den wissenschaftlichen Diskurs prägend ist die Arbeit Claus Offes, der sich bereits 1984 der Zunahme von prekären Beschäftigungsformen gewidmet hat, vgl. Claus Offe (Hg.): ‚Arbeitsgesellschaft‘. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven. Frankfurt/M. u.a.: Campus 1984. Hierbei zeigt sich in allen OECD-Staaten eine ähnliche Entwicklung mit steigenden Arbeitslosenzahlen ab den 1970er Jahren, die schließlich auf einem vergleichsweisen hohen Level stagnieren und auch in Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs nur unwesentlich sinken, vgl. Reinhard Weber: Persistente Arbeitslosigkeit. Marburg: Metropolis 2003, S. 13, 18-31.
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die Arbeitsrealität wartet, im Zuge von Digitalisierung, Globalisierung sowie allgemeiner Beschleunigung, mit immer neuen Anforderungen auf. Zeichnete sich zuvor die − das ‚westliche‘ Bild von Erwerbsarbeit dominierende − Arbeitsorganisation des ‚Fordismus‘ u.a. durch arbeitsteilige, rationalisierte Massenproduktion, eine relative Lohnhöhe, lange Betriebszugehörigkeit sowie Maßnahmen zur sozialen Absicherung aus4, bekommt Arbeit ab den 1970er Jahren in einigen Kontexten ein ‚neues Gesicht‘. Für eine ‚postfordistisch‘ organisierte Arbeit, welche Arbeitsplätze der sogenannten New Economy oder auch des New Capitalism vornehmlich prägt, wird eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten zum konstitutiven Aspekt.5 Eigeninitiative sowie ein hohes Maß an Identifikation mit der Arbeit – dies sind u.a. die Ideale der „postfordistische[n] Rhetorik, die gegen die mechanische Routine und für den organischen Flow argumentiert.“6 Susanne Heimburger wählt in ihrer Deutung dieser Entwicklung einen Ansatz, der weniger auf eine gewandelte Arbeitsorganisation als auf ein neues Arbeitsverständnis abhebt, aus welchem wiederum neue Ansprüche resultieren: „Der gegenwärtige Arbeitsbegriff strebt eine Synthese von (aktiver) Muße und Arbeit“ an, und „[d]amit verbunden ist der Anspruch, dass Arbeit nicht mehr der menschlichen Selbstverwirklichung entgegensteht […], sondern dass im Gegenteil der Mensch in der Arbeit ganz zu sich selbst findet.“7 Heimburgers Ausführungen zufolge sind die Imperative totalitär, sie zielen auf den ganzen Menschen.8 Das Konstrukt eines ‚Selbst‘ rückt als „Selbst-Organisation, Selbst-Sozialisation, Selbst-Bildung, SelbstMotivation […] Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung“9, in den Fokus der Aufmerksamkeit sowie der, die westlichen Arbeitsgesellschaf-
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Vgl. Stefan Kühl: Arbeits- und Industriesoziologie. Bielefeld: transcript 2004, S. 28-33, 6366. Vgl. Hans J. Pongratz u. G. Günter Voß: „Erwerbstätige als ‚Arbeitskraftunternehmer‘.“ In: Sozialwissenschaftliche Informationen 30/4 (2001), S. 42-52: 44. Ausf. zum Begriff des Postfordismus sowie zu den durchaus unterschiedlichen Erklärungsmodellen des wirtschaftlichen Wandels, die sich dahinter verbergen, vgl. Igor Pribac: „Post-Fordism – a Contextualisation.“ In: Gal Kirn (Hg.): Post-Fordism and Its Discontents. Maastricht: Jan van Eyck Academie 2010, S. 21-39. Ausf. zum Begriff der New Economy, der darin umgesetzten postfordistischen Arbeitsorganisation und deren Potential sowie zum Einfluss des Finanzkapitalismus vgl. Roger Alcaly: The New Economy. And What It Means for America’s Future. New York, NY: Farrar, Straus and Giroux 2004 [2003]. Kai von Eikels: „Nichtarbeitskämpfe.“ In: Jörn Etzold u. Martin Jörg Schäfer (Hg.): NichtArbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken. Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2011, S. 17-39: 33 sowie vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 19. Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten. München: edition text+kritik 2010, S. 13. Vgl. dazu auch Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp 52013 [2007], S. 283. Karin Gottschall u. G. Günter Voß: „Entgrenzung von Arbeit und Leben – Zur Einleitung.“ In: Dies. (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag. Mering, München: Rainer Hampp 2003, S. 1133: 15.
Einleitung
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ten prägenden, leistungsgesellschaftlichen Anforderungen.10 Es entspinnt sich ein Konflikt zwischen imaginierter Selbstentfaltung und real möglicher resp. ‚wahrscheinlicherer‘ Selbstentfremdung. Ein Scheitern bei der Arbeit bzw. in der Arbeitslosigkeit wird entsprechend, so lauten bisweilen die soziologischen Diagnosen, als Scheitern des ‚Selbst‘ wahrgenommen11, Konflikte werden inkorporiert.12 10 Lässt sich der Begriff der ‚Leistung‘ kaum eindeutig definieren (vgl. Frank Schlie: „Die Vielfalt der Leistungsbegriffe.“ In: Karl Otto Hondrich et al. (Hg.): Krise der Leistungsgesellschaft. Empirische Analysen zum Engagement in Arbeit, Familie und Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, S. 50-67), so verhält es sich mit der ‚Leistungsgesellschaft‘ ganz ähnlich, und dennoch wird sie, Umfragen zufolge, als „treffende[r] Begriff zur Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ wahrgenommen (Horst W. Opaschowski: Feierabend? Von der Zukunft ohne Arbeit zur Arbeit mit Zukunft! Opladen: Leske + Buderich 1998, S. 37). Die leistungsgesellschaftlichen Wurzeln reichen zurück bis ins 17. oder sogar bis ins 16. Jahrhundert, in die Zeit des sich herausbildenen Kapitalismus und der von Max Weber so nachhaltig beschriebenen protestantischen Ethik (vgl. Klaus Arzberger: „Über die Ursprünge und Entwicklungsbedingungen der Leistungsgesellschaft.“ In: Hondrich et al. (1988): Krise der Leistungsgesellschaft, S. 27-28). Ich folge Frank Schlies Definition, der schreibt: „Die moderne Gesellschaft ist in dem Maße Leistungsgesellschaft, wie sie uns nahelegt, in unserem Handeln zwischen Leistung und Nicht-Leistung zu unterscheiden und wie sie, merklich oder unmerklich, den Bereich des Leistungshandeln auf Kosten des übrigen Handelns auszuweiten trachtet.“ (Schlie (1988): Die Vielfalt der Leistungsbegriffe, S. 66, Herv. i.O.). Eine Leistungsgesellschaft stellt ihre Akteure folglich vor die Herausforderung, in eben solchen Kategorien zu denken und nach ihren Prämissen zu handeln. Und Leistungsbereitschaft ist durchaus auch im wachsenden Maße vorhanden, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigt, in der „Fleiß und Ehrgeiz“ im Vergleich zu Umfragen aus den Jahren 1989 und 2001 an Bedeutung gewinnen (Silke Eilers u. Jutta Rump: Die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt. Baby Boomer versus Generation Y. Sternenfels: Wissenschaft & Praxis 2013, S. 113). In diesem Verständnis wird der Mensch zu einem Leistungssubjekt, das sich qua Arbeit in die Gesellschaft inkludiert. Das zentrales Distinktionsmerkmal der aus dieser Logik resultierenden Gesellschaftsform der Arbeitsgesellschaft ist, dass Arbeit den Status des einzelnen Mitglieds bedingt, nicht anders herum, wie es zum Beispiel in dem feudalistischen System der drei Stände der Fall war (vgl. Sebastian Conrad, Elisio Macamo u. Bénédicte Zimmermann: „Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 449-475: 454). Arbeit wird hier zur Spinne im gesellschaftlichen wie sozialen Netz (vgl. Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft. Berlin: Aufbau 2 2005, S. 51), was für den Einzelnen bedeutet, dass sich Anerkennung oder auch „Respektabilität“ eng verknüpft zeigt mit „Erwerbsarbeit und Leistung“, wie Hansjürgen Daheim und Günther Schönbauer konstatieren, Hansjürgen Daheim u. Günther Schönbauer: Soziologie der Arbeitsgesellschaft. Grundzüge und Wandlungstendenzen der Erwerbsarbeit. München, Weinheim: Juventa 1993, S. 17. 11 Vgl. Richard Sennett: „Die Arbeit und ihre Erzählung.“ In: Daniel Libeskind et al. (Hg.): Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend, und was tut er in der übrigen Zeit? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 11-35: 21-23. 12 Vgl. Klaus Peters: „Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung. Abhängig Beschäftigte vor unternehmerischen Herausforderungen.“ In: Karin Kaudelka u. Gerhard
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Im Sektor der Literatur schlägt sich der hier skizzierte Diskurs um eine zunehmend prekäre Einbettung in leistungs- und arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge im zahlreichen Auftreten „seltsam leerer Romanfiguren“ 13 nieder, deren Häufung den Anstoß zur Themenfindung dieser Arbeit gab. Die Protagonisten14 der entsprechenden Texte drohen sich – wie Susanna Reckermann es beschreibt, wobei sie deutliche Parallelen zu Arendts eingangs zitierter Diagnose zeigt – „in einer befremdenden, der produktiven Aneignung entzogenen Lebenswelt“ zu verlieren und werden von den Bedingungen der Arbeitswelt in eine „essentielle Passivität“ gedrängt. 15 Diese Art der Darstellung hatte Theodor W. Adorno bereits in ‚fordistischen‘ Zeiten von der Literatur gefordert16, doch erst spezifische postindustrielle Arbeitskontexte der Spätmoderne – wie aktuelle Formen der Selbstständigkeit oder die New Economy mit ihren multiplen Flexibilisierungen und Entgrenzungen17 sowie ihrem zunehmend den ganzen Menschen fordernden Leistungsimperativ – führen zu zahlreichen, entsprechend kritischen Darstellungen. In deren Zentrum steht, wie Reckermann hervorhebt, zumeist die Kluft zwischen leistungsgesellschaftlichem Ideal und Realität; produktives Handeln in der Arbeit sowie erfolgreiche „Identitätsstiftung“ über sie werden im Rahmen der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft zwar verlangt, aber gleichzeitig verunmöglicht18; ein Versinken in passive Zustände ist die Folge. In ihrem ästhetischen Zugriff auf diese ‚essentielle Passivität‘ erweisen sich die literarischen Texte jedoch keineswegs als Depressions-Narrative oder Ästhetiken des Depressiven, vielmehr tragen sie deutlich melancholische Züge. Die Melancholie hat, davon legen vielfältige kulturelle Artefakte Zeugnis ab, ihre Hochzeiten an gesellschaftlichen Wendepunkten erfahren – in Zeiten großer Veränderung wurde und wird
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Klinger (Hg.): Eigenverantwortlich und leistungsfähig. Das selbstständige Individuum in der sich wandelnden Arbeitswelt. Bielefeld: transcript 2013, S. 31-40: 39. Susanna Reckermann: „‚Vita passiva‘ – zur literarischen Reflexion heutiger Arbeitsrealität und ihren Auswirkungen auf das [post]moderne Subjekt.“ In: Felix Heidenreich, JeanClaude Monod u. Angela Oster (Hg.): Arbeit neu denken. Repenser le travail. Berlin: LIT 2009, S. 127-147: 127. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 127 und 132. Adorno kritisiert in seinem „Offenen Brief an Rolf Hochhuth“, die Menschen werden „nach den Produktionsmethoden gemodelt […], anstatt über diese zu gebieten“, und fordert eine diesem Umstand Rechnung tragende Literatur, wie er sie u.a. im absurden Theater erkennt (Theodor W. Adorno: „Offener Brief an Rolf Hochhuth.“ In: Ders. (Hg.): Noten zur Literatur Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 [1967], S. 137-146: 139). Heimburger schlussfolgert aus dieser Aussage Adornos: „Im Zeitalter der Massenproduktion sei der Mensch nicht mehr als Individuum und aktives Subjekt darstellbar.“ Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 358. Hinter diesen Stichworten verbirgt sich eine Vielzahl von Veränderungen auf organisatorischer und struktureller Ebene, im Zuge derer sich u.a. die im 19. und 20. Jahrhundert erst vollzogene Trennung von Arbeits- und Freizeit, unter dem Einfluss der neuen technischen Möglichkeiten, zunehmend wieder auflöst. Vgl. ausf. Gottschall/Voß (2003): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 128 und vgl. S. 127.
Einleitung
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sie (auch wenn sie nicht immer namentlich genannt wird) fortwährend zum Gestus einer überforderten conditio humana.19 Dabei fungiert sie als ‚Vehikel‘, um Verlustgefühle, diffuse Ängste, Orientierungs- und Hilflosigkeit angesichts einer sich verändernden Welt auszudrücken. Und als solche kann die Arbeitswelt des 20. und 21. Jahrhunderts fraglos bezeichnet werden. „Je mehr ich darüber las, desto mehr schwand mir der Gegenstand“20, berichtet die Schriftstellerin Marion Titze über ihre Erfahrungen mit der Melancholie, über welche in ihrer rund 2500 Jahre umfassenden Begriffsgeschichte sehr viel gesagt und auch geschrieben wurde. Die unterschiedlichsten Disziplinen nahmen sich ihrer an; die Herangehensweisen und auch die Instrumentalisierungen sind zahlreich. Tatsächlich kann die Auseinandersetzung mit der Melancholie deshalb nur interdisziplinär geschehen. Eine klare Definition entsteht daraus nicht, eine Geschichte der Begriffsverständnisse und der damit verbundenen Werthaltungen schon, und diese wurde bereits häufig nachgezeichnet.21 Galt in der Antike noch ein gestörtes Verhältnis der 19 Vielzitierte Beispiele sind hierbei die Popularität der Melancholie in Folge des durch die Aufklärung hervorgebrachten Metaphysikverlusts und die erneute Aktualität, welche die melancholische Stimmung in der deutschen Literatur nach 1989 erhielt (vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie in der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S. 43). Vor allem in Folge der Zäsur von 1989 erweist die Melancholie ihren besonderen Gegenwartsbezug (vgl. Wolf Lepenies im Gespräch mit André Hatting: „‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem‘. Soziologe Lepenies für mehr Phantasie im Umgang mit Arbeitslosigkeit.“ Beitrag im Deutschlandfunk vom 16.02.2006. Sendung Radio Feuilleton: Kulturinterview. Auf: http://www.deutschland radiokultur.de/melancholie-ist-ein-aktuelles-gesell-schaftliches-problem.945.de.html?dram :article_id=132209, zuletzt gesehen am 01.11.2015). So zeigt sich mit Blick auf die Auseinandersetzung in den deutschsprachigen Sozial- und Geisteswissenschaften ab dem Ende der 1980er Jahre eine enorm gesteigerte Aufmerksamkeit. Folgende Texte kamen auf den Markt: 1989 Hartmut Böhmes vielbeachtete Dürerinterpretation Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung sowie Dieter Lenzens Buch Melancholie als Lebensform, 1990 die deutsche Übersetzung von Raymond Klibanskys, Erwin Panofskys und Fritz Saxls Saturn and Melancholy, 1991 die deutsche Neuübersetzung von Robert Burtons Anatomy of Melancholy und Volker Friedrichs Essay Melancholie als Haltung und 1992 Ulrich Horstmanns Lesebuch Die Stillen Brüter. In Frankreich kam ebenfalls 1991 mit Pascal Bruckners Die demokratische Melancholie ein Text auf den Markt, der eine ‚Melancholie der Erfüllung‘ in Folge des beendeten Kalten Krieges beschreibt (vgl. Pascal Bruckner: Die demokratische Melancholie. Hamburg: Junius 1991). Der Soziologe und Psychologe Ernst von Kardroff konstatiert, es handele sich dabei um das „Wiederaufleben eines kulturellen und philosophisch-ästhetischen Diskurses“, in dem die Melancholie „als kultureller Reflex auf die Befindlichkeit des Menschen in der Welt“ erscheine, Ernst von Kardorff: „Anmerkungen zum neuerwachten Melancholie-Diskurs.“ In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 44/45/07 (1994): „Melancholie und Trauer“, S. 265-279: 265. 20 Marion Titze: „Die Stirnen schattenhaft vergittert. Mutmaßungen über Melancholie.“ In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 45/5 (1993), S. 754-777: 764. 21 Als Standardwerk zur Melancholie ist Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 in jedem Fall einschlägig. Aller-
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im Körper vermuteten humoralpathologischen ‚Säfte‘22 und im Mittelalter die teuflische Versuchung als Auslöser für Melancholie, so ist es in der Moderne das Sein selbst.23 Diese existentielle Melancholie wird, vor dem Hintergrund einer zunehmend als entzaubert und entleert wahrgenommenen Lebenswelt, zum Epochensignum der ausgehenden Moderne24 und sie erhält im 20. Jahrhundert noch in verstärktem Maße Einzug in den Kontext von solcherlei Entfremdungsgefühlen und Zeitkritik. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass das (in Teilen) zuversichtlich gestimmte, technikwie fortschrittsgläubige Projekt ‚Moderne‘ gescheitert sei, und mit dem Ende der UdSSR auch das ‚Ende der Utopien‘ sowie der „Triumph des Kapitalismus“ über alternative Gesellschaftsmodelle verkündet wurde25, bleibt Melancholie ein Vehikel der Zeitkritik. Sie entfaltet ihre kritische Dimension verstärkt vor dem Hintergrund der „realen Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft“26 sowie den immer noch aktuellen Forderungen nach Zweckrationalismus und Effizienz. 27 In ihr kommt die subjektive Entfremdung der spätmodern, postindustriellen Lebenswelt ebenso zum Ausdruck28, wie sie generell Kritik an den (zuweilen als erschöpfend beschrie-
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dings endet deren Betrachtung mit der Frühen Neuzeit. Des Weiteren möchte ich an dieser Stelle auf einige ausgewählte Publikationen verweisen: Rainer Jehl u. Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Melancholie. Epochenstimmung – Krankheit – Lebenskunst. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 2000, Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 [1969], Ludger Heidbrink (Hg.): Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne. München, Wien: Hanser 1997, Roland Lambrecht: Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München: Fink 1996, Brigitte Schulte: Melancholie. Von der Entstehung des Begriffs bis zu Dürers Melencolia I. Würzburg: Ergon 1996, Anette Schwarz: Melancholie. Figuren und Orte einer Stimmung. Wien: Passagen-Verlag 1996, Ludger Heidbrink: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München: Fink 1994, Volker Friedrich: Melancholie als Haltung. Berlin: Gatza 1991, Dieter Lenzen: Melancholie als Lebensform. Über den Umgang mit kulturellen Verlusten. Berlin: Reimer 1989, Ulrich Horstmann: Der lange Schatten der Melancholie. Versuch über ein angeschwärztes Gefühl. Essen: Die Blaue Eule 1985, Gabriele Ricke: Schwarze Phantasie. Melancholie im 18. Jahrhundert. Hildesheim: Gerstenberg 1981. Die humoralpathologische Lehre schrieb der menschlichen Anatomie zunächst drei, später dann vier Säfte (Blut, Phlegma, gelbe und schwarze Galle) zu, deren Verhältnis u.a. über Krankheit oder Gesundheit ‚entscheidet‘. Vgl. Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München: Fink 2008, S. 88-89 und Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin, New York, NY: De Gruyter 1996, S. 28-29. Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, u.a. S. 30, 52. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXV sowie vgl. S. XI-XII. Vgl. auch Frithjof Bergmann: Neue Arbeit, neue Kultur. Freiamt im Schwarzwald: Arbor 2004, S. 3638. Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 58. Vgl. Wolfgang E. J. Weber: „Melancholie und Moderne.“ In: Ders./Jehl (2000): Melancholie, S. 135-142: 138-139. Tatsächlich ist der Aspekt der Entfremdung bereits in den pseudo-aristotelischen Ausführungen zur Melancholie angelegt, wozu Michael Theunissen vermerkt: „Die Melancholiker
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benen) Anforderungen der Leistungsgesellschaft transportiert und den „Überdruss im Überfluss“29 markiert. Hartmut Böhme schreibt entsprechend 2009 in einem Aufsatz über die Rolle der Literatur in der Wirtschaftskrise: „Vielleicht sind die Reservoirs der westlichen Kulturen erschöpft. Der Motor des Fortschritts und der Ausdifferenzierung scheint ein Auslaufmodell zu sein. […] Zwar läuft alles auf hohem Niveau weiter, doch scheint es keine substanziellen Ziele mehr zu geben, sondern es gilt, Krisen zu managen, Misserfolge zu vermeiden, Konflikte stillzustellen, Geld zu verdienen und sich irgendwie zu amüsieren (sofern all das noch gelingt). Dies ist ein Zustand latenter Melancholie […]. Zu besichtigen ist eine eigentümliche Ermüdung von Handlungsschwung inmitten eines historisch exorbitanten Niveaus von Potenzialität.“30
Es kann demnach, wie von Arendt und auch Reckermann konstatiert, aufgrund von Entfremdungsgefühlen und einem existentielle ‚Zuwenig‘ an Handlungsspielraum zu melancholischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft kommen, aber ebenso ursächlich kann, und hierfür spricht Böhme sich aus, ein ‚Zuviel‘ – im Sinne des Zusammenstoßes von scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten auf der einen und individuellen Grenzerfahrungen auf der anderen Seite – zu einer Handlungshemmung ganz im Stile der Melancholie führen. Und diese ‚Formen‘ der Melancholie als Ausdruck einer spätmodernen Entfremdung, aber auch Erschöpfung, sowie ihre kritischen ‚Qualitäten‘ über die mediale Funktion hinaus werden zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es geht um die Verbindung einer sich wandelnden Arbeitsrealität der Spätmoderne mit der Melancholie resp. einer melancholischen Ästhetik in der Literatur; eine Verbindung, hergestellt von Texten, die sich auf eine jeweils eigene Weise in den, durchaus sehr unterschiedlich ausgestalteten, melancholischen Kontext einfügen bzw. über die Melancholie zu einer jeweils eigenen Kritik an subjektiv als defizitär wahrgenommenen Zuständen kommen und in ihr etwas zum Ausdruck bringen, was womöglich nur so, in der Literatur und über die Melancholie, ausgedrückt werden kann. Wenn Ulrich Beck mit Blick auf die von ihm als ‚krisenhaft‘ beschriebene Arbeitsgesellschaft vermerkt, die aktuelle conditio humana zeichne sich in erster Linie durch „‚Ambivalenz‘, ‚Unschärfe‘, [und] ‚Widerspruch‘“ aus und eine gewisse „Ratlosigkeit“ mache sich breit31, dann erweist sich die Melancholie aufgrund ihrer Begriffsgeschichte als passendes Paradigma32, um eben dies zum Ausdruck zu bringen
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sind erstens ungleich mit anderen; sie sind zweitens ungleich mit sich; und ungleich mit sich selbst ist drittens die mélaina cholé, die schwarze Galle, nach der sie heißen […]. Hierin kündigt sich die moderne Erfahrung der Selbstentzweiung an.“ Theunissen (1996): Vorentwürfe von Moderne, S. 12-13, Herv. i.O. Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 226. Hartmut Böhme: „Hilft das Lesen in der Not? Warum unsere Wirtschaftskrise eine Krise der Moderne ist.“ In: Zeit Literatur Nr. 12, 12.03.2009, S. 28-35: 30. Ulrich Beck „Modell Bürgerarbeit.“ In: Ders. (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft. Frankfurt/M., New York, NY: Campus 21999, S. 7-189: 27. So konstatiert Wagner-Egelhaaf, bei der Melancholie handele es sich nicht um ein „Motiv der Literatur wie andere, zum Beispiel der Wald oder die Liebe, auch nicht [um] eine in der Literatur zum ‚Ausdruck‘ gebrachte Befindlichkeit des Autors“; stattdessen sei die Melan-
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und darüber Kritik zu äußern. Entsprechend nennt René Derveaux sie ein „Medium der Interpretation postmoderner Zersetzungsprobleme“. 33 Und wenn Roland Lambrecht schreibt, die Melancholie bleibe aufgrund ihrer Unbestimmtheit „ein defizitärer Begriff der Conditio humana“34, so erwidere ich entsprechend: Die Melancholie ist und bleibt der Begriff einer defizitären conditio humana.
1.1
ARBEIT UND MELANCHOLIE: EINE ENGFÜHRUNG I
Ein erster Blick auf die zentralen Begriffe meiner Forschung – Melancholie auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite – offenbart ein asymmetrisches Verhältnis. So ist ‚Arbeit‘ vorrangig als eine Praktik zu verstehen, wobei ihre Geschichte zahlreiche, zum Teil recht unterschiedliche Konzepte bereithält, die kulturell konstruiert sind35; Melancholie hingegen lässt sich als eine ‚Geisteshaltung‘ bezeichnen, die einen spezifischen Zugang zur Welt prägt. Wenn man diese beiden Begriffe nun zusammennimmt, ergibt sich zunächst ein oppositionelles Verhältnis, ist doch das Verständnis von Arbeit mit Begriffen wie „Produktivität und Tätigkeit“, Handeln, Aktivität, Geschäftigkeit und vita activa verbunden – Melancholie wird hingegen mit „deren Ab-
cholie ein „Paradigma“, also eine Denkweise, Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 4-5. 33 René Derveaux: Melancholie im Kontext der Postmoderne. Anthropologische Implikationen der Postmoderne unter besonderer Berücksichtigung der Melancholieproblematik. Berlin: wvb 2002, S. 12. 34 Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 32, Herv. N.V. 35 Michael Aßländer zeichnet in seiner Schrift Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung aus wirtschaftssoziologischer Perspektive nach, wie die Arbeit zunächst als ‚Wirtschaften‘ um des Überlebens willen ein „Naturphänomen“ darstellte, ehe sie, im Zuge der Neuzeit durch den Einfluss kulturell bedingter Zuschreibungen und Werthaltungen, eine Existenz jenseits der bloßen Existenzsicherung erhielt, also zu einem ‚Kulturphänomen‘ wurde (Michael Aßländer: Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg: Metropolis 2005, S. 255. Vgl. auch Claudia Lillge: Arbeit. Eine Literatur- und Mediengeschichte Großbritanniens. Paderborn: Fink 2016, S. 17-22). Ausf. zum Arbeitsbegriff vgl. zudem Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert. Wien: promedia 2014. Vgl. des Weiteren Carolin Freier: „Zeitreise durch die Arbeitswelt. Kulturen der Arbeit im Wandel.“ In: Susanna Brogi et al. (Hg.): Repräsentationen von Arbeit. Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen. Bielefeld: transcript 2013, S. 35-58, John W. Budd: The Thought of Work. Ithaca, NY, London: Cornell University Press 2011, Manfred Füllsack: Arbeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009, Dirk Baecker (Hg.): Archäologie der Arbeit. Berlin: Kadmos 2002, Angelika Krebs: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, Jan Kruse: Geschichte der Arbeit und Arbeit als Geschichte. Münster: LIT 2002, Josef Ehmer: „Zur Geschichte der Arbeit. Begriffe – Problemlagen – Perspektiven.“ In: Sozialwissenschaftliche Informationen 30/4 (2001), S. 12-21 sowie Rainer Hank: Arbeit – Die Religion des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Eichborn 1995.
Einleitung
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wesenheit“ konnotiert.36 Vereint ‚Arbeit‘ damit die im heutigen Werteverständnis positiv besetzten Begriffe auf sich37, ergeben sich aus der langen Historie der Melancholie vornehmlich ambivalente bis negative Zuschreibungen: „Weltschmerz, Schwermut, Trauer, Tristesse, Wehmut, Schwarzgalligkeit, Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Betrübnis, Langeweile, Trübsinn, Gram, Depression, Hypochondrie, Pessimismus, Nihilismus, Defätismus, Schwarzseherei, Verzagtheit, Freudlosigkeit, Bedrückung, Grübelzwang, Manie.“38 Diese Begriffe listet Volker Friedrich in seinem einschlägigen Buch Melancholie als Haltung auf, wobei es noch Verzweiflung, Zaudern, Acedia, Trägheit, Faulheit, Müdigkeit, Fatigue, Ennui, Nostalgie und auch ‚Drift‘ sowie Burnout zu ergänzen gilt. Aber auch die Konnotationen Muße, Müßiggang und vita contemplativa rechtfertigt die Begriffsgeschichte. Die Sichtung des Forschungsstands zeigt, dass zwar zu beiden Begriffen umfassende Forschungsarbeit vorliegt und auch die Beziehungen zu ‚verwandten‘ Begriffen bereits verhandelt wurden39, der Blick sich dabei jedoch nicht wesentlich auf ihr 36 Jörn Etzold u. Martin Jörg Schäfer: „Zum Geleit: Politiken, Konzepte, Ästhetiken von ‚Nicht-Arbeit‘.“ In: Dies. (2011): Nicht-Arbeit, S. 8. 37 Vgl. Brian Vickers: „Introduction.“ In: Ders. (Hg.): Arbeit. Musse. Meditation. Betrachtungen zur Vita activa und Vita contemplativa. Zürich: Verlag der Fachvereine 1985, S. 119: 1. 38 Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 14. 39 So finden sich zahlreiche Publikationen zum Verhältnis von Melancholie und Depression oder zu weiteren pathologischen Zuständen, wie zum Beispiel Hypochondrie oder ‚Wahnsinn‘, vgl. Johann Glatzel: „Melancholie – Literarischer Topos und psychiatrischer Krankheitsbegriff.“ In: Lutz Walther (Hg.): Melancholie. Leipzig: Reclam 1999, S. 200-215, Stanley W. Jackson: Melancholia and Depression. From Hippocratic Times to Modern Times. London, New Haven, CT: Yale University Press 1986 sowie Michael SchmidtDegenhard: Melancholie und Depression. Zur Problemgeschichte der depressiven Erkrankungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1983. Auch der Band von Christoph Mundt et al. (Hg.): Depressionskonzepte heute: Psychopathologie oder Pathopsychologie? Berlin u.a.: Springer 1991 versammelt zahlreiche Beiträge, die sich des Begriffes der ‚Melancholie‘ bedienen. Den Zusammenhang von Melancholie und Langeweile beschreiben Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 43-75, 101-158, Lázló F. Földényi: Melancholie. München: Matthes & Seitz 1988 [1984], S. 198-203, Annette Weber-Möckl: „Langeweile als Adelsprivileg. Melancholie in der höfischen Gesellschaft.“ In: Journal für Geschichte 1 (1987), S. 31-73, Ludwig Völker: Langeweile. Untersuchung zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs. München: Fink 1975, S. 47-49, 128-135 und Walter Rehm: Gontscharow und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. Zum Verhältnis von Melancholie und Ennui vgl. Peter Bürger: „Der Ursprung der ästhetischen Moderne aus dem ennui.“ In: Heidbrink (1997): Entzauberte Zeit, S. 101-143, Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 216-217, Henning Mehnert: Melancholie und Inspiration. Begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur poetischen „Psychologie“ Baudelaires, Flauberts und Mallarmés. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1978, S. 135-156 sowie Völker (1975): Langeweile, S. 44, 66-67, 85, 121-123, 135-146. Zum Verhältnis von Faulheit und Melancholie vgl. Földényi (1988): Melancholie, S. 203-205. Darüber hinaus gibt es umfangreiche Forschung, die an die philosophische Tradition der Melancholie anknüpft und sie im Kontext
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spezifisches Verhältnis zueinander richtet40 – und dieser Ansatz ist nicht ohne Berechtigung. Bereits im Mittelalter wurde die Acedia, eine ‚monastische‘ Form der Melancholie, dezidiert als Nicht-Arbeit illustriert41, und Arbeit gilt seit der Frühzeit der Melancholie als deren „Antidot“42, als ein Heilmittel gegen die melancholische Verzweiflung. Entsprechende Ratschläge lassen sich u.a. bei Robert Burton, Martin Luther oder Thomas Carlyle finden.43 Eindrückliche Beispiele liefern auch die von
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künstlerischer Tätigkeit, Kreativität und Inspiration verhandelt, vgl. u.a. Gisela Dischner: „Melancholie und Müßiggang – Eine Zustandsbeschreibung.“ In: Mirko Gemmel u. Claudia Löschner (Hg.): Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur. Berlin: Ripperger & Kremers 2014, S. 7-16, Gisela Dischner: Wörterbuch des Müssiggängers. Basel, Bielefeld: Edition Sirius 2009, S. 192-197 zum Verhältnis von Melancholie und Müßiggang, Barbara Smitmans-Vajda: Melancholie, Eros und Muße. Das Frauenbild in Nietzsches Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999 zu Melancholie und Muße sowie Mehnert (1978): Melancholie und Inspiration. Das Verhältnis von Arbeit und Melancholie betrachten u.a. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft sowie Antje Wittstock: „Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow.“ In: Corinna Laude u. Gilbert Heß (Hg.): Konzepte der Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Eine Einleitung. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 119-140. Die Forschungsliteratur zu Marsilio Ficino und zu Albrecht Dürers Melencolia I enthält ebenfalls entsprechende Angaben, behandelt die Engführung der beiden Begriffe jedoch als einen Aspekt unter vielen, allen voran Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie. Eine Betrachtung der Melancholie vor einem ökonomischen Hintergrund liefern u.a. Lars Distelhorst: Leistung. Das Endstadium der Ideologie. Bielefeld: transcript 2014 sowie Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne. Vgl. Kap. 2.2. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 233. Robert Burton schreibt in seiner Anatomy of Melancholy (1621): „I write of Melancholy, by being busie to avoid Melancholy. There is no greater cause of Melancholy then idleness, no better cure than businesse, as Rhasis holds: and howbeit, stultus labor est ineptiarum, to be busied in toyes is to small purpose, yet heare that divine Seneca, better aliud agere quám nihil, better doe to no end then nothing. I writ therefore, & busied my selfe in this playing labor, otiosâque diligentiâ ut vitarem torporum feriandi with Vectius in Macrobius, atque otium in utile verterem negotium.“ (Robert Burton: The Anatomy of Melancholy Bd. 1. Hg. v. Thomas C. Faulkner, Nicolas K. Kiessling u. Rhonda L. Blair. Oxford: Clarendon Press 2005 [1621], S. 6-7, Herv. i.O.). In ganz ähnlicher Weise gilt für Martin Luther, der protestantischen Ethik entsprechend, „‚vil[] arbeit‘“ als ein bewährtes Heilmittel gegen die Melancholie (Martin Luther: „Predigt über die sieben Todsünden.“ In: Ders.: Martin Luthers Dekalogpredigten. Übers. v. Sebastian Münster. Hg. v. Michael Basse. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011 [1518], S. 174-182: 179. Vgl. dazu Christine Göttler u. Anette Schaffer: „Die Kunst der Sünde: die Wüste, der Teufel, der Maler, die Frau, die Imagination.“ In: Fabienne Eggelhöfer, Claudine Metzger u. Samuel Vitali (Hg.): Lust und Laster. Die 7 Todsünden von Dürer bis Naumann. Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 42-61: 46). Thomas Carlyle – für den das gesamte Universum ein einziges „Workhouse“ darstellt – konstatiert in seinem 1843 erschienenen Buch Past and Present „[a]ll work, even cottonspinning, is noble; work is alone noble [...]“; wogegen „a life of ease is not for any man, nor for any good.“ Und er fordert von seinen Zeitgenossen, in Fehldeutung eines Goethe-
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Lepenies analysierten archistischen Utopien, deren Autoren das für ihre Entwürfe so zentrale Arbeitsdiktum mit einem „Melancholieverbot“44 verschränken. Als weiteres Exempel für ein oppositionelles Verhältnis von Arbeit und Melancholie nennt Lepenies die Melancholie des Adels am französischen Hof des 17. Jahrhunderts, der, von jeglicher Arbeit befreit, in der ihm zugedachten melancholierenden Langeweile schwelgte.45 Arbeit als Heilmittel ist dem gelangweilten Adel selbstverständlich verwehrt und wird erst dem Bürgertum des 18. Jahrhunderts wieder zunehmend empfohlen: „Der entlastete Adel dokumentiert seine Langeweile. Das Bürgertum bekämpft eben diese“, und dies vor allem durch „das einfache Tun in seiner ganzen Banalität und platten Wirksamkeit“. 46 Im Bann eines oppositionellen Verständnisses zeigt sich auch die Psychiatrie sowie die Psychoanalyse des beginnenden 20. Jahrhunderts, die bei den von Melancholie Betroffenen eine Unfähigkeit zur Arbeit, eine „[A]rbeitsscheu[e]“, oder auch -unlust verzeichnet.47 Zweifelsohne wird in diesen Kontexten die Melancholie als eine gesellschaftliche Anomie gesehen, deren Ursachen zwar sehr unterschiedlicher Natur sein können, der aber in jedem Fall beizukommen ist. Die positive Wirkkraft zur Gesundung wird nur der Arbeit zugeschrieben, und diese Art der Gegenüberstellung zeigt ihren Einfluss bis hinein in aktuelle Ratgeber zur Therapie von Depressionen. Lepenies vermerkt entsprechend, es handele sich um einen „Topos in der Melancholiegeschichte. Man soll etwas tun, man soll arbeiten, um seiner Melancholie Herr zu werden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass der Mensch, anthropologisch gesehen, definiert wird – völlig zu Recht – als das handelnde Wesen. Der Mensch muss handeln. Der Mensch muss etwas tun, was übrigens nicht heißt, er muss arbeiten. Arbeit ist nicht Handeln. Aber Arbeit ist eine wichtige Unterform des Handelns, und im 19. Jahrhundert ging man in der Tat davon aus, dass Arbeit ein Gegenmittel gegen die Melancholie sei, ist übrigens ein Teil auch immer der Therapie gewesen bei der Depression.“48
Diesen Topos schreibt Lepenies selbst weiter, wenn er in dem 1998 publizierten neuen Vorwort seiner Promotionsschrift Melancholie und Gesellschaft prognostiziert: „Das heute drohende Verschwinden der Erwerbsarbeit wird [...] massenhaft melancholische Dispositionen freisetzen [...]. In der Nichtarbeitergesellschaft der Zukunft wird damit zugleich die Melancholie ihr Signum als Temperament der Elite verlieren und zum Allgemeinbefinden herabsinken.“49 In diesem Verständnis erscheinen Arbeit und Melancholie ebenfalls als zwei konträre Seiten im Rahmen von umfassenden Lebensentwürfen und die Melancholie resultiert aus einem ‚Zuwenig‘ (an Arbeit), statt, wie etwa bei Böhme, aus einem ‚Zuviel‘ (an Möglichkeiten).
44 45 46 47 48 49
Zitats: „Work, and despair not.“ Thomas Carlyle: Past and Present. Hg. v. H. D. Traill. London: Oxford University Press 1965 [1843], S. 141, 158, 139. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXI. Vgl. ausf. Kap. 2.6. Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 69. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 203, 188 und vgl. S. 70. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 210 und vgl. 209-211. Lepenies im Interview mit Hatting (2006): ‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem‘. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XX.
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Dort, wo Arbeit als „Arznei gegen die konstitutionelle Depression“ oder als „Palliativ gegen Melancholie“ gilt, wird sie zumeist mit Handeln gleichgesetzt und zum Teil sogar auf körperliche Tätigkeit begrenzt.50 In den postfordistischen Arbeitsformen des Dienstleistungssektors und der New Economy – in denen eine flexibilisierte und entgrenzte Arbeit zunehmend ihre Kontur verliert, körperliche durch geistige Tätigkeit abgelöst wird, welche zusätzlich oftmals sitzend und nur mit minimalem Bewegungsaufwand stattfindet – stellt sich die Frage, inwiefern Arbeit ihrer Rolle als ‚Antidot‘ noch gerecht werden kann, oder ob sie nicht vielmehr selbst Melancholie evoziert. Dabei ist es ein zentraler Aspekt des Selbstverständnisses der kapitalistisch geprägten Arbeitsgesellschaft mit ihrer Forderung einer alternativlosen vita activa, jeglichem melancholischen Zweifel entgegenzuwirken.51 So verbindet sich mit dem Freiheits- und Demokratieverständnis der westlichen Arbeitsnationen der Gedanke, den Menschen ein Leben in relativer Sicherheit zu ermöglichen und damit die Voraussetzung für ein ‚glückliches Leben‘ zu erschaffen, das rasch in eine ‚Norm‘ oder gar in eine „Pflicht“ umschlagen kann, wie Wilhelm Schmid in seinem schmalen Band Unglücklich sein. Eine Ermutigung kritisiert.52 Die Melancholie wurde aber gerade dann zum „europäischen topos“, so Lepenies, als der Kapitalismus sich durchzusetzen vermochte und die vita activa damit zur einzig möglichen Lebensform wurde, während die vita contemplativa zunehmend unter „Rechtfertigungszwang“ geriet.53 Wie diese kurzen Ausführungen zur spätmodernen Melancholie sowie zur conditio der aktuellen Arbeits- und Leistungsgesellschaft zeigen, erschöpft sich das Verhältnis von Arbeit und Melancholie keineswegs in einer Opposition und in der Feststellung, es handele sich um „kontrastive Konzepte“.54 Vielmehr wird ein wechselseitiger Zusammenhang offenbar, den Jörn Etzold und Martin Jörg Schäfer auf den Punkt bringen: „Das ‚andere‘ der Arbeit kann (zumindest unter den Bedingungen der westlichen Moderne) ohne irgendeinen Bezug auf die ‚Arbeit‘ wohl nicht gedacht werden. Ob die ‚Freizeit‘, der ‚Müßiggang‘ oder die ‚Faulheit‘ […]: In allen Begriffen oder Konzepten, die gegen (und gegen welche ihrerseits) die ‚Arbeit‘ seit dem 18. Jahrhundert ins Spiel gebracht wurden, findet sich 50 51 52 53
Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 233, 208. und vgl. S. 188-189. Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XIX. Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung. Berlin: Insel 2012, S. 7. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XIX, Herv. i.O. Lepenies bezieht sich hierbei auf die Selbstbenennung der europäischen ‚Intelligenz‘, des „homo europaeus intellectualis“ (S. XVIII, Herv. i.O.). Er schreibt: „Die Melancholie ist die Stimmung alter Zivilisationen […]“; sie gehöre „zur europäischen Identität ebenso sehr […] wie ursprünglich der vor Gesundheit strotzende Wille zur Welteroberung, der heute eher den homo americanus prägt.“ (S. XVIII-XIV, Herv. i.O.). Die Melancholie habe mit dem „welterschließenden Zweifel der europäischen Moderne“ begonnen und sich schließlich in eine „weltabgewandte Melancholie“ zugespitzt (S. XIX). Jean Clair und Peter-Klaus Schuster sprechen übereinstimmend von der „Geburt der Melancholie aus dem Geist und der Krise der europäischen Kultur.“ Jean Clair u. Peter-Klaus Schuster: „Vorworte II.“ In: Jean Clair (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 12-13: 12. 54 Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 121.
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[…] stets ein Rückbezug auf die ‚Arbeit‘. Sie erscheinen oft als Spiegelbilder der bekämpften ‚Arbeit‘ oder zumindest als unauflöslich mit ihr verschränkt.“55
In ähnlicher Weise, wie es Etzold und Schäfer hier beschreiben, hat sich die Melancholie in ihrer langen Historie wiederholt als ein solches „Komplementärphänomen“56 erwiesen; ein Umstand, den auch Ulrich Horstmann vermerkt: „Melancholie war ihnen immer schon das ganz andere ihrer selbst, den Gläubigen die gottlose Verzweiflung, den Heilenden das chronische Siechtum, den Geistreichen der Ungeist, der wider Vernunft, Fortschritt, Freiheit löckt, den Pragmatikern die Tatenlosigkeit, den Planern die Obstruktion.“57 Beschreibt Horstmann Fremdzuschreibungen, welche gleichsam von ‚außen‘ an die Melancholie herangetragen werden, so erfolgt die komplementäre Positionierung durchaus auch im Sinne einer Selbstzuschreibung, in Folge derer die melancholische Haltung eine skeptische bis intervenierende Rolle einnimmt. Mein Ansatz ist nun, das reziproke Verhältnis der beiden Begriffe in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung zu rücken und dabei zunächst eine kurze Kulturgeschichte von ‚Arbeit und Melancholie‘ nachzuzeichnen, welche die wechselvolle Geschichte der melancholischen Haltung gegenüber dem, was in der jeweiligen Epoche als Arbeit benannt wurde, nachzeichnet und darüber hinaus auch das Melancholieverständnis der jeweiligen ‚Arbeitsapologeten‘ in den Blick nimmt. Ausgehend von der Antike als Ursprung des Melancholiebegriffes (Kap. 2.1) wird der Weg führen über: die Acedia des Mittelalters mit ihrer einflussreichen Bildtradition (Kap. 2.2); die protestantische Trägheit und den hochmittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Müßiggang (Kap. 2.3), die beide die arbeitsfeindliche Dimension der Acedia übernehmen; die Aufwertung der Melancholie im Genie-Begriff der RenaissanceHumanisten (Kap. 2.4), deren Engführung von Arbeit und Melancholie sich u.a. in Albrecht Dürers Meisterstich Melencolia I (Kap. 2.5) sowie in den Selbstdarstellungen humanistischer Gelehrter wiederfindet (Kap. 2.6); die Melancholiefeindlichkeit der Aufklärer (Kap. 2.7), die ihren Einfluss auf den Emanzipationsprozess des Bürgertums zeigt, das zwischen melancholischer Selbstbenennung und Arbeitsethos schwankt, sowie das ‚Arbeitslob‘ zu Zeiten der Industrialisierung, das Formen der Nicht-Arbeit rigoros exkludiert, woraufhin die Melancholie in die Bereiche der Kunst ‚abwandert‘ (Kap. 2.8); die entsprechende Verweigerung der Dandys und Flaneure (Kap. 2.9); die sich zunehmend passiv gerierende Melancholie in der Literatur der Moderne (Kap. 2.10); bis hin zur Auseinandersetzung mit spätmodernen Formen der Melancholie (Kap. 2.11). Dieser Weg macht deutlich, dass der melancholischen Geisteshaltung dabei nicht nur die von ‚außen‘ zugeschriebene Rolle eines Gegenbildes, sondern auch die selbstgewählte Aufgabe einer kritischen Gegenposition zukommt und sie sich immer dann besonders endemisch erweist, wenn das Arbeitsgebot allzu emphatisch oder rigoros verkündet wird. Die zentralen Texte und Werke der Kulturgeschichte der Melancholie lassen sich dabei oftmals auch als Reflexion über das Verhältnis von Arbeit und Melancholie lesen, wie es bei Robert Burton, aber auch Marsilio Ficino und Albrecht Dürer der Fall 55 Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 7. 56 Wolfgang Kramer: Technokratie als Entmaterialisierung der Welt. Zur Aktualität der Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard. Münster: Waxmann 1998, S. 109. 57 Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 203.
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| Arbeit und Melancholie
ist; ein Umstand, der den engführenden Ansatz zusätzlich bestätigt. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt das kulturgeschichtliche Kapitel keineswegs; aber sie stellt den in der Arbeitsforschung bereits mehrfach geschriebenen „Meistererzählung[en]“58 eine differenzierende Perspektive gegenüber, die den Diskurs um Arbeit durch die ‚Hinzunahme‘ der Melancholie analytisch schärft und gleichzeitig perspektivisch erweitert. Die Kulturgeschichte dient schließlich als Referenzrahmen für die Textanalysen des dritten Kapitels, in welchem Romane des 20. und 21. Jahrhunderts und damit der ästhetische Zugriff auf den skizzierten Diskurs in das Zentrum der Betrachtung rückt. Zeigen sich ausgehend von der Antike bis zur Gegenwart immer wieder wechselseitige Bezugnahmen, so erhält die Verbindung von Arbeit und Melancholie mit der Häufung von passiven Protagonisten gerade in literarischen Texten, die sich mit der scheinbar zunehmend problematisch werdenden Verortung des Menschen in der Arbeitswelt auseinandersetzen, eine neue Dimension, welche – jenseits eines linearen Determinismus – im Hinblick auf die zeitdiagnostische Qualität der Melancholie zu bewerten ist.
1.2
MOTIVGESCHICHTLICHE ÜBERLEGUNGEN
Zur Affinität, resp. zur Abneigung, mit welcher die Schriftsteller der Gegenwartsliteratur dem Arbeits-Sujet begegnen, ist bereits vieles geschrieben worden.59 An dieser Stelle soll lediglich konstatiert werden, dass sich, literaturgeschichtlich gesehen, ab
58 Komlosy (2014): Arbeit, S. 12. 59 Vgl. ausf. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 16-50 zur angeblichen „Arbeitsscheu“ der Literatur (S. 16), den Gründen dafür sowie den unterschiedlichen ‚Phasen‘ innerhalb der literarischen Auseinandersetzung mit dem Sujet. Einen Überblick liefert auch Hans-Martin Plessker: Beruf und Arbeit in deutschsprachiger Prosa seit 1945. Ein bibliografisches Lexikon. Stuttgart: Anton Hiersemann 1997. Vgl. auch Thorsten Unger: „Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden.“ In: Brogi et al. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 57-86, Viviana Chilese: „Menschen im Büro: Zur Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartsliteratur.“ In: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 293-303, Walter Fähnders: „Arbeit in der Literatur. Einführung.“ In: Dagmar Kift u. Hanneliese Palm (Hg.): Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur. Essen: Klartext 2007, S. 33-35 und Harro Segeberg (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1991. Zum Verhältnis von Literatur und Ökonomie, welches automatisch mitverhandelt wird, sobald der literaturwissenschaftliche Blick auf das Sujet ‚Arbeit‘ fällt, vgl. Annemarie Matthies u. Alexander Preisinger: „Literarische Welten der Ökonomisierung. Gouvernementale Schreibweisen im Gegenwartsroman.“ In: Torsten Erdbrügger, Ilse Nagelschmidt u. Inga Probst (Hg.): Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion. Berlin: Frank & Timme 2013, S. 137-150, Dirk Hempel u. Christine Künzel (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt/M.: Campus 2011 und Dies. (Hg.): „Denn wovon lebt der Mensch?“ Literatur und Wirtschaft. Berlin u.a.: Peter Lang 2009. Letztere liefern zudem einen guten Überblick über den Forschungsstand.
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der industriellen Moderne eine Häufung der künstlerischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Arbeitswelten zeigt.60 In Analogie dazu regt auch der aktuelle Wandel der Arbeitswelt die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Sphäre an. 61 Dass dabei ein reziprokes Verhältnis existiert, beschreibt Claudia Lillge in ihrer Betrachtung des Arbeits-Sujets wie folgt: „Mediale Artefakte stellen besondere Archive von Arbeitskulturen dar. Sie zeigen, wie zeithistorische Deutungen, Wertungen und Politiken von Arbeit entstehen oder auch programmatisch etabliert werden, sie verweisen auf deren Brüche und Widersprüche, erzeugen kulturelle Beunruhigungen und Irritationen und eignen sich – im Sinne eines ‚kulturellen Imaginären‘, das dynamisierend oder verändernd auf das kulturelle Feld rückwirken kann – als Artikulationsort von noch nicht kulturfähigen Vorstellungen und Fantasiebeständen.“62
Neben dem Sujet der Arbeit erweist auch die Melancholie in gewissem Maße ihre Aktualität, wie eine Reihe von ‚Lesebüchern‘ zeigen, die in den letzten Jahren erschienen sind bzw. erneut aufgelegt wurden.63 In ihnen bildet sich ab, dass die Melancholie nicht zu erschließen ist, ohne ihre literarische Darstellung über die Jahrhunderte hinweg zu betrachten. Martina Wagner-Egelhaaf hebt in ihrer motivgeschichtlichen Betrachtung entsprechend die „Geschlossenheit des sich seiner eigenen Traditionalität bewußten Melancholie-Paradigmas“ hervor und beschreibt: „Noch wer sich im 20. Jahrhundert melancholisch dünkt, wird nicht versäumen, auf den pseudo-aristotelischen Proto-Satz aller Melancholietheorie [...] zu verweisen noch vergessen, an Dürers Melencolia I zu erinnern.“64 60 Vgl. Gerd Stein: „Vorwort.“ In: Ders. (Hg.): Verrat und Solidarität. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts Bd. 1: „Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit.“ Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1985, S. 9-19: 9-10. 61 Vgl. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 69-83 sowie Susanna Brogi et al.: „Arbeit und ihre Repräsentation.“ In: Dies. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 9-31: 11-12. Ausf. auch Annemarie Matthies: „Defizitmeldungen, Desillusionierungen und Dekonstruktionen. Der kritische Blick auf die Arbeitswelt der Gegenwartsliteratur.“ In: Brogi et al. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 331-346 und Hubert Winkels: „Die Literatur und die Entgrenzung der Erwerbsarbeit.“ In: Walter Gödden (Hg.): Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung Bd. 9. Bielefeld: Aisthesis 2009, S. 405416. 62 Lillge (2016): Arbeit, S. 23. 63 Vgl. Ulrich Horstmann (Hg.): Die Untröstlichen. Ein Melancholie-Lesebuch. Darmstadt: Lambert Schneider 2011, Walther (1999): Melancholie und Peter Sillem (Hg.): Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. München: dtv 32006 [1997]. 64 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 10. So breit das Spektrum der in meiner Arbeit verhandelten Jahrhunderte, Disziplinen und Autoren auch ist, eint sie doch ein bewusster oder unbewusster Rückgriff auf die Topoi der Melancholie, mit ihrer im kulturellen Bildgedächtnis tief verankerten Metaphorik. Ein aktuelles Beispiel zeigt sich in der Bildenden Kunst. Es handelt sich um die Videoinstallation REALE RESTE (2007) der Berliner Formation bankleer, die den „Versuch“ darstellt, Slavoj Žižeks Schrift Die Tücke des Subjekts auf „aktuelle Tendenzen des Arbeitsmarktes anzuwenden“ (Justin Hoffmann: „Die Ausstellung Work Fiction.“ In: Ders. (Hg.): Work Fiction. Visionen der Arbeit in
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Doch was macht einen Text melancholisch bzw. wie kommt es dazu, dass ein literarisches Werk „melancholier[t]“?65 Diese Frage führt zu den zentralen Topoi, den ‚Melancholiemarkern‘, die einen Text melancholisch erscheinen lassen, und damit auch zu den Kriterien der Textauswahl. Ein ganz zentraler Topos ist die Handlungshemmung, welche in der ‚legendären‘ Melancholikerpose (hockend, das Kinn auf die Faust oder die Hand gestützt, der Blick in die Ferne schweifend) gerinnt. 66 Diese beinhaltet die grüblerische Versunkenheit, die sowohl den Reflexionszwang einschließt als auch die existentielle Dimension des Grübelns, sowie die Zurückgezogenheit und Einsamkeit bis hin zur gesellschaftlichen Exklusion bzw. bis zur selbsterwählten Abkehr von der Welt. Flankiert wird der Melancholiker dabei bisweilen, um einen weiteren Topos zu benennen, von einem Hund, der spätestens mit dem Humanismus zum einschlägigen melancholischen „Begleittier“ 67 wurde. Im Zuge seiner (selbstgewählten) gesellschaftlichen Exklusion erhebt der Melancholiker für sich den Anspruch, gerade durch seine Distanz zur Gesellschaft deren Dilemmata besonders gut erkennen zu können. Die sich hierbei entfaltende „Außen-InnenDialektik“68 kann dabei gesellschaftlich, aber auch psychisch verstanden werden, etwa im Sinne Sigmund Freuds, der die Melancholie als einen inkorporierten Verlust definiert.69 Eine weitere Dichotomie, zu der sich die Melancholie in Bezug setzt, ist jene von Ordnung und Unordnung, in der das humoralpathologische Verständnis von Harmonie und Disharmonie, Eukrasie und Dyskrasie aufgeht.70 Damit ist die Melan-
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Kunst, Film und Populärkultur. Heidelberg: Kehrer 2007, S. 23-25: 23). Sie besteht aus einem Video, das den vom Arbeitsmarkt exkludierten Menschen als ‚realen Rest‘ in der Figur des Zombies abbildet und das darüber hinaus eine von einem Riss durchzogene Wand zeigt, aus der eine „schwarze Flüssigkeit [dringt]“. Flankiert wird die Videoinstallation von einer Skulptur, aus deren Helm ebenfalls eine „dunkle zähe Masse“ quillt (Hoffmann (2007): Die Ausstellung Work Fiction, S. 23), welche deutliche Züge der schwarzen Galle trägt. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 322. Es handelt sich hierbei um ein im Barock verbreitetes Verb. Wolf Lepenies hat sich in seiner Schrift Melancholie und Gesellschaft ausführlich der Handlungshemmung gewidmet und beschreibt eine wechselseitige Bedingtheit: „Die melancholische Reflexion entsteht aus der Handlungshemmung und zugleich hemmt sie weiteres Tun.“ (Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XVIII, vgl. auch S. 212). Die dem Melancholiker vor allem in der philosophischen Tradition zugeschriebenen geistigen Fähigkeiten ermöglichen ihm die Reflexion, seine oftmals von Resignation geprägte Phantasie eilt der Handlung jedoch voraus und macht sie damit obsolet (vgl. S. 187). Zum Melancholie evozierenden Denken, Grübeln, Sitzen vgl. auch S. 188-189 sowie zum Zusammenhang von Reflexion und Handlungshemmung vgl. S. 207-213. Hartmut Böhme: Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1989, S. 15. Ausf. hergeleitet wird dieser Topos in Kap. 3.2.2. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 17. Vgl. Sigmund Freud: „Das Ich und das Es.“ In: Ders: Studienausgabe Bd. 3: „Psychologie des Unbewußten.“ Hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt/M.: Fischer 81997 [1923], S. 273-330: 297. Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 40-41, 117, 132 sowie Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 33.
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cholie dazu prädestiniert, zum Vehikel für die Beschreibung gesellschaftlicher Missstände, von Anomien, sprich: von Unordnungen zu werden. 71 Sie kann dabei selbst als ‚Unordnung‘ in einem nonkonformistischen Sinne gelten, der melancholische Blick auf die Welt ist aber zugleich – und für diese Janusköpfigkeit ist Robert Burtons Anatomy of Melancholy das vermutlich einschlägigste Beispiel – die psychische Disposition, die ‚Brille‘, durch welche die Unordnung überhaupt erst sichtbar wird. Neben dieser zeitdiagnostischen Dimension richtet sich die Reflexion des Melancholikers auf eine existentielle Ebene. Er beschäftigt sich in seinen Grübeleien sehr bewusst und zentral mit dem Vergehen von Zeit, dem Füllen von Zeit, der Unmöglichkeit, sie zurückzudrehen; kurzum, es besteht, um es mit Ludger Heidbrinks Worten zu sagen, ein „Zusammenhang von melancholischer Verstimmung und Zeiterfahrung“.72 Dass die vergehende und somit vergängliche Zeit und damit zusammenhängend auch die Frage nach dem Sinn des Lebens den Melancholiker so beständig beschäftigen, lässt sich aus der ihm – in der Humoralpathologie – zugeschriebenen, ausgeprägt pathologischen Physis herleiten, die ihn „unter den bleibenden Bedingungen ihrer [der Melancholie] prämorbiden Existenz“73 auf die Welt blicken lässt, was wiederum zum Topos des Memento mori führt.74 Wurden zuvor mit Langeweile, Verzweiflung und Trauer Begriffe genannt, welche die vermeintlich negative Seite melancholischer Gestimmtheit beschreiben, so ist die Melancholie durchaus ein Zustand, der auch genossen werden kann. Sie ist entsprechend ambivalent, ja diffus – und diese Diffusität, die die Melancholie durch ihre Überdeterminiertheit75 selbst in sich trägt, lässt sich ebenfalls als Topos herleiten. So ist der Melancholiker selbst in einer diffusen Stimmung und vice versa melancholiert ihn die Diffusität, wie Friedrich bildhaft beschreibt:
71 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 17-75. 72 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 40. Ausf. vgl. auch Toshiaki Kobayashi: Melancholie und Zeit. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1998 sowie Michael Theunissen: „Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst.“ In: Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann (Hg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21994 [1993], S. 334-344, insb. 336. 73 Theunissen (1996): Vorentwürfe von Moderne, S. 21. 74 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 1, 90 sowie Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 44-48. 75 Wagner-Egelhaaf nennt die Melancholie eine „Universalmetapher“ (Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 135) und auch Lambrecht beschreibt diesen Umstand sehr anschaulich: „[I]n ihrer substratlosen, zu ‚bodenloser‘ Begriffsakrobatik und poetisierender Spekulation geradezu einladenden metamorphen Metaphorik, in ihrer Ungreifbarkeit, ja Unbegreifbarkeit aufgrund der Grundlosigkeit jener Bezeichnung […] liegt paradoxerweise ihre Stärke. [...] Alle theoretisch-konzeptionellen Ausbesserungsversuche der Philosophen, Psychologen, Psychiater haben an diesem grundlegenden Defizit ihrer krankheitssignifikanten Generierung letztlich nie etwas zu ändern vermocht […]. Und genau darin beruht wohl ihre eigentümliche intellektuelle Faszinationskraft: Die ‚/Schwarzgalligkeit‘ ist gewissermaßen das ‚Schwarze Loch‘ im Universum der menschlichen Selbsterkundung und Selbsterkenntnis.“ Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 32.
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„Der Blick in die Ferne an einem verhangenen Tag verliert sich in einer Art Bläue, manchmal in einem Flimmern, jedenfalls in Diffusität. Ein ähnlicher Eindruck entsteht bei der Betrachtung eines Computerbildschirms aus ein paar Metern Entfernung. Die Stunden vor dem Computer können, bei aller Arbeitsamkeit, die mit ihnen verbunden sein mag, auch etwas Melancholisches vermitteln. Und das Flimmern der Fernsehschirme, das dem nächtlichen Spaziergänger durch ein Wohnviertel aus den Fenstern der guten Stuben entgegenleuchtet, stimmt in seiner Unwirklichkeit seltsam traurig.“76
Die diffus-melancholische Gestimmtheit wird ergänzt durch das Gefühl der ‚Angst‘, entspringt das Konstrukt der schwarzen Galle ja dem Versuch, „psychische Zustände wie Angst, Traurigkeit, geistige Verwirrung […] auf natürliche Ursachen zurückzuführen.“77 Diese Angst ist, zumindest ab der Moderne, mit einem ausgeprägten „Fatalismus“78 sowie einem entsprechenden Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefert-Seins an eine unwirtliche Welt wie unveränderliche Zukunft verbunden. Statt ‚Fatalismus‘ erscheint hier der Begriff der ‚Kontingenz‘ treffender, den Hartmut Böhme wie folgt definiert: „Kontingenz meint, dass Angst und Gefahr, Katastrophe und Unglück, Biografie und Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit nicht mehr durch unverfügbare Ordnungen gerahmt sind.“79 Der Melancholiker sieht sich diesem Ordnungsverlust ausgeliefert, mit dem Gefühl, nicht mehr ordnend, nicht mehr wirklich als Akteur eingreifen zu können, sondern vielmehr den Entwicklungen ausgesetzt zu sein. Dieser Verlust an Handlungsmacht korrespondiert mit dem Gefühl, der Welt auch sprachlich nicht mehr ‚Herr‘ werden zu können und darüber hinaus sich selbst, als fühlendes Individuum, sprachlich nicht adäquat vermitteln zu können. Dieser ‚Sprachverlust‘ – ein weiterer Topos – verschärft die subjektiv empfundene Einsamkeit und auch die Fremdheit des Melancholikers.80
1.3
DIE MELANCHOLISCHE GEISTESHALTUNG IM KONTEXT VON RÜCKZUG UND VERWEIGERUNG
Basierend auf den bisherigen Ausführungen zur Melancholie – vor allem zu ihrem modernen und spätmodernen Verständnis sowie der Definition als Geisteshaltung – möchte ich sie mit Blick auf die Literatur als eine ‚Haltung‘ beschreiben, als eine „Entscheidung, die der Mensch fällt. [...] [E]in Sich-Verhalten-zur-Welt, das nicht rein zufällig entsteht“81, um Friedrichs Definition zu zitieren. Diese Haltung kann die Literatur über die Verwendung der genannten Topoi einnehmen, die sich im Wesentlichen auf zweierlei Art offenbaren: Zum einen können es die Progatonisten sein, welche als ‚melancholische Subjekte‘ gezeigt werden; zum anderen kann aber auch das Narrativ als Ganzes in der Darstellungstradition der Melancholie stehen, ohne
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Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 32. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 17. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 48. Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not?, S. 35. Vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 93. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 145.
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dass die jeweiligen Protagonisten als genuine Melancholiker erscheinen. In beiden Fällen findet über die Verwendung melancholischer Topoi auf der Ebene der Textintention eine Selbstzuschreibung mit einem bewussten Impetus statt. Und um dieser melancholischen Haltung – ihren Gründen und ihren ‚Folgen‘ – weiter nachzuspüren, ist es aufschlussreich, die Melancholie als ein „sozial bedingtes Phänomen“, als eine „Form der bewussten und z. T. erzwungenen Weltflucht“82 im Sinne Lepenies zu betrachten. Lepenies selbst bezieht sich dabei auf die Ausführungen des Soziologen Robert King Merton, der in seinem Werk Social Theory and Social Structure (1949) fünf Typen oder Stufen der „individuelle[n] Anpassung“83 beschreibt. Demnach kann der Mensch, in „Verklammerung […] mit der Gesellschaft“ fünf verschiedene Rollen einnehmen, die jeweils durch ihren Grad an Akzeptanz oder Ablehnung kulturellgesellschaftlicher Ziele sowie der zur Erreichung dieser Ziele genutzten „Mittel“ gebildet werden: In der Rolle der (1.) „Konformität werden Ziele und Mittel […] akzeptiert“, in (2.) der „Innovation“ werden „Ziele akzeptiert und Mittel abgelehnt“, im (3.) „Ritualismus“ werden „Ziele abgelehnt und Mittel akzeptiert“, im (4.) „Rückzugsverhalten“, welches bei Merton „retreatism“ heißt, werden „Ziele und Mittel abgelehnt“ und schließlich in der (5.) „Rebellion geschieht das gleiche, nur werden hier die abgelehnten Mittel und Ziele sofort durch neue ersetzt.“ 84 Für Lepenies ist das ‚Rückzugsverhalten‘ von besonderem Interesse, denn es steht „im schärfsten Gegensatz zur Konformität und Rebellion, zu Verhaltensweisen also, die sich im Vergleich zueinander auf den Enden eines Kontinuums anordnen lassen“ 85, und es erhält dadurch eine Sonderstellung. Lepenies folgt Mertons Ausführungen weiter und beschreibt die Menschen, die eben jenes Rückzugsverhalten an den Tag legen, als „Anomie Praktizierende“, welche sich außerhalb der Gesellschaft positionieren, deren Teil sie dennoch bleiben, denn ihr „Abweichen beruht auf purer Passivität“ und führt zur Einsamkeit; zu einem „private[n] und singuläre[n] Dasein.“86 Die Nähe zur Melancholie, zum melancholischen Rückzug und zur melancholischen Verweigerung ist damit unverkennbar87, wobei der ‚retreatism‘ ein apolitisches Verständnis dieser melancholischen Verweigerung impliziert, erscheint er doch als Rückzug in die Privatheit, wie ihn auch Helmuth Plessner im Sinn hat, wenn er die „Fluchtwege“ der Melancholie „in die Hohlräume der Innerlichkeit“ als Gegenentwurf zur „revolutionären Aktion“ definiert.88 Einen anderen Ansatz einer in soziale Zusammenhänge integrierten Melancholie liefert Heidbrink. Er beschreibt die Melancholie – welche er zu einer „Grundsignatur der Gegenwart erklärt“, begründet in der „desolaten Verfassung der spätkapitalisti82 83 84 85 86 87 88
Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. II (Vorsatz). Zit. n. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 9. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 9-10. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 10, Herv. i.O. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 10-11. Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 12-15. Helmuth Plessner: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“ In: Max Horkheimer (Hg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum sechzigsten Geburtstag. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1963, S. 65-73: 66. Vgl. dazu Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 97-101.
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schen Gesellschaft, ihrer Todeslogik und Überkomplexität“ – als „soziale Stimmung“, die „als individuelle Erlebnisform ihre kritische Wirksamkeit entfaltet.“ 89 In seinem Sinne ist der melancholische Rückzug folglich keine Flucht in eine apolitische Passivität, sondern vielmehr selbst politisch. Auch wenn die Melancholie eine Art des Rückzugs, der passiven Verweigerung jenseits von Rebellion bezeichnet, so ist sie dennoch eine Form des Widerstands, und der Melancholiker ist, wie Leonhard Fuest es formuliert, der „Widerständige. Er ist ein unruhiger Geist, er begnügt sich nicht.“90 Gerade in einer auf das Funktionieren seiner Mitglieder ausgerichteten Gesellschaft wie der Leistungsgesellschaft entfaltet die Verweigerung ihr subversives Potential. Werden „Vergessen, Verspätung oder Krankheit“ noch akzeptiert, gelte dieses für die Verweigerung keinesfalls, konstatiert Stefan Kühl, da sie „das Grundprinzip ‚Organisation‘ in Frage“ stelle.91 Und so erscheinen auch gegenwärtige, bewusste Formen der Nicht-Arbeit, denen die Leistungsmentalität der Gegenwart keine eigene „Sphäre“ mehr zuerkennt, immer als „Störungen“ der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft92; als Anomien. Für eine entsprechende Melancholie der Verweigerung finden sich mit Blick auf die Kulturgeschichte zahlreiche Beispiele. So erweist sich Dürers Melencolia I als eine Arbeitsvermeiderin93, der romantische Rückzug verweigert sich dem bürgerlichen Zweckrationalismus seiner Zeit94, der Flaneur der Moderne erscheint in einem ähnlichen Licht95 und auch die Kritische Theorie sieht in der melancholischen Dimension ihrer Philosophie eine „edle[] Verweigerung“, die „einzig mögliche Lebensform in einer unwirtlichen Zeit.“96 In jedem Fall ist die melancholische Geisteshaltung, versteht man sie nun politisch oder apolitisch, als eine Form des ‚Absentismus‘ zu sehen, da sie sich den Anforderungen der sie jeweils umgebenden Gesellschaft verweigert, ja ihnen entflieht.97 89 90
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Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 18-19. Leonhard Fuest im Gespräch mit Maximilian Probst: „‚Werdet Zwerge!‘ Der Hamburger Literaturwissenschaftler Leonhard Fuest schreibt über die dunklen Seiten des Lebens. Ein Gespräch über das tägliche Grauen, Trauerarbeit und das Heilmittel der Literatur.“ In: Die Tageszeitung 29.05.2011. Auf: http://www.taz.de/!5119677/, zuletzt gesehen am 10.11.2015. Ausf. zu den Spielarten der passiven Verweigerung in der Literatur vgl. Wolfgang Müller-Funk: „Tu nix. Ein kleines Panorama der Arbeitsverweigerung.“ In: Erdbrügger/Nagelschmidt/Probst (2013): Omnia vincit labor?, S. 427-440 sowie Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns. Kühl (2004): Arbeits- und Industriesoziologie, S. 86. Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 11. Vgl. Kap. 2.5. Vgl. Kap. 2.7 sowie 2.8. Vgl. Kap. 2.9. Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild Bd. 1. Berlin: Gebr. Mann Verlag 1991 [1975], S. 398-399. Ausf. zur Melancholie der Frankfurter Schule vgl. auch Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 156-167. Daheim/Schönbauer beschreiben den Absentismus neben der ‚Affirmation‘ als eine von zwei Möglichkeiten, sich gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber zu verhalten (vgl. Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 90). Ein etwas konkreteres Beispiel für einen Absentismus liefert die sogenannte ‚Generation Y‘, die sich zu-
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Dieses Verständnis von Melancholie betont ihre „reaktive Seite“98 in soziologischer Hinsicht. Die psychoanalytische Lesart der Melancholie, vor allem in Folge der Freud’schen Auseinandersetzung mit ihr, betont diese reaktive Seite auch, definiert sie aber anders. Hier reagiert die Melancholie auf einen Verlust, der nicht benannt und dadurch auch nicht ‚verarbeitet‘ werden kann, da der Objektverlust dem Bewusstsein entzogen bleibt – etwa, weil er zum Teil eher „ideeller Natur“99 war – woraufhin das Subjekt das Verlorengeglaubte inkorporiert. Catriona Mortimer-Sandilands greift dieses Verständnis auf und beschreibt, wie in der spätmodernen Melancholie durchaus ein realer Verlust betrauert wird, welcher jedoch seitens der Gesellschaft als „‚ungrievable‘“ tabuisiert ist, da sie – die Gesellschaft – die Trauer um „nonhuman beings, natural environments, and ecological processes“ als unangemessen verweigert.100 Dieses Moment des Nicht-genauBenennen-Könnens, was das Objekt bzw. Subjekt der melancholischen Trauer ist, stellt einen weiteren Topos sowie einen zentralen Bestandteil auch der melancholischen Haltung dar und ist im Hinblick auf die Textanalysen in Kapitel 3 von wesentlicher Bedeutung. Darüber hinaus korrespondiert es mit der Unmöglichkeit, genau zu definieren, was die Melancholie selbst eigentlich ist. Lepenies sagt dazu: „Das Entscheidende ist: Wir wissen es nicht genau, es gibt etwas, was sich unseren Erklärungsversuchen entzieht. Die Melancholie flieht vor uns, wenn wir sie erklären wollen, und ich glaube, es gibt hier eine Nähe zur Kunst. Das Entscheidende der Kunst, oder jedenfalls der großen, gelingenden Kunst ist das, was man im Französischen nennt, dieses ‚Je ne sais quoi.‘: Ich weiß nicht genau, was es ist. Ich glaube, es ist diese Unbestimmtheit, die dann auch Melancholie und Kunst verbindet. Es gibt einen Kern, es gibt ein Geheimnis, und die entziehen sich uns, und das macht es so attraktiv.“101
In dem Verständnis der Melancholie als einer Geisteshaltung im Allgemeinen sowie einer Haltung auf Ebene der Textintention im Speziellen verbindet sich die politische nehmend den arbeits- und konsumgesellschaftlichen ‚Normen‘ entzieht. Als Affirmation ist hingegen eine Entwicklung zu deuten, die sich u.a. in Ulrich Bröcklings Beschreibung des ‚unternehmerischen Selbst‘ oder auch in G. Günther Voß’ und Hans J. Pongratz’ ‚Arbeitskraftunternehmer‘ manifestiert, und die eine Form der Überanpassung darstellt: Der entsprechend agierende Mensch inkorporiert die Leistungsideale und verhält sich damit affirmativ gegenüber den Anforderungen, welche die Gesellschaft an ihn als Leistungssubjekt richtet. Vgl. Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst sowie Hans J. Pongratz u. G. Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin: Edition Sigma 22004 [2003]. 98 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 40. 99 Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie.“ In: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet Bd. 10: „Werke aus den Jahren 1913-1917.“ Hg. v. Anna Freud. Frankfurt/M.: Fischer 81991 [1917], S. 428-446: 431. 100 Catriona Mortimer-Sandilands: „Melancholy Natures, Queer Ecologies.“ In: Dies. u. Bruce Erickson (Hg.): Queer Ecologies. Sex, Nature, Politics, Desire. Bloomington, Indianapolis, IN: Indiana University Press 2010, S. 331-358: 333. 101 Lepenies im Interview mit Hatting (2006): ‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem‘.
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mit der psychoanalytischen Lesart der Melancholie, und diese Verbindung legt folgende Zusammenhänge frei: Hinter der literarisch geäußerten Kritik verbirgt sich ein Verlust. Dieser jedoch bleibt zunächst im Bereich des Unbewussten verhaftet und wird lediglich durch die Melancholie selbst angedeutet. In Anlehnung an MortimerSandilands wird hier etwas betrauert, was gleichzeitig nicht betrauert werden darf oder auch kann. Und der Ort, an dem diese Trauer offenbar wird, ist, so konstatiert Lepenies, die Kunst. Bei der Suche nach diesen versteckten Orten, ja ‚Refugien‘ spielt die Literatur als Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung eine besondere Rolle. Wagner-Egelhaaf folgend lässt sie sich als eine „zweite, eine imaginäre Welt“ verstehen, „in der anthropologische Themen durchgespielt und neu perspektiviert werden“102, wobei der literarischen Melancholie eine ganz besondere Position zukommt, als „liminales Phänomen der Umcodierung anthropologischer in literarische Repräsentation“. 103 Aus der ‚Lebenswelt‘ wird ‚Literatur‘ über die Melancholie. Anders gewendet: Die Melancholie wird zum spezifisch literarischen Verfahren der Produktion von Erkenntnis, mit den oben bereits angedeuteten Qualitäten.104
1.4
KRITERIEN DER TEXTAUSWAHL
Sind der Diskurs, in dem sich die vorliegende Arbeit verortet, skizziert sowie die zentralen Begriffe eingeführt, gilt es nun, den Untersuchungsgegenstand zu konturieren. Nach einem, in Bezug auf die Quellenauswahl, breit angelegten kulturgeschichtlichen Teil (Kap. 2), erfolgt im dritten Kapitel die Einengung des Fokus auf gegenwartsliterarische Narrative, welche ‚Arbeit‘ zu ihrem Sujet machen. Es kann sich dabei um die Arbeit von Angestellten oder Selbstständigen, um Voll- oder Teilzeit, um körperliche oder geistige Arbeit handeln, sie muss allerdings, dieses wird zur Voraussetzung für die Aufnahme in das Textkorpus, in „besonderen Arrangements“105 stattfinden, die sie als ‚Arbeit‘ ausweisen und somit von anderen Bereichen des Lebens separieren. Das Objekt der komparatistischen Betrachtung ist hingegen keine ‚Arbeiterliteratur‘; es wird des Weiteren nicht bloß „Arbeit im Vollzug“ 106 in den Fokus genommen, „denn“, wie Lillge beschreibt, „Arbeit als literarisches, fotografisches, filmisches und televisuelles Sujet manifestiert sich auf ungleich vielfälti-
102 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 5. 103 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 6. 104 Die Eingrenzung des Themas auf das Medium der Literatur folgt zum einen zwar pragmatischen Gründen, zum anderen erweist sich die Literatur aber auch als das Medium der von mir genauer zu betrachtenden Verschränkung. Die Fotografie und auch der Film verfügen über jeweils eigene Abbildungstraditionen in Bezug auf die Melancholie, die zwar durchaus Parallelen zur literarischen Melancholie zeigen, aber jeweils in Abhängigkeit zu den Rahmenbedingungen des Mediums stehen, vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 36-44 sowie Hoffmann (2007): Work Fiction. 105 Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 10. 106 Gisela Ecker u. Claudia Lillge: „Einleitung.“ In: Dies. (Hg.): Kulturen der Arbeit. München: Fink 2011, S. 7-11: 8.
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gere Weise“.107 In den ausgewählten Romanen findet sich das Thema ‚Arbeit‘ durchaus divers verhandelt, allen gemein ist aber, dass sie „von der Ökonomie geprägte Lebensformen“ abbilden.108 Die Literatur offenbart dabei ihre Möglichkeiten, gesellschaftliche Diskurse aufzunehmen, spielerisch-inszenatorisch mit ihnen zu verfahren und darüber zu Darstellungen zu kommen, welche die ‚Dilemmata‘ der spätmodernen Arbeitsgesellschaft zu psychischen Zusammenbrüchen, Selbstauflösungen und identitären Transformationen auf der einen sowie destruktiven Tendenzen auf der anderen Seite zuspitzen. Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Texte liegt die räumliche Fokussierung auf die Literaturen der sogenannten westlichen Arbeitsgesellschaften nahe. Diese Eingrenzung ergab sich wiederum aus der Lektüre im Zuge der Recherche. So versammelt das Korpus neben Texten aus Deutschland auch US-amerikanische, französische und schwedische Romane.109 Der zeitliche Rahmen erstreckt sich – die Referenztexte innerhalb der Einzeltextanalysen miteinbezogen – von den 1970er Jahren 107 Lillge (2016): Arbeit, S. 25. 108 Rainer Schlossig u. Hubert Winkels: „Arbeitswelt und Gegenwartsprosa.“ Beitrag im Deutschlandfunk vom 27.01.2006. Sendung Kultur heute. Auf: http://www.zfl-berlin.org/ veranstaltungen-detail/items/literarische-kritik-der-oekonomischen-kultur-zur-rueckkehrder-a.html, zuletzt gesehen am 11.11.2015. 109 Ein Aspekt wie ‚Arbeit‘ kann, da in globalisierten wie digitalisierten Zeiten Ländergrenzen zunehmend obsolet werden, nicht mit Blick auf nur eine Nation und Philologie betrachtet werden. Darüber hinaus sind die für den Kontext dieser Arbeit zentralen Phänomene wie Arbeitslosigkeit, steigende Prekarität sowie der Wunsch nach einer ‚guten‘ und sinnvollen Arbeit globaler Natur. Da die Werthaltungen in Bezug auf Arbeit dennoch eine deutliche kulturelle Prägung zeigen, bewege ich mich auf dem schon von Max Weber (nicht nur) gedanklich beschrittenen „Boden des Okzidents“ (Max Weber: „Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie.“ In: Ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen und Politik. Hg. v. Johannes Winckelmann. Stuttgart: Kröner 51973 [1920], S. 340-356: 340). Dabei sind die Länder Westeuropas und die USA in ihren Werthaltungen sowie in ihren ökonomischen Gegebenheiten zwar ähnlich, aber nicht ‚deckungsgleich‘. Das Spektrum entfaltet sich zwischen dem rough capitalism der USA am einen Ende, und dem ‚Rheinischen‘ Kapitalismus sowie dem schwedischen ‚Wohlfahrtsstaat‘ am anderen. Und auch das US-amerikanische Selbstverständnis des Exceptionalism, das eine Vergleichbarkeit durchaus infrage stellt, wird Thema der komparatistischen Analyse sein. Es erfolgt damit eine Berücksichtigung der nationalen Spezifika, sowohl im Hinblick auf das Arbeitsverständnis als auch mit Blick auf die nationalen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in puncto Melancholie. Ist diese bereits als Teil der europäischen Kultur ausgewiesen worden, so zeigt sich der US-amerikanische Zugang zur Melancholie durchaus beeinflusst durch das in der Unabhängigkeitserklärung fest verankerte ‚pursuit of Happiness‘, welches einer melancholischen Selbstbenennung durchaus im Weg steht. Und auch wenn eine Abgrenzung nationaler Melancholien weder machbar noch sinnvoll ist (vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 118), so wird der vergleichende Blick auf die Romane des dritten Kapitels dennoch Unterschiede zwischen den europäischen und den amerikanischen Texten zu Tage fördern, welche sich in einer unterschiedlichen Bezugsnahme auf die Kulturgeschichte der Melancholie begründen lassen.
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bis zur Gegenwart und er entspringt zwei wesentlichen Entwicklungen: einer wirtschaftshistorischen und einer literaturgeschichtlichen. Auf wirtschaftshistorischer Seite zeigen sich das Ende des Bretton-Woods-Abkommens im Jahr 1971 sowie die Ölpreiskrise 1973/74 als Wendepunkte in Sachen Arbeitsorganisation und Arbeitslosigkeit110 und damit als wesentlicher Anstoß für die Formierung eines neuen Arbeitsverständnisses. Haben sich neben der Arbeitsrealität seit den 1970er Jahren auch die individuellen Ansprüche an die Arbeit gewandelt111, und diese Entwicklungen werden von der Literatur aufgegriffen. Die Vorstellung, Arbeit könne in Zeiten von wachsender Erwerbslosigkeit und Prekarität der Selbstverwirklichung dienen, wird innerhalb dieser literarischen Auseinandersetzung oftmals als irreal thematisiert. Es tritt das ‚Selbst‘ des Leistungssubjekts – wie anfangs beschrieben – in den Fokus der Betrachtung und erweist sich, zahlreiche literarische Beispiele illustrieren dies, verstärkt als problematische Kategorie. Das Subjekt, welches sich erst auf der Schwelle von der Vormoderne zur Moderne zu einem solchen entwickelt hat 112, zeigt sich in Zeiten von zunehmender Freiheit sowie Unsicherheit und nachlassender Verbindlichkeit brüchig, fragmentiert, zerrissen, fluide, taumelnd, gespalten oder, positiv gewendet, flexibel, anpassungsfähig und modulierbar. 113 Die Prekarität des spätmo-
110 Zum Bretton-Woods-Abkommen vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 32010/2011, S. 44-46 und Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg: Hamburger Edition 2011 [2009], S. 9-53, 57-97, zum Wandel der Arbeit ab den 1960er Jahren durch die Krise des Bergbaus und die in Folge schrumpfende Montanindustrie vgl. Klaus Tenfelde: „Von der Industrie zur Dienstleistung – Strukturwandel der Arbeit im 20. Jahrhundert.“ In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Hauptsache Arbeit. Wandel der Arbeitswelt nach 1945. Bielefeld: Kerber 2009, S. 17-29: 20 sowie zur Bedeutung der Ölkrise Rolf Peter Sieferle: „Gesellschaft im Übergang.“ In: Baecker (2002): Archäologie der Arbeit, S. 117-151: 122-123. 111 Martina und Peter Bubeck zeichnen nach, wie seit den 1950er Jahren bis zur Mitte der 1990er Jahre ein Wertewandel stattgefunden hat, von der Überzeugung, das Leben sei eine „Aufgabe“, hin zu einer den Genuss betonenden Lebensauffassung (Martina u. Peter Bubeck: „Die Erwerbsarbeit – und was wir von ihr erwarten.“ In: Sozialwissenschaftliche Informationen 30/4 (2001), S. 72-77: 74-75). Galt Arbeit zunächst noch als eine nicht zu hinterfragende ‚Pflicht‘, wird ab den 1970er Jahren der Ruf nach einer „Selbstverwirklichung“ in der Arbeit laut, Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 142. 112 Vgl. Dirk Padeken: „Das böse Ende der Moderne: William Faulkner, Cormac McCarthy, Bret Easton Ellis.“ In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 48/3 (2000), S. 235253: 235-236. 113 Vgl. zum Subjektbegriff ab Descartes Stefan Bronner: Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen: Das abgründige Subjekt in Christian Krachts Romanen Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Tübingen: Francke 2012, S. 914, 25. „Die postmoderne Identität ist beweglich, wählt aus, kombiniert. Der postmoderne Mensch schafft sich eine Existenzform aus vielen verschiedenen“, schreibt Thomas Andre: Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 248. Ausf. zum Sub-
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dernen ‚Selbst‘ und die damit verbundene Frage nach der Identität, aber auch die Betonung von Subjektivität und Individualität, wird in das Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit gerückt. Entsprechend gelten in allen in Kapitel 3 betrachteten Nationalliteraturen die 1970er Jahre auch in literaturgeschichtlicher Hinsicht als Zäsur. 114 Hierfür – wie natürlich auch für die wechselseitigen Blicke der Melancholie auf die Arbeit und vice versa – liefert das Textkorpus zahlreiche Beispiele. Es versammelt zehn Autoren mit zwölf Texten115, die auf durchaus unterschiedliche Weise die krisenhafte Verortung jektbegriff vgl. auch Gernot Böhme: Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts. München: Fink 2012. 114 Vgl. zu den ‚subjektiven Strömungen‘ in der deutschen Literatur ab den 1970er Jahren Ralf Schnell: „Die Literatur der Bundesrepublik.“ In: Wolfgang Beutin et al. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metzler 82013, S. 585-668: 641-651 sowie Heinz-B. Heller: „Literatur in der Bundesrepublik: Literatur im Zeichen der Rezession, Neuen Linken und ‚Tendenzwende‘.“ In: Jan Berg et al. (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart. Frankfurt/M.: Fischer 1981, S. 645-765: 753. In den USA wurde ab den 1970ern eine „allgemeine[] Krisen- und Aufbruchsstimmung“ zur Wiege der ‚Postmodernen Literatur‘ (Martin Schulze: Geschichte der amerikanischen Literatur. Von den Anfängen bis heute. Berlin: Propyläen 1999, S. 559. S. 171-172. Ausf. auch Ursula K. Heise: „Postmodern Novels.“ In: Leonard Cassuto, Clare Virginia Eby u. Benjamin Reiss (Hg.): The Cambridge History of the American Novel. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2011, S. 964-985: 964-968 sowie Heinz Ickstadt: Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert. Transformation des Mimetischen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998). Und auch in Teilen der skandinavischen Literaturgeschichtsschreibung werden die 1970er Jahre als Zäsur gedeutet, wobei neben dem epischen Erzählen auch psychologische Auseinandersetzungen ins Zentrum der literarischen Texte rücken (vgl. Antje Wischmann: „Gegenwart (1980-2000).“ und Bernhard Glienke: „Dänische Literatur im 20. Jahrhundert.“ Beide in: Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 332-389: 332-333 sowie S. 215-260: 242, 258). Die französische Literatur hingegen – die grundsätzlich eine starke sozialrealistische Tradition, im Sinne einer „littérature engagée“, aufweist – erfuhr Ende der 1970er Jahre eine zusätzliche Politisierung, wobei ein tatsächlicher ‚Bruch‘, im Sinne eines Wandels in der Auseinandersetzung mit der lebensweltlichen Realität, eher in den 1980er Jahren mit der Machtübernahme François Mitterrands zu beobachten ist (Jürgen Grimm u. Susanne Hartwig (Hg.): Französische Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2014, S. 351-352 und vgl. S. 380-387). Im Zuge des erstarkenden Neoliberalismus erwacht ein „neues Interesse an der außerliterarischen Realität“, wie es sich bei Michel Houellebecq und Frédéric Beigbeder zeigt, Grimm/Hartwig (2014): Französische Literaturgeschichte, S. 397 und vgl. S. 430. 115 Die relativ hohe Zahl an Primärtexten dient dazu, die Aktualität, aber auch die Bandbreite der Engführung von Arbeit und Melancholie in der Gegenwartsliteratur abzubilden. Die hier kurz beschriebene Textauswahl erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit; vielmehr wirft sie Schlaglichter auf den literarischen Beitrag zur krisenhaften Verortung des Leistungssubjekts und kann entsprechend zur weiteren Auseinandersetzung anregen.
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des Leistungssubjekts in den sich wandelnden Umständen thematisieren, wobei der Bezug zu aktuellen Diskursen, etwa um die Entgrenzung von Arbeit, die wachsende Prekarität oder aber die subjektive Entfremdung, unterschiedlich ausfällt. Mal wird Melancholie dabei eindeutig benannt, mal taucht sie nur indirekt in den beschriebenen Melancholiemarkern auf; in jedem Fall bedienen die Texte sich aus dem im „kulturellen Gedächtnis eingeprägte[n] Formel- und Bilderreservoir“116, welches die Melancholie bereithält, und operieren dabei jenseits konventionalisierter Darstellungen. Sie nehmen so eine melancholische Haltung ein, um, so ist es zumindest bei der Mehrzahl der verhandelten Texte der Fall, zu einer Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen und Zuständen im Kontext der Arbeitsgesellschaft zu gelangen. Mit Blick auf die Gesamtheit der Einzeltextanalysen ergeben sich drei thematische Ballungen, deren Spektrum sich auffaltet zwischen Texten, die existentielle Fragestellungen thematisieren, welche über eine (arbeits-)gesellschaftliche Verortung innerhalb postindustrieller Kontexte hinausgehen, und jenen, die einen deutlichen Bezug zum Diskurs der prekären Verortung in der spätmodernen Arbeitsgesellschaft aufweisen. Die in Kapitel 3.1 „Literarische ‚Arbeit‘ am Bildreservoir der Melancholie“ versammelten Romane haben zwar ‚Arbeit‘ zum Sujet, diese ‚steht‘ aber letztlich für etwas anderes. Dafür finden sich deutliche Bezugnahmen auf das Bildreservoir der Melancholie, und diese Verbindung von (allegorisch beschriebener) Arbeit und Melancholie bringt hochpoetische Texte hervor, wie etwa Lars Gustafssons 1991 erschienener Roman Nachmittag eines Fliesenlegers (Kap. 3.1.1). Gustafsson ‚hebt‘ die handwerkliche Arbeit seines Protagonisten von einer profanen auf eine allegorisch-philosophische Ebene und gelangt über den Einsatz melancholischer Topoi zu existentiellen Fragestellungen. Heiko Michael Hartmann beschreibt in seinem Debüt Unterm Bett aus dem Jahr 2000 (Kap. 3.1.2), wie die melancholische Disposition seines Protagonisten – eines Beamten – dessen Berufswahl bedingt. Dieser manövriert sich am titelgebenden Ort in einen Zustand fast vollständiger Bewegungslosigkeit, in welchem er über die Grenze zwischen der pflichtgemäßen Ausübung eines Berufs und der dazu gehörigen inneren Veranlagung sinniert. Und Ralf Rothmann verbindet in seinem Roman Junges Licht (2004) (Kap. 3.1.3) die zaghafte, weil fragwürdige Nostalgie des Rückblicks in die Kindheit des Protagonisten mit jener in Bezug auf die Veränderungen der Arbeitsrealität, wobei, wie auch schon bei Gutafsson, dem Aspekt der ‚Erinnerungsarbeit‘ eine zentrale Bedeutung zukommt. Kapitel 3.2 „Der melancholische ‚Drift‘“ versammelt Texte, die einen konkreteren Bezug auf arbeits- und leistungsgesellschaftliche Gegebenheiten sowie die entsprechenden Diskurse – etwa die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit, die Auswirkungen der Digitalisierung, die Debatte um Prekarität – nehmen. Marion Poschmann knüpft dabei an die philosophische Tradition der Melancholie an und macht ihre kurze Hundenovelle (2008) (Kap. 3.2.1) zu einem dichten Netz aus intertextuellen, sich dem melancholischen Bild- sowie Textreservoir bedienenden Verweisen. Sie transferiert dabei Dürers Melencolia I in die Neuzeit, wo diese sich als Erwerbslose Prozessen arbeitsgesellschaftlicher Exklusion ausgesetzt sieht. Der titelgebende Hund wird dabei zu einem zentralen, die Handlung vorantreibenden Motiv sowie zur Spiegelfigur. Da das Motiv des ‚Melancholiehundes‘ bisher in der Forschung noch nicht zusammenhängend betrachtet wurde, wird dies in Form eines Exkurses (Kap. 116 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 528.
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3.2.2) nachgeholt. Karen Duve scheint in ihrem Roman Taxi (2008) (Kap. 3.2.3) zunächst an die pathologische Tradition der Melancholie anzuknüpfen und vor dem Hintergrund einer Tätigkeit im Dienstleistungssektor zu verhandeln; zentrales Thema ist aber das Moment der Verweigerung, welches sich in der ausgeprägten Handlungshemmung der Protagonistin manifestiert, wobei es, in Umkehrung der Hartmann’schen Darstellung, die berufliche Wahl der Protagonistin ist, welche ihre psychische Disposition bis hin zur fast vollständigen Passivität zuspitzt. Im Zentrum von Wilhelm Genazinos Romanen Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Wenn wir Tiere wären (2011) (Kap. 3.2.4) steht hingegen die philosophische Melancholie, die durch ihre Fokussierung eine Fürsprache erhält, wohingegen Strategien der Stigmatisierung bis hin zur Pathologisierung von Melancholie kritisiert werden. ‚Driftend‘ bis erschöpft zeigt sich auch der Protagonist von Terézia Moras Romanen Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009) und Das Ungeheuer (2013) (Kap. 3.2.5), der in einer digitalen ‚Melancholie 2.0‘ versinkt, wohingegen seine Ehefrau, nach einer Reihe von Ablehnungen, den Selbstmord als Ausweg aus leistungsgesellschaftlichen Zusammenhängen und Zwängen wählt. Das Kapitel 3.3 „Ennui und Entfremdung“ versammelt drei Romane, in denen die Melancholie vornehmlich als Ennui anzutreffen ist, welcher wiederum als Reaktion auf entfremdete sowie beschleunigte Arbeitsumstände innerhalb der New Economy inszeniert wird. Mit Frédéric Beigbeders 39,90 (2000) steht in Kapitel 3.3.1 ein französischer Roman im Zentrum der Aufmerksamkeit, dessen Protagonist in der Werbebranche tätig ist und der von einem leistungsgesellschaftlich evozierten Ennui geplagt wird, welcher letztlich in die (Selbst-)Destruktion führt. Eine Spirale der Destruktivität beschreibt auch Joachim Bessings Roman Wir Maschine (2001, Kap. 3.3.2), dessen Figuren ebenfalls im Ennui versinken, wobei Bessing die Unmöglichkeit eines Auswegs beschreibt, die er zusätzlich als phantastisch anmutende Leerstelle markiert. Abschließend tritt mit Don DeLillo ein Autor ins Zentrum der Textanalyse, der sich wiederholt der amerikanischen Wirtschaftskultur widmet und dabei in seinem Roman Cosmopolis (2003) (Kap. 3.3.3) die Folge der multiplen Entgrenzungen thematisiert und das Bild einer „exhausted culture“117 US-amerikanischer Ausprägung zeichnet. Die dabei entworfene Spirale aus Entfremdung, Erschöpfung und Destruktivität beschreibt DeLillo ebenfalls in seinen Romanen Americana (1971) und Players (1977), welche deshalb als Referenztexte der Analyse von Cosmopolis dienen werden. Flankiert werden die Einzeltextanalysen dieser drei Unterkapitel darüber hinaus von Ausführungen zu weiteren Referenztexten anderer Autoren, wie Martin Walser, Michel Houellebecq, Christian Kracht oder auch Bret Easton Ellis. Erweist sich das Spektrum der in den Texten verhandelten Berufe sowie Melancholien als durchaus breit, so tritt das Arsenal der Protagonisten dennoch erstaunlich geschlossen als eine „Acedia Squad“118 auf, anhand derer zum einen die Krisenhaftigkeit der conditio humana in der Arbeitsgesellschaft abgebildet wird, zum anderen zukünftige Entwicklungen, Alternativen und Auswege getestet werden, die also im 117 Peter Boxall: Don DeLillo. The Possibility of Fiction. New York, NY: Routledge 2006, S. 35. 118 Thomas Pynchon: „The Deadly Sins/Sloth; Nearer, My Couch, to Thee.“ In: The New York Times 06.06.1993. Auf: https://www.nytimes.com/books/97/05/18/reviews/pynchonsloth.html, zuletzt gesehen am 02.11.2015.
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besten Sinne als „Versuchsperson für die Wirkungen des Lebens“ 119 fungieren. Dass es sich dabei zumeist jedoch um ambivalente Figuren handelt, dass also ein „melancholischer Held“ zwar zum Vehikel für Erkenntnis werden kann, er aber in seiner trübsinnigen wie handlungsgehemmten Natur durchaus auch eine problematische Identifikationsfigur darstellt120, wird im Fazit (Kap. 4) eingehender betrachtet. Hier sollen schließlich auch die Textanalysen zusammengeführt und im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede nebeneinandergestellt werden. Dass im Kontext der hier verhandelten literarischen Zugriffe Stimmungen, Befindlichkeiten und auch Kritik zum Ausdruck kommen, die längst im sogenannten ‚öffentlichen Bewusstsein‘ angekommen sind, offenbaren die den Textanalysen vorangestellten Motti. Sie alle entstammen dem Bereich der Pop-Musik121, und damit einem Genre, das relativ unmittelbar auf zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Gegebenheiten und Entwicklungen reagiert, ohne dabei allzu sehr auf etwaige theoretische Auseinandersetzungen und Hintergrunde zu rekurrieren; vielmehr werden aktuelle Bilder, Ideen, Stimmungen und Gefühle aufgenommen und ‚gespeichert‘. 122 In den, durch die nun angedeuteten Motti ‚eingeleiteten‘, Einzeltextanalysen wird der ausgewählten Primärliteratur im Kontext des entworfenen Diskurses begegnet. Die den Analysen zugrundeliegenden Forschungsfragen richten sich dabei auf einer ersten Ebene auf das beschriebene Sujet: Welche Form von Arbeit wird abgebildet und wie nimmt der Text dabei Bezug zu dem in der Einleitung entworfenen Kontext? Auf der Basis der maßgebenden Annahme, dass die Melancholie in der Literatur oftmals als Vehikel für Kritik und als Überforderungs-Gestus fungiert, gilt es, den kritischen Standpunkt der Romane und der Novelle herauszustellen. So unterschiedlich die analysierten Texte u.a. in Bezug auf Veröffentlichungsjahr, Herkunftsland und Handlung auch sind, beziehen sich doch letztlich alle auf die (dynamischen) Rahmenbedingungen der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft. Erwartet wird dabei eine Auseinandersetzung, die jenseits von pathologisierenden Strategien – welche eine Affirmation der gegenwärtigen Depressions- und Burnout-Diskussionen voraussetzen würden – mit spezifisch literarischen Mitteln operiert, was zu der nächsten zentralen Forschungsfrage führt: Welche Rolle spielt die Melancholie in dem jeweiligen Text? In welcher Form taucht sie auf und wofür ‚steht‘ sie darüber hinaus? Sind Arbeitssujet und Melancholiemarker hinreichend beschrieben, richtet sich das Augenmerk darauf, die Engführung offenzulegen: In welcher Relation stehen melancholische Geisteshaltung und die jeweils abgebildete Arbeit und welche Art der Darstellung resultiert daraus? Und ganz zentral: Was wird im Text mit dem ‚Einsatz‘ der 119 Marcel Reich-Ranicki: „Keine Wörter für Liebe. Martin Walsers neuer Roman Das Einhorn.“ In: Die Zeit 02.09.1966, k.A. 120 Walter Delabar: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. Opladen u.a.: Westdeutscher Verlag 1999, S. 91. 121 Ausf. zu diesem Begriff, auch in Abgrenzung zu jenem der ‚populären Musik‘, vgl. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. XI-XV. 122 Vgl. Diedrichsen (1994): Über Pop-Musik, S. XI. Diedrichsen beschreibt den kritischen Standpunkt der Pop-Musik mit den Worten: „Ich-Sagen und Allein-Sein reichen schon, um den Schnabel ganz weit aufzureißen und sich zum Außen der Gesellschaft […] zu erklären“ (S. XVII), und offenbart damit eine Analogie zwischen einer melancholischen Haltung und dem Selbstverständnis einiger Pop-Musiker.
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Melancholie betrauert? Welche Auswege aus dem beschriebenen sowie literarisch inszenierten ‚Dilemma‘ werden beschrieben. Eine Verbindung von fiktionaler Binnenebene und lebensweltlicher Realität erscheint reizvoll – im Sinne von Böhmes Antwort auf die selbstformulierte Frage „Hilft das Lesen in der Not?“: „Es ist unwahrscheinlich, dass Antworten auf die beschriebenen Problemzonen nur politologisch, soziologisch und ökonomisch gefunden werden können. Gefragt sind ebenso historische, auch kultur- und religionshistorische Forschungen, welche die Tiefendimensionen der [D]ilemmata der Moderne erforschen. Dies könnte auch ein Beitrag zur Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften sein.“123
Und Reckermann engt diesen Ansatz auf die Literaturwissenschaft ein, wenn sie über die „mögliche[] Analogiebildung zwischen lebensweltlicher Erfahrung und literarischer Fiktion“ schreibt, dass „gerade die Subjektivität literarischer Wirklichkeitsdarstellung die Einsicht in die kulturelle, historische und diskursive Konstruiertheit von Wirklichkeitsmodellen“ transportiere.124 Die spezifische ‚Qualität‘ der Literatur als Medium von ‚Erkenntnis‘, welche Böhme und Reckermann konstatieren, ist bereits vielfach beschrieben und auch in der vorliegenden Einleitung schon angedeutet worden. In ihr können Szenarien entworfen, Um-, Zu- und Missstände in Szene gesetzt, Irritationen, Kritik und Sehnsüchte geäußert, Lösungen durchgespielt, aber auch Leerstellen gelassen, markiert und benannt werden. Demnach hat die Literatur ihre eigenen Möglichkeiten, poetischen Mittel und narrativen Wege, Einsichten, Perspektiven und Deutungen zu formulieren.125 Die komparatistische Analyse fußt dabei auf einem weiten Literaturbegriff, dem die Annahme zugrunde liegt, dass sich sowohl in Prosa, aber auch in nichtprosaischen, wie etwa soziologischen und philosophischen Texten, eine literarisierende Art der Darstellung nachweisen sowie eine „am Wissen von der Literatur orientierte Herangehensweise“126 beobachten lassen. Im Hinblick auf dieses Literaturverständnis, die kulturwissenschaftliche Ausrichtung meiner Forschung sowie den starken Einbezug des diskursiven Kontextes, sind bereits einige methodische Aspekte angeklungen, die deutlich machen, dass die folgenden Analysen vor dem Hintergrund eines kulturpoetischen Ansatzes stattfinden. Die zugrundeliegende Definition von Literatur als Teil des kulturellen „texte général“127 basiert dabei u.a. auf Clifford 123 Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not?, S. 35. 124 Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 128. 125 Vgl. Wolfgang Riedel: „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung.“ In: Wolfgang Braungart, Klaus Ridder u. Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 337-366: 361-363. 126 Martin Jörg Schäfer: Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit und Ästhetik. Berlin, Zürich: Diaphanes 2013, S. 23. So ist es bei Richard Sennett der Fall, der seine Thesen anhand halbfiktiver Fallgeschichten herleitet. Vgl. Richard Sennett: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism. London, New York, NY: Norton 1999 [1998]. 127 Anton Kaes: „New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?“ (1990) In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Basel, Tübingen: Francke 22001 [1995], S. 251-267: 255.
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Geertz’ semiotischem Kulturbegriff128, dessen Ansatz einer ‚dichten Beschreibung‘ bei der Analyse der literarischen Zeugnisse sowie deren Kontextualisierung in Kapitel 3 implizit Beachtung findet. Mit Stephen Greenblatt wird die Literatur des weiteren als ein Medium verstanden, das auf die „Restriktionen“ der Kultur reagiert, ihnen „durch Lob und Tadel Geltung“ verschafft und dadurch als „Vehikel der Übertragung von Kultur“ fungiert.129 Entsprechend gilt eine ‚kontextsensitive‘ „immanente Lektüre“130 als angebracht, in der sowohl der kontextualisierende Zugriff von Geertz als auch der historisierende Blick Greenblatts, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, zum Klingen gebracht werden.131 Ergänzt und verdichtet wird diese Lektüre durch ausgewählte Forschungsliteratur zu den jeweiligen Autoren und Romanen, wobei der Forschungsstand sehr unterschiedlich ausfällt. So hat sich u.a. bei Lars Gustafsson, Marion Poschmann, Karen Duve, Terézia Mora und Joachim Bessing vorrangig das Feuilleton und die Literaturkritik der melancholischen Geisteshaltung der Texte gewidmet und diese vor dem Hintergrund des Arbeitssujets verhandelt, wohingegen die Literaturwissenschaft (bisher) eher zurückhaltend agiert. Mit dem Fokus auf die Melancholie setze ich etwas um, was Annegret Heitmann die für die Kulturpoetik charakteristische Verschiebung des Blicks „von dem Was? auf das Wie?“132 nennt. Stellt die krisenhafte Verortung des Leistungssubjekts in der spätmodernen Arbeitsgesellschaft das ‚Was?‘ meiner Forschung dar, so ist das Paradigma der Literatur – in meinem Fall die Melancholie – jenes ‚Wie?‘.
128 Vgl. die beiden Aufsätze von Clifford Geertz: „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur.“ (1973) sowie „‚Deep Play‘. Der balinesische Hahnenkampf.“ Beide in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 [1983], S. 7-43: u.a. 9, 16-17 und S. 202-260: 253-260. 129 Stephen Greenblatt: „Kultur.“ (1990) In: Baßler (2001): New Historicism, S. 48-59: 51, 49. Zur spezifischen Verbindung von den Cultural Studies und der Auseinandersetzung mit dem Arbeits-Sujet, resp. genauer: der „working class culture“, siehe Lillge (2016): Arbeit, S. 23-24. 130 Greenblatt (2001): Kultur, S. 50. 131 Zum Verhältnis des Geertz’schen Ansatzes mit dem New Historcism vgl. Thomas Fechner-Smarsly: „Clifford Geertz’ ‚Dichte Beschreibung‘ – ein Modell für die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?“ In: Jürg Glauser u. Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 81-101. 132 Annegret Heitmann: „Einleitung.“ In: Dies./Glauser (1999): Verhandlungen mit dem New Historicism, S. 9-20: 16.
2. Kulturgeschichtliche Überlegungen
2.1
VON ANTIKEN ARISTOKRATEN UND DEN URSPRÜNGEN DER MELANCHOLIE
Die Dimensionen der Melancholie sind, ohne ihren antiken Ursprung zu betrachten, kaum nachzuvollziehen. Als einer der, zur humoralpathologischen Vorstellung der quattro humores zugehörigen, Körpersäfte wird sie bereits in den vorchristlichen Jahrhunderten oftmals zum Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – so u.a. im Corpus Hippocraticum, das als Ursprung der pathologischen Tradition des Melancholieverständnisses gilt.1 Dem Corpus und ähnlichen Traktaten folgend, ergibt sich die Verfassung des Menschen, seine Krankheiten, aber auch sein Verhalten aus der Mischung, Relation und Temperatur der zunächst drei, später dann vier körpereigenen Säfte2, wobei sich in der humoralpathologischen Lehre der Versuch zeigt, auch psychische Phänomene auf physische Ursachen zurückzuführen 3; ein Anliegen, das für die Melancholie noch von zentraler Bedeutung werden soll, da ihr im Unterschied zu den anderen drei Temperamenten eine ausgeprägte psychische Dimension zugeschrieben wird.4 Die Melancholie hat entsprechend von ihrem Anbeginn an eine Sonderrolle inne, eine Zuschreibung, welche die zweite der frühen Quellen, Pseudo-Aristoteles’ „Problema XXX,I“, die als Ursprung der philosophischen Tradition gilt, in noch stärkerem Maße vornimmt. Zwar sieht auch der Peripatetiker Theophrast, welcher zumeist als Autor dieses, vermutlich dem 3. vorchristlichen Jahrhundert entstammenden, Textes identifiziert wird 5, die Melancholie als Ursache für pathologische körperliche Reaktionen; darüber hinaus beschreibt er sie aber auch als Voraussetzung für geistige Höhenflüge, und er stellt die vielzitierte Frage: „War-
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2 3 4 5
Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 41, 45-46, welches als Standardwerk zur Geschichte der Melancholie grundlegend für dieses kulturhistorische Kapitel ist, sowie Hellmut Flashar: Melancholie und Melancholiker in der medizinischen Theorie der Antike. Berlin: De Gruyter 1966, S. 39-44. Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 39-54. Vgl. Jean Starobinski: „Die Tinte der Melancholie.“ In: Ders. (2005): Melancholie, S. 2430: 24. Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 50, 53-54 und Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker, S. 46-47. Ausf. zum eigentlichen Verfasser der zunächst Aristoteles zugeschriebenen „Problemata physica“ vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 17-19, 66, 89.
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um sind alle hervorragenden Männer […] offenbar Melancholiker gewesen?“ 6 Da Pseudo-Aristoteles die Melancholie in eine natürliche und eine krankhafte Ausprägung einteilt, welche sich hingegen nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen, rückt der Melancholiker in eine Position, die er in den folgenden Jahrhunderten nicht mehr verlässt: Er wird zum Wandler ‚auf Messers Schneide‘, beständig zwischen Genie und Wahnsinn, Manie und Depression schwankend und beständig vom Absturz in die Abgründe der melancholischen Verzweiflung bedroht. 7 Er ist ein Auserwählter, aber ein gefährdeter Auserwählter; seine „außerordentliche intellektuelle und künstlerische […] Leistungsfähigkeit ist“, so bringt es Markus Scheffler auf den Punkt, „ein prekärer, instabiler Zustand.“8 Aufgrund rezeptionsgeschichtlicher Umstände blieb jedoch die negative Lesart der pathologischen Melancholietradition bis in die Renaissance dominant9 und dabei kam der Melancholie – wie schon bei Pseudo-Aristoteles – eine Sonderrolle zu, allerdings in einem negativen Sinn: als schlechteste der Veranlagungen.10 Das dominante Arbeitsverständnis der Antike erweist sich ebenfalls als grundlegend ambivalent, wobei die Ambivalenz etymologischen Ursprungs ist. 11 Zwar lässt sich weder der Arbeitsbegriff noch die Antike als geschlossene ‚Konzepte‘ definieren, dennoch steht in den historischen Ausführungen oftmals eine negative Werthaltung im Vordergrund, gilt der griechischen und römischen Oberschicht, deren Pers-
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Zit. n. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 59-60. Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 80. Markus Scheffler: Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 39. 9 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 93 sowie Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker, S. 88-91, 106-107. 10 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 95. Ausf. zum Melancholieverständnis der Antike vgl. u.a. Scheffler (2008): Kunsthaß im Grunde, Paul Demont: „Der antike Melancholiebegriff: von der Krankheit zum Temperament.“ In: Clair (2005): Melancholie, S. 34-37, Theunissen (1996): Vorentwürfe von Moderne, Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie sowie Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker. 11 Zum Wortfeld ‚Arbeit‘ vgl. ausf. Komlosy (2014): Arbeit, S. 36-40, 44-47. Zum Arbeitsbegriff der Antike vgl. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 27-90, Christian Meier: „Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit.“ In: Manfred Bierwisch (Hg.): Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 19-76, Helga Scholten: „Die Bewertung körperlicher Arbeit in der Antike.“ In: Ancient Society 33 (2003), S. 1-22, Manfred Brocker: „Von der Verachtung der Arbeit in der Antike.“ In: Zeitschrift für Politik 2 (1998), S. 135-158, Reimar Müller: „Arbeit und Muße in der Sozialutopie der Antike.“ In: Das Altertum 34/3 (1998), Birgit van den Hoven: Work in Ancient and Medieval Thought. Ancient Philosophers, Medieval Monks and Theologians and Their Concept of Work, Occupation and Technology. Amsterdam: J.C. Gieben 1996 und Herbert Applebaum: The Concept of Work. Ancient, Medieval, and Modern. Albany, NY: State University of New York Press 1992, S. 3-21.
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pektive die Quellenlage ‚dominiert‘12, die Arbeit doch als eine Notwendigkeit, die sich nicht mit ihrem Ideal eines unabhängigen Lebens vereinbaren lässt. 13 Aus ihrer traditionell aristokratischen Position gelten Arbeiten und Herstellen nicht als würdige Lebensweisen, da sie Zeit für die so hoch geschätzte scholé (Muße) rauben.14 Nur die Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen ausgeführt werden, seien begehrenswert, vermerkt etwa Aristoteles, und so stelle die weise, also philosophische Betrachtung des Lebens (das bios theoretikos, welches später als vita contemplativa ins Lateinische übersetzt wird) die einzige Lebensweise dar, die diesem Diktum vollständig entspreche, da sie, anders als das politische Leben (bios politikos oder lat. vita activa), keine Ehransprüche verfolge.15 Diese Hierarchie mit der Muße – als bester praxis – an der Spitze bedingt die Nachrangigkeit aller anderen Tätigkeiten sowie die Abwertung der poiesis (des Hervorbringens/Arbeitens).16 Die römische Antike folgt damit im Wesentlichen den Darstellungen aus den griechischen Quellen und in noch stärkerem Maße spielt für die spätantike Oberschicht die Muße (lat. otium) eine zentrale Rolle, allerdings eher in Form eines müßiggängerischen Genießens.17 Der Rückzug in die ländliche Villa und das Aufsuchen des locus amoenus werden zur idealen Lebensweise erklärt.18 Ein ‚Verhältnis‘ von Arbeit und Melancholie ergibt sich in der gesamten Antike, trotz des u.a. von Aristoteles konstatierten Primats der Muße, nicht; zu ‚eng‘ ist der Arbeitsbegriff und zu dominant ist die pathologische Tradition der Melancholie. Determiniert durch einen erweiterten sowie aufgewerteten Arbeitsbegriff und ein eher negatives Verständnis von Melancholie kommt es erst im Mittelalter zur ersten wirklichen Relation der beiden Begriffe, und zwar in der Acedia, der sogenannten ‚Mönchsmelancholie‘. 12 Vgl. Scholten (2003): Die Bewertung körperlicher Arbeit in der Antike, S. 13. 13 Vgl. ausf. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 31-38 sowie zu den Kategorien ‚Freiheit‘ und ‚Notwendigkeit‘, anhand derer sich die Abwertung der, vornehmlich als körperliche Tätigkeit verstandenen, Arbeit orientiert vgl. Wulf D. Hund: Stichwort: Arbeit. Vom Banausentum zum travail attractif. Heilbronn: Distel 1990, S. 29. 14 Vgl. Scholten (2003): Die Bewertung körperlicher Arbeit in der Antike, S. 10 und Hans Frambach: Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg: Metropolis 1999, S. 36. 15 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Philosophische Schriften Bd. 3. Übers. v. Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner 1995 [~ 322 v. Chr.], S. 249. Vgl. dazu Eberhard Straub: Vom Nichtstun. Leben in einer Welt ohne Arbeit. Berlin: wjs 2009, S. 35-36. 16 Vgl. Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 39-43. Ausf. zur Unterscheidung von praxis und poiesis bei Aristoteles vgl. Rudolf Walther: „Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo.“ In: Bodo von Greiff, Helmut König u. Helmut Schauer (Hg.): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 3-25: 6-7. 17 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 38-49 sowie Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 44-45. 18 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 43-44 sowie Van den Hoven (1996): Work in Ancient and Medieval Thought, S. 24. Ausf. zum Arbeitsverständnis der Stoiker vgl. Van den Hoven (1996): Work in Ancient and Medieval Thought, S. 21-71 und Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 90-92.
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2.2
ARBEIT VERSUS MELANCHOLIE IN DER ACEDIA DES MITTELALTERS
Mit Berufung auf die Bibel19 wird die Arbeit in den frühchristlichen Quellen „zur notwendigen Aufgabe aller Menschen“20 erklärt, und auch wenn ihre Ambivalenz bestehen bleibt, dennoch steht das ‚neue‘, christliche Arbeitsethos in Opposition zum antiken Mußeprimat.21 Hervorzuheben ist, dass die Ambivalenz auf einem erweiterten Arbeitsbegriff fußt, der sein Spektrum zwischen der Tätigkeit des Bauern und dem Verkünden der Evangelien ausbreitet.22 Die Quellen der frühchristlichen Gemeinden zeigen eine weitere Neuerung auf: die Zuschreibung einer spirituellen Dimension.23 Zum Sinnbild dieser Auffassung wird der einfache Arbeiten verrichtende Mönch24, ein umfassendes Zeugnis für diese Einstellung zur Arbeit liefert die Regula Benedicti aus dem 6. Jahrhundert nach Chr., welche die Arbeit, im Sinne eines ora et labora, in den Kontext eines christlichen Lebens stellt. So heißt es dort: „Müßiggang ist der Feind der Seele. Deshalb sollen sich die Brüder beschäftigen: zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten andern Stunden mit heiliger Lesung.“ 25 Die Arbeit als Mittel, um den Müßiggang zu vertreiben, findet sich ebenso bei Augustinus, der schreibt: „Sei nie untätig, damit Dich der Teufel ständig beschäftigt findet.“26 Dieser Darstellung zufolge ist der arbeitsame Mönch beständig bedroht, wobei der Acedia in zahlreichen Quellen eine zentrale Rolle als Gefährderin zugesprochen wird. Mit der Grundannahme, es handele sich bei ihr um eine Form der Geisteskrankheit, rekurrieren die entsprechenden Autoren auf die pathologische Tradition der Melancholie.27 Bezeichnet sie zunächst lediglich die Bedrängung der sogenann-
19 Vgl. Kruse (2002): Geschichte der Arbeit und Arbeit als Geschichte, S. 77-79. 20 Iring Fetscher: „Arbeit, Muße und Spiel. Rekonstruktionen einer deutsch-französischen Debatte.“ In: Heidenreich/Monod/Oster (2009): Arbeit neu denken, S. 12-23: 12. 21 Vgl. Jürgen Kocka: „Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart.“ In: Ders./Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 476-492: 477. Vgl. auch Helmut Burckhardt: „Arbeit – Segen oder Fluch? Die Arbeit in biblischer Sicht.“ In: Werner Lachmann (Hg.): Die Arbeitsgesellschaft in der Krise. Konsequenzen für den einzelnen und die Volkswirtschaft. Münster: LIT 1995, S. 113-124. 22 Vgl. Otto Gerhard Oexle: „Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 67-79: 69. 23 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 53 und Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 53. 24 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 52 und Van den Hoven (1996): Work in Ancient and Medieval Thought, S. 251. 25 Benedikt von Nursia: Die Benediktregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Übers. v. Georg Holzherr. Einsiedeln, Köln, Zürich: Benziger 1980 [529], 48,1. Ausf. zu dem Aspekt der Arbeit in den Regula Benedicti vgl. Van den Hoven (1996): Work in Ancient and Medieval Thought, S. 152-158. 26 Eusebius Hieronymus: „Brief an den Mönch Rusticus.“ In: Ders.: Ausgewählte Briefe Briefbd. 1. Übers. v. Ludwig Schade. Kempten: Kösel 1979 [nach 406], S. 214-238: 227. 27 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 136. In der Lesart der Acedia als einer spezifisch monastischen Ausprägung der Melancholie folge ich Klibans-
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ten ‚Wüstenväter‘ durch psychische Erschöpfung, Trägheit und Einsamkeit28, wird sie schließlich zu einer Melancholie der Gläubigen stilisiert29, über die u.a. beim Wüstenvater Cassian zu lesen ist, man könne ihr nur mit einfachen, stetigen Arbeiten entgegenwirken.30 Gemäß Jean Starobinski werde die Arbeit aus dem Kontext von Produktivität herausgelöst, einzig ihre therapeutische Dimension zähle: „Durch die körperliche Arbeit entzieht sich der Mensch den Bedrängungen durch den Ennui, dem Schwindel leerer Zeit. Er widersteht den Verführungen einer schuldhaften Untätigkeit. [...] Die Arbeit ist gut, nicht insofern sie die Welt umgestaltet, sondern weil sie Verneinung des Müßiggangs ist.“31 Im Zuge der sich vom Früh- zum Hochmittelalter verändernden Werthaltung in puncto Arbeit, die in engem Zusammenhang mit dem sich herausbildenden Ständewesen zu sehen ist und die eine Neuordnung der Hierarchie von vita activa und vita contemplativa zur Folge hat32, wird die Acedia weiterhin und sogar verstärkt
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ky/Panofsky/Saxl, die jedoch auch darauf hinweisen, dass der Acedia-Begriff durchaus divers benutzt wurde (vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 139140). Vgl. dazu auch Antje Wittstock: Melancholia translata. Marsilio Ficinos Melancholie-Begriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 53 und Alfred Bellebaum: „Trägheit – Gefährdeter Lebenssinn.“ In: Ders. u. Detlef Herbers (Hg.): Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Münster: Aschendorff Verlag 2007, S. 205-234: 210. In ihrem endemischen Auftreten offenbart die Acedia ihre Gestalt als ‚kontextgebundene‘ Melancholie im Sinne von Peter G. Toohey, der vermerkt, die Melancholie geriere sich immer dann besonders endemisch, wenn ‚Täter‘, ‚Opfer‘ und Gesellschaft konform sind; ein Deutungsansatz, der vor allem in Bezug auf aktuelle Phänomene wie Burnout und ähnliche Erschöpfungszustände vielversprechend erscheint (vgl. Peter G. Toohey: Melancholy, Love, and Time. Boundaries of the Self in Ancient Literature. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press 2004, S. 136). Zur Ausbreitung der Acedia ab dem 5. Jahrhundert vgl. Yves Hersant: „Acedia und ihre Kinder.“ In: Clair (2005): Melancholie, S. 54-63: 55-56. Dieses endemische Auftreten teilt sie sich mit anderen kontextgebundenen Formen der Melancholie – wie dem elisabethanischen Spleen oder dem Mal du siècle der französischen Romantiker. Ausf. zur Acedia allgemein vgl. Heinrich Schnipperges: „Melancholia als mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen.“ In: Walther (1999): Melancholie, S. 49-76, Christoph Flüeler: „Acedia und Melancholie im Spätmittelalter.“ In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 34 (1987), S. 379-398 und Rainer Jehl: Melancholie und Acedia. Ein Beitrag zu Anthropologie und Ethik Bonaventuras. München u.a.: Schöningh 1984. Zu diesem antiken Ursprung der Acedia vgl. Michael Theunissen: „Melancholie und Acedia. Motive zur zweitbesten Fahrt in der Moderne.“ In: Heidbrink (1997): Entzauberte Zeit, S. 16-41: 24 sowie Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 139. Vgl. Toohey (2004): Melancholy, Love, and Time, S. 139. Vgl. Johannes Cassian: „Inst. X, 24.“ In: Ders.: Spannkraft der Seele. Einweisungen in das christliche Leben. Hg. u. übers. v. Gertrude u. Thomas Sartory. Basel, Freiburg, Wien: Herder 1981 [~ 420], S. 85. Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Berlin u.a.: August 2011 [1960], S. 81. Zum sich wandelnden Verhältnis von vita activa und vita contemplativa vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 59, Arendt (2003): Vita activa, S. 24, Frambach (1999): Arbeit im öko-
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ab dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit 33 als oppositionelles Gegenüber der Arbeit verstanden und sogar zu einer ‚Tod-‘ bzw. zu einer ‚Erbsünde‘ erklärt. 34 Die Melancholie ist damit eindeutig und untrennbar in die Bedeutungszusammenhänge von ‚Faulheit‘, ‚Müßiggang‘ und ‚Trägheit‘ gerückt. Diese arbeitsfeindliche Dimension der Melancholie ist ein Novum des Mittelalters und kann nur auf Grundlage des neuen Arbeitsethos und der Umdeutung der Melancholie im Rahmen eines christlichen Bedeutungszusammenhangs stattfinden. Wie eindeutig und weit verbreitet diese oppositionelle Gegenüberstellung in dieser Zeit ist, dafür liefern die Melancholiedarstellungen der spätmittelalterlichen Kalender entsprechende Beispiele, zeigen sie die personifizierte Melancholie doch zumeist dezidiert durch Nicht-Arbeit charakterisiert.35 Die Abwertung der Melancholie im Mittelalter lässt sich folglich nicht nachvollziehen, ohne ihre Einordnung in Zusammenhänge der Acedia und des Arbeitsdiktums zu betrachten – ein Konnex, der bei Hartmut Böhme pointiert nachzulesen ist: „Wir haben in dieser Abwertung der Melancholie einen der großen gesellschaftlichen Abwehrmechanismen zu sehen, die seit dem christlichen Mittelalter in allen Gesellschaftsformen wiederkehren: jede Ordnung erhält sich durch Ausgrenzung dessen, was als Unordnung gilt. Darum wird der Melancholiker nicht als Leidender oder Opfer ins soziale Mitgefühl eingeschlossen. Vielmehr wird er, dem kein Glück dieser Gesellschaft, dem kein Wissen, kein Beruf, kein Vergnügen und keine Hoffnung seine schwarzen Gedanken vertreiben, zum Außenseiter
nomischen Denken, S. 57-58 und Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 208. Zur Entwicklung der Stände, in denen eine Aufteilung des ora et labora auf den Klerus und die Arbeiterschaft stattfindet, vgl. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 100-106 und Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 207-209, 225-226. Ausf. auch Francis G. Gentry: „Arbeit in der mittelalterlichen Gesellschaft. Die Entwicklung einer mittelalterlichen Theorie der Arbeit vom 11. bis zum 14. Jahrhundert.“ In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Arbeit als Thema in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Königstein/Ts.: Athenäum 1979, S. 3-28. 33 Vgl. Flüeler (1987): Acedia und Melancholie im Spätmittelalter, S. 384. 34 Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica 17, II-II, 35, 1. Hg. v. Heinrich M. Christmann. Graz, Salzburg, Wien: Pustet 1966 [1267-1274]. Vgl. dazu Flüeler (1987): Acedia und Melancholie im Spätmittelalter, S. 384-387 sowie Hildegard von Bingen: Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten. Übers. v. Hans Schipperges. Salzburg: Otto Müller Verlag 1957 [nach 1150], S. 220. 35 Vgl. Susanne Blöcker: Studien zur Ikonographie der Sieben Todsünden in der niederländischen und deutschen Malerei und Graphik von 1450-1560. Hamburg, Münster: LIT 1993, Anhang Abb. 7a, 11f, 17c, 21d, Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, 91, 95, 97-98, den Bildanhang von Schuster (1991): Melencolia I sowie Erwin Panofsky: „Zwei Dürerprobleme.“ In: Ders.: Deutschsprachige Aufsätze Bd. 1. Berlin: Akademie Verlag 1998 [1931], S. 337-388: 341-343. Ausf. zur Darstellungstradition der Acedia vgl. Gerlinde Lütke Notarp: Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie. Studien zur Ikonographie der vier Temperamente in der niederländischen Serien- und Genregraphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Münster u.a.: Waxmann 1998, S. 184-246 und Blöcker (1993): Studien zur Ikonographie der Sieben Todsünden, S. 86-87.
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gemacht, zum Träger eines unsichtbaren Stigmas, das ihn, so passiv, schweigsam und duldend er leben mag, inmitten allen Lebens und aller Freuden zum Einsamen stempelt.“36
Die Melancholie kann demnach im Kontext einer auf dem neuen Arbeitsethos ganz wesentlich beruhenden, christlichen Lebensweise nur als Gegenbild stigmatisiert, ausgeschlossen sowie verteufelt werden und es handelt sich dabei um einen Umstand, der ihren Weg für die folgenden Jahrhunderte entscheidend prädestiniert.
2.3
MELANCHOLISCHER MÜSSIGGANG IN SPÄTMITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT
In ganz ähnlicher Weise wie für die frühen Christen spielt die Arbeit im Zuge der zunehmenden Verstädterung ab dem 13. Jahrhundert und der daraus resultierenden Bildung einer bürgerlichen Mittelschicht eine entscheidende Rolle. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Konstituierungsprozesse und bürgerlicher Selbstdefinition.37 Im Sinne dieses erstarkenden bürgerlichen Selbstverständnisses gilt das Postulat der Aktivität38, der ‚faule‘ Müßiggang wird ebenso verdammt wie die angeblich daraus resultierende Armut.39 Die Literatur der Zeit liefert zahlreiche Beispiele für diese Verdammung des Müßiggangs.40 Ganz in der Nachfolge der Acedia verbinden sich im Bild des Müßiggängers physische Faulheit und christliche Lastervorstellungen und auf dieser Basis wird, wie Gabriele Stumpp formuliert, der „universelle Geltungsanspruch der Arbeit“ 41 entwickelt. Eine vita contemplativa bzw. die Muße im philosophischen Verständnis der Antike hat in diesem Weltbild keinen Platz, sie sinkt „zur bloßen Nichtarbeit herab[]“.42 Entschieden vorangetrieben wird diese Entwicklung durch die protestantische Arbeitsethik, deren maßgebende Theoretiker Martin Luther und Johannes Calvin sind.43 Luther und vor allem Calvin entwerfen mit ihrer Prädestinationslehre ein strenges und trostloses Weltbild, in welchem der Mensch seine positive Bestimmung durch „harte Arbeit“44 zu beweisen sucht. Max Weber vermerkt hierzu: „In
36 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 258. 37 Zu dieser Entwicklung vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 74-75 sowie Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 122-125. Ausf. zu diesem Prozess vgl. Gentry (1979): Arbeit in der mittelalterlichen Gesellschaft, S. 17-26. 38 Vgl. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 127. 39 Vgl. Füllsack (2009): Arbeit, S. 41-43. 40 Vgl. Gabriele Stumpp: „Müßiggang als Provokation.“ In: Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders (Hg.): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914. Dokumente und Analysen. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1991, S. 181-190: 182. 41 Stumpp (1991): Müßiggang als Provokation, S. 182-183. 42 Stumpp (1991): Müßiggang als Provokation, S. 184. 43 Vgl. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 133, 153, zum Arbeitsbegriff Luthers vgl. Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 6164 und zu Calvin vgl. Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 324-326. 44 Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 329, Übers. N.V.
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ihrer pathetischen Unmenschlichkeit mußte diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: das Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums.“45 Eine Überlegung, die Richard Sennett weiterführt, wenn er Luther und Calvin als erste ‚Vertreter‘ einer „theology of the individual“ bezeichnet, in welcher er den ‚Geburtsort‘ eines neuen Menschentypus erkennt: „It is the driven man, bent on proving his moral worth through his work.“ 46 Der Wert des Menschen errechnet sich nun also aus der Fähigkeit, sein Leben im Sinn einer „innerweltlichen Askese“47 aktiv und erfolgreich zu leben. Jegliche Art von Passivität ist hingegen gleichgesetzt mit göttlicher Verdammung 48, was für den Melancholiker als Sinnbild des Untätigen ebenfalls gilt. 49 Ganz im mittelalterlichen AcediaVerständnis sieht etwa Luther die Melancholie als teuflische Anfechtung des Gläubigen50 sowie als Feind des arbeitssamen wie asketischen Ideals. 51 Auch bei den Reformatoren findet somit eine deutlich oppositionelle Gegenüberstellung von Arbeit und Melancholie statt, die zum einen auf einem Arbeitsbegriff beruht, der im Vergleich zu vorherigen Konzepten jeglicher Ambivalenz bereinigt ist 52, zum anderen auf einem pathologischen Melancholiebegriff theologischer Ausprägung. Dieser wird zunehmend zum Vorwurf stilisiert, um Gegenpositionen qua Patholo-
45 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Hg. v. Klaus Lichtblau u. Johannes Weiß. Bodenheim: Athenäum Hain Hanstein 1993 [1904/1905], S. 62, Herv. i.O. 46 Sennett (1999): The Corrosion of Charakter, S. 104-105. 47 Weber (1993): Die protestantische Ethik, S. 53. 48 Vgl. Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 329. 49 Vgl. Winfried Schleiner: Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance. Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 66. 50 „Man sagt, und ist wahr: ubi caput melancholicum, ibi Diabolus habet paratum balneum. (Wo ein melancholischer und schwermüthiger Kopf ist, der mit seinen eigenen und schweren Gedanken umgehet und damit sich frißt, da hat der Teufel ein zugericht Bad.)“, zitiert Luther etwa einen frühmittelalterlichen Ausspruch. (Martin Luther: „Tischrede 122.“ In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe Abt. 2: „Tischreden Bd. 1.“ Hg. v. der Komission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers. Weimar: Böhlau 1967, S. 47-52: 51 und vgl. dazu Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 12, 563). Durch die Ablehnung der Todsündenlehre taucht die Acedia zwar namentlich in dieser Zeit zumindest auf protestantischer Seite kaum auf, die mittelalterlichen Denkbilder werden dennoch fortgeführt, wenn nun auch in Begriffen wie Faulheit, Trägheit, Müßiggang oder auch Melancholie und Traurigkeit resp. Tristitia – Begriffe, die bereits im Kontext der Acedia verwendet wurden. Vgl. Hersant (2005): Acedia und ihre Kinder, S. 59 sowie Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 306 und vgl. Schleiner (1991): Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, S. 66. Zu Luthers Haltung gegenüber der Lasterlehre vgl. Göttler/Schaffer (2010): Die Kunst der Sünde, S. 27. 51 Vgl. Schleiner (1991): Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, S. 66. 52 Zum vollständigen Durchbruch gelangt dieser Arbeitsbegriff dann ab dem 17. Jahrhundert, vgl. Füllsack (2009): Arbeit, S. 56.
Kulturgeschichtliche Überlegungen
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gisierung zu denunzieren.53 Ein positiveres Verständnis sollen erst die Schriften der Renaissance-Humanisten mit sich bringen.
2.4
DER MELANCHOLIKER ALS ‚GEISTESARBEITER‘ IM HUMANISMUS
Bereits ab der Mitte des 15. Jahrhunderts lassen sich die ‚Anfänge‘ eines neuen Melancholieverständnisses erkennen, das in einer direkten Relation zu den vorherrschenden Vorstellungen von Arbeit zu sehen ist. Während etwa das Regimen Salitatis dem Melancholiker plötzlich „Vorliebe und Ausdauer beim Studium“54 zuweist, zeigt eine Wolfenbüttler Handschrift aus dem Jahr 1491 den Melancholiker als einen an einem Schreibpult sitzenden Gelehrten.55 Dieses sich hier bereits andeutende ‚neue‘ Melancholieverständnis lässt sich bei dem neoplatonischen Humanisten Marsilio Ficino schließlich in ‚Reinform‘ nachlesen, welcher damit der mittelalterlichen Melancholie eine neue Definition gegenüberstellt, indem er sie zur Vorbedingung für geistige Hochflüge erklärt.56 Zeigt Ficinos dreibändige Abhandlung De vita libri tres (1489) den Versuch, dem eigenen melancholischen Leiden zu begegnen 57, so kann erst aus dieser spezifisch subjektiven Perspektive und auf der Grundlage des italienischen Humanismus der pseudo-aristotelische Ansatz ‚auf fruchtbaren Boden‘ fallen und die Verbindung von Genie und Melancholie vollzogen werden. 58 Der daraus resultierende ‚neue‘ Menschentypus des homo literatus gilt den Humanisten als „Geistesarbeiter“59, der in einem spezifischen Verhältnis zur Melancholie steht: Zum einen qualifiziert sie ihn zu der geistigen Arbeit und zum anderen prädestiniert die geistige Arbeit ihn, vice versa, zur Melancholie; sie fördert die Produktion der schwarzen Galle.60 Neben Ausführungen zur Diätetik und diversen Arzneien gibt Ficino entsprechend auch Hinweise zu einer richtigen, sprich: einer die schwarze Galle im Zaum haltenden Lebensführung.61 Trotz der deutlichen Aufwertung der
53 Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 32 sowie ausf. H.-Günter Schmitz: „Melancholie als falsches Bewußtsein. Wie man weltanschauliche Gegner verteufelt.“ In: Neue Rundschau 85 (1974), S. 27-43. 54 Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 174. Vgl. auch Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 126-127 sowie ausf. bei Schuster (1991): Melencolia I, S. 108-115. 55 Vgl. Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 52. 56 Vgl. Wittstock (2011): Melancholia translata, S. 49, 61-64 sowie zu Ficinos Melancholiebegriff vgl. S. 56-76 Ausf. auch Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 351-394. 57 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 369. 58 Ausf. zu dieser Verbindung vgl. Schleiner (1991): Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance. 59 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 377. 60 Vgl. Marsilio Ficino: De vita libri tres/Drei Bücher über das Leben. Hg. u. übers. v. Michaela Boenke. München: Fink 2012 [1489], S. 55-57, 71, 73, 75-77. 61 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 384-385.
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Melancholie bleibt auch bei Ficino die Ambivalenz ein zentrales Moment, und demgemäß befindet sich der humanistische „Gelehrtenmelancholiker“62 in einem intellektuellen Widerstreit zwischen einer „manchmal bis zur Hybris gesteigerten Selbstbejahung“ und einem „manchmal bis zur Verzweiflung verschärften Selbstzweifel[]“.63 Die zeitgenössischen Reaktionen auf diese ‚neue‘ Lehre von der Melancholie sind enorm, und sie erhält Einzug in den ‚populären‘ Sprachgebrauch der Melancholie. Beispiele hierfür liefern wiederum die Bilderhandschriften und Kalenderdrucke, in denen der als schlummernder Faulpelz dargestellte Melancholiker ab dem 16. Jahrhundert durch den geistig arbeitenden ersetzt wird. 64 Nach Deutschland gelangt das Konzept des genialischen Melancholikers über Agrippa von Nettesheim 65 u.a. zu Albrecht Dürer, der mit seinem Meisterstich Melencolia I das wohl meistbesprochene Melancholieartefakt der Bildenden Kunst geschaffen und darüber hinaus eine umfassende Bildtradition der Melancholie begründet hat.
2.5
ARBEIT UND MELANCHOLIE IN ALBRECHT DÜRERS MELENCOLIA I
Als geflügelte Frau in vornehmen Kleidern, auf einer steinernen Stufe vor einem Gebäude sitzend, den Kopf auf die Faust gestützt, umgeben von einer Vielzahl von Gegenständen und flankiert von einem ebenfalls geflügelten Putto wie einem Hund – so zeigt Dürers 1514 entstandener Kupferstich die Melancholie. Die Flügel weisen die Melencolia als Personifikation aus und sind darüber hinaus als Zeichen einer genialischen Melancholie zu lesen, konstatiert doch Friedrich: Die „Melancholie [verleiht] dem Menschen Flügel […], [erhebt] ihn und seinen Geist […] und [kann] zu großen Leistungen beflügeln“.66 Gebrochen wird diese Bedeutung jedoch durch ihre geringe Größe, die in Konkurrenz zur körperlichen Schwere der Frau steht. 67 Ist die Melencolia von einer Vielzahl von ihr attributivisch zur Seite gestellten Arbeitsgeräten „umrahmt“, die auf die theoretische sowie praktische Geometrie, auf die Goldschmiedekunst und die Alchemie verweisen 68, zeigt Dürer sie dennoch als scheinbar untätige Frau; die Werkzeuge der Melencolia liegen auffällig ungenutzt umher. Diesen „Mangel an Beschäftigung“69 teilt sich die Melencolia mit der Acedia
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Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 48. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 358. Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 425-426. Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 398, 493. Ausf. zu den Übersetzungen und der Rezeption von Ficino in Deutschland vgl. Wittstock (2011): Melancholia translata. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 23. Vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 23. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 443 und vgl. S. 444, 462, 465. Zur Bedeutung der Instrumente, des Rhomboeders sowie des Bauwerks und der Leiter vgl. auch Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 26-35. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 447.
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der mittelalterlichen Kalender, wobei sich dieser, nach Klibansky/Panofsky/Saxl, wie folgt ausnimmt: „[D]as Charakteristische für Dürers ‚Melencolia‘ [ist] ja gerade, daß sie mit all den Werkzeugen des Geistes und der Hand nichts tut und daß die Dinge, auf denen ihr Auge ruhen könnte, für sie gar nicht vorhanden sind. Die Säge liegt unbenutzt zu ihren Füßen; der am Rand bestoßene Schleifstein lehnt unbrauchbar an der Wand; das Buch ruht mit geschlossenen Schließen im Schoß; der Rhomboeder und die Himmelsphänomene werden nicht wahrgenommen; die Kugel ist zu Boden gerollt, und der Zirkel ‚hat nichts mehr zu tun‘. Kein Zweifel, daß – trotz allem – das Nichts-Tun mit Dingen, die der Tätigkeit dienen, das Nicht-Sehen dessen, was gesehen werden will, die Melencolia I mit jener trägen Melancholie verbindet, die durch die eingeschlafene oder in müßigem Trübsinn versunkene Spinnerin repräsentiert wird.“70
Ganz im Sinne der Acedia ist die Dürer’sche Melancholie folglich untätig. Ihr Kranz weist sie hingegen als homo literatus aus, worin sich wiederum der humanistische Einfluss niederschlägt71, und anders als die Acedia der Kalender ist sie nicht aus purer Schläfrigkeit passiv. Statt eines gesenkten Blickes begegnen dem Betrachter „überwach[e]“ Augen: „Sie ist untätig, nicht, weil sie zu träge ist, um zu arbeiten, sondern weil die Arbeit sinnlos für sie geworden ist; ihre Energie ist durch Denken gelähmt, nicht durch Schlaf.“72 Zum Vergleich der untätigen Melencolia mit der trägen Acedia vermerken Klibansky/Panofsky/Saxl entsprechend: „[B]eide sind untätig; doch während letztere nichts tut, weil sie vor Trägheit eingeschlafen ist, tut erstere nichts, weil ihr Geist mit inneren Gesichten beschäftigt ist, die ihr ein Hantieren mit praktischen Werkzeugen sinnlos erscheinen lassen. In dem einen Fall steht das ‚Nichtstun‘ unterhalb, in dem anderen oberhalb der äußeren Aktivität.“ 73 Die der Melancholie in der Abbildungstradition der Acedia dezidiert zugeschriebene Untätigkeit verwandelt sich folglich auf der Grundlage der Ficinischen Aufwertung zu einer rein äußerlichen Maske, hinter der es ‚rumort‘. Ganz in postmetaphysischer Manier erscheint es, als hadere die Melencolia mit dem Sinn jeglicher Arbeit.74 Entsprechend deutet Georg Groddeck die auffällige Unordnung der Gegenstände wie folgt: „Offenbar will sie nichts tun, denn die Unordnung, in der die Dinge durcheinanderliegen, ist methodisch so aufgebaut, daß die Frau nichts tun kann, und wer sollte das so künstlich gemacht haben, wenn sie es nicht war?“ 75 Es ist, als ‚verstelle‘
70 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 447-448. Die Autoren verweisen hier auf eine Abbildung der Acedia als schlafende Spinnerin aus dem Jahr 1490, vgl. die Tafel 97 bei Klibansky/Panofsky/Saxl. 71 Karl Giehlow: „Dürers Stich Melencolia I und der maximilianische Humanistenkreis.“ In: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 4 (1904), S. 57-78. 72 Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München: Rogner & Bernhard 1977 [1967], S. 214. Ausf. zum Blick vgl. Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 13-17. 73 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 449. 74 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 452-453. 75 Georg Groddeck: „Dürers Melencolia I.“ In: Ders.: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1978 [1934], S. 252-254: 253, Herv. i.O.
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sie sich ihr eigenes „Gerät“76 im Sinne einer unbewussten Vermeidungshaltung. Das sich darin niederschlagende melancholische Gefühl von Sinn- und Ziellosigkeit sowie Ohnmacht potentiert sich mit Blick auf den Hintergrund, der deutliche Zeichen einer bevorstehenden Apokalypse trägt. 77 So erscheint Dürers die Melencolia als resignierender homo faber, dessen Wissen und Können im Angesicht des drohenden Weltuntergangs obsolet wird.78 Flankiert wird diese „spezifisch menschliche[] Tragik“ 79 durch den Putto und den Hund, die Gefährten und zugleich Varianten bzw. Stadien des melancholischen Schicksals darstellen. So bezeichnet der eifrig schreibende Putto „den unbelasteten Gleichmut eines Wesens, das gerade erst die Befriedigung des (wenn auch unproduktiven) Tätigseins kennengelernt hat, aber noch nicht die Qual des (wenn auch schöpferischen Denkens) [sic!] kennt“80; der Hund hingegen verbildlicht in seiner Schläfrigkeit die träge Melancholie sowie die „reflexionslose Animalität“. 81 Die zeitgenössische Reaktion auf Dürers Meisterstich ist, ähnlich wie bei Ficino, enorm und es entwickelt sich eine von ihm ausgehende, transformierte Darstellungstradition der Melancholie. Neben zahlreichen ‚Nachfolgern‘ aus der Bildenden Kunst finden sich auch in der Literatur viele Beispiele.82
76 Heinrich Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. München: Bruckmann 91984 [1905], S. 208. 77 Vgl. Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 37-39. 78 Vgl. Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 33. 79 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 453. 80 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 453. 81 Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 15-16. 82 Ausf. zur „künstlerische[n] Nachfolge der ‚Melencolia I‘“ siehe Klibansky/Panofsky/ Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 523-556, Zitat S. 523. Vgl. auch den wirkungsgeschichtlichen Überblick von Peter-Klaus Schuster: „Melencolia I – Dürer und seine Nachfolger.“ In: Clair (2005): Melancholie, S. 90-103: 97-102, dessen Sammlung von Abbildungen sehr sehenswert ist, sowie Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 177-180, 189-193, Hanna Hohl: Saturn, Melancholie, Genie. Ostfildern: Hatje Cantz 1992 und Schuster (1991): Melencolia I. Beispiele aus der modernen Kunst präsentiert Ludwig Völker in seiner Anthologie „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Stuttgart: Reclam 1983, S. 443, 451, 461, 465, 471, 475, 479. Vgl. auch Peter Strieder (Hg.): Vorbild Dürer. Kupferstiche und Holzschnitte Albrecht Dürers im Spiegel der europäischen Druckgraphik des 16. Jahrhunderts. München: Prestel 1978. Zur literarischen Nachfolge vgl. Hartmut Böhme: „Zur literarischen Rezeption von Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I.“ In: Jörg Schönert u. Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1988, S. 83-123. Eine beachtliche Sammlung von Gedichten zur Melencolia versammelt Ludwig Völkers Melancholie-Anthologie, vgl. Völker (1983): „Komm, heilige Melancholie“, S. 445-478.
Kulturgeschichtliche Überlegungen
2.6
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ENDEMISCHE MELANCHOLIE IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN PROTESTANTISMUS UND HUMANISMUS
Überaus populär wird die Melancholie etwa in der Kunst des Barock 83; so sehr, dass sie bisweilen als ‚Signum‘ des Barocks gilt. 84 Lepenies liest sie als „Symptom einer instabilen Gesellschaft“85, welche u.a. durch religiöse Umbrüche und Konflikte ‚aus den Fugen‘ gerät.86 Kernstück dieser Konflikte bildet die Reformation, die durch ihre spezifische Lehre den melancholischen ‚Zeitgeist‘ noch befeuert. 87 In diesem Sinne kann die barocke Melancholie als Reaktion auf das starke Leistungs- und Anspruchsdenken der protestantischen Arbeitsethik verstanden werden. 88 Das Resultat der protestantischen Arbeitsethik in all ihrer Rigorosität ist demnach nicht etwa ein Zustand seliger Arbeitsamkeit, sondern vielmehr ein epidemisches Versinken in eben jener so ‚verteufelten‘ Melancholie. Ein eindrucksvolles Zeugnis für das Auftreten melancholischer Gestimmtheit in protestantischen Zusammenhängen liefert die Autobiografie des humanistisch gelehrten Rostocker Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow. Er beschreibt sich in seiner dreibändigen, 1595 begonnenen Schrift Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens als einen Sanguiniker, der eine Wandlung zum Melancholiker vollzieht.89 Diesen Wandel knüpft er aber nicht etwa an die tradierte Zuordnung der Temperamente zu den Lebensaltern, sondern dezidiert an die Tatsache, dass er „‚grosse Arbeit Tag vnnd Nacht‘“90 ertragen habe, welche ihn zu einem Melancholiker habe werden lassen. Gleichzeitig ist die Arbeit ihm aber auch nur durch die dem Melancholiker zugeschriebene Beharrlichkeit möglich, welche dem unsteten sanguinischen Temperament hingegen abgeht. 91 Bezeichnend dabei ist wie-
83 Vgl. Hans Pörnbacher: „Melancholie in der Literatur der Barockzeit.“ In: Jehl/Weber (2000): Melancholie, S. 75-84 sowie zu den für die barocke Melancholie so zentralen Memento mori- und Vanitas-Motiven vgl. Helen Watanabe-O’Kelly: Melancholie und die melancholische Landschaft. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Bern: Francke 1978, S. 42-45, 86-99. 84 Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 30. Dževad Karahasan vermerkt zu der Benennung einer Epoche als ‚melancholisch‘: „Man könnte sagen, daß hiermit Epochen gemeint sind, in denen das allgemeine Empfinden der Welt und des Daseins melancholisch ist.“ Dževad Karahasan: „Aufenthalt im Spiegel. Historische und subjektive Melancholie oder die Freude, traurig zu sein.“ In: Lettre International 94 (2011), S. 59-64: 64. 85 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 31. 86 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 340-341. 87 Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 31. 88 Vgl. Wilhelm Schmid: „Melancholie ist die Abwesenheit von Lebenskunst.“ In: Jehl/Weber (2000): Melancholie, S. 107-116: 112. 89 Vgl. Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 120, 120-130, 133-135, welche die Autobiografie sehr erkenntnisbringend behandelt hat. 90 Zit. n. Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 135. 91 Vgl. Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 125-126, 134-135.
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derum das Moment der reziproken Bedingtheit: Es ist das als trostlos beschriebene protestantische Weltbild andauernder und womöglich vergeblicher Arbeit, welches die Melancholie fördert, und vice versa ist es ausgerechnet die Melancholie, die für das geforderte Leben in stetiger und fleißiger Tätigkeit prädestiniert. Aus Letzterem spricht die humanistische Prägung, aus Ersterem hingegen der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und Lassens, der Vorbote postmetaphysischer Verlorenheit. Eine sich aus den unterschiedlichen Begriffsverständnissen speisende Melancholie findet sich auch in Robert Burtons 1621 publizierter Anatomy of Melancholy. Der englische Theologe erklärt die Melancholie, im Angesicht der politischen und religiösen Konflikte seiner Zeit92, zu einer „Universalmetapher“93 für jegliche Art von Unordnung und Ungleichgewicht.94 Burton zufolge kann die Melancholie sowohl aus einem ‚Zuwenig‘ als auch aus einem ‚Zuviel‘ an Arbeit resultieren, wobei der ‚faule‘ Adel als Beispiel für das ‚Zuwenig‘, Burton selbst als unermüdlich arbeitender Wissenschaftler als Beispiel für das ‚Zuviel‘ angeführt wird. 95 Ganz im Ficinischen Sinn erscheinen dann auch seine Beschreibungen der spezifischen Melancholie des Forschers, die aus der Überanstrengung des eigenen ‚Arbeitswerkzeugs‘, des Geistes, resultiert.96 In Burtons ausführlichen und dichten, aber auch sprunghaften Ausführungen tritt die poetische Dimension der barocken Melancholie in den Vordergrund und sie wird zum „Darstellungsmittel des schreibenden Ichs“. 97 Klibansky/Panofsky/Saxl vermerken dazu: „Dieses moderne Melancholiegefühl ist im wesentlichen ein gesteigertes Ich-Gefühl, da das Ich die Achse ist, um die sich jene Kugel von Lust und Wehmut dreht.“98 Die Melancholie bei Burton erscheint als 92 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 25. 93 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 135. 94 Vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 74 und Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 117. Hannah Arendt greift diesen Aspekt viele Jahre nach Burton wieder auf und schreibt: „Außerhalb des vorgeschriebenen natürlichen Kreislaufes, in dem ein Körper sich erschöpft und regeneriert, in dem die Mühsal der Arbeit von der Lust des Verzehrens und die Müdigkeit von der Süße der Ruhe gefolgt ist, gibt es kein bleibendes Glück, und was immer diese kreisende Bewegung aus dem Gleichgewicht bringt – die Not der Armut, wenn an die Stelle der Erholung das Elend tritt und die Erschöpfung ein Dauerzustand wird, oder die Not des Reichtums, wenn der Körper sich nicht mehr erschöpft und daher an die Stelle der Erholung die Langeweile tritt […] –, vernichtet die elementar sinnliche Seligkeit, die der Segen des Lebendigseins ist.“ Arendt (2003): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 127. 95 Vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 104, 165, 238-240. 96 Vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 303. 97 Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S. 119 und vgl. S. 120. Ausf. zur Melancholie als „eines der zentralen Medien frühneuzeitlicher Selbstverständigung“ und ihrer Verbindung zur Literatur ab dem 17. Jahrhundert siehe Verena Lobsien: „Das manische Selbst. Frühneuzeitliche Versionen des Melancholieparadigmas in der Genese literarischer Subjektivität.“ In: Reto Luzius Fetz et al. (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 1. Berlin, New York, NY: De Gruyter 1998, S. 713-739, Zitat S. 714. 98 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 338.
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Zustand, der zugleich betrauert und genossen, der sowohl einer ausführlichen Beschreibung wert, aber auch als heilungsbedürftig angesehen wird. So stellt Burton seiner chaotischen und melancholischen Welt einen Alternativentwurf gegenüber: die Utopie der absoluten ‚Melancholiebefreitheit‘. Burtons utopisches England ist eine ‚Idylle‘ der Ordnung, deren oberstes Gebot ein „Melancholieverbot“ ist.99 Diese Feststellung ist jedoch keineswegs auf Burton zu beschränken, lässt sich doch die Freiheit von Melancholie oder auch das ‚glückliche Leben‘ als konstitutiver Moment allen utopischen Denkens erkennen.100 Am apodiktischsten findet sich das ‚Melancholieverbot‘ über Burton hinaus in den populären archistischen Renaissance- sowie Barock-Utopien eines Thomas Morus, Tommaso Campanellas, Johann Valentin Andreaes und Francis Bacons.101 Sie alle weisen ein „eigentümliches Wechselspiel von Melancholie und Utopie“102 auf, in dessen Zentrum die Kritik an der feudalistisch organisierten Gesellschaft steht; substrahiert man nämlich das Arbeitsgebot und das Melancholieverbot aus den utopischen Gesellschaften, bleibt der Adressat dieser Kritik übrig: der sowohl (im Sinne einer Arbeit) untätige als auch melancholische Adel.103 Die spezifische Verbindung von Arbeit und Melancholie in der Utopie dient folglich vor allem einem: der Kritik an gesellschaftlichen und politischen Zuständen. Der Melancholiebegriff unterliegt damit einer Instrumentalisierung, die ihn in den meisten Zeugnissen der utopischen Literatur seiner positiven Seiten beschneidet. Und dennoch ist, so offenbart sich u.a. am Beispiel Burtons, diese Darstellung wiederum durch eine melancholische Perspektive geprägt. Die Melancholie ist Burton nicht nur Gegenstand und ihre Heilung Ziel der Bemühungen, sie ist doch ebenso – als eine Geisteshaltung – das ‚Medium‘ seiner Reflexionen und konstitutiver Bestandteil seiner Selbstinszenierung als Gelehrter. Burton legt damit die melancholische Beschaffenheit des utopischen Denkens selbst frei. So ist es das ‚Leiden‘ des Melancholikers, aus dem die Utopie als Flucht geboren wird und das Ziel der Utopisten, die Grundlage ihres Denkens, die Melancholie und die Reflexion, überflüssig zu machen.104 Melancholie ist also nicht nur das ‚Komplementärphänomen‘ zu einer auf Tätigkeit fixierten Perspektive, sie ist ihr gleichsam inhärent, wie ebenfalls die Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft zeigt; einer Gesellschaft, deren Selbstbild sich sowohl durch das Ideal der Arbeitsamkeit als auch durch eine melancholische Haltung auszeichnet, begründet u.a. in den Idealen sowie Ansprüchen der Aufklärung.
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Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXI und vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 89-100. Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 29. Zum Begriff der archistischen Utopie vgl. Richard Saage: Utopische Profile: Renaissance und Reformation. Münster: LIT 2001, S. 25. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXI. Vgl. ausf. zur höfischen Melancholie Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 46-75, 203-204. Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXI, 191 sowie Schleiner (1991): Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, S. 204.
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DAS ANTI-MELANCHOLISCHE PROGRAMM DER AUFKLÄRUNG
Das Arbeitsverständnis der Aufklärer hat nichts weniger als die Emanzipation des aufgeklärten Bürgertums zum Ziel105, woraus jene, noch heutige Werthaltungen prägende „Verbindungslinie ‚Arbeit – Fortschritt – Freiheit‘“106 resultiert, die wenig ‚Rücksicht‘ auf die Arbeitsrealität der Zeit nimmt.107 Im Zentrum des sich formierenden bürgerlichen Selbstbildes steht das Ideal der ‚Arbeitsamkeit‘ sowie ein zunehmend auf Rationalisierung und Effizienz ausgerichtetes Denken und Handeln.108 Aßländer bezeichnet das aufklärerische Bürgertum entsprechend als „Geburtstunde unserer heutigen Arbeits- und Erwerbsmentalität“.109 Der „ökonomische Erfolg“ gilt nun als anstrebenswerter Weg zum Glück, Unglück hingegen wird zum Signum des Scheiterns erklärt.110 Der Arbeit als Mittel, sich einen Weg aus der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ zu bahnen, steht der Müßiggang gegenüber, und das beträchtliche „Aggressionspotential“111 der Aufklärer richtet sich dabei nicht nur gegen den Müßiggang des Adels, sondern ebenso – in Analogie zu den Polemiken des Spätmittelalters und der Reformatoren – gegen die unteren Gesellschaftsschichten, was sich u.a. in dem rigiden Vorgehen gegen Arbeitslose manifestiert, erscheint doch, wie Fuest es beschreibt, der „Faulenzer als Gefährdung in eigener Sache.“112 In diesem Kontext von rigidem Arbeitsethos und Müßiggangverbot nimmt der Melancholiebegriff eine Schlüsselrolle ein.113 Er erfreut sich im 18. Jahrhundert
105 Vgl. Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 72-75 sowie Michel Delon: „Das Vergnügen an der Arbeit. Von der Aufklärung zur Utopie Fouriers.“ In: Asholt/Fähnders (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 101-111: 104. 106 Andrea Maurer: Moderne Arbeitsutopien. Das Verhältnis von Arbeit, Zeit und Geschlecht. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 15. 107 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 82-85, 92 und Jürgen Kocka: „Arbeit als Problem der europäischen Geschichte.“ In: Bierwisch (2003): Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, S. 77-92: 84. Zu den Arbeitsumständen im vorrevolutionären Frankreich vgl. Applebaum (1992): The Concept of Work, S. 374-377 sowie Ludolf Kuchenbuch u. Thomas Sokoll: „Vom Brauch-Werk zum Tauschwert: Überlegungen zur Arbeit im vorindustriellen Europa.“ In: Greiff/König/Schauer (1990): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, S. 26-50: 43-44. 108 Vgl. Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 157-192. 109 Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 156-157. 110 Aßländer (2005): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung, S. 174 und vgl. S. 188-189. 111 Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 36. 112 Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 36. und vgl. S. 35. Vgl. dazu Delon (1991): Das Vergnügen an der Arbeit, S. 101-102 sowie Immanuel Kant: Eine Vorlesung über Kants Ethik. Hg. v. Paul Menzer. Berlin: Pan-Verlag R. Heise 1924 [1775-1780], S. 201. 113 So bezeichnet Hans-Jürgen Schings die Melancholie als zentralen Begriff, da sie „bestimmte Strukturen, Sehweisen, Strategien der Aufklärung sichtbar“ mache, Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1977, S. 8.
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durchaus großer Popularität114, und erst dadurch kann die Melancholie zu einem „ideenpolitische[n] Instrument“ der Aufklärer werden, wobei sie, ganz ähnlich wie in der Reformation, dazu dient, „je nach Blickrichtung den weltanschaulichen Kontrahenten zu denunzieren oder die eigene Position zu verteidigen.“115 Der Melancholiker der Aufklärung ist folglich ein konstruiertes Feindbild, das sich zum einen aus tradierten Zuschreibungen speist, zum anderen jedoch lediglich ex negativo auf der Folie der Vernunft abgezogen wird. Hartmut Böhme vermerkt prägnant: „Keine Epoche stilisiert so unnachsichtig den Melancholiker zum Typus des Vernunftlosen wie die Aufklärung“.116 In den aufklärerischen Texten erscheint der Melancholiker als ein ‚unbrauchbarer‘ Menschentypus, da er sich durch „fehlenden Tatendurst und Antriebsmangel“ auszeichne und unfähig sei, „das geforderte Quantum optimistischer Progressivität“ aufzubringen.117 Entsprechend findet sich, wie in dem Melancholielemma der Encyclopédie118, eine Betonung der pathologischen Seite der Melancholie, welche einer Abwertung gleichkommt. Diese Tendenz zur Pathologisierung, die aus „Dissidenten“ „Patienten“ mache 119, und die bereits in der Acedia zum Tragen kommt, offenbart sich ab dem 18. Jahrhundert in vielfältiger Weise – etwa im Krankheitsbild der Hypochondrie120, die, gleich der mittelalterlichen Acedia und dem elisabethanischen Spleen, endemische Züge annimmt, oder aber in der NeurasthenieWelle, die aus der Vorstellung einer ‚melancholia nervosa‘ resultiert. 121 Vor allem in der Hypochondrie lassen sich dabei Zuschreibungen erkennen, welche dem humanistischen Melancholieverständnis entspringen, werden doch als ihre Ursachen u.a. eine sitzende Tätigkeit und übermäßiger Ehrgeiz genannt.122 Zwar wird die Verbindung von Gelehrsamkeit und Melancholie weitergeführt, jedoch nicht in der wechselseitigen Bedingtheit, wie die Renaissance sie propagiert hatte. Die Zu114 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 137 und Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 6. 115 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 32. Vgl. zudem Böhme (1988): Natur und Subjekt, S. 158. 116 Böhme (1988): Natur und Subjekt, S. 158-159. 117 Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 68. Vielmehr sei er durch eine „Passivität“ gekennzeichnet, die eine „Todsünde wider den aufgeklärten Glauben an die Machbarkeit des irdischen Glücks“ darstelle, schreibt Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 74-75. 118 Vgl. Denis Diderot et al.: „Mélancolie.“ In: Ders.: Œuvres Complètes de Diderot Bd. 16: „Encyclopédie Loi Naturelle-Q.“ Hg. v. Jules Assézat. Nendeln: Kraus Reprint Ltd. 1966 [1760-1772]. Nachdruck der Pariser Augabe von 1875, S. 114-115. 119 Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 76. 120 Ausf. vgl. Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. München: Oldenbourg 2003 sowie Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 48, 70. Zur synonymen Verwendung von Melancholie und Hypochondrie vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 144-147, Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 61-83 sowie Völker (1975): Langeweile, S. 150-151. 121 Vgl. Starobinski (2011): Geschichte der Melancholiebehandlung, S. 107-116 und Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 65. 122 Vgl. Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 70-71.
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sammenfassung von Melancholie und Genie hat in diesem Verständnis keinen Platz, vielmehr wird auch die intellektuelle Einbildungskraft pathologisiert 123 und die Melancholie so zu einem „modische[n] Allerweltsübel“124 erklärt. Letztlich führt der aufklärerische Umgang mit der Melancholie dazu, sie in das aufgeklärte Bürgertum hineinzuholen, anstatt sie zu exkludieren.125 Entsprechend beschreibt Lepenies die spezifische Melancholie des deutschen Bürgertums des 18. Jahrhunderts als eine Reaktion auf ihre politische Ohnmacht, die besonders im Kontrast zu ihrem wachsenden ökonomischen Einfluss als schmerzlich wahrgenommen wird. 126 Dieses Ohnmachtsgefühl wiederum manövriert sie in eine „Passivität“, die „Weltschmerz, Melancholie, Hypochondrie“ erzeugt und die letztlich in melancholischen Eskapismus mündet.127 Zwar handelt es sich bei der Beschreibung des melancholischen Bürgertums um ein durchaus problematisches Unterfangen 128, die im 18. Jahrhundert zunehmende Bedeutung der Melancholie lässt sich dennoch zweifelsfrei in der Literatur und der Kunst nachweisen.129 Der sich schon bei Burton andeutende und sich nun weiter ausprägende literarisch-poetologische Melancholiebegriff knüpft dezidiert an die philosophische Tradition an, und zwar in einer Breite, die zuletzt in der Renaissance stattgefunden hatte, wie die Strömungen der Empfindsamkeit, des Sturm und Drangs, der Romantik und auch die Weimarer Klassik zeigen. 130
123 Vgl. Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 158. 124 Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 70. 125 Vgl. Eberhard Th. Haas: Transzendenzverlust und Melancholie. Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung. Gießen: Psychosozial-Verlag 2006, S. 162-164. 126 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 74-77. 127 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 83-84. Ein Aufbrechen dieser bürgerlichen Melancholie ergibt sich, Lepenies folgend, erst, als das Bürgertum beginnt, sich von der Imitation adliger Lebensweisen zu verabschieden, die Muße und vita contemplativa abzuwerten und auf der Grundlage ihrer wachsenden „ökonomische[n] Bedeutung“ erkennt, dass die Arbeit Mittel zum Zweck ihrer bürgerlichen Selbstbehauptung ist (Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 204). Die von Lepenies beschriebene, melancholische Selbstbenennung des Bürgertums ist entsprechend nur ein kurzes ‚Intermezzo‘ auf dem Weg der Selbstfindung als neuer, gesellschaftlicher Klasse. Auch Wolfram Mauser, der zwar kritisiert, Lepenies operiere mit der Annahme eines allzu homogenen Bürgertums, sieht die Melancholie als eine Art identitärer ‚Geburtswehe‘ an, die dort auftritt, „wo die verinnerlichte Gewalt der Vergangenheit nachlässt, ohne daß es möglich scheint, die Zukunft durch selbstständiges, vernunftgeleitetes Handeln den eigenen Bedürfnissen gemäß zu verändern.‘“ Wolfram Mauser: „Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts.“ In: Walther (1999): Melancholie, S. 129-142: 131-132 und vgl. S. 130. 128 Zur Kritik an Lepenies’ Ansatz vgl. Mauser (1999): Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts, S. 130-131 sowie Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 5-6, 223225. 129 Vgl. Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 56, 232. 130 Vgl. u.a. Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Königstein: Athenäum 1985 [1968], S. 43-47, Lázló F. Földényi: „Der frühe Tod der Romantiker.“ In: Walther (1999): Melancholie, S. 143-163 sowie Franz Loquai: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1984.
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Ein interessantes Zeugnis der spezifischen Melancholie der Stürmer und Dränger liefert Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790); interessant, da Moritz die Melancholie zusätzlich in einen Zusammenhang mit dem herrschenden Arbeitsethos stellt, beschreibt er doch die einförmige und ausbeutende Arbeit131 als eine der Ursachen für Reisers melancholische „Seelenlähmung“132. Neben Moritz sprechen sich Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel, Joseph von Eichendorff und Georg Büchner, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, für Lebensentwürfe jenseits des herrschenden Arbeitsideals und der ökonomisierenden Bestrebungen der beginnenden Moderne aus.133
2.8
ENTFREMDETE ARBEIT: INDUSTRIA UND MELANCHOLIE IM LANGEN 19. JAHRHUNDERT
Vollzieht sich der endgültige Schritt in die Moderne, nach allen ‚Vorankündigungen‘ durch Urbanisierung, Reformation, Aufklärung und Verbürgerlichung, im sogenannten ‚langen‘ 19. Jahrhundert, steht die Arbeit von nun an stärker als je zuvor unter dem Einfluss der Ökonomisierung, welche im Merkantilismus der Frühmoderne ihren Anfang nimmt und sich in den unterschiedlichen Phasen des Kapitalismus weiter ausprägt.134 Ein zunehmend von religiösen, in einigen Bereichen auch von ideologischen Zusammenhängen bereinigter, moderner Arbeitsbegriff beginnt sich abzuzeichnen, und in den zeitgenössischen Ausführungen wird Fleiß durch ‚Leistungsfähigkeit‘ und Müßiggang durch „‚Müdigkeit‘“135 ersetzt. Der Mensch ist nun weder ein Arbeiter im Weinberg Gottes noch arbeitet er an seiner Befreiung aus der
131 Vgl. Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 233. 132 Karl Philipp Moritz: Die Schriften in dreissig Bänden Bd. 15: „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Erster und zweiter Theil.“ Hg. v. Petra u. Uwe Nettelbeck. Nördlingen: Greno 1987 [1785-1786], S. 203. Vgl. auch Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 235. Tatsächlich nutzt Moritz für seine Darstellung der Psyche Anton Reisers und seiner Mitmenschen alle der Melancholie verwandten Begriffe, von der Schwermut, dem Ekel und dem Lebensüberdruss bis hin zur Hypochondrie; die Melancholie taucht jedoch am häufigsten auf, vgl. Völker (1975): Langeweile, S. 171-172. 133 Zu Schiller und Goethe vgl. Stumpp (1991): Müßiggang als Provokation, S. 88, 91, 132, 185-186, zu Schlegel vgl. Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 35-54 und Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 51, zu Eichendorff vgl. ebenfalls Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 60-73 sowie zu Büchner vgl. Marc Caduff u. Georges Felten: „Einleitung.“ In: Figurationen 14/1 (2013), S. 9-18: 11-13, Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 87-88 und Gerhard Bauer: „‚Aber wir werden uns losschneiden.‘ Büchners verzweifelte und verspielte Proteste gegen den ‚Mord durch Arbeit‘.“ In: Asholt/Fähnders (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 143-155. 134 Vgl. Füllsack (2009): Arbeit, S. 49-50. 135 Jürgen Kocka: „Mehr Last als Lust. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der europäischen Geschichte.“ In: Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 44. Köln: Selbstverlag Forschungsinstitut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Univ. zu Köln 2006, S. 3-39: 21.
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Unmündigkeit und seiner bürgerlichen Emanzipation – stattdessen rückt er als ‚Humankapital‘ zunehmend in den Kontext ökonomischer Erwägungen. 136 Für den faulen, müßiggängerischen oder melancholischen Menschen ist in dieser Gesellschaft der industrialisierten Arbeit kein Platz vorgesehen, da er schlichtweg als „unnützes, weil unproduktives Glied der Gesellschaftsmaschinerie“137 gilt. Neben prominenten ‚Fürsprechern‘ der industria, wie dem schottischen Historiker Thomas Carlyle, für den das gesamte Universum, ganz im Sinne der protestantischen Ethik, ein „Workhouse“138 darstellt, schreiben auch die Theoretiker des deutschen Idealismus, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx, an dem Arbeitsverständnis der Zeit mit139, machten sich jedoch bezeichnenderweise die Befreiung in statt von der Arbeit zum Ziel.140 Was in dieser breiten Masse der Stimmen des 19. Jahrhunderts entsprechend nicht als eine mögliche Lebensweise erscheint, ist die Muße141 – ist doch der Arbeitsbegriff derart breit gefasst und derart tief in dem bürgerlichen Selbstbild verankert, dass kaum ein kontrastives Konzept denkbar ist.142 Arbeitsverweigerung gilt folglich nicht als ein alternativer Lebensstil, sondern allerhöchstens als die defizitäre Haltung des „Lumpenproletariats“, die man in Arbeitshäuser zu exkludieren gedenkt. 143 Und in diesem Sinne wird auch der Melancholiker als Negativum angesehen, wie etwa Hegel dokumentiert, wenn er dessen Leiden als ein „nicht zur Lebendigkeit des Denkens und des Handelns kommende[s] beständige[s] Hinbrüten des Geistes über seiner unglücklichen Vorstellungen“144 beschreibt. In der Literatur häufen sich hingegen Stimmen, die etwa Forderungen nach der Vereinigung von Muße bzw. Spiel und Arbeit formulieren, die Arbeit nach „individuelle[r] Veranlagung“145 verteilt sehen wollen und die dabei an das utopische Denken sowie die literarischen Gegenpositionen des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpfen. Paul Lafargues Das Recht auf Faulheit (1880), Georg Simmels „Metaphysik der Faulheit“ (1900), aber auch H. G. Wells A Modern Utopia (1905) sowie Aldous 136 Vgl. Ulrich Bröckling u. Eva Horn: „Einleitung.“ In: Dies.: (Hg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen: Narr 2002, S. 7-16: 9. 137 Gerd Kimmerle: „Absage an Marx.“ In: Konkursbuch Bd. 7: „Müßiggang und Laster.“ Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke 1981, S. 43-66: 43. 138 Carlyle (1965): Past and Present, S. 141. 139 Vgl. Mirjana Gross: Von der Antike bis zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998, S. 201. Zum Arbeitsbegriff des deutschen Idealismus vgl. auch Frambach (1999): Arbeit im ökonomischen Denken, S. 127-143 sowie zu Hegel und Marx vgl. Füllsack (2009): Arbeit, S. 6263. 140 Vgl. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders: „Einleitung.“ In: Dies. (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 9-19: 12-13. 141 Vgl. Straub (2009): Vom Nichtstun, S. 105. 142 Vgl. Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 10. 143 Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 14. 144 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse Bd. 3: „Die Philosophie des Geistes.“ Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 [1830], S. 176. Vgl. dazu Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 76 und S. 130-131. 145 Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 12.
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Huxleys Brave New World (1932) sind nur einige wenige Beispiele von Texten, welche sich kritisch mit dem herrschenden Arbeitsethos auseinandersetzen. 146 Es sind der bereits zuvor erwähnte Weltschmerz und die ihm verwandten Phänomene – der englische Spleen und das französische Mal du siècle – in denen das Ideal der industria seinen melancholischen Widerpart erhält. Denn das Zeitalter des Wandels und des Fortschritts ist ebenso ein Zeitalter des melancholischen Leidens, wie sich nicht nur in Empfindsamkeit, Sturm und Drang und Romantik, sondern auch in den „nachidealistischen“147 Strömungen des Biedermeier und des Vormärz manifestiert. Allein die Liste der deutschsprachigen Autoren, die sich mit dieser „allerneuste[n] Krankheit“148 der Melancholie, wie Jeremias Gotthelf spottet, auseinandersetzen, liest sich wie das Who’s Who ihrer Zeit: Goethe, Jean Paul, Franz Grillparzer, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Christian Dietrich Grabbe, Nikolaus Lenau, Georg Büchner – sie alle machen sich die Melancholie, mal mehr mal weniger ironisch, mal mehr mal weniger nihilistisch, zu eigen.149 Mit Blick auf die genannten Autoren lässt sich beobachten, wie die Melancholie im fortlaufenden 19. Jahrhundert eine existentielle Dimension erhält, und im Zuge dieser Entwicklung erscheinen zunehmend sowohl die bürgerliche Arbeitsamkeit als auch die melancholisch-müßiggängerische Verweigerung als negativ. 150 Aus der positiven oder zumindest ambivalenten Melancholie von Sturm und Drang, Romantik und Weimarer Klassik wird eine „bleierne [...] Melancholie“151, die keinen alternativen Lebensentwurf mehr darstellt. Kann der romantische Müßiggänger seinen Zustand noch (zumindest partiell) genießen, so wird er nun vornehmlich erlitten 152: „In einer von Arbeitsleistung und Gewinnstreben beherrschten Welt kann der Mü146 Vgl. Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 173-174, Walter Fähnders: „Recht auf Arbeit – Recht auf Faulheit.“ sowie H. Gustav Klaus: „Sozialistische Utopien um 1900.“ Beide in: Asholt/Fähnders (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 81-92: 89 und S. 257-265: 264. 147 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848 Bd. 1. Stuttgart: Metzler 1971, S. 224. 148 Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke Bd. 6: „Wie Anne Baebi Jowaeger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht Bd. 2.“ Hg. v. Rudolf Hunziger. Erlenbach-Zürich: Rentsch 1921, S. 280. Vgl. dazu Sengle (1971): Biedermeierzeit, S. 2. 149 Vgl. Sengle (1971): Biedermeierzeit, S. 2, 4, 221-256. Diese Liste ließe sich mit Blick auf die europäische Autorenriege beliebig fortführen, etwa für Italien mit Giacomo Leopardi, für Spanien mit Gustavo Adolfo Bécquer und Rosaliá de Castro, für Skandinavien mit Hendrik Ibsen und für Frankreich mit François-René de Chateaubriand, Honoré de Balzac, Théophile Gautier, Gustave Flaubert, den Brüdern Goncourt, Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé bis hin zu Joris-Karl Huysmans und Jean Paul Sartre – sie alle treibt das zutiefst melancholische Gefühl einer „entleerte[n] Welt“ (Robert Kopp: „‚Die unauslotbaren Höllenkreise der Trauer‘. Erscheinungsformen der romantischen Melancholie von Chateaubriand bis Sartre.“ In: Clair (2005): Melancholie, S. 328-340: 328) um, welches sich in der Melancholie der Texte niederschlägt. 150 Vgl. Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 73, 88-89, 93 sowie Földényi (1999): Der frühe Tod der Romantiker, S. 148. 151 Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 87-88. 152 Vgl. Völker (1975): Langeweile, S. 161.
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ßiggang nur ein faszinierender Traum und zugleich ein pathologisches Phänomen sein. Krankhaft ist er nicht nur wegen des mit ihm einhergehenden Wirklichkeitsverlusts, sondern auch wegen der Beschädigungen, die das ihm innewohnende Lustprinzip unter übermächtig lustfeindlichen Bedingungen erleidet.“ 153 Es findet folglich in der Moderne eine ‚Verschärfung‘ der Melancholie statt, welche sich u.a. auch in den Figuren der Arbeitsverweigerung niederschlägt: den Dandys und Flaneuren.
2.9
‚ARBEITSLOS‘ UND MELANCHOLISCH: VON DANDYS UND FLANEUREN
Die Literatur der industriellen Moderne ist entsprechend bevölkert sowohl von Figuren der Arbeitswelt154 als auch der -verweigerung, wobei Letztgenannte sich in der Schar von „Dandies, Bohemians, Refraktäre[n], Flaneure[n], Bummler[n] und Eckensteher[n]“155 figuriert – ‚unnütze‘ Figuren, die ihren ‚neuen‘ Lebensentwurf dem bürgerlichen Arbeitsethos oppositionell gegenüberstellen und sich mit einer „Aura von Zweckfreiheit“156 umgeben, die ihr arbeitsames Umfeld provozieren und faszinieren soll.157 Als solchermaßen „kritische Dissidenten“158 weisen sie dieses jedoch keineswegs den ‚frohgemuten‘ Duktus unbeschwerter Müßiggänger auf, ihr Nichtstun ist immer konnotiert mit „Melancholie, Verzweiflung und Langeweile“ 159 – mit Ennui. Was zunächst noch den Stempel der ‚Idylle‘ oder ‚Utopie‘ trägt, wächst sich im 19. und 20. Jahrhundert zu „radikalen, asketischen, resignativen, depravierten
153 Gabriele Stumpp: Müßige Helden. Studien zum Müßiggang in Tiecks William Lovell, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Kellers Grünem Heinrich und Stifters Nachsommer. Stuttgart: M und P. Verlag für Wiss. und Forschung 1992, S. 175. 154 Gerd Stein: „Vorwort.“ In: Ders. (Hg.): Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts Bd. 2: „Dandy – Snob – Flaneur. Exzentrik und Dekadenz.“ Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1985, S. 9-16: 9-10. 155 Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 16. 156 Stein (1985): Vorwort Bd. 2, S. 9. Ausf. zum Dandy vgl. Wolfgang Asholt: „Literatur in Frankreich zwischen L’art pour l’art und Belle Epoque.“ In: Ders./Fähnders (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 279-290, Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur. Stuttgart: Metzler 1988, zum Bohemian vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1968 und zum Flaneur vgl. Matthias Keidel: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 sowie zur weiteren Entwicklung des Flaneurs in der Moderne vgl. Anke Gleber: The Art of Taking a Walk. Flanerie, Literature, and Film in Weimar Culture. Princeton, NJ: Princeton University Press 1999 und Harald Neumeyer: Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. 157 Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 15. 158 Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 15. 159 Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 73.
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Verweigerungsformen“160 aus, die eine ansteigende Resignation ob des Arbeitsdiktats des bürgerlichen Selbstbildes offenbaren. Und diese figuriert sich wiederum in einigen der wohl bekanntesten Protagonisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, welche die Leser- und Kritikerschaft bis heute faszinieren: Herman Melvilles Bartleby the Scrivener (1853), Ivan Gontscharows Oblomow (1859) sowie Franz Kafkas Gregor Samsa (Die Verwandlung, 1915). Diese verweigern sich nicht nur dem zweckrationalen Handeln und der täglichen Routine der kapitalistischen Industriegesellschaft; sie formulieren bisweilen auch eine Absage an den Fortschrittsglauben der Zeit.161 Speziell der Dandy und der Flaneur stellen dem Treiben der industriellen Moderne ihre eigene, melancholisch-müßiggängerische Lebensform entgegen und äußern dadurch Kritik an einer subjektiv als krisenhaft wahrgenommenen conditio humana, ohne dabei jedoch allzu revolutionär zu werden, wozu Heidbrink konstatiert: „Beides sind Melancholiker, die der modernen Welt, der sie ihre Existenz verdanken, den Kampf angesagt haben [...]. In der für den Dandy und den Flaneur charakteristischen Haltung, dem spleen, vollzieht sich der Wandel der Melancholie zu einer Protestform gegen die industrielle Gesellschaft, der der Spiegel ihrer eigenen krisenhaften Verfassung vorgehalten wird. Auf diese Weise gewinnt die Melancholie zwar einen diagnostischen Eigenwert, durch den eine distanzierte Auseinandersetzung mit den Modernisierungserfolgen möglich wird. Die Stilisierung der Melancholie zu einer besonderen Form der Daseinshaltung steht jedoch auch in der Gefahr, in eine oberflächliche Verweigerungshaltung gegenüber dem Fortschritt einzumünden, ohne sich mit dessen konkreten Ursachen zu beschäftigen.“162
Einen Ausstieg können Flanerie und auch Dandytum folglich nicht bieten, so sehr sie diesen auch inszenieren, wofür Joris-Karl Huysmans Roman Gegen den Strich (1884) das vielleicht einschlägigste Beispiel liefert. Der Dandy benötigt zur Ausübung seines ästhetisierten Lebensstils ein „Publikum“, das weniger extravagant, herausgeputzt und mondän ist als er, was ihn „von der arbeitsamen Gesellschaft abhängig“163 macht, und auch der Flaneur ist selbst mit Haut und Haar ein Produkt der kritisierten industrialisierten Lebenswelt, welche ihm die Grundlagen für seinen alternativen Lebensentwurf liefert.164 Was aus dieser zwiespältigen Anlage entsteht, sind Figuren, die vollkommen vom Ennui gelähmt sind; Figuren, mit denen neben den Franzosen Huysmans und Baudelaire auch Arthur Schnitzler, Thomas Mann und Felix Dörmann ihre Texte bevölkern.165 Als wohl kritischster ‚Kommentator‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat sich Friedrich Nietzsche auf theoretischer Ebene mit der sich hier offenbarenden Kluft zwischen emphatischer Arbeitsbejahung und melancholischer Arbeitsverweigerung beschäftigt. Auch er beschreibt, was u.a. die Texte von Huysmans und Mann bereits
160 161 162 163 164 165
Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 213. Vgl. Stein (1985): Vorwort Bd. 2, S. 10-11. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 36, Herv. i.O. Asholt/Fähnders (1991): Einleitung, S. 17. Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 36. Vgl. Stein (1985): Vorwort Bd. 2, S. 14-15.
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thematisieren: die Tilgung des müßiggängerischen Gegenentwurfs durch die Allgegenwärtigkeit der industria. Mit den Worten des deutschen Philosophen gesagt: „Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ‚Bedürfnis der Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. ‚Man ist es seiner Gesundheit schuldig‘ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa [...] nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.“166
Leidet der Müßiggang von Huysmans Dandy Des Esseintes und auch Manns Bajazzo aus der gleichnamigen Erzählung noch an mangelndem Publikum, was sie letztlich an dem endgültigen Rückzug aus dem verhassten Trubel der Gesellschaft hindert 167, prophezeit Nietzsche hier das Ende des Müßiggangs aus intrinsischen Motiven. Dem Arbeitsethos scheint sich in Zukunft auch der strikteste Vertreter des kontemplativen Lebensstils nicht mehr entziehen zu können, zu stark lastet das Ideal auch auf seinen Schultern. Mit ähnlichen Befunden wartet die Psychologie der Zeit auf, allen voran Otto Fenichel. Dieser berichtet von Patienten, die unter sogenannten „‚Sonntagsneurosen‘“168 leiden, also Menschen, die derart an Arbeit gewöhnt sind, dass die freie Zeit ihnen unangenehm wird und sie pathologische Verhaltensweisen ausprägen. Der Mensch ist scheinbar voll und ganz in der Arbeitswelt angekommen, zumindest kopfmäßig, denn ob sie ihn aufnimmt, ist eine ganz andere Frage, welcher sich u.a. die Literatur der Weimarer Republik widmet.
2.10 MODERNE ACEDIA In der Literatur der Weimarer Republik wird die Auseinandersetzung mit Arbeitsrealität und -ideal fortgesetzt, und auch die Melancholie bleibt ein virulentes Thema.169
166 Friedrich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft.“ In: Ders.: Kritische Studienausgabe Bd 3: „Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft.“ Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv 1988 [1882], S. 343-651: 557, Herv. i.O. Vgl. auch Asholt/Fähnders (1991): Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914, S. 198-199 und zu der zitierten Textstelle vgl. Hank (1995): Arbeit, S. 92-93. 167 Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich. Bremen: Manholt 1991 [1884] sowie Thomas Mann: „Der Bajazzo.“ In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher Bd. 2: „Frühe Erzählungen 1893-1912.“ Hg. v. Terence J. Rees. Frankfurt/M.: Fischer 2004 [1897], S. 120-159. 168 Otto Fenichel: „Zur Psychologie der Langeweile.“ In: Ders.: Aufsätze Bd. 1. Hg. v. Klaus Laermann. Gießen: Psychosozial-Verlag 1998 [1934], S. 297-308: 306. 169 Vgl. Hank (1995): Arbeit, S. 89. Die Ursachen für den, die gesamte Weimarer Republik über anhaltenden, Melancholiediskurs sind vielfältig und tief in der Moderne verankert. Der moderne Fortschrittsglaube, Stützpfeiler der Industrialisierung, wird durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen nachhaltig erschüttert. Die ‚Krise‘ avanciert zu dem Schlagwort nicht nur der öffentlichen Diskussion, sondern auch der neusachlichen Literatur und Kunst (vgl. Beate Reese: Melancholie in der Malerei der Neuen Sachlichkeit.
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Unter modernen Vorzeichen kommt es zu einer Renaissance der Acedia170, wobei es sich um eine säkularisierte Form handelt, die nicht mehr im Sinne eines schwächelnden Gottesglaubens zu verstehen ist, sondern vielmehr als Unglaube in Bezug auf den Fortschritt und das Projekt der Moderne im Allgemeinen. Diese spezifisch moderne Form der Acedia findet sich zum Beispiel in Erich Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931). Fabian selbst – den der Roman bei seinen zahlreichen Versuchen zeigt, in Zeiten von steigender Arbeitslosigkeit für den eigenen Unterhalt sorgen zu können – wird dabei zum Träger der melancholischen Haltung, was sein Statement „‚[I]ch bin nicht unglücklicher als unsere Zeit.‘“ 171 verdeutlicht. Fabians Melancholie ist folglich keine individuelle Disposition, sondern ein generelles gesellschaftliches Phänomen. Geht Fabian am Ende des Romans wortwörtlich unter, schlägt der Text sich damit deutlich auf die Seite der Kontingenz. Fabian, ein gebildeter und durchaus ‚abgeklärter‘ Zeitgenosse, erscheint als ein ‚Spielball‘, der ganz den Ereignissen seiner Zeit ausgeliefert ist, wie Kästner in einem zunächst nicht mitpublizierten Nachwort selbst formuliert: „Die Zahl der Dachziegel, die dem Menschen aufs Barhaupt fallen können, wächst von Tag zu Tag. Die Dummheit dessen, was geschieht, nimmt vom zunehmenden Tempo des Geschehens angeregt, imposante Ausmaße an. Der Zufall regiert, daß sämtliche verfügbaren Balken knistern.“172 Was er hingegen nicht aufzeigt, ist eine konkrete Alternative173, und somit erweist sich die melancholische Haltung wiederholt als eine Position mit begrenztem veränderndem Potential. Durch die Veränderung der Arbeits- und damit auch der Lebenswelt wächst, vereinfacht gesagt, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts das melancholische Potential der Arbeit, welches, wie Beate Reese beschreibt: „durch das Hin- und Herpendeln zwischen Arbeitsmonotonie und nervöser Zerstreuung in der Freizeit noch verstärkt wurde[].“174 Die beiden einstmals als kontrastiv verstandenen Konzepte Arbeit und Melancholie nähern sich folglich, wie bereits in der Einleitung angedeutet wurde, durch die Veränderungen der Arbeitsrealität – und damit verbunden auch der Lebenswelt, wie Fabian exemplifiziert – an. Mit Sigmund Freud hat sich ein Zeitgenosse Kästners ebenfalls umfassend mit dem Melancholiebegriff auseinandergesetzt, wobei er hingegen deutlich in der pathologischen Tradition steht. So schreibt Freud der Trauer als Reaktion auf einen Verlust die Rolle des Normalaffektes zu, wohingegen die Melancholie als deren pathologische Ausprägung erscheint, da sie dazu führt, den Verlust zu inkoporieren, statt ihn zu verarbeiten.175 Erfreut sich der Begriff der ‚Trauerarbeit‘, welcher ein bezeichnen-
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Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1998, S. 35, 43-47). Dabei tritt sie häufig vermittelt in der Gestalt der Melancholie auf. Vgl. Theunissen (1996): Vorentwürfe von Moderne, S. 39. Erich Kästner: „Fabian. Geschichte eines Moralisten.“ In: Ders.: Möblierte Herren. Romane Bd. 1. Hg. v. Beate Pinkerneil. München, Wien: Hanser 1998 [1931], S. 51. Erich Kästner: „Fabian und die Kunstrichter.“ In: Ders. (1998): Möblierte Herren, S. 202-203: 203. Vgl. Johannes G. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt: WBG 2010, S. 79. Reese (1998): Melancholie in der Malerei der Neuen Sachlichkeit, S. 38. Vgl. Freud (1991): Trauer und Melancholie, S. 435-436. Freuds Melancholiebegriff deckt sich in weiten Teilen mit dem heutigen Verständnis einer endogenen Depression. Tat-
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des Beispiel für die Totalisierung des Arbeitsbegriffes im 20. Jahrhundert darstellt, in Folge der Freud’schen Auseinandersetzung großer Resonanz, so lässt sich dies im Hinblick auf die „melancholische[] Arbeit“ oder auch die „Arbeit der Melancholie“176, von der Freud ebenfalls spricht, nicht behaupten.177 Zum einen läuft diese viel komplizierter ab als die Trauerarbeit und zeigt sich sehr viel ambivalenter und in ihrem Ergebnis diffuser, besteht sie doch aus der Identifikation mit dem und der Einkapselung des Verlorengegangenen.178 Zum anderen ergibt sich ein entscheidender Unterschied zwischen den jeweils verschiedenen ‚Formen‘ und Resultaten der Arbeit: Die Trauerarbeit macht für die Betroffenen durch ihr sukzessives Fortschreiten die „Fortsetzung der Tagesgeschäfte“179, möglich, sodass die Trauernden funktionstüchtig bleiben. Die Freud’sche Melancholie hingegen lähmt, sie hemmt und exkludiert damit den Menschen aus arbeitsgesellschaftlichen Zusammenhängen – und das ist nicht gerade das, was man sich in der Moderne (und darüber hinaus) landläufig unter Arbeit vorstellt.
2.11 SPÄTMODERNE ‚MELANCHOLIEN‘ Wie die vorausgegangenen, kulturhistorischen Überlegungen zeigen, wird die vita activa, im Sinne einer auf Tätigsein ausgerichteten Lebensweise, in immer stärkerem Maße zum Dreh- und Angelpunkt des Selbstverständnisses der sich ausprägenden Leistungs- und Arbeitsgesellschaft. Alternative Lebensentwürfe, wie der Müßiggang, aber auch der melancholische Eskapismus, werden zusehends exkludiert bis verunmöglicht oder gar pathologisiert. Heidbrink zum Beispiel beobachtet „Orientierungsdefizite“, „die in weiten Teilen der Gesellschaft für Unruhe und Ausweglosigkeit sorgen. Es trifft wohl auch weiterhin zu, daß das herrschende Leistungsideal zu depressiven Überforderungen und zugleich zur Ausgrenzung der Melancholie führt, da sich diese blockierend auf die sozialen Funktionsabläufe auswirkt.“ 180 Beschreibt Heidbrink damit eine ‚Melancholie der Überforderung‘ sowie der Orientierungslosigkeit im Angesicht des spätmodernen Pluralismus, widmet Günter Grass sich einer ‚Melancholie der Entfremdung‘. Indem er die Dürer’sche Melencolia in eine Fabrik-
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sächlich ist eine Engführung der beiden Begriffe bereits in den antiken Quellen angelegt und verfestigt sich spätestens in der Psychopathologie des 18. Jahrhunderts. Beide Begriffe werden dann im 20. Jahrhundert, und dafür liefert Freud das prominenteste Zeugnis, synonym verwendet, bis die Melancholie schließlich nahezu gänzlich zugunsten der Depression aus dem psychopathologischen Diskurs verschwindet. Vgl. Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker in der medizinischen Theorie der Antike, S. 47 sowie Michael Schmidt-Degenhard: „Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts.“ In: Udo Benzdorfer et al. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald: Pressler 1990, S. 162-182: 168. Freud (1991): Trauer und Melancholie, S. 443, 431. Vgl. Haas (2006): Transzendenzverlust und Melancholie, S. 125. Vgl. dazu Haas (2006): Transzendenzverlust und Melancholie, S. 136. Haas (2006): Transzendenzverlust und Melancholie, S. 130. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 19.
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halle transferiert, macht er die rationalisierte sowie entfremdete Arbeitswelt zum realen Ort seiner Melancholie: „Also setze ich Dürers Melencolia in einer Konservenfabrik, Hühnerfarm, bei Siemens ans Fließband. Ihre rechte Hand, die soeben noch den Zirkel hält, stanzt nun, unterstützt von der linken, die keinen Kopf mehr stützen darf, Weißblech, verpackt Eier, läßt Einzelteil zu Einzelteil finden. Melencolia trägt ein Kopftuch über Dauerwellen. Acht Stunden am Tag ist sie sich fremd, weil abhanden gekommen. Zwar tut sie was, aber was sie tut, tut nicht sie. Das Fließband handelt. Teilweise reagiert sie. Die Zeitabläufe ihrer Handreichungen sind nach Sekunden und Bruchteilen von Sekunden bemessen. Ich könnte ihr beide Hände, wie sie tätig sind, abtrennen, ihre Armstümpfe in die Dürersche Pose zurückbiegen. Ich könnte ein neues Produkt aufs Fließband setzen: zum Beispiel die naturgetreue ‚Melencolia I‘ des Albrecht Dürer, gegossen als niedlichen Bleiguß. Ein Massenprodukt, das zum fünfhundertsten Geburtstag des Meisters seinen Markt fände. Sie, die Melencolia von heute müsste am Fließband der vervielfältigten Melencolia von damals nur noch die Flügel einrasten, den winzigen Zirkel in den gelochten Griff drücken. […] Diesen Arbeitsprozeß habe ich nicht erfunden, nur variiert.“181
Die Melancholie der Entfremdung steht bei Grass noch vor dem Hintergrund einer industriell geprägten Arbeitswelt, entsteht sie doch aus Rationalisierung und Arbeitsteilung. Die Melencolia wird so zur Allegorie für die „Melancholie genormter Arbeit“, da für geistige Höhenflüge in der Leistungsgesellschaft, Grass folgend, kein Platz mehr ist: „Keine sich selbst in Zweifel setzende Gelehrsamkeit mehr. Keine astrologisch unheilvolle Konstellation, kein verhängtes und unerforschtes Schicksal.“182 Von der Krankheit der Untätigen bzw. vom Signum des Außergewöhnlichen ist die Melancholie zum „Klassenvorrecht der Arbeitnehmer“ geworden, „ein Massenzustand, der überall dort, wo Leistungsnormen als Ordnung vorherrschen, seine Ursache findet.“183 Bei Grass ‚produziert‘ die Melancholie Arbeit und die Arbeit Melancholie – deutlicher kann man die reziproke Bedingtheit kaum abbilden. Für das spätmoderne Arbeitsverständnis etwa innerhalb der New Economy, welches auf Kreativität, Inspiration sowie Initiative ausgerichtet ist, treffen Grass’ Ausführungen nicht mehr zu. Und dennoch erweist diese entfremdete Melancholie immer noch, u.a. bedingt durch Mobilisierung, Digitalisierung und Beschleunigung, ihre Aktualität, wozu Hermann Lübbe vermerkt: „Was folgt, wenn ein Mensch in und mit seiner eigenen Lebensgeschichte keine Vertrautheitserfahrungen mehr macht und diesen Mangel auch nicht durch nostalgische Rückbezüge auf quasiparadiesische Heimatresiduen (Kindheit usw.) kompensieren kann? Es folgt vielleicht ein Gefühl des Auf-der-Strecke-Bleibens, und zwar sowohl auf der Strecke, die der gesellschaftliche Fortschritt der Modernisierung bzw. Entfremdung der Lebenswelt geht, als auch auf der Strecke des eigenen Lebensplans: Das Leben geht weiter, aber ich komme nicht mehr mit – gehe auch nicht mehr mit; die Zeit eilt davon, doch ich hinke nach; der Fortschritt schreitet fort, 181 Günter Grass: „Vom Stillstand im Fortschritt. Variationen zu Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I.“ In: Ders.: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Göttingen: Steidl 1997 [1971], S. 300-325: 302-303. 182 Grass (1997): Vom Stillstand im Fortschritt, S. 303. 183 Grass (1997): Vom Stillstand im Fortschritt, S. 303.
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aber ich bleibe zurück. Vor allem jedoch macht das melancholische Ich die traurige Erfahrung, hinter sich selbst zurückzubleiben, hinter seinen eigenen Plänen, Hoffnungen, Erwartungen und Möglichkeiten.“184
Sowohl bei Heidbrink als auch bei Grass und Lübbe, um nur drei kurze Beispiele anzuführen, exemplifiziert sich ein in der Einleitung bereits thematisierter Umstand: die prominente Rolle, welche die Melancholie im 20. und 21. Jahrhundert im Kontext von Entfremdungsgefühlen und Zeitkritik einnimmt. Darüber hinaus legen sie Zeugnis für eine weitere Entwicklung ab: Wie die kulturgeschichtlichen Ausführungen gezeigt haben, wurde die Melancholie wiederholt als ‚Gegenbild‘ zu herrschenden Leistungs- und Arbeitsidealen instrumentalisiert, auch wenn sie dadurch nicht endgültig exkludiert werden konnte. Bei Grass, aber auch bei Heidbrink findet nun etwas statt, was man durchaus als eine Engführung von Arbeit und Melancholie bezeichnen kann. Einen ähnlichen Ansatz, allerdings aus psychiatrischer Perspektive, offenbart Hubertus Tellenbach, wenn er seinen typus melancholicus als Resultat der Leistungsgesellschaft beschreibt. Der Melancholiker erscheint bei ihm als derjenige Mensch, welcher das Ordnungs- und Leistungsdenken am stärksten internalisiert hat und unter diesem am deutlichsten leidet.185 Der zwanghafte Leistungswille des, von ihm betrachteten pathologischen, Melancholikers sowie sein Hang zur Überbelastung 186 wird in der Leistungsgesellschaft zur Norm und damit zur Voraussetzung für die gesellschaftliche Partizipation erklärt. In Zeiten, die sich durch die Internalisierung von Leistungs- und Arbeitsimperativen auszeichen – man denke an das ‚unternehmerische Selbst‘ – wird der von Tellenbach beschriebene typus melancholicus schließlich zum homo melancholicus. Und in dieser Engführung wird offenbar, wie die sich verändernden Gegebenheiten in Bezug auf die Arbeitsrealität der Spätmoderne eine Auseinandersetzung über das Paradigma der Melancholie möglich und auch sinnvoll machen. Ein Umstand, den zahlreiche gegenwartsliterarische Narrative ebenfalls abbilden sowie über einen ästhetischen Zugang erschließen.
184 Zit. n. Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 192. Es handelt sich um einen unveröffentlichten Vortrag Lübbes aus dem Jahr 1981. 185 So beschreibt Tellenbach den Arbeitszwang des Melancholikers und besonders betont er dabei den Ordnungszwang, welcher seine Entsprechung in den Anforderungen der Arbeitswelt findet. vgl. Hubertus Tellenbach: Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik. Berlin, Heidelberg, New York, NY: Springer 31976 [1961], S. 69-71 und dazu vgl. Günter Blamberger: Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Krisenbewußtsein und Neubegründung im Zeichen der Melancholie. Stuttgart: Metzler 1985, S. 52-53. 186 Vgl. Tellenbach (1976): Melancholie, S. 69-70.
3. Gegenwartsliterarische Narrative
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LITERARISCHE ‚ARBEIT‘ AM BILDRESERVOIR DER MELANCHOLIE
3.1.1 Allegorische Umschreibungen in Lars Gustafssons Nachmittag eines Fliesenlegers (1991) Whats my line? | I’m happy cleaning windows Take my time Van Morrison/Cleaning windows (1982)
Im Zentrum von Lars Gustafssons 1991 erschienenem Roman Nachmittag eines Fliesenlegers1 steht ein melancholischer Fliesenleger, Torsten Bergmann, 65 Jahre alt, verwitwet und etwas verwahrlost; ein Trinker (vgl. LG 7, 14).2 Wie der Titel des kurzen Romans – der in seiner Beschaffenheit eher an eine Novelle erinnert, behandelt er doch die ‚unerhörte Begebenheit‘ nur eines Nachmittags – bereits deutlich macht, ist die Arbeit des Protagonisten zentrales Motiv des Textes. Dabei geht es dem Autor jedoch weniger darum, im Sinne eines Sozialrealismus, ein Bild der Arbeitsrealität eines schwedischen Handwerkers zu Beginn der 1980er Jahre zu entwerfen. Vielmehr gelangt das Erzählte durch das Zusammenspiel von Bildern der Arbeit und melancholischen Topoi auf eine allegorisch-philosophische Ebene, womit der Roman auf den spezifischen Zusammenhang von Allegorie und Melancholie verweist. Dieses Verhältnis von Allegorie und Melancholie hatte Walter Benjamin 1928 in seinem Trauerspiel-Buch wie folgt beschrieben: „Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten. Diese Möglichkeit spricht der profanen Welt ein vernichtendes doch gerechtes Urteil: sie wird ge-
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Ich verwende in diesem Kapitel die deutsche Übersetzung, vgl. Lars Gustafsson: Nachmittag eines Fliesenlegers. Übers. v. Verena Reichel. München: dtv 42002 [1991]. Gustafsson selbst hat an dieser Übersetzung mitgearbeitet. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle LG und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Es ist nicht das erste Mal, dass Gustafsson einen Arbeiter in das Zentrum eines Textes stellt; so finden sich bei ihm u.a. ein Bienenzüchter, ein Bootsbauer, ein Gärtner und ein Zimmermann, vgl. Wilhelm Kühlmann: „Bauarbeiten ohne Bauplan. Lars Gustafssons Fliesenleger.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.10.1991, S. 19.
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kennzeichnet als eine Welt, in der es aufs Detail so streng nicht ankommt. Doch wird, und dem zumal, dem allegorische Schriftexegese gegenwärtig ist, ganz unverkennbar, daß jene Requisiten des Bedeutens alle mit eben ihrem Weisen auf ein anderes eine Mächtigkeit gewinnen, die den profanen Dingen inkommensurabel sie erscheinen läßt. Demnach wird die profane Welt in allegorischer Betrachtung sowohl im Rang erhoben wie entwertet. Von dieser religiösen Dialektik des Gehalts ist die von Konvention und Ausdruck das formale Korrelat. Denn die Allegorie ist beides, Konvention und Ausdruck [...]. Ist doch die Allegorie das einzige und das gewaltige Divertissement, das da dem Melancholiker sich anbietet.“3
Benjamin erklärt damit die Allegorie zum einzigen ‚Zeitvertreib‘, zum einzigen bildsprachlichen Refugium des Melancholikers. Die Allegorie weist eine „melancholische Struktur“4 auf. Und eben jenes von Benjamin beschriebene allegorischmelancholische ‚Weisen auf ein anderes‘ enthebt die im Roman beschriebene Arbeit der profanen, realistischen Ebene. Mit „kontemplativer Ruhe“ versenkt sich der Roman „in den Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten“, in dem „die dialektische Bewegung braust“.5 Auf der Suche nach dem Grund für diesen von der Allegorie beschrittenen Umweg fragt Paul de Man: „The very occurence of allegory, however, indicates a possible complication. Why is it that the furthest reaching truths about ourselves and the world have to be stated in such a lopsided, referentially indirect mode? Or, to be more specific, why is it that texts attempt the articulation of epistemology with persuasion turn out to be inconclusive about their own intelligibility in the same manner and for the same reasons that produce allegory?“6
Und wenn Stephen Greenblatt konstatiert: „The answer, at least suggested by Pascal’s ‚Réflexions sur le géométrie,‘ is that the target towards which signs are turned remains finally unknown, that there is, in consequence, no possibility of direct signification.“7, so erinnert diese Defintion der Allegorie an Freuds frühes Verständnis 3
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7
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007 [1928], S. 152, 163. Zum Zusammenhang von Allegorie und Melancholie bei Benjamin vgl. Günter Blamberger: Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Krisenbewußtsein und Neubegründung im Zeichen der Melancholie. Stuttgart: Metzler 1985, S. 30-36 sowie ausf. auch Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen. Bielefeld: transcript 2010, S. 123-233 und Schwarz (1996): Melancholie, S. 16 die schreibt, die Allegorie sei „die der melancholischen Disposition entsprechende Trope“. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 3. Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 144. Paul de Man: „Pascal’s Allegory of Persuasion.“ In: Stephen Greenblatt (Hg.): Allegory and Representation. Baltimore, MD, London: John Hopkins University Press 1981, S. 125: 2. Stephen Greenblatt: „Preface.“ In: Ders. (1981): Allegory and Representation, S. VII-XIII: VII. Vgl. dazu auch Rita Copeland u. Peter T. Struck: „Introduction.“ In: Dies. (Hg.): The Cambridge Companion to Allegory. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2010, S. 1-11: 10-11, die in der Allegorie etwas artikuliert sehen, was sonst außerhalb der Sprache liegt. „Die Allegorie verweist auf ein Anderes, das der direkten Darstellung unfähig ist“,
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von Melancholie als Reaktion auf einen Verlust, der nicht benannt werden kann. Die Allegorie ist mit der Melancholie ‚verwandschaftlich‘ verbunden, denn beides setzt sich selbst in Beziehung zu Unaussprechlichem, Undefinierbarem. Arbeit als ‚profane Basis‘ des Romans Auf der Grundlage dieser Ausführungen zum Zusammenhang von Allegorie und Melancholie stellt sich die Frage, worauf Gustafssons melancholisch-allegorischer Roman ‚eigentlich‘ verweist, wenn er vordergründig den misslungenen Nachmittag eines schwarzarbeitenden Fliesenlegers beschreibt. Zur Beantwortung sei zunächst ein Blick auf das profane Sichtbare des Romans geworfen. In seinem Zentrum steht der frühpensionierte Torsten Bergman. Die Handlung findet ihren Anfang am Morgen eines grauen Novembertages 1982 und endet am Abend desselben; durchbrochen wird diese chronologische Erzählweise durch wiederholte Erinnerungsfetzen, die den Fliesenleger scheinbar arbiträr während seiner Arbeit heimsuchen. Das erste Kapitel platziert Torsten (wie er zumeist im Laufe des Romans genannt wird) unter dem Titel „Gesammelte Arbeiten“ in einem durch und durch melancholisch durchformten Interieur: „Alte Zeitungen und ein paar leere Flaschen lagen hier und da auf dem Fußboden verstreut, und hinten in der Ecke ein eingehaarter alter schwarzer Teppich, auf dem gewöhnlich der Hund schlief. Der Tag begann auf die einzig mögliche Art: das Gras schon vom ersten Frost gebissen, der Hund seit Tagen entlaufen, jegliches Leben unklar, am meisten sein eigenes. Der Garten verwildert, die Landschaft schlief. [...] Der Garten war ein wüstes, unordentliches Monument von Torsten Bergmans gesammelten Arbeiten. Und, wie jemand vielleicht gesagt hätte: seiner Mißerfolge.“ (LG 7)
Ähnlich heißt es an einer späteren Stelle: „Kacheln lagen in Stapeln, wie Erinnerungen an seine Arbeit, wie seine gesammelten Arbeiten, könnte man sagen, hier und da herum.“ (LG 14). Die Beschreibung der verstreuten und verlassenen Dinge, das Motiv des (allerdings entlaufenen) Hundes, die Diffusität der Situation – all dies evoziert eine unüberwindbare Melancholie, in deren Licht das Erzählte getaucht wird. Erscheint diese zunächst noch in ihrer abstrakten Ausformung als ‚Stimmung‘ des Settings und der dort beheimateten Protagonisten, so lässt sich die anschließende Schilderung von Torstens Garten mit den aussortierten und verrottenden Dingen in eine eindeutigere Beziehung zur melancholischen Begriffsgeschichte setzen: „Eine alte Klempnerbank, nicht weniger als drei verschiedene Schubkarren, ein Motorboot aus Holz, das seit den fünfziger Jahren, als seine Frau Britta das Zeitliche gesegnet hatte, nicht mehr in der Ekolnsbucht gewesen war. [...] Ein ganzer Stapel von gusseisernen Röhren [...]. Ziegelsteine, von Hartfaserplatten geschützt, Bauholz, das sich schon längst zwischen den Fingern zerreiben ließ, und ganz zuunterst ein Rasenmäher, der im Jahre 1947 angeschafft worden war und zum erstenmal durch frühlingsgrünes Gras knatterte, als der älteste Sohn geboren wurde.“ (LG 8-9)
schreibt auch Willem van Reijn: „Einleitung.“ In: Ders. (Hg.): Allegorie und Melancholie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 7-16: 8.
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Nicht von ungefähr erinnern diese Arbeits- sowie Vergangenheitsrelikte an die von ihren Gerätschaften umgebene Melencolia. Auch Torsten erscheint – in seiner Charakterisierung als ‚Fliesenleger‘ – als ehemals tätiger homo faber, der, nachdem seine Angehörigen verstorben sind und er frühpensioniert wurde, sein Werkzeug achtlos beiseitegelegt hat, wo es nun dem Verfall ausgesetzt ist. Wie die Melencolia hat sich auch Torsten in seiner Melancholie eingerichtet. Er pflegt keine zwischenmenschlichen Kontakte mehr, zeigt sich misanthropisch und kann sich doch nicht dagegen wehren, dass ihm „jeden Morgen die Notwendigkeit ins Bewusstsein“ gerufen wird, „aufzustehen und wieder zu leben. Wie viel lieber wäre er doch in seinen Träumen geblieben, wo sich fahle, ungewisse Schatten bewegten! Er hätte es weitaus vorgezogen, nicht zu existieren, als zu existieren. Wenn ihn jemand nach seiner Meinung gefragt hätte.“ (LG 7-8). In seiner tristen wie marginalisierten Existenz wird aus dem Memento mori der Allegorie wie der Melancholie ein Memento vivere, dem vorerst nicht zu entkommen ist. „Das Leben war, wie es war, und es ist geworden, wie es geworden ist. Schließlich konnte man nicht zurückgehen und es irgendwo reparieren. Lebenselend.“ (LG 55). Dieses so elende Leben lässt sich, sowohl die Jahreszeit als auch das Alter Torstens betreffend, in das humoralpathologische Raster einordnen 8; die Melancholie erscheint demnach nicht als bloße konventionalisierte Stimmung, sondern als bewusst aufgerufenes Paradigma, das auch die ‚Aussage‘ des Textes grundlegend mitbestimmt. Betont bereits der Titel die Zentralität des Arbeitsmotivs, so unterstreicht die Benennung der Kapitel diese zusätzlich („Opus incertum“, „Mittagspause“, „Wir müssen uns Sisyphos fröhlich denken“, „Schaffen, bis die Nacht kommt“, LG 24, 46, 64, 123). Entsprechend konstatiert Gustafsson, der Fliesenleger könne durchaus als „Arbeiterroman“ bezeichnet werden, allerdings mit Abstrichen, da Gustafsson selbst nur bedingt in der realistischen Tradition dieses Genres stehe und es ihm vielmehr darum gegangen sei, einen „existentialistische[n] Roman“ zu schreiben.9 Auf der vordergründigen Ebene ist es jedoch zunächst die profane Arbeit, die dem Leser begegnet. Zwar ist der Fliesenleger seit etlichen Jahren vorzeitig pensioniert und eigentlich kaum noch als solcher zu charakterisieren, sein Haus zeugt aber von seiner ehemaligen Tätigkeit und ab und an verdient er sich mit Schwarzarbeit etwas dazu. Doch, wie das Leben an sich, erscheint Torsten auch diese gelegentliche Betätigung zunehmend erschwert: „Manchmal fragte er sich, ob Fliesenkleber und Fugenmasse in den letzten Jahren in aller Stille und auf unmerkliche Art gegen etwas Schlechteres ausgetauscht worden seien. Mit der Zeit war es, Gott weiß warum, immer schwieriger geworden, die Kacheln an den Wänden zu fixieren. Ob das nun an den Wänden lag oder an den Kacheln, war schwer zu sagen.“ (LG 11). Die existentielle Dimension von Torstens Arbeit deutet sich hier bereits an. Was zusätzlich klar wird, ist, wie Gustafsson eine Atmosphäre des Defizitären, des Rätselhaften erschafft, welche den gesamten Roman hinweg aufrechterhalten wird. 8
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Der Herbst sowie das fortgeschrittene Alter gelten spätestens seit der mittelalterlichen Humoralpathologie als der Melancholie zugehörig, vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 114. Gustafsson im Gespräch mit Gunna Wendt: „Ich bin auch eine alte mexikanische Frau. Lars Gustafsson über Fliesenleger, Landkarten, Romane sowie dumme und kluge Verfassungen. Ein Gespräch.“ In: Wochenpost 30.03.1994, k.A.
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Die allegorische Dimension des Fliesenlegens So defizitär und verworren die Gegenwart des Fliesenlegers auch ist, so nostalgisch sind seine Erinnerungen, vor allem in Bezug auf seine Arbeit. Sie erscheint ihm doch in der erzählerischen Gegenwart sinnlos. Einen tieferen Sinn bekommt sie erst in ihrer Gestalt als steuerfreie Schwarzarbeit (nämlich jenen, dem Staat ‚ein Schnippchen zu schlagen‘).10 Torsten imaginiert sich selbst als Relikt eines Berufes, der seine beste Zeit hinter sich hat, wofür seine alte Arbeitsstätte – die mittlerweile verfallene Kachelbrennerei – die passende ‚Kulisse‘ sowie melancholische Ruine liefert.11 In seiner frühpensionierten Gegenwart hingegen ist ihm mit der Familie und dem Beruf auch der Zugang zur Welt abhandengekommen: „Alles war Welt und nichts in dieser Welt war wirklich das Seine.“ (LG 17). Doch Torstens periphere, losgelöste Existenz wird zu Beginn des Romans jäh unterbrochen, und zwar durch den Anruf eines Bekannten, der ihm eine Schwarzarbeit vermittelt. Er soll „in einem zweistöckigen Altbau, der gerade saniert werde, Badezimmer und Waschräume [...] kacheln.“ (LG 11). So lautet der zunächst simpel anmutende Arbeitsauftrag. Die bisherigen Fliesenleger hatten ihre Arbeit nur zur Hälfte erledigt und waren dann verschwunden; alle weiteren Umstände bleiben unklar (vgl. LG 12-13). Torsten nimmt den Job an, mit dem Gedanken, es könnte sein letzter sein (vgl. LG 15). Der Tod liegt also – ganz im Sinne des Memento mori – in der Luft (vgl. LG 18), und da der Fliesenleger bei jedem seiner wenigen Aufträge die Hälfte seines Werkzeuges verliert (vgl. LG 20), scheint das Ende umso näher. Dementsprechend steht der Arbeitsort des trüben Novembertages dann auch ganz unter melancholischen Vorzeichen: „Das Haus war eine Mischung aus etwas sehr Modernem, man könnte sagen, von etwas noch nicht ganz vollendet Modernem, und einem dunklen, alten Labyrinth.“ (LG 23). Der Altbau ist seit langer Zeit verlassen, und aufgrund der Dunkelheit kann Torsten zunächst nicht alle Räume überblicken. Es ist wiederum die Atmosphäre des Rätselhaften, welche die Szenerie bestimmt und sie in ein melancholisches Licht bzw. in melancholische Dunkelheit taucht: „Je weiter er vordrang, desto dunkler wurde es. Schon etwas schwieriger, sich zu bewegen. Vielleicht war eines der Fenster abgedeckt? Torsten fühlte sich zunehmend unsicher, da er hin und wieder an Türklinken stieß, die sich willig öffnen ließen, auf pechschwarze Zimmer zu. [...] Aber der große Raum mit seinen hallenden Geräuschen und dem Geruch nach noch nicht ganz getrocknetem Fliesenkleber – wenn ihn die Nase nicht trog –, das mußte doch um Gottes 10 Torsten resümiert seine Tätigkeit wie folgt: „Ein verdammter Unterschied zwischen denen und uns Illegalen. Wir verbrecherischen Arbeiter. Denn bedeutet illegal nicht verbrecherisch? Unvorstellbar, daß ganz gewöhnliche, einfache Arbeit allmählich zu einem Verbrechen wird! Das hat man sich so nicht vorgestellt, damals, als es hieß, es sei ehrenwert zu arbeiten.“ (LG 49-50, Herv. i.O.). Deutlich wird hier, neben seinem nostalgischen Blick auf die Vergangenheit, dass seine Tätigkeit als Schwarzarbeiter ihm ein Identifikationsangebot macht, welches er mal mehr, mal weniger annimmt. 11 „Es machte ihn melancholisch und befangen, wenn er nur in die Nähe kam und kleine Birken und Disteln zwischen den Schienen sprießen sah, auf denen einst bis zum Rand mit schwerem uppländischen Ton beladene Loren gefahren waren. Denn all das erinnerte ihn auf allgemeine und unbestimmte Art an eine Zeit, in der er noch mit Menschen Umgang gehabt hatte.“ (LG 16-17).
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willen das Badezimmer sein? [...] Für wen er eigentlich arbeitete und was zu tun war, das war ihm im Moment ziemlich rätselhaft.“ (LG 24, 25)
Torsten tastet sich voran und entdeckt schließlich den Ort seiner Bestimmung, eine unvollständig gekachelte Wand, und diese Wand entfaltet zugleich mit ihrer ausführlichen Beschreibung, welche nachstehend in fast ganzer Länge zitiert sei, ihre allegorische Dimension: „Torsten ließ die Hand an der Wand entlanggleiten, und was er nun entdeckte, überraschte ihn sehr. Man hätte meinen können, mehrere verschiedene Menschen, einige davon Fachleute, andere unglaubliche Pfuscher, hätten abwechselnd und ohne im geringsten Notiz voneinander zu nehmen in diesem Badezimmer gearbeitet. Die einzige Gemeinsamkeit war, daß sie offenbar alle über reichlich Material verfügt hatten. An der Tür fing es gut an. Gut geklebt, saubere Fugen, und die schmalen Stücke entlang dem Türrahmen ganz vortrefflich eingepaßt. [...] Aber das Bizarre an dieser rückwärtigen Wandfläche, die Torsten nun im Licht der mit Farbe bekleckerten Glühbirne musterte, war, daß sie immer unspezifischer und ihrer eigenen Natur fremder wurde, je mehr sie sich von der Tür entfernte. Erst wurden die Fugen immer ungleichmäßiger. Es war, als hätte derjenige, der diese Fliesen verlegt hatte, das Senkblei verloren, oder als hätte ihn eine merkwürdige Angst befallen, die Fugenmasse könnte ihm ausgehen. Dann begann ein Abschnitt, wo plötzlich schwarze Fugenmasse verwendet worden war statt der hellen. Welche die einzig passende war. Es machte einen eigentümlich rührenden Eindruck, denn die Veränderung kam nicht auf einmal, sondern schrittweise, als hätte man die helle immer mehr mit der dunklen Masse vermischt, weil die helle zu Ende ging. [...] Und weiter hinten, an der nur zur Hälfte fertiggestellten Kurzwand, wurde es plötzlich noch schlimmer. In der Mitte gesprungene Kacheln, und dann welche, die aus zwei, ja manchmal drei Teilen notdürftig zusammengeflickt waren. Und wenn ein Teil fehlte, war er einfach durch Kleber ersetzt worden. Es sah einfach schrecklich aus. [...] Torsten schauderte es ein wenig. Er hatte den erschreckenden Eindruck von einem Werk, das man mit den besten Absichten begonnen und dann, Gott weiß warum, in einer höchst grotesken und wirren Pfuscherei hatte versanden lassen. Ihm war beklommen zumute. Das Sonderbare war nicht nur, daß der Vorgänger offenbar die Lust verloren hatte [...], sondern daß derjenige (oder diejenigen) anscheinend keine Ahnung hatten, wie sehr die eigene Arbeit sich in ihrem Verlauf verändert hatte und mißraten war. Und es kam ihm in den Sinn, daß so manches Leben nicht selten genauso aussah. Oder sah in Wirklichkeit jedes Leben so aus, wenn man die Handlampe hob und es gründlich genug musterte? Gab es ein Leben, von dem man sagen konnte, es würde besser, je mehr Zeit verging? Nahmen nicht vielmehr die schlechten Gewohnheiten zu, wurden nicht die Kompromisse immer fauler, die Inkonsequenzen immer größer? War es nicht, kurz gesagt, immer eine langsame Reise von einer kleinen Ordnung in eine immer größere Unordnung, die in diesem Leben stattfand?“ (LG 30-32)
Vordergründig wird hier die defizitäre Arbeit mehrerer Fliesenleger beschrieben, der sich Torsten ‚schaudernd‘ gegenübersieht; die im Text vorgenommene Generalisierung und Abstrahierung dieser Arbeit stellt hingegen explizit eine allegorische Lesart her. Ist die schlecht gekachelte Wand, um es mit Walter Benjamins Termini in Worte zu fassen, zunächst die ‚profane‘ Realität, so unterzieht Torsten sie selbst postwendend einer philosophischen wie allegorischen Betrachtung. Sie wird zum Sinnbild des menschlichen Lebens allgemein und seines im Speziellen. Es ist ihm zwar nicht möglich, sein eigenes Leben zu ‚reparieren‘; er vermag dieses in seiner Tätigkeit als Fliesenleger mit
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der Wand als Surrogat aber sehr wohl. Der zweistöckige, teils renovierte, teils verfallene Altbau wird so zur Allegorie des Lebens, wobei die Wand den Gang des Lebens in nuce abbildet, an der sich Torsten als exemplarisches Individuum offenbar vergeblich abmüht, ist es ihm doch nicht beschieden, etwas Dauerhaftes zu erschaffen, kann er doch nur einen ordnenden Versuch unternehmen. Der Fliesenleger beginnt trotzdem, ohne zu zögern und ohne Anweisung des abwesenden Bauherrn, die Wand neu zu kacheln. Er zweifelt nicht daran, dass es seine Aufgabe ist, die verpfuschte Arbeit der Vorgänger zu verbessern, und darin findet er Sinn und Befriedigung: „Es ist doch angenehm, wenn man im Leben ein bißchen Ordnung schaffen kann. Selbst wenn man weiß, daß eines schönen Tages einer kommt, der alles wieder abreißen wird, um es durch etwas anderes zu ersetzen. Wirklich gut ist nur ein einziger Augenblick, und zwar der, in dem man sieht, wie alles fast von selbst in Ordnung kommt.“ (LG 73). Neben dieser philosophischen bietet der Text darüber hinaus eine psychoanalytische Lesart an. Bereits bei der Beschreibung von Torstens eigenem Haus wird den Kellerräumen besondere Aufmerksamkeit zuteil, hortet der Fliesenleger in ihnen doch eine Vielzahl alter Kacheln, die langsam im Schlamm versinken (vgl. LG 1516). Ist das Erdgeschoss der Ort der tristen Gegenwart, so versammelt der Keller Relikte der Vergangenheit, von denen einige noch in der Erinnerung präsent sind, andere hingegen vergessen oder verdrängt wurden. Der Altbau ist ähnlich strukturiert.12 Hier erweist sich ebenfalls das Erdgeschoss als die Ebene des Fliesenlegers, da es der Teil des Hauses ist, der renoviert wird. Das Obergeschoss bleibt von diesen Arbeiten unangetastet (vgl. LG 26) und erhält durch seine Beschreibung eine nahezu mystische Qualität. In diesen 1. Stock wagt sich Torsten erst zögernd, nachdem er wiederholt indifferente Geräusche von dort vernommen hat, und er entdeckt dort zwei verschlossene Türen, eine von ihnen beschriftet mit dem Namen „Sofie K.“ (LG 27, Herv. i.O.). Nachdem auf sein Klingeln keine Reaktion erfolgt, beschäftigt die Identität dieser Frau Torsten den gesamten restlichen Tag über. Erst sein Vetter Stig, der ihm ab dem Nachmittag bei seinen Arbeiten hilft, bricht die Tür auf und die beiden Männer entdecken in der verlassenen Wohnung einen verschlossenen Tresor (vgl. LG 76-77). Stig möchte ihn aufbrechen, da er einen hohen Geldbetrag im Inneren vermutet; Torsten spricht sich dagegen aus. Der Tresor steht für die Denkbarkeit einer Utopie, namentlich der des schnellen Glücks. Jene ist für Torsten gerade nicht vorstellbar; sein resignierter AltersPessimismus lässt keinen Platz für den Glauben an das schnelle Glück zu. 13 Erscheint 12 So vermerkt der Rezensent der Zeit: „Denn die Türen, die sich ab nun öffnen, nach oben, nach unten und verschiedenen Seiten, sind mehr als nur Haustüren, öffnen sich in Erinnerungen, manchmal in Hoffnungen, dann wieder in Hoffnungslosigkeiten“ (Reinhard Baumgart: „Verzweiflung, trocken und heiter. Geheimnisse eines schwedischen Novembertags: Lars Gustafssons Roman Nachmittag eines Fliesenlegers.“ In: Die Zeit 08.11.1991. Auf: http://www.zeit.de/1991/46/verzweiflung-trocken-und-heiter, zuletzt gesehen am 18.09.2013). Gerhard Mack bezeichnet das Haus in seiner Rezension als „Kunstort, zusammengefügt aus Versatzstücken der Literatur und der Mythologie“, Gerhard Mack: „Zwei Fische im Mond. Nachmittag eines Fliesenlegers von Lars Gustafsson.“ In: Die Welt 08.02.1992, S. 21. 13 „Was würdest du denn mit einer Million machen, wenn du sie hättest?“, fragt er seinen Vetter, „[W]omöglich nach Spanien ziehen? Dahocken und sauren Wein trinken und auf einen Strand
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Stig der Tresor als „Phantasma eines neuen, schöneren Lebensabends“14, so verwirft Torsten dieses sofort, vertritt er doch die Position des aufgeklärten Pessimisten, der sich „an der Objektivität und relativen Gültigkeit seines bescheidenen Werkes“ 15, namentlich der neu gefliesten Wand, aufrichtet. Für Torsten zählt an diesem Tag einzig seine Tätigkeit, von der er jedoch wiederholt durch unterschiedliche Ereignisse abgehalten wird.16 So etwa von einem Wasserleck im Badezimmer, dem Torsten aber nicht beizukommen vermag (vgl. LG 124). Und obwohl die Arbeit den Fliesenleger zunächst in gewisser Weise wieder integriert und ihm Räume für Kontakte und Kommunikation erschafft, so endet dieser Tag für ihn – der sich zeitweise sogar zu einer Art ‚fröhlichem Sisyphos‘ gemausert hat – ebenso trostlos, wie er begann. Er muss nämlich feststellen, dass er sich in der Adresse geirrt und den ganzen Tag in einem falschen Haus verbracht hat. Zwar kann er diese Erkenntnis zunächst noch verdrängen und stoisch weiterarbeiten, aber: „Das Verborgene war da und produzierte in seinen Händen und seinem Kopf heimtückische Energien, ließ ihn auf eine harte, mechanische Art arbeiten, viel vor sich hinfluchen und den Blick angestrengt auf die Arbeit gerichtet halten. [...] In diesem Stadium war er bereits ziemlich weit entfernt von Sinn und Verstand und Gleichgewicht. Er hatte das Gefühl, nirgendwo daheim zu sein, nirgendwo hinzugehören, und es kam ihm so vor, als sei seine einzige Verbindung mit der Welt diese grotesk sinnlose Arbeit. Mit getrübten, brennenden Augen sah er sich um. [...] Diese paar armseligen Quadratmeter sorgfältig verlegter Fliesen waren das einzige, was er besaß. Und zwar ohne es zu besitzen.“ (LG 123-124)
Füllte die Arbeit seinen Tag mit Sinn, so bleibt sie letztlich unabschließbar und überflüssig. Die letzte Szene des Romans macht aus dem vormals fröhlichen Sisyphos – zu dem er ja gerade durch die Vergeblichkeit der Arbeit wird – einen resignierten „Hiob auf einem Haufen von Asche und Schutt“ (LG 125), einen von diversen Schicksalsschlägen gebeutelten Mann, dem sich, wie seinem biblischen Pendant, „alles, was er berührt, in alltägliches Unheil verwandelt“17, der deshalb, anders als sein christliches ‚Vorbild‘, alle Zuversicht hat fahren lassen. Am Ende zählt nurmehr das Überleben, nicht die Leistung des Einzelnen, die ohnehin weder Sinn noch Dauer hat.18
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starren, an dem du nicht baden willst, weil du schon genau weißt, wie sich das anfühlt? Nein, mein Lieber, für uns ist es wohl ein bißchen zu spät. [...] Von dieser Million träumst du ja nur, damit du dir nicht eingestehen mußt, daß sie nicht viel ändern würde. [...] Aber wenn du nicht darauf bestehst, deine Million zu kriegen, stirbst du leichter.“ (LG 77-78). Baumgart (1991): Verzweiflung, trocken und heiter. Ulrike-Christine Sander: Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf. Die Romane Lars Gustafssons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 343. „Und ausgerechnet jetzt, gerade als er wieder zu dieser Wand zurückkehren wollte, mußte dieser Besuch kommen. Meine Wand, die einzige Wand, die ich seit langer, langer Zeit gemacht habe. Das einzige, was diesem elenden Tag einen Sinn gegeben hat.“ (LG 90). Uwe Pralle: „Hiob in der Wohlstandswelt. Lars Gustafssons Nachmittag eines Fliesenlegers.“ In: Frankfurter Rundschau 04.01.1992, S. 4. Vgl. Hanns Grössel: „Schaffen, bis die Nacht kommt. Zu Lars Gustafssons neuem Roman Nachmittag eines Fliesenlegers.“ In: Süddeutsche Zeitung 10./11.08.1991, S. 128.
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Existentielle Melancholie bei Gustafsson Das endgültige Ende dieses kurzen Romans bleibt offen19; ein Hämmern an der Tür reißt den müden Fliesenleger aus seinen Grübeleien: „Du wirst schon sehen, es ist diese Sofie, die wieder herumgeistert, sagte Torsten. Und es fehlte nicht viel, daß er für einen kurzen Moment selbst daran glaubte.“ (LG 126). Dass die im Obergeschoss des Altbaus lebende (und gleichsam abwesende) Sofie K. zum zentralen Subjekt des Schlusssatzes wird, hebt ihre Bedeutung eklatant hervor. Sie lässt sich im Kontext der allegorischen Beschaffenheit des Romans als Repräsentantin für oder Verweis auf „metaphysisch-religiöse[]“ und/oder „philosophisch-existentielle[]“20 Welterschließungs- oder -deutungsansätze lesen. So steckt in der ‚Sofie‘ ja auch immer die ‚Philosophie‘. Die Abkürzung des Nachnamens erinnert an die Protagonisten Josef K. sowie K. aus Franz Kafkas Romanen Der Prozeß und Das Schloß21, aber auch an den Herrn K(euner) Bertold Brechts. Mit Letzterem teilt sich Sofie K. die Gesichts-, ja Gestaltlosigkeit. Herr K. ist ‚pures‘ Denken, und so auch Sofie K. In Verbindung mit der abwesenden wie mysteriösen Bewohnerin wird das Obergeschoss des Hauses, neben seiner utopischen Verheißung, zu einem Ort des Metaphysisch-Rätselhaften und Philosophischen22; eine Ebene, auf der zumindest Torstens Welterschließung nicht stattfindet. Hierzu passt die „Grundeinsicht“, die Hanns Grössel bei Gustafsson zu erkennen meint, „daß zwar alles Metaphysische Schein und Selbsttäuschung ist, daß aber ein angeborener Drang den Menschen immer wieder dazu bringt, hinter dem Wirklichen noch etwas anderes zu suchen, zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem zu unterscheiden.“23 Torsten wird so zum fiktiven Vertreter dieser Gustafsson’schen Einsicht, wobei beide, Autor und Protagonist, sich dezidiert gegen ein utopisches Denken aussprechen, wie ein Rezensent herausstellt: „Der ‚Fliesenleger‘ markiert den Gestus einer Absage an die Kopfgeburten der totalen Veränderung. Es ist, als ob Gustafsson damit auch eine neue Bescheidenheit des Literaten andeuten wollte, ein Zeichen in einer Zeit setzen, die verjährter Posaunentöne überdrüssig geworden ist.“24 19 Dieses passt zu dem Anspruch Gustafssons, dem Leser keine „geschlossene objektive Wirklichkeit“ präsentieren zu wollen, Hanns Grössel: „Über Lars Gustafsson.“ In: Ruprecht Volz (Hg.): Gustafsson lesen. München, Wien: Hanser 1986, S. 11-22: 14. 20 Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 13-14. 21 Vgl. Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 338 und 351. 22 Zum „Blick nach oben“ siehe auch Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 351. Diese, die räumliche Struktur des Hauses mit der Psyche engführende, Lesart basiert auf einem topografischen Modell der Psyche, das Sigmund Freuds Traumdeutung (1899) entnommen ist. Freud selbst bezeichnet jedoch mit den Kategorien des ‚Bewussten‘ und des ‚Unbewussten‘ keine Orte, wie es oftmals in der (literarischen) Rezeption seines Ansatzes getan wird, sondern dynamische Prozesse. Zwar verwendet auch Freud räumliche Metaphern; dennoch stellen nach seinem Verständnis der Psyche, welches er in Das Ich und das Es (1923) weiterentwickelt, das Bewusste, das Unbewusste und auch das Vorbewusste aktive Kräfte dar, weshalb eine Übersetzung der Psyche in räumliche Kategorien schlussendlich defizitär bleibt. 23 Grössel (1986): Über Lars Gustafsson, S. 16. 24 Kühlmann (1991): Bauarbeiten ohne Bauplan. Ausf. zur Utopie bei Gustafsson vgl. Wilhelm Voßkamp: „The Narrative Staging of Image and Counter-Image. On the Poetics of
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Der Roman bestätigt damit eine Tendenz, die Tatjana Freytag und Marcus Hawel mit Blick auf die Literatur der Gegenwart wie folgt beschreiben: „Der utopische Faden, der uns aus dem kapitalistischen Labyrinth herauszuhelfen verspricht, scheint gerissen zu sein. Das Wort Utopie besitzt im Alltagsbewusstsein eine negative Konnotation“.25 Galt bei Burton und den anderen Utopisten die Arbeit an ihren utopischen Entwürfen als ganz wesentliches ‚Heilmittel‘ gegen die eigene, politisch evozierte Melancholie, so erscheint diese Möglichkeit aktuell verstellt, was die Melancholie nur noch akuter werden lässt. Was letztlich bleibt, wenn man die Möglichkeit einer Utopie abzieht, ist Melancholie, die im Roman als finaler Zustand präsentiert wird. Einen Ausweg aus diesem bietet Gustafsson folglich nicht an; er nutzt die tristen Bilder vielmehr dazu, den Menschen als Subjekt auf eine existentielle Probe zu stellen, „den Zweifel an der Identität, den Zweifel an der Autonomie des Subjekts“26 in Szene zu setzen. In diesem Sinne erscheint Torsten nicht nur als Vertreter der an die Peripherie des sich auflösenden schwedischen Wohlfahrtsstaates Gedrängten, welcher aus allen „existentiellen Bedingungen [...] herausgefallen“27 ist, sondern als exemplarisch für die existentiellen Bedingungen des Menschen an sich, welche von seinem Vetter Stig nach einem halben Tag in dem rätselhaften Haus auf den Punkt gebracht werden: „Das Leben diente offenbar überhaupt nicht den Zielen des Menschen, soviel stand fest. Literary Utopias.“ In: Susanne Kaul (Hg.): Literatur und Wissenschaft. Autorenkolloquium mit Lars Gustafsson. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 59-72. 25 Tatjana Freytag u. Marcus Hawel: „Einleitung: Arbeit und Utopie.“ In: Dies. (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M.: Humanities Online 2004, S. 927: 20. 26 Grössel (1986): Über Lars Gustafsson, S. 11. 27 Pralle (1992): Hiob in der Wohlstandswelt. Schweden zeichnet sich im globalen Vergleich als ein Land mit einem ausgeprägt sozialdemokratischen Wirtschaftssystem mit stabilen Sicherungssystemen sowie einer egalitären und sozialen Ausrichtung aus (vgl. Wolfgang Strengmann-Kuhn: „Erwerbsverläufe in Deutschland, Großbritannien und Schweden.“ In: Peter A. Berger u. Dirk Konietzka (Hg.): Die Erwerbsgesellschaft. Neue Ungleichheiten und Unsicherheiten. Opladen: Leske + Buderich 2001, S. 160-183: 163). Allerdings ist auch an Schweden der ab den 1970er Jahren einsetzende Wandel nicht spurlos vorübergegangen und das „schwedische Modell“ (Martin Heidenreich: „Arbeit und Management in den westeuropäischen Kommunikationsgesellschaften.“ In: Stefan Hradil u. Stefan Immerfall (Hg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich. Opladen: Leske + Buderich 1997, S. 289-331: 318-319) verliert an Stabilität. So erreichten die überdurchschnittlichen Sozialausgaben im Jahr 1993 ihren Höhepunkt und begannen anschließend zu sinken. Vgl. Heinz-Herbert Noll: „Wohlstand, Lebensqualität und Wohlbefinden in den Ländern der EU.“ In: Hradil/Immerfall (1997): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, S. 431-473: 456-457 sowie Hermann Berié u. Ulf Fink: „Europas Sozialmodell. Die europäischen Sozialsysteme im Vergleich.“ 8 (2000). Veröffentlicht auf der Homepage des WISOInstituts für Wirtschaft und Soziales GmbH Berlin, Tabelle Nr. 2. Auf: http://www.wisogruppe.de/fileadmin/wiso-gruppe.de/media/downloads/studien/sozialmodell.pdf?PHPSESS ID=0c00d52f2ca69c78668a67a593578460, zuletzt gesehen am 09.12.2015 und die Statistik der Wirtschaftskammer Österreich: „Sozialausgaben.“ (Ohne Erscheinungsdatum). Auf: http://wko.at/statistik/eu/europa-sozialausgaben.pdf, zuletzt gesehen am 09.12.2015.
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Man fand es, wo man es fand, und machte daraus, was man konnte. Aber daß man existierte, daß man da war, kam tatsächlich lange bevor man wußte, was man daraus machen sollte. Das war das ganze Problem: man hatte nicht darum gebeten. Und dann mußte man sich ausdenken, was man daraus machte.“ (LG 96-97). Der Arbeit kommt im Kontext dieser existentiellen Lebensbetrachtung eine zentrale Rolle zu, da sie in der spätmodernen Gesellschaft als der Parameter gesellschaftlicher Strukurierung dient und sie damit den Status eines jeden Menschen und damit auch dessen Identitätsentwürfe determiniert. Mit Blick auf die vorausgegangenen Ausführungen ist Folgendes festzuhalten: Aufgrund seines Sujets lässt sich Nachmittag eines Fliesenlegers vordergründig als ein Arbeiterroman lesen, und der Roman deutet durchaus den kapitalismuskritischen Impetus des Autors an.28 Gustafsson selbst legt jedoch eine philosophische Lesart
28 So schreibt Lothar Baier, es gehe Gustafsson in seinem literarischen Werk immer wieder auch um die Entwicklung des schwedischen Wohlfahrtsstaates (vgl. Lothar Baier: „Risse in der Mauer. Lars Gustafssons Romanfolge über die sechziger und siebziger Jahre.“ In: Volz (1986): Gustafsson lesen, S. 148-159: 151-152). Gustafsson offenbart seine Kritik, wenn er über die notwendigen und überflüssigen Übel des Kapitalismus ausführt: „In einer kanadischen Fabrik gab es ein paar Arbeiterinnen, deren Aufgabe es war, Maschinenteile in Seifenwasser zu spülen. Tagein, tagaus standen sie dort und spülten, ihre Finger wurden deformiert, sie schmerzten immer mehr und verkrümmten sich von einem Rheumatismus im fortgeschrittenen Stadium, was die unausbleibliche Folge davon ist, wenn man die Finger den ganzen Tag lang im kalten Wasser hat. Eines Tages kam ein neugieriger junger Ingenieur vorbei und prüfte die Wassertemperatur. [...] Aber das Wasser ist ja verdammt kalt, sagt er. Das muß anders werden. [...] Ab morgen lassen wir warmes Wasser in den Behälter fließen, dazu braucht nur etwas an einer kleinen Wasserleitung geändert werden. Dies hatte einen gewaltigen Streik zur Folge, der sich über die ganze Fabrik ausdehnte. Das könnte unlogisch erscheinen, ist es aber nicht. So lange diese Arbeiterinnen ihre abscheuliche Arbeitssituation als notwendig ansahen, ertrugen sie sie. Unerträglich wurde es in dem Augenblick, als sie erkannten, daß all das vollkommen unnötig war.“ (Lars Gustafsson: „Der notwendige Skeptizismus. Aus einem Briefwechsel mit Jan Myrdal.“ In: Nicolas Born (Hg.): Literaturmagazin Bd. 3: „‚Die Phantasie an die Macht‘. Literatur als Utopie.“ Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 80-97: 80-81). Über die Auswirkungen des modernen Kapitalismus schreibt Gutafsson: „Die ungeheure Verelendung bestimmter Lebensfunktionen zu Lasten anderer nimmt sich auf der konkreten Ebene manchmal aus wie das Leben in einem okkupierten Land. Die konsequente Analyse zeigt, daß es der Arbeiter am Fließband ist, der mit einem verelendeten, einem sinnlosen Leben dafür bezahlt. Beschnittene Kontaktflächen zwischen den Menschen, ein beschnittenes Gefühlsleben, menschliches Wachstum, das in seiner Entwicklung gehemmt worden ist, Unselbstständigkeit und das immer gegenwärtige Gefühl, daß man von jemand (der unsichtbar ist) in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird.“ (Gustafsson (1975): Der notwendige Skeptizismus, S. 83). Eine Diagnose, die sich auch im Fliesenleger widerspiegelt und die sich Gustafsson zufolge durch die Veränderungen der Arbeitsrealität noch verschärft, da die Forderung nach mehr Mobilität und Flexibilität nur neue „Unfreiheit“ produziere (Gustafsson (1975): Der notwendige Skeptizismus, S. 84-85). Die Melancholie des Fliesenlegers macht deutlich, dass Gustafsson keinen Spielraum für Veränderung erkennt: „Ich betrachte die Welt und sehe, daß sie
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nahe, durch die hinter der vordergründigen Geschichte eine existentielle Dimension zum Vorschein kommt. Torsten ist nicht bloß Arbeiter im Sinne eines schwedischen Handwerkers, er ist darüber hinaus Erinnerungs- und Lebensarbeiter. Die Erinnerungen kommen ihm scheinbar zufällig, während er die einzelnen Kacheln an der Wand befestigt (vgl. u.a. LG 71-73, 85-86, 106-110), und sie ergeben letztlich ein Mosaik der eigenen Lebensgeschichte, ebenso wie aus den Fliesen eine Fläche als Großes und Ganzes entsteht29, wobei sich eine Entwicklung von Ordnung zu Unordnung abzeichnet.30 Die Wand wird dadurch zur Lebenswand, zum Abbild der eigenen misslungenen Existenz. Hinter der profanen Basis der „kleine[n], scheinbar einfache[n] Erzählung“31 steht also eine Allegorie des Lebens, die deutliche Züge der melancholischen Philosophie Sartres und Søren Kierkegaards aufweist. 32 Das dem Roman voranstehende Sartrezitat („L’histoire d’une vie, quelle qu’elle soit, est l’histoire d’un échec.“ [LG 5]) fungiert dabei als „Zusammenfassung der in den Schriften Gustafssons schon so häufig thematisierten und nun noch einmal mit definitiver Schärfe zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis des unausweichlichen Scheiterns an den labyrinthischen, mit der menschlichen Vernunft weitgehend inkommensurablen Strukturen des Seins.“33 Aber auch die Philosophie Heideggers zeigt ihren Einfluss, beschreibt Gustafsson doch das Gefühl der „Geworfenheit“34, dem nicht beizukommen ist. Gustafsson „konfrontiert“ den Leser also, wie es in der Kritik treffend beschrieben wird, „mit der einzelnen ‚Arbeit‘ eines Fliesenlegers an einem einzelnen Novembernachmittag als einem Resonanzraum (einem Wartezimmer) für das Ganze.“35 Das melancholische Licht, in welches Gustafsson seine Arbeitsbilder taucht, unterstreicht diese existentielle Dimension. Die ordnende Tätigkeit des Fliesenlegers wird zum Bild für den Kampf gegen die Heideggersche Geworfenheit, gegen die scheinbare Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Jedoch ist diesem Versuch, diesem literarisch durchgespielten Szenario, kein Erfolg beschienen, womit
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krank ist, aber die Heilmittel sehe ich nicht.“ Gustafsson (1975): Der notwendige Skeptizismus, S. 82 und vgl. S. 96. Vgl. Mack (1992): Zwei Fische im Mond. Vgl. Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 349. Am Rande sei hier angesprochen, dass sich in der Arbeit des Fliesenlegers selbstverständlich auch die Tätigkeit des Schriftstellers widerspiegelt, was Gustafsson selbst wie folgt verdeutlicht: „Es besteht die Möglichkeit, daß er [Torsten] in seinen Keller gehen muß, wo sehr viel Material liegt, aber wo es sehr unangenehm ist. Das ist natürlich auch die Lage eines Schriftstellerts beim Schreiben des ersten Kapitels.“ (Lars Gustafsson im Gespräch mit Anton Thuswaldner: „Das Zimmer als Mikrokosmos. Ein Bild des heutigen Schweden. Lars Gustafsson über den Roman Nachmittag eines Fliesenlegers.“ In: Salzburger Nachrichten 04.04.1992, k.A.). Die Schlusskapitel des Fliesenlegers enthalten darüber hinaus eine Reflexion über die Authentizität und Originalität von Kunst (vgl. LG 116-120). Gustafsson zit. n. N.N.: „Phantastischer Alptraum.“ In: Vorarlberger Nachrichten, 08./09.02.1992, k.A. Vgl. Gustafsson im Gespräch mit Wendt (1994): Ich bin eine alte mexikanische Frau. Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 348. Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 337, Herv. i.O. Hermann Wallmann: „Bücher, die wie Flechten wachsen. Lars Gustafssons Roman Nachmittag eines Fliesenlegers.“ In: Berliner Zeitung 22.11.1991, k.A.
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der Text am Ende das „Paradox eines nahezu unermüdlich strukturierenden und assoziierenden Wirkens des Menschen im existentiellen Vakuum der abwesenden Struktur“ aufruft, wie Sander schlussfolgert: „Was [...] nach dem desillusionierenden Resultat der vorliegenden Parabel im besten Falle verbleibt, ist die zeitweilige Freude des arbeitenden Menschen an seinem unvollkommenen und vergänglichen Werk sowie das der Vereinzelung entgegenwirkende Ereignis zwischenmenschlicher Anteilnahme“.36 Zwar wird anhand von Torstens Erlebnissen ein der Arbeit immer noch inhärenter Rest inklusiver wie sinnstiftender Kraft demonstriert, doch auch das Moment der Entfremdung wird deutlich. Es gibt keine richtige Arbeit in der falschen, könnte man die vielzitierte – und oftmals falsch verstandene – Wendung Adornos umformulieren: Die Erkenntnis, im falschen Haus zu sein, macht die ohnehin schon ‚sinn-los‘ erscheinende Arbeit endgültig zunichte. Wie für Sisyphos ist deshalb auch für Torsten das Ende der Anfang. Die Sinnfindung findet keinen Abschluss; und dennoch erscheint der Text nicht vollends hoffnungslos, war doch Torsten wenigstens für einen Moment in seinem Versuch „[d]em Sinnlosen Sinn zu geben“37 erfolgreich, wie der Autor selbst beschreibt: „Ob Geburt oder Tod, wir müssen uns ja selbst einen Sinn schaffen. [...] Am Ende zeigt sich wieder, daß alles sinnlos ist, weil er an der falschen Adresse gearbeitet hat. Aber er ist teilweise wenigstens ganz glücklich gewesen. Kommunikationen sind wieder hergestellt worden.“38 Hieraus könnte man das Carlyle’sche Credo „Work and despair not“ herauslesen.39 Allerdings ist es so einfach nicht; zu eng sind Arbeit und existentielle Melancholie in Gustafssons Roman miteinander verbunden, zu sehr bedingen sie sich gegenseitig, und erst durch ihr literarisch entworfenes, wechselseitiges Verhältnis gelangt der kurze, allegorische Text auf die beschriebene philosophische Ebene. Hieraus ergibt sich auch die spezifische Qualität der literarischen Darstellung: „Literatur macht, was das Leben nur ausnahmsweise zuläßt: im missglückten Tag das ganze vergebliche Leben und im vergeblichen Leben eine Welt zum Vorschein zu bringen, die so mißglückt und schief ist wie dieser Tag.“ 40 Einem weiteren literarischen Spielraum, dem Entwerfen von Utopien, dem Durchspielen von Lösungen, versagt sich der Text. Der Fliesenleger bleibt im Angesicht seines und des allgemeinen Scheiterns gleichmütig und zeigt damit allerhöchstens einen „minimalen Widerstand“ 41 gegen die gefühlte Sinnlosigkeit. Letztlich bleibt der Mensch, was er war, ein melancholischer Arbeiter.
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Sander (1996): Ichverlust und fiktionaler Selbstentwurf, S. 351. Gustafsson im Gespräch mit Wendt (1994): Ich bin eine alte mexikanische Frau. Gustafsson im Gespräch mit Thuswaldner (1991): Das Zimmer als Mikrokosmos. Heiner Feldkamp: „Sisyphos als Fliesenleger. Lars Gustafssons neuer Roman übers absurde Leben.“ In: Stuttgarter Zeitung 03.01.1992, S. 24. 40 Pralle (1992): Hiob in der Wohlstandswelt. 41 Pralle (1992): Hiob in der Wohlstandswelt.
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3.1.2 Der Beamte als Philosoph: Heiko Michael Hartmanns Unterm Bett (2000) Baker man is baking bread | Sagabona kunjani wena Baker man is baking bread | You’ve got to cool down, take it easy You've got to cool down, relax, take it easy Slow down, relax, It's too late to worry Slow down | Slow down | take it easy | take it easy take it easy Laid Back/Bakerman (1990)
Steht bei Gustafsson die existentielle Weltsicht und damit auch eine existentielle Melancholie im Zentrum der Texte und wird vor dem Hintergrund des Arbeits-Sujets verhandelt, so trifft dies ebenfalls auf Heiko Michael Hartmanns Beamtenroman Unterm Bett zu. Die Zuflucht des von existentiellen Fragen heimgesuchten Protagonisten ist hingegen nicht die ‚nutzlose‘ Tätigkeit, wie beim Fliesenleger, sondern der titelgebende Ort; dort manifestiert sich seine Melancholie in den Aspekten der Kontingenz, der Langeweile, der Einsamkeit und der Innerlichkeit, aber auch in der Befähigung zur Reflexion. Beamtentum als ‚Lebensform‘ Der erste Satz des Romans liest sich wie ein Bekenntnis: „Ich bin Beamter.“ (HMH 5). Geäußert wird er von Dominik Vogel, seit 14 Jahren ein ebensolcher und mittlerweile in einer gehobenen Position im Bereich der Bankenaufsicht tätig (vgl. HMH 7, 43).42 Wie einem Mann seiner Position landläufig vorauseilt und wie auch sein Vorname verrät („Dem Herrn gehörig. Von dominus.“, HMH 215), ist er sehr korrekt (und dies seit seiner Kindheit, vgl. HMM 201-202). Den „Kampf um Ordnung“, welcher sowohl „heroisch“ als auch „aussichtslos“ (HMH 158) ist, sieht er als seine „berufliche[] Verpflichtung“ (HMH 5) an, wobei er festhält, dass es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die man auch privat ausführen kann: „Im Grunde ist ja jeder Beruf die Eskalation einer ganz gewöhnlichen Tätigkeit. Aber so wie das Backen eines Kuchens mich nicht gleich zum Bäcker macht und auch stundenlanges Kämmen mich in keinen Friseur verwandelt, bin ich ohne Empfindungen für einen größeren Zusammenhang kein Beamter.“ (HMH 5). Es ist demnach, anders als zumeist vorausgesetzt, nicht die Tätigkeit, sondern die innere Haltung, die zu der jeweiligen
42 Der Autor hatte viele Jahre eine ähnliche Position inne, und diese biografische Episode dient ihm als Vorlage für den Roman (vgl. Heiko Michael Hartmann: „Literaturen und Juristen – brauchen Schriftsteller einen Beruf?“ In: Hermann Weber (Hg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg. Berlin: Berliner WissenschaftsVerlag 2008, S. 134-144: 140). So führen beide (Hartmann und Dominik Vogel) eine sogenannte „Greuelmappe“ mit den spektakulärsten Anträgen und Beschwerden, Hartmann (2008): Literaturen und Juristen, S. 137 und Heiko Michael Hartmann: Unterm Bett. München u.a.: Hanser 2000, S. 119. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle HMH und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.
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Arbeit qualifiziert. Lässt sich dieses zum einen als Fürsprache für die These lesen, Ausbildung und berufliche Tätigkeit würden zunehmend entkoppelt43 – denn, wenn eine alltägliche Verrichtung ‚eskaliert‘ und damit zur Arbeit wird, ist dazu kein langwieriger Qualifikationsprozess mehr vonnöten; vielmehr ist eine entsprechende individuelle Disposition die Voraussetzung –, wird auf der anderen Seite der Aspekt der ‚Berufung‘ betont: „Beamter sein ist mehr als ein arbeitsrechtlicher Zustand, es ist, mit Thomas Mann zu sprechen, eine geistige Lebensform.“ 44 Und jene, so kündigt der Ich-Erzähler schon zu Beginn an, ‚eskaliert‘ in Hartmanns Roman. Dominiks Beschreibung seiner Arbeit deckt sich zunächst mit gängigen bis klischeehaften Vorstellungen des Beamtentums: So findet sich die „lebenslange[] Sicherheit“ (HMH 9) ebenso wie die ausgeprägten Hierarchien 45 und eine negative öffentliche Meinung.46 Und obwohl sich Dominik über diese negative Meinung beschwert, schaut er selbst auf seine Kollegen, vornehmlich auf jene niederen Ranges, herab (vgl. HMH 9-10). Dennoch spricht er häufig von einem ‚Wir‘ (vgl. HMH 38, 42, 86, 109) und rekurriert damit auf das Bild einer kollektiven Beamtenschaft. Aus dieser Kollektivität ergibt sich jedoch keine tatsächliche Macht im Sinne von Tatkraft; dazu mahlen die vielzitierten bürokratischen ‚Mühlen‘ zu langsam und jeder Antrag muss zu viele Schreibtische passieren (vgl. HMH 28). Neben diesen Allgemeinplätzen zum Arbeitsort ‚Amt‘ reflektiert der Protagonist auch dessen Veränderungen u.a. im Zuge der Digitalisierung. Der Computer führe zu mehr Entfremdung, so die pauschale wie naheliegende Diagnose, da er den Beamten von seinem eigentlichen Arbeitsgegenstand, der Akte, entferne (vgl. HMH 29-31); darüber hinaus fungiere er als Kontrollinstanz (vgl. HMH 8). Über diese Kritik an der sogenannten ‚dritten industriellen Revolution‘ hinausgehend, mißbilligt Dominik auch das neue Arbeitsethos, oder das neue „Leistungsgefuchtel“ (HMH 39), wie er es nennt, das aus der freien Wirtschaft in die Büros der öffentlichen Verwaltung Einzug hält.47 Diesem Ethos fühlt er sich selbst nicht verpflichtet; Karriere interessiert ihn kaum, sie ‚passiert‘ eher (vgl. HMH 17), und er neigt dazu, seine Arbeit – ganz im Sinne des Baudrillard’schen ‚Dienst‘-Begriffes – zu simulieren (vgl. HMH 39). Zwar begann Dominik sein Beamtentum mit Arbeitseifer und Ehrgeiz; er legte diese Ein43 Vgl. Karl Ulrich Mayer: „Arbeit und Wissen: Die Zukunft von Bildung und Beruf.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 383-409: 384. 44 Martin Ebel: „Beamtentum als geistige Lebensform.“ In: Die Welt 14.04.2000. Auf: http://www.welt.de/5443 87, zuletzt gesehen am 15.01.2015. 45 Vgl. u.a. HMH 28, wo der Autor das Herr-Knecht-Verhältnis andeutet, oder HMH 70-73, wo die ausführliche Beschreibung eines direkten Vorgesetzten zu finden ist. Zur spezifischen Stratifizierung der Bürokratie, die im Gegenteil zum freien Markt die Freiheit des einzelnen Akteurs einschränkt, vgl. Paul Windolf: „Einleitung: Inklusion und soziale Ungleichheit.“ In: Ders. u. Rudolf Stichweh (Hg.): Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Research 2009, S. 11-27: 22. 46 Zu Beamtenwitzen vgl. u.a. HMH 8 sowie zum Stereotyp des faulen und ängstlichen Beamten vgl. HMH 31, 49. 47 Zu diesem neuen Arbeitsethos vermerkt Dominik, man gehe „[n]euerdings“ mit „Aktenmappe“ zur Toilette und man verlasse auch das Büro nach Feierabend nicht ohne sie, worin sich die Entgrenzung von Arbeits-, Pausen- und Freizeit niederschlägt (HMH 39-40). Zudem belauere man sich gegenseitig in puncto Arbeitszeiten (vgl. HMH 40).
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stellung aber recht schnell ad acta und erkor Abwarten zu seiner Strategie der Arbeitsvermeidung (vgl. HMH 32). Es gilt demnach, die Anträge zu verzögern, bis sie obsolet geworden sind, worin Dominik eine der Hauptaufgaben der Beamten sieht. Das Büro als Ort einer seltsam unbestimmten Arbeit hat auch Hartmut Böhme genauer betrachtet. Auch er rekurriert auf den ‚Dienst‘-Begriff und konstatiert darüber hinaus, die Arbeit des Beamten habe zwar den Ruf, „sauber“ zu sein, sie sei jedoch „von der Effektivität, dem Ablauf, der sozialen Notwendigkeit her […] undurchsichtig, der Bequemlichkeit verdächtig, den Bürger belästigend und ‚nichts Wirkliches erzeugend‘, also […] unproduktiv“. 48 Passenderweise beschreibt Nikil Saval das Büro als „icon of tedium“, wobei sie betont, dass es sich dabei um eine ‚neuere‘ Entwicklung handelt, galt das Büro doch zunächst als „potential refuge from that other icon of tedium, the factory.“49 Zu einem solchen Symbol wird das Büro auch durch Dominiks Beschreibung. Sein Prokrastinieren ist entsprechend kein Störfaktor der Arbeit, sondern es wird zur Arbeit selbst. 50 „Blinden Aktionismus“ (HMH 33) hingegen verurteilt er, womit der Protagonist einen Arbeitsbegriff entwirft, der sich der vita contemplativa annähert. Entsprechend erscheint Dominik durch seine reflektierte Art und seinen Hang zum Sinnieren vielmehr wie ein Philosoph denn wie ein Bürokrat.51 Die melancholische Dimension des Beamtentums Zentrales Thema von Dominik Vogels ‚beamtischer Philosophie‘ ist die „Einheit der Gegensätze“ (HMH 53); er ist „ein passionierter Dialektiker. Die unablässige Suche nach der höheren Einheit aller Gegensätze ist ihm gemäß eigener Aussage Trieb und Schicksal. Für diese Suche ist die Beamtenexistenz die einzig mögliche Daseinsform. Auf anderem beruflichem und privatem Gebiet hätte er sich immer wieder zu Entscheiden gezwungen gesehen, für oder gegen eine Sache und damit gegen oder für ihr Gegenteil.“52 Damit bringt es der Rezensent Thomas Goetz auf den Punkt, und er führt weiter aus: „So wird für Vogel als Erfahrung möglich, was für andere undenk-
48 Hartmut Böhme: „Das Büro als Welt – Die Welt als Büro.“ In: Herbert Lachmeyer (Hg.): Work & Culture. Büro. Inszenierungen von Arbeit. Klagenfurt: Ritter 1998, S. 95-103: 9596. 49 Nikil Saval: Cubed. A Secret History of the Workplace. London u.a.: Doubleday 2014, S. 5. 50 Tatsächlich ist das ‚Hinauszögern‘, das ‚Aufschieben‘ zentraler Bestandteil des Melancholieparadigmas und entstammt der Zuordnung des Saturn zur Melancholie im Zuge der Verbindung von Planeten- und Temperamentenlehre, vgl. Karahasan (2011): Aufenthalt im Spiegel, S. 62. 51 Vgl. Ebel (2000): Beamtentum als geistige Lebensform. 52 Thomas Goetz: „Heiko Michael Hartmann: Unterm Bett.“ In: Entwürfe: Zeitschrift für Literatur 6/23 (2000), S. 149-150: 149. Dominiks dialektisches Denken erschwert sowohl die Textlektüre als auch die Analyse. So bezeichnet die Literaturkritik den Roman sowohl als „Burleske auf die Staatsdiener und ihre Marotten“, derselbe Rezensent erkennt aber auch eine „zärtliche Reflexion über eine kuriose und doch exemplarische Lebenswelt“, Rolf-Bernhard Essig: „Hartmann: Unterm Bett. Staubiges Behördistan.“ In: Wiener Zeitung 19.05.2000. Auf: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell /351125_Hartmann-Unterm-Bett.html, zuletzt gesehen am 13.01.2015.
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bar ist: die Effizienz der Ineffizienz“.53 Die Untätigkeit wird zur Tätigkeit, das Prokrastinieren zur Arbeit.54 Und obwohl auch Dominik der Meinung ist, nur als Beamter seiner Neigung folgen zu können, ist er ebenfalls – ganz im Sinne eines dialektischen Denkens – der Meinung, eigentlich unfähig dafür zu sein: „Niemand, der noch nicht tiefer darüber nachgedacht hat, wird begreifen, warum gerade ein Mensch wie ich, der über die von seinem Beruf verlangten Eigenschaften in solchem Übermaß verfügt, daß sie statt einer äußeren Gabe seine innere Natur darstellen, keine echte Befähigung zu seinem Beruf haben soll. Dabei ist es doch ganz klar. Ein Metzger, um nur irgendein Beispiel zu nehmen, ist kein tauglicher Metzger, wenn ihm das Töten von Schweinen wie die Spiegelung seines seelischen Zustands erscheint. Solche Metzger sind gefährlich – und nicht nur für Schweine.“ (HMH 6)
Dominiks Nicht-befähigt-Sein entspringt nicht etwa einem Zuwenig an Qualifikation resp. Identifikation, sondern einem Zuviel, welches gefährlich zu sein scheint. Worin die Gefahr besteht, lässt der Roman offen. Deutlich wird allerdings Dominiks Gefühl, trotz seiner übermäßigen inneren Befähigung nur aus Zufall an diese Anstellung gekommen zu sein. Die Angst, als unfähig ‚enttarnt‘ zu werden, begleitet ihn entsprechend ständig (vgl. HMH 6). Eine Alternative gibt es nicht, fühlt er sich doch für keinen anderen Job geeignet (vgl. HMH 53) und die Beamtenexistenz ist die einzig denkbare Arbeits- und Lebensform. In den zentralen Begriffen wie ‚Philosophie‘ und vita contemplativa schwingt die Melancholie indirekt mit. Dominik selbst beschreibt sich als völlig von seiner „Gefühlswelt“ (HMH 57) bestimmt. Die Ohnmacht und Hemmnis, die er am Arbeitsplatz in Form mangelnder Entscheidungsmacht erlebt55, gleicht er mit einem Gefühl von innerer Freiheit und Ermächtigung aus (vgl. HMH 120). Die melancholietypische ‚Innerlichkeit‘ ist ihm zu eigen. Sein Denken kreist dabei u.a. um die – ebenfalls
53 Goetz (2000): Heiko Michael Hartmann, S. 150. 54 Hierin spiegelt sich das Nivellieren von Unterschieden, wie es auch dem spätmodernen Arbeitsbegriff, in seiner universalisierten wie entgrenzten Form, oftmals zugeschrieben wird und zu dem Dirk Baecker bemerkt: „Und welche Tätigkeit wäre frei von Arbeit, wenn keine Party ohne Imagearbeit, kein Abendessen ohne Arbeit an der eigenen Identität und an der Identität der anderen und kein Kinobesuch ohne Unterhaltungsarbeit auskommt?“, Dirk Baecker: „Die gesellschaftliche Form der Arbeit.“ In: Ders. (2002): Archäologie der Arbeit, S. 204-245: 222. 55 Wie unschwer zu erkennen ist, fungiert auch für Hartmann Kafka als Referenz-Autor, erscheint doch die Institution in Unterm Bett „irrational, paradox und unproduktiv“ (Stephan Krass: „Das Amt, die Stube, der Staub und der Knecht. Heiko Michael Hartmanns Roman Unterm Bett.“ In: Neue Zürcher Zeitung 06.04.2000, S. 67) zu sein, was wiederum an Kafkas Der Process (1925) erinnert. Vgl. auch Michael Schweizer: „Das Regieren ist bloß eine menschliche Sehnsucht. Beamtensatire, Krankengeschichte und Welttheater: Heiko Michael Hartmanns Behördenroman.“ In: Berliner Zeitung 12.08.2000, k.A. sowie Heinz Ludwig Arnold: „Die Komik der Beamtenschaft. Heiko Michael Hartmann sucht sie vor allem Unterm Bett.“ In: Frankfurter Rundschau 22.03.2000, S. 7.
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melancholische – Kontingenz der Welt.56 Darüber hinaus leidet er unter einem ausgeprägten Gefühl der Sinnlosigkeit: „Zu Beginn, als ich mich über die verrückte Zwecklosigkeit meiner Tätigkeit entweder empört oder darüber gelacht habe, glaubte ich mich zu einem Ausbruch durchaus noch imstande.“ (HMH 7). Doch mit der Zeit stellt sich eine Resignation ein und Dominik zeichnet ein bedrückendes Bild seiner Arbeit. Seine Absage an das Beamtentum ist entsprechend absolut, wenn er sagt, „daß es nirgendwo in der Arbeitswelt entmutigtere Menschen gibt.“ Und er fügt hinzu: „Die Selbstmordrate ist eine der höchsten“ (HMH 8). Dies führt er wiederum zurück auf den vergeblichen Kampf57 gegen die Aktenflut, die ihrerseits wiederum zur einer „aktenbedingte[n] Verkrüppelung des inneren Lebensbaumes“ (HMH 104) führe. Das Leiden wird derart zur Haupttätigkeit der Beamten stilisiert, dass Dominik seine Kollegen nach dem Grad ihres Leids einteilt: „Wenn man schon unbedingt zwischen den einzelnen Beamten unterscheiden will, dann am besten danach, wie sehr sie leiden.“, behauptet er. (HMH 11); und an einer späteren Stelle heißt es: „Selbst der strenge Blick des Vorgesetzten bringt uns manchmal nicht auseinander, nichts verbindet stärker als das Leiden.“ (HMH 99). Der Kontingenz und der Sinnlosigkeit resp. Vergeblichkeit gesellt sich die ‚Leere‘ sowie das ‚Nichts‘ als weitere melancholierende Motive hinzu und zu deren Ort wird Dominiks Büro. Er beschreibt es als eine „Dachstube“ (HMH 11), in die er sich nahezu eremitisch zurückgezogen hat und die von einer „Daseinsleere“ (HMH 9) erfüllt ist, welche seinen inneren Zustand spiegelt.58 Das „Problem des Nichts“ (HMH 11) oder auch das „Grauen des Nichts“ (HMH 30) sind wiederkehrende Formulierungen, die offenbaren, dass es ihm u.a. an eigenen Zielen und Zukunftsträchtigem (vgl. HMH 11, 36) mangelt. Dieses Nichts stellt aber gleichzeitig den Hauptgegenstand des Beamtentums dar, ist es doch seine Aufgabe, es zu ordnen und zu verwalten (vgl. HMH 46-47). Deshalb ist die Arbeit des Beamten auch nicht an ihrem „äußeren Ergebnis“ zu messen, sondern vielmehr an „dem unbegrenzten inneren Kampf“ (HMH 24), der tagtäglich zu führen ist. Das wiederum verdeutlicht, weshalb eine innere Disposition die entscheidende Qualifikation für das Beamtentum ist. „Wenn jemandem das Leben und das Beamtenleben zu etwas Identischem zusammengewachsen sind, hört für ihn beides gewissermaßen auf. Es entsteht, was bei der Vereinigung von Gegensätzen immer entsteht, ein Nichts, aber natürlich nur ein gedachtes, denn in der Wirklichkeit gibt es weder etwas Identisches noch das Nichts.“ (HMH 78), heißt es in einer von Dominiks melancholisch-dialektischen Reflexionen. Leben und Beamtendasein sind folglich nicht zusammen möglich, sprich: als Beamter lässt sich kein authentisches Leben führen. Er fühlt sich entfremdet und infolge dessen beständig vom „Lähmungstod“ (HMH 31) bedroht. Findet sich die Melancholie hier implizit adressiert, so bringt Hartmann sie ganz dezidiert im Kontext einer speziellen Form der Sentimentalität ins Spiel, welche vielleicht nur dem akten-blätternden Beamten zu eigen ist: 56 „Ist das überall bemerkbare Wirken des Zufalls ein Beweis für die Aussichtslosigkeit von Lebensplänen? Die Vorstellung, es hätte alles anders kommen können, erwürgt mich fast.“ (HMH 5). Zum Zufall vgl. auch HMH 79, 202. 57 „Wir, deren innere Kraft so klein geworden ist, daß sie unter einen Fingernagel paßt. Diese ewige Qual des Vergeblichen, jahrhundertelang.“ (HMH 42). 58 Vgl. zur Leere auch HMH 48, 50-51 und zur Einsamkeit HMH 47.
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„Besonders wenn ich das Haar eines vielleicht schon Verstorbenen oder die Brösel einer vor vielen Jahren eingenommenen Brotzeit zwischen den Blättern [einer Akte] finde, legt sich die Melancholie auf mich. Dann höre ich das Klappern des Fahnengestänges oben auf dem Dach und denke daran, daß einstmals auch meine Brösel, die ich oft absichtlich zwischen die Aktenblätter streue, vielleicht von einem jetzt noch nicht Geborenen betrachtet werden.“ (HMH 29)
Sind die gefundenen Brösel und Haare doch nichts anderes als (wenn auch) banale Vermächtnisse pensionierter und vielleicht schon verstorbener Beamter, so handelt es sich hier um eine spezifische Form des Memento mori. Wie schon im Bezug auf seinen Hang zum Prokrastinieren, den Dominik als Voraussetzung für seine berufliche Tätigkeit erkennt, kommt er auch dieses Mal zu dem Schluss, dass seine Melancholie der Beamtenexistenz nicht etwa im Wege stehe, sondern ihn gerade dazu befähige: „Sich seinem Unglück mit Lust hingeben, deshalb bin ich Beamter.“ (HMH 49). Mit der Lust daran erscheint es aber nicht allzu weit her, beschreibt Hartmanns Protagonist doch das Gefühl, in seinem Dienstzimmer, in seiner Beamtenexistenz wie in einem Käfig gefangen zu sein (vgl. HMH 13). Diesmal ist es sein Nachname (Vogel), der als telling name fungiert und den unterdrückten Wunsch nach Befreiung offenlegt. Doch zunächst wählt Dominik den umgekehrten Weg. Gegen die Einsamkeit und die Verzweiflung, welche das Beamtentum mit sich bringt, hat er sich einen „Ort der Heilung und der Einkehr“ (HMH 143) erschaffen: den Platz unterhalb seines Bettes. „Möchte ich das Scheitern der Leidenschaften empfinden, krieche ich lieber unter mein Bett. Von klein auf habe ich das getan. [...] Später, als ich begriff, daß es sich um ein weiterreichendes Phänomen handelt, wurde meine Lust an der dunklen Stille und am Eingezwängtsein sogar noch größer. Siebenundzwanzig Zentimeter sind jetzt für mich genau die richtige Höhe. Der Kopf darf nicht mehr drehbar sein, zumindest sollte bei einer Drehung die Nase schmerzhaft eingedrückt werden. [...] Natürlich ist es eine Qual, bis man an die richtige Stelle gekrochen ist. Doch dann, wenn ich angekommen bin, den Kopf seitlich auflege und weiß, daß ich mich ab jetzt nicht mehr bewegen darf, beginnt etwas Großartiges. Das Gefühl für meinen Körper verläßt mich, auch das Denken hört fast auf, und ich höre nur noch das eigene Horchen. Was? So groß bist du dir, daß du dich an der riesigen Fläche der Ewigkeit mißt? Ja, weil ich spüre, wie sie mich durchschneidet, und weil ich es in der Unwahrheit nicht aushalte.“ (HMH 48)
Es handelt sich hierbei um einen Zustand der Handlungshemmung, der den Protagonisten nicht ereilt, sondern in den er sich aktiv begibt. Ist die Handlungshemmung seit Anbeginn ein zentraler Topos des Melancholie-Paradigmas – welcher Begriffe wie ‚Trägheit‘, ‚Faulheit‘ 59, ‚Nichtstun‘60, ‚Passivität‘61 und auch ‚Nicht-
59 Vgl. dazu Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 16, 22. Ausf. auch Gert Mattenklott: „Faulheit.“ In: Ders.: Blindgänger. Physiognomische Essais. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 43-71, der viele literarische Beispiele anführt, sowie zum Verhältnis von Faulheit und Melancholie vgl. Földényi (1988): Melancholie, S. 203-205. 60 Vgl. dazu Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 14-16 sowie Völker (1975): Langeweile, S. 38-39 und Földényi (1988): Melancholie, S. 204-205. 61 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 11.
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Arbeit‘62 beinhaltet – so erhält sie im Kontext der Spätmoderne eine neue mögliche Ursache: die „Handlungsfurcht“. 63 Diese meint eine Angst vor falschen und/oder irreversiblen Entscheidungen, die auch immer eine Vernichtung von Möglichkeiten beinhalten64, die Angst vor dem Scheitern sowie die Angst vor dem Absturz. Je stärker die eigene Verantwortlichkeit betont wird, desto mehr rücken auch die Konsequenzen des eigenen Handelns in das Blickfeld des Handelnden. In der Depression ist, wie Alain Ehrenberg beschreibt, die melancholische Handlungshemmung in Form eines pathologischen Symptoms anzutreffen, und dieses mit zunehmender Bedeutung: „Angst und Hemmung definieren das Bild der Depression neu“; sie erscheint verstärkt als „eine Pathologie des Handelns.“65 Hierin zeigt sich, dass sich auch Krankheitsbilder in Abhängigkeit zu den Anforderungen der sie umgebenden Gesellschaft konstituieren und transformieren, galt Depression doch zuvor eher als pathogene Traurigkeit, als „Gegenteil der Lebensfreude“. 66 Wird die Depression zunehmend als „Handlungsstörung“ 67 angesehen, also im Kontrast zu einer Aktivitäts- und Vitalitätsnorm definiert, so stellt sich Hartmanns Beamter in ähnlicher Weise gegen diese Norm. Allerdings ist seine Handlungshemmung ein sehr bewusster, in keinster Weise pathologischer Akt; vielmehr handelt es sich um melancholischen Eskapismus. Die Enge unter seinem Bett, welche Dominik bereits als Kind aufsuchte (vgl. HMH 168, 172), gibt ihm beim Nachdenken über die sinnlose wie nichtige Existenz einen Halt. Sie verschafft ihm in seinen uferlosen Grübeleien einen festen Rahmen. Und hier kommt er zu dem Schluss, dass die gefühlte Nichtigkeit an sein Dasein als Beamter geknüpft ist: „Manchmal unterm Bett, besonders an den Wochenenden, werktags nach der Arbeit wäre ich zu müde, frage ich mich, wodurch das Nichts seinen Schrecken verursacht. [...] Alle verachten dich, du verdorrtes Nichts, ein einzelner Beamter, mehr hast du nicht erreicht.“ (HMH 65). In recht ähnlicher Weise hatte Wilhelm Genazino in seiner 1977-1979 erschienenen Romantrilogie Abschaffel seinen, ebenfalls angestellten, Protagonisten behaupten lassen, die Angestellten könnten „den großen und wirklichen und einzigen Grund für ihre Existenz nicht finden“, sei ihre Arbeit doch „[s]purlos[]“68 sowie „entqualifiziert und standardi-
62 Vgl. Jörn Etzold: „Die Arbeit der Spekulation.“ In: Ders./Schäfer (2011): Nicht-Arbeit, S. 106-123: 106, sowie zur Nicht-Arbeit vgl. Fuest (2008): Poetik des Nicht(s)tuns, S. 18-22 und zur Verweigerung vgl. S. 17-18; zur Arbeitslosigkeit vgl. Gisela Dischner: Wörterbuch des Müssiggängers. Basel, Bielefeld: Edition Sirius 2009, S. 17-18. 63 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 13. 64 Vgl. Lambrecht (1994): Melancholie, S. 197-198. 65 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 190, 192, Herv. i.O. Vgl. auch S. 183-184. 66 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 192. 67 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 24. 68 Wilhelm Genazino: Abschaffel. Die Vernichtung der Sorgen, Falsche Jahre. RomanTrilogie. München: dtv 2002 [1977-1979], S. 207, 496. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle WGA und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt.
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siert“69, sprich: entfremdet. Und wie Dominik, der in seinen Reflexionen Abschaffels Überlegungen quasi weiterführt, hat auch Abschaffel längst die Hoffnung aufgegeben, dass sich daran etwas ändern könnte: „Vielleicht hatte er verzweifelt Schluß gemacht mit der ernsthaften Vorstellung, diese Arbeit sei eine wirkliche Antwort auf sein Leben, und sich eingestanden, daß sein Leben wie das Leben der anderen Angestellten ein monströser Unsinn war.“ (WGA 51). Hartmann reagiert mit seiner Strategie der „Einschließung und Verkapselung“, wie Heimburger konstatiert, zum einen auf die Veränderungen der Arbeitswelt, aber auch auf die „Durchregulierung“ des Arbeitslebens, das die „Gefahr des Abstumpfens“ mit sich bringt. 70 Ein anderes Mal aber heißt es bei Hartmann: „Still, starr und glücklich liege ich unterm Bett und gebe mich dem rätselhaften Strudel meines Beamtendaseins hin.“ (HMH 128). Auch unterm Bett bleibt Dominiks Dialektik bestimmendes Moment. Er leidet unter der Beamtenexistenz, erlebt er sie doch als entfremdet, ohnmächtig, sinnund ziellos, einsam und langweilig; er genießt sie aber auch, denn nur sie bietet ihm den Ort für seinen Hang zum Prokrastinieren und zum Nicht-Entscheiden. Dennoch spielt Dominik die Möglichkeit einer Veränderung durch71, und auch der Roman tut dies in seinem letzten Drittel: Dominik wird, überraschend, als Begleitung des Vizeamtsleiters für eine Reise zum Weltwirtschaftsforum nach Japan ausgewählt (vgl. HMH 186-222). Und obwohl er in Tokio – der Hauptstadt der „Leistungswillig[keit]“ (HMH 195) – beruflich scheitert (vgl. HMH 212-213), scheint er als freierer Mensch aus diesem ‚Abenteuer‘ zurückzukehren.72 Eine wirklich grundlegende Veränderung ist dennoch nicht zu erwarten, ist doch für Dominik das Beamtendasein eine „ununterbrochene Denk-, Hör- und Tastsituation“ (HMH 18), die schwerlich zu verändern ist. Sein Leben, da ist sich der Protagonist sicher, bleibt auch weiterhin der Kontingenz verpflichtet: „‚Lebensplan!‘ wiederholte ich, vielleicht aus Trotz.“, heißt es im letzten Absatz entsprechend (HMH 222). Die conditio humana am Beispiel der Amtsstube Als Hauptthema seines Romans nennt Hartmann selbst „das Phänomen der Angst in einer Welt der Sicherheit.“73 Und er schlägt die Brücke zwischen Beamtenwelt und gesamtgesellschaftlicher Realität, wenn er schreibt, das Beamtentum sei eine „Berufswelt, in der das Leben so sicher ist wie nirgends sonst, in der aber das Handeln und Empfinden so vieler von Angst und Depression bestimmt wird. Der Beamte wurde mir zur Metapher für Menschen, die – wie viele Deutsche – in einer Welt historisch nie gekannter Sicherheit leben, und dennoch von ihrer Angst zerrieben erscheinen.“ (HMH 140). Unterm Bett ist damit nicht nur ein Roman über die Melancholie des Beamten Dominik Vogel; es handelt sich demnach auch um
69 Marion Heister: ‚Winzige Katastrophen‘. Eine Untersuchung der Schreibweise von Angestelltenromanen. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1989, S. 160. 70 Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 93-94. 71 Diese wird, ganz ähnlich wie bei Pletzingers Protagonist Mandelkern, durch eine Häufung des Konjunktivs betont, die gleichzeitig die Passivität des Protagonisten hervorhebt (vgl. HMH 79). 72 Vgl. Goetz (2000): Heiko Michael Hartmann, S. 150. 73 Hartmann (2008): Literaturen und Juristen, S. 140.
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die literarische Abbildung der German Angst, kondensiert in der Figur des Beamten.74 Neben der Inszenierung dieses ‚mentalitätsspezifischen‘ Phänomens beinhaltet der Roman aber auch eine Absage an die hysterische Aktivität der Leistungsgesellschaft: „Wozu diese Hast, wenn ohnehin niemand jemals irgendwo ankommen wird? Aber es ist wohl auch gar keine Hast, sondern nur ein selbstvergessener Zustand.“ (HMH 38), lautet Dominiks Meinung dazu. Seine Strategie gegen diese beschleunigte Gesellschaft ist zunächst die beamtische vita contemplativa und, da diese noch nicht auszureichen scheint, die Entschleunigung bis zum Stillstand unter seinem Bett. Der Roman gelangt hierbei auf eine symbolische Ebene, auf der das Amt und die Protagonisten für eine Welt einstehen, in der es „weder Sinn noch Unsinn gibt, dafür aber nimmermüden Betrieb“.75 Da Dominik aus der Außenperspektive des melancholischen Beobachters auf das Geschehen blickt, erspürt er dies und eröffnet dem Leser seine „kafkaeske Sicht der menschlichen Aufgeregtheit: je engagierter die Bemühung, desto komischer das zwangsläufige Scheitern.“ 76 Hartmann thematisiert in seinem kurzen Roman mit ‚Sicherheit und Freiheit‘ sowie ‚Authentizität und Entfremdung‘ Spektren, zwischen denen sich Arbeitsrealitäten u.a. entfalten. Das von ihm geschilderte Beamtentum wird darüber hinaus recht spezifisch zu einem (Arbeits-)Ort der Melancholie. Die Arbeit des Protagonisten ist nicht etwa ein Mittel gegen seine melancholische Disposition, sondern vielmehr Dreh- und Angelpunkt seiner Melancholie. Das Amt mit seinen starren Strukturen und seinen klaren Hierarchien wird für Dominik zum Refugium einer beamtischen vita contemplativa. In seiner eremitischen Dachstube kann er seine melancholischen Reflexionen ausleben; gleichzeitig melancholiert ihn seine Arbeit aber auch, wobei sich die literarische Auseinandersetzung nicht vorrangig, etwa in einem sozialhistorisch-zeitkritischen Sinne, dem Wandel der Arbeitswelt widmet. Vielmehr bildet Hartmann in seiner Beschreibung des Arbeitsortes ‚Amt‘, quasi in nuce, die Absurditäten, Sinnlosigkeiten und auch Kontingenzen ab, welche eine existentialistische Weltbetrachtung zu Tage fördert. Die Melancholie des Beamten wird somit zur Melancholie der conditio humana.
74 Zu diesem auch German Disease genannten Phänomen, das in den englischsprachigen Ländern eine spezifisch ‚deutsche‘ Art der Mutlosigkeit, des Pessimismus bezeichnet vgl. ausf. Sabine Bode: Die deutsche Krankheit – German Angst. Stuttgart: Klett-Cotta 2006. Womöglich handelt es sich dabei um die Folgen nicht vollständig aufgearbeiteter Kriegs- und Nachkriegserfahrungen, vgl. Bode (2006): Die deutsche Krankheit, S. 22, 25. Vgl. auch Richard Herzinger: „German Angst.“ In: Kursbuch 159/3 (2005): „Angst“, S. 12-21. 75 Schweizer (2000): Das Regieren ist bloß eine menschliche Sehnsucht. 76 Schweizer (2000): Das Regieren ist bloß eine menschliche Sehnsucht.
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3.1.3 Melancholie des Abschieds in Ralf Rothmanns Junges Licht (2004) Here is the night, | The night has begun; And here is your death | In the heart of your son. Leonard Cohen/Here It Is (2001) Yeh, this one’s for the workers who toil night and day By hand and by brain to earn your pay […] In the factories and mills, in the shipyards and mines We’ve often been told to keep up with the times For our skills are not needed, they’ve streamlined the job And with sliderule and stopwatch our pride they have robbed We’re the first ones to starve the first ones to die The first ones in line for that pie-in-the-sky And always the last when the cream is shared out For the worker is working when the fat cat’s about. Dropkick Murphys/Worker’s Song (2003)
Ein scheinbar nostalgischer Rückblick steht auch im Zentrum von Ralf Rothmanns Roman Junges Licht (2004), zum einen in die Kindheit des adoleszenten Protagonisten, zum anderen in die vergangene Arbeitsrealität des Ruhrgebiets. Hierbei wird die Arbeit im Kohlebergbau der 1960er Jahre beschrieben, von welcher sich der Leser am Ende ebenso verabschiedet wie der kindlich-jugendliche Protagonist von den melancholischen Bildern seiner zukünftigen Vergangenheit. Ralf Rothmann selbst wurde 1953 geboren und wuchs in Oberhausen auf. Neben Junges Licht spielen auch seine früheren Romane Milch und Kohle (2000), Wäldernacht (1994) und Stier (1991) im Arbeitermilieu des Ruhrgebiets der 1950er bis 1970er Jahre. Und auch wenn die literaturwissenschaftliche Forschung zu Rothmann bisher recht überschaubar ist – eine Feststellung, die sich für die ‚Literatur des Ruhrgebiets‘ im Allgemeinen treffen lässt77, da diese immer noch zu sehr mit dem Topos des „ästhetisch [M]inderwertigen“78 behaftet scheint –, so überschlägt sich die Literaturkritik hingegen geradezu vor Lob. Sie erkennt in Rothmann einen „Klassiker der deutschen
77 Vgl. Jan-Pieter Barbian u. Hanneliese Palm: „Zur Einführung.“ In: Dies. (Hg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur. Essen: Klartext 2009, S. 7-14: 11. Der Begriff der ‚Ruhrgebietsliteratur‘ ist hier als Bezeichnung der Literatur aus dem und über das Ruhrgebiet zu verstehen. 78 Thomas Ernst: „Von der ‚Heimat‘ zur Hybridität. Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literaturwissenschaft.“ In: Barbian/Palm (2009): Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur, S. 17-36: 18.
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Gegenwartsliteratur“79 oder zählt ihn zu den „bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren“.80 Es verwundert nicht, dass in fast allen Rezensionen das Prädikat der ‚Ruhrgebietsliteratur‘ auftaucht, wenn auch nicht immer affirmativ, spielen doch vier von Rothmanns sieben Romanen in eben jener Region Deutschlands. Der Autor selbst ist es, der sich vehement gegen diese Etikettierung ausspricht, womöglich, um der zu kurz greifenden Subsumierung unter dem Begriff der „Regionalliteratur“81 zu entgehen. Eine weitere Zuordnung, der sich Rothmann erwehrt, ist die zu der sogenannten ‚Literatur der Arbeitswelt‘, obwohl genau diese Arbeitswelt sich entweder indirekt in dem von ihm beschriebenen Milieu manifestiert82 oder auch direkt thematisiert wird. „Außerdem kam ich ja aus der Arbeitswelt und wollte die nicht besingen, sondern überwinden“83, ist des Autors Kernaussage dazu, welche es noch näher zu betrachten gilt. Bemerkenswert ist dennoch die Konsequenz, mit welcher er – erzählerisch – immer wieder in das Revier und das entsprechende Milieu zurückkehrt und dabei wiederholt das Ende der Kindheit und die beginnende Jugend zum Thema seiner Texte macht.84 So stellt es sich auch in Junges Licht dar, dessen Sujet Hubert Spiegel in seiner Rezension folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Es ist das Ende der Kindheit, jene flimmernde, sich scheinbar endlos dehnende Phase des Übergangs, die doch im Handumdrehn vorüber ist.“85 Der Roman wird aus der Perspektive des 12jährigen Julian Collien erzählt; ein gewisses Maß an kindlicher Naivität sowie seine „ruhige Genauigkeit“86 prägen den Stil des Buches. Im Unterschied zu Milch und Kohle, 79 Hubert Spiegel: „Junges Licht mit zarten Krallen. Ralf Rothmanns neuer Roman als Vorabdruck in der FAZ.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.07.2004, S. 37. 80 Thomas Laux: „Jede Menge Verlierer im Land der Zechen. Sittengemälde und Epochenroman: Ralf Rothmann versteht die prollige Dekadenz einer Kindheit im Kohlenpott der sechziger Jahre.“ In: Frankfurter Rundschau 13.10.2004, S. 16. 81 Dieter Heimböckel: „Umbildungsarbeiten am Mythos. Ralf Rothmanns Archäologie(n) des Ruhrgebiets.“ In: Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität. Heidelberg: Synchron 2008, S. 121-135: 122 sowie vgl. den gesamten Aufsatz zum Spannungsverhältnis Rothmanns zu einer solchen Zuordnung. Zur Kategorie der Ruhrgebietsliteratur vgl. den Band von Konrad Ehlich, Wilhelm Elmer u. Rainer Noltenius (Hg.): Sprache und Literatur an der Ruhr. Essen: Klartext 21997, insb. die Beiträge von Rainer Noltenius und Dirk Hallenberger. 82 Vgl. Gisela Ecker: „Milieu und Melancholie. Ralf Rothmanns fotografische Stillleben in Junges Licht.“ In: Dies./Lillge (2011): Kulturen der Arbeit, S. 14-31: 16. 83 Ralf Rothmann im Gespräch mit Klaus Nüchtern: „Die Lyrik des Bergbaus. Ralf Rothmanns Junges Licht erzählt unsentimental von einer Kindheit im Ruhrpott und setzt einer verlorenen Generation ein Denkmal.“ In: Der Falter 26.11.2004, S. 72-73: 72. 84 Vgl. Verena Auffermann: „Unangemeldeter Besuch. Der Erzähler Ralf Rothmann. Eine Lobrede von Verena Auffermann.“ In: Hubert Winkels (Hg.): Ralf Rothmann trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und seine Folgen. Göttingen: Wallstein 2005, S. 149-162: 152. 85 Spiegel (2004): Junges Licht mit zarten Krallen. 86 Burkhard Müller: „Der erbarmungswürdige Feinripp. Ach diese Mütter der Sechziger Jahre, gereizte Ritterinnen in Rüstungen aus Synthetik! Ralf Rothmann erzählt vom späten
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Wäldernacht und Stier vollzieht sich das Erzählen diesmal nicht retrospektiv und ohne distanzierende Rahmenhandlung.87 Der Leser wird so direkter und unmittelbarer in das Milieu des Romans hineingeführt: eine Arbeiterfamilie in OberhausenSterkrade, zwei Kinder, der Vater arbeitet im Bergbau, die Mutter ist Hausfrau und erscheint in Julians sensiblem Blick als kalte, wohl unglückliche Person. Sie leidet unter starken Gallenproblemen, ist Kettenraucherin und nimmt für ihre Kleider und Schuhe scheinbar die Verschuldung der Familie in Kauf. 88 Auf ihren Sohn reagiert sie kaum und wenn dann forsch; der Imperativ ist hierbei der vorherrschende Modus (vgl. u.a. RR 25). Wiederholt wird er Opfer ihrer körperlichen Züchtigungen (vgl. u.a. RR 26-27). Die Rollenverteilung innerhalb der Familie Collien spaltet sich, wie für die Zeit üblich, in eine den Haushalt führende Mutter und einen die Familie ernährenden Vater.89 Mit seiner Verortung in der Mitte der 1960er Jahre spielt der Roman in einer Zeit, die zum einen von der Konsumwelle der 1950er Jahre geprägt ist, in der aber zum anderen vor allem im Ruhrgebiet, aufgrund der sich abzeichnenden Krise des Ruhrbergbaus, die ökonomischen Verhältnisse zunehmend schwieriger wurden. 90 All dieses bildet Junges Licht ab, auch wenn der Text nur wenige Wochen der Sommerferien umfasst. Werden diese hauptsächlich aus Julians Sicht beschrieben, so wechselt in sechs Abschnitten die Perspektive und es wird in der 3. Person von einem Bergarbeiter ‚Unter Tage‘ berichtet, dessen Identität hingegen unklar bleibt. 91
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Sommer einer Kindheit im Kohlenpott.“ In: Süddeutsche Zeitung Literatur Nr. 231, 05.10.2004, S. 29. Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 16, deren Ausführungen ich in diesem Kapitel folge. Vgl. Ralf Rothmann: Junges Licht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, u.a. S. 13-14. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle RR und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Vgl. Johanna Rolshoven: „Die Küche, das unbekannte Wesen. Eine Einleitung.“ In: Klaus Spechtenhauser (Hg.): Die Küche. Lebenswelt – Nutzung – Perspektive. Basel, Berlin, Bonn: Birkhäuser 2006, S. 9-15: 12. Vgl. Heinz Hoffacker u. Jürgen Reulecke: „Mythos Ruhrgebiet – Wandlungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Selbstverständnis.“ In: Sigrid Schneider (Hg.): Als der Himmel blau wurde. Bilder aus den 60er Jahren. Bottrop, Essen: Pomp 1998, S. 59-65: 60. Einige Rezensenten meinen in ihm Julians Vater zur erkennen. Das dem Roman vorangestellte Zitat Leonard Cohens „Here is the night, | The night has begun; | And here is your death | In the heart of your son.“ (RR 5) könnte diese Annahme stützen, kommt der Bergmann doch am Ende des Romans bei einem Grubenunglück vermutlich ums Leben. Das Zitat lässt sich hingegen auch weniger inhaltlich als vielmehr existentiell deuten, wie es Holger Zaborowski tut, wenn er schreibt: „Der Vater stirbt im Sohne, das alte Licht verlischt im neuen, jungen Licht, Kinder sind nicht Fortsetzung oder zeitliche Verlängerung ihrer Eltern [...], sondern sie stehen in eigenem Licht [...]. [D]as junge Licht“. Holger Zaborowski: „Junges Licht – altes Dunkel, oder: von Erfahrung und Entdeckung der Freiheit. Zu Ralf Rothmanns Roman Junges Licht.“ In: Internationale katholische Zeitschrift Communio 35/5 (2006), S. 518-524: 522.
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Das Sujet der Arbeit findet im Roman deshalb auf zweierlei Art statt: Zum einen wird es indirekt in der „transformierte[n] Form des Milieus“ 92 thematisiert, wie Gisela Ecker herausstellt. Oder anders gewendet: Das durch Julians registrierenden Blick erfasste Lebensumfeld verortet ihn explizit in einem sozialen Milieu, welches durch die berufliche Tätigkeit des Vaters determiniert ist.93 Es ist von „Arbeitsrhythmen, […] (engen) Wohnverhältnisse[n], Konsumverhalten, Kleidungs- und Wohnstile[n] und Nachbarschaftsbeziehungen“94 bestimmt. Durch das Leben in der Bergarbeitersiedlung – in der „jeder Bergmann“ (RR 141) ist, so Julians Vater – ist die Arbeit dauerhaft präsent und erweist dadurch ihren Einfluss in alle Bereiche des Lebens, etwa, wenn Julian in einer Kiesgrube spielt, die von früheren Grabungen zeugt (vgl. RR 135-136), oder wenn Julian durch die Balkontür „[w]eit entfernt, in der Senke hinter den Feldern, […] de[n] Güterzug“ rumpeln hört, „der die Zechen und Kokereien miteinander“ verbindet (RR 127-128). Die Arbeit im Bergbau bildet also den Hintergrund und das ‚Koordinatensystem‘ von Julians Leben und formt somit das Milieu, in dem dieses stattfindet. Zum anderen wird Arbeit aber auch ganz konkret ‚im Vollzug‘ beschrieben. In den sechs kurzen, die Arbeit eines Bergarbeiters beschreibenden Szenen wird der Leser ganz direkt an eine längst nahezu ausgestorbene Arbeitswelt herangeführt. Dabei stehen die Szenen Unter Tage sowohl in einem bewussten Kontrast zu den hellen Bildern von der Oberfläche95 als auch zu „Julians sommerlichem Nichtstun.“96 Zwar erscheint die Arbeit dabei als „mühselige und gefährliche“ Tätigkeit, ihr wird aber auch eine deutlich „poetische“ Dimension zugeschrieben.97 In melancholischer Einsamkeit arbeitet 92
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Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 16. Milieu definiert Ecker als „Verbindung von Lebenswelt, von gruppenspezifischen moralischen Einstellungen und sozialen Existenzbedinungen.“ Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 15-16. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 16. Vgl. Nüchtern (2004): Die Lyrik des Bergbaus, S. 72. Vgl. Beat Mazenauer: „Vielleicht der letzte Kindheitssommer.“ In: Der Bund 04.12.2004, S. 7. Nüchtern (2004): Die Lyrik des Bergbaus, S. 72. Detlev J. K. Peukert beschreibt in seinem Aufsatz entsprechend den „Bergknappenmythos“, demzufolge die Arbeit des Bergmanns lange Zeit als die traditionelle wie handwerkliche Arbeit galt: „Der traditions- und seelenlosen, entwurzelten Industriearbeit wurde der angeblich traditionsverbundene Bergknappe mit seinem der gefahrvollen Sonderstellung innegewordenen Berufsbewußtsein und seiner dem Bauern nahekommenden Erdverbundenheit gegenübergestellt.“ (Detlev J. K. Peukert: „Industrialisierung des Bewusstseins? Arbeitserfahrung von Ruhrbergleuten im 20. Jahrhundert.“ In: Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 92-119: 92-93). Vor allem in der Literatur der Romantik lassen sich solche idealisierten Darstellungen finden, wie etwa in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Die Bergwerke zu Falun“, in der ein alter Bergmann sagt, dass sich wohl kaum eine Arbeit „edler gestalte als die Arbeit des Bergmanns, dessen Wissenschaft, dessen unverdrossenem Fleiß die Natur ihre geheimsten Schatzkammern erschließt“ (E.T.A. Hoffmann: „Die Bergwerke zu Falun.“ In: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 4: „Die Serapionsbrüder“. Hg. v. Wulf Segebrecht u. Hartmut Steinecke. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 [1819], S. 208-241: 215). Der Arbeitsort
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der Bergmann vor sich hin, an einem Ort, der, so der Roman, „[s]tiller als über den Wolken“ (RR 7) ist, wobei sich Licht und Dunkelheit, Schwarz und Weiß, Stille und Lärm, gute und schlechte ‚Wetter‘ abwechseln (vgl. u.a. RR 124-125, 228). Seine Arbeit beginnt vor dem Start der Frühschicht und endet, so beschreibt es der Roman, erst nach dem Feierabend der Kollegen (vgl. RR 7, 124); er agiert folglich abseits des eigentlichen ‚Treibens‘ Unter Tage und dringt dabei immer weiter in den Berg vor („knapp tausend Meter unter der Erde“, RR 124, vgl. RR 151). Seine Aufgabe dabei ist es, einen Verbindungsgang zwischen zwei Wetterschächten zu sprengen und zu sichern (vgl. RR 45-48), und obwohl der Gang hinter ihm sukzessive einstürzt und die Bedingungen immer bedrohlicher werden, geht er seinen Weg weiter, der ihn in eine ‚archaischere‘ Zeit zurückführt (vgl. RR 152-153). Das einzige Geräusch dort unten sind seine hallenden Schritte, über die es heißt: „Manchmal klang es, als käme er sich entgegen“ (RR 8) – eine Feststellung, der das zyklische sowie das labyrinthische Moment der Melancholie inhärent ist. Neben diesen literarisierten Schilderungen erweist sich der Bergbau auch aufgrund seiner eigenen Sprache als Sphäre mit poetischem wie ästhetischem Potential. Die Fachtermini wie „Gezähekiste“ (RR 7), „Arschleder“ (RR 8), „Gedingelage“ (RR 66-67) und „Spundbohlen“ (RR 151) entwickeln einen nahezu „lyrischen Eigenwert“98, welcher sich darin begründet, dass ihr Referenzgegenstand zum Teil im Unklaren bleibt. „Genau wie die fossilen Abdrücke aus dem Karbon, auf die die Bergleute manchmal bei der Arbeit stoßen, drohen sie [die Fachtermini] zu Staub zu zerfallen, wenn man ihnen mit Hammer und Fäustel zu nahe rückt.“ 99 Hatte Max von der Grün seinem Roman Männer in zweifacher Nacht (1964) ein Glossar beigefügt100, das u.a. eben jene zuvor genannten Begriffe umfasst, so erscheinen sie bei Rothmann als mystische Sprachrelikte. Der Text wird so zu einem „Museum“ 101 der Zechenarbeit und ihres Vokabulars. Und die Arbeit wird über die Sprache zu einem „hermetischen Bezirk mit einer ganz eigenen Würde. Eine Literatur der Arbeitswelt, die mehr an Novalis als an die im Unterhemd geschriebene Kumpel-Prosa der siebzi-
der Bergleute wird entsprechend als eine Welt von glitzernden Kristallen, geheimen Gängen, mythischen Erlebnissen und „unterirdischen Wundern“ (S. 215) beschrieben. Es ist aber auch ein Ort der Schaurigkeit und des Todes. Die Bergleute selbst erscheinen als „schöne[], stattliche[] Leute mit […] freien freundlichen Gesichtern“, S. 222. 98 Rothmann im Gespräch mit Nüchtern (2004): Die Lyrik des Bergbaus, S. 72. Vgl. dazu auch Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 17. Ausf. zum Vokabular der Bergleute vgl. Roland Treese: „Bergmännische Fachsprache – zu ihrer Entstehung und zu ihrem Weiterleben.“ sowie Wilhelm Elmer: „Die Terminologie des Bergbaus im sozialen Kontext – eine Herausforderung für die Linguistik.“ Beide in: Ehlich/Elmer/Noltenius (1997): Sprache und Literatur an der Ruhr, S. 77-81 und 83-96. 99 Kolja Mensing: „Es ist ein Riß in der Welt. Unter Tage: Ralf Rothmann bringt Licht in den Stollen.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.09.2004, S. 44. 100 Vgl. Max von der Grün: Männer in zweifacher Nacht. Recklinghausen: Paulus 21963 [1962], S. 192-194. 101 Jörg Magenau: „Ein letztes Mal Kind. Die Suche nach der verlorenen Zeit: Ralf Rothmanns neuer Ruhrgebietsroman Junges Licht.“ In: Die Tageszeitung 21.08.2004, S. VI.
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ger Jahre erinnert.“102 Die Förderung der hier als ‚Kumpel-Prosa‘ bezeichneten ‚Literatur der Arbeitswelt‘, in deren Nachfolge Rothmann so häufig gestellt wird, war ein erklärtes Ziel der Dortmunder „Gruppe 61“, welche sich auf die Arbeiterliteratur der Weimarer Republik bezog und die ihre Nachfolge im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ fand.103 Am Beginn dieser Schriftstellervereinigungen stand das gefühlte Defizit an literarischen Arbeitsbeschreibungen, das es aufzuheben galt.104 Max von der Grüns ‚Arbeiterliteratur‘ Zu einem der erfolgreichsten Autoren der „Gruppe 61“ gehörte Max von der Grün, der es zu seinem erklärten Ziel machte, die Konflikte der Arbeitswelt anzusprechen und darüber zu einer „Aufklärung über die Arbeitswelt“105 zu gelangen. In seinen Texten thematisiert er u.a. die Schattenseiten des Wirtschaftswunders (vgl. Männer in zweifacher Nacht, 1962 und Irrlicht und Feuer, 1963)106, beschreibt die Arbeit und das Elend der Bergleute, den Abstieg des Bergbaus 107 sowie die Tristesse der Arbeitersiedlungen.108 In seinem Roman Zwei Briefe an Pospischiel (1968)109 widmet er sich anschaulich der Unfreiheit der Arbeiter.110 Der Protagonist dieses Romans arbeitet in der Warte eines Dortmunder Kraftwerks als angeblicher „Spezialist“, dessen Arbeit aber, aufgrund der fortschreitenden Automatisierung, nur aus ermüdendem Reagieren auf die blinkenden Knöpfe und Manometer des Schaltpultes besteht (MG 102 Wolfgang Schneider: „Von Quallen und Qualen. Junges Licht – Ralf Rothmanns Roman einer Jugend.“ In: Neue Zürcher Zeitung 10.06.2004, S. 33. 103 Zur Berufung der Nachkriegsautoren auf die Arbeiterliteratur der Weimarer Republik vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann: „Arbeiterliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. Einführung.“ sowie Ludger Claßen: „Konjunkturen und Konflikte. Die Literatur der Arbeitswelt im Ruhrgebiet seit 1945.“ Beide in: Kift/Palm (2007): Arbeit – Kultur – Identität, S. 99-101: 100 und S. 103-114: 111. Zur „Gruppe 61“ versammelt der Band von Ute Gerhard u. Hanneliese Palm (Hg.): Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61. Essen: Klartext 2012 aktuelle Forschung. Ausf. zum „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ hat Kyu-Hee Cho gearbeitet: Zum literarischen Konzept des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Realismus und Arbeiterliteratur. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2000. Im Kontext der Arbeiterliteratur beschränke ich mich in diesem Kapitel auf diejenige der BRD. 104 Vgl. Claßen (2007): Konjunkturen und Konflikte, S. 103. 105 Claßen (2007): Konjunkturen und Konflikte, S. 103. 106 Vgl. Grün (1963): Männer in zweifacher Nacht und Ders.: Irrlicht und Feuer. Recklinghausen: Paulus 1963, vgl. dazu Claßen (2007): Konjunkturen und Konflikte, S. 106-107. 107 So zum Beispiel in seiner Erzählung „Am Tresen gehn die Lichter aus.“ In: Max von der Grün: Am Tresen gehn die Lichter aus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974 [1972], S. 47-65. 108 Vgl. Max von der Grün: „Wenn der Abend kommt.“ In: Ders. (1974): Am Tresen gehn die Lichter aus, S. 47-56. 109 Vgl. Max von der Grün: Zwei Briefe an Pospischiel. Frankfurt/M.: dtv 1995 [1968]. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle MG und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 110 Vgl. das Vorwort von Heinz Ludwig Arnold in: Grün (1995): Zwei Briefe an Pospischiel, S. 1.
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210 und vgl. 49-53, 62). Das Individuum braucht es zu dieser „arbeitslosen Arbeit“ eigentlich nicht, wie Pospischiel selbst konstatiert (MG 215 und vgl. 17). Deutlich kritisiert er damit zwar die unfreien Verhältnisse dieser angeblich hochqualifizierten Tätigkeit (vgl. MG 211-212); trotzdem legt er paradox erscheinende Machtphantasien an den Tag, welche mit dem Verlangen nach – wenn auch simulierter – Nützlichkeit korrelieren (vgl. MG 53-55). Dies ist seine Strategie, dem Defizit an Sinnhaftigkeit entgegenzuwirken, welches ihn im Angesicht seiner Arbeit ereilt. Jean Baudrillard vertritt in seinem Buch Der symbolische Tausch und der Tod (1976) eine ähnliche Position, wenn er die Entwicklung von einer (angeblich) sinnhaften zu einer simulierten Arbeit beschreibt. In Folge der technischen Innovationen und auch der ökonomischen Krisen sieht Baudrillard ab den 1970er Jahren das „Zeitalter der Simulation“111 heraufziehen; dieses zeichne sich zuallererst dadurch aus, dass nun die „tote“, also die maschinelle, gegenüber der „lebendigen“, menschlichen Arbeit überwiege.112 Die hohe Arbeitslosigkeit habe zur Folge, dass Arbeit nun selbst zu einem „Produkt“113 werde; außer sich selbst produziere die Arbeit hingegen nichts mehr: „Die Arbeit ist nicht mehr produktiv, sie ist zur Reproduktion der Arbeitsanweisung geworden, zur allgemeinen Umgangsform einer Gesellschaft, die nicht mehr weiß, ob sie produzieren will oder nicht.“114 Arbeit werde so zu einem „Zeichen“, zu einem „Modell sozialer Simulation“, das der Sozialisierung der Individuen diene, und damit auch deren Überwachung: „Die Arbeit […] ergreift das ganze Leben als fundamentale Repression, als Kontrolle, als permanente Beschäftigung an festgelegten Orten und zu festgelegten Zeiten, nach einem allgegenwärtigen Code. Die Menschen müssen überall fixiert werden, in der Schule, in der Fabrik, am Strand, vor dem Fernseher oder in der beruflichen Weiterbildung“.115 Diese Art der selbstreferentiellen, simulierten Arbeit bezeichnet Baudrillard als „Dienst“, über den er schreibt: „Arbeit als Dienst –: nicht im feudalistischen Sinn, denn die Arbeit hat die Bedeutung der Verpflichtung und der Gegenseitigkeit, die sie im feudalistischen Zusammenhang besaß, verloren, sondern in dem Sinn, wie ihn Marx versteht: im Dienst ist die Leistung vom Leistenden nicht trennbar. [...] Umkippen aller Arbeit in den Dienst – die Arbeit als schlichte Anwesenheit auf der Stelle, als Verbrauch von Zeit, Ableistung von Zeit. Arbeit ‚bekunden‘, wie man Anwesenheit bekundet, wie man seine Untertänigkeit bekundet. In diesem Sinne ist die Leistung tatsächlich vom Leistenden nicht trennbar. Der geleistete Dienst ist die Bindung des Körpers, von Zeit, Raum und grauer Materie. Ob das produziert oder nicht, ist gleichgültig im Hinblick auf diese persönliche Registrierung. Der Mehrwert macht sich offensichtlich aus dem Staub, und der Lohn nimmt eine andere Bedeutung an, […]. Dies ist keine ,Regression‘ des Kapitals 111 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. München: Matthes & Seitz 1982 [1976], S. 20. Die vorhergehenden Zeitalter benennt Baudrillard als die der „Imitation“ und der „Produktion“, S. 79, Herv. i.O. 112 Baudrillard (1982): Der symbolische Tausch und der Tod, S. 31. 113 Kramer (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 199-120. Kramer nennt die mittlerweile eingestellten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Beispiel. 114 Baudrillard (1982): Der symbolische Tausch und der Tod, S. 24, Herv. i.O. 115 Baudrillard (1982): Der symbolische Tausch und der Tod, S. 22, Herv. i.O., 24-25, 28.
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zum Feudalismus, dies ist der Übergang zur realen Beherrschung, d.h. zur totalen Erfassung und Inbeschlagnahme der Personen. Dahin tendieren alle Anstrengungen, die Arbeit zu „retotalisieren“: sie laufen darauf hinaus, aus der Arbeit einen totalen Dienst zu machen, dem sich der Dienstleistende immer weniger entziehen kann, in den er sich immer mehr persönlich verstrickt. In diesem Sinn unterscheidet sich die Arbeit nicht mehr von anderen Praktiken, und insbesondere nicht von ihrem Gegenteil, der Freizeit, die heute gleichfalls eine Dienstleistung ist, weil sie die gleiche Mobilisierung, die gleiche Investition (oder den gleichen Investitionsausfall im produktiven Sinn) voraussetzt […].“116
Baudrillard hat hier eine Entwicklung im Blick, die eine entgrenzte, auf den ganzen Menschen zielende und Unterschiede nivellierende Arbeit zur Folge hat. Besonders den Aspekt der ‚ganzheitlichen‘ Adressierung des Subjekts sieht Baudrillard als problematisch an: „Dazu tendiert die ganze gegenwärtige Strategie, die sich um die Arbeit dreht: Vervielfältigung der Jobs, gleitende Arbeitszeit, größere Beweglichkeit, permanente Umschulung und Weiterbildung, Autonomie, Autogestion, Dezentralisierung des Arbeitsprozesses, bis hin zur kalifornischen Utopie der ins Wohnzimmer gelieferten Bildschirmarbeit. Man reißt euch nicht mehr barbarisch aus eurem Leben heraus, um euch der Maschine auszuliefern – man integriert euch mitsamt eurer Kindheit, euren Ticks, euren menschlichen Beziehungen, euren unbewußten Trieben, und selbst mit eurer Arbeitsverweigerung – man wird schon einen Platz mit alldem für euch finden, einen persönlichen Job, oder, wenn nicht, so doch eine Arbeitslosenunterstützung, die nach eurer persönlichen Gleichung berechnet ist – jedenfalls wird man euch nie mehr verlassen […].“117
Bereits 1976 hat Baudrillard damit ein Bild (vor)gezeichnet, das in den folgenden Jahrzehnten zahlreich bestätigt werden sollte. Auch in Max von der Grüns Zwei Briefe an Pospischiel erscheint der Protagonist als Ausführender einer ‚entleerten‘, ‚entsinnlichten‘ sowie „entmaterialisierten“ Arbeit im Sinne Baudrillards, die eine „neuartige Tätigkeit des Wartens“, einen „aktiv-passiv-neutral[en]“ Zustand darstellt.118 Wie leicht er deshalb zu ersetzen ist, muss Pospischiel erfahren, als er seiner Arbeitsstätte drei Tage unentschuldigt fernbleibt, um seiner Mutter den Gefallen zu tun, den Mann aufzusuchen, der im Zweiten Weltkrieg seinen Vater denunziert hat. Das Resultat ist seine Entlassung, die sich selbst vorgegaukelte Unersetzbarkeit erweist sich als Trugschluss (vgl. MG 194-195). Als Begründung dient der Verwaltung das Argument, für die Firmeninteressen sei die Vergangenheit (in diesem Fall der Zweite Weltkrieg) irrelevant; es zähle nur die Zukunft (vgl. MG 221) – womit sie im Sinne des kapitalistischen Fortschrittsprimats agiert. Das Kündigungsschreiben macht aus Pospischiel innerhalb von Sekunden einen Fremden in einem vormals vertrauten Umfeld (vgl. MG 206-210); als Arbeitsloser wird er zum umherirrenden Ortlosen (vgl. MG 235). Am Ende des Romans erhält er zwar seine alte Stelle wieder, allerdings als Neuanstellung zu ‚Anfängerkonditionen‘, 116 Baudrillard (1982): Der symbolische Tausch und der Tod, S. 33-34, Herv. i.O. 117 Baudrillard (1982): Der symbolische Tausch und der Tod, S. 28. 118 Kramer (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 103, 122 und vgl. S. 117.
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was einer Erpressung durch die als allmächtig beschriebene Verwaltung gleichkommt (vgl. MG 240-241). Hierzu vermerkt Pospischiel: „Das also war unsere Freiheit, ist sie, war sie immer. Das Fatale an der Geschichte ist, daß wir tatsächlich glaubten, frei zu sein. Dabei haben wir nur Bewegungsfreiheit, und auch die ist an den Verdienst gebunden. [...] Es hatte lange gedauert, bis ich begriff, was Freiheit für uns Arbeiter heute ist, und ich begann die einstigen Sklaven von Rom zu beneiden: sie wußten immerhin noch, wer ihre Käufer und Verkäufer waren, wußten, wer sie schlug. Hier und heute war auch das ausgeschaltet, der Kauf erfolgte auf hektographiertem Papier, die Schläge teilte ein Apparat mit.“ (MG 243-244)
Was der Erzähler des Romans hier anspricht, deckt sich mit aktuellen Befunden in Bezug auf die für das spätmoderne Arbeitsverständnis so zentrale ‚Flexibilität‘, deren neue Freiheit nur vordergründiger Natur ist und die nach und nach ihre oftmals als negativ wahrgenommenen Folgen für das Individuum erweist. 119 Deutlich lässt sich im Resümee des Erzählers von Männer in zweifacher Nacht Hegels Dialektik von Herr und Knecht wiedererkennen120, deren hierarchisches Verhältnis in industrialisierten Arbeitsumständen derart abstrahiert ist, dass eine Gegenwehr von Seiten des Knechtes nahezu unmöglich erscheint. Ähnlich endet auch der fünf Jahre später publizierte Roman Stellenweise Glatteis (1973), in dem Max von der Grün sich einem Überwachungsskandal in einem Dortmunder Industriegasebetrieb widmet.121 Er beschreibt die mangelnde Solidarität der Arbeiter, die schließlich zur Kündigung desjenigen führt, der gegen die Überwachung angegangen ist. Zwar erhält auch dieser am Ende eine neue Anstellung, eine allgemeine Unzufriedenheit ob der ‚schiefen‘ Verhältnisse bleibt dennoch. Auch hier geht es, wie in Zwei Briefe an Pospischiel, nicht um die Geschichte eines einzelnen Arbeiters, sondern darum, anhand dieser Geschichte eine grundsätzliche Schieflage zu beschreiben, und trotz vermeintlich hoffnungsvoller Ausgänge überwiegt, im Sinne einer sozialrealistischen Darstellung, die Kritik. Einen solchen Impetus kann man Rothmann auf den ersten Blick nicht zuschreiben. Die Literaturkritik erkennt in seinen Arbeitsszenen zwar u.a. „ein kleines Denkmal“ für die Bergarbeiter oder auch 119 Vgl. dazu u.a. Richard Sennett: „Arbeit und soziale Inklusion.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 431-446: 433 sowie Füllsack (2009): Arbeit, S. 101-104. Jörg Flecker unterteilt in (1.) „Organisatorische Flexibilität“, wie u.a. „Timeto-market“-Produktion, (2.) flexiblen „Personaleinsatz[]“, worunter er flexible Arbeitszeiten, den Einsatz von Leiharbeitern sowie kurzfristige Beschäftigungsformen fasst, (3.) Formen der arbeitsrechtlichen Deregulierung und (4.) „Flexibilität als Anforderung an die Arbeitskraft“, im Sinne von Mobilität und flexibler Spezialisierung, Jörg Flecker: „‚Sachzwang Flexibilisierung‘? Unternehmensreorganisation und flexible Beschäftigungsformen.“ In: Heiner Minssen (Hg.): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit. Berlin: Edition Sigma 2000, S. 269-291: 269-270, Herv. i.O. Zur Popularität sowie Zentralität des Flexibilitätsbegriffs sowie zu dessen grundlegender Ambivalenz vgl. Lillge (2016): Arbeit, S. 265-267. 120 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M. 1973 [1807], S. 145-155. 121 Vgl. Max von der Grün: Stellenweise Glatteis. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 21973.
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eine „völlig unsentimentale Würdigung der Arbeit“, 122 worin sich zeigt, dass Rothmann, anders als selbst verkündet, die Arbeitswelt doch nicht in dem gedachten resp. angestrebten Maß überwunden zu haben scheint – zumindest nicht in seinen Texten. Sein Ansatz ist dennoch ein anderer als der von Max von der Grün. Es geht ihm nicht um eine möglichst realistische Schilderung der Arbeitswelt, vielmehr bildet er in ihr geradezu metaphorisch universellere Themen ab. So „erscheint“, wie der Rezensent Hubert Spiegel schreibt, „die Welt der Stollen und Flöze tausend Meter unter der Oberfläche [...] nicht als Ort dreckiger Maloche, sondern als Stätte des Mysteriums und der Poesie.“123 So poetisch der Arbeitsraum auf der einen Seite beschrieben wird, so bedrohlich und auch bedroht erscheint er auf der anderen.124 Der Schacht verfällt zusehends, überall zeigen sich Risse, und der Bergmann steht bis zum Nabel im Wasser, welches bereits auf seinen vermeintlichen Tod hindeutet (vgl. RR 153, 229, 152). Diese gefährlichen Risse Unter Tage finden ihre Entsprechung in der Welt ‚Über Tage‘. 125 Subtil weist zerbrochenes Geschirr im Hausstand der Colliens auf größere Verwerfungen hin, wie körperliche Misshandlung, Ehebruch und Pädophilie (vgl. u.a. RR 11). Und so ist es nur folgerichtig, dass am Ende nicht nur der Stollen einstürzt, sondern auch Julians wenig heile Familienwelt. Von dem Unglück im Schacht, das nur mit wenigen Worten beschrieben wird126, ist in der Welt ‚oben‘, anders als vom Vater angekündigt127, nur ein leises Klirren zu hören: „Gläser klirren gegeneinander, ganz kurz nur, als wäre jemand gegen die Vitrine gestoßen, und wir lauschten, ob wir einen Laster auf der Straße hörten. Es blieb aber still.“ (RR 233).
122 Nüchtern (2004): Die Lyrik des Bergbaus, S. 72. 123 Spiegel (2004): Junges Licht mit zarten Krallen. Im Roman heißt es etwa über den Schacht: „Über ihm, zwischen handbreiten Klüften, hing eine vier Meter lange Sandsteinplatte durch, und aus einem Riß tröpfelte Wasser in dünnen Fäden herab. Wie Perlschnüre glitzerten sie im Schein seiner Lampe“ (RR 8). Und an einer späteren Stelle: „Wo immer er hinblickte, es funkelte im Schein seiner Kopflampe, und manchmal gleißte es so weiß, daß er die Augen zusammenkniff. Als wüchse hier Licht, junges Licht in winzigen Kristallen.“ (RR 228). 124 „Langsam drehte er sich um. [...] Die Sandsteindecke über ihm, schräg wie ein Dach, bewegte sich nicht, der Riß war unverändert. Doch das Wasser setzte plötzlich aus, das Rieseln verstummte – wenn auch kaum länger als ein, zwei Herzschläge lang. Und ging dann unverändert weiter.“ (RR 9). Vgl. auch RR 70, wo Julians Vater von den Gefahren seiner Arbeit berichtet. 125 Vgl. dazu Hubert Winkels: „Lust und Leere – über Ralf Rothmann.“ In: Ders.: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 57-69: 66-67. 126 „Du hörst ihn nicht, den Stein, der dich trifft. [...] Der Helm kollert dir voraus, sein Lampenglas zerbricht, das Licht glimmt einen Augenblick nach in dem Salz. Und dann ist es dunkel.“ (RR 236). 127 „Dann wackeln hier die Gläser im Schrank.“ (RR 71).
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Rothmanns milieugesättigte Melancholie Das dem Roman zugrundeliegende Thema, die „Loslösung und die Schwierigkeit des Erinnerns“128, ist ein fundamental melancholisches. Potentiert wird es durch die Tristesse des beschriebenen Milieus und die mystisch wie rätselhaft anmutenden Arbeitsszenen. Anders als bei Poschmann handelt es sich hierbei nicht um eine zersetzende, wütende Melancholie; vielmehr ist es eine „leise Melancholie des Abschieds, des Abschiednehmen-Müssens von einer vergangenen, einer unschuldigen, aber noch nicht in vollem Sinne freien Welt, der unbeschwerten Welt der Kindheit“.129 Am deutlichsten generiert sich diese Melancholie im ‚Auge‘ und in der Haltung Julians, dessen besonderer Blick die Sprache des Romans prägt (resp. vice versa), eine Sprache des ‚fotografischen Blicks‘, der die Melancholie immer schon in sich trägt. Ecker beschreibt diese wie folgt: „Das sprachlich erzeugte fotografische Bild arretiert das äußere Handeln zugunsten eines kontemplativen Moments – für Julian ist es ein Moment der duldenden Betrachtung, für den Leser ein Moment des beredten Stillstands – in dem hinter der Bewegungslosigkeit eine dichte emotionale Aktivität und Intensität der Wahrnehmung steckt. Dies ist ein Gestus der Melancholie: Die Pose und Position scheint inaktiv, ist jedoch unsichtbar aktiv“. 130 Sie erkennt in Letzterem wiederum eine Analogie zur Haltung der Melencolia. Zwar kann Julian noch nicht in Worte fassen, was ihn beschäftigt – so bezeichnet er seine Tränen an einer Stelle als „Wasser“, das ihm „in die Augen“ steigt (RR 130). Seine Art und Weise, auf die Dinge in seinem Umfeld zu blicken ist dafür umso vielsagender und macht seine Befindlichkeit „auf implizite Weise lesbar“. 131 Die Sprache folgt dabei einem „fotografischen Dispositiv“, wie Ecker herausstellt; Julians Blick isoliert Objekte und stellt sie, einer Kamera gleich, in den Fokus.132 „Aufeinander bezogen zeichnen“ sie „eine kleine wiedererkennbare Milieuskizze“.133 Eine dieser quasi-fotografischen Blicke Julians registriert folgende Szenerie: „Das Radio war nicht eingeschaltet, und in der Küche lagen zwar Kartoffeln, ein Stück Rama und ein Block Spinat in einer Wasserlache auf der Anrichte; doch im Herd nur Asche. Kein Laut. Auch im Schlafzimmer niemand, die Tagesdecke lag 128 Magenau (2004): Ein letztes Mal Kind. 129 Zaborowksi (2006): Junges Licht – altes Dunkel, S. 521. Zwei deutliche Referenzen auf die Begriffsgeschichte der Melancholie enthält Junges Licht in der Figur des alten Pomrehn, der wie folgt beschrieben wird: „[D]er alte Pomrehn saß auf der Bank. Er hatte sich die Haare mit Wasser zurückgekämmt und trug ein weißes Hemd und eine Anzughose, aber keine Schuhe. Mit einem Fuß kraulte er den Hund, der vor ihm auf dem Boden lag, im Nacken. […] Die Ellenbogen auf den Knien, verschränkte er die Hände, starrte vor sich hin. Das weiße Hemd mußte lange im Schrank gelegen haben, die Knickstellen auf dem Rücken waren vergilbt.“ (RR 97-98 und vgl. RR 50-56). Ein weiterer Melancholiemarker ist der hinkende Hund Zorro, der zeitweilig ein treuer Begleiter Julians ist (vgl. RR 49, 97-99). 130 Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 24 und ausf. S. 18-24. Zum spezifischen Zusammenhang von Melancholie und Fotografie vgl. S. 24-25. 131 Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 15. 132 Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 16, vgl. S. 18. 133 Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 20.
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ordentlich auf dem Bett, der Blechwecker tickte. Eine einzelne Fliege lief über die Fransen der Lampe […].“ (RR 83-84). Und wenig später heißt es: „Das Bett war zerwühlt, und auf dem Boden lag ein Modekatalog von Klingel. Am Schrank am Waschbecken und sogar an der Lampe hingen Kleiderbügel, alle leer.“ (RR 88). Es sind Bilder der Abwesenheit, die hier vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Es ist kein Mensch zu sehen, und doch scheint es, als hätte er oder sie soeben erst die Bildfläche verlassen.134 Seine Präsenz liegt noch ‚in der Luft‘, die Objekte – wie zum Beispiel der Block Spinat – warten auf eine Rückkehr. Das Subjekt der in diesen „fotografische[n] Stillleben“135 zum Ausdruck gebrachten Abwesenheit ist zumeist Julians Mutter, und in ihnen formuliert sich damit indirekt ein gefühlter Mangel innerhalb der wenig herzlichen Mutter-Sohn-Beziehung. Enthält das vermeintliche Gallen-Leiden der Mutter, welches neurasthenische sowie hypochondrische Züge trägt (vgl. RR 85-87, 93), durchaus einen Hinweis auf eine melancholische Verfassung, so kommt dem Stillleben ebenso auf formaler Ebene die Funktion eines Melancholiemarkers zu. Wagner-Egelhaaf hat diese „Melancholie des Stilllebens“136 ausführlich beschrieben und dabei gezeigt, wie die Abbildungstradition des Stilllebens auf vielerlei Ebenen auf jener der Melancholie basiert bzw. mit ihr verwoben ist. Hat das gemalte Stillleben bereits eine Affinität für Dinge in ihrer Unvollkommenheit, an denen der ‚Zahn‘ der Zeit nagt und die Zeichen des Verfalls zeigen, und weist damit einen engen Bezug zur Vanitas-Motivik auf, die ihrerseits in einem wechselseitigen Zusammenhang mit der Melancholie steht 137, so ergibt sich aus der, von Ecker vollzogenen, Verbindung von Stillleben und fotografischem Blick eine potentierte Melancholie, beschreiben doch Roland Barthes und Susan Sontag die Fotografie als melancholisches Medium.138 Diese Melancholie des Blicks auf die eigene, dem Ende entgegengehende Kindheit ist dabei keineswegs als sentimentale Nostalgie misszuverstehen; vielmehr wird hier, so Ecker im Sinne des Freud’schen Melancholiekonzeptes, ein bisher noch unbewusster Verlust markiert, der nicht direkter formuliert werden kann.139 Der hierfür zentrale Aspekt der Vergänglickeit wird ebenfalls in Arbeitsszenen Unter Tage beschrieben, auch wenn dabei das Memento mori im Vordergrund steht. 134 Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 21. 135 Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 15. Diese kurzen Schilderungen sind nicht als rein realistisch oder sachlich misszuverstehen; so konstatiert Ecker, sie stehen in der Abbildungstradition der Dingfotografie, welche ihrerseits zwischen „Sachfotografie und Kunstfotografie korrespondier[t]“ und auf die „Bildkonventionen“ des Stilllebens zurückverweist, Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 20. 136 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 79. 137 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 81, 85, 90-92 sowie vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 22. 138 Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 25 sowie ausf. Susan Sontag: On Photography. New York, NY: Farrar, Straus and Giroux 1977, S. 49-82 und zum Wesen der Melancholie vor dem Hintergrund von Erinnerung, Tod und Trauer vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014 [1980], S. 24, 41,79-82, 85-99. Zum Zusammenhang von Fotografie und Stillleben vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 86-87. 139 Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 25.
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Dieses kulminiert in einer Szene, in der der Bergmann bei seinen Grabungen auf einen fossilen Vogel stößt: „In die noch unberührte, schwarzglänzende Schicht hatte sich ein Skelett eingedrückt, ein Vogel wohl, nicht größer als eine Kinderhand und mit einem verdrehten Flügel. Statt eines Schnabels hatte das Wesen jedoch einen spitz zulaufenden Kiefer, der sich so deutlich abzeichnete auf dem schwarzen Grund, daß man die winzigen Zähnchen erkannte, jedenfalls einen Augenblick lang. Doch dann löste der Sauerstoff alles auf, die feinen Linien verschwammen vor den Augen des Mannes, was ihn momentlang schwindelig machte, und als er auch den anderen Handschuh abstreifte – er schlackerte ihn weg – und über die Reste des Bildes fuhr, zerfiel es zu Staub. Doch einen Moment lang hatte er etwas von der Kontur gefühlt, den zarten Krallen, und einen leisen Schreck bekommen – ähnlich dem, der einen durchfährt, wenn man mit den Fingerspitzen über die Rückseite eines Briefes streicht und dabei noch die Hand, ihren Druck, eines längst Verstorbenen fühlt.“ (RR 47-48)
Der Vogel steht dabei u.a. für die vergehende Zeit, für das Zu-Staub-Zerfallen von allem und jedem, aber auch für das Eingeschlossene, zunächst nicht Sichtbare. 140 Vielleicht gar für das Verdrängte, als Folge melancholischer Arbeit in einer inneren Krypta Inkorporierte, welches nicht, ohne dass Schaden genommen wird, freigelegt werden kann. Gegen dieses Memento mori wird angearbeitet, heißt es über den Bergmann doch nüchtern weiter: „Er band sich das Halstuch vor den Mund, arretierte den Meißel im Hammer und räumte die zwei Kubikmeter weg, die ihm noch zum Durchbruch fehlten.“ (RR 48). Die Arbeit erhält hier eine doppelte Dimension: Zum einen ist sie, auf der oberflächlichen Ebene gesehen, ein Versuch des Menschen, gegen die eigene Vergänglichkeit anzugehen, sich ihr zu erwehren oder sie zumindest auszublenden. Zum anderen ist der Bergmann aber auch Arbeiter auf einer universelleren, tieferen Ebene; seine Arbeit steht metaphorisch für die Arbeit der Zeit, der Erinnerung, des Unbewussten. In den Arbeitszenen bewahrt und überwindet Rothmann die Arbeitswelt gleichzeitig. Er bewahrt sie in einem musealen Sinn, indem er sie – mitsamt dem dazugehörigen Milieu – detailreich beschreibt und die spezifische Sprache der Bergleute erhält; er überwindet sie zum einen durch den bewussten Verzicht auf direkte Referentialität, indem er die Sprache fremd und mystisch erscheinen lässt, zum anderen durch die metaphorische Dimension, die er der Arbeit Unter Tage zuschreibt. Sowohl in Bezug auf Julian als auch auf die Arbeit des Bergmanns zeigt sich dem Leser eine Welt, „die es längst nicht mehr gibt und die es vielleicht selbst nur in Form mythischer Erzählungen gegeben hat.“ 141 Rothmann bewahrt in Junges Licht folglich Bilder einer Arbeitsrealität auf, die vom VergessenWerden bedroht ist; er markiert aber gleichzeitig die Konstruiertheit solcher Bilder
140 Zu dieser Textstelle siehe auch Ursula März zu Rothmanns Interesse an „dem Schauspiel der morphologischen Veränderung der Dinge, das sich in Verflüssigung und Pulverisierung besonders gut darstellt. Ein Kosmos des Werdens und Vergehens“, allerdings ohne die sonst so literaturtypische „Zerrissenheit“, Ursula März: „Laudatio.“ In: Ralf Rothmann: Vollkommene Stille. Rede zur Verleihung des Max Frisch-Preises am 1. Oktober 2006 in Zürich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 7-19: 13-14, 17. 141 Heimböckel (2008): Umbildungsarbeiten am Mythos, S. 123.
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und Erinnerungen142, und an dieser Stelle beweist sich die spezifische Qualität einer bewusst eingesetzten Melancholie. Dieser Punkt verdeutlicht sich mit Blick auf die Verbindung von Arbeit und Melancholie in zwei – wenn auch nur unter diversen Vorbehalten – vergleichbaren Romanen: in Anna Seghers 1937 erschienenem Text Die Rettung, der ebenfalls das Milieu des Bergbaus sowie ein Grubenunglück beschreibt, und Allan Sillitoes Saturday Night and Sunday Morning (1958), der anhand des Protagonisten die englische working class abbildet. Arbeit und Melancholie bei Anna Seghers, Allan Sillitoe und Ralf Rothmann Im Zentrum von Anna Seghers Roman steht die Arbeitslosigkeit des Protagonisten in Folge eines Unfalls Unter Tage, welche unter den Betroffenen zu melancholischen Zuständen führt. Die Arbeit wird dabei zum einen als anstrebenswertes Gut dargestellt – verständlicherweise, war Erwerbslosigkeit in den krisenhaften Zeiten der Weimarer Republik doch gleichbedeutend mit Armut und Elend –, zum anderen spricht sich der Text aber auch gegen die Idealisierung von Arbeit aus, wie sie etwa Seghers Zeitgenosse Ernst Jünger propagierte. Der erzählerische Fokus fällt auf den Bergmann Andreas Bentsch, der große Schwierigkeiten hat, sich mit seiner neuen ‚Nutzlosigkeit‘ abzufinden. Neben einem Gefühl von Verlorenheit 143 finden sich zahlreiche weitere Melancholiemarker, wie Bentschs tödliche „Schläfrigkeit“ (AS 102) oder auch seine „bleiernde Müdigkeit“ (AS 465) 144, Schlaflosigkeit (vgl. AS 158), der Wunsch nach Einsamkeit (vgl. AS 114), ein verändertes Zeitbewusstsein (vgl. AS 104)145, Todesgedanken (mit gerade einmal 40 Jahren, vgl. AS 114), und eine grundlegende Passivität, die er sich mit der Schuldzuweisung an das Schicksal legitimiert (vgl. AS 135, 413, 341). Er ‚streunt‘ draußen herum, um seiner Familie aus dem Weg zu gehen (vgl. AS 252), worin sich die Scham des ehemaligen Familienernährers manifestiert, und er selbst stellt sich wiederholt die Frage nach seiner eigenen Existenzberechtigung in der Erwerbslosigkeit (vgl. AS 168). Die Errichtung einer eigentlich ‚nutzlosen‘ Streichholz-Kapelle (vgl. AS 129-130) macht ihn zu einem Zerrbild des homo faber, denn zum einen zerstört er sie nach ihrer Fertigstellung146, zum anderen handelt es sich um eine ‚arbiträre‘ Tätigkeit, sei es doch besser, so Bentsch, eine schlechte Aufgabe zu haben als 142 Vgl. Ecker (2011): Milieu und Melancholie, S. 26 und Heimböckel (2008): Umbildungsarbeiten am Mythos, S. 123-124. 143 Vgl. Anna Seghers: Die Rettung. Berlin-Ost: Luchterhand 1955 [1937], S. 88-89, 169. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle AS und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 144 „Bentsch war auf einmal so müde wie noch nie im Leben, nach keinerlei Arbeit.“ (AS 164). 145 „Er setzte sich fast erschöpft auf den nächsten Stuhl mitten in der Küche. [...] [E]in unablässiges, gegenstandsloses, unbestimmtes Abwarten [...]. Schließlich ist’s ganz egal, womit man sich die Zwischenzeit vertreibt, bis... – Bis, welches bis? Zwischenzeit – wo zwischen?“ (AS 101-102). 146 Dieser Akt geschieht ganz im Sinne Cassians, der berichtet, Paulus habe sich die Acedia durch das Flechten von Körben vom Leibe gehalten, die er anschließend eigenhändig verbrannte, vgl. Cassian (1981): Aus den Institutionen, X, 24.
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keine, womit er die Arbeit auf eine anthropologische wie ontologische Ebene hebt: „Nichts ist so furchtbar als solche Menschen, die an gar nichts mehr glauben und ihr Leben nicht mehr aushalten. [...] Da ist es dann doch viel besser, wenn man gelernt hat, daß das Leben eine Aufgabe ist, und man muß sie machen, ob man Spaß daran hat oder keinen.“ (AS 412-413). Im Rückblick beginnt Bentsch die harte Tätigkeit ‚Unter Tage‘ zu idealisieren und kommt irgendwann an den Punkt, an dem er denkt, es wäre besser gewesen, bei dem Grubenunglück zu sterben – besser ein toter Arbeiter als ein lebender Arbeitsloser (vgl. AS 219, 295). Am Ende des Romans, vor seinem Entschluss, seine Familie zu verlassen und in den politischen Untergrund zu gehen, ist der einstige ‚Arbeitsheld‘ zu einem gebrochenen und verwahrlosten Mann heruntergekommen: „So etwas Graues, Zerrupftes, so etwas Altes, Schlaksiges“ (AS 394). Die Melancholie, welche hier durchaus depressive Züge trägt und in ihrer Psychogenese deutliche Parallelen zu den Ergebnissen der vielzitierten Marienthal-Studie zeigt147, erscheint folglich, wie so häufig in ihrer Begriffsgeschichte, als Gegenteil der Arbeit, als Begleiterscheinung von Arbeitslosigkeit. Etwas deutlicher wird die Referenz zu ihrer Begriffsgeschichte noch bei einem ehemaligen Kollegen Bentschs, Sadovski, über den es heißt, er sei „vergiftet von Langeweile“ und „es hat ihn wieder“ (AS 312, Herv. N.V.). Dieses ‚es‘ scheint nichts anderes als eine Art der melancholia canina zu sein, wird doch an späterer Stelle über Sadovski behauptet: „Er hatte nämlich vorige Woche das Tier gehabt“ (AS 474). Eine ganz ähnliche Darstellung im Sinne einer oppositionellen Gegenüberstellung findet sich bei Alan Sillitoe. Sein Protagonist Arthur Seaton entstammt ebenfalls dem Arbeitermilieu und ist als Akkordarbeiter an der Drehbank einer Fahrradfabrik tätig. Seine monotone Tätigkeit erlaubt es ihm, immer wieder die Gedanken kreisen zu lassen, worin sich zeigt, dass er als Person nicht voll und ganz in den Arbeitsablauf involviert ist: „The minute you stepped out of the factory gates you thought no more about your work. But the funniest thing was neither did you think about work when you were standing at your machine. [...] [G]radually your actions became automatic [...]. You went off into pipe-dreams for the rest of the day.“ 148 Viel mehr als über seine Arbeit denkt er über seine Freizeit nach, auf die er eine hedonistische Fixierung besitzt. Ein jäher Bruch in diesem von ihm mit Leichtigkeit gemeisterten Kreislauf von Arbeitstagen und Wochenenden entsteht jedoch, nachdem er von einem gehörnten Ehemann brutal zusammengeschlagen wird. Infolge dessen ist er einige Tage bettlägerig und wird von einer Melancholie ‚befallen‘: „He didn’t much care whether he lived or died. [...] He stared at the pink-washed bedroom wall above the fireplace, plagued by crowding and inexpressible thought, thinking that he was going mad. He heard the rattle of plates and cups from downstairs, the dull thumping of factory turbines at the end of the terrace, people walking the street, children playing under 147 Vgl. Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld u. Hans Zeisel (Hg.): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009 [1933]. 148 Alan Sillitoe: Saturday Night and Sunday Morning. London, New York, NY: W. H. Allan 1973 [1958], S. 37-38. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle AST und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.
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lamp-posts [...] – but they had no meaning and he only vaguely noticed the combined pandemonium rolling over the black cloud of his melancholy. He told himself that he would be able to go back to work soon, to the pub again in the evening, to the pictures [...] – but nothing could drag him out of the half-sleep in which he lay buried for three days. [...] He knew it was no use fighting against the cold weight of his nameless malady, or asking how it came about.“ (AST 180-181)
Anders als Bentsch befreit sich Seaton – der hier in ähnlicher Weise wie Rothmanns Julian durch die Beschreibung der wohnlichen Gegebenheiten in einem Arbeitermilieu verortet wird – jedoch erstaunlich schnell von dieser Melancholie und beginnt sein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Sein vorübergehendes Leiden an der ‚nameless malady‘ bleibt eine kurze Episode, die, im Gegensatz zur Situation bei Bentsch, keine große Veränderung nach sich zieht. Stellen Seghers und Sillitoes ‚Arbeitstexte‘ die Melancholie folglich als das Gegenteil der Arbeit und der Betriebsamkeit resp. als Folge von Arbeitslosigkeit dar, nämlich in ihrer wohlbekannten Gestalt der gehemmten Aktivität, der Passivität und depressiven Apathie, so geriert es sich bei Rothmann anders. Bei ihm finden sich Arbeit und Melancholie auf spezifische Weise miteinander verbunden. Die Arbeit des Bergmanns selbst erscheint melancholisch und diese Melancholie entspringt in erster Linie der metaphorischen Dimension, die ihr zugeschrieben wird. Insofern hat Rothmann die ‚Arbeitswelt‘ letztlich doch überwunden, denn Aspekte wie Identifikation mit oder der drohende Verlust von Arbeit spielen keine Rolle mehr. Die traditionelle Arbeit wird zu einem Relikt der Vergangenheit, auf welches nur bedingt ‚nostalgisch‘ zurückgeschaut werden kann, handelt es sich doch um eine Realität, die zum einen vergangen und somit unwiederbringlich ist, in Anbetracht derer der Wunsch nach erneuter Aktualität womöglich auch gar nicht besteht. So nimmt Julians Vater seine Arbeits- und Lebensrealität zwar hin und sieht sich recht pragmatisch in der Verpflichtung als Familienernährer (vgl. RR 168); er offenbart dennoch einen nostalgischen Rückbezug auf seine frühere, agrarisch-vorindustrielle Tätigkeit auf dem Land (vgl. RR 180-184, 187-191). Darüber hinaus zeugt Junges Licht auch von neueren Entwicklungen, stellt doch die Generation nach Julians Eltern, hier in Person der Nachbarstochter Marusha, bereits höhere Anforderungen an ihre zukünftige Arbeit.149 Gegenüber Julian, der die Möglichkeit, ebenfalls Bergmann zu werden, durchaus nicht ausschließt, da diese Arbeit von seinem Vater selbst als nicht erstrebenswert dargestellt wird (vgl. RR 76). Der spätmoderne Zugang zur Arbeit als Selbstverwirklichung jenseits pragmatischer Erwägungen deutet sich an.
149 „Ich versteh überhaupt nicht, wie man so was machen kann. Das muß doch ungesund sein, oder?“ (RR 168).
Gegenwartsliterarische Narrative
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DER MELANCHOLISCHE ‚DRIFT‘
3.2.1 Marion Poschmanns arbeitslose Melencolia: Hundenovelle (2008) Happiness hit her like a train on a track Coming towards her stuck still no turning back She hid around corners and she hid under beds […] || The dog days are over | The dog days are done The horses are coming | So you better run Florence + the Machine/Dog Days Are Over (2009) Wo sind nur all die Idioten hin? | Spinner und Chaoten Die Hinterzimmer Hintersinner, | Die angsterfüllten Niegewinner […] || Die marginalisierten, die von denen man schon seit Ewigkeiten nichts mehr gehört hat, was nicht weiter gestört hat | Zu spät aufgestanden, zu früh ins Bett gegangen, zu lang nachgedacht, zu kurz gesprungen – weg, Spuren || Den letzten beißen die Hunde | Aber wer bittesehr beißt den letzten Hund? Die Türen/Leben oder Streben (2012)
Wie Gustafssons Narration eines melancholischen Fliesenlegers entspannt sich auch Marion Poschmanns 2008 erschienene Hundenovelle rund um eine ‚unerhörte Begebenheit‘. Auf der Handlungsebene wird die Geschichte einer arbeitslos gewordenen Frau beschrieben, ohne Namen und unbestimmten Alters, die in Folge ihrer Kündigung zunehmend die Bindung an die ‚reale‘ Welt verliert, deren letzter Bezugspunkt ein zugelaufener Hund ist und die sich letztlich in einen Zustand scheinbar vollständiger Ich-Auflösung manövriert. Die von Benjamin in der Allegorie erkannten ‚Requisiten des Bedeutens‘150 hingegen ‚entheben‘ die Narration ihrer realistischen Ebene und führen zu einer Lesart, die als allegorisch zu bezeichnen ist. In erster Linie handelt es sich dabei um die Referenz auf Albrecht Dürers Meisterstich Melencolia I, das Motiv des Melancholie-Hundes sowie die flirrende Hitze der Hundstage. Aus der profanen Arbeitslosen wird so eine neuzeitliche Melencolia, aus dem Hund ein Todesbote, und das Ende der Novelle erscheint als ein ‚Unwahrnehmbar-Werden‘ im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari.
150 Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 152. Vgl. auch S. 68, Fn. 3.
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Zur Melancholie der arbeitsgesellschaftlichen Exklusion Die Hundenovelle nimmt, ganz im Sinne der Allegorie des 20. Jahrhunderts151, eine deutlich kritische Positionierung ein, wobei die ‚animalische‘ Spezifik auffällig ist, die in Lynette Hunters Allegorie-Definition wie folgt beschrieben wird: „On the whole it is taken as a mode of writing about what is impossible to know or impossible to articulate: God, Love, Truth, the animal, the not-human.“152 Die Novelle lotet demnach die Grenzen der Menschlichkeit und speziell deren Limitation innerhalb der Arbeitsgesellschaft aus, und kritisiert damit implizit bestehende Machtsysteme und Werthaltungen.153 Marion Poschmann hatte bereits in ihrem Schwarzweißroman (2005) den „Untergang von Individualität im Zeitalter des Kollektivismus“ 154 zum Thema gemacht; diese Problematik verhandelt sie auch in der Hundenovelle, mit der Spezifik, dass dem Leser ein einflussreicher ‚Kollektivismus‘ der arbeitsgesellschaftlichen Norm sowie Mehrheit präsentiert wird, der keine anderen Lebensentwürfe zulässt, und dies in Zeiten des vermeintlichen Individualismus. Noch deutlicher als Gustafsson bezieht Poschmann diesen kritischen Standpunkt über den bewussten Einsatz melancholischer Topoi.155 So beginnt der Text mit einer quasi-Ekphrasis von Dürers Meisterstich: „Ich saß auf den Eingangsstufen einer verrammelten Baracke. Die Betontreppe strahlte die Wärme des Tages ab, es dämmerte. Unter den Baumkronen kreiste die erste Fledermaus. Ihr Zackenflug. Sie stieß in die schwarzen Kastanien, blitzte wieder hervor. [...] Ihr Surren in meinem Kopf. Sonst war es still. Die Baracke schwerfällig, ein Flachbau, der zu anderen Zeiten Werkskiosk oder Kindergarten gewesen sein mochte. Jetzt waren die Fenster mit Brettern vernagelt, die Wände graffitibesprüht. [...] Abrißreste, aus denen das Skelett verrosteter Stahlträger starrte, Versteinerungen, denen die Sprengung nichts hatte anhaben können. [...] Hier lagen 10-Zoll-Nägel, rollte eine schmutzige Spritze auf den Stufen, im Gras verrotteten alte Werkzeuge, Säge, Hammer, Hobel, als hätte jemand seine Arbeit nur kurz unterbrechen wollen, aber dann war diese Unterbrechung angewachsen, das Gelände in einen dauernden Dämmerzustand gefallen. Sollbruchstelle, die nachgab, durch die jahrelang Sand rann. Zeit verging mit einem kratzenden Geräusch. Ich hielt meinen Kopf auf die geballte Faust gestützt und starrte 151 Zur kritischen Dimension der Allegorie ab dem späten 20. Jahrhundert vgl. Copeland/ Struck (2010): Introduction, S. 10. 152 Lynette Hunter: „Allegory Happens: Allegory and the Arts Post-1960.“ In: Copeland/ Struck (2010): The Cambridge Companion to Allegory, S. 266-280: 268. 153 Vgl. Hunter (2010): Allegory Happens, S. 268. 154 Michael Braun: „Das kleine Rasenstück und die Natur in der Kunst. Kleine Lobrede auf Marion Poschmann.“ (Laudatio zur Verleihung des Förderpreises zum Droste-Preis der Stadt Meersburg). In: die horen 51/4 (2006), S. 181-184: 184. 155 Die Rezensentin Jutta Person vermerkt hierzu: „Solche Melancholie-Zeichen platziert Marion Poschmann so subtil und sprachgewaltig, dass man die Novelle auch als philosophisches Bilderrätsel lesen kann. Von der Temperamentenlehre über Albrecht Dürer bis zu Walter Benjamin ist alles untergebracht, was die Jahrhunderte über den Melancholiker gespeichert haben: ein sowohl träger als auch zorniger Charakter, künstlerisch hochsensibel bei gleichzeitiger Hingabe an den Verfall der Welt.“ Jutta Person: „Die Melancholikerin am anderen Ende der Leine.“ In: Süddeutsche Zeitung Literatur Nr. 238, 14.10.2008, S. 9.
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über die verwilderte Wiese. Spitzwegerich stichelte durch den Asphalt und bohrte sich in die Höhe, silbriger Beifuß schob sich aus dem Schotter und entfaltete gezähnte Blätter [...]. Mein Gesicht schwarz. Die Augen leuchteten. Ich wußte sie leuchten in der Dämmerung, ich spürte die riesigen Pupillen, den Widerschein, das menschliche Weiß. Bei Wildtieren sieht man die weißen Augäpfel nicht, ich aber starrte weiß und zornig in die beginnende Nacht, eine unheimliche Wachheit. [...] Ich war in den letzten Monaten dicker geworden, was sich einer eigenartigen Trägheit schuldete. Ich tat nichts mehr, etwas hielt mich unten, eine allgemeine Schwere durchzog diesen Sommer, ein Ausweichen, Abwarten, Brüten.“156
Dem Leser zeigt sich hier die detailgenaue Beschreibung der Protagonistin als neuzeitliche Melencolia: vom schwarzen Gesicht über die Geste des aufgestützten Kopfes bis zur Beigabe von Attributen wird Dürers Meisterstich aufgerufen. 157 Eine in den Rücken der namenlosen Ich-Erzählerin schlagende Plane ersetzt die zu kleinen Flügel der Melencolia; mit ihr teilt sie den „[v]ergebliche[n] Flugversuch“ (MP 6). In den Worten ‚eigenartig‘ und ‚etwas‘ schlägt sich die melancholische Diffusität nieder, der Umstand, dass sich einem der tatsächliche Grund für die melancholische Gestimmtheit beständig entzieht. Aus dem angesichts der drohenden Apokalypse resignierenden homo faber der Reformationszeit ist nun, im Zuge der leistungsgesellschaftlichen Imperative und arbeitsgesellschaftlichen Ideale, eine Erwerbslose geworden, die in der spätmodernen Lebenswelt in melancholischen Zuständen versinkt. Verortet wird sie in einer Landschaft, die ein Relikt der Industriegesellschaft darstellt: eine Brache am Rande einer nicht näher bezeichneten Stadt158, die, nachdem sie vom Menschen verlassen wurde, nun angefüllt ist mit aussortierten Dingen (zu denen auch die Protagonistin zählt) und von der Natur nach und nach zurückerobert wird. Die Zeit verrinnt und verändert den Raum. Der Raum ist geprägt durch Verfall, den die Zeit diktiert, und das Durchdringen von Altem und Neuem, Innen und Außen (vgl. MP 7). Der Ort ist ein Relikt einer bereits vergangenen Zeit, der aber erst im Prozess des Verfalls seine eigentliche Gestalt annimmt. Das so beschriebene Brachland „im Niemandsland einer ausfransenden Peripherie“159 wird zum „Spiegelbild ihrer [der Protagonistin] seelischen Verwahrlosung“. 160
156 Marion Poschmann: Hundenovelle. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2008, S. 5-6. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle MP und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 157 Ausf. zum dunklen Gesicht und der Geste des aufgestützten Kopfes bei Dürer vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 409-414. 158 Die Industriebrache lässt sich als Benjaminische Ruine in postindustriellem Gewand lesen, wobei Benjamin für die Ruine die „Wendung von Geschichte in Natur“ nachzeichnet (Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 160 und vgl. 155-166); eine Entwicklung, die auch auf Poschmanns Industriebrache zutrifft. 159 Barbara Villiger Heilig: „Zorn, Zweifel, Zärtlichkeit. Marion Poschmanns Hundenovelle.“ In: Neue Zürcher Zeitung 08.10.2008, S. 27. Die Rezensentin beschreibt die Szenerie in passender Bildsprache weiter wie folgt: „Naturschutzgebiete dienen da der Verschleierung unschöner Tatsachen – von chemischem Dünger vergiftetes Terrain, dessen künstliche Wiederbelebung scheiterte, wird zu einer Landschaftsruine mit Gebüsch, Trockenrasen, Gasleitungen und Strassenbahn-Endstationen. Indessen: Die industrialisierte, unge-
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Auch sie empfindet sich nicht mehr zur Gegenwart dazugehörig und zieht sich wiederholt an diesen „Nichtort“ (MP 7) zurück.161 Dieses Hingezogen- oder auch Getriebensein zu einer peripheren Existenz bestimmt die Erzählerin ganz grundlegend und dies offenbart sich in ihrer Positionierung innerhalb bzw. außerhalb der Gesellschaft. Ihr Leben in der Peripherie manifestiert sich u.a. in ihrer neuen, durch die Arbeitslosigkeit notwendig gewordenen (Sozial-)Wohnung am Stadtrand, umgeben von einer Landschaft, die sie als eine Szenerie von Verseuchung und Umbruch wahrnimmt. Auch hier drängt sich dem Leser eine allegorische Lesart auf, wenn die Protagonistin beschreibt, wie die Neubausiedlung auf vergiftetem Boden erbaut wurde, den man vergeblich versucht hatte, zu renaturalisieren: „Zu viele Eingriffe, zu viel Reibung, von allem viel zu viel.“ (MP 30). Die Grundlage ist vergiftet, aber der Urzustand lässt sich nicht wiederherstellen; was bleibt, sind Nicht-Orte, „Niemandsland“ (MP 31), auch im soziologisch-gesellschaftlichen Sinn. Im Kern lässt sich hierin die Gesellschaftskritik der Erzählerin entdecken, die noch expliziter wird, wenn sie über die Passanten eines Einkaufszentrums vermerkt: „Ich meinte, eine bestimmte Verve in der Bewegung dieser Passanten zu spüren, die ich selbst schon seit längerem nicht mehr aufbringen konnte, eine Energie, die nach vorn wies und sunde Restnatur bebt in Marion Poschmanns seltsam perspektivierten Schilderungen wie ein vitaler, wenn auch wunder Organismus“. 160 Kathrin Hillgruber: „Marion Poschmann: Hundenovelle.“ In: Der Tagesspiegel 11.10. 2008, S. 9. 161 Als ‚Nicht-Ort‘ bezeichnet Marc Augé in seiner 1992 erschienenen Abhandlung NonLieux einen Ort ohne Identität, der, und hier rekurriert der Autor auf Michel de Certeau, „‚nicht ganz bei sich ist.‘“ (Marc Augé: Nicht-Orte. München: Beck 22011 [1992], S. 83, 89; alle folgenden Zitate entstammen dieser Ausgabe). Der Begriff meint dabei sowohl den Raum an sich als auch „die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält“ (S. 96) und er ist für Augé das Gegenbild zur Utopie (vgl. S. 111). Als wirkliche Nicht-Orte der Spätmoderne nennt er die Autobahn und den Flughafensaal – Räume des Übergangs und der provisorischen Identität – sowie den Supermarkt, der nur für den Zweck des Handels existiert und einen von Text besetzten, Sprach-losen Raum darstellt (vgl. S. 96-97, 101-102). Diese großen Supermärkte im Gewerbegebiet am Stadtrand tauchen auch in der Hundenovelle auf und werden als „[f]lache weiße Schachteln“ bezeichnet, „in der Landschaft verteilt. Kahle Zwischenräume. Trittrasen. Parkplätze. Die Schachteln rissen an mir. Ich schlenderte vorbei, sie aber wollten mich in sich hineinreißen, mit auffordernden Schriftzügen, mit farbigen Pfeilen, die die wenigen Fußgänger, die sich in diese Gegend wagten, über den Parkplatz zum Eingang leiteten. [...] Natursteinhandlung, Waschanlage, Baustoffe, Fleisch-Zentrum. Die Schachteln rückten nervös hin und her. Lieferwagen fuhren. Die Schachteln klappten auf und zu, öffneten Türen, Tore, ließen Gitter herabdonnern, zogen Fronten hoch.“ (MP 31). Poschmann beschreibt die Gebäude als seien sie von sich entfremdet, permanent damit beschäftigt, durch Türen, Tore und Gitter Grenzen zu markieren und gleichzeitig zu durchbrechen. Der Ort wird als bedrohlich beschrieben (‚wagten‘) und auch die Grenzen der Erzählerin erscheinen, durch die permanenten Aufforderungen in Form von Pfeilen und Schildern, bedroht. Im Gewerbegebiet des Hochkapitalismus wird der Flaneur der modernen Kaufhäuser zum Getriebenen einer übersteigerten und entfremdeten Konsumkultur, die ihn konsumiert und aufzehrt, statt umgekehrt.
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gleichzeitig leerlief.“ (MP 38). An späterer Stelle heißt es: „Es gab zuviel. Von allem zuviel. Jedes einzelne Ding zog meinen Zorn auf sich. Hüt’ dich vor Überfluß.“ (MP 51). Auf dieser Grundlage erscheint die Exklusion aus einer als krankhaft wahrgenommenen Gesellschaft als die einzige Möglichkeit, den vermeintlich destruktiven Mechanismen derselbigen zu entkommen. Durch ihre vermeintlich selbstverschuldete Arbeitslosigkeit – ein Vorwurf, der die im Mittelalter aufkommende Idee einer selbstverschuldeten Armut weiterführt162 – ist sie aus allen sozialen Netzen exkludiert und zieht sich zunehmend zurück. 163 Sie wird in Folge ihrer Kündigung zum ‚Opfer‘ einer „Exklusionsverkettung“ 164, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes beginnt und in nahezu völliger Einsamkeit endet. Inklusion qua Erwerbstätigkeit, dieser arbeitsgesellschaftliche Mechanismus wird hier addressiert. Inkludiert sich der Einzelne über seine Erwerbsarbeit, erhält damit soziale sowie auch identitäre ‚Kontur‘, so ist Arbeitslosigkeit gleichbedeutend mit der teilweisen Zerstörung dieser „sozialen Identität“.165 Problematisch wird diese
162 Vgl. dazu Oexle (2000): Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter, S. 78. 163 Mit der Arbeitslosenquote wuchs ab den 1970er Jahren auch die Zahl der zum Teil gut qualifizierten „Überflüssigen“ (Johano Strasser: Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. München, Zürich: Pendo 1999, S. 12), der durch Erwerbsarbeitslosigkeit Marginalisierten mit wenig Aussicht auf eine dauerhafte Integration in arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge, deren „gesellschaftliche Teilhabe [...] sich auf ein Mitlaufen ohne Ziel und ein Dasein ohne Ort reduziert.“ (Heinz Bude u. Andreas Willisch: „Das Problem der Exklusion.“ In: Dies. (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition 2006, S. 7-23: 8). Wie Martin Kronauer beschreibt, hat dieser Prozess der Exklusion durch Arbeitslosigkeit längst seinen Weg von den Rändern hin zur Mitte der Gesellschaft gefunden (vgl. Martin Kronauer: „‚Exklusion‘ als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte.“ In: Bude/Willisch (2006): Das Problem der Exklusion, S. 27-45: 27). Die Angst vor einem raschen sozialen Abstieg – die begründet erscheint (vgl. Nadja Klinger u. Jens König: Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. Berlin: Rowohlt 2006, S. 9) – betrifft inzwischen weite Teile der Gesellschaft. All dieses zeigt auch die Hundenovelle auf und sie erweist sich damit als ein gegenwärtige Prozesse und Debatten sehr bewusst reflektierender Text. 164 Kühl (2004): Arbeits- und Industriesoziologie, S. 47. 165 Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 18. Galt der Arbeiter vor der Neuzeit aufgrund seiner Unfreiheit nicht als ‚vollwertiger‘ Mensch, so gilt dies heute für den Arbeitslosen (Jörn Ahrens: „‚Bekommt ein Junge vielleicht jeden Tag einen Zaun zu streichen?‘ Krise und Konjunktur der Arbeit in der Gegenwart.“ In: Franz-Josef Deiters et al. (Hg.): Narrative der Arbeit – Narratives of Work. Berlin, Freiburg, Wien: Rombach 2009, S. 71-85: 76). Zwar wurden die Schritte der Arbeitserleichterung, wie Arbeitszeitverkürzung, mehr Urlaub, Regelung von Arbeitspausen, noch als „Chance zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung“ (Strasser (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, S. 11) begrüßt, für die endgültige ‚Befreiung‘ von der Arbeit gilt dieses keineswegs, zu sehr erweist das Ideal eines heteronormativen, auf Vollzeiterwerbstätigkeit ausgerichteten Arbeitsbegriffs noch seine Wirkkraft. Auch in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit bleibt Arbeit als „Basis der Vergesellschaftung“, als „sozial Imaginäres“
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Praxis deshalb, weil die inklusive Macht der Arbeitsgesellschaft, diagnostiziert u.a. die Soziologie, schwindet166; ein Befund, der sich auch in der Hundenovelle wiederfindet. Mit Bitterkeit blickt die Erzählerin nun auf ihre ehemaligen Kollegen wie auch deren Reaktion auf ihre Kündigung zurück und erkennt ihre eigene Haltung als nichtkonform mit den von der Leistungsgesellschaft formulierten Anforderungen: „Kein Wunder, daß ich entlassen worden sei. Heutzutage müsse man sich engagieren. Es reiche nicht, einfach anwesend zu sein. Enthusiasmus sei gefragt, Ehrgeiz, Charisma. Ich hingegen fühlte mich erleichtert, daß ich den Job los war. Dort hatte ich nur meine Zeit verschwendet. Ein anderer würde es besser machen als ich. Mehr Befriedigung daraus ziehen. Das eigene Image stärken. Sich ein Siegerlächeln antrainieren. Mir waren diese Verhaltensweisen immer wie Verrat erschienen. Auch jetzt erhielt sich mir ein eigenartiges Schuldgefühl. Es bezog sich auf falschen Aktivismus. Auf erzwungene Aktivitäten. Auf jene Art von Handlungsmaschine, starrköpfig, brutal, die die Welt regierte und kaputt machte.“ (MP 27-28)
Zwar lehnt die Protagonistin folglich ein emphatisches Arbeitsverständnis, das um sie herum herrscht und auch von ihr verlangt wird, ab; gleichzeitig wird sie aber ihre entsprechende Sozialisierung nicht los. Ihre Kritik am ‚falschen Aktivismus‘ und den destruktiven Auswirkungen der kapitalistisch geprägten Gesellschaft ist gepaart mit Gefühlen von Schuld und auch von Scham ob ihrer neuen, einfachen Lebensverhältnisse (vgl. MP 9, 45), worin sich u.a. abbildet, wie leistungs- und auch konsumgesellschaftliche Ideale Einzug in die Gefilde der „Mentalität“167 erhalten haben. Arbeitslosigkeit, Armut und ihr kultureller Hintergrund 168 machen die Erzählerin in mehrfacher Hinsicht zur Trägerin minoritärer Stigmata. Der Versuch, wieder in die sogenannte ‚Mitte‘ der Gesellschaft zu gelangen, etwa durch einen neuen Job, unterbleibt hingegen. In Analogie zur Beschreibung des Brachlandes zu Beginn der Novelle wird auch für die Protagonistin die (potentiell) kurze Unterbrechung – durch ihre plötzliche Arbeitslosigkeit – zu einem ‚dauernden Dämmerzustand‘:
der Arbeitsgesellschaft bestehen, Ahrens (2009): ‚Bekommt ein Junge vielleicht jeden Tag einen Zaun zu streichen?‘, S. 77. 166 Die seit den 1970er Jahren steigenden Arbeitslosenzahlen liefern für diese Entwicklung vernehmliche Hinweise. Die Prognose einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ‚ausgeht‘, trifft Hannah Arendt im Angesicht der technischen Entwicklungen bereits 1958, und sie knüpft daran die Frage nach der Zukunft der Arbeitsgesellschaft sowie des darin sozialisierten Subjekts: „Was bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ Arendt (2003): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 13. 167 Gernot Böhme: „Einleitung des Herausgebers.“ In: Ders. (Hg.): Kritik der Leistungsgesellschaft. Basel, Bielefeld: Edition Sirius 2010, S. 7-12: 11. 168 Die Mutter der Erzählerin kam aus Osteuropa nach Deutschland und wurde Zeit ihres Lebens nicht in der neuen Umgebung heimisch. So wie die Mutter sich nicht neu verwurzelt, fehlen auch der Erzählerin die Wurzeln, auf die sich sie zurückbesinnen kann und welche sie in der Gegenwart ‚verankern‘.
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„Etwas sehr Unauffälliges, sehr Stilles nahm mehr und mehr Besitz von mir, und ich beobachtete mit einer Art von Zufriedenheit, wie das, was ich bisher für mich gehalten hatte, immer mehr verschwand. Sobald man sich nicht bemühte, verschwand es. Ich konnte es nicht rückgängig machen. Ich fühlte mich wie gelähmt, von einer seltsamen Apathie durchdrungen, die es mir unmöglich machte, mich für eine neue Rolle zusammenzureißen.“ (MP 46-47)
Erschien der Protagonistin ihr Leben als Erwerbstätige als sekundär und nichtauthentisch, als ‚Rolle‘, so kann sie sich nun als ‚Neu-Erwerbslose‘ einer Apathie hingeben, deren tatsächliche Ursachen im Ungewissen bleiben, wie die wiederholte Nennung des Wortes ‚etwas‘ sowie die Bezeichnung als ‚seltsam‘ deutlich machen. Relativ schnell akzeptiert sie die erzwungene, neue Form der Einsamkeit und löst sich zunehmend freiwillig aus allen bisher dagewesenen familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Dieser Prozess stellt für sie nicht das pure Resultat ihrer Erwerbslosigkeit dar, sondern sie sieht es als Entwicklung hin zum eigentlichen Urzustand ihrer Persönlichkeit: „Ich war auf einmal allein. Einerseits natürlich bedauerlich, erwies sich andererseits diese Abgeschiedenheit als etwas, was mir immer gefehlt hatte.“ (MP 27). Zu Beginn der Novelle befindet sich die Protagonistin folglich schon mitten in einem Prozess, der in Folge zum Hauptthema des Textes wird und der einen Katalysator im Leitmotiv des schwarzen Hundes findet.169 Der Hund als Gefährte und Todesbote Der Hund ist im westlichen Kulturkreis durchaus ambivalent besetzt. Er kann Freund und Beschützer, aber ebenso Bestie und teuflische Kreatur sein. Darüber hinaus fungiert er auf einer symbolischen Ebene auch als ‚Todesbote‘. In der Kunst erscheint er ab der Renaissance als Begleiter des Gelehrten und später des Melancholikers.170 Letztgenannte Rolle nimmt der Hund auch in der Hundenovelle ein; allerdings wird diese Zuschreibung gleichzeitig dekonstruiert. Eine ihm eigene, grundlegende Ambivalenz äußert sich bereits in der Beschreibung seines Äußeren. Er ist mager, verfügt aber über scheinbar endlose Energie, wird als edel, aber auch als wölfisch und wild beschrieben (vgl. MP 10, 13). Eingeführt wird er als der Dürer’sche Hund, eingerollt schlafend zu Füßen der neuzeitlichen Melencolia, der er im Brachland zugelaufen ist. Von diesem Augenblick an wird die Protagonistin den Hund nicht mehr los und erst durch ihn wird ihre Melancholie zu einem unheimlichen und gefährdenden Zustand. Vor allem die dem Tier eigene, „unbeirrbare Verbindlichkeit“ sowie dessen „Grundvertrauen“ erscheinen ihr „bedrohlich“171 – Eigenschaften, über die sie selbst nicht verfügt. Im Angesicht des loyalen wie ergebenen Hundes kommt der Erzählerin ihr „bisheriges Leben [...] erschreckend vorläufig vor, ein einziges Warten darauf, daß das wirkliche Leben endlich begann.“ (MP 70). Ist ihr apathisches Dasein grund- und ziellos, so erscheint der Hund zielgerichtet (vgl. MP 56); fühlt sie ihre Bodenschwere, schwebt er; ist sie 169 „[E]in zugelaufenes Tier bringt hier ein menschliches Wesen aus dem Tritt, weg von der antrainierten Ordnung des Alltags und hin zur Wildnis. Aber auch näher zur Wahrheit, die ohne Verwilderung unerreichbar bliebe“, schreibt Villiger Heilig (2008): Zorn, Zweifel, Zärtlichkeit. 170 Ausf. zur Entwicklung des Motivs vgl. den Exkurs in Kap. 3.2.2. 171 Villiger Heilig (2008): Zorn, Zweifel, Zärtlichkeit.
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träge, strotzt er vor Energie (vgl. MP 27). Der Hund markiert folglich deutlich das ‚Fremde‘;172 darüber hinaus steht er paradoxerweise ebenso für das ‚Eigene‘, denn die Protagonistin lagert zunehmend einen Teil ihres Selbst in der Gestalt des Hundes aus. Wenn sie in einem Einkaufszentrum das Gefühl der Unwirtlichkeit verspürt, ist es der Hund, der sich entsprechend sträubt, das Einkaufszentrum zu durchqueren (vgl. MP 39). Was sie passiv erträgt, zeigt er aktiv, „als führe sie ihre Fell gewordene Weltsicht aus.“173 Er ist demnach sowohl Gegenpart als auch Seelenverwandter. 174 Dieses symbiotische Verhältnis führt zu einer sukzessiven Steigerung der Melancholie, bis die Namenlose letztlich zu einer Somnambulen wird, die unter der schwarzen Sonne (vgl. MP 50) dahin treibt und beständig an Bodenhaftung verliert: „Aus den Kellern stieg es feucht nach oben, ein Geruch wie fauliges Wasser. Mocken. Pfuhle. Sümpfe. Wir, der Hund und ich, trieben schräg darin wie Wasserpflanzen, an einem Ende noch festgekrallt. um nicht gänzlich von der Strömung weggerissen zu werden, aber trotzdem haltlos, halb aufgelöste Körper, irgendwo auf halber Höhe zwischen Oberfläche und Grund. Ich glitt schwankend durch diese Tage, ich schien immer naß zu sein, schweißtriefend, von der Hitze natürlich, aber auch noch von etwas anderem. War es Angst? Wovor? War es eine sich ankündigende Krise? [...] Der Hund breitete sich aus. Die Wohnung war vollständig mit ihm angefüllt. Es roch nach ihm. Mir schien, als gerieten mir ständig Haare in den Mund. Schwarze Hundehaare, obgleich ich sie nicht ausfindig machte.“ (MP 35)
Schien der Hund zu Beginn der Novelle ihr Anker in der Gegenwart zu sein, wird er mit der Zeit immer mehr zum Objekt ihrer Halluzinationen und die Grenzen zwischen der Erzählerin und dem Hund verfließen so sehr, dass schließlich ihre Verwandlung einsetzt. Diese wiederum wird durch die flirrende Hitze der Hundstage – die melancholischste Zeit des Jahres175 – zusätzlich aufgeladen. Es handelt sich um 172 Vgl. dazu ausf. Birgit Mütherich: „Das Fremde und das Eigene.“ In: Andreas Brenner (Hg.): Tiere beschreiben. Erlangen: Harald Fischer 2003, S. 16-42, die herausarbeitet, wie der Mensch die Natur und vor allem das Tier als ‚fremdes‘ Gegenbild konstruiert und so zur Projektionsfläche für gehasste oder verdrängte Eigenanteile macht. Beispiele für dieses negative Tierbild der westlichen Philosophie versammelt Alice A. Kuzniar: Melancholia’s Dog. Chicago, ILL: University of Chicago Press 2006, S. 27. Besonderes Augenmerk kommt dabei dem Aspekt der Sprachlosigkeit zu, der Grund sei für die u.a. von Rainer Maria Rilke, Heidegger und Nietzsche diagnostizierte ‚animalische Trauer‘ (vgl. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 25-66). (Gelingende) Kommunikation dient hier folglich als Mittel zur In- bzw. Exklusion und gerade diese ist bei Poschmann verstellt. Die allegorische Herangehensweise, die dezidiert aufgerufene Melancholie sowie das animalische Gegenüber erscheinen in der Hundenovelle als drei Marker eines NichtArtikulieren-Könnens, das auf die dem Text zugrundeliegende Kritik verweist. 173 Person (2008): Die Melancholikerin am anderen Ende der Leine. 174 Deutlich bildet sich hier die Funktion des literarischen Tier-Narrativs als „Erkenntnisvehikel“ und „Identifikationsmedium“ ab (Julia Bodenburg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Berlin, Freiburg, Wien: Rombach 2012, S. 40). Der Mensch erzählt über sich selbst im Zeichen des Tiers, das so zur Figur anthropologischer Selbsterkenntnis wird. 175 Ausf. zum Motiv der Hundstage vgl. Kap. 3.2.2, S. 125.
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einen Prozess, der im Sinne dessen passiert, was Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer philosophischen Schrift Tausend Plateaus (1980) als ‚Tier-Werdung‘ bezeichnen. Die Transformation der Protagonistin als ‚Tier-Werdung‘ Der poststrukturalistische Denkansatz von Deleuze und Guattari, welcher auf der Infragestellung, Ablehnung und Dekonstruktion herrschender Kategorien und Machtsysteme beruht176, trägt in seinem Kern einen spezifischen Blick auf den Menschen als Individuum. Er wird nicht als (mit sich) identische und konstante Einheit verstanden, sondern als unendliche ‚Mannigfaltigkeit‘, als immerwährender Prozess: „Und zwar so weit“, beschreiben es Deleuze/Guattari, „daß das Ich nur noch eine Schwelle ist, eine Tür, ein Werden zwischen zwei Mannigfaltigkeiten.“177 Die Protagonistin der Hundenovelle ist in mehrfacher Hinsicht in diesem Sinne ‚hybrid‘: in Bezug auf ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft, auf ihr Geschlecht 178, ihre Herkunft sowie ihre Anthropologie, deren anfängliche (menschliche) Form sich kontinuierlich verändert. Deleuze/Guattari folgend handelt es sich bei der Tier-Werdung um eine Form der realen Regression, ohne dass allerdings eine tatsächliche Verwandlung stattfindet. 179 Es ist jedoch keine Imitation, sondern vielmehr eine kommunikative wie ansteckende Symbiose anhand ausgesendeter Partikel.180 Für diese Art der Verwandlung braucht es ein animalisches Gegenüber, das entweder in Gestalt eines einzelnen dämonischen Tiers – welches von den beiden Poststrukturalisten als ‚Anomal‘ tituliert wird und sich durch seine periphere Existenz auszeichnet – oder aber in Form einer Meute auftaucht.181 Die Hundenovelle beschreibt beides: So erscheint der Hund als dämonisches Individuum, welches zum Katalysator der Tier-Werdung wird, aber auch das Bild der Meute wird immer wieder aufgerufen (vgl. u.a. MP 93). Die Symbiose von Hund und Frau vollzieht sich dabei schrittweise182, wobei sich die Protagonistin
176 Ausf. zum Poststrukturalismus und seiner politischen Dimension vgl. Gabriel Kuhn: TierWerden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus. Münster: Unrast 2005. 177 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1992 [1980], S. 340. 178 So wird sie nur an einer Stelle des Textes als weiblich identifiziert (vgl. MP 45). 179 Vgl. Deleuze/Guattari (1992): Tausend Plateaus, S. 324-325. 180 Vgl. Deleuze/Guattari (1992): Tausend Plateaus, S. 325, 379-380. 181 Vgl. zur Meute Deleuze/Guattari (1992): Tausend Plateaus, S. 328-330 und zum anomalen Tier vgl. S. 332-335. 182 Die ‚Ansteckung‘ mit dem hündischen Wesen beginnt mit dem puren Geruch des Hundes, der die Erzählerin stört, führt über Flohstiche, ein gemeinsames Bad, in dem sich die Auflösungsmetapher manifestiert, und seine Haare, die an ihr kleben, bis hin zu Partikeln von Hundeseifen und Radiergummis in Hundeform, welche die Frau gegen Ende der Novelle anschafft und verbraucht (vgl. MP 18-20, 35, 62, 73, 88, 120). Zunächst beginnt die Protagonistin wie ein Hund zu hecheln, dann halluziniert sie im Spiegel ihren eigenen Kopf als Hundekopf, und schließlich kriecht sie streunend durchs Gebüsch und nimmt Kontakt zu anderen Hunden auf (vgl. MP 88, 91, 102, 105-108, 123). Sie selbst bezeich-
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zunächst noch sträubt und versucht, den Prozess aufzuhalten, u.a. indem sie den Hund aussetzt, sich der sukzessiven Entfremdung von ihrer menschlichen Identität aber letztlich ergibt und in hündischem „Regressionsglück“ 183 versinkt. Dabei verschmilzt sie nicht nur mit dem anomalen Tier im Speziellen, sondern auch mit der Natur im Allgemeinen.184 Gleichzeitig mit dieser neuen, animalisch-natürlichen Identität breitet sich in ihr eine Melancholie aus, die zunächst apathische Züge trägt. So heißt es: „Die Tage verbrachte ich im Halbdunkel bei zugezogenen Vorhängen, den Kopf auf das Perserimitat gebettet. [...] Ich lag auf schwarzen Locken, dachte an Hunde“ (MP 115). Begleitet wird diese hündische Melancholie von körperlichen Auflösungserscheinungen: „Im Dunkeln das merkwürdige Gefühl, daß Körperteile einfach verschwanden. Ein Arm, ein Unterschenkel, die Schädeldecke konnten sich plötzlich auflösen und mit der Umgebung verschmelzen.“ (MP 117). Die „Ich-Kabine“, welche sie über die vergangenen Jahre errichtet hatte, und zwar hauptsächlich zu dem Zweck, im Arbeitsleben zu funktionieren, löst sich immer weiter auf und ihr ist die letale Dimension dieses Prozesses durchaus auch bewusst (vgl. MP 116). Zu dieser apathischen, ermatteten, gesellt sich schließlich eine wütende Melancholie, wobei ihre Wut, wie zunächst auch ihre Trägheit und Apathie, grund- und zielloser Natur ist. Zwar äußert sich die Wut an einigen Stellen als gezielte Kritik an der Überfluss- und Leistungsgesellschaft (vgl. u.a. MP 51), zumeist erscheint sie aber als universelles Gefühl: „Es war eine sonderbare Wut, die mich vorantrieb. Ein heißer Zorn hatte sich aus mir herausgewälzt und in der gesamten Umgebung ausgebreitet. Er war jetzt richtungslos, es gab keinen Grund für ihn, kein Ziel.“ (MP 56). Durch diese wütende Melancholie angetrieben und vitalisiert, wird das Schreiben von Postkarten mit dem als Mahnruf zu verstehenden Luther-Zitat „Melancholia balneum diaboli est.“ (MP 120121) zu ihrer letzten Handlung, die gleichzeitig ihr letzter Kommunikationsversuch wird. Dieser muss allerdings fehlschlagen, da die Protagonistin auf den Karten an ihre ehemaligen Freunde und Arbeitskollegen keinen Absender nennt. Hat Luther mit dem Satz schlicht die dämonisch-gefährdende Natur der Melancholie betont, so kommt ihm in der Hundenovelle eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen erkennt die Erzählerin das Diabolische ihres Leidens und macht diese Erkenntnis zu ihrem letzten Gruß; zum anderen weist das Zitat aber auch auf eben jenen seit dem Mittelalter net dabei ihren Ausdruck als „hündisches, unterwürfiges Lächeln“ (MP 124). Deleuze/Guattari beschreiben das Werden entsprechend als Verwandlung entlang von Fasern (Mensch > Tier > Molekül > Teilchen > das Unwahrnehmbare) hin zu einem nicht klar umrissenen ‚Neuen‘, welches nicht als ultimativer Endzustand zu verstehen ist (vgl. Deleuze/Guattari (1992): Tausend Plateaus, S. 339-341, 371, 380). Entsprechend bleibt auch der ‚Endzustand‘ der Frau offen. 183 Heinrich Detering: „Lass uns Gassi gehen in der Queckensteppe.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2008, S. 14. 184 Während des hündischen Streunens bleiben etwa Pflanzen mit Widerhaken in ihrer Haut stecken (vgl. MP 108), wozu die Rezensentin Dorothea Dieckmann vermerkt: „Mensch und Landschaft verschmelzen. Nach und nach durchquert die Erzählung das Alphabet des ‚vormenschlichen Paradieses‘, von Natursehnsucht bis Zivilisationsekel“, Dorothea Dieckmann: „So kam der Mensch auf den Hund. Marion Poschmann auf den Spuren von Konrad Lorenz.“ In: Zeit Literatur Nr. 42, 09.10.2008, S. 62.
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praktizierten Ausschluss der Melancholie aus lebensweltlichen Zusammenhängen hin und kritisiert diesen gleichzeitig. Das Ende der Novelle zwischen Auflösung und ‚Heimkehr‘ Nachdem der entkräftete Hund zur Frau zurückgekehrt und auf ihrer Schwelle verstorben ist, überschreitet sie den (vorerst) letzten ‚Rand‘ ihres Werdens. Sie ergibt sich ganz der hündischen Natur und dem Saturn (vgl. MP 125) und löst sich im Sternenbild das canis maior auf, wie die finalen Sätze andeuten: „Der Stern Sirius ging über dem Horizont auf und brannte in weißem Licht. Orions Hunde jagten über den Himmel [...]. Der Hundsstern beherrschte den Himmel. Canis minor, der Kleine Hund, nahm schnüffelnd die Fährte auf. Der Große Hund stand auf seinen Hinterläufen [...]. Canis maior, der Hund mit dem gleißend hellen Gesicht. Klar sein Antlitz und himmelblau, die Strahlen, die er sendet, sind leuchtend und kalt, er trägt den hellsten Stern des Himmels im Maul.“ (MP 126)
In groben Zügen lässt sich die Geschichte der Hundenovelle also wie folgt beschreiben: Auf das Arbeitslos-Werden der Frau folgt ihr Tier- und schließlich ihr Unwahrnehmbar-Werden im Sternenhimmel. Bezeichnet die Rezensentin Kathrin Hillgruber diesen Prozess als „Borderline-Entwicklung“185, so möchte ich dieser ‚Diagnose‘ widersprechen, da der Text viel zu dicht und vieldeutig ist, um ihn als Krankheitsgeschichte zu lesen. Statt als eine pathologische Reaktion ist die Melancholie der Protagonistin als eine – wie Böhme es nennt – „angemessene Haltung“ im Angesicht von spätmodernen „Weltzustände[n] und existentielle[n] Situatione[n]“ 186 zu lesen. Gesellschaftskritik und Melancholie verbinden sich, und die Kritik zielt in erster Linie auf die Ideale der Leistungsgesellschaft: Leistungsfähigkeit, Zielstrebigkeit, Initiative, Anpassung und Konsum. All diese Maximen legt die Protagonistin im Verlauf ihrer melancholischen Regression ab, waren sie ihrer ‚Natur‘ bereits zuvor zuwider, wobei der Hund – als Todesbote, als Vertreter animalischer Reflexionslosigkeit und als Beispiel für die (im Gegensatz zum Menschen stehende) Unfähigkeit des Tiers zur Selbstentfremdung187 – die treibende Kraft in diesem Prozess ist, der als „Verelendung“, aber auch als „Befreiung“ begriffen werden kann.188 Die sukzessive Auflösung der Protagonistin erscheint, wie der Rezensent Heinrich Detering ausführt, „als Folge eines sozialen Kollapses. Aber hier wie dort sieht der schleichende Zusammenbruch aus wie eine langsame Heimkehr.“ 189 Es stellt sich die Frage: ‚Heimkehr‘ von wo und wohin? Der Ausgangspunkt der Erzählerin ist der eines durch die Erwerbsarbeit inkludierten Menschen mit geregeltem Einkommen und sozialen Kontakten. Die Basis für diese Lebensform wird ihr aber durch ihre Entlassung entrissen. Ihr neues Leben als Arbeitslose, die bloß noch sich selbst verpflichtet ist und die Sich-treiben-Lassen kann, entspricht zwar ihren 185 Hillgruber (2008): Marion Poschmann. 186 Böhme (1988): Natur und Subjekt, S. 162. 187 Vgl. Daniel Kehlmann u. Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch. Berlin: Matthes & Seitz 2008, S. 10. 188 Detering (2008): Lass uns Gassi gehen in der Queckensteppe. 189 Detering (2008): Lass uns Gassi gehen in der Queckensteppe.
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ursprünglichen ‚Bedürfnissen‘, stand sie den Idealen der Arbeits- und Leistungsgesellschaft doch sehr kritisch gegenüber; dieser neue Lebensentwurf hingegen wird als nicht lebbar dargestellt. Poschmann inszeniert damit in ihrer Novelle damit ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘, wobei die Entlassung den ‚Scheidepunkt‘ darstellt, was sich als eine primäre Unterscheidung im Sinne von Oliver Flade und Christoph Rauen lesen lässt.190 Vermittelt über eine Identifikationsfigur bietet sich dem Leser folglich eine Lesart an, derzufolge die Protagonistin in einer Arbeitsgesellschaft, die sie ausgestoßen hat und die keinen Raum für alternative Lebensentwürfe zulässt, als Mensch nicht mehr existieren kann. Sie hat sozusagen durch die Ablehnung der vorherrschenden Ideale – welche jenseits der realen Gegebenheiten unserer Arbeitsgesellschaft weiterhin ihre Gültigkeit behaupten191 – die Berechtigung eines menschlichen Daseins verwirkt. Entsprechend vermerken die Autoren der soziologischen Exklusionsdebatte zum Phänomen des Erwerbsausschlusses, es handele sich um „eine paradoxe, in einer Arbeitsgesellschaft auf Dauer nicht lebbare Situation, einen individuellen und gesellschaftlichen Extremzustand, den niemand lange einnehmen kann“.192 Eben diese Unmöglichkeit zeichnet Poschmann nach, affirmiert sie aber nicht. Keine der beiden im Sujet verhandelten ‚Sphären‘, weder das ‚Vorher‘ noch das ‚Nachher‘, weisen eine positive Wertbesetzung auf. Und wenn Schäfer zutreffend schreibt: „Die Theoriefiguren der Arbeit produzieren klare binäre Unterscheidungen, in denen die Arbeit stets der positiv gewerteten Seite der Sinnstiftung oder Organisiertheit zugeordnet wird: Arbeit und Nichtarbeit, Menschlichkeit und Nichtmenschlichkeit, das Individuum und seine Auflösung im Undifferenzierten.“193, so bildet Poschmann dieses ab, doch ohne es zu affirmieren, ohne der dahinterstehenden Werthaltung zuzustimmen. Stattdessen äußert sie über das im Sinne des Poststrukturalismus beschriebene ‚Werden‘ sowie den bewussten Einsatz melancholischer Topoi deutliche Kritik an diesem Zustand. Jenes ‚Werden‘ ist, Deleuze/Guattari folgend, immer revolutionär, bezeichnet es doch die Entwicklung hin zur Minorität, nie zur Majorität einer Gesellschaft, ausgehend von der Norm „Mensch-weiß-westlich-männlich-erwachsen-vernünftigheterosexuell-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache“194, wobei noch ‚Erwerbsarbeiter‘ zu ergänzen ist.
190 Vgl. Oliver Flade u. Christoph Rauen: „Schwere Unterscheidungen und ‚light entertainment‘. Text/Kontext-Analyse am Beispiel von Christian Krachts 1979.“ In: Uta Klein, Katja Mellmann u. Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft: Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn: mentis 2005, S. 547-563: 548. 191 Vgl. Kirsten Puhr: Inklusion und Exklusion im Kontext prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen. Wiesbaden: VS Research 2009, S. 11-12 sowie Rudolf Stichweh: „Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion.“ In: Ders./Windolf (2009): Inklusion und Exklusion, S. 28-42: 37. 192 Peter Bartelheimer: „Warum Erwerbsausschluss kein Zustand ist.“ In: Robert Castel u. Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Campus 2009, S. 131-143: 135. 193 Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 19. 194 Gilles Deleuze: „Philosophie und Minderheit.“ In: Ders.: Kleine Schriften. Berlin: Merve 1980 [1978], S. 27-36: 27, Herv. i.O.
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Die Auflösung wird zur einzigen Chance der Selbstexklusion und zur einzigen Möglichkeit, aus dem ‚Karussell‘ der Leistungsgesellschaft auszusteigen. Da sie als Mensch nun nicht mehr existieren kann, zu eng sind Arbeitsgesellschaft und vermeintliche Anthropologie mittlerweile miteinander verflochten, muss die neuzeitliche Melencolia sich von ihrer kleinen Stufe erheben, um dem Hund sowie ihren eigenen Blicken zu folgen und sich letztlich im Sternenhimmel zu verlieren. Im Vergleich zu Dürers Melencolia wird die Neuartigkeit der hier beschriebenen Problematik deutlich. Hatte diese noch ihre Arbeit liegen gelassen, um sich faustischgenialischer Grübelei hinzugeben, so erscheint dieser Weg in der heutigen Gesellschaft verstellt. Kein Platz ist mehr für die Muße des Genies. Die Arbeitsgesellschaft ist kein Ort der Reflexion, sondern nur der Agitation. Und so ausgeprägt der spätmoderne Individualismus auch ist und wie ‚bindungsunfähig‘ sich das Leistungssubjekt auch gerieren soll195, die Überzeugung, menschliche Gemeinschaft sei gänzlich überflüssig, ist letztlich ebenfalls nicht lebbar. Ein Umstand, den man bei Hunden beobachten kann196 und so auch beim titelgebenden Hund der Novelle, der alle vorhandenen Reserven mobilisiert, um zu seinem ‚Frauchen‘, welches ihn ausgesetzt hat, zurückzukehren, um dann auf ihrer Schwelle zu sterben. Und so kann die Erzählerin der Hundenovelle nicht das Leben führen, welches ihr durch das Motiv des Hundes zunächst augenscheinlich ‚angeboten‘ wird: eine Existenz außerhalb der Leistungsgesellschaft, in quasi-Nachfolge der humanistischen Gelehrten. Poschmann nimmt den Topos des vom Hund flankierten Melancholikers auf und dekonstruiert ihn gleichzeitig. Alles was bleibt ist Leere. 3.2.2 Exkurs zum Motiv des Melancholiehundes Doch wie kommt der Hund überhaupt an die Seite des Melancholikers? Diese Frage führt noch einmal zurück zur Melencolia, der Dürer einen jämmerlichen Windhund zur Seite stellt, womit er den Hund als Attributtier der Melancholie ausweist. Die Sekundärliteratur affirmiert diese Zuschreibung und ernennt sie zum Topos, oftmals jedoch ohne die Genese dieses Motivs nachzuzeichnen. So weist Böhme den Hund als „klassisches Begleittier des Melancholikers und des Gelehrten“197 aus. Ähnlich beschreibt es Erika Billeter in ihrem Band Hunde und ihre Maler.198 Als selbstverständlicher Bestandteil von Gelehrtenbildern findet er sich auch bei Klibansky/Panofsky/Saxl199; und Dürer selbst liefert in seinem Stich Der heilige Hieronymus im Gehäus ein anschauliches Beispiel für diese Bildtradition. Ebenso taucht er in seinem Meisterstich Ritter, Tod und Teufel (1513) auf. Jedoch konstatieren Klibans195 So konstatiert Sennett, der ‚flexible‘ Mensch der Spätmoderne, welcher sich den leistungsgesellschaftlichen Anforderungen bestmöglich angepasst hat, kommt ohne Bindungen aus, vgl. Richard Sennett: The Culture of the New Capitalism. London, New Haven, CT: Yale University Press 2006 [2005], S. 46 sowie die ausführlichere Auseinandersetzung mit Sennett in Kap. 3.2.5. 196 Vgl. Toohey (2004): Melancholy, Love, and Time, S. 146. 197 Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 15, Herv. i.O. 198 Vgl. Erika Billeter: Hunde und ihre Maler. Zwischen Tizians Aristokraten und Picassos Gauklern. Bern: Benteli 2005, S. 255. 199 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 450, 455.
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ky/Panofsky/Saxl im Gegensatz zu Böhme, dass der Hund in der melancholischen Bildtradition vor Dürer keinen festen Platz innehatte.200 Im 11. Jahrhundert noch hatte der Philosoph Wilhelm von Conches der Melancholie den Esel und das Rind zugeordnet. Diese Art von Darstellung findet sich entsprechend häufig in den Werken der Bildenden Kunst201 – der Hund hingegen erscheint in erster Linie als Attributtier der Invidia (Neid) oder als Teil einer die Gula (Völlerei) versinnbildlichenden Szenerie.202 Die christliche Ikonografie zeichnet entsprechend ein zumeist negatives Bild des Hundes. Laut der Johannesoffenbarung 22,15 gilt für ihn wie auch für die „Unzüchtigen, die Mörder, [und] die Götzendiener“ 203 vor den Toren des himmlischen Jerusalems: ‚Wir müssen leider draußen bleiben!‘ Neben dem Esel und dem Rind tauchen die Schnecke204, das Schwein205 und der Igel206 als häufige Attributtie200 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 455. Ebenso vgl. auch Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 16. 201 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 172. Im allegorischen Kontext von Tugend- und Lasterdarstellungen galt der Esel aufgrund der ihm zugeschriebenen „Langsamkeit, Gemächlichkeit“ und seines „träge[n] Wesen[s]“ als Symboltier der Acedia sowie der Stupiditas (Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 216, 213). Er findet sich in zahlreichen Darstellungen ab dem 13. bis hinein ins 17. Jahrhundert und erscheint als das geläufigste Symboltier der Acedia. Auch Hildegard von Bingen nimmt sich in ihrer Physica des Esels an und bezeichnet den sexuell ungeschickten und unersättlichen Melancholiker als Esel (vgl. Hildegard von Bingen (1957): Heilkunde, S. 140). Neben diesen negativen Zuschreibungen ist der Esel jedoch auch das Symboltier einer Vielzahl von Tugenden. Als Tier aus agrarischen Zusammenhängen galt er neben dem Rind, dem Büffel und sogar dem Kamel als Saturntier. Begleiter des Saturnkindes war hingegen zumeist das Schwein (vgl. die in S. 119, Fn. 205 genannten Abbildungen). Zu diesem Absatz vgl. Ernst Badstübner, Helga Neumann u. Hannelore Sachs: Wörterbuch der christlichen Ikonographie. Regensburg: Schnell und Steiner 92005, S. 125, Blöcker (1993): Studien zur Ikonographie der Sieben Todsünden, S. 95-96 sowie die zahlreichen Beispiele für den Esel als Attributtier der Acedia im Katalog der Berner Ausstellung „Lust und Laster. Die 7 Todsünden von Dürer bis Nauman“, vgl. Eggelhöfer/Metzger/Vitali (2010): Lust und Laster, S. 82, 88, 89, 99-101. 202 Zur Invidia vgl. Eggelhöfer/Metzger/Vitali (2010): Lust und Laster, S. 53, 88, 89, 98-101, 116 und zur Gula S. 70, 93, 260, 265, 268. Vgl. auch Badstübner/Neumann/Sachs (2005): Wörterbuch der christlichen Ikonographie, S. 191. 203 Badstübner/Neumann/Sachs (2005): Wörterbuch der christlichen Ikonographie, S. 191. Zur ‚Hundefeindlichkeit‘ der Bibel vgl. Wolfgang Wippermann: „‚Draußen sind die Hunde‘. Von der biblischen Hundefeindschaft zur modernen Hundefreundschaft.“ In: Dirk Luckow (Hg.): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding. Hunde in der Kunst. Köln: DuMont 2009, S. 83-88: 83-84. 204 Die Schnecke als Symboltier der sündhaften Trägheit findet sich bereits ab dem 13. Jahrhundert und ist mit etwas Spürsinn in nicht wenigen Abbildungen zu entdecken; so u.a. in Jacob Mathams Segnities (um 1587), der seiner ebenfalls von einem Esel flankierten Faulheit eine Schnecke auf die Hand setzt. Auf der symbolischen Ebene wird der Schnecke neben der Langsamkeit auch die Furchtsamkeit zugeschrieben. Das Wörterbuch der christlichen Ikonographie führt die Schnecke als Symbol der Faulheit. Diese Zuordnung ergibt sich dabei aus ihrer Langsamkeit, die Furchtsamkeit hingegen aus dem
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re der Acedia auf. Darüber hinaus sind in wenigen Beispielen noch weitere Tiere wie der Elch207, der Elefant208, der Sperling209 sowie der Affe210 der Acedia oder aber der
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Zurückziehen in ihr Haus Interessanterweise wurden diese Zuschreibungen im 16. und 17. Jahrhundert in „Zufriedenheit und kluge Vorsicht“ umgedeutet (Aloys Butzkamm: Christliche Ikonographie. Zum Verstehen mittelalterlicher Kunst. Paderborn: Bonifatius 2001, S. 167). Vgl. zu diesem Absatz Eggelhöfer/Metzger/Vitali (2010): Lust und Laster, S. 98, Badstübner/Neumann/Sachs (2005): Wörterbuch der christlichen Ikonographie, S. 345, Klaus R. Grinda: Enzyklopädie der literarischen Vergleiche. Das Bildinventar von der römischen Antike bis zum Ende des Frühmittelalters. München u.a.: Schöningh 2002, S. 1190 und Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 213, 216. Vor allem die Temperamentenbilder des 15. Jahrhunderts stellen dem Melancholiker das Schwein an die Seite, obwohl es nach Wilhelm von Conches eigentlich ein phlegmatisches Tier ist (vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 172). Die Zuordnung zur Melancholie erscheint auch mit Blick auf die christliche Ikonografie fraglich, die das Schwein als Symbol für Völlerei und Unkeuschheit auffasst, wonach es ebenfalls zum Phlegmatiker gehören würde, an dessen Seite es auf zahlreichen Darstellungen auch anzutreffen ist (vgl. Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 58-59 und 269-274). Die Zuordnung des Schweins zum Melancholiker erklärt sich hingegen durch die Planetenbilder, auf denen die Saturnkinder oftmals in einem agrarischen Kontext und mit Schweinen abgebildet sind. Eine entsprechende Abbildung findet sich bei Schuster (2005): Melencolia I, S. 94. Der Igel gilt als ein Symbol der „geistliche[n] Trägheit“ (Grinda (2002): Enzyklopädie der literarischen Vergleiche, S. 1193) und „des Zauderns“, welches im Dunstkreis des „arbeitenden Denkers […] das Schicksal des Melancholikers bezeichnet, so starken Hemmungen unterworfen zu sein, daß er sein Werk, wenn überhaupt, nur unter ungeheuren Qualen hervorbringen kann – so wie das Igelweibchen die Geburt seines Jungen aus Angst vor dessen Stacheln immer länger hinauszögert und sie dadurch nur um so schmerzhafter macht.“ Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 550551. Entsprechend taucht der Elch auf Dürers Stich Adam und Eva (1507) und einem Stich Virgil Solis’ aus den Jahren 1550-1555 (Die vier Temperamente) auf, der seiner Melancholie neben dem schwermütigen Elch auch den mit prophetischen Gaben ausgestatteten Schwan zuordnet, vgl. Schuster (2005): Melencolia I, S. 95 und Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 528. Ein Beispiel liefert die Abbildung des melancholischen Temperaments (Melancholia) durch den Zürcher Maler Gotthard Ringli aus dem Jahr 1598, auf dem der Elefant als Symbol für die „Stärke des Geistes“ (Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 180) zu interpretieren ist. Cesare Ripa setzt auf einem Stich (1603) seinem Melancholiker einen Sperling auf den Kopf, als Zeichen der Einsamkeit (vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 524). In der christlichen Ikonografie hingegen steht der Sperling für Wollust, vgl. Badstübner/Neumann/Sachs (2005): Wörterbuch der christlichen Ikonographie, S. 345. So zum Beispiel in einer anonymen Federzeichnung der sieben Todsünden, entstanden um 1332, die die Acedia auf einem Esel reitend, mit einem Stier/Rind auf dem Schild, ei-
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Melancholie beigesellt. Einen halben Zoo etwa versammelt Heinrich Aldegrever auf seiner Darstellung der Acedia (1552): Auf einem Esel reitend wird sie umrahmt von einem Affen sowie einem Storch, der als „Symbol des ständigen Bemühens“211 von dem Affen karikiert wird. Die Fahne in der Hand der Trägheit wiederum zeigt einen Krebs, der aufgrund seiner besonderen Fortbewegungsweise mit „unredlichem Tun“212 verknüpft wurde. Interessant ist bei dieser Darstellung zusätzlich der Hintergrund, eine Küstenlandschaft mit einer am See/Meer gelegenen Stadt, die an Dürers Melencolia I erinnert. Dürer selbst präsentiert noch ein weiteres Symboltier der Melancholie: die Fledermaus. Sie ist es, die auf der Melencolia I das titelgebende Banner trägt; und für Ficino fungiert die ‚Nachteule‘ als Symboltier der nächtlichen Arbeit. 213 Tatsächlich wurde auch die Fledermaus – die im Lateinischen als vespertilio den Abend bereits in ihrem Namen trägt – „traditionell mit der Melancholie verknüpft, [...] weil sie in der Abenddämmerung auftaucht und an einsamen, dunklen und verfallenden Stellen lebt“.214 Sie taucht ebenfalls auf Francisco de Goyas Gemälde Der Traum/Schlaf der
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ner Hyäne (?) auf dem Wams und einem Affen auf dem Helm zeigt. Dieser mit ‚Torheit‘ zu übersetzende Affe findet sich ebenfalls auf einem Kupferstich Pieter van den Heydens (1558) mit dem Titel Die sieben Todsünden – neben u.a. mehreren Schnecken und allerlei seltsamem Phantasiegetier – sowie auf einer deutschen Temperamentenfolge des Kupferstechers Peter Isselburg, entstanden 1615-1625, die mit dem Affen einen betrunkenen Melancholiker flankiert und ihm zusätzlich noch ein Eichhörnchen zur Seite stellt, welches den melancholischen Geiz versinnbildlicht. Auf einer späteren Darstellung der Trägheit aus dem Jahr 1861 durch den Deutschen Eduard Ille liegt der Affe sogar selbst im tiefsten Acedia-Schlaf versunken auf dem Oberschenkel des eigentlich Befallenen, zu dessen Füßen sich zwei schlafende Hunde ineinander verschlungen haben, die – zusammen mit einer auf dem Boden liegenden Kugel – an die Melencolia erinnern. In der christlichen Ikonografie ist der Affe „Symbol des Bösen, des Lasters [...] und der Sünde“ und einige Quellen setzen ihn sogar mit dem Teufel gleich (Badstübner/Neumann/Sachs (2005): Wörterbuch der christlichen Ikonographie, S. 22). Zu den genannten Abbildungen vgl. Eggelhöfer/Metzger/Vitali (2010): Lust und Laster, S. 81, 94, 117 und Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 187, 189-190. Siehe die Anmerkungen zu dem Kupferstich auf der Internetseite des Projekts „Heinrich Aldegrever und die Reformation in Soest“, eine Zusammenarbeit des LWL, der Stadt Soest und des Internet-Portals „Westfälische Geschichte“. (Ohne Erscheinungsdatum). Auf: http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID =746&url_tabelle=tab_medien&url_zaehler_blaettern=141, zuletzt gesehen am 22.10.2012. N.N.: http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.ph p?urlID=746&url_tabelle=tab_medien&url_zaehler_blaettern=141, zuletzt gesehen am 22.10.2012. Vgl. auch Grinda (2002): Enzyklopädie der literarischen Vergleiche, S. 1212-1213. Vgl. Ficino (2012): De vita libri tres, S. 73. Panofsky (1977): Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, S. 217. Kurt Rossmann beschreibt die „‚hieroglyphische‘ Bedeutung der Fledermaus [...] als Zeichen für einen Menschen, der ‚blindlings‘ denkt und handelt, und das ist: kritiklos und der Grenzen seines Denkens und Handelns nicht eingedenk“ und betont „ihre spezifisch saturnische Bedeutung als Zeichen für Ahnung und Wahr- und Weissagung und auch das Zwiedeutige,
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Vernunft gebiert Ungeheuer (1799) auf, das einen schlafenden Mann zeigt, mit dem Kopf auf den Armen sowie auf seinem Schreibzeug liegend und umgeben von einer Vielzahl von Fledermäusen, aber auch Eulen und Luchsen.215 Der Hund als Begleiter der Acedia erscheint schließlich ganz prominent in der vielleicht bekanntesten Darstellung der Sieben Todsünden durch Hieronymus Bosch, vermutlich um 1480 gemalt. Bosch legt der schlafenden Acedia – personifiziert als gutbetuchter Bürger, der keiner Arbeitsnotwendigkeit unterliegt 216 und der sich darüber hinaus weder um die geschlossene Bibel neben ihm noch um den Rosenkranz schert, der ihm von einer säuerlich dreinblickenden Nonne hingereicht wird – einen eingerollten Hund zu Füßen.217 Hier erscheint der Hund also in der Manier, wie auch Dürer ihn wenig später zeichnet. Nur ein flüchtiger Blick in die Darstellungstradition der Laster- und Temperamentenbilder hat eine Vielzahl von melancholischen Begleittieren zutage gefördert, deren Zuschreibung sich aus dem jeweiligen Schwerpunkt der Darstellung ergibt. Der Hund ist demnach keineswegs bereits vor Dürer fester Bestandteil der melancholischen Darstellungstradition, vielmehr ist er zunächst einer unter vielen und taucht eher in Bezug zu anderen Lastern und Temperamenten auf. Um seinen Weg an die Seite der Melencolia nachzeichnen zu können, ist ein Blick auf seine emblematische Funktion im Allgemeinen notwendig. Die emblematische Dimension des Hundemotivs Mit dem Hund – gemeinhin auch als bester Freund des Menschen bezeichnet – verbindet den Menschen eine lange, ungefähr 10 000 Jahre umfassende Historie. 218 Als einziges Tier überhaupt hat der Hund dabei „evolutionär auf den Menschen gesetzt“219, wie es Daniel Kehlmann in seinem Requiem für einen Hund formuliert. Aufgrund dieser langen gemeinsamen Geschichte überrascht es nicht, in welch vielzähliger und vielfältiger Weise sich der Hund zum Teil auf leisen Pfoten in das kultu-
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Düstere, Verborgene“ (Kurt Rossmann: „Wert und Grenze der Wissenschaft. Zur Symbolik von Dürers Kupferstich Melencolia I.“ In: Klaus Piper (Hg.): Offene Horizonte. Festschrift für Karl Jaspers. München: R. Piper & Co. 1953, S. 126-146: 140 und vgl. ausf. S. 136-140). Zur Fledermaus als Emblem für Melancholie und auch Langeweile vgl. Alexandra Hildebrandt: „Leb wohl du heiterer Schein!“ Blindheit im Kontext der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 65-66. Der Luchs steht in den christlichen Quellen als Symbol für das „Verdrängen der Erinnerung“. Die Eule ist in den von Grinda angeführten Quellen, wie auch bei Ficino, u.a. in Verbindung mit nächtlicher Tätigkeit und Einsamkeit zu deuten, Grinda (2002): Enzyklopädie der literarischen Vergleiche, S. 1073 und vgl. 1237-1239. Vgl. Daniela Hammer-Tugendhat: Hieronymus Bosch. Eine historische Interpretation seiner Gestaltungsprinzipien. München: Fink 1981, S. 23. Vgl. Eggelhöfer/Metzger/Vitali (2010): Lust und Laster, S. 52. In dieser Darstellung ist folglich nicht nur der „Sünder“ seiner Trägheit erlegen, sondern im Grunde die gesamte Szenerie: „der schlafende Hund, das zugeklappte Buch, das gemütliche Feuer im Kamin, die ruhende Spindel und nicht zuletzt die Leere des Raums“, die im starken Kontrast zum sonstigen Bild steht, Hammer-Tugendhat (1981): Hieronymus Bosch, S. 23. Vgl. Helmut Brackert u. Cora van Kleffens: Von Hunden und Menschen. Geschichte einer Lebensgemeinschaft. München: C. H. Beck 1989, S. 14. Kehlmann/Kleinschmidt (2008): Requiem für einen Hund, S. 15.
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relle Bildinventar und den Sprachgebrauch ‚geschlichen‘ hat.220 Neben der Zuschreibung von positiven menschlichen Werten wie Treue, Vertrauen, Empathie und Loyalität221, finden sich eine Fülle an negativen Zuschreibungen, zumeist bezogen auf seine Animalität, ja Laszivität, und seine angebliche Unreinheit.222 Eine Antwort auf die Frage, wie der Hund an die Seite der Melencolia gelangte und in Folge zum „Emblemtier der Melancholie“223 werden konnte, liefert das Horapol-
220 Die vorherigen wie auch die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das kulturelle Bildinventar des Okzidents; allerdings spielt das Hundemotiv in einer Vielzahl der Kulturen eine bedeutende Rolle. Wie eng die Genese des Welt- bzw. Menschenbildes in den Mythen der unterschiedlichsten Kulturen an das Hundemotiv geknüpft ist, beschreiben Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 47-62. 221 Vgl. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 6. Die Zuschreibung von Treue lässt sich bereits in der Antike finden. Der ‚Prototyp‘ dafür ist Odysseus’ Hund Argos, vgl. Homer: Odyssee XVII, 290-327. Übers. v. Anton Weiher. München, Zürich: Artemis & Winkler 101994 [um 720 v. Chr.]. 222 Vgl. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 6, 16. Karl Friedrich Wilhelm Wander versammelt in seinem Deutschen Sprichwörter-Lexikon (Berlin: Directmedia Publ. 2004 [1867-1880]) allein 1889 Sprichwörter zum Lemma „Hund“, die zumeist pejorativer Natur sind und ihren Ursprung im Mittelalter haben. Zurückführen lässt sich dieser für die Hunde ungünstige Umstand auf die Bibel, die ihn vor allem in seiner unreinen, unwürdigen und gefährlichen Ausprägung abbildet. Diese biblische „Hundefeindschaft“ ist als Versuch der jüdischen Abgrenzung gegenüber den „hundefreundlichen“ ägyptischen, griechischen, römischen und auch keltischen sowie germanischen Nachbarn zu interpretieren. In Folge des expandierenden Christentums und der fortschreitenden Missionierung kam es zu einem regelrechten (früh)christlichen „Kulturkampf gegen die nun als heidnisch angesehene Hundefreundschaft“ (Wippermann (2009): „Draußen sind die Hunde“, S. 84). Die hündischen Götter der ‚heidnischen‘ Kulturen (Anubis, Hekate, Zerberus, Germ) wurden in christlichen Zusammenhängen zu Dämonen umgedeutet, womit auch der Hund verstärkt in dämonologisches Licht rückte. Dass sich aber auch im Mittelalter durchaus positive Darstellungen finden lassen, wie etwa bei Hildegard von Bingen, die konstatiert, die Treue mache den Hund zu einem Graus für den Teufel, dem soviel Loyalität unheimlich sei (vgl. Hildegard von Bingen: Naturkunde. Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung. Übers. v. Peter Riethe. Salzburg: Otto Müller Verlag 1959 [1151–1158], S. 131) zeigt, wie schwer es die Kirche im Mittelalter hatte, ihren antihündischen ‚Kulturkampf‘ durchzusetzen. Neben der theologisch motivierten Abwertung des Hundes hatte der Vierbeiner in der lebensweltlichen Realität des Mittelalters seinen angestammten Platz u.a. an der Seite des Adels, des Jägers und natürlich des Hirten (vgl. Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 6376). Ein finales Ende fand die religiös motivierte und forcierte Hundefeindschaft schließlich ab dem 18. Jahrhundert durch die hundefreundlichen Einflüsse der Aufklärung und des Bürgertums. Vgl zu diesem Absatz Wippermann (2009): „Draußen sind die Hunde“, S. 85-87 sowie Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 20-46, 56, die u.a. ausführlich den Status des Hundes in der Antike beschreiben. 223 Jean Clair: „Aut deus aut daemon. Die Melancholie und die Werwolfskrankheit.“ In: Ders. (2005): Melancholie, S. 118-125: 122.
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lon224, in deren Beschreibung sich alle relevanten Zuschreibungen vereinen. Die Hieroglyphe ‚Hund‘ wird hier als Milz, Prophet oder ‚sacras literas‘ übersetzt, Begriffe, die sich interessanterweise mit den pseudo-aristotelischen Ausführungen zur Melancholie decken.225 Demnach, so konstatieren Klibansky/Panofsky/Saxl, wird der Hund im Horapollon „mit der Veranlagung des Melancholikers im Allgemeinen und mit der von Gelehrten und Propheten im Besonderen in Beziehung gesetzt.“ 226 Sowohl positive als auch negative Zuschreibungen werden dabei übertragen. Die Übersetzung Hund = Milz enthält etwa die negative Dimension einer Pathologie. Seit der Antike wird der Hund als von der Milz bestimmtes Wesen angesehen, und da diese wiederum den Humoralpathologen als Sitz der schwarzen Galle ‚bekannt‘ ist227 und darüber hinaus als anfälliges Organ gilt, ergibt sich hieraus der Aspekt der melancholischen Gefährdung. Benjamin vermerkt dazu: „Entartet jenes, als besonders zart beschriebene Organ, so soll der Hund die Munterkeit verlieren und der Tollwut anheim fallen.“228 Die hündische Tollwut wird so zum Pendant der den Menschen befallenden, melancholischen Furcht und Manie. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Einordnung des Hundes in humoralpathologische Zusammenhänge liefert das mittelalterliche Krankheitsbild der melancholia canina (Hundemelancholie). Auch als melancholia lupina, Lykanthropie oder (Wer-)Wolfkrankheit (insania lupina) bezeichnet, findet sie ihren Ursprung im 6. Jahrhundert nach Chr. in den Ausführungen des Aëtius von Amida, der beschreibt, wie sich die Betroffenen jeweils im Monat Februar in Wölfe und Hunde verwandeln, was er als eine Form der Melancholie diagnostiziert.229 Die Ärzte der Spätantike sowie des Frühmittelalters sehen diese als Folge einer Säfte-Dyskrasie, speziell einer übermäßigen schwarzen Galle, womit sie zum Krankheitsbild der Melancholie ge224 Es handelt sich dabei um eine spätantike Schrift über ägyptische Hieroglyphen, die vermutlich dem 5. Jahrhundert nach Chr. entstammt, aber erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde und unter den Humanisten ungemeine Popularität genoss. Eine kurze Historie des Horapollons und seiner Rezeption findet sich bei Manfred Schneider: „Der Hund als Emblem.“ In: Anne von der Heiden u. Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie. Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 149-176: 162-168. Zum Horapollon und dessen Einfluss auf die humanistischen Maler vgl. auch Patrik Reuterswärd: „The Dog in the Humanist’s Study.“ In: Ders.: The Visible and Invisible in Art. Essays in the History of Art. Wien: Irsa 1991, S. 206-225: 217-220. 225 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 455. 226 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 455. 227 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 104, 171, 180. 228 Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 131. Auch Burton bezeichnete die Milz als anfälliges Organ, vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 164. 229 Aëtius beruft sich dabei auf Marcellus von Side, einem poeta medicus des 2. Jahrhunderts, vgl. Carol Falve Heffernan: „That Dog Again: Melancholia Canina and Chaucer’s Book of the Duchess.“ In: Modern Philology 84 (1986), S. 185-190: 187 und Clair (2005): Aut deus aut daemon, S. 118. Abgedruckt findet sich das Traktat in Galens Opera Omnia, vgl. Claudii Galeni: Opera Omnia Bd. 19. Hg. v. C. G. Kühn. Hildesheim: Olms 1965, S. 719-720 sowie zur Überlieferungsgeschichte vgl. Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker, S. 85.
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hört. Und ähnlich wie die Acedia scheint auch diese Sonderform der Melancholie epidemischer Natur zu sein.230 Zwar stammen alle hier genannten Quellen aus der Zeit vor der neoplatonischen Aufwertung zur genialischen Melancholie, doch auch in der Renaissance und über sie hinaus bleibt die Verbindung von Melancholie und Lykanthropie bestehen. Ihre Hochzeit sollte sie sogar erst im Zuge der Inquisition der Frühen Neuzeit erfahren.231 Ist die positive melancholia generosa eines Marsilio Ficino Privileg des Adels und der „zivilisierten Welt“, befiel die melancholia canina eher die „unterste[] Gesellschaftsschicht“.232 Der ‚Melancholievorwurf‘ im Sinne einer minderwertigen, tierischen, ja hündischen Melancholie gilt immer nur für den jeweils Anderen. Dies bezeugt auch die Äußerung des ‚Gegenreformators‘ Aegidius Albertinus, der die Acedia an die Tollwut knüpft und damit in eine ähnliche Kerbe schlägt wie die Autoren der Hundemelancholie. Er schreibt: „‚Artlich wirdt die Accidia oder Trägheit dem Biß eines wütigen Hundts verglichen/ dann wer von demselbigen gebissen wird/ der vberkompt alsbaldt erschrökliche Träum/ er förchet sich im Schlaf/ wird Wütig/ Vnsinnig/ verwirfft alles Getranck/ förchtet das Wasser/ bellet wie ein hund/ vnd wirdt dermassen forchtsamb/ daß er auß forcht niderfellt. Dergleichen Leut sterben auch bald/ wann jhnen nicht geholfen wirdt. Derjenige wirdt vom Hund gebissen/ welcher verflucht wird/ vom Trägheits Teuffel: Dergleichen Leut haben erschrökliche Träum/ und förchten sich ohne Ursach/ dann was leicht ist/ das kompt ihnen schwer für : Andern Arbeitern schawen sie zu/ seynd faul/ und wöllen doch den Namen nicht haben/ daß sie faul seyen.‘“233
Vertritt Albertinus eher die theologische Version der „teuflische[n] Besessenheit“, so offenbart der britische König Jakob I. von England eine „rationale, humorale Erklärung“234, da er in seinem 1597 verfassten Traktat über die Hexerei die Lykanthropie nicht als Besessenheit oder Verzauberung bezeichnet, sondern als eine „durch einen melancholischen Zustand“235 ausgelöste Sinnestäuschung, bei der die Betroffenen sich die Symptome nur einbilden. Diese beiden Ansichten stehen sich bis ins 18. Jahrhundert hinein gegenüber. Zu den ‚Hundstagen‘ In Verbindung mit der pathologischen Sicht auf den „Melancholiehund“ 236 steht auch das Phänomen der Hundstage, eine für ihre Hitze berüchtigte Zeit zwischen dem 23. Juli und dem 23. August (nach heutiger Zeitrechnung), die mit dem Aufgehen des
230 Vgl. Clair (2005): Aut deus aut daemon, S. 118. 231 Vgl. Michael Stolberg: „Lykanthropie.“ In: Der neue Pauly Bd. 15/1. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 243-246: 243. 232 Clair (2005): Aut deus aut daemon, S. 118. 233 Aegidius Albertinus: Lucifers Königreich und Seelengejaidt: Oder Narrenhatz. Augsburg: Nicolaus Hainrichs 1617, S. 390. Vgl. dazu auch Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 135. 234 Clair (2005): Aut deus aut daemon, S. 120. 235 Clair (2005): Aut deus aut daemon, S. 120. 236 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 534.
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Hundssterns beginnt.237 Der Hund taucht bereits im 3. Jahrhundert als Genius der Pest auf238 und es heißt passenderweise über die nach ihm benannte Jahreszeit: „Der Hundtstern auffgeht mit trübem Glantz, bringt allzeit gern Pestilentz.“ 239 Bei dem hier genannten Hundsstern handelt es sich um den Sirius, den hellsten Stern des Sternenbildes canis major (Großer Hund).240 Ist er bei den Ägyptern noch positiv besetzt241, schreibt ihm die griechisch-römische Antike – losgelöst vom positiven mythologischen Ursprung – vor allem destruktive Kräfte zu. So dichtet Homer, der Hundsstern steige im Herbst auf und bringe große Hitze 242; Horaz bezeichnet ihn sogar als den „allen Ackerleuten verhaßten Stern“243; und auch Vergil beschreibt den „sengende[n] Hundsstern“, der macht, „daß die Inder vor Durst verdorrten.“ 244 Hippokrates nimmt sich ebenfalls dem astrologischen und klimatischen Ereignis an und konstatiert, die Hundstage seien eine Zeit von „schwere[n] Gallenkrankheiten“ 245, in der die Medizin wenig bis keine Wirkung zeige.246 Was hier passiert, ist eine direkte Verknüpfung der Hundstage mit der Melancholie, die jedoch nicht über das Hundemotiv stattfindet. Vielmehr beruht diese Feststellung auf der Annahme der Humoralpathologen, eine erhitzte schwarze Galle sei besonders gefährlich, weshalb der übermäßig heißen Zeit der Hundstage starke Symptome zugeschrieben werden. 247 Darüber hinaus werden die Hundstage, wie bei Homer nachzulesen ist, dem Herbst zugerechnet, welcher seit den Frühzeiten der Humoralpathologie auch die Jahreszeit der schwarzen Galle ist.248 Die Verbindung zur Melancholie ist folglich von Anbeginn gegeben, zum einen aufgrund der jahreszeitlichen Analogie, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass die extremen Wetterumstände, so lässt es zumindest Hippokrates verlauten, auch zu extremen gesundheitlichen Problemen führen. 249 237 Vgl. N. N.: „Hundstage.“ In: Meyers Grosses Konversations-Lexikon Bd. 6. Berlin: Directmedia Publ. 62004, S. 654. 238 Vgl. Linda Michael: „‚Black Dog‘. The History of an Expression.“ 2005. Auf: http:// www.blackdoginstitute.org.au/docs/Michael.pdf, S. 2-3, zuletzt gesehen am 13.11.2012. 239 Wander (2004): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, S. 121548. 240 Vgl. Holger Steinmann: „Zitatruinen unterm Hundsstern. W. G. Sebalds Ansichten von der Nachtseite der Philologie.“ In: Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin: Schmidt 2006, S. 145-156: 146. 241 Vgl. Ernst Zinner: Sternglaube und Sternforschung. Freiburg, München: Verlag Karl Alber 1953, S. 29-30, 74. 242 Vgl. Steinmann (2006): Zitatruinen unterm Hundsstern, S. 147. 243 Horaz: „Satire 1,7.“ In: Ders.: Horazens Satiren. Übers. v. Christoph Martin Wieland. Nördlingen: Greno 1985 [ca. 35 v. Chr.], S. 223-225: 223. 244 Vergil: Georgica Bd. 1. Hg. u. übers. v. Manfred Erren. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1985 [37-29. v. Chr.], IV 425, S. 147. 245 So paraphrasiert ihn zumindest Johann Samuel Traugott Gehler: Physikalisches Wörterbuch Bd. 5,1 Leipzig: E. B. Schwickert 1829 [1785], S. 518, der leider keine Quellen angibt. 246 Vgl. Steinmann (2006): Zitatruinen unterm Hundsstern, S. 148-149. 247 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 66-76, 107. 248 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 47-48. 249 Die Verbindung ist folglich nicht etwa nur über Umwege zu rekonstruieren, wie Steinmann behauptet, vgl. Steinmann (2006): Zitatruinen unterm Hundsstern, S. 149-150.
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Waren die Hundstage in der Antike ein bekanntes und vielbesprochenes Phänomen, sind sie heutzutage allerhöchstens noch in den sogenannten Bauernregeln erhalten geblieben. Zuweilen findet man sie allerdings in literarischen Darstellungen wieder, so bei W.G. Sebald, der in Die Ringe des Saturn (1995) die Wallfahrt des melancholischen Ich-Erzählers gegen Ende der Hundstage beschreibt.250 Wie bereits Homer, Horaz und Vergil vor ihm, betont Sebald dabei den Aspekt der Zerstörung.251 Auch Walter Kempowskis 1988 erschienener Roman Hundstage spielt in flirrender Hitze, die sein Protagonist, der Schriftsteller und Hundehalter Alexander Sowtschick, allein in seinem Haus verbringt, da seine Frau ohne ihn in den Frankreichurlaub gefahren ist. Er selbst nutzt die Zeit, um an einem neuen Roman mit dem – für den melancholischen Kontext passenden – Titel Winterreise zu arbeiten, der wiederum von einem Schriftsteller handelt, der im Winter über den Sommer schreibt. Die Hundstage werden für Sowtschik eine Zeit voller unvorhergesehener Ereignisse, an deren Ende die Rückkehr seiner Frau in das von Vandalen vollständig zerstörte Haus steht.252 Das destruktive Moment findet sich auch in Herbert Achternbuschs Roman Hundstage (1995) wieder, jedoch in Bezug auf eine in der italienischen Hitze scheiternde Liebesbeziehung.253 In der Literatur des 20. Jahrhunderts erscheinen die Hundstage aber nicht uneingeschränkt als Zeit des Unglücks und des Verderbens, sondern vielmehr als Zeit der Extreme, als eine melancholische Phase, die einen aus der Zeit fallen lässt, wie es in Poschmanns Hundenovelle der Fall ist. In dieser Manier beschreibt sie auch der österreichische Zoologe Konrad Lorenz: „Mögen die Hundstage der Herkunft ihres Namens nach mit den Griechen und mit dem Sirius verknüpft sein, ich nehme sie wörtlich. Wenn man nämlich die geistige Arbeit ‚bis daher hat‘, wenn einem Gescheitreden und Höflichkeit meterweit zum Halse hinaushängen, wenn einen beim Anblick einer Schreibmaschine ein unwiderstehlicher Ekel überkommt, welche Symptome gegen Ende eines Sommersemesters aufzutreten pflegen, dann komme ich auf den Hund, oder besser gesagt, ‚auf das Tier‘. Ich ziehe mich von der Gesellschaft der Menschen zurück und suche die der Tiere auf, und zwar deshalb, weil ich kaum einen Menschen kenne, der geistig faul genug ist, um mir in dieser Stimmung Gesellschaft zu leisten. [...] Dieses animalische Nirwana ist das beste Gegengewicht gegen geistige Arbeit, ein wahrer Balsam für die vielen wundgeriebenen Stellen an der Seele des abgehetzten modernen Menschen. Am leichtesten gelingt mir diese heilende Einkehr in das vormenschliche Paradies in Gesellschaft eines Wesens, das seiner noch von Rechtswegen teilhaftig ist – in der eines Hundes. Es sind also ganz bestimmte Gründe, derentwegen ich einen Hund brauche, welcher mich treu begleitet, der aussieht wie ein wildes Tier, der die wilde Landschaft nicht durch sein zivilisiertes Aussehen verdirbt...“254
250 Vgl. W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Frankfurt/M.: Eichborn 1995, S. 15-16. 251 Vgl. Steinmann (2006): Zitatruinen unterm Hundsstern, S. 151. 252 Vgl. Walter Kempowski: Hundstage. Hamburg, München: Knaus 1988. 253 Vgl. Herbert Achternbusch: Hundstage. Frankfurt/M.: Fischer 1995. 254 Konrad Lorenz: So kam der Mensch auf den Hund. Wien: Borotha-Schoeler 31951 [1949], S. 197-198.
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Die einstmals ob ihrer destruktiven Hitze gescholtenen Hundstage werden von Lorenz positiv umgedeutet. Sie ermöglichen eine Auszeit im Sinne der Zurück-zurNatur-Rhetorik, wofür dem Autor der Hund als grenzgängerisches Wesen zwischen Kultur – die hier vor allem mit Arbeit konnotiert ist – und Natur als der perfekte Begleiter erscheint. Die Hundstage werden gegen Ende der Sommersemesterferien für den zu der Zeit für die Österreichische Akademie der Wissenschaften forschenden Zoologen zu Tagen der erholsamen Untätigkeit, des melancholisch-müßiggängerischen Sich-treiben-Lassens und unzeitgemäßen Aus-der-Zeit-Fallens.255 Die philosophische Melancholie und der Hund Die Betrachtung der Verbindung von Hundemotiv und philosophischer Melancholie führt wiederum zurück zum Horapollon, das nicht nur die pathologische Sicht auf den Hund, sondern in der hieroglyphischen Übersetzung Hund = Prophet und ‚sacras literas‘ auch die philosophische Tradition weiterschreibt. Bereits bei Platon findet sich eine entsprechende Verbindung, macht er in seiner Politeia doch den Hund zum Sinnbild für die „Wächter“256 seines Idealstaates. Er beschreibt ihn als „‚wißbegierig‘“ und „‚philosophisch‘ (weisheitsliebend)“257, mit der Begründung, er habe eine besondere Befähigung, Freund und Feind, sprich: Gutes und Schlechtes voneinander zu unterscheiden. Darüber hinaus sei er mutig und stark. 258 Auch Ficino greift in einem den De vita libri tres angehängten Brief diese Übertragung auf und vergleicht den Spürsinn des Hundes mit dem des Philosophen.259 Dieser Zuschreibung nach gilt der Hund als „begabter und feinfühliger als andere Tiere“; er ist „sehr ernster Natur“
255 Dabei handelt es sich um eine Auszeit, die für den Bauern in der Antike undenkbar ist, steht doch die Ernte ins Haus, die er darüber hinaus durch die heißen Tage gefährdet sieht, was wiederum die negative Darstellung der Hundstage in der Antike erklären mag. 256 Platon: Der Staat. Übers. v. Otto Apelt. Hamburg: Felix Meiner 1961 [um 370 v. Chr.], 375a-e, S. 75. Vgl. dazu Roland Borgards: „Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus.“ In: Heiden/Vogl (2007): Politische Zoologie, S. 131-147: 137. 257 Platon (1961): Der Staat, 376b, S. 75. 258 Vgl. Platon (1961): Der Staat, 376c, S. 75. 259 Er schreibt zur Veröffentlichung seiner umstrittenen Trilogie an drei seiner Freunde: „Nicht unpassend bezeichnen wir die Philosophietreibenden als Jäger, denn sie mühen sich unentwegt keuchend und hechelnd auf der Suche nach Wahrheit ab. Nennt man sie daher treffend ‚Hunde‘? Sehr treffend, sagt Sokrates in der Politeia. Denn Philosophierende sind entweder legitime Kinder oder Bastarde, aber beide sind Hunde. Erstere suchen die Wahrheit selbst mit scharfem Spürsinn und verteidigen sie, ist sie gefunden, mit Klauen und Zähnen; letztere dagegen bellen, beißen und zerfleischen bloß zur Verteidigung ihrer Meinung. In der Tat beanspruchen die Hunde unter den Philosophen so viel für sich, dass sie sich nicht nur einfach irgendeinem Rudel anschlossen, sondern einst eine eigene Sekte namens ‚Kyniker‘ gründeten. Sogar die Akademie hat ihre eigenen Hunde. Von dort rufe ich euch also hierher, euch, ihr gelehrten Hunde der Akademie, euch, ihr schnellsten Läufer, kommt her. Denn ihr seid zu dritt. Daher rufe ich euch nun auf, verteidigt meine drei Bücher-Kinder, die noch so jung sind und, wie ich fürchte, jeden Augenblick unter die Wölfe fallen werden.“ Ficino (2012): De vita libri tres, S. 407.
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und neigt „gleich tiefsinnigen Denkern dazu [...], stets auf der Jagd zu sein, die Dinge aufzuspüren und beständig einer Sache nachzuhängen.“ 260 In einem ähnlichen, sprich: philosophischen Kontext findet sich der Hund in der Schule der Kyniker. Diese ‚Hunde-Philosophen‘ machen es sich zum Ziel, „die Masken des zivilisierten Lebens eine nach der anderen herunterzureißen und der allgemeinen Heuchelei die Sitten eines ‚Hundes‘ entgegenzuhalten“.261 So bevorzugen die Kyniker periphere Orte „in der Nähe von Friedhöfen [und] Ruinen“; sie leben, wie Diogenes von Sinope, in Tonnen, verrichten ihre Notdurft in der Öffentlichkeit und scheuen diese auch nicht bei sexuellen Handlungen.262 Wie diese Beispiele zeigen, prädestinieren die ihm zugeschriebenen Eigenschaften und Talente wie Treue, Wachsamkeit und Spürsinn den Hund zum einen für das Sinnbild des Philosophen, zum anderen kann er aufgrund seiner animalischen Natur aber auch zum Symbol einer sich dem gesellschaftlichen ‚Mainstream‘ entgegenstellenden Haltung werden, denn er ist zwar weit genug entfernt vom Menschen, um eine Kluft entstehen zu lassen, aber nicht zu weit, um die Verbindung zum Menschlichen und damit seine Funktionalität als Spiegelbild zu verlieren. Neben den antiken Philosophen bedienen sich auch die christlichen Theologen der Spätantike sowie des Früh- und Hochmittelalters des Hundemotivs. Gregor der Große etwa bezeichnet die Kirchenväter als canes263, was sich spezifiziert in der Benennung der domini canes, der „Wachhunde des Herren“264 findet – besser bekannt als Dominikaner. Diese sind in Zeiten der Inquisition für ihren großen Einsatz und ‚guten Riecher‘ im Auffinden von angeblichen Häretikern berüchtigt. 265 Zum einen fußt eine solche Benennung natürlich auf dem Moment der Treue. In diesem Sinn begegnet der Hund auch dem Betrachter von Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel sowie von dessen Kupferstich Der heilige Eustachius (um 1500-1503). Er ist hier „übliche[s] Begleittier des Pilgers“, wie er „in der mystischen Volksliteratur“ häufig anzutreffen ist, und steht symbolisch für den „göttlichen Eifer und Ernst“. 266 In noch viel stärkerem Maße als auf die Treue beruft sich die Eigenbenennung der Dominikaner jedoch auf den Spür- und den daraus geschlussfolgerten Scharfsinn – eine Zuschreibung, die man bereits bei Platon herauslesen kann und die bei Isidor von Sevilla zu konkretem Ausdruck kommt, wenn er schreibt: „Der Hund ist der scharfsinnigste unter allen Lebewesen, und er ist der sinnreichste unter den Tie260 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 455. 261 Michel Onfray: Der Philosoph als Hund. Vom Ursprung subversiven Denkens bei den Kynikern. Frankfurt/M., New York, NY: Campus 1991, S. 32. 262 Onfray (1991): Der Philosoph als Hund, S. 36 und vgl. S. 38-40. Auch in der modernen Kunstszene finden sich Beispiele für eine solchermaßen instrumentalisierte ‚Hundigkeit‘, vgl. Dörte Zbikowski: „Chimära/Satire.“ In: Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 89-113. 263 Vgl. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 154. 264 Gudrun Gleba: Klöster und Orden im Mittelalter. Darmstadt: WBG 32008 [2002], S. 114. 265 Vgl. Gleba (32008): Klöster und Orden im Mittelalter, S. 114-115. 266 Wölfflin (1984): Die Kunst Albrecht Dürers, S. 321. Zu der Rolle des Hundes auf Ritter, Tod und Teufel vgl. Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 223. Weitere ähnliche Beispiele aus der Kunst versammelt Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 228-237.
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ren.“267 Doch woraus resultiert diese Überzeugung des spanischen Gelehrten? Die Frage führt rund 300 Jahre zurück, zu Basilius von Caesareas, der den hündischen Spürsinn zum Sinnbild eines logischen Vorgehens erklärt 268, woraus wiederum Isidors Zuschreibung des Scharfsinns resultiert. Basilius begründete somit eine Tradition, die den Hund als emblematisches Tier der Logik oder auch der Dialektik einsetzt.269 Es ist nur ein kleiner Schritt vom hündischen Spürsinn hin zu einer weiteren positiven Zuschreibung, die sich in der Übersetzung Hund = Prophet manifestiert: der hündischen Einbildungskraft. Stand diese Zuschreibung wiederum auf antikem Fundament270, gelangt sie bei den Autoren des Humanismus zu neuer Beachtung. Petrarca etwa macht den Hund zur „Metapher für den Dichter selbst“.271 Hündischer Spürund Scharfsinn erscheinen damit in einem künstlerischen Kontext und werden im Sinne der imaginatio umgedeutet. Neben Petrarca lässt sich die hündische Einbildungskraft u.a. noch bei dem spanischen Arzt und Philosophen Juan Huarte de San Juan und dem englischen Schriftsteller John Dryden wiederentdecken; 272 und ebenso ist der Konnex zwischen Hund und imaginatio von Robert Burton bekannt, jedoch 267 Ich zitiere die deutsche Übersetzung nach Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 158. Das Originalzitat findet sich in: Isidor von Sevilla: Etymologiae sive origines Bd. 2. Hg. v. Wallace Martin Lindsey. Oxford: Clarendon Press 1911 [um 630], Lib. XII, II, 2526. 268 Vgl. Basilius von Caesarea: „Die neun Homilien über das Hexaemeron. Homilie 9,4.“ In: Ders.: Ausgewählte Homilien und Predigten. Übers. v. Anton Stegmann. München: Pustet 1925 [378], S. 1-153: 147. 269 Vgl. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 158-159. In den mittelalterlichen Darstellungen der artes liberales erscheint er häufig in dieser emblematischen Funktion. So zeigt die enzyklopädische Schrift der Äbtissin Herrad von Landsberg, das Hortus delicarium aus dem 12. Jahrhundert, die personifizierte Dialektik mit einem Hundekopf in der Hand und vermerkt, sie „‚lasse die Argumente nach Hundeart miteinander wetteifern‘“ (Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 158 und vgl. S. 156-158); eine Allegorie aus Gregor Reischs Margarita Philosophica (1508) wiederum präsentiert eine von zwei Hunden begleitete Logik, wobei der muntere als veritas, der träge hingegen als falsitas benannt wird, vgl. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 159-160. Ausf. vgl. Karl Josef Höltgen: „Clever Dogs and Nimble Spaniels. On the Iconography of Logic, Invention, and Imagination.“ In: EESE 10 (2000). Auf: http://webdoc.sub.gwdg.de/edoc/ia/ eese/general_frame.html, S. 14-15, zuletzt gesehen am 05.11.2012. Zu weiteren Beispielen dieser Art – sowohl im positiven als auch im negativen Sinn – vgl. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 159-161 und Höltgen (2000): Clever Dogs and Nimble Spaniels. 270 Sie findet sich bereits Odysseus’ Argos angedichtet, vgl. S. 122, Fn. 221 sowie Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 220-221. 271 Karlheinz Stierle: „Petrarcas Hund.“. In: Neue Rundschau 115/1 (2004), S. 43-44: 43. 272 Dryden vergleicht die Einbildungskraft mit einem ‚flinken Spaniel‘, der die ‚Felder der Erinnerung‘ durchstreift (vgl. Höltgen (2000): Clever Dogs and Nimble Spaniels, S. 2-3, 5-7). Zum Spaniel als über Jahrhunderte hinweg „beliebteste[r] Hund der Engländer“, Katharina von der Leyen: „Eine Seele von Hund.“ In: Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 15 und vgl. bis S. 18.
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nicht in einem uneingeschränkt positiven Sinne. Bei ihm wird der ‚putzige‘ Spaniel Drydens zu einem ‚raging Spaniel‘, der durch Felder pflügt, die er nicht zu bestellen braucht.273 In einen engen Zusammenhang werden hündische Melancholie und Spürsinn von dem Hieroglyphiker Pierio Valeriano gebracht. In seiner auf dem Horapollon basierenden, 1556 veröffentlichten Schrift Hieroglyphica sive de sacris Aegyptiorum aliarumque gentium literis taucht die „posthieroglyphische[]“ Darstellung des Hundes in zwei Bedeutungen auf: Zum einen soll nach Valeriano die ägyptische Hieroglyphe ‚Hund‘ als „sacarum literarum professor“ zu übersetzen sein, mit der Erklärung, der Gelehrte müsse „auf das Studium der heiligen Texte viel Zeit und Geduld verwenden und nach Art der Hunde bellen [...], um gegen die Fehler der Menschen anzugehen.“274 Zum anderen zeichnet er das Bild eines Stola tragenden Hundes, das princeps, also „Fürst oder Gesetzgeber“275, bedeutet. Die Melancholie kommt hinzu, wenn er feststellt, der beste Hund sei derjenige, der das melancholischste Gesicht aufweise, mit der Begründung, dieser sei im „Aufspüren und Laufen der beste“276, wie Benjamin zu Valerianos Ausführungen vermerkt. Hier verbindet sich im hündischen Blick ein kausaler Zusammenhang zwischen kummervollem Ausdruck und Intelligenz; je intensiver Ersteres, desto ausgeprägter Letzteres.277 Wie sich an diesen Beispielen ablesen lässt, erfreut sich das philosophisch geprägte Hundemotiv vor allem unter Humanisten großer Beliebtheit. In noch viel stärkerem Maß als für die schriftlichen Überlieferungen gilt das in Bezug auf die humanistischen Gelehrtenportraits.278 Diese Darstellungstradition geht zurück auf die Portraits Petrarcas Ende des 14. Jahrhunderts, in denen man ihm einen kleinen Hund zur Seite stellt; zum einen aus biografischen Gründen (Petrarca ist seinen Zeitgenossen als Hundehalter bekannt und erwähnt seinen ‚treuen Hund‘ in einigen Briefen), zum anderen aufgrund des hündischen Scharfsinns279, den man damit auf den Humanisten selbst überträgt. Auf diesen Gemälden begegnet dem Betrachter der Hund zumeist als kleine Rasse, wie Spitz, Pudel oder Malteser; sein symbolischer Bedeutungsspielraum entspannt sich zwischen Treue, Spürsinn und Einbildungskraft. 280 In eben jene Tradition der humanistischen Gelehrtenportraits ist schließlich auch Dürers heiliger Hieronymus einzureihen, fügt er doch Hieronymus’ eigentlichem AttributTier, dem Löwen, einen schlafenden Spitz hinzu.281 In der Figur des Hundes – als ‚Milztier‘, Jagdhund und Fährtenleser – ‚personifiziert‘ sich folglich nicht nur die Gefährdung des Melancholikers durch seine polare Veranlagung, sondern auch der melancholische Grübelzwang sowie der Forscher273 274 275 276 277 278 279 280 281
Vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 3-4. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 164-165. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 166. Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 132. Zu Valeriano vgl. auch Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 163-167. Vgl. Panofsky (1977): Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, S. 217. Vgl. Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 154. Vgl. Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 208-209. Vgl. auch Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 98-100. Vgl. Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 212-213. Vgl. Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 206-207, 209.
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drang des Denkers und Gelehrten.282 Darüber hinaus weisen die astrologischen Quellen den Hund als typisches Saturntier aus283 – ein weiterer Grund, ihn, nach vollzogener Zuordnung der Säfte- zur Planetenlehre, dem Melancholiker zuzuordnen, wie bei Bosch und Dürer. Dürers ‚Windspiel‘ Ist die Antike dem Hund tendenziell freundschaftlich gesinnt und räumt ihm einen großen Platz in ihren Mythologien ein, bleibt der Hund im Mittelalter auffällig ambivalent.284 Der gewollt feindlichen Haltung der Kirche steht seine Hochschätzung in lebensweltlichen Zusammenhängen gegenüber. In der Renaissance löst sich dann das Hundemotiv „aus diesen Bindungen langer Auslegungstraditionen“ und wird im Rahmen eines „gigantischen sinnbildlichen Zeichensystems, der Emblematik, weiterentwickelt“.285 Der emblematische Hund der Gelehrten- sowie der Fürstenportraits erscheint dabei als melting pot der positiven Zuschreibungstraditionen. In ihm verschmilzt die hieroglyphische Bedeutungsebene mit dem treuen Hund der Kirchenväter und dem scharfsinnigen Hund der Philosophen.286 In diese Tradition reiht sich auch der Dürer’sche Windhund ein287, ist Dürer mit all diesen Zuschreibungen doch bestens vertraut, da er als Illustrator für die lateinische Übersetzung des Horapollon durch seinen Freund Willibald Pirckheimer im Jahr 1512 verantwortlich zeichnet.288 Dürer bieten sich demnach genügend Anknüpfungspunkte, seiner Melencolia, deren Symbolismus auf „‚hieroglyphischen Füßen‘ steht“289, einen Hund zur Seite zu stellen. Dürers Hund erscheint folglich sowohl auf der Grundlage der pathologischen als auch der philosophischen sowie der astrologischen Tradition als melancholisches 282 Vgl. Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 131. 283 Mal sind es nur die schwarzen Hunde, die unter dem Einfluss des Saturns gesehen werden, mal alle, vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 455. 284 Dieses lässt sich u.a. dadurch erklären, dass der Hund, trotz oder wegen seiner Popularität, im Physiologus – eine aus dem 2.-4. Jahrhundert stammende frühchristliche Schrift über die Natur, die nach der Bibel im Mittelalter wohl am breitesten rezipiert wird (vgl. Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 77) – nicht auftaucht, was zur Folge hat, dass das Hundebild uneindeutig bleibt. Sowohl die negativen als auch die positiven Zuschreibungen werden erhalten und fortgeführt, vgl. Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 78, 84. 285 Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 101. 286 Eine Vielzahl von weiteren Beispielen aus dieser Darstellungstradition versammelt Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 22-42. 287 Vgl. Höltgen (2000): Clever Dogs and Nimble Spaniels, S. 12. 288 Ausf. zum Horapollon vgl. Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen. Leipzig: Hiersemann 1923, insb. S. 82-95 zu den Dürer’schen Illustrationen. Vgl. auch Schneider (2007): Der Hund als Emblem, S. 168-170 sowie Giehlow (1904): Dürers Stich Melencolia I und der maximilianische Humanistenkreis, S. 70-74. 289 Bernd Evers, Tobias Kunz u. Jörg Völlnagel: „...um Albrecht Dürer.“ In: Dietrich Wildung u. Moritz Wullen (Hg.): Hieroglyphen! Berlin, Köln: SMB DuMont 2005, S. 60-69: 67.
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Tier. Denkwürdig ist jedoch seine augenfällig jämmerliche Erscheinung, die in extremem Kontrast zu dem wohlgenährten Spitz des Heiligen Hieronymus steht290 und die bereits von Dürers Zeitgenossen nicht ohne Verwunderung besprochen wird. 291 Sein Spürsinn, seine prophetische Gabe – alles schläft. Es findet hier nicht eine bloße Übernahme des humanistisch geprägten Hundemotivs statt, denn als treuer wie scharfsinniger Begleiter des Gelehrten bzw. als Fährtenleser lässt dich dieses jammervolle Geschöpf wohl kaum bezeichnen.292 Entscheidenden Einfluss auf die von Dürer gewählte Darstellung nimmt die Polarität der Melancholie, die von ihm wie auch von Ficino betont wird. Der Hund erscheint „vor allgemeinem Elend in sich zusammengezogen“;293 sein Schlaf bewahrt die Trägheit und das Leid der Acedia kursorisch auf, verweist aber darüber hinaus auf die der Milz zugeschriebenen Träume, die sowohl alptraumhafter als auch „divinatorische[r]“294 Natur seien können. Er repräsentiert sowohl die melancholische Erdgebundenheit als auch die Schwere und die Müdigkeit; seine Umgebung nicht wahrnehmend, verweist er auf die melancholische Haltung, nach der alle Erscheinungen falsch und fehlleitend sind und in der sich deshalb von der äußeren Welt abgewendet wird.295 In der Jämmerlichkeit des Hundes hingegen leuchtet der Aspekt des Todes und des Unheilvollen der hündischen Natur wieder auf und wird im Auge des Betrachters zum Memento mori. Und auch die pathologische Hundemelancholie findet sich in dieser Jämmerlichkeit wieder. Im Windspiel spiegeln sich folglich die unterschiedlichen melancholischen Neigungen, wie Alice Kuzniar es zusammenfasst: „Wahnsinn und Prophetie, Trägheit und metaphysische Reflexion, Erdgebundenheit und himmlische Träumereien.“296 In der Nachfolge dieser Dürer’schen Darstellung wird der Hund endgültig seinen Platz als ‚Emblemtier‘ der Melancholie behaupten.297 290 291 292 293 294 295 296 297
Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 450. Vgl. Reuterswärd (1991): The Dog in the Humanist’s Study, S. 223. Vgl. Böhme (1989): Albrecht Dürer, S. 16. Panofsky (1977): Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, S. 217. Benjamin (2007): Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 131. Vgl. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 16. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 17, Übers. N.V., Herv. i.O. Aber wie sooft in der Begriffsgeschichte der Melancholie kann trotz Dürers großem Einfluss auch das Motiv des Hundes nicht alleinige Geltung beanspruchen. Wie in der kurzen Skizze zu den melancholischen Symboltieren deutlich wurde, finden sich auch nach Dürer durchaus noch andere Tiere auf den Abbildungen der Melancholie, die auf weitere Traditionslinien verweisen (vgl. Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 184-189 und Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 548556). Dennoch kann man der Melencolia I eine „gewaltige Macht“ (Klibansky/Panofsky/ Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 523) über die Nachwelt zugestehen und es lassen sich innerhalb der Bildenden Kunst unzählige Zeugnisse für den direkten Einfluss wie auch das indirekte Weiterwirken der Dürer’schen Darstellung finden (ältere Beispiele versammeln u.a. Lütke Notarp (1998): Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, S. 192, 200 sowie Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 562-569 und die Tafeln 133-135, 139, 140, 152). Auch im 20. Jahrhundert taucht der Dürer’sche Melancholiehund in vielen Beispielen auf, u.a. in Dieter Krämers Dürerinterpretation Melancholie (1970), aber auch etwas freier u.a. bei Georg Grosz und Lucian Freud wie auf den Fotografien von
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Zum Motiv des schwarzen Hundes Eine besondere Rolle in diesem Kontext kommt dem Motiv des schwarzen Hundes zu. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter erscheint dieses vor dem Bedeutungshorizont des Todes. Ist das Motiv in der Antike noch ambivalent besetzt298, so erstrahlt es im völkischen Aberglauben des Mittelalters ganz im negativen Glanz. Der schwarze Hund gilt als böses Omen, als Todesbote, als Verbündeter der Hexen und des Teufels persönlich bzw. als dessen Inkarnation, und auch in der Hexenverfolgung kommt ihm eine gewisse Rolle zu.299 Ein prominentes Beispiel hierfür liefert Mona Mönnig und Jo Longhurst. Der deutsche Künstler Wolfgang Petrick widmete dem melancholischen Hund eine eigene Ausstellung und ließ sich bei seinen Kunstwerken dezidiert von Dürers Meisterstich inspirieren. Neben einer aus unterschiedlichen Materialen bestehenden Plastik mit dem Namen Melancholischer Hund begegnet dem Betrachter auch die Melencolia selbst wieder, eingearbeitet in Collagen, zum Teil übermalt und dadurch ihrer spezifischen Heroik beraubt. Sie erscheint „abgeschossen, verbrannt, gefallen und zugerichtet“, was sich durchaus als Kritik an dem subjektiv als leerlaufend wahrgenommenen Fortschritt lesen lässt (Peter Funken: „Melancholien.“ In: Wolfgang Petrick: Der melancholische Hund und andere Hausbewohner. Strasbourg: Asperger Gallery 1992, S. 14-16: 15). Ein etwas anderes Zeugnis der Nachfolge Dürers liefert der Comic „Das melancholische Tier“ des Zeichners Nimh-Lab. Er behandelt die Darstellung von Tieren in Comics, die oftmals, so der Protagonist, nicht als Individuen dargestellt, sondern auf bloße, häufig ihrem Sexualtrieb ausgesetzte „Witzfiguren, Karikaturen“ reduziert würden (Nimh-Lab: „Das melancholische Tier.“ In: Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien u. Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte. Berlin: Reimer 2008, S. 175179: 176). Der Protagonist des Comics ist ein Coyote, also der wilde ‚Bruder‘ des Hundes, der schließlich – nach einer kurzen, triebhaften Episode, ausgelöst durch ein spärlich bekleidetes Huhn – im letzten Panel aus Trauer über sein eigenes triebgesteuertes Handeln als jämmerlicher Windhund in Dürers Kupferstich versinkt, wohingegen das unbefriedigt gebliebene Huhn zur Melencolia wird. Zu den in diesem Absatz genannten Abbildungen vgl. Jo Taylor: Bubble 2, 3, 5, 6, 10, 11, 13 (2011). Auf: http://www.petrahartl.at/ hundundkunst/2012/03/16/equestrian-artist-jo-taylor, zuletzt gesehen am 26.11.2012 und dazu Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 548-556, Mona Mönnig: Man-made Wonders (2009). Auf: http://www.petrahartl.at/hundundkunst/2012/07/16/manmade-wonders-von-mona-mönnig, zuletzt gesehen am 26.11.2012 und Jo Longhurst: Twelve Dogs, Twelve Bitches (2003) und I Know What You’re Thinking (2003), abgedruckt in: Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding. Hunde in der Kunst, S. 24-25, 28-29. Zu Krämer, Grosz und Freud vgl. Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 12-14, 16 und dazu Erika Billeter: „Hunde und ihre Maler.“ In: Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 167-174: 173174, Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 146, 373-375 und Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 237. 298 Dies manifestiert sich in der prominenten Rolle, die er in diversen Mythologien u.a. als Anubis, Hekate, Zerberus und Germ einnimmt. Vgl. zum schwarzen Hund im römischen Aberglaube Christian Hünemörder: „Hund.“ In: Hubert Cancik u. Helmuth Schneider (Hg.): Der neue Pauly Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 755-758: 757. 299 Vgl. Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 4 und Paul Foley: „‚Black Dog‘ as a Metaphor for Depression. A Brief History.“ 2005. Auf: http://www.blackdoginstitute.org.au/docs/fo
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wiederum Agrippa von Nettesheim, dessen Tätigkeit als Hundehalter schließlich zum Vorbild für den Faust-Stoff wurde300, in dem der schwarze Pudel bekanntermaßen als teuflische Inkarnation erscheint. Ab dem 17. bzw. 18. Jahrhundert taucht dann eine Verbindung auf, die für den vorliegenden Exkurs von großem Interesse ist: der schwarze Hund wird zur Metapher für Melancholie und Depression. So verzeichnet das Oxford English Dictionary unter dem Lemma ‚black dog‘ u.a.: „fig. Melancholy, depression of spirits; ill-humour“.301 Was sich hier zeigt, ist eine Verschiebung der Metapher ins Innere, als „creature of mind“.302 Burton deutet den ‚schwarzen Hund‘ noch im Sinne der melancholia canina, wenn er schreibt: „They will make strange noises in the night, howle sometimes pittifully, and then laugh againe, cause great flame and sudden lights, fling stones; rattle chaines, shake men, open dores, and shut them, fling downe platters, stooles, chests, sometimes appeare in the likenesse of Hares, Crowes, black Dogges, &c.“303 Es liegt daher nahe, dass die Verschiebung vermutlich erst nach Burton stattgefunden hat.304 Dieses Verständnis erfreut sich aber spätestens ab dem 18. Jahrhundert großer Beliebtheit, vor allem in der englischen Literatur. So ist es bei Samuel Johnson zu finden, der die Metapher des schwarzen Hundes eng an die Einsamkeit knüpft 305, und ebenso bei Robert Louis Stevenson und Sir Walter Scott. 306 In den Ausführungen des Letzteren zeigt sich eine deutlich Ficinische Prägung: „So I did not get to composi-
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tion till nine; work on with little interruption [...] until seven, and then walked, for fear of the black dog or devil that worries me when I work too hard.“ 307 Das Motiv des schwarzen Melancholiehundes kann sich, ausgehend vom 18. Jahrhundert, innerhalb so kurzer Zeit durchsetzen, dass bereits eine Vielzahl von Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts die Übersetzung ‚schwarzer Hund = Melancholie und/oder Depression‘ eindeutig ausweisen. 308 In einigen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts wird der Melancholiker schließlich als Mensch beschrieben, auf dessen Rücken der schwarze Hund sitzt: „[T]he black dog is on his back“ 309, wobei der prominenteste unter den davon Betroffenen Winston Churchill ist, dessen Ausführungen zu seinem ‚schwarzen Hund‘ es zu einiger Popularität bringen. 310 Worin aber begründet sich dieses Sinnbild? Es ist wiederum die hündische Treue, die eine zentrale Rolle spielt, diesmal jedoch im negativen Sinn. Der Betroffene wird von seiner Melancholie bzw. Depression begleitet wie von einem treuen Hund; sie lauert ihm auf, und er lebt in der Gewissheit, jeden Moment von ihr ‚angesprungen‘ werden zu können.311 Der Medizinhistoriker Paul Foley diagnostiziert in dieser Metapher eine bestimmte Haltung gegenüber dem eigenen Leiden, wenn er schreibt, „it externalizes the dark feelings as a companion, albeit an unwelcome companion; it expresses some of the oppression not heard in ‚depression‘ (in contrast, for example, to the German Niedergeschlagenheit and Gedrücktheit); it emphasizes, in contrast to earlier romantic-intellectual interpretations of melancholia, that depression may be distinct from the underlying personality. In this sense, it is a metaphor of hope: the ‚black dog‘ may be to some extent a friend, but he is a bad friend; and as with anyone who renders life miserable and restricts interactions and possibilities, he needs to be left behind, no matter how persistent his pursuit.“312
In der zeitgenössischen Literatur und auch in der Musik findet sich der schwarze Hund mit einer entsprechenden Bedeutung an vielen Stellen wieder. Als ein Beispiel sei hier die Schrift Killing the Black Dog. Essay and Poems des australischen Dichters Les Murray genannt, in welcher der Autor von seiner depressiven Erkrankung berichtet und sich bei der Benennung derselben als ‚black dog‘ auf Churchill, Faust und die „mediaeval demonologies“313 bezieht. Wie populär diese Metapher im englischen Sprachraum ist, beweisen darüber hinaus entsprechende Songs von Chris Rea oder den Manic Street Preachers.314 307 Sir Walter Scott: The Journal of Sir Walter Scott Bd. 1. Hg. v. David Douglas. Edinburgh 1890 [1825-1832], S. 400. 308 Vgl. Foley (2005): ‚Black Dog‘ as a Metaphor for Depression, S. 2-3. 309 Simpson (1989): The Oxford English Dictionary, S. 246 und vgl. Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 8-9. 310 Vgl. Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 1, 9, 11 sowie Foley (2005): ‚Black Dog‘ as a Metaphor for Depression, S. 1-2, 11 und Huet (2005): The Dark Companion, S. 6-7. 311 Vgl. Foley (2005): ‚Black Dog‘ as a Metaphor for Depression, S. 1. 312 Foley (2005): ‚Black Dog‘ as a Metaphor for Depression, S. 14, Herv. i.O. 313 Les Murray: Killing the Black Dog. Essay and Poems. Sydney: The Federation Press 1997, S. 6 und vgl. S. 5. 314 Vgl. Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 3-4, 10-11. Weitere Beispiele aus der Musik wie auch aus der Literatur versammelt Michael auf den Seiten 11-12.
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Die Spiegelfunktion des Hundemotivs in Literatur und Kunst Finden sich in der Bildenden Kunst zahlreiche Beispiele für den Melancholiehund, die in einer Nachfolge von Dürers Darstellung zu sehen sind, erweist sich der Melancholiehund im Speziellen und der Hund im Allgemeinen auch in der Literatur als „poetisches Nutztier“315 – wie etwa bei Marion Poschmann. Dieses ‚Etikett‘ behauptet vor allem ab dem 19. Jahrhundert seine Gültigkeit, der Zeit, in der die ‚adlige‘ Hundehaltung Einzug in den bürgerlichen und damit alltäglichen Bereich hält. 316 So heißt es bei Dorothee Römhild in ihrer kulturwissenschaftlichen Untersuchung zu Hunden im 19. Jahrhundert: „Insbesondere als Sozialpartner im Alltag (Wirklichkeit) und in Prozessen menschlicher Selbstvergewisserung (Reflexion) spielt der Canis familiaris seither eine zentrale Rolle; zumal er in seiner doppelten Bedeutung als Kultur- und Naturwesen ebenso gut als Spiegel- wie als Gegenbild wahrgenommen werden kann; als ‚unvernünftiges‘ Tier, das den zivilisierten Menschen mit seiner unbestimmten Sehnsucht nach Natur und Natürlichkeit konfrontiert, wie als domestiziertes Tier, das sich problemlos selbst noch in die kultiviertesten Gesellungsformen integrieren läßt.“317
Der Hund steht nicht allein oder für sich, sondern er fungiert als Spiegel menschlicher Befindlichkeiten und Zustände.318 In der Bildenden Kunst taucht er dementsprechend in unzähligen melancholisch anmutenden Hundeportraits auf 319, die in ihrer Fülle den Eindruck hinterlassen, der melancholische Blick sei der natürliche Ausdruck des Hundes. Diese (bereits an früherer Stelle beschriebene) Behauptung liegt in den allermeisten Fällen allerdings im Auge des Betrachters; kommt einem der hündische Blick melancholisch vor, greift die Spiegelfunktion. Das Motiv des Melancholiehundes gibt es folglich in unterschiedlichen Ausführungen. Er erscheint – dem Dürer’schen Windspiel ähnlich – als weltabgewandt Schlafender320 oder aber er blickt mit melancholischen Augen aus dem Bild hin315 Dorothee Römhild: „Belly’chen ist Trumpf“. Poetische und andere Hunde im 19. Jahrhundert. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 9. Neben dem Hund ist nur der Affe in ähnlicher Häufigkeit literarischer Protagonist, vgl. Gerhard Neumann: „Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur.“ In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996). S. 87-122: 99. 316 Vgl. Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 29. 317 Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 8-9. 318 Vgl. dazu auch Billeter (2009): Hunde und ihre Maler, S. 170. 319 Allgemein zu Hundeportraits vgl. Dörte Zbikowski: „Porträt.“ In: Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 19-20. 320 Vgl. u.a. Franz Marcs Der weisse Hund (1910/11) und David Hockneys Dackel-Zyklus David Hockney’s Dog Days (Boston, MA u.a.: Bulfinch Press 1999). Der USamerikanische Künstler Duane Hanson legt seiner Skulptur Woman with Dog (1977), die eine abgearbeitet und einsam ausschauende Frau zeigt, einen sich kringelnden Pudel zu Füßen; auch in die Hundefotografien Elliott Erwitts, die zum großen Teil im Lichte der Komik erscheinen, schleicht sich, mit abnehmender Bewegung und Aufmerksamkeit der fotografierten Hunde, die Melancholie ein (vgl. Elliot Erwitt: Wuff. Hildesheim: Gerstenberg 2007, S. 14-15, 42-43). Zu den genannten Abbildungen vgl. Billeter (2005): Hunde
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aus.321 Zuweilen spiegelt sich aber nicht nur der Blick des Betrachters, sondern auch der seines Frauchens oder Herrchens, was ihn wiederum als treuen (Leidens-)Genossen ausweist.322 Darüber hinaus erscheint er in seiner symbolischen Dimension in Zusammenhängen von Trauer und Einsamkeit.323 Auch dem schwarzen Hund in und ihre Maler, S. 318 und Brackert/van Kleffens (1989): Von Hunden und Menschen, S. 236-237. 321 Melancholische Blicke weisen etwa die Jagdhunde Jean-Baptiste Oudrys auf, die mit großen, schwermütigen Augen aus den Gemälden hinaus schauen (zum Beispiel Kopf eines Jadghundes [nach 1793]), ähnlich der Hund auf Horst Janssens Fils de Berbi nach Botticelli (1974). Der Blick der zwei von der britischen Künstlerin Cathie Pilkington in Acryl-Giesharz modellierten Möpse George (2002) und Elsie (2002) ist an Melancholie kaum zu übertreffen. Im Auge des Betrachters entwickelt sich die Melancholie der von Rachel Bellinsky präsentierten Hunde. Auf ihren Fotos Tails From a Fishbowl (2010) zeigt die amerikanische Künstlerin Hunde (und auch Katzen), die von ihren Fensterplätzen scheinbar sehnsüchtig in die Welt hinaus blicken (auf: http://www.flickr.com/photos/ razorbrown/sets/72157626348418375/, zuletzt gesehen am 25.11.2012). Entfaltet sich deren Melancholie eher implizit, so sind die Hunde aus Martin Usbornes Fotoserie Mute: The Silence of Dogs in Cars (2010) (auf: http://www.martinusborne.com/index.php?page =projects&pid=19&p=1, zuletzt gesehen am 25.11.2012) dezidiert melancholisch. Der Fotograf inszeniert seine wartenden Hunde als einsame und stumme Zurückgelassene. Martin Parr platziert seine melancholischen Hunde inmitten menschlicher Zusammenhänge, wie zum Beispiel den Pudel in seiner Fotografie Original Story: Belgien, Knokke (2000); und auch bei Erwitt finden wir entsprechende Beispiele (vgl. Erwitt [2007]: Wuff, S. 104-105). Ein irritierendes Beispiel liefert der Maler Martin Eder, von dessen Gemälde De Yeux Verts – Sans Visage (2003) der Betrachter von zwei Hunden mit vollkommen entleertem Blick angestarrt wird. In den vom Maler freigelassenen Augen ist der grüne Hintergrund des Gemäldes zu sehen; jegliches Sich-Spiegeln in den Augen wird damit unmöglich. Ähnlich unheimlich mutet Santiago Ydánez’ Gemälde Untitled (Dog) (2007) an, welches die dämonische Tradition wieder aufruft. Zu den genannten Abbildungen vgl. Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 21, 34-35, 40, 78-79, 140-141 und Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 355. 322 Ein Beispiel hierfür findet sich auf Wilhelm Trübners Gemälde Dame mit Hündchen (Elly Neal) (1880/1882), vgl. Luckow (2009): Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding, S. 49. 323 Auf William Turners um 1841 entstandenem Aquarell Morgenrot nach einem Schiffsbruch (Der bellende Hund) ist der (wiederum schwarze) Hund als einziger Überlebender eines Schiffsunglücks zu sehen und wird damit zum „Symbol der Einsamkeit, der Angst und des Verlorenseins“ (Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 194). Ähnlich verhält es sich mit dem Hund auf Francisco de Goyas bedrückendem Gemälde Hund, im Sand versinkend (um 1820). Franz Marcs weißer Schäferhund wird auf Hund vor der Welt (1912) sogar zum Betrachter der Welt in der Manier des Casper David Friedrichschen Wanderers. Francisco Toledo gesellt seinen zwei Gemälden des Don Benito Juarez – Juarez melancholisch (1985) und Juarez im Sterben (1986) – zwei schwarze Hunde bei, die ganz in der hier skizzierten Zuschreibungstradition stehen (zu den genannten Abbildungen vgl. Billeter (2005): Hunde und ihre Maler, S. 189, 191, 192, 340, 341). Unter dem Titel „Berlin in einer Hundenacht“ wiederum versammelt die deutsche Fotografin
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seiner grenzgängerischen Natur kommt in der Kunst eine besondere Rolle zu, wobei der Faktor der Abbildbarkeit resp. der Grenzen von Abbildbarkeit jeweils in die Inszenierung mit hineinspielt.324 In der Literatur wiederum wird der Hund, wie Dorothee Römhild formuliert, „zu einem wahrhaft sprechenden Hilfsmittel literarischer Weltdeutung“ im Sinne einer „Symbolfigur für oder gegen die Ordnung, als Charakterisierungsmittel des fiktiven Personals, als Sinnbild von Natur und Natürlichkeit, als Zeit- und Gesellschaftskritiker und als Zeichenträger ethischer Wertvorstellungen“.325 Die literarischen Beispiele sind, wie bereits angemerkt, derart zahlreich, dass hier nur ein kleiner Ausblick geleistet werden kann. In seiner wilden Ausprägung findet sich der Hund etwa in Kleists Drama „Phentesilea“ (1808) wieder. 326 Charles DiGundula Schulze Eldowy einen Schwarz-Weiß-Zyklus melancholischer Fotografien aus dem Berlin der Nachkriegszeit. Neben Straßenszenen, Aufnahmen aus ärmlichen Wohnungen und Kneipen sowie Aktaufnahmen begegnet dem Betrachter auch der Hund, jeweils wieder als Begleiter des Menschen in einer unwirtlichen Umgebung (vgl. Gundula Schulze Eldowy: „Berlin in einer Hundenacht.“ In: Dies.: Berlin in einer Hundenacht. Fotografien 1977-1990. Leipzig: Lehmstedt 2011, S. 28-67). Geradezu erdrückend erscheint die Trauer auf Yun-Fei Tous Fotoserie Memento Mori (2010/2011), die Hunde wenige Augenblicke vor ihrer Einschläferung im „Taiwanese Public Animal Shelter“ abbildet, um sie für die Nachwelt zu erhalten, auf: http://yunfeitou.photoshelter.com/portfolio /G0000pBVGvmeaFko, zuletzt gesehen am 29.11.2012, vgl. dazu http://www.petrahartl. at/hundundkunst/2012/08/29/yun-fei-tou-fotografieren-gegen-das-vergessen, zuletzt gesehen am 29.11.2012. 324 So erscheinen die schwarzen Hunde der Österreichischen Künstlerin Titanilla Eisenhart (u.a. HUND, mattschwarz) undeutlich, Augen und Schnauze lassen sich nur subtil erkennen und die fast reine Silhouette bleibt als einzig Eindeutiges (auf: http://www.petrahartl. at/hundundkunst/2012/01/13/excuse-and-reason, zuletzt gesehen am 29.11.2012). Ein ähnliches Zeugnis liefert die Fotoreihe In Almost Every Picture #9, zusammengestellt durch den Fotosammler Erik Kessels. Sie bezeugt die Versuche einer Familie, ihren schwarzen Hund abzulichten und das Scheitern derselbigen. Der Hund selbst wird zur Leerstelle, zu sehen sind wiederum nur Umrisse (vgl. Erik Kessels (Hg.): In Almost Every Picture #9. Amsterdam: Kesselkramer 2010), wodurch der Hund, wie es die Malerin Petra Hartl in ihrem Blog „hundundkunst“ formuliert, „eine Aura des Geheimnisvollen“ bekommt (http://www.petrahartl.at/hundundkunst/2012/05/07/fast-jedem-bild-melancholie, zuletzt gesehen am 27.11.2012). Ebenfalls nur Umrisse sind auf Rachel Howards Zeichnungen Black Dog und Dog Looking Back (beide 2007) sowie Dog and Shadow und Gaugin’s Dog (beide 2011) zu sehen, wobei diese zum Teil verwischt sind und dadurch den Hunden eine zusätzliche Unbestimmtheit verleihen. Auf: http://www.petrahartl.at/ hundundkunst/2012/09/28/black-dog-der-hund-als-metapher, zuletzt gesehen am 25.11. 2012. 325 Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 9. 326 Hier zerfleischt die Hauptfigur „[g]leich einer Hündin, Hunden beigesellt“ aus einer Liebesraserei heraus ihren geliebten Achill (Heinrich von Kleist: „Phentesilea, 23. Auftritt, V. 2659.“ In: Ders.: Dramen 1808-1811. Hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 9-256: 241. Vgl. dazu auch Kuzniar (2006): Melancholia’s Dog, S. 76). Die hündische Natur von Phentesilea und Achill
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ckens327 sowie Sir Arthur Conan Doyle 328 rekurrieren auf den bedrohlichen schwarzen Hund; ähnlich mysteriös-teuflisch begegnet er dem Leser bei Friedrich Dürrenmatt329, schwarz auch bei Ian McEwan330, philosophisch hingegen bei Miguel de Cervantes, E.T.A. Hoffmann und Zsuzsanna Gahse.331 Als treuer Gefährte hat ihn
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wird dabei zum Symbol für ihre „wilden, ungehemmten, barbarischen Affekte [...], welche alle sozialen und kulturellen Übereinkünfte und sittlichen Hemmungen sprengen.“ (Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815. München, Wien: Hanser 1987, S. 162). Das Hundemotiv bei Kleist erscheint so als Konglomerat aus antiker Mythologie und melancholia canina. Neben der Wildheit steht es als Rekurs auf seine mittelalterliche Ausformung darüber hinaus in dämonologischen Zusammenhängen. Vgl. Charles Dickens: The Uncommercial Traveller. London: Mandarin 1991 [1861], S. 168. Vgl. dazu Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 6. „A hound it was, an enormous coal-black hound, but not such a hound as mortal eyes have ever seen. Fire burst from its open mouth, its eyes glowed with a smouldering glare, its muzzle and hackles and dewlap were outlined in flickering flame. Never in the delirious dream of a disordered brain could anything more savage, more appalling, more hellish, be conceived than that dark form and savage face which broke upon us out of the wall of fog.“ Sir Arthur Conan Doyle: The Hound of the Baskervilles. Oxford u.a.: Heinemann 2000 [1901/1902], S. 139. Vgl. dazu Michael (2005): ‚Black Dog‘, S. 10. Vgl. Friedrich Dürrenmatt: „Der Hund.“ In: Ders.: Werkausgabe Bd. 20. Zürich: Arche 1980 [1952], S. 11-18. Der schwarze Hund steht hier in bester unheimlicher Motivtradition und ist zu interpretieren als die Verkörperung nicht etwa der Depression, sondern des Chaos, vgl. Emil Weber: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines merkwürdigen Protestanten. Zürich: Theologischer Verlag 1980, S. 111. Dieser stellt seinem Roman Black Dogs bezeichnenderweise ein Ficino-Zitat voran, vgl. Ian McEwan: Black Dogs. London: Cape 1992, S. 5. So ist der Hund als scharfsinniges und intelligentes Tier in der literarischen Figur der sprechenden Dogge Berganza personifiziert, die ihren Anfang in Cervantes Novelas Ejemplares (1613) nimmt und in Folge u.a. von E.T.A Hoffmann und Zsuzsanna Gahse wieder aufgenommen wurde. In E.T.A Hoffmanns „Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza“ (1814/1815) erscheint er als ein weiser Wiedergänger, der das menschliche „Tun und Treiben“ entlarvt (E.T.A. Hoffmann: „Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza.“ In: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 2/1. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 [1814], S. 101-177). In Zsuzsanna Gahses neuerer Bearbeitung des Stoffes erscheint der Hund bezeichnenderweise in weniger genialisch-melancholischem – ergo in spätmodernem – Licht. Er ist nunmehr ein zwar noch „gescheite[r]“ aber ebenso ein „gelangweilter“ Hund, alt, nostalgisch und schwermütig (Zsuzsanna Gahse: Berganza. München: List 1984, S. 8, 14 und vgl. S. 16, 36). „Er ist kein von der Sprache faszinierter Welpe mehr (wie bei Cervantes) oder ein Moralist (wie bei E. T. A. Hoffmann). Jetzt ist Berganza ein lebensmüder Hund, der sich auf die Suche nach einem Gesellen begibt“ (Malwina Lipinska u. Dorota Sosnicka: „Kunde von wunderbarem Hund: Zsuzsanna Gahses Erzählung Berganza.“ In: Colloquia Germanica Stetinensia 18 (2010), S. 115-125: 118), den er in der Ich-Erzählerin schließlich auch findet. Zu den genannten Texten vgl. Miguel de Cervantes: Novelas
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u.a. Thomas Mann prominent in Szene gesetzt 332 und in ähnlicher Manier taucht er auch in Virginia Woolfs Roman Flush (1932)333 und Marlen Haushofers Die Wand (1963)334 auf. In Analogie zu Poschmann führt er den Leser in Paul Austers Timbuktu (1999)335, John Bergers King. A Street Story (1999)336 und Paul Nizons Hund. Beichte am Mittag (1998)337 an den Rand der Gesellschaft, wobei im Mittelpunkt von Nizons Roman ein obdachloser Flaneur steht, den die Erinnerungen an seinen Hund immer wieder sein altes Leben als Familienvater und Arbeitnehmer rekapitulieren lässt, in dem er sich eigentlich nie wirklich wohl gefühlt hat. Auch Brad Watsons Erzählung „The Last Days of the Dog-Men“ (1996) beschreibt das Leben am Rande der Gesellschaft und seine Protagonisten gehen ebenfalls symbiotische Beziehungen mit ihren Hunden ein.338 Diese Symbiose von Hund und Mensch wird wiederum von
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Ejemplares. Hg. v. Jorge García López. Barcelona: Editoral Crítica 2001 [1613] sowie dazu Neumann (1996): Der Blick des Anderen, S. 101-102; zu Hoffmann vgl. Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann: Leben – Werk – Wirkung. Berlin u.a.: De Gruyter 2009, S. 101-107, Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 67-167 und Siegbert S. Prawer: „‚Ein poetischer Hund:‘ E.T.A. Hoffmann’s Nachrichten von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza and Its Antecedents in European Literature.“ In: Stanley A. Corngold, Michael Curschmann u. Theodore J. Ziolkowski (Hg.): Aspekte der Goethezeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 273-292. Das Gespann aus Mensch und Hund im Zentrum von Thomas Manns Erzählung „Herr und Hund. Ein Idyll“ (1918) steht dabei weniger in der melancholischen Tradition denn in jener der humanistischen Gelehrtenportraits. Der Hühnerhund Bauschan erscheint hier als sich durch „zähe Treue“ und Wachsamkeit auszeichnender Begleiter (Thomas Mann: „Herr und Hund. Ein Idyll.“ In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 8. Frankfurt/M.: Fischer 1974 [1918], S. 526-617: 541 und vgl. S. 543). Mann beschreibt ausführlich seine morgendlichen Spaziergänge mit Bauschan, die in bester Ficinischer Manier dazu dienen, „die Sinne verjüngt, die Seele gereinigt“ zu haben, „bevor die Arbeit mich hinnimmt“ (Mann (1974): Herr und Hund, S. 531, 526). Er inszeniert in dieser Erzählung eine „hierarchische[] Symbiose“ von „Geist und Leben“, wobei sich über die Figur des Hundes „der Herr in seiner Herrschaft [...] reformuliert“ (Alexander Honold: „Herr und Hund. Eine Wiederbegegnung.“ In: Ortrud Gutjahr (Hg.): Thomas Mann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 101-118: 105, 112, 101). Der Hund fungiert dabei als „Kontrastfigur zur Zivilisation“ und gleichzeitig als Spiegel der „bürgerliche[n] Spaltungserfahrung“ (Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 298). Vgl. auch ausf. Julia Bodenburg: „Auf den Hund gekommen. Tier-Mensch-Allianzen in Donna Haraways Companion Species Manifesto und Thomas Manns Erzählung ‚Herr und Hund‘.“ In: Ullrich/Weltzien/Fuhlbrügge (2008): Ich, das Tier, S. 283-293. Vgl. Virginia Woolf: Flush. A Biography. London: The Hogarth Press 1968 [1932]. Vgl. Marlen Haushofer: Die Wand. Berlin: List 172012 [1963]. Vgl. Paul Auster: Timbuktu. London: Faber & Faber 2008 [1999]. Diesen und die folgende Texte versammelt auch Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 302-303. Vgl. John Berger: King. A Street Story. London: Bloomsbury 1999. Vgl. Paul Nizon: Hund. Beichte am Mittag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21998. Vgl. Brad Watson: „The Last Days of the Dog-Men.“ In: Ders.: The Last Days of the Dog-Men. London, New York, NY: Norton 1996, S. 15-38.
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Michail Bulgakow auf die Spitze getrieben, der sich in realistisch geschilderten Verschmelzungsphantasien ergeht.339 Es erscheint, als sei „das poetische Bündnis mit dem Hund“, so konstatiert Röhmhild, „vor allem dazu da, wieder sicht- und fühlbar werden zu lassen, was der menschlichen Vernunft im Zuge des gesellschaftlichen Wandels (Verbürgerlichung, Industrialisierung, Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit) und damit einhergehenden Sinnkrisen und Spaltungserfahrungen abhanden gekommen ist.“ 340 In diesem Zusammenhang ist das Hundemotiv auch in Bezug auf die Melancholie zu sehen. Im Motiv des Melancholiehundes verbinden sich sozusagen zwei Leerstellen: Der Hund markiert, dass er eine Platzhalterfunktion für Unausgesprochenes bzw. Unsagbares einnimmt; die Melancholie markiert, dass etwas betrauert bzw. gefühlt wird, was nicht formuliert werden kann. Und in dieser Art und Weise ist er sowohl bei Poschmann als auch bei Monika Maron, Thomas Pletzinger, Karen Duve und Djuna Barnes anzutreffen. Melancholiehunde in ausgewählten literarischen Beispielen In Monika Marons Ach Glück (2007) – die Fortsetzung ihres 2002 erschienenen Romans Endmoränen – erscheint der Hund zwar im positiveren Licht, dennoch zeigen sich deutliche Parallelen zu Poschmanns Darstellung, woraus sich gewisse Konstanten des Melancholiehundemotivs in der Gegenwartsliteratur ergeben. Maron erzählt die Geschichte einer Frau, die aus ihrer Lebens- und Eheroutine ausbricht, nachdem sie einen ausgesetzten schwarzen Hund bei sich aufnimmt. Dies geschieht bereits am Ende von Endmoränen und wird von der Protagonistin selbst als ein „wunderlicher Anfang“341 bezeichnet. Mal aus der Sicht der 54jährigen Johanna, mal aus der ihres Mannes Achim – einem melancholischen Kleist-Forscher – erzählt, durchsetzt von Erinnerungen der beiden, beschreibt Ach Glück den Alltagsennui des alternden Paares, ihre „Zivilisationsmüdigkeit oder auch [ihren] Wohlstandsüberdruss“342, der auftaucht, wenn man feststellt, dass „das Sich-eingerichtet-haben eines Tages nicht mehr ausreicht.“343 Durcheinandergebracht wird dieser Zustand jedoch durch den Hund, zu dem in erster Linie Johanna eine besondere Beziehung aufbaut, u.a. wegen der von ihm hemmungslos zur Schau gestellten Liebe. 344 Er steht somit sowohl für das affektiv Nicht-Entfremdete als auch für die „Verkörperung des Wil-
339 Vgl. Michail Bulgakow: „Hundeherz.“ In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 6: „Teufliaden.“ Hg. v. Ralf Schröder. Berlin: Volk & Welt 1994 [verfasst 1925], S. 185-297. 340 Römhild (2005): „Belly’chen ist Trumpf“, S. 9. Ausf. zur Rolle des Hundes vgl. S. 29-38. 341 Monika Maron: Endmoränen. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2007 [2002], S. 255. 342 Iris Radisch: „Mein Leben im intellektuellen Vorruhestand. Berlin 2007: Monika Maron erzählt in Ach Glück von der schwierigen Suche nach Sinn – und von einer Ehe, die im Grunde längst vorbei ist.“ In: Die Zeit 02.08.2007, S. 44. 343 Jörg Magenau: „Mein Hund ist meine wahre Liebe. Ach Glück: Monika Maron erzählt in ihrem jüngsten Roman, wie die Müdigkeit in eine Ehe Einzug hält.“ Der Tagesspiegel 27.07.2007, S. 23. 344 Vgl. Monika Maron: Ach Glück. Frankfurt/M.: Fischer 2007, S. 106. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle MM und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.
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den, Kreatürlichen“.345 Maron selbst beschreibt ihn als „ein Symbol für Leben, für Lebensfreude oder auch für den Zufall, der ins Leben tritt, den man annimmt oder nicht.“346 Und über Johanna heißt es dann auch entsprechend: „Sie schmiss ihr Leben über den Haufen.“ (MM 18), erkennt sie in dem Hund doch einen Botschafter, „als sende der Hund etwas, das ich fühlen, aber nicht benennen kann, aus seinem Körper direkt in mein Nervensystem, einen Anflug von Glück. So einfach ist es also, Glück auszulösen und glücklich zu sein, denke ich dann, so einfach, dass ein dahergelaufener schwarzer Hund es kann, indem er nichts anderes tut, als in einem Zustand zwischen Schlaf und Erwartung vor sich hinzudämmern.“ (MM 62 und vgl. 61). Dieses vermeintliche Glück – in dem ihr Mann puren „Hundewahn“ (MM 31) erkennt – ist vergänglich, wie das melancholische ‚Ach‘ im Titel suggeriert. 347 Ob ihre Glückssuche erfolgreich ausfällt oder nicht, lässt der Roman letztlich offen. In jedem Fall bildet er aber, ähnlich wie die Hundenovelle, die Suche nach dem richtigen, dem ‚eigenen‘ Leben ab und beschreibt, wie schwer es manchmal sein kann, im pluralisierten „Labyrinth der Möglichkeiten [...] Entscheidungen“ zu treffen (MM 155 und vgl. 136). Der Hund wiederum erscheint als Spiegel- und Gegenbild im Umgang mit dieser spätmodernen Problematik. In ganz ähnlicher Manier taucht das Hundemotiv auch in Karen Duves 1999 erschienener Erzählung „Besuch vom Hund“ auf, in der der titelgebende, sprechende Collie das Leben der Protagonistin durcheinander- und sie damit scheinbar, und somit in Analogie zu Poschmann und Maron, ihrem eigentlichen ‚Ich‘ näher bringt.348 Analoges lässt sich auch über das Hundemotiv in Thomas Pletzingers 2008 erschienenem Debütroman Bestattung eines Hundes sagen. Pletzingers Hund ist ein rätselhafter „schwarzer Schäferhund mit drei Beinen“ 349, namens Lua, der im Sterben liegt. Der Protagonist Daniel Mandelkern vermerkt über ihn, entsprechend der Motivgeschichte des schwarzen Hundes, „schwarze Hunde sind mir schon farblich zuwider, schwarze Hunde stehen am Eingang der Hölle und warten.“ (TP 16). Darüber hinaus wird Lua als „trauriger Hund“ (TP 66) beschrieben. Diese und weitere Zuschreibungen entstammen jedoch dem Auge des jeweiligen Betrachters, womit das Tier zum Spiegel menschlicher Befindlichkeiten und Zuschreibungen avanciert. Lua wird so zum „Erinnerungstier“ (TP 150) und die „Erinnerung“ selbst wird vice versa als ein „trauriger Hund“ (TP 8) bezeichnet.
345 Marion Lühe: „Frau und Hund. Abnutzungserscheinungen: Monika Maron beschreibt bissig tatsächliches Unglück und mögliches Glück in der Generation 50+.“ In: Die Tageszeitung 04.08.2007, S. VII. 346 Monika Maron im Gespräch mit Volker Hage u. Romain Leick: „‚Das Glück bleibt unerreicht.‘ Die Schriftstellerin Monika Maron über ihren neuen Roman, die Sehnsucht nach einem gelungenen Leben und das Verlustgefühl im Osten.“ In: Der Spiegel 23.07. 2007, S. 140-142: 140. 347 Vgl. Hage/Leick: ‚Das Glück bleibt unerreicht‘, S. 141. 348 Vgl. Karen Duve: „Besuch vom Hund.“ In: Dies.: Keine Ahnung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 47-52. 349 Thomas Pletzinger: Bestattung eines Hundes. München: btb 2010 [2008], S. 14. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle TP und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.
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Eine besondere Beziehung entspannt sich zwischen dem metaphorischen Hund und der Hauptfigur Mandelkern, der ein typischer Vertreter der oftmals als orientierungslos charakterisierten Mittdreißiger-Generation ist, die sich, aufgrund ihrer Angst vor irreversiblen Entscheidungen, in Handlungshemmungen verliert. 350 Als Mandelkern in seiner Rolle als Journalist an den Luganer See reist, um dort den Kinderbuchautor Dirk Svensson, Luas Herrchen, zu interviewen, steckt er mitten in einer beruflichen wie privaten Krise. So ist er „[e]igentlich“ (TP 20) Ethnologe; dies bezeichnet er als seine „Profession“ (TP 69), den Journalismus betreibt er nur, da er seine Dissertation abgebrochen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Frau gleichzeitig seine Chefin ist – ein Umstand, der ihre Ehe zusehendes verkompliziert.351 Zusätzlich steht zwischen ihnen ein Kinderwunsch, welcher wie ein großes unbeantwortetes Fragezeichen über Mandelkern schwebt. Der journalistische Auftrag führt Mandelkern „die Möglichkeit eines anderen Lebens“ (u.a. TP 26, 31) vor Augen und um diese kreist ein Erzählstrang des verschachtelten Romans. Die Szenerie, ein Haus am Luganer See, erscheint dabei mit seiner Ansammlung aussortierter Dinge wie eine Reminiszenz an Dürers Melencolia I (vgl. TP 60-61). Ebenso wie der Hund ist auch der Ort deutlich mit Tod konnotiert (vgl. TP 153-154). Was hier so melancholisch in Szene gesetzt wird, ist die literarisch bereits vielbeschriebene Suche nach Identität und Authentizität, welche darüber hinaus bei Mandelkern wesentlich von der Verbindung der beruflichen mit der privaten Sphäre sowie deren zunehmender Entgrenzung bestimmt wird. So sagt Pletzinger: „In meinem Buch geht es um Geschlechterrollen, Geschlechterhierarchien, Arbeitsprozesse – wie viel Arbeit darf in einem Leben Platz haben, wie wirkt sich die Arbeit aufs Privatleben, die Liebe aus?“352 Der zweite Erzählstrang behandelt die Erlebnisse Dirk Svenssons, eine gescheiterte Dreiecksbeziehung sowie den Unfall-Tod seines besten Freundes. Auch Svensson ist ein melancholischer Charakter, und auch er unterhält eine spezifische Beziehung zum Hund. Wenn über den dreibeinigen Lua entsprechend gesagt wird, „Hunde gewöhnen sich nach einiger Zeit an jeden Verlust“ (TP 66) und „im Gegensatz zum Menschen nehmen Hunde fehlende Extremitäten nicht als psychische Belastung wahr: ‚Hunde leben im Moment.‘“ (TP 101), so markieren diese Behauptungen genau den Unterschied zu den und damit die Problematik der beiden melancholischen Protagonisten. Während sich Lua an seine Amputation gewöhnt hat, so ‚hinkt‘ Mandelkern, weil er sich mit seinem Leben nicht identisch fühlt und Svensson, weil er 350 So äußert sich Thomas Pletzinger in einem Interview mit dem Lokalradio der Universität Leipzig, vgl. Kathrin Ruther: „Jungautor Thomas Pletzinger im Interview.“ 13.03.2008. Auf: http://mephisto976.uni-leipzig.de/sendungen/faustschlag/beitrag/artikel/jungautorthomas-pletzinger-im-interview.html, zuletzt gesehen am 10.10.2013. Zu der Entscheidungsunfreudigkeit Mandelkerns vgl. auch TP 249, 261 sowie zu seiner häufigen Verwendung des Konjunktivs vgl. TP 115-116, 152, 197-198, 202-203. 351 „Elisabeth und ich haben unser Leben mit der Arbeit verwechselt.“ (TP 231). 352 Thomas Pletzinger in Susanne Schmetkamp: „Bitte kein Wunschzettel. Beim ProsanovaFestival in Hildesheim feierte sich die junge Gegenwartsliteratur. Ein Gespräch mit den Autoren Jo Lendle und Thomas Pletzinger über Rollkoffer und schreibende Schoßhündchen.“ In: Die Zeit 22.05.2008. Auf: http://www.zeit.de/online/2008/22/prosanova-inter view, zuletzt gesehen am 10.10.2013.
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den Todesfall bisher noch nicht abschließend verarbeiten konnte. Der Hund wird zur Personifikation dieser verdrängten Entscheidungen und Erinnerungen. Erst als der Hund letztlich verstirbt und bestattet wird, können Svennssons Trauerarbeit und Mandelkerns Entscheidungsfindung zu einem vorläufigen Abschluss kommen. „Lua wird Geschichte“ (TP 244) heißt es, und damit ist der Blick nach vorn wieder frei. Für Mandelkern führt dies zu der Entscheidung, seinen Job als Journalist aufzugeben, sich wieder der Ethnologie zu widmen und mit seiner (dann nur-noch-Frau) eine Familie zu gründen (vgl. TP 343-344). Die Beschreibung des sterbenden und letztlich bestatteten Hundes wird so, wie auch bei Poschmann, Maron und Duve, zur Beschreibung einer „Heimkehr [...] zu sich selbst“.353 Die Verbindung des Melancholiehundemotivs mit jenem der ‚Heimkehr‘ der Protagonistin findet sich auch in Djuna Barnes Roman Nightwood (1936); und die Darstellung ist ähnlich ‚radikal‘ wie in Poschmanns Hundenovelle. Der Text ist geprägt durch eine dichte bis hermetische sowie ausdrucksstarke Metaphorik, die den Versuch offenbart, das „Terrain des Unsagbaren mit sprachlichen Mitteln abzuschreiten“.354 Bevölkert wird er von ausnahmslos melancholischen Figuren, allesamt Grenzgänger in der Schwellensituation der Nacht, in der alles „into speculation“355 gerät. Die Melancholie in Nightwood erscheint – obwohl Barnes durchaus bekannte Motive der Begriffsgeschichte wie den Hund, die Rätsel- sowie die Uneindeutigkeit des Beschriebenen, übernimmt –356 mit einer sehr eigenen Prägung versehen. Es handelt sich vielmehr um eine „post-graduate melancholy“ (DB 123), oder auch eine „Melancholia Reborn“. 357 Hierbei nimmt die Protagonistin Robin Vote eine besondere Rolle ein, die, wir ihr Name bereits offenbart, in keiner Weise festlegbar ist und sich so mit der Melancholie die Diffusität ihres Zustandes teilt.358 Sie wird beschrieben als die „[E]nigmatische“ 359, „ewig Momentane“360; 353 Martin Halter: „Journalisten in der Sinnkrise. Thomas Pletzingers Erstling Bestattung eines Hundes.“ In: Stuttgarter Zeitung 01.08.2008, S. 36. 354 Martina Stange: Modernism and the Individual Talent: Djuna Barnes’ Romane Ryder und Nightwood. Essen: Die Blaue Eule 1999, S. 156. Ausf. zu den Bildkomplexen in Nightwood vgl. S. 164-165 und Gisela Ecker: „Gertrude Stein, H.D. (Hilda Doolittle) und Djuna Barnes. Drei Amerikanerinnen in Europa.“ In: Dies.: Differenzen. Essays zu Weiblichkeit und Kultur. Dülmen-Hiddingsel: tende 1994, S. 141-184: 170-172. 355 Djuna Barnes: Nightwood. London u.a.: Faber & Faber 1979 [1936], S. 125. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle DB und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 356 Vgl. dazu Ecker (1994): Gertrude Stein, H.D. (Hilda Doolittle) und Djuna Barnes, S. 152, 178 und ausf. auch Hartwig Isernhagen: „Enthüllen/Verbergen: Von der Schwierigkeit der Repräsentation von Absenz. Ein Versuch über Nightwood.“ In: Wolfram Malte Fues u. Wolfram Mauser (Hg.): „Verbergendes Enthüllen“. Zur Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 355-365: 358, 363. 357 Esther Sánchez-Pardo: Cultures of the Death Drive. Melanie Klein and Modernist Melancholia. Durham, London: Duke University Press 2003, S. 306. 358 Zur Hybridität Robins vgl. Sandra M. Gilbert u. Susan Gubar: No Man’s Land. The Place of the Woman Writer in the Twentieth Century Bd. 2: „Sexchanges.“ London, New Haven, CT: Yale University Press 1989, S. 359-361. 359 Stange (1999): Modernism and the Individual Talent, S. 137.
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sie wandelt durch das nächtliche Paris, als sei sie auf der Flucht, u.a. vor ihrer Freundin Nora, und diese Flucht endet letztlich, zusammen mit dem Roman, in einer Kirche, wo sich die vielbesprochene wie umstrittene Schlussszene ereignet, welche in voller Länge zitiert sei: „On a contrived altar, before a Madonna, two candles were burning. Their light fell across the floor and the dusty benches. Before the image lay flowers and toys. Standing before them in her boy’s trousers was Robin. Her pose, starled and broken, was caught at the point where her hand had reached almost to the shoulder, and at the moment Nora’s body struck the wood, Robin began going down. Sliding down she went; down, her hair swinging, her arms held out. And the dog [Noras Hund] stood there, rearing back, his forelegs slanting; his paws trembling under the trembling of his rump, his hackle standing; his mouth open, his tongue slung sideways over his sharp bright teeth; whining and waiting. And down she went, until her head swung against his; on all fours now, dragging her knees. The veins stood out in her neck, under her ears, swelled in her arms, and wide and throbbing rose up on her fingers as she moved forward. The dog, quivering in every muscle, sprang back, [...]. Then, head down, dragging her forelocks in the dust, she struck against his side. [...] Then she began to bark also, crawling after him – barking in a fit of laughter, obscene and touching. The dog began to cry, running with her, head-on with her head, as if to circumvent her; [...] and she grinning and crying with him; crying in shorter and shorter spaces, moving head to head, until she gave up, lying out, her hands beside her, her face turned and weeping; and the dog too gave up then, and lay down, his eyes bloodshot, his head flat along her knees.“ (DB 237-239)361
Abschließend zu deuten ist diese Szene wohl nicht, weshalb Martina Stange vermutet, sie solle aus dem „‚prison of meaning‘“362 befreien – eine Lesart, die auch schon Dürers Melencolia I widerfahren ist. In Bezug auf das Hundemotiv lassen sich dennoch einige genauere Anmerkungen formulieren. So wird der Hund in der Sekundärliteratur u.a. als der Teil Noras interpretiert, der auf der ‚Jagd‘ nach Robin ist. Robin wird in diesem Fall zum verfolgten Wild, welches aber letztlich die Situation umkehrt und den Jagdhund in die Ecke drängt.363 Der Hund lässt sich darüber hinaus in einem melancholischen Kontext deuten, finden sich doch auch in Barnes weiterem Werk Hundefiguren, die an Dürers Meisterstich erinnern. 364 Darüber hinaus weist die 360 Alexandra Busch: Ladies of Fashion. Djuna Barnes, Natalie Barney und das Paris der 20er Jahre. Bielefeld: Haux 1989, S. 190. 361 Die blasphemische Dimension dieser Szene ist nicht zu übersehen, denn, wie schon Sandra Gilbert und Susan Gubar konstatieren, ergibt „god“ rückwärts gelesen „dog“, Gilbert/Gubar (1989): No Man’s Land, S. 362. Vgl. dazu auch Angela Krewani: Moderne und Weiblichkeit. Amerikanische Schriftstellerinnen in Paris. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1993, S. 162. 362 Stange (1999): Modernism and the Individual Talent, S. 207, die eine Äußerung Donna Gerstenbergers anführt. 363 Gestützt wird diese These durch die leitmotivartige Verbindung von Robin und Noras Hund, vgl. Krewani (1993): Moderne und Weiblichkeit, S. 161. 364 So enthält das unveröffentlichte Theaterstück „To the Dogs“ (verfasst zwischen 1919 und 1923) eine deutliche Dürer-Reminiszenz (vgl. Silvia Henke: „Djuna Barnes: Theater im Lack der Melancholie.“ In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 44/45/7 (1994):
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Hund-Werdung Robins erstaunliche Parallelen zu der Beschreibung der Acedia auf, die Aegidius Albertinus im 17. Jahrhundert verfasst hat. 365 Und auch zur TierWerdung von Poschmanns Protagonistin zeigen sich Analogien. Denn unzweifelhaft wird Robin zum Tier, und der Roman schlägt sich dabei auf ihre Seite. Carrie Rohman vermerkt dazu: „It validates a human ontological mode that is open to multiplicity, organicism, and perpetual change.“366 Ganz im Sinne von Deleuze/Guattari überschreitet Robin in dieser Szene die Schwelle ihrer menschlichen Identität und ihre weitere Bestimmung ist geprägt durch das „semantische Feld ‚Tier‘“. 367 Ausgelöst wird dieser Prozess, wie bei Poschmann, durch Robins Verzweiflung, die an Gryphius Äußerung erinnert, derzufolge sich Menschen, wenn sie allzu traurig werden, in Tiere verwandeln.368 Das (vorläufige) Ergebnis ihrer Verwandlung wird aber als derart abjekt beschrieben, dass es sogar Noras Hund mit Grauen erfüllt. Barnes löst damit endgültig alle Binaritäten auf: „This last scene, so highly contested in critical readings of the novel, obliterates distinctions between sacred and profane, human and animal, fear and desire, play and aggression. When Robin goes down on all fours, she renounces Freud’s upright humanity and all its cruelty, abandoning the exclusionary edicts of identity.“369 Somit wird Robin zur Vertreterin eines radikalen Posthumanismus, zur Figuration von „non-identity as a form of subjectivity, where the nonlinguistic, the undecidable, and the animal serve to revise what counts as human.“370 Es ist folglich, ebenso wie auch bei Poschmann, Maron, Duve und Pletzinger, das Motiv des Melancholiehundes, auf dessen Folie die Entfremdungen sowie die Liminalitäten des Menschen abgezogen werden. Es ist die Befreiung aus dem menschlichen Reflexionszwang und der Erinnerungsfähigkeit, die in der Figur des Hundes bzw. in der Hund-Werdung selbst in Form einer – ob seiner Unerreichbarkeit melancholischen – Utopie der Freiheit aufblitzt, ganz im Sinne der Äußerung von Barnes Protagonist Dr. Matthew-Mighty-grain-of-salt-Dante-O’Connor: „‚Ah,‘ he added, ‚to be an animal, born at the opening of the eye, going only forward, and, at the end of the day, shutting out memory with the dropping of the lid‘.“ (DB 113).
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„Melancholie und Trauer“, S. 25-37: 29-30). Vgl. zum Hund bei Barnes auch Stange (1999): Modernism and the Individual Talent, S. 206. Vgl. S. 124, Fn. 233. Carrie Rohman: „Revising the Human: Silence, Being, and the Question of the Animal in Nightwood.“ In: American Literature 79/1/3 (2007), S. 57-84: 58. Stange (1999): Modernism and the Individual Talent, S. 188. Vgl. Henke (1994): Djuna Barnes, S. 26. Rohman (2007): Revising the Human, S. 81. Rohman (2007): Revising the Human, S. 57 und vgl. S. 81.
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3.2.3 Die Müdigkeit der Taxifahrerin: Karen Duves Taxi (2008) Ich zieh die Decke übern Kopf | Der Tag zieht an mir vorbei | Die Sonne lacht durchs Fenster | Mein Arsch ist schwer wie blei [...] Mir ist Duschen schon zu viel | Und jeder Anruf Quälerei [...] | Ich komm wie ’n Vampir | Erst bei Dämmerung vor die Tür Ich seh wie die Stadt pulsiert | Weil draußen alle funktioniern [...] | Eigentlich will ich hier nicht sein | Alle ziehn an mir vorbei Alle haben Ziele | Machen ihr Ding | Was ist mit mir? Chima/Morgen (2012)
Eine ausgeprägte Handlungshemmung ereilt auch die Protagonistin von Karen Duves 2008 erschienenem Roman Taxi. In diesem sehr autobiografischen Text verarbeitet die Autorin ihre persönlichen Erfahrungen als Taxifahrerin in Hamburg; darüber hinaus beinhaltet der Roman eine kritische Beschreibung der Leistungsgesellschaft. Es ist die Überforderung angesichts einer als überkomplex und fordernd wahrgenommenen Welt, unter welcher die Protagonistin leidet und welche sich zu einer ‚Handlungsfurcht‘ auswächst. Entsprechend beschreibt Duve ihr literarisches Schaffen selbst wie folgt: „Es sind zumindest immer Figuren, die nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Das Leben wird aber auch immer komplexer. Da haben viele das Gefühl, alles sei zu kompliziert für sie, und sie bleiben bei dem hohen Tempo einfach auf der Strecke“.371 Der Roman, welcher den für Duve so typischen lakonisch-melancholischen Duktus aufweist372, wurde 2008 vom Eichborn-Verlag publiziert, nachdem er ungefähr 20 Jahre zuvor (damals noch 800 Seiten stark) von diversen Verlagen als „spätes Exemplar aus der Gattung ‚Literatur der Arbeitswelt‘“373 abgelehnt worden war. Allerdings ist die Arbeitswelt nur ein Diskurs des Romans, der gleichbedeutend
371 Karen Duve im Gespräch mit Juliane Rusche u. Carsten Schrader: „Die Schablonenschreiberin. Karen Duve ist eine, die uns versteht. Das hat die Autorin mit Regenroman und Dies ist kein Liebeslied bewiesen, und das bestätigt auch ihr neues Buch. Problem: Sie selbst will mit ihrem Lebensgefühl nichts zu tun haben.“ In: U-Magazine ohne Erscheinungsdatum. Auf: http://www.umagazine.de/artikel.php?ID=33237, zuletzt gesehen am 03.01.2015. 372 Vgl. Rainer Moritz: „Emotionale Vollbremsungen.“ Beitrag im Deutschlandfunk vom 20.05.2008. Auf: http://www.deutschlandradiokultur.de/emotionale-vollbremsungen.950. de.html?dram:article_id=136206, zuletzt gesehen am 20.12.2014. 373 Volker Hage: „Unterwegs mit Zwodoppelvier. In ihrem vierten Roman Taxi erzählt die Erfolgsautorin Karen Duve von einer Taxifahrerin in Hamburg: So eigenwillig und mitreißend, wie man es seit dem Regenroman von ihr kennt.“ In: Der Spiegel 28.04.2008, k.A.
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neben einem Gender- und einem speziesistischen Diskurs steht.374 Im Zentrum dieser drei Diskurse steht die Protagonistin Alexandra Herwig, genannt Alex, die zwar mit ihrer Jugend und ihrer Schönheit zwei angebliche Vorteile auf sich vereint, die aber dennoch mit einem inkonstanten sowie instabilen ‚Selbst-Bild‘ hadert. Taxifahren als Beruf jenseits der Berufung Alex’ Erwerbsbiografie ist rasch nacherzählt. Die nach der Schule begonnene Ausbildung bei einer Versicherung hat sie aufgrund einer gefühlten Entfremdung, welche sich wiederum in ‚mentalen‘ Lähmungserscheinungen niederschlägt, abgebrochen.375 Arbeitslos verbringt sie die meiste Zeit prokrastinierend im Gartenhaus ihrer Eltern: „Gewöhnlich saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett, lehnte den Rücken gegen das Kopfkissen und die schlecht isolierte Holzwand und las ein Buch über Schimpansen. Oder ich sah aus dem Fenster in die Zweige eines giftigen Goldregens. Ich musste mir langsam etwas einfallen lassen. Meine ehemaligen Mitschüler studierten schon seit anderthalb Jahren, und wenn ich nichts tat, würden sich meine Eltern wieder irgendeinen langsamen Tod in einem Büro für mich ausdenken.“ (KD 8)
Körperlich untätig arbeitet sie sich geistig an den Gegebenheiten und Anforderu ngen der Arbeitsgesellschaft ab. Die ‚motivierteren‘ Mitglieder ihrer Generation ‚drohen‘ sie zu überholen, die Eltern drohen mit einem Bürojob, eine Entscheidung muss her. Bezeichnend ist, dass der Druck hier ausschließlich von außen motiviert scheint. Alex weist keinerlei ‚inkorporiertes‘ Leistungs- bzw. Arbeitsethos auf, wodurch sie zu einer Art ‚Nonkonformistin‘ wird, die nicht im vergleichbaren Maße die Anerkennung ihrer Mitmenschen braucht. Der Druck von ‚außen‘ ist es schließlich auch, der sie zu ihrer, eher zufällig getroffenen, Jobwahl motiviert bzw. drängt: „Ich fing an, die Stellenanzeigen in der Bild-Zeitung zu lesen. Gesucht wurden Mitreisende für Drückerkolonnen, Barfrauen auf Provision und Taxifahrer. Drückerkolonne ging nicht, weil ich ja überhaupt kein Durchsetzungsvermögen hatte. Ich hoffte immer noch, dass sich irgendetwas von selbst ergeben würde, etwas Großes, Besonderes, ohne dass ich deswegen selber handeln musste oder gezwungen war, Entscheidungen zu fällen, die ich dann den Rest meines Lebens zu bereuen hatte. Aber bis es soweit war, konnte ich ja Taxi fahren.“ (KD 8)
374 Vgl. Elke Brüns: „Der Affe in der Arbeitswelt: Mensch und Tier in Karen Duves Roman Taxi.“ In: Paul Michael Lützeler u. Stephan K. Schindler: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook 8 (2008), S. 218-237: 220. 375 „Diese Versicherungspolicen hatten mich richtiggehend gelähmt. Einmal nicht aufgepasst, den falschen Beruf gewählt, und schon hatte ich das Leben eines Mauerblümchens geführt.“ Karen Duve: Taxi. Frankfurt/M.: Eichborn 2008, S. 32. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle KD und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Für die bessere Lesbarkeit des laufenden Textes werden Anmerkungen mit mehr als drei Verweisen wiederum in den Fußnotenapparat verlegt.
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Taxifahren scheint für Alex eine Übergangslösung zu sein 376 und im Rahmen ihrer Möglichkeiten die momentan einzig zu vertretende Entscheidung. Der Grund für die ablehnende Haltung in Bezug auf die Drückerkolonne offenbart Duves „unsentimental-lakonische[n]“377 Duktus. Idealismus resp. Arbeitsethos spielen bei der Berufswahl keine Rolle. Alex’ Überlegungen fußen vielmehr auf angeblich notwendigen, ihr aber fehlenden Kompetenzen (wie das ‚Durchsetzungsvermögen‘), wobei hier eine deutliche Ironie herauszulesen ist, welche die Benennung von erforderlichen Kompetenzen ad absurdum führt. Gerade die geringe Fallhöhe ist es, die den Job für die intelligente Alex attraktiv macht; die Erwartungen, welche an sie als Taxifahrerin gestellt werden, sind überschaubar, ein zu großes Risiko wird nicht eingegangen. 378 Entsprechend schnell hat Alex den Job und entsprechend kurz ist die Einarbeitung; dennoch zeigt sich bald, dass auch der Taxiberuf seine Codes hat, die es erst zu erlernen gilt (vgl. KD 14, 23). Ist dem Anfang noch die Spannung des Neuen inhärent (vgl. KD 12, 28), schätzt Alex auch die sich nach und nach einstellende Routine und Sicherheit (vgl. KD 34-35). Dem Legitimationsdruck von außen, der sich aus dem geringen Ansehen des Taxifahrens ergibt379, begegnet Alex, indem sie die Vorteile ihrer Position betont: „Ein guter Job […]. Flexible Arbeitszeiten, ein Mercedes als Dienstwagen, niemand über mir, keiner unter mir – ein grundanständiger Beruf.“ (KD 48). Je mehr sie auf Ablehnung stößt, desto mehr identifiziert sich Alex aber mit ihrer Berufswahl: „Ich war eine Zierde meines Berufsstandes, eine Könnerin des Lenkrads ein Genie der Erinnerung.“ (KD 92), treibt sie es auf die Spitze und konterkariert dabei ein Arbeitsethos, der den Beruf zur Berufung erklärt. Dennoch ist und bleibt das Taxifahren ein „Beruf ohne Laufbahn“ 380, der kaum Veränderungen bereithält. Demgemäß findet auch keine wirkliche Entwicklung im Sinne einer ‚Verbesserung‘ von Alex’ Berufsausübung statt; im Gegenteil: Sie ver376 Diese Art der Darstellung lässt sich nahezu als moderner Mythos bezeichnen, wobei dessen Figurenpersonal zumeist angeblich ‚gescheiterte‘ geisteswissenschaftliche Akademiker sind. 1987 erschien sogar eine soziologische Dissertation zu diesem Thema, vgl. Cordia Schlegelmilch: Taxifahrer Dr. phil. Akademiker in der Grauzone des Arbeitsmarktes. Opladen: Leske + Budrich 1987. 377 Gisa Funck: „Einmal falsch abgebogen und nie wieder umgekehrt. Mit Karacho in die Lebens-Sackgasse: In ihrem Roman Taxi räumt Karen Duve abermals mit dem Vorurteil auf, dass Jungsein ein Freifahrtschein ins Glück ist.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.05.2008, S. 34. 378 Vgl. Funck (2008): Einmal falsch abgebogen und nie wieder umgekehrt. 379 Als Nebenjob ist das Taxifahren noch akzeptiert, aber nicht als Hauptberuf (vgl. KD 91). Alex’ Familie hält sie entsprechend (eigenen Angaben nach) für einen „unfähigen Trottel“ (KD 137), und ihre Mutter hat sie aufgegeben (vgl. KD 293). Die Skepsis zeigt sich schließlich auch gerechtfertigt, da in einer kurzen Episode beschrieben wird, wie schnell das Taxifahren in Richtung Prostitution kippen kann (vgl. KD 49-50). Dazu Karen Duve im Gespräch mit Kerstin Cornils: „‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein.‘ Um-Schriften eines Berufsmythos in Karen Duves Taxi.“ In: Ecker/Lillge (2011): Kulturen der Arbeit, S. 169-188: 184. 380 Jürgen Verdofsky: „Haben Sie denn gar keine Angst? Mit Zwodoppelvier durchs nächtliche Hamburg: Karen Duves hinreißender Roman Taxi.“ Frankfurter Rundschau 27.05.2008, S. 40.
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schlechtert sich, nachdem der Reiz des Neuen nach und nach einer letztlich doch ermüdenden Routine weicht.381 Sie entwickelt eine sich zuspitzende Abneigung den Fahrgästen gegenüber und diese, sowie die nächtliche Arbeitszeit, gehen an ihre psychische und physische Substanz (vgl. KD 29-31). Auch Alex’ in Phasen prekäres Selbstbewusstsein („Ich war nichts, ich konnte nichts“, KD 307) wird durch das frauenfeindliche Arbeitsumfeld zusehends geschwächt.382 Sie zieht sich zurück; ihr Einzelgängertum wächst sich zur Misantrophie aus; das Taxifahren kostet sie alle ihre Freundschaften (vgl. KD 77). Ihre lakonische Diagnose: „Ich hatte es verratzt. Einmal falsch abgebogen, einmal den falschen Beruf gewählt, einmal den falschen Mann geküsst und dein ganzes Leben ist verkorkst.“ (KD 78). Hatte sie die Befürchtung eines solchen ‚Scheiterns‘ zunächst in Bezug auf ihre Arbeit als Versicherungsangestellte geäußert, so bewahrheitet sie sich nun in Bezug auf das Taxifahren, wobei das in diesem Zitat bemühte Bild des ‚falschen Abbiegens‘ die metaphorische Dimension desselben betont. In den jeweils kurzen Intervallen zwischen Start und Ziel und den nur flüchtigen Kontakten zu den Fahrgästen deutet sich, dieser metaphorischen Lesart folgend, die oftmals als fragmentiert und oberflächlich beschriebene, spätmoderne Lebenswelt an. Einen Ausweg aus diesem als ‚defizitär‘ angesehenen Leben zeigt sich nicht, wobei sich die dabei entscheidende Ermangelung eigener Ziele in der Tatsache spiegelt, dass sie als Taxifahrerin in erster Linie die Ziele ihrer Fahrgäste ansteuert383, während sie selbst in der unveränderlichen ‚Kapsel‘ verharrt, zu der ihr das Auto wird.384 Die Fahrgäste nehmen am Leben teil. Alex hingegen sammelt lediglich deren Geschichten, ohne selbst Nennenswertes zu erleben. 385 Dabei ergibt sich im Taxi selbst eine spezifische Mischung aus (räumlicher) Nähe und (einer Art mentaler) Distanz. Zwar ist man wechselseitig aufeinander angewiesen; eine tiefergehende Beziehung wird hingegen vermieden. Alex’ emotionale Konstitution ist entsprechend: Sie leidet unter Angst und Wut (vgl. u.a. KD 36, 240) sowie unter dem Gefühl eines sekundären Lebens (vgl. u.a. KD 36, 95). Ihre Haupttätigkeiten sind Schlafen und Arbeiten, was wesentlich durch die nächtlichen Arbeitszeiten bedingt ist. Während sie nachts arbeitet und am Leben anderer teilhat, verbringt sie den Tag in ihrer Wohnung, in der sie sich einen regelrechten Kokon errichtet: „Also schaffte ich mir Gardinen an. Ich ließ sie aus schwerem, blauem Samt nähen, durch den nur wenig Licht schimmerte. So konnte ich auch tagsüber schlafen. [...] Wenn man um vier Uhr aufwacht und um halb sechs schon wieder zur Arbeit muss, lohnte es sich nicht wirklich, zwölf Gardinen aufzuziehen. Also blieben die Gardinen meistens zu, und ich lebte jetzt in einer 381 Vgl. Heike Bartel: „Karen Duve. Taxi: Of Alpha Males, Apes, Altenberg, and Driving in the City.“ In: Lyn Marven u. Stuart Taberner (Hg.): Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century. Rochester: Camden House 2011, S. 179-194: 182. 382 Ausf. vgl. Cornils: ‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein‘, S. 173-177. 383 „Eine Taxifahrerin hingegen fährt als Dienerin ihr fremder Herren ohne eigene Ziele hin und her“, schreibt Samuel Moser: „Die Geschichtensammlerin. Taxi – Karen Duves beeindruckender Roman über das Lesen.“ In: Neue Zürcher Zeitung 12.07.2008, k.A. 384 Vgl. Bartel (2011): Karen Duve, S. 184. 385 Vgl. Moser (2008): Die Geschichtensammlerin.
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genauso dunklen Höhle wie Dietrich [ihr Kollege und Freund]. Von Ende November bis Mitte Februar sah ich praktisch kein Tageslicht.“ (KD 62)
Es überrascht angesichts dieser Beschreibung nicht, dass Alex in eine – zunächst latente und sich zunehmend ausprägende – Depression verfällt. Sie ist häufig zu müde, um arbeiten zu gehen (vgl. KD 72), und wenn sie sich doch aufrafft, strengt es sie übermäßig an. „Manchmal fühlte ich mich wie unter Wasser.“ (KD 133), heißt es; die Wahrnehmung ist dumpf, die körperliche Bewegung erschwert, beides eindeutige Symptome einer Depression.386 Auch ihr Straßengedächtnis, zentrale Voraussetzung ihrer Berufsausbübung, verschlechtert sich, wozu ihr Freund bemerkt, „ein schlechtes Gedächtnis [sei] […] ein Zeichen für eine Depression“ (KD 117). Zwar wird Alex’ depressiver Zustand nicht durch das Taxifahren verursacht, aber wesentlich ‚gefördert‘. Die körperliche Trägheit während sie im Auto sitzt, das lange Warten, die Ungewissheit, ob es eine gute oder schlechte Nacht wird, mitunter auch die Traurigkeit des Milieus, in welches sie unweigerlich gerät, all dieses verstärkt ihre Disposition bis in die fast vollständige Handlungshemmung.387 Bartel bezeichnet aus diesen Gründen „her job as taxi driver as the worst possible career choice for her“. 388 Doch es handelt sich bei Taxi um mehr als um eine subjektive Krankheitsgeschichte. Duve selbst liefert den entscheidenden Hinweis, erkennt sie in Alex’ Depression eine „Verweigerungshaltung“389 – eine Zuschreibung, die aufhorchen und an die bekannten ‚Verweigerer‘ der Literatur, wie Gregor Samsa, Bartleby, Oblomow und Des Esseintes erinnert. Aber wem oder was gilt Alex’ Verweigerung? Indem sie sich einen wenig angesehenen Job sucht und diesen ‚eigentlichen‘ Nebenjob auch noch hauptberuflich ausführt390, verweigert sie sich, in einem ersten Schritt, indirekt einer ‚regulären‘ Integration in die Arbeitsgesellschaft. In einem zweiten Schritt verweigert sie sich aber auch einem Aufgehen in dieser selbstgetroffenen Entscheidung und wählt stattdessen den melancholischen Rückzug in den Kokon ihrer Wohnung. Wie bei Huysmans Protagonisten Des Esseintes und auch bei Hartmanns Beamten ist dieser Rückzug jedoch nicht absolut: Nach einem Sprung von fünf Jahren 391 fährt 386 Vgl. ausf. Tellenbach (1976): Melancholie. 387 Vgl. Cornils (2011): ‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein‘, S. 182. 388 Bartel (2011): Karen Duve, S. 187. 389 Karen Duve im Gespräch mit Tobias Rüther: „Sind Taxifahrer die besseren Schriftsteller, Frau Duve? Ich habe bestimmt etliche Mörder gefahren: Die Schriftstellerin und langjährige Taxifahrerin Karen Duve über unangenehme Fahrgäste, die Parallelen der Taxifahrt zum Speeddating und die Erkenntnis, dass Frauen die besseren Menschen sind.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2008, S. 8. 390 Sie selbst bezeichnet sich als nicht „integrierbar“ (KD 118), da anpassungsunwillig. 391 Der Roman ist in zwei Teile untergliedert, wobei der erste mit 1984-1986 und der zweite mit 1989-1990 überschrieben ist. Eine historische ‚Fixierung‘ an diese Zeiträume ist jedoch nicht vorhanden, die Handlung könnte durchaus auch jenseits der 1980er Jahre spielen, vgl. Rusche/Schrader: Die Schablonenschreiberin. Vgl. dazu auch Tanja Becker: „‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘ – Betrachtungen zum Roman Taxi von Karen Duve.“ In: Temeswarer Beiträger zur Germanistik Bd. 9. Temeswar: Mirton 2012, S. 87-95: 88.
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Alex im zweiten Teil des Romans immer noch (und sogar recht erfolgreich) Taxi. Und obwohl sie mittlerweile zur „legendäre[n] Zwodoppelvier“392 (KD 150) ‚aufgestiegen‘ ist, führt sie ihren Job wie eine Somnambule aus. Eine lähmende Melancholie hat sie fest im Griff: „Ich antwortete, ohne zu wissen, was ich sagte, schaltete, ohne zu wissen, wo ich gerade lang fuhr. Am Ende einer Nacht konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, in welchen Stadtteilen ich gewesen war. [U]nd dann das Warten. Immer nur warten. [...] Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein. Außerdem gab es sowieso keinen Ausweg. Was hätte ich machen sollen? [...] Wenn ich nur nicht immer so schrecklich müde gewesen wäre. Die ganze Nacht hielt ich schon lange nicht mehr durch. [...] Oder ich fuhr tagelang gar nicht, lag im Bett und sah fern. [...] Jede Bewegung kam mir ungeheuer anstrengend vor. Und sinnlos.“ (KD 145-146)
Alex’ größter Wunsch ist es mittlerweile, 24 Stunden im Bett verbringen zu können (vgl. KD 154). Schon das bloße Existieren erscheint ihr als Anstrengung. 393 Ihre Passivität geht in Apathie über394; sie verwahrlost, auch äußerlich (vgl. KD 152). Ihre Legitimationsformel des „anständige[n] Beruf[s]“ (KD 176) bemüht Alex zwar weiterhin, aber sie sehnt dennoch die Veränderung herbei, auch weil ihr bewusst ist, dass es für einen Ausstieg irgendwann zu spät sein wird (vgl. KD 153, 212, 226). Sie ist gefangen in einem Leben ohne Entwicklung und ohne zielgerichtete Dynamik. Zwar zeigt der Roman drei denkbare Alternativen zum Taxifahren auf; jedoch verlaufen alle drei (zumindest vorerst) im Nichts. Ein möglicher Neuanfang deutet sich in Alex’ Hobby, dem Schreiben, an (vgl. KD 202), das zumindest potentiell eine Tätigkeit als Autorin in Aussicht stellt.395 Ihr gutes Aussehen wiederum verschafft ihr einen Modeljob (vgl. KD 266-267), der ebenfalls die Möglichkeit eines Ausstiegs impliziert. Die wiederkehrenden Losbriefe in Alex’ Briefkasten fungieren, ihr einen ‚sicheren‘ Geldgewinn versprechend396, als Glücksutopie, die Alex aufgrund mangelnden Glaubens nicht weiter verfolgt. Sie bleibt somit zunächst in der Arbeitswelt 392 Dabei handelt es sich um die Nummer ihres Taxis, die zu ihrem Spitznamen wird. Und in ähnlicher Weise sind sie und ihr Auto eine Art Symbiose eingegangen: „Ich war mit meinem Taxi verwachsen, jedes Teil der Karosserie gehörte zu meinem Körper, meine Füße waren kreisrund, und mein Gehirn hatte auf Autopilot geschaltet.“ (KD 234). 393 Gisa Funck vermerkt dazu, Silvia Plath zitierend: „Duves Ich-Erzählerin verharrt wie gelähmt unter der ‚Glasglocke‘, ohne Vision für ihr Leben.“ (Funck (2008): Einmal falsch abgebogen und nie wieder umgekehrt). Karen Duve selbst bringt dieses Gefühl in ihrer 1999 publizierten Kurzgeschichte „Keine Ahnung“ auf den Punkt: „Mir war das Sein schon zu viel, ich wollte nicht auch noch etwas werden.“ Karen Duve: „Keine Ahnung.“ In: Dies. (1999): Keine Ahnung, S. 7-29: 7. Vgl. dazu auch Susan E. Gustafson: „Asymbolia and Self-Loss: Narratives of Depression by Women in Contemporary German Literature.“ In: Monatshefte 99/1 (2007), S. 1-21: 12. 394 So vergisst sie manchmal sogar, ob sie einen Fahrgast im Taxi hat oder wo sie sich gerade befindet (vgl. KD 268-269). 395 Vgl. Cornils (2011): ‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein‘, S. 179-180. 396 Vgl. KD 155-156, 205-206, 255-257, 301.
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verhaftet. Neben den drei angedeuteten Alternativen beinhaltet der Roman auch einen Gegenentwurf zu Alex’ defizitärer Verortung, versteckt in ihrem Interesse für das Leben der Primaten sowie die Forschung Dian Fosseys. 397 Die Primatengesellschaft wird ihr zum Gegenentwurf für die eigene, männlich-dominierte Arbeitsgesellschaft, wobei Duve auf äußerst ironische Weise mit dem Affenmotiv spielt. Dass es am Ende ein Schimpanse ist, der die lang erwünschte Veränderung herbeiführt, indem er, als ihr Beifahrer, einen Unfall verursacht, der Alex den Taxischein kostet (vgl. KD 302-309)398, unterstreicht die Ironie dieses Gegenentwurfs. Was die junge Frau trotz (oder wegen) ihrer menschlichen Fähigkeit zur Reflexion nicht konnte, nämlich ihrem Leben eine neue Wendung zu geben, schafft der Affe. Statt Gestaltungsmacht ist hier der Zufall am Werk. Eine kurze Geschichte der Müdigkeit Liest man Taxi vor dem Hintergrund soziologischer Ausführungen zur spätmodernen Arbeitsrealität, so erscheint Alex, die ihr Leben kaum selbst in die Hand nimmt und vieles einfach ‚geschehen‘ lässt, die einer prekären Beschäftigung nachgeht, welche soziale Kontakte, Bindungen und Planungen nahezu unmöglich macht, als ‚driftender‘ Mensch im Sinne Sennetts399; ohnmächtig in Bezug auf die Gestaltung eines eigenen Lebenslaufs, dessen Fragmentiertheit sowie Arbitrarität sich in der Metapher des Taxifahrens niederschlägt. Die grundlose Müdigkeit, welche Alex im Verlauf ihres Driftens beschleicht, lässt sich wiederum auf der Basis von Jean Baudrillards Ausführungen zur Konsumgesellschaft deuten.400 Baudrillard nimmt dabei eine, von ihm als Fatigue bezeichnete ‚widerständige‘ Müdigkeit in den Blick, bei der es sich, wie Tanja Becker in ihrer Analyse herausstellt, um „eine positive Verweigerung des modernen Menschen […], sich in seine Existenzbedingungen zu fügen“401, handelt. Wird die Müdigkeit von der Antike bis zur Romantik durchaus positiv, bisweilen sogar als idyllisch beschrieben, etwa als verdiente Rast nach harter Arbeit 402, gilt sie spätestens ab der Neuzeit, mit Erstarken des industria-Ideals, vor allem als „Makel, als Fehlschaltung, als schlechte Koordination des Leistungshaushaltes“. 403 Die Zu-
397 Vgl. KD 14-15, 81, 98, 181, 220. Zur „Affenliebe“ von Duves Protagonistin siehe Cornils (2011): ‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein‘, S. 180-181. 398 Ausf. zum Ende vgl. Bartel (2011): Karen Duve, S. 189-191. Zum Affen als falsch verstandenem bon sauvage vgl. Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 90. Vgl. auch Duve im Gespräch mit Cornils (2011): ‚Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein‘, S. 185. 399 Zum Begriff des ‚Drift‘ vgl. Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 15-31, zu der dahinterliegenden Theorie Sennetts vgl. ausf. das Kap. 3.2.5. 400 Ich folge hierbei der Darstellung Tanja Beckers, welche eine Deutung des Romans vor dem Hintergrund von Baudrillards Beschreibung der ‚Konsumgesellschaft‘ leistet, vgl. Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 89-94. 401 Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 93-94. 402 Vgl. Barbara Naumann: „Editorial.“ In: Figurationen 14/1 (2013): „Müdigkeit/Fatigue“, S. 5-7: 5. Vgl. auch Caduff/Felten (2013): Einleitung, S. 9-10. 403 Naumann (2013): Editorial, S. 5.
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schreibungen, die vormals den lasterhaften Müßiggang ‚trafen‘ 404, bezieht man nun auf die Müdigkeit. Dieser Verschiebung inhärent ist die Annahme, dass ein bewusster Entzug aus den Gefilden der Leistungsfähigkeit und Produktivität, wie ihn der Müßiggang darstellt, undenkbar ist; die Müdigkeit hingegen ist in erster Linie eine nicht zu unterbindende Reaktion des Körpers anstatt einer bewussten Art, sich zu verhalten. Sollte der Arbeiter des 19. Jahrhunderts folglich nicht gerade bei der Arbeit anzutreffen sein, kann nur die Müdigkeit, sein psychischer wie physischer ‚Mangel‘, einer Pause zu bedürfen, dafür verantwortlich sein, womit sich der Fokus von der Leistungsbereitschaft zur Leistungsfähigkeit verschiebt. Die Bekämpfung und Pathologisierung der Müdigkeit erlebte entsprechend im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Arbeitswissenschaften ihren Höhepunkt, und kulminiert in dem ernstgemeinten Gerücht, „es sei ein Impfstoff gegen Müdigkeit gefunden worden.“405 So lässt sich in Diagnosen wie der Neurasthenie, aber auch dem Burnout durchaus eine Pathologisierung der Müdigkeit erkennen, die offenbart, dass es sich bei der Müdigkeit um eine „Grenzangst“ der Leistungsgesellschaft handelt, die entsprechend auch in „leibhafte Fortschrittskritik“ umschlagen kann. 406 Ist eine körperliche oder auch geistige Müdigkeit ja durchaus ein Phänomen mit empirischer Evidenz – man kann nun einmal nur eine gewisse Menge an Leistung erbringen, ehe Körper und Geist der Regeneration bedürfen –, so nehmen die Soziologen und Philosophen der Spätmoderne eine scheinbar ‚grundlose‘, gesellschaftliche Form der Müdigkeit in den Blick, die jenseits des u.a. von Hannah Arendt als Voraussetzung für ein gelingendes Leben beschriebenen Kreislaufs von Erschöpfung und Regeneration liegt407 und die in der Tradition der Melancholie zum Vehikel für Kritik wird. In diesen Kontext ist auch Baudrillards Fatigue-Begriff einzuordnen, den er zum Kernbegriff seiner Kritik an anomischen gesellschaftlichen Zuständen macht. In seiner 1970 erstmals erschienenen Schilderung der Konsumgesellschaft beschreibt er, wie der Mensch zum Konsumenten sozialisiert und dadurch zu einem getriebenen Menschen ‚ausgebildet‘ werde, der von einer Bedürfnisbefriedigung zur nächsten eile
404 Vgl. Kocka (2006): Mehr Last als Lust, S. 21 sowie vgl. S. 45, Fn. 40. 405 Caduff/Felten (2013): Einleitung, S. 13. Ausf. zur Arbeitswissenschaft, die im 19. Jahrhundert oftmals eine Ermüdungswissenschaft war, vgl. Hartmut Böhme: „Das Gefühl der Schwere. Historische und phänomenologische Ansichten der Müdigkeit, Erschöpfung und verwandter Emotionen.“ In: Figurationen 16/1 (2015): „Erschöpfung/Épuisement“, S. 26-49: 32-35. Zur Pathologisierung vgl. auch Sabine Maasen: „Vom gesellschaftlichen Sinn der Müdigkeit(en).“ In: Figurationen 14/1 (2013): „Müdigkeit/Fatigue“, S. 35-54: 35-36. 406 Caduff/Felten (2013): Einleitung, S. 9. Sie konstatieren, dass sowohl die Neurasthenie als auch der Burnout zuerst in den USA beschrieben wurden, dem Land des Fortschrittsglaubens. Ganz ähnlich wie es bei der Melancholie der Fall ist, lässt sich das Verständnis von Müdigkeit folglich nur in einem wechselseitigen Verhältnis zur Entwicklung der Arbeitsgesellschaft vor allem ab dem 19. Jahrhundert betrachten, vgl. Böhme (2015): Das Gefühl der Schwere, S. 29, der zeigt, wie sehr es sich bei Müdigkeit, Erschöpfung, Neurasthenie, Burnout und Melancholie, aber auch Acedia, Müßiggang und Muße um ineinander übergehende Begriffe handelt. 407 Arendt (2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 127.
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und dabei zunehmend vereinzele.408 Da das kapitalistische System auf Wachstum ausgerichtet ist und deshalb immer neue Bedürfnisse kreieren muss, lebe der Konsument in einem gefühlten Zustand ständigen Mangels 409; ein Gleichgewicht im Sinne eines Lebens in Harmonie, im Glauben an das ‚Genug‘ sei nicht vorgesehen und wirtschaftlich auch nicht tragbar. Das Resultat ist, Baudrillard folgend, ein Leben in Dyskrasie, um es mit einem Terminus aus dem Bereich der Humoralpathologie zu beschreiben. Zwar ermöglicht die Konsumgesellschaft dem Individuum viel, sie wartet aber auch mit neuen Zwängen auf.410 So beinhaltet sie ein Glücksdiktum411, welches drei konkrete Anomien nach sich zieht, die, wie Baudrillard beschreibt, von der „Destruktivität (Gewalt, Delinquenz) über den kollektiven Eskapismus (Drogen, Hippies, aktive Gewaltablehnung) bis zur ansteckenden Depressivität (Fatigue[], Selbstmorde, Neurosen) reichen.“412 Die Fatigue – das französische Wort für ‚Ermattung‘ und ein Begriff aus dem medizinischen Bereich – erscheint dabei wie ein Vorläufer des heutigen BurnoutBegriffes413, definiert Baudrillard sie doch als „endemische, unkontrollierbare Müdigkeit“, die nichts mit „einer muskulären oder energetischen Erschöpfung […] zu tun“414 hat. „[S]ie ergibt sich nicht aus körperlicher Verausgabung“ 415, sondern zehrt scheinbar an anderen, schwerer zu regenerierenden Energiereserven, und zwar vornehmlich an den Reserven der Bewohner westlicher Industrienationen. 416 Darüber hinaus ist die Fatigue Baudrillards, ganz in der Tradition melancholischer Verweigerungen stehend, eine Form des Widerstands: „Die Helden des Konsums sind müde. [...] Von daher sollten wir die Fatigue […] als eine Reaktion in Form einer passiven Verweigerungshaltung interpretieren, die der moderne Mensch diesen Existenzbedingungen entgegensetzt. Dabei sollte uns allerdings nicht entgehen, dass diese ‚passive Verweigerung‘ in Wirklichkeit latente Gewalt und unter diesem Aspekt nur eine der möglichen Reaktionen ist, deren andere Formen die offene Gewalt beinhalten. […] Die Ermattung des Bürgers der postindustriellen Gesellschaft ist vom unterschwelligen Streik, der Verzögerungstaktik der Fabrikarbeiter, dem ‚slowing down‘ oder auch der Schulverdrossenheit nicht weit entfernt. All dies sind Formen eines passiven, ‚eingewachsenen‘ Widerstands […]: Die Ermattung ist keine der äußeren sozialen Überaktivität sich entgegensetzende Passivität, sie ist, im Gegenteil, die einzige Form von Aktivität, die sich unter bestimmten Bedingungen dem Zwang zur allgemeinen Passivität entgegensetzen lässt, der aus der heutigen Form sozialer Beziehungen resultiert. Der müde Schüler ist derjenige, der die Ausführungen des Lehrers passiv über sich ergehen lässt. Der müde Arbeiter oder Verwaltungsangestellte ist derjenige, 408 Vgl. Jean Baudrillard: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Wiesbaden: Springer VS 2015 [1970], S. 117-118, 125. 409 Vgl. Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 78. 410 Vgl. Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 259. 411 Vgl. Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 47-49. 412 Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 257, Herv. i.O. 413 Vgl. die Anm. des Übers. in Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 258. 414 Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 267. 415 Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 267. 416 So bezeichnet er sie als eine „‚Dysfunktion‘ des Wohlstands“, Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 267.
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dem man jede Verantwortung in seiner Arbeit entzogen hat. Die politische ‚Gleichgültigkeit‘, diese Katatonie des modernen Bürgers, ist die eines Individuums, dem jede Entscheidungsmöglichkeit entrinnt und dem nur noch der Hohn des allgemeinen Wahlrechts bleibt.“417
Baudrillard spricht hier von einer Müdigkeit im Angesicht von gewollter Passivität und Unmündigkeit; Aspekte, denen sich das postfordistische Arbeitsideal ja eigentlich entgegenstellt. Doch im Zuge von Verantwortungsverschiebung und Initiative, in Zeiten von „Empowerment“418 und unternehmerischem Ich scheint die grundlose Müdigkeit keineswegs nachzulassen, wie Alain Ehrenbergs soziologische Forschung herausstellt. Vom ‚erschöpften Selbst‘ über die Müdigkeitsgesellschaft zur Melancholie Der französische Soziologe Alain Ehrenberg beschreibt in seiner vielbeachteten Publikation Das erschöpfte Selbst – im französischen Original unter dem Titel La Fatigue d’être soi 1998 erschienen – die steigende Anzahl depressiver Erkrankungen. Dabei widmet er sich zunächst der Krankheit ‚Depression‘ und zeichnet deren Genese aus der antiken Melancholie nach, wobei er die deutlichen Parallelen zur Neurasthenie des 19. Jahrhunderts betont.419 War die Neurasthenie jedoch eine „nervöse Erschöpfung“ als Reaktion auf die „Strapazen“ der industrialisierten wie beschleunigten Lebenswelt420, so ist die Depression, die Fatigue der Spätmoderne, eine Form der passiven, der trägen Erschöpfung, die sich damit eine Stufe weiter – so lautet die in vielerlei Hinsicht linear deterministische Darstellung Ehrenbergs – in Richtung eines Zustands bewegt, welchen Hannah Arendt – ebenfalls einen gewissen linearen Determinismus nicht verbergend – als die „tödlichste[], sterilste[] Passivität […], die die Geschichte je gekannt hat“421, bezeichnet. Mit dieser Verschiebung geht einher, so führt Ehrenberg weiter aus, dass mit den 1980er Jahren die Depression zunehmend als „Handlungsstörung“422 angesehen, also im Kontrast zu einer Aktivitäts- und Vitalitätsnorm definiert wird, und in Folge dessen rückt die Hemmung als bestimmendes Symptom in den Vordergrund.423 Entsprechend erfolgt die Therapie zum einen durch eine aktivierende Medikation und weitere Strategien, um das „Individuum wieder handlungsfähig [zu] machen“424, zum anderen erklingt häufig der Appell an die innere Haltung: Man solle aktiv sein, sich ein Ziel setzen, Aufgaben erfüllen.425
417 Baudrillard (2015): Die Konsumgesellschaft, S. 268-269, Herv. i.O. 418 Friedrich Steinfeld: Was rettet die moderne Seele? Zwischen Emanzipation und Erschöpfung. Hamburg: VSA 2012, S. 121. 419 Vgl. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 14, 31-32 sowie ausf. zum breiten Spektrum und damit zur definitorischen Unschärfe der Depression vgl. S. 101-143. 420 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 51-52. 421 Arendt (2003): Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 411. Vgl. auch S. 9, Fn. 1. 422 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 24. 423 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 232 und vgl. S. 150, 190-192. 424 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 222. 425 Vgl. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 153-154, 223.
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Die grassierenden Erschöpfungszustände führt Ehrenberg hingegen auf eine gesellschaftliche Verschiebung zurück: jene von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft, welche mit weniger „gesellschaftliche[n] Zwänge[n]“ bzw. mit einem Mehr an Freiheit, Verantwortung und Initiative aufwartet: „Die Grenze aus Erlaubtem und Verbotenem schwindet zugunsten der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.“426 Die Depression bezeichnet Ehrenberg demgemäß als eine „Krankheit der Verantwortlichkeit“427, die sich bedingt durch die Prekarisierung der Arbeitsund Lebensumstände ab den 1990er Jahren in noch stärkerem Maße ausprägt. Im Zusammenspiel von ‚Empowerment‘ und Prekarisierung komme darüber hinaus einer veränderten Konkurrenz besondere Bedeutung zu, über die Ehrenberg vermerkt: „An die Stelle der Kämpfe zwischen Gruppen tritt die individuelle Konkurrenz, die die Personen auf andere Weise trifft“.428 Und entsprechend zählt das Konkurrenzbewusstsein ihrer Generation auch zu den Ursachen von Alex’ Fatigue, ist sie sich, trotz ihres Unwillens gegenüber einer arbeitsgesellschaftlichen Integration, dem Wettkampf um Arbeitsplätze und der entsprechenden Motivation ihrer potentiellen ‚Mitbewerber‘ durchaus bewusst.429 Der gleichzeitige Anspruch, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, lässt die Lücke zwischen Ideal und Realität weit auseinander ‚klaffen‘. Die aktuell ausgeführte Tätigkeit wird als Übergangslösung angesehen, ein Umstand, der das gesamte Leben provisorisch erscheinen und Alex in einer Fatigue versinken lässt. Zum einen ist die Depression, laut Ehrenberg, also eine Folge von ‚Empowerment‘ und Prekarität; zum anderen stellt sie sich aber auch der sich verstärkenden Beschleunigung entgegen430 und reagiert auf die Paradoxien der Gegenwart, die sich zwischen globalisierenden und individualisierenden Tendenzen ergeben und die eine Verschiebung sowie Verkomplizierung von Konflikten nach sich ziehen: „Wir erleben ein zweifaches Phänomen: eine zunehmende, aber abstrakt bleibende Universalisierung (die Globalisierung), und eine ebenfalls zunehmende, aber konkret spürbare Individualisierung. Man kann wohl zusammen einen Chef oder eine gegnerische Klasse bekämpfen, aber wie macht man das mit der Globalisierung? In diesem Kontext ist es viel schwieriger, kollektiv Gerechtigkeit zu verlangen, viel schwieriger, jemanden für eine Situation, als deren Opfer man sich fühlt, verantwortlich zu machen. Es wird darüber hinaus immer schwieriger, zwischen Leiden und Ungerechtigkeit zu unterscheiden, zwischen Mitleid und Ungleichheit, zwischen legitimen Konflikten, bei denen es darum geht, den produzierten Reichtum gerechter zu verteilen, und illegitimen Konflikten, die bloße Machtkämpfe sind. Der Groll richtet sich gegen einen selbst (Depression ist Autoaggression), wird auf einen Sündenbock projiziert und löst sich durch die Suche nach Identitäten kommunitären Typs auf.“431
Im Angesicht von Unübersichtlichkeit aber auch gefühlter Kontingenz wird das ‚Selbst‘ zur Zielscheibe; ein ‚Selbst‘, welches erst einmal ausgebildet werden 426 427 428 429 430 431
Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 19 und vgl. 190. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 15, Herv. i.O. sowie vgl. S. 245. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 294-295. Vgl. Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 93. Vgl. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 20. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 294-295.
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muss.432 Das ‚erschöpfte Selbst‘ scheitert dabei, wie Ehrenberg diagnostiziert, und wird so, bewusst oder unbewusst, zu einem Gegenbild der herrschenden Norm: „Die Depression ist das Geländer des führungslosen Menschen, sie ist nicht nur sein Elend, sondern das Gegenstück zur Entfaltung seiner Energie. Die Begriffe Projekt, Motivation und Kommunikation sind die beherrschenden Werte unserer Kultur. Sie sind die Losungen der Epoche. Nun ist die Depression eine Pathologie der Zeit (der Depressive hat keine Zukunft) und der Motivation (der Depressive hat keine Energie, seine Bewegungen sind verlangsamt, seine Sprache ist schleppend). Der Depressive hat Mühe, Projekte zu formulieren, ihm fehlen die Energie und die Motivation dazu. [...] Mit den mangelnden Projekten, der mangelnden Motivation, der mangelnden Kommunikation ist der Depressive das genaue Negativ zu den Normen unserer Sozialisation.“433
Ulrich Bröckling bringt dieses Verhältnis bei seiner Verbindung von unternehmerischem und erschöpftem Selbst ebenfalls auf den Punkt: „Wo Aktivität gefordert ist, ist es antriebslos; wo Kreativität verlangt wird, fällt ihm nichts ein; den Flexibilisierungszwängen begegnet es mit […] Erstarrung; statt […] sich zu vernetzen, zieht es sich zurück; die Strategien der Bemächtigung prallen an seinen Ohnmachtsgefühlen ab; sein Selbstbewusstsein besteht vor allem aus Selbstzweifeln; an Entscheidungskraft fehlt es ihm ebenso wie an Mut zum Risiko; statt notorisch gute Laune zu verbreiten, ist es unendlich traurig.“ 434 Und als ein solchermaßen ‚erschöpftes Selbst‘ wird Duves Progatonistin ebenfalls zu einem Gegenbild des eigentlich herrschenden Ideals. Eine Ehrenbergs Ausführungen sehr ähnliche Kritik findet sich in dem 2010 erschienenen Essay Die Müdigkeitsgesellschaft des Philosophen Byung-Chul Han, der ebenfalls die Verschiebung von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft zum Ausgangspunkt seiner Beschreibungen macht: „An die Stelle von Verbot, Gebot und Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor“. 435 Han erkennt in der Häufung von „[n]euronalen Erkrankungen“, wie der Depression aber auch des Burnout-Syndroms, eine Verlagerung nach Innen – sowohl im Sinne einer Inkorporierung von Idealen als auch im Sinne einer Verschiebung von Konfliktstrukturen auf das verstärkt verantwortlich gemachte ‚Selbst‘ – die eine Gegenwehr zunehmend erschwere. Es gebe keine „äußere Herrschaftsinstanz, die dieses Selbst zur Arbeit zwingen oder gar ausbeuten würde. Es [das Leistungssubjekt] ist Herr und Souverän seiner selbst.“436 Was daraus resultiert, ist ein „animal laborans, dass sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge“ und „ohne Herrschaft“. 437 Diese angebliche Freiwilligkeit, die eine Freiheit zur Entscheidung voraussetzt, und sich 432 433 434 435
Vgl. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 302, 15. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 306. Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 289. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz 82013 [2010], S. 20, Herv. i.O. 436 Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 24. 437 Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 23, Herv. i.O. sowie S. 38.
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auf der Abschaffung der disziplinargesellschaftlichen Prinzipien begründet, sei aber keinesfalls so eindeutig gegeben. Vielmehr handele es sich um eine „paradoxe[] Freiheit“438, die sich verschleiernd über neue gesellschaftliche Zwänge lege und wiederum pathologische Reaktionen hervorrufe. Die Leistungsgesellschaft versinke in endemischen Müdigkeitszuständen, die Han als „Schaffens- und Könnensmüdigkeit“439 zuspitzt. Während Ehrenberg vor allem den Aspekt der Verantwortung fokussiert, möchte Han das Bewusstsein für neue Formen des ‚Drucks‘ von außen schaffen, die gemeinsam mit der inkorporierten Leistungsnorm eine Depressionen evozierende Atmosphäre kreieren: „Krank macht in Wirklichkeit nicht das Übermaß an Verantwortung und Initiative, sondern der Imperativ der Leistung als neues Gebot der spätmodernen Arbeitsgesellschaft.“440 Der Blick auf Duves ästhetischen Zugang bestätigt indirekt Hans Ausführungen, ist es doch der von ihrer Familie sowie vom herrschenden gesellschaftlichen Ideal ausgehende Druck, der dazu führt, dass Alex eine Arbeit annimmt und diese ausführt. Aber auch die Verschiebung von Verantwortlichkeit spielt eine Rolle. Zeigen sich bei Hartmann noch klare Hierarchien und ist deutlich festgelegt, wer ‚Herr‘ und wer ‚Knecht‘ ist, so zeigen sich in Taxi die Unterschiede nivelliert, die Kategorien verschwimmen. Zwar ist Alex für eine Taxifirma tätig; sie ist aber dennoch ‚ihr eigener Herr‘, da sie selbst über Arbeitszeiten und Orte bestimmt, bzw. sie hat wechselnde ‚Herren‘ – verkörpert durch ihre Fahrgäste. In diesem Sinne hat auch Alex keinen Ort, weder in topografischer noch in sozialer Hinsicht. Konstatiert Ehrenberg die ‚Suche nach Identitäten kommunitären Typs‘, so findet sich dieses in Alex’ Faszination für die Menschenaffen wieder, in deren Gesellschaft ein jeder seinen Platz zu haben scheint; eine Vereinzelung, wie Alex sie erlebt und auch forciert, scheint es hier nicht zu geben. Zum Verhältnis von Melancholie und Depression In der Depression äußert sich, so beschreiben es die soziologischen und philosophischen Ausführungen, neben ihrer Gestalt einer individuellen Disposition auch ein „Unbehagen an der Gesellschaft“, das, Gernot Böhme folgend, die „Mehrheit irgendwie bewältigt oder kompensiert […], während es sich bei den Depressiven zur unerträglichen und lähmenden Düsternis verdichte“.441 Wolfram Mauser führt diesen Gedanken noch etwas weiter aus, wenn er schreibt: „Jede Epoche hat ihre Krankheit, d.h. die Krankheit, unter der man nicht nur leidet, deren Erscheinungsbild auch hilft, den sich verändernden Standort des Menschen im Weltzusammenhang auszumachen.“442 In diesem Sinne erscheinen die Depression, und mit ihr auch das BurnoutSyndrom als ‚soziale Pathologien‘ der Gegenwart mit einer eigenen zeitdiagnosti-
438 439 440 441 442
Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 25. Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 14, 23, Herv. i.O. Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 22-23, Herv. i.O. Böhme (2010): Einleitung des Herausgebers, S. 8. Wolfram Mauser: „Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts.“ In: Benzdorfer et al. (1990): Melancholie in Literatur und Kunst, S. 48-88: 53.
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schen Qualität443 und damit als ‚Nachfolger‘ von Phänomenen wie Hypochondrie, Neurasthenie oder auch Hysterie.444 Tatsächlich teilen sich Depression und Melancholie darüber hinaus noch zahlreiche weitere Aspekte, die eine Abgrenzung durchaus erschweren 445, ist doch bereits im Corpus Hippocraticum und bei Pseudo-Aristoteles eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe angelegt446, wobei in erster Linie die pathologische Melancholie als ‚Vorläuferin‘ der Depression fungiert. Doch im Unterschied zum Krankheitsbild der Depression birgt die Melancholie zahlreiche Qualitäten. So beschreibt László F. Földényi, sie ermögliche einen „kreativen Umgang mit Erfahrungen von Ichverlust […], der über das Krankheitsbild der Depression hinausgeht.“447 Johann Glatzel sieht dies ähnlich, wobei er den Blick auf die Literatur richtet: „Melancholie als ein literarischer Topos überschneidet sich nur in einem schmalen Bereich mit dem, was wir heute als endogene oder zyklothyme Depression in den Lehrbüchern der Psychiatrie abgeschildert finden. Was uns dort als Syndrom begegnet, als Summe einer begrenzten Anzahl auf Symptome reduzierter psychopathologischer Tatbestände, zeigt nicht die Melancholie als eine besondere Weise des Selbst- und Weltverhältnisses.“448 Die von Baudrillard, Ehrenberg und Han beschriebene kollektive, aber dennoch vereinzelnde Form der spätmodernen Müdigkeit 449 steht, auch wenn wiederholt die ‚Depression‘ oder aber die ‚Depressivität‘ benannt wird, deutlich in der Tradition melancholischer Verweigerungshaltungen. In diesem Sinne lässt sich Duves Protagonistin fraglos als ein ‚erschöpftes‘, aber auch als ein melancholisches ‚Selbst‘ bezeichnen, durch welches ein kritischer Blick auf die Arbeitsgesellschaft und die Ideale der Zeit erfolgt. Mit ihrer melancholischen Haltung erweist sie sich als inkommensurabel mit der modernen Arbeitsgesellschaft, ist sie doch gekennzeichnet von Unflexibilität und der Unfähigkeit, mit persönlicher Freiheit umzugehen, wie Elke Brüns vermerkt: „Statt eines sich selbst optimierenden unternehmerischen Ichs ist bei Duve eher ein sich
443 Vgl. Axel Honneth: „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie.“ In: Ders. (Hg.): Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 9-69: 50-52. 444 Vgl. Kramer (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 145 sowie Elin Thunman: „Burnout als sozialpathologisches Phänomen der Selbstverwirklichung.“ In: Sighard Neckel u. Greta Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 58-85. Vgl. auch Julia Kristeva: Die neuen Leiden der Seele. Gießen: Psychosozial-Verlag 2007 [1994], S. 13-14, die eine interessante Verschiebung von der Neurose zur Psychose konstatiert. 445 Vgl. Schmidt-Degenhard (1983): Melancholie und Depression sowie Jackson (1986): Melancholia and Depression. 446 Vgl. Flashar (1966): Melancholie und Melancholiker in der medizinischen Theorie der Antike, S. 47 und Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 59. 447 Lázló F. Földényi: „Heitere Anblicke, in Melancholie getaucht. Melancholie und Heiterkeit in der Romantik.“ In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Melancholie und Heiterkeit. Heidelberg: Winter 2007, S. 81-105: 104. 448 Glatzel (1999): Melancholie, S. 211. 449 Vgl. Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 57.
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selbst unterminierendes kreatürliches Ich unterwegs“.450 Dieses ‚kreatürliche‘ Ich findet sich in den von Alex so verehrten Primaten wieder, für deren gesellschaftliche Ordnung sie sich besonders interessiert, was Brüns wiederum als Hinweis auf eine „traditionelle Arbeitswelt“451 deutet, welche Alex, als emanzipierte und moderne Frau, allerdings schwerlich ersehnen kann. Ähnliches konstatiert auch Ehrenberg, wenn er die problematische Dimension seiner eigenen Kritik anführt; schließlich könne man sich wohl kaum „in den disziplinerenden Kerker der alten Gesellschaftsordung“452 zurückwünschen. Ein Blick zurück ist also eigentlich verstellt, es gibt nichts zu betrauern, ein Punkt, den wiederum die melancholische Haltung pointiert. Doch auch die Zukunft lässt wenig hoffen. Denn die Fatigue, ‚Müdigkeit‘, Depression – welchen Begriff man auch wählt – der Spätmoderne ist ein Zustand, der keine Ambivalenzen kennt, der lediglich erlitten werden kann. War das „neurotische […] Subjekt“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch konfliktfähig, so „laboriert“ das erschöpfte Selbst nur noch „an sich selbst und an seinen Unzulänglichkeiten“ herum.453 Eine apolitische Haltung ist die Folge, die Veränderungen verhindert. Da auch für Alex aber weder ein Aufgehen in der Arbeitsgesellschaft möglich ist noch ein Ausstieg, da sowohl eine Verortung in der Gegenwart verstellt ist als auch der Weg zurück sowie der Blick in die Zukunft, bleibt letztlich der Weg in die „Passivität und Müdigkeit“ als „einzige Möglichkeit des Individuums […], sich zu wehren.“454 Folgerichtig bleibt das Ende des Romans vage. Ein möglicher Ausweg ergibt sich dennoch, wenn man den autobiografischen Aspekt mitdenkt: das Schreiben. Wie für Duve die Arbeit als Schriftstellerin zum ‚neuen‘ Beruf wurde, so deutet sich die Möglichkeit dieser Sonderstellung in Bezug auf die arbeitsgesellschaftliche Einbindung, als welche die künstlerisch-kreative Arbeit zu sehen ist, auch für Alex an. Ihre melancholische Disposition, welche zunächst einer Integration in den Arbeitskontext entgegenwirkt, wird hierbei zur wesentlichen Voraussetzung und, in einem weiteren Schritt, zum Medium, um u.a. die Verfasstheit, die Nachteile und die vermeintliche Schieflage der Arbeitsgesellschaft literarisch zu beschreiben.
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Brüns (2008): Der Affe in der Arbeitswelt, S. 231. Brüns (2008): Der Affe in der Arbeitswelt, S. 231. Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 18. Hans-Martin Lohmann: „Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.“ 10.01.2005. Auf: https://www.deutschlandfunk.de/alainehrenberg-das-erschoepfte-selbst-depression-und.730.de.html?dram:article_id=102380, zuletzt gesehen am 04.01.2016. 454 Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 94.
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3.2.4 ‚Wehe Hemmungen‘: Wilhelm Genazinos Angestellte (2009/2011) Und wenn jemand kommt | und unsere Situation verschlechtert | dann finden wir das nicht gut | und machen uns dann wieder Sorgen über unsere Chancen | auf dem Arbeitsmarkt das ist alles so ungerecht | denn wir haben immer unsere Hausaufgaben gemacht | und alle Voraussetzungen erfüllt […] damit der Alltag der grau ist dadurch | ein bisschen abwechslungsreicher gestaltet werden kann | damit wir auch mal die Seele baumeln lassen können | wenn das gefährdet ist dann finden wir das nicht gut | und sind enttäuscht PeterLicht/Wir sind jung und machen uns Sorgen (2001) wir hier und unsere unsterblichen seelen | sag mir wie sollten wir arm sein? wir und der unpfändbare rest unserer herzen | was sollten wir anders sein als frei? || frei frei frei sollten, frei sollten wir sein sonst könnten wir uns nicht davon befreien, frei frei zu sein PeterLicht/An meine Freunde vom leidenden Leben (2008)
Sowohl das Sujet der Arbeit als auch das Melancholieparadigma sind in den Texten Wilhelm Genazinos sehr präsent, wobei sich die Melancholie vor dem von Max von der Grün bereits angedeuteten Hintergrund der veränderten Ansprüche entfaltet. Svenja Frank bezeichnet Genazinos Literatur in ihrem einschlägigen Aufsatz „Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other“ als „[o]ne of the most profound explorations of sadness, melancholy and boredom in the landscape of contemporary German literature“.455 Ihr zufolge ist die spezifische Melancholie Genazinos nicht im Sinne einer subjektiven Gestimmtheit oder einer psychischen Verfassung zu sehen, sondern als ein „objective fact of existence“. Seine Texte offenbaren, so Frank, wie die Melancholie, trotz ihrer damit konstatierten Allgegen-
455 Svenja Frank: „Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other.“ In: Mary Cosgrove u. Anna Richard (Hg.): Sadness and Melancholy in GermanLanguage Literature and Culture. Rochester, NY: Camden House 2012, S. 151-172: 151, deren Ausführungen zur Genazino’schen Melancholie ich in diesem Kapitel folge, um diese mit dessen literarischer Verhandlung von Arbeit engzuführen.
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wart, von der Gesellschaft als ihr „pathological Other“ stigmatisiert wird. 456 Franks Ausführungen zur Melancholie in Genazinos Werk stimme ich im Wesentlichen zu, vor allem mit Blick auf die beiden Romane Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Wenn wir Tiere wären (2011). Betrachtet man allerdings den literarischen Ausgangspunkt der melancholischen wie ‚arbeitsweltlichen‘ Auseinandersetzung Genazinos – seine Roman-Trilogie Abschaffel –457, zeigt sich, dass die von Frank beschriebene Melancholie hier noch nicht anzutreffen ist. Sie entfaltet sich erst in den Romanen der letzten Jahre und zwar vor dem Hintergrund der sich verändernden spätmodernen Arbeits- und Lebensrealität. Wilhem Genazinos Abschaffel-Trilogie und Martin Walsers ‚Arbeitstexte‘ Im Zentrum der Abschaffel-Trilogie (Abschaffel, 1977, Die Vernichtung der Sorgen, 1978, Falsche Jahre, 1979), welche noch deutlich im Kontext der Angestelltenliteratur zu verorten ist458, stehen die Infiltration des privaten Lebens durch die Arbeit sowie die Problematik, innerhalb entfremdeter Arbeitsbedingungen ein individuelles und authentisches ‚Ich‘ ent-wickeln zu können – Aspekte, die Genazinos weitere Texte ebenfalls thematisieren. Auch wird bereits hier die für die Folgeromane so prägende spezifische Gefühlslage der Protagonisten entfaltet. Abschaffel ist ein ‚kauziger‘ und einsamer Mensch.459 Wut, Angst, Enttäuschung und Traurigkeit, aber auch Scham und Selbstmitleid sind die ihn bestimmenden Emotionen.460 Bezugspunkt von Abschaffels emotionaler Konstitution ist seine Tätigkeit im Großraumbüro eines Frankfurter Speditionsunternehmens, die er als ereignis-, sinn- und „spurlos[]“ (WGA 496) erlebt: „Seit Stunden war Abschaffel wieder den Nichtigkeiten des Büros ausgesetzt. Die offene Weite des Großraumbüros versetzte alle Angestellten in einen allgemeinen Zusammenhang. Alle kleinen Nichtigkeiten sammelten sich zu einem großen Nichts, an dem alle teilhatten. [...] Die einzig mögliche Absonderung bestand darin, die fehlenden Trennwände im eigenen Körper hochzuziehen.“ (WGA 257).461 Und weiter heißt es zu dieser ‚Büro-Tristesse‘: 456 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152. 457 Vgl. Stefanie Rinke: „‚…und beauftragte jemanden mit meiner Observation.‘ Angestelltenhabitus und Blickökonomie bei Wilhelm Genazino zwischen Moderne und Gegenwart.“ In: Ecker/Lillge (2011): Kulturen der Arbeit, S. 33-50: 33-34. 458 Vgl. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 84-89. 459 Vgl. WGA 18, 42, 46, 120, 135, 324, 354 sowie zur gewollten Einsamkeit vgl. WGA 38. 460 Zur Wut vgl. WGA 10, 45, 75, 93, 315, 336, zur Angst vgl. WGA 50, 112, 425, 453, 481, 534, zur Enttäuschung vgl. WGA 43, 155, 186-189, 252-253, 330, 387, 500 und zur Trauer vgl. WGA 41, 110, 120, 137, 296, 328; zur Scham vgl. WGA 23, 50, 137-138, 228, 346, 479 und zum Selbstmitleid, das sich mit Gefühlen der eigenen Minderwertigkeit abwechselt, vgl. WGA 13, 38, 115, 137, 224, 534. 461 Diese Beschreibung der topografischen Gegebenheiten erinnert deutlich an Melvilles Bartleby, der sich hinter seiner spanischen Wand wie in einem Kokon eingerichtet hat und entsprechende ‚Trennwände‘ zu seinem Umfeld hochzieht, eine Option, die Abschaffel in Zeiten des Großraumbüros nicht mehr hat. Ist der Raum in der Literatur nicht bloß
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„Es war eine ganz tolle Verzweiflung, wenn man merkt, daß man dort, wo man ist, nicht hingehört. In dieser Verzweiflung befand sich Abschaffel, als er wieder im Büro war. Er konnte lange gar nicht glauben, daß es seine Kollegen noch immer gab und daß alles wirklich weiterging. Alles, was er sah, störte ihn. Er arbeitete schleppend und achtete darauf, in nichts verwickelt zu werden. Die Verzweiflung machte ihn still und schreckhaft. [...] Wenn das Telefon klingelte und Abschaffel mußte den Hörer abnehmen, dann sprach er ganz leise und gedehnt, mit zu langen Abständen zwischen den Worten, bittend und brüchig, als plane er in sein Sprechen schon seine Auflösung ein. Immer hatte er das Gefühl, alles, was hier mit ihm zu tun hatte, kann nicht so bleiben.“ (WGA 142-143)
Wie dieser Textausschnitt zeigt, lässt sich Abschaffel durchaus als ein melancholischer Charakter beschreiben, zum einen aufgrund seiner spezifischen Gefühlslage, zum anderen durch seine ‚Tätigkeit‘ als Flaneur der Straßen Frankfurts. 462 Bei seinen Streifzügen weist er eine gesteigerte Aufmerksamkeit, eine überwache Hypersensibilität auf, die Bestandteil des Melancholieparadigmas ist und sich am eindrücklichsten in Dürers Melencolia abgebildet findet. Dieser ‚melancholische‘ Blick, den auch Rothmanns Julian sein Eigen nennt, ist für Abschaffel ein Mittel zum Zweck der Orientierung in einer überfordernd anmutenden Lebenswelt: „Es war, als müsste er die Welt durch Beobachtungen zerkleinern, weil sonst alles zuviel für ihn war.“ (WGA 495).
ein „Ort der Handlung, sondern stets auch kultureller Bedeutungsträger“ (Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann: „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung.“ In: Dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 11-32: 11), der u.a. Machtverhältnisse freilegt, so offenbart das Großraumbüro in Abschaffel zum einen die Bedeutung sozialer Kontrolle, eine geringe Privatsphäre im Sinne eines ständigen potentiellen Ausgesetzt-Seins von Blicken der Kollegen und Vorgesetzen sowie eine Auflösung der Innen/Außen-Dialektik zu einem großen wie diffusen ‚Ganzen‘, welche sich auch in Abschaffels psychischer Konstitution offenbart. Zu dieser Entgrenzung des Büros vom Einzelarbeitsplatz über Großraumbüro bis hin zum Home Office und zu aktuellen Bestrebungen der räumlichen ‚Reintegration‘ von Arbeit in Büroverbände in Gestalt von Co-Working-Spaces, in denen sich die Entgrenzung sowie der Wunsch nach erneuter Begrenzung von Arbeit niederschlägt vgl. Christoph Bartmann: Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten. München: Hanser 2012. Zu dem Konnex von Arbeitssituation und seelischem Befinden vgl. auch Heister (1989): ‚Winzige Katastrophen‘, S. 161-162 sowie zum Arbeitsort des (Großraum-)Büros vgl. S. 171-179. 462 Vgl. WGA 25-26, 75-79, 116, 232-233. Hirsch sieht in Abschaffel die Parodie eines Flaneurs (vgl. Anja Hirsch: ‚Schwebeglück der Literatur‘. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Heidelberg: Synchron 2006, S. 61-64), und Frank nennt ihn einen „epigonal flaneur“ (Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 151); man könnte vielleicht sagen, dass er selbst vom Flaneur-Sein entfremdet ist. Ausf. zum Flaneur bei Genazino vgl. Heiko Neumann: „‚Der letzte Strich des Flaneurs‘. Schwierige Fußgänger in Wilhelm Genazinos Romanen Ein Regenschirm für einen Tag und Die Liebesblödigkeit.“ In: Andrea Bartl u. Friedhelm Marx (Hg.): Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Göttingen: Wallstein 2011, S. 151-164.
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Abschaffels melancholische Grundstimmung führt ihn in eine passive Haltung, die sich schon in seinem eigentümlichen wie einprägsamen Namen niederschlägt, erinnert dieser doch an „‚abgeschlafft‘“ oder „‚abgeschafft‘“. 463 Der Begriff der ‚Hemmung‘ wird ebenso bemüht, wie jene der existentiellen ‚Müdigkeit‘ und der grundlosen ‚Erschöpfung‘464, und seine Hemmung erfährt im Verlauf der Trilogie eine Zuspitzung, die in pathologische Zustände führt und schließlich in einer Kuranstalt mündet. Doch auch wenn die Melancholie in den Beschreibungen von Abschaffels Leiden beständig umkreist465, der Vorstellungsbereich so aufgerufen und in ein Verhältnis zur Arbeitsrealität des Protagonisten gesetzt wird, bleibt die Melancholie letztlich implizit und es findet eine Pathologisierung von Abschaffels Konstitution statt; ein Verfahren, das an die ‚Arbeitstexte‘ Martin Walsers erinnert, welche als Referenztexte für Genazinos Auseinandersetzung gelten können. Martin Walser ist in jedem Fall ein Autor, an dem man nicht vorbei kommt, wenn man über das Thema ‚Arbeit‘ schreibt. Vielzitiert und einschlägig ist sein Artikel „Warum brauchen Romanhelden Berufe?“ aus dem Jahr 1992. Walser fordert darin, das „Geldverdienenmüssen“ dürfe von der Literatur nicht ausgeklammert werden, vielmehr sei der Beruf der Protagonisten „der fundamentale Ausdruck dessen, was den Roman veranlaßt hat, worauf der Roman reagiert.“ 466 Das berufliche Spektrum 463 Volker Hage: „Das Summen des Kühlschranks und die Leere des Lebens.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.11.1977, k.A. Vgl. auch Hirsch (2006): ‚Schwebeglück der Literatur‘, S. 39 sowie Markus Villiger zur Verwendung des Nachnamens als Zeichen der Entfremdung: „‚[A]bgeschafft‘ wird in diesem Büro und diesem Buch seine Persönlichkeit, das Individuum mit seinen spontan empfundenen und geäusserten Wünschen, Ansprüchen und Umweltbezügen.“ (Markus Villiger: „Protokoll einer Selbstentfremdung. Wilhelm Genazinos Roman Abschaffel.“ In: Neue Zürcher Zeitung 17./18.07.1977, k.A.). Bei Marion Heister weckt der Name passenderweise „melancholisch-resignative Assoziationen“, Heister (1989): ‚Winzige Katastrophen‘, S. 188. 464 So heißt es: „An manchen Tagen bestand er nur aus wehen Hemmungen“ (WGA 42). „Eine unerhörte Müdigkeit kam über ihn. Abschaffel wollte sich einschläfern“ (WGA 274). „Er fühlte sich erschöpft, ohne zu wissen, warum, und er ärgerte sich. Warum bin ich nur so erschöpft, ich kämpfe doch gar nicht, ich kämpfe doch gar nicht, dachte er. [...] Abschaffel wollte plötzlich gar nichts mehr selbst machen. Er wollte sich führen, setzen und füttern lassen, bitte.“ (WGA 57). „Er war erschöpft, aber er traute sich nicht, Erschöpfung als Grund wirklich anzunehmen.“ (WGA 343 und vgl. WGA 383, 485). 465 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152. 466 Martin Walser: „Warum brauchen Romanhelden Berufe?“ In: Ders.: Vormittag eines Schriftstellers. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 [1992], S. 27-47: 45, 36. In einem Interview konstatiert Walser entsprechend: „Ich bin beteiligt an einem Prosaunternehmen, das man bezeichnen könnte als Geschichtsschreibung des Alltags“ (Walser im Gespräch mit Julia Schröder u, Joachim Worthmann: „Protokoll des Alltags. Der Schriftsteller Martin Walser im Gespräch.“ In: Stuttgarter Zeitung 10.11.1993, k.A.). Folgerichtig äußerte Walser Sympathien für die „Gruppe 61“ und den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, welche sich einer ähnlichen Agenda verpflichtet fühlten (vgl. Martin Walser: „Wie und wovon handelt Literatur?“ In: Ders.: Wie und wovon handelt Literatur? Aufsätze und Reden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 119-138: 124-131). Des Weiteren hat er die Einlei-
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seiner Protagonisten ist dabei von erstaunlicher Breite: Angefangen bei einem entmutigten Pförtner467 über Anselm Kristlein, der erst Vertreter468, dann Schriftsteller469 und schließlich Hausmeister470 ist, sowie den kränkelnden Schriftsteller Josef Georg Gallistl471 hin zu Franz Horn, Angestellter einer Zahnersatz-Firma472; von dessen Vettern Xaver Zürn, seines Zeichens Chauffeur473, und Gottlieb Zürn, Makler und
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tung für Erika Runges einschlägige Bottroper Protokolle verfasst (vgl. Martin Walser: „Berichte aus der Klassengesellschaft.“ In: Erika Runge: Bottroper Protokolle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008 [1968], S. 7-10). Zurückführen lässt sich sein literarisches Interesse an dem Sujet u.a. auf seine Auseinandersetzung mit Kafkas Texten (vgl. Keith Bullivant: „Working Heroes in the Novels of Martin Walser.“ In: Frank Philip (Hg.): New Critical Perspectives on Martin Walser. Columbia, SC: Camden House 1994, S. 16-21: 18), ein Ausgangspunkt, den auch Genazino wählt (vgl. WGA 7). Ausf. zur Arbeit bei Walser vgl. auch Hilmar Grundmann: Berufliche Arbeit macht krank. Literaturdidaktische Reflexion über das Verhältnis von Beruf und Privatsphäre in den Romanen von Martin Walser. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2003, Franz Oswald: The Political Psychology of the White Collar Worker in Martin Walser’s Novels. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1998 sowie Siegfried Mews: „A Merry Departure From the Past? Master-Servant Relations in Bertolt Brecht, Martin Walser, and Volker Braun.“ In: Frank Philipp (Hg.): New Critical Perspectives on Martin Walser. Columbia, SC: Camden House 1994, S. 2946. Vgl. Martin Walser: „Die Klagen über meine Methode häufen sich.“ In: Ders.: Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963 [1955], S. 47-53. Vgl. Martin Walser: Halbzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 [1960]. Vgl. dazu Thomas Beckermann: „Epilog auf eine Romanform. Martin Walsers Roman Halbzeit. Mit einer kurzen Weiterführung, die Romane Das Einhorn und Der Sturz betreffend.“ In: Klaus Siblewski (Hg.): Martin Walser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 74-113. Vgl. Martin Walser: Das Einhorn. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 [1966]. Vgl. Martin Walser: Der Sturz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21978 [1973]. Vgl. dazu Peter Gendolla: „Das endlose Band, die Schaukel, die Alpen. Über Schreiben, Geldverdienen und Selbstmord in Der Sturz.“ In: Gertrud Bauer Pickar u. Heike Doane (Hg.): Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten. München: Fink 1995 und Erhard Schütz: „Von Kafka zu Kristlein. Zu Martin Walsers früher Prosa.“ In: Siblewski (1981): Martin Walser. S. 59-73. Martin Walser: Die Gallistl’sche Krankheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 [1972]. Vgl. Martin Walser: Jenseits der Liebe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21976 [1976] und Brief an Lord Liszt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982. Vgl. dazu Heike Doane: „Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt.“ In: Jürgen E. Schlunk u. Armand E. Singer (Hg.): Martin Walser. International Perspectives. New York, NY, u.a.: Peter Lang 1987, S. 81-102. Vgl. Martin Walser: Seelenarbeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983 [1979]. Vgl. dazu Elke Schmitter: „Die Selbstgespräche des Xaver Zürn. Über Seelenarbeit und das Ende einer Illusion.“ In: Text und Kritik 41/42 (32000), S. 62-68, Joachim Kaiser: „Herzbewegende Seelenarbeit – Martin Walser.“ In: Ders.: Was mir wichtig ist. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1996 [1990], S. 179-188 sowie Donna L. Hoffmeister: „Fantasies of Indivi-
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Schriftsteller474, bis hin zum selbstständigen Anlageberater Karl von Kahn475 – um nur einige zu nennen.476 Der Beruf fungiert dabei, so sagt der Autor selbst, als Maske, hinter der sich etwas anderes, nämlich eine gesamtgesellschaftliche Problematik verbirgt: „Nachträglich kann ich denken, daß der Vertreter wohl meine Erfahrung des Überflüssigseins ausdrückt; der Immobilienhändler und der Angestellte die Unannehmlichkeit des Konkurrierenmüssens; [...] der Chauffeur die Angst des Abhängigen“.477 So unterschiedlich die Berufe der Walser’schen Protagonisten auch sind, so eint sie eine spezifische Art, sich der Welt gegenüber zu verhalten, den Anforderungen, die an sie – nicht nur in der Arbeitswelt – gestellt werden, zu begegnen. Und auch wenn Walser mit seinen Romanen zahlreiche Beispiele für das in der Einleitung entworfene ‚Dilemma‘ einer veränderten Arbeitsrealität, die neue Arten von Verantwortlichkeiten und Konflikten nach sich zieht, entwirft, so ‚melancholieren‘ von seinen Texten bei genauerem Hinsehen gerade jene am wenigsten, welche sich die Arbeit zum Sujet nehmen. Am ehesten wird die Engführung von Arbeit und Melancholie noch bei Josef Georg Gallistl, dem Protagonisten des 1972 erschienenen Romans Die Gallistl’sche Krankheit sichtbar. Da es sich hierbei aber um einen sich zunehmend zurückziehenden Schriftsteller, also einen Geistesarbeiter par excellence handelt, ist die Melancholie als Paradigma der literarischen Ausgestaltung naheliegend. Den Namen des Protagonisten in Rechnung gestellt, so findet sich der entsprechende Verweis an zentraler Stelle: Die Galle ‚steckt‘ in Gallistl478; sein telling name verweist auf seine Haltung, seine „melancholische Disposition“. 479 Zwar begegnet uns auch in Walsers weiteren ‚Arbeits-Texten‘, wie der ‚Kristlein-Trilogie‘, den beiden Romanen über den Vertreter Franz Horn, dem Roman Seelenarbeit (1979) sowie der Trilogie über den Makler Gottlieb Zürn, eine ausgeprägte Handlungshemmung, die bis zu Erstarrungswünschen, Lähmungserscheinungen und Selbstmordversuchen wie zu einer ausgeprägten Neigung zu Grübeleien und Reflexionen führt. Eine deutlichere Bezugnahme auf das Motivreservoir der Melancholie wird den darin
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dualism: Work Reality in Seelenarbeit.“ In: Schlunk/Singer (1987): Martin Walser, S. 59-70. Vgl. Martin Walser: Das Schwanenhaus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 [1980], Ders.: Jagd. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990 [1988] und Ders.: Augenblick der Liebe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006 [2004]. Vgl. dazu Gertrud Bauer Pickar: „Self-Delusion and Subjective Reality: The Portrayal of Gottlieb Zürn in Das Schwanenhaus.“ In: Dies./Doane (1995): Leseerfahrungen mit Martin Walser, S. 121-143. Vgl. Martin Walser: Angstblüte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 22006. Eine Übersicht der bei Walser (bis 1994) vorkommenden Berufe findet sich bei Bullivant (1994): Working Heroes in the Novels of Martin Walser, S. 17-18. Walser (1994): Warum brauchen Romanhelden Berufe?, S. 47. Vgl. Rudolf Walter Leonhardt: „Märchen von der Heilung. Martin Walser sucht neue Töne für den Sozialismus.“ In: Die Zeit 31.03.1972, k.A. Stuart Taberner: „Martin Walser’s Die Gallistl’sche Krankheit: Self-Reflexivity as Illnes.“ In: German Life and Letters 49 (1996), S. 358-472: 358, Übers. N.V. Taberner geht noch weiter und schreibt, Gallistls Funktion als Schriftsteller sei es, melancholisch zu sein (vgl. S. 359). Vgl. auch Klaus Siblewski: „Eine Trennung von sich selbst. Zur Gallistl’schen Krankheit. In: Ders.: (1981): Martin Walser, S. 139-149.
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„leidenden Angestellten“480 und Selbstständigen entweder nicht ‚zuerkannt‘ oder die Arbeit findet sich bei ihnen lediglich in der transformierten Form des Berufs, aber nicht als Sujet des Textes. Auch für Abschaffel lässt sich eine dezidiert melancholische Haltung und damit eine dezidierte Engführung von Arbeit und Melancholie nur bedingt konstatieren, zu dominant ist die pathologische Dimension seines Leidens. 481 Anders ist es in Genazinos Romanen Das Glück in glücksfernen Zeiten und Wenn wir Tiere wären, wobei Erstgenannter eine Melancholie des überqualifizierten wie prekären Angestellten, Letztgenannter eine sich zur Selbstauflösung zuspitzende Melancholie des ‚freischwebenden‘ Selbstständigen entwirft. Ein melancholischer Angestellter: Das Glück in glücksfernen Zeiten Im Zentrum des autodiegetisch erzählten Romans Das Glück in glücksfernen Zeiten steht der 41jährige Gerhard Warlich, ein promovierter Philosoph, der keine Beschäftigung in seinem Bereich finden konnte und deshalb – zunächst – als Fahrer für eine Großwäscherei arbeitet, wo er dann eine Karriere absolviert. 482 Warlich erweist sich im Laufe des Romans als ein ‚komplizierter‘ Charakter, für dessen Selbst- aber auch dessen Fremdwahrnehmung, etwa durch seine Freundin, Bildung und Intellekt ausschlaggebende Merkmale sind.483 Seine Bildung prägt auch seine reflexive sowie übermäßig sensible Wahrnehmung und seinen entsprechend komplexen Weltzugang, der dem Leser zunächst noch als durchaus nachvollziehbar präsentiert wird. Im Wesentlichen erreicht wird dieses durch die Erzählweise, welche, im Gegensatz zu Abschaffel, kaum mit Distanz erzeugenden Mitteln arbeitet und Warlich so dem Leser als eine Identifikationsfigur anbietet.484 Warlichs Weltzugang wird zum Sujet des
480 Walser (1982): Brief an Lord Liszt, S. 63, Herv. i.O. 481 Abschaffels körperliches Leiden gipfelt in einer Osteoporose-Diagnose, hinter welcher der behandelnde Arzt – aufgrund ihrer altersuntypischen Schwere – ein psychisches Leiden vermutet (vgl. WGA 381), und ihn zur weiteren Behandlung in eine psychosomatische Kur überweist. Die Osteoporose wird als eine ausgeprägte Form der Mangelerscheinung beschrieben und verweist dadurch auf Abschaffels gefühlten Mangel an Bindung (vgl. WGA 461), Verortung (vgl. WGA 461), Sinn (vgl. WGA 48, 52, 73-74, 92), Freiheit und Identität (vgl. u.a. WGA 84). Die Krankheit wird damit zur Metapher, zur „körperliche[n] Reaktion auf eine jahrelange seelische Krise, auf das immerwährende Gefühl, sein Leben sei ‚sinnlos‘ geworden.“, schreibt Stephan Reinhardt: „Keine Zeit für die Erziehung der Gefühle? Wilhelm Genazino beschließt seine Abschaffel-Trilogie.“ In: Frankfurter Rundschau 10.10.1979, k.A. 482 Vgl. Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. München: Hanser 2009, S. 14-15. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle WGG und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Für die bessere Lesbarkeit des laufenden Textes werden Anmerkungen mit mehr als drei Verweisen in den Fußnotenapparat verlegt. 483 Vgl. WGG 41, 46-47, 71, 118. 484 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 162. Ausf. zur Identifikationsfigur bei Genazino vgl. Alexander Honold: „Doppelleben, halbbitter. Unentschiedenheit als erzählte Lebensform bei Wilhelm Genazino.“ In: Bartl/Marx (2011): Verstehensanfänge, S. 33-56: 35. Zwar zeigt auch Warlich Züge eines ‚unzuverlässigen Erzählers‘ (vgl. WGG 100), aber diese sind bei weitem nicht so
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kurzen Romans, wobei die Diskrepanz zwischen der Realität, genauer: den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft, und seiner inneren, melancholischen Haltung im Mittelpunkt steht – eine Diskrepanz, die ihn schließlich, nach seiner Kündigung und einem psychischen Zusammenbruch, in eine Klinik führt. Zu Beginn des Romans ist Warlich bereits 14 Jahre bei der Großwäscherei tätig und mittlerweile zum „Organisationsleiter“ (WGG 14) aufgestiegen. Auch wenn es sich um eine gutbezahlte Führungsposition handelt, sieht Warlich sich ohne Frage als „überqualifiziert“ (WGG 15) sowie in die „Banalität des entfremdeten Brotberufs gerutscht[]“.485 Sein Studium und seine Promotion – sein „Bildungslametta“ (WGG 45) – erwiesen sich mit Hinblick auf eine Platzierung innerhalb der Arbeitsgesellschaft als wenig sinnvoll und er konstatiert resigniert, es gebe „Abertausende solcher überflüssiger Spezialisten […] wie mich“ (WGG 45). Hat seine Überqualifizierung zwar eine gewisse Langeweile zur Folge, so schützt sie ihn dennoch nicht vollständig vor den Anforderungen seiner Arbeit; steigender Druck und Beschleunigung erreichen auch ihn (vgl. WGG 35-39), und dass er darüber hinaus damit beauftragt ist, die Fahrer zu observieren, macht aus ihm einen „missbraucht[en]“ wie „bestürzte[n] Menschen“ (WGG 41).486 Auch die Akquise neuer Aufträge sowie die Auseinandersetzung mit säumigen Kunden sind ihm zutiefst zuwider (vgl. WGG 89-90), aber aktiv gegen die subjektiv als unfrei wahrgenommenen Zustände vorzugehen schafft er nicht. Er fühlt sich einer „Verstrickung“ (WGG 51) ausgesetzt, und in diesem Substantiv offenbart sich seine grundlegende Passivität sowie ein gewisser Fatalismus, beides grundlegende Bestandteile seiner melancholischen Haltung. Diese trägt bei Genazino deutlich ‚gelangweilte‘ Züge, beschreibt Warlich einen normalen Arbeitstag doch wie folgt: „Zuerst bin ich lange lustlos, dann lange angeödet, dann stark abgestoßen und fluchtbereit.“ (WGG 39), wobei diese Fluchtbereitschaft in einer „Sehnsucht nach grenzenlosem Unterwegssein“ gipfelt, die ein Sichnicht-einlassen-Können, eine Ablehnung des status quo offenbart. Dass Warlich sich nach Feierabend „mangelhaft und unerlöst“ (WGG 44) fühlt, zeigt, dass bei Genazino nicht der Arbeitslose das „Mängelwesen“487 ist; es ist der Arbeiter selbst, der sich als solches wahrnimmt, da er nicht in der Lage ist, seinem Ideal einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzukommen. Diese innere Ablehnung seiner Tätigkeit führt zu einer Baudrillard’schen Simulation von Arbeit (vgl. WGG 35), wie sie bereits im Kontext von Max von der Grün erörtert wurde. Arbeit wird zur körperlichen Anwesenheit, ausgeprägt wie bei Abschaffel, vgl. Hirsch (2006): ‚Schwebeglück der Literatur‘, S. 5051. 485 Alexandra Pontzen: „Der Roman zur Krise? Wilhelm Genazino erzählt Das Glück in glücksfernen Zeiten.“ 5 (2009). Auf: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id=12973, zuletzt gesehen am 25.11. 2014. Vgl. dazu WGG 14-15. Zu Warlich als Verkörperung des „‚Überqualifizierten‘“ siehe Helmut Böttiger: „Das Zwangsabo Wirklichkeit. Wilhelm Genazino erfindet einen Helden, der am liebsten nur halbtags leben würde und das Glück in glücksfernen Zeiten umkreist.“ In: Süddeutsche Zeitung 10.03. 2009, S. 6. 486 Die Observation setzt zwar an seinem Hang zum Beobachten an, transferiert diese aber aus der Sphäre des Zweckfreien in eine des Zwecks, vgl. ausf. Rinke (2011): ‚und beauftragte jemanden mit meiner Observation‘, S. 43-44, 46. 487 Engler (2005): Bürger, ohne Arbeit, S. 11.
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zur Ableistung von Zeit. „The work is performed, but the worker is detached from the performance.“488, schreibt Richard H. Hall über diese neue Form der SelbstEntfremdung, die aus der sich ausweitenden Kluft zwischen den individuellen Zielen und der jeweiligen Realität, zwischen der ‚Rolle‘, die man auf dem Arbeitsmarkt spielen muss, und dem authentischen Ich resultiert. Nicht mehr die arbeitende Handlung als solche ist dabei entscheidendes Moment, sondern der Mensch selbst, seine Präsenz. Dadurch entgrenzt sich auch bei Genazino die Arbeit zusehends, okkupiert u.a. in Gestalt von „Liebesarbeit“ (WGG 135) vormals unökonomische Sphären und macht dadurch das Leben selbst zur Arbeit.489 Die Melancholie vor diesem Hintergrund betrachtet, wirft ihr Schlaglicht auf zwei zentrale Dilemmata, die schon Walsers Protagonisten sowie Abschaffel beschäftigten und denen auch Warlich sich ausgesetzt sieht: die subjektive Entfremdung und die Unmöglichkeit eines authentischen Lebens. Die Akquise neuer Kunden ist dem promovierten Philosophen „das Fremdeste […], was es auf der Welt überhaupt gibt“ (WGG 50), und die ihm dabei wiederfahrende Ablehnung trifft ihn persönlich und „[]lähmt“ ihn (WGG 52). Wie tief seine, durch die Außenwelt zwar nicht verursachte, aber doch deutlich vorangetriebene, Entfremdung bereits in sein Ich vorgedrungen ist, offenbart sich, wenn er in einen fingierten Dialog mit seiner, in er zweiten oder auch dritten Person Singular adressierten Seele tritt, die er dadurch von sich separiert (vgl. WGG 10, 85).490 Zwar zeichnet Warlichs Arbeit sich durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit und damit an Freiheit aus; ein Ort der sinnvollen, Selbstverwirklichung ermöglichenden Tätigkeit, die nicht mehr eine „beliebige Verrichtung“, sondern „SEINE Arbeit“491 ist, stellt sie dennoch nicht dar. Daher ersehnt er eine Veränderung seines Lebens, welches sich für ihn als „eine unhaltbare Sache“ (WGG 8) anfühlt, die mehr oder weniger ohne sein Zutun im Modus eines „eigentlich“ (WGG 19, Herv. i.O.) abläuft. Das gegenwärtige Leben erscheint provisorisch, da schon ein neuer Job, so imaginiert Warlich, ein völlig neues Leben mit sich bringen könnte. In Analogie zu Abschaffel ist Warlichs Gefühlslage bestimmt durch Scham, die ihn oftmals ohne direkten Auslöser ‚ereilt‘ – ein persistentes und sich bereits im Titel ankündigendes Gefühl des Unglücks sowie der Trauer und der 488 Richard H. Hall: Sociology of Work. Perspectives, Analyses, and Issues. London, New Delhi, Thousand Oaks, CA: Pine Forge Press 1994, S. 113. 489 Ein Umstand, unter dem auch Abschaffel leidet, fordert ihn doch die „Durchführung [des] Lebens“ (WGA 20) bis zur völligen Erschöpfung. Iuditha Balint beschreibt, wie die „metaphorische Entgrenzung der Arbeit“ dazu führe, dass „Semantiken der Arbeitwelt“ in andere Bereiche übergreifen, wodurch das Leben selbst zur Arbeit werde. Dieses wiederum habe eine „negative[] Wertung des Lebens“ zur Folge, Iuditha Balint: „Arbeit als Metapher. Semantische Grenzüberschreitungen in Gegenwartstexten.“ In: Kritische Ausgabe 27 (2014): „Arbeit“, S. 27-30: 28-29. 490 Die Selbstentfremdung ist bei Warlich bereits im Kindesalter ausgeprägt, wie eine seiner Erinnerungen offenbart: „Als ich neun Jahre alt war, habe ich fast den Verstand verloren, weil ich zu lange von mir selbst getrennt war.“ (WGG 143). Demnach ist sie keine Reaktion auf die Lebens- und Arbeitsumstände des Erwachsenenalters; Warlich ist vielmehr ein homo melancholicus im Tellenbachschen Sinn. Zur fatalistischen Melancholie seiner Kindheit vgl. auch WGG 136. 491 Engler (2005): Bürger, ohne Arbeit, S. 18, Herv. i.O.
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Angst.492 Hilf-, orientierungs- und „heimatlos“ (WGG 93 und vgl. 45, 48) lässt Warlich sein Leben passieren. All diese Emotionen kulminieren in einem melancholischen „Lebensschrecken“ (WGG 18), also der Angst davor, das Leben zu ‚verfehlen‘ und zu ‚verpfuschen‘ (vgl. WGG 148). Dieser ‚Lebensschrecken‘ ist als eine Reaktion auf das Glücksdiktum der spätmodernen Arbeitsgesellschaft zu lesen, die meint, nicht weniger als ein selbstverwirklichtes, sinnhaftes, authentisches und glückliches Leben zu ermöglichen und es damit gleichzeitig einfordert. 493 In bester melancholischer Manier wird Warlich als ein einsamer Mann beschrieben, der seine Einsamkeit zumeist frei wählt.494 Er erinnert damit an den Topos des melancholischen Außenseiters, wie ihn auch Demokrit oder Robert Burton verkörpern, der aufgrund seiner Distanz zur Gesellschaft besonders zur kritischen Beurteilung befähigt ist.495 Dabei wird ein doppelter Raum eröffnet, im Sinne eines gesellschaftlichen Innen-/Außen-Dualismus’, aber auch einer Trennung von Innen und Außen in Bezug auf Warlich, unter dessen Blick die Welt in das Leben ‚außen‘ und seine innere Befindlichkeit zerfällt. Markiert der Roman durch Warlichs Gefühlslage sowie sein Außenseitertum bereits eine Bezugnahme auf den Vorstellungsbereich der Melancholie, so wird sie auch dezidiert benannt. Warlich spricht wiederholt von seiner „innere[n] melancholische[n] Verwilderung“ (WGG 23, 68), welche in der philosophischen Tradition steht und dabei existentielle Züge trägt. 496 Seine Melancholie ist eine Folge dessen, was Heidegger, über den Warlich promoviert hat, ‚Geworfenheit‘ nennt.497 Sie markiert die von ihm wahrgenommene „allgemeine Ödnis des Wirklichen“ (WGG 9) sowie die individuelle „Fadheit“ (WGG 123) von Warlichs Leben. Im Gegensatz dazu steht die „Zartheit“ seiner „ratlosen Seele“; Warlich 492 Warlich imaginiert ein ‚Scham-Kontingent‘, nach dessen Ableistung er durch den Tod befreit wird (vgl. WGG 85). Zur Scham vgl. auch WGG 57, 112, 132, 155, zum Unglück vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 159, zur Trauer, die Warlich ‚weinerlich‘ und ‚labil‘ erscheinen lässt und die zuweilen in Selbstmitleid umschlägt vgl. WGG 31, 101 sowie zur Angst vgl. u.a. WGA 19, 30, 59, 62 (vor der Armut in seiner Kindheit), 74 sowie 85. Seine Angst fungiert dabei zum Teil als ein Schutzmechanismus gegen Enttäuschungen, über den Warlich selbst ausführt: „Der Dauer-Schreck geht auf mein Auf-alles-gefaßt-sein-Wollen zurück.“ (WGG 59). 493 Siehe Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 160-161 zur „[t]otalitarian Happiness“ des Spätkapitalismus sowie zum Unglücklichen als ‚Schuldigen‘ nach Žižek vgl. S. 164. 494 Vgl. WGG 13, 19, 38, 65. 495 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 121-124 und Schleiner (1991): Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, S. 204-206. 496 So liest sich Warlichs Behauptung, „Männer [seien] die größeren Melancholiker“ (WGG 36) wie eine Paraphrase der pseudo-aristotelischen „Problemata“. Vgl. dazu Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152, 155-156. 497 Ausf. vgl. Alexander Fischer: „Im existentiellen Zwiespalt. Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag vor dem Hintergrund existenzphilosophischer Konzepte.“ In: Andrea Bartl u. Annika Klinge (Hg.): Transitkunst. Studien zur Literatur 1890-2010. Bamberg: University of Bamberg Press 2012, S. 411-429.
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klagt: „Sie möchte etwas erleben, was ihrer Zartheit entspricht, und nicht immer dem Zwangsabonnement der Wirklichkeit ausgeliefert sein.“ (WGG 9-10, vgl. auch WGG 147). Die Anforderungen der auf Rationalität und Effizienz ausgerichteten Leistungsgesellschaft entsprechen nicht den ‚Bedürfnissen‘ des promovierten Philosophen; die vita activa ist nicht sein Lebensentwurf. Zwar weist auch Warlich, wie Walsers Protagonisten und Abschaffel, eine ausgeprägte Handlungshemmung auf – etwa als „Gefühl einer inneren Lähmung“ (WGG 67), eine plötzliche „Müdigkeit“ (WGG 94), eine „Ermüdung“, die ihn ‚überempfindlich‘ werden lässt (vgl. WGG 8) – sie ist aber nicht das zentrale ‚Symptom‘ seiner Melancholie. Die spezifische Melancholie Warlichs ergibt sich vielmehr aus einer geschärften Wahrnehmung (und die geschärfte Wahrnehmung ist verursacht durch die melancholische Haltung)498, manifestiert in seinem „Beobachterleben“ (WGG 12), welches ihn, ähnlich wie Julian aus Junges Licht, melancholische Blicke in die Welt werfen lässt. Abschaffel, mit dem Warlich sich ein solches Leben teilt, nannte seine Beobachtungen „Miniaturen“ (WGA 53); Genazino bezeichnet sie in seinem Essay „Der gedehnte Blick“ – an James Joyce anknüpfend – als „Epiphanie[n]“.499 Diese ‚Erscheinungen‘ resp. ‚Offenbarungen‘ folgen, in ganz ähnlicher Weise wie in Rothmanns Roman, den Bildkonventionen des Stilllebens und führen so dazu, dass der Text zusätzlich ‚melancholiert‘.500 Die Melancholie des ‚gedehnten Blicks‘ Sind Julians ‚fotografische Stillleben‘ zumeist Momentaufnahmen aus dem Innenraum der elterlichen Wohnung, so ereilen Warlich seine Epiphanien überwiegend während seiner Fußwege durch Frankfurt, die ihn mit „Ruhe und Frieden“ erfüllen (WGG 16). In ihrem Zentrum stehen dabei zumeist alltägliche Objekte, die Warlich in größere Zusammenhänge und Kausalitäten einwebt: „Ein Kinderhandschuh steckt auf dem Pfosten eines Gartenzauns und rührt niemanden. Der Wind beugt die Astspitzen der Bäume gegen die Hauswände, so daß ein leichtes Rascheln entsteht. Der Staub liegt nicht nur herum, sondern riecht auch noch ältlich und muffig. Auf dem Dach eines geparkten Autos entdecke ich ein angebissenes Stück Kuchen. Es steht dort in einer geöffneten Stanniol-Verpackung, die in der Abendsonne mild glitzert.“ (WGG 11)
Als das Kuchenstück Warlichs Aufmerksamkeit, die zunächst über die Szenerie ‚schweift‘, auf sich zieht, imaginiert er eine Geschichte dazu. Es führt aufgrund seiner augenscheinlichen Deplazierung auf dem Autodach den von Genazino beschriebenen ‚gedehnten Blick‘ herbei, welcher ein „Perplex-Sein“ voraussetzt: „Wir sehen 498 Frank stellt entsprechend fest: „These intense observation of external and internal phenomena makes Genazino’s heroes particularly susceptible to melancholy and its close relative, boredom; vice versa, boredom and melancholy make him receptive to these subtle observations.“ Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 151. 499 Wilhelm Genazino: „Der gedehnte Blick.“ In: Delf Schmidt (Hg.): Masken, Metamorphosen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 154-169: 163. 500 Vgl. dazu Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 151.
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etwas“, so Genazino, „was wir nicht mit der gewünschten Klarheit und Eindeutigkeit verstehen, das heißt einordnen, hinnehmen und gelten lassen können […]. Die Perplexion ist das allmähliche Vertrautwerden mit der uns melancholisch stimmenden Zumutung, daß wir immer nur Splitter und Bruchstücke von etwas verstehen.“ 501 Für Warlich eröffnet der gedehnte Blick einen Raum für einen narrativen Weltzugang – für eine „Blickkette“ (WGG 13 Herv. i.O.), wie Warlich sein Verfahren bezeichnet –, der das Gesehene im Auge des Betrachters nicht nur registriert, sondern auch verwandelt502, wodurch dieser in ein aktives Verhältnis zu seinen Beobachtungen und damit zu seiner Umwelt tritt. Warlichs Epiphanien „faszinieren, trösten und beruhigen“ (WGG 12) ihn folglich, da sie zum einen kurze, ‚nutzlose‘ Momente der Muße ermöglichen, ihn zum anderen aber auch in eine Beziehung zu Orten, Dingen und Menschen setzen, ihn ‚verorten‘, ihn „heimisch“ machen (WGG 121), sein „Gefühl des Ausgeschlossenseins […] mildern“ (WGG 53). Doch Warlich sucht nicht nur auf den Straßen nach entsprechenden Beobachtungen, er führt sie auch selbst herbei, etwa in Form einer Hose, die er auf den Balkon hängt, um von der Wohnung aus ihre Verwitterung betrachten zu können (vgl. WGG 25, 44, 83). Deutlich schreibt sich in seiner, in diesem Beispiel offenbar werdenden, Freude an zerfallender Kleidung das melancholische Motiv des Memento mori ein, und es findet sich ebenfalls in einem sich auflösenden Unterhemd (vgl. WGG 18) und einer verwelkenden Rose (vgl. WGG 24-25). Warlich reintegriert damit, so lautet seine eigene Diagnose, den in der Gesellschaft tabuisierten Tod (vgl. WGG 134-135) in sein Leben und macht aus der Hose eine Variante des Dorian Gray’schen Bildnisses503, wenn er konstatiert: „Die Hose verwittert an meiner Statt und stößt mich dadurch in eine angenehm schmerzfreie Schicksalsgleichgültigkeit hinein.“ (WGG 44). Soll die Hose seine eigene Sterblichkeit quasi ‚übernehmen‘, so verhält es sich mit dem Unterhemd, das Warlich auf seinem Körper zerfallen lässt, genau entgegengesetzt, erklärt er es doch zu einem „Symbol für die Marterungen des Lebens […]. Durch den Kleiderzerfall ist jedermann […] von Anfang an mit seiner Selbstauflösung vertraut, er trägt sie auf dem Leib, sie tritt prozeßhaft mit dem Niedergang der Kleidung in sein Leben.“ (WGG 18). Das Unterhemd sublimiert nicht die eigene Sterblichkeit; es vergegenwärtigt sie vielmehr in Form einer identitären Selbstauflösung.504 Deutlich wird in diesen Textbeispielen, dass Warlichs Reflexionen zwar sehr genauer und scharfsichtiger, aber oftmals auch widersprüchlicher Art sind. Ganz im Sinne einer zwischen Genie und Wahnsinn, Manie und Verzweiflung schwankenden Melancholie offenbart er eine polare Veranlagung, ein Hin- und Hergerissen-Sein zwischen diesen Polen, wobei zuweilen Kleinigkeiten den entscheidenen Ausschlag geben.505 Neben Straßenszenen und zerfallender Kleidung stehen Insekten im Mittel501 Genazino (2000): Der gedehnte Blick, S. 162. 502 Vgl. Genazino (2000): Der gedehnte Blick, S. 156. 503 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 162. 504 Vgl. Anne Schmuck: „Poetische Doppelgänger. Bedeutung und Funktion von Kleidung in ausgewählten Romanen Wilhelm Genazinos.“ In: Bartl/Marx (2011): Verstehensanfänge, S. 225-238: 236. 505 Vgl. u.a. WGG 17, 42, 124, 156.
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punkt von Warlichs ‚gedehnten Blicken‘, wie etwa eine Gruppe Ameisen, die er zu Beginn des Romans beobachtet: „Durch Zufall blicke ich auf den Betonboden hinunter und sehe dort ein paar Ameisen mit Flügeln umhergehen. Trotz der Flügel können die Ameisen nicht abheben. Vermutlich sind die Flügel zu lang und zu schwer für die winzigen Körper der Ameisen. Mit diesem Anblick gelingt mir die Tröstung meiner Seele. Schau dir diese kleinen Wesen an, sage ich zu ihr, […]. Sie schleppen ihre unnützen Flügel durch die Gegend und klagen nicht!“ (WG 10)
Und an einer späteren Stelle „betrachtet“ er „eine nicht rechtzeitig gestorbene Wespe, die mit schwerfälligen Flugbewegungen gegen die Wände stößt. […] Nach ein paar Augenblicken hebt die Wespe ab und fliegt unsanft gegen die Scheibe. Jaja, denke ich, auch du armes Tier mußt zu einem Hysteriker des Ichs werden.“ (WGG 17, 19). Die beiden Insekten eint, dass sie zwar beflügelt, aber dennoch mehr oder minder flugunfähig sind und sie lassen sich damit als Reminiszenz an Dürers beflügelte Melencolia lesen. Noch deutlicher wird dieser Bezug in einer weiteren Beobachtung Warlichs, die wiederum eine Ameise zum Objekt nimmt. Diese läuft über ein Fenster, ehe sie in einer Ecke „verharrt“: „Wie ein Mensch! denke ich begeistert. Man legt lange Strecken zurück, bis man erkennt, weiteres Umhergehen wird ergebnislos bleiben, also läßt man sich nieder und ersetzt das Umhergehen durch Umherschauen.“ (WGG 117). In seiner anthropomorphisierenden Beschreibung des Insekts wird dessen Verharren zu einem melancholischen Verharren, der Melencolia auf ihrer Steintreppe gleich. Es ist eine Handlungshemmung im Angesicht der Sinnlosigkeit jeglicher weiteren Aktivität, die Warlich hier im Sinn hat, wobei diese Erkenntnis eine Fähigkeit zur Reflexion voraussetzt, die jene (beneideten) Ameisen nicht besitzen, geschieht ihr Tun ja in „vollkommener Ahnungslosigkeit“ (WGG 99) größerer Zusammenhänge, schleppen sie ihre ‚unnützen Flügel‘ doch ohne zu klagen. In Warlichs Augen mutet diese Reflexionslosigkeit wie eine Befreiung von der zyklisch ablaufenden ‚Grübelsucht‘ des Melancholikers an, wie sie auch ihm zu eigen ist. Die Klinik als Ort der Exklusion und des Auswegs Das Ende des Romans führt ein drittes, nur bedingt flugfähiges Tier ein, wenn Genazinos Protagonist zum wiederholten Mal die Einfahrt eines Bauernhofes beobachtet: „Von meinen früheren Einblicken weiß ich, daß bald ein Huhn erscheinen und an der hinteren Mauer entlanggehen wird. Das Huhn lebt als einziges Huhn in diesem Hof und hat offenbar kein Bedürfnis, durch die stets offene Hofeinfahrt zu entkommen.“ (WGG 157-158). Trotz seiner ‚Einsamkeit‘ und der Möglichkeit eines Auswegs bleibt das Huhn auf dem Hof, was Warlich verwundert, ringt er selbst doch um einen Ausweg aus seinen entfremdet und damit als unlebbar erscheinenden Lebens- und vor allem Arbeitszusammenhängen. Seine Beobachtungen und Reflexionen verknüpft er mit Überlegungen zu möglichen alternativen Entwürfen. Ihn beschäftigt die Frage, wie er aus seinen eigentlichen Neigungen – den Reflexionen, den Blickketten, den verwitternden Kleidungsstücken – einen Beruf machen kann, der sowohl die Existenz sichert als auch, im Gegenteil zu seiner Anstellung bei der Wäscherei, von ihm als sinnhaft wahrgenommen wird (vgl. WGG 13-14, 17). In dieser Frage, so sagt er, stecke „[i]n gewisser Weise […] der Kern meines Unglücks“ (WGG 14), denn seine ‚Bestimmung‘, sich als Philosoph zu verdingen, hat er immer noch nicht aufge-
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geben und in seinem damit verbundenen Scheitern besteht, wie Genazino es fasst, „eine Art biographisches Senkblei, was ein tiefes Zerwürfnis dieses Mannes mit seinem eigenen Lebensentwurf hervorbringt.“ 506 Erklärt Warlich sich mit Blick auf das zerfallende Unterhemd zu einem „Verwesungskünstler“ (WGG 18), so ist er auch in anderer Hinsicht künstlerisch tätig, macht aber „nichts davon so richtig, ich meine leidenschaftlich und also ohne Ausweg, jedenfalls nicht so, daß ich mich (wie jetzt wieder) alle drei bis vier Wochen fragen muß, was wirklich in mir steckt.“ (WGG 17, Herv. i.O.). Da es sich in diesem Ringen um berufliche Authentizität um eine zyklisch wiederkehrende Überlegung handelt, erweisen sich selbst seine privaten Gedanken als beständig von der Reflexion über mögliche berufliche ‚Verwendungen‘ infiltriert.507 Sein gegenwärtiges Leben erscheint ihm dabei als ein ‚eigentliches‘, sein potentielles als ein ‚wirkliches‘ Leben, wobei die jeweilige Arbeit die Weichen stellt. Potentiell ist vieles möglich, man muss nur ‚seine‘ Lücke auf dem Arbeitsmarkt finden und sie entsprechend füllen. Da aber ein „allzu lange[r] Aufenthalt in der Sphäre der reinen Potenz“508 laut Giorgio Agamben Melancholie evoziert, verstärkt dieses Bestreben Warlichs melancholische Disposition. Zentraler Entwurf seiner Überlegungen ist die Gründung einer „Schule der Besänftigung“, einer „Abendschule, die endlich lehrt, was viele Menschen wissen wollen.“ (WGG 57). Hier plant er etwa Vorlesungen zum „Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen“ (WGG 80), ein Unterfangen, das er selbst, u.a. durch seine Epiphanien, beständig zu verwirklichen sucht. Warlichs Plan nimmt konkretere Formen an, als er mit einem Sachbearbeiter des Kulturamtes über eine mögliche Finanzierung spricht. Allerdings wird seine ‚Schule der Besänftigung‘ von Dr. Heilmeier, dem Sachbearbeiter, als eine „Pop-Akademie“ (WGG 77) missverstanden. Und wenn dieser über Warlichs Plan referiert: „Die Politik muß darauf reagieren […], daß die Menschen soviel Freizeit haben und daß nur wenige mit der überflüssigen Zeit etwas anfangen können. Da müssen wir helfen!“, so beschreibt er das „krasse Gegenteil dessen“, was Warlich eigentlich vor Augen hatte (WGG 77-78). Statt einen Rückzugsort aus den leistungs- und arbeitsgesellschaftlichen Anforderungen darzustellen, wird die ‚Schule‘, von den haushalts- sowie marktökonomischen Überlegungen Dr. Heilmeiers vereinnahmt, der, indem er solchen Maximen folgt, ‚bessere‘ employability skills an den Tag legt als der ebenfalls promovierte Warlich. Infolgedessen wird die ‚Schule‘ – deren ‚Makel‘ von Anfang an war, dass sie einen systemimmanenten Ausbruchsversuch darstellt, zeigt sich doch auch der Kultursektor von ökonomischen 506 Genazino im Gespräch mit Hubert Spiegel: „‚Der Text ist sein eigenes Misstrauen‘. Hubert Spiegel (F.A.Z.) im Gespräch mit Wilhelm Genazino.“ In: Bartl/Marx (2011): Verstehensanfänge, S. 239-254: 253. 507 Nach seiner Entlassung bei der Großwäscherei legt Traudel ihm nahe, sich als hausmeisterisch tätiger ‚Allrounder‘ zu bewerben, woraufhin er, aus dem Fenster blickend und die Mülltonnen vor seinem Haus beobachtend, einen seiner Gedanken als „den Gedanken eines Allrounders“ erkennt (WGG 117). Allerdings ist ein Allrounder das genaue Gegenteil dessen, was Warlich mit seiner sehr spezifischen Bildung als promovierter Philosoph eigentlich ist, vgl. Rinke (2011): ‚und beauftragte jemanden mit meiner Observation.‘, S. 45. 508 Giorgio Agamben: Idee der Prosa. München, Wien: Hanser 1987, S. 40.
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Erwägungen durchzogen – für Warlich wiederum uninteressant, und er verfolgt den Plan, trotz möglicher Finanzierung, nicht weiter. Es bieten sich aber keine weiteren Alternativen an – sind Warlichs sonstige Überlegungen, wie das „Halbtags leben“ (WGG 59) oder die Möglichkeit einer Professur (vgl. WGG 111) doch eher Träumereien – und auch eine Verweigerung erweist sich als verstellt. 509 Als seine Freundin Traudel ihn zudem mit ihrem, wenn auch vorsichtig angebrachten, Hochzeits- und Kinderwunsch belastet510, nimmt eine Zuspitzung von Warlichs Melancholie bis hin zur einem pathologisierten wie exkludierten Zustand ihren Lauf. Wesentlich vorangetrieben wird diese Entwicklung durch Warlichs Unfähigkeit, sein Leben richtungsweisend zu beeinflussen. Seine Konflikte – etwa mit seiner Freundin Traudel, mit seinem Chef, mit dem Sachbearbeiter des Kulturamtes – bleiben ungelöst und verdichten sich, worüber er selbst sagt: „Leute, die ihre Konflikte nicht lösen können, tragen diese in unbearbeiteter Form mit sich herum, als eine Art metaphysische Bestürzung.“ (WGG 41). Seine Konflikte verlagern sich, ganz wie in den Ausführungen zum ‚unternehmerischen Ich‘ beschrieben511, in sein Inneres; er ficht sie mit sich selbst aus, und dieses führt zu einer melancholischen Inkorporation. In einem ersten Schritt der vom Roman nachgezeichneten Zuspitzung drängt Warlichs innere Verfassung – die neben seiner melancholischen Verwilderung aus zahlreichen komplizierten Gedankenspielen und Konstrukten besteht, welche ihm ermöglichen sollen, den Alltag bestmöglich zu absolvieren –, einem Kontrollverlust gleich, zunehmend nach außen (vgl. WGG 58). So nimmt seine Idee, bei nächster Gelegenheit eine Scheibe Brot statt eines Geldscheines oder gar seiner Hand zu reichen, Konturen an (vgl. WGG 42-43); während eines Außentermins zertritt er in einer Hotellobby ein Stück Kuchen (vgl. WGG 55), und er setzt sich in seinem Wintermantel an den Abendbrottisch (vgl. WGG 116117). Obwohl es sich hierbei um mehr oder minder harmlose Skurrilitäten handelt, werden sie von seinem Umfeld mit wachsender Bestürzung aufgenommen. Für Warlich selbst manifestiert sich die Zuspitzung u.a. in dem Gefühl, beim Gehen ausein509 Warlich beschreibt, dass schon seine Mutter keine Muße zugelassen hat (vgl. WGG 43), und seine Freundin Traudel ist der Inbegriff eines ‚aktiven‘ Menschen, der Nichtstun nur als Folge eines ‚Abgearbeitet-Seins‘ akzeptiert (vgl. WGG 149). Auch Warlich selbst erweist sich mit seinem durchaus aufkommenden Wunsch nach Nützlichkeit als leistungsgesellschaftlich sozialisiert (vgl. WGG 123-124), und neben allem Einzelgängertum befällt auch ihn zeitweise das negative „Gefühl des Ausgeschlossenseins“ (WGG 52). Eine selbstgewählte Einsamkeit wird folglich begrüßt; eine fremdbestimmte Exklusion hingegen nicht, worin sich zeigt, dass Dinge und Verhältnisse jeweils in Relation zueinander bewertet werden. So ist Warlich das Akquirieren von Aufträgen ein Gräuel, als ein Kundentermin jedoch gestört wird, erscheint ihm ein planmäßig ablaufendes Treffen plötzlich als Optimum (vgl. WGG 52). Und die zunächst erzwungene wie temporäre Exklusion aus arbeitsgesellschaftlichen Zusammenhängen in einer psychosomatischen Klinik plant Warlich in Form einer Verrentung schließlich selbstbestimmt weiterzuführen. Zum Drehund Angelpunkt wird hierbei die subjektiv gefühlte Gestaltungs- und Entscheidungsmacht, die bestimmt, ob eine Handlung, eine Entscheidung als sinnhaft wahrgenommen wird oder nicht. 510 Vgl. WGG 21, 27-30, 67, 72-73. 511 Vgl. Peters (2013): Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung, S. 39.
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anderzufallen: „Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich sehe sie zurückbleiben, während ich gehe. Ich bin gespannt, wie lange ich mich noch auf den Beinen halten kann. Heimlich schaue ich mich schon nach einem Krankenwagen um. Als Zeichen meiner Angst stoße ich einen nur mir verständlichen Rachenlaut aus. […] Dann rettet mich der Anblick eines kauenden Kindes.“ (WGG 85).512 Sein melancholisches ‚Außenseitertum‘ verschärft sich sukzessive zu einer gesellschaftlichen Exklusion, deren nächste Stufe mit seiner unerwarteten Kündigung erreicht ist, die sein Chef damit begründet, er habe während seiner Arbeitszeit an einer Demonstration teilgenommen (vgl. WGG 105-106). Wurde er zuvor damit beauftragt, seine Kollegen zu ‚bespitzeln‘, ist er nun selbst Opfer dieser Praktik geworden (vgl. WGG 108). Innerhalb des Mitarbeiter-Kreises zeigt sich so ein Defizit an Loyalität und Solidarität, wie es Sennett für die spätmoderne Arbeitsrealität diagnostiziert.513 Zwar war Warlich nur ein Beobachter der Demonstration, womit die Kündigung letztendlich zur Bestrafung für eine kurze Auszeit wird 514, doch er klärt dieses Missverständnis nicht auf und bleibt seinem Chef gegenüber passiv. Augenscheinlich nimmt ihn die Kündigung nicht allzu sehr mit (vgl. WGG 108), dennoch verschärft sich in Folge dessen sein skurriles Verhalten, seine „Verrückung“ (WGW 138).515 Eine seiner letzten Handlungen im Büro etwa ist das Verspeisen eines Schamhaares von Traudel, das er seit längerer Zeit in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte (vgl. WGG 107); und dieses Verspeisen stellt mit Blick auf seine Funktion als Identifikationsfigur, aufgrund der ‚Abjektheit‘ dieses Aktes, durchaus einen Wendepunkt dar. Nun arbeitslos ist Warlich von den Notwendigkeiten des Arbeitsalltags befreit. Er bleibt aber „müde und erschöpft“ (vgl. WGG 109); seine Bewerbungsversuche sind halbherzig und er fühlt sich zu keiner beruflichen Anstrengung in der Lage. 516 Auch ist die Zuspitzung seiner psychischen Verfassung dadurch nicht aufzuhalten und kulminiert schließlich, als er seine Idee, eine Brotscheibe als ‚Handersatz‘ zu nutzen, in die Tat umsetzt und daraufhin – unverstanden von seinem Gegenüber – einen Nervenzusammenbruch erleidet (vgl. WGG 127-129). Seine Freundin fährt ihn umgehend in eine psychiatrische Klinik, in der er auch verbleibt. In seinen Therapiestunden offenbart er erneut einen reflektierten Blick auf sich selbst und diagnostiziert eine „verlarvte[] Depression mit einer akuten Schamproblematik“ (WGG 131) – eine Klarsichtigkeit, die seinen Therapeuten durchaus zu verblüffen scheint. Zwar sieht Warlich seine Einweisung zunächst als Kränkung; mit der Zeit wächst in ihm jedoch 512 Vgl. dazu Wilhelm Genazino: „Der Roman als Delirium.“ In: Bartl/Marx (2011): Verstehensanfänge, S. 21-31: 22, der die Referenz zu Nikolaj Vasil’evič Gogols Erzählung „Die Nase“ (1836) betont. 513 Vgl. Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 24-25 sowie dazu Rinke (2011): ‚und beauftragte jemanden mit meiner Observation.‘, S. 46. 514 Vgl. Spiegel (2011): ‚Der Text ist sein eigenes Misstrauen‘, S. 253. 515 Vgl. zu diesem Begriff Friedhelm Marx: „Erzählfiguren der Verrückung im Werk Wilhelm Genazinos.“ In: Ders./Bartl (2011): Verstehensanfänge, S. 57-68: 65. 516 „Ein Mann meines Alters sollte sich nicht mehr bewerben müssen.“ (WGG 199), meint Warlich dazu. Dem ‚Rollenspielen‘ auf dem Arbeitsmarkt, wo er gut den „bildungsverliebten Einzelgänger“ (WGG 118) verkörpern könnte, der aus idealistischen Gründen promoviert hat und seine Berufswahl nun pragmatischer ausrichtet, verweigert er sich.
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der Wunsch, den Klinikaufenthalt zu verlängern und von hier seine „Frühverrentung“ durchzusetzen (WGG 146 und vgl. 148-149). Die zeitweise Exklusion aus arbeitsgesellschaftlichen Zusammenhängen wird für ihn zu einer Auszeit, zu einem Refugium der Ruhe und der positiven ‚Nutzlosigkeit‘. Er affirmiert den erzwungenen Zustand und bewertet ihn zunehmend als positiv: „So ohne Furcht- und Angstbilder, fast auch ohne Gedächtnis, wie ich zur Zeit meine Tage durchlebe, ähnle ich einem Insekt, das jeden Tag ohne Anstrengung seine Nahrung und am Abend seinen Schlafplatz findet.“ (WGG 149 und vgl. 148). Auf diese Weise macht er sich den Insekten seiner vorherigen Epiphanien gleich. Das Ende zeigt sich entsprechend nicht ohne Hoffnung, da Warlich einen gewissen individuellen Handlungsspielraum erkennt, den seine fatalistisch-resignierte Melancholie zuvor negierte: „Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will.“ (WGG 158), lauten die ironischen letzten Worte von Genazinos Roman. Der geschützte Raum der Klinik wird als der einzige für Warlich noch geeignete Lebensraum dargestellt, da er Platz für Unglück, Melancholie und auch Muße bietet, was das scheinbar totalitäre Glücksdiktum der spätmodernen Leistungsgesellschaft sonst verwehrt.517 Zur gesellschaftlichen Dimension der Warlich’schen Melancholie Zwar lässt sich der Roman durchaus als eine individuelle, auf subjektiven Erfahrungen und Dispositionen basierende Krise nacherzählen; darin erschöpft sich seine Dimension aber keinesfalls, pendelt er doch ständig zwischen der Beschreibung einer „persönlichen Krise“518 und seinem sozialkritischen Impetus, wobei die Melancholie Ausdruck von beidem ist519 sowie zum Signum der spätmodernen conditio humana wird.520 Genazino selbst sieht den Roman „zu hundert Prozent in der Ahnenreihe des deutschen kritischen Zeitromans“, wie ihn u.a. Hans Fallada, Alfred Döblin und Erich Kästner geschrieben haben.521 In Übereinstimmung mit diesen Autoren legt Genazino frei, wie die spätmoderne Gesellschaft Zustände von Melancholie, Traurigkeit und Sensibilität evoziert, aber auch pathologisiert und exkludiert (vgl. WGG 55, 86-87).522 Die Melancholie wird zum ‚pathologischen Anderen‘ der Gesellschaft 517 „The capitalist system with its entertainment industry and culture of consumerism is presented as part of a wider, all-embracing ideology of happiness that takes on totalitarian forms in its pathologization of sadness as undesirable and disturbing Other. Accordingly, expressions of sadness are sanctioned because of their subversive potential to the official discourse that supports late capitalist society.“, schreibt Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 164 und vgl. auch S. 166. 518 Andrea Bartl u. Friedhelm Marx: „Wiederholte ‚Verstehensanfänge‘. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos.“ In: Dies. (2011): Verstehensanfänge, S. 7-20: 11. 519 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152-154. 520 Vgl. Bartl/Marx (2011): Wiederholte ‚Verstehensanfänge‘, S. 12. 521 Genazino (2011): Der Roman als Delirium, S. 29. Zu Genazinos Referenztexten vgl. auch Genazino im Gespräch mit Donna L. Hoffmeister: Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle. Gespräche mit Schriftstellern über Arbeit in der Literatur. Bonn: Bouvier 1989, S. 71. 522 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152, 162-164. Vgl. auch Genazino (2011): Der Roman als Delirium, S. 30.
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erklärt, indem diese aus der Möglichkeit, ein freies, glückliches, selbstbestimmtes, vielleicht sogar selbstverwirklichtes und sinnhaftes Leben zu führen, einen Totalitarismus macht, der keine Zwischentöne der Traurigkeit und der Melancholie, der kein Scheitern, keine Absurdität, keinen Nonkonformismus, keinen Un-Sinn zulässt.523 Diese gesellschaftliche Dimension der Melancholie wird am Ende des Romans zugespitzt formuliert, bezeichnenderweise während einer Therapiesitzung Warlichs. Sein Therapeut bittet Warlich, dessen Selbstdiagnose einer Depression nicht übernehmend, „über Melancholie zu sprechen“, woraufhin dieser antwortet: „Ich wundere mich […], warum meine Melancholie und der Rest der Welt so gut zueinander passen. Anders gesagt, ich staune darüber, daß die meisten Menschen meine Melancholie angemessen finden. Die Melancholie der Verhältnisse ist doch nicht auf die Bestätigung meiner kleinen Seele angewiesen.“ (WGG 140). Und in ähnlicher Weise konstatiert Dr. Adrian, ein Mitpatient, der aufgrund seiner „bedrückenden Arbeitsverhältnisse“ in der Klinik ist: „Die abendländische Rationalität ist noch lange nicht auf dem Höhepunkt ihrer Melancholie angekommen.“ (WGG 147, 144). Die auf Rationalität und Effizienz ausgerichteten Verhältnisse der Spätmoderne sind es, so wird hier weiter von ihm expliziert, welche die Melancholie hervorbringen. Implizit findet sich diese gesellschaftliche Melancholie bereits zu Beginn des Romans, in Warlichs ersten Beobachtungen: „Ich habe neun Stunden Arbeit hinter mir und empfinde das Café als die erste Wohltat des Tages. Auch die meisten Menschen um mich herum sind erkennbar erschöpft. Ausgepumpte, fast reglos auf ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön. Sie wirken, mild von der Sonne beschienen, wie die endlich zur Betrachtung freigegebenen feierabendlichen Goldränder unserer Leistungsgesellschaft.“ (WGG 7)
Fast wortgleich beschreibt Warlich am Ende des Romans seine Mitpatienten in der Klinik: „Die ausgepumpten, nahezu reglos in den Sesseln ruhenden Patienten empfinde ich als schön“ (WGG 130), worin sich offenbart, dass und wie der Roman Bezug nimmt auf die gegenwärtige leistungsgesellschaftliche Realität. 524 Die Bezeichnung der erschöpften Menschen als ‚Goldränder‘ der Leistungsgesellschaft greift aktuelle Diskussionen um endemische Depression und Burnout auf und offenbart, wie aus dem Zustand der Erschöpfung eine Auszeichnung der besonders Leistungswilligen stilisiert wird.525 Die fast wörtliche Wiederholung von Warlichs Café523 Vgl. S. 171, Fn. 493 sowie zur Freiheit als Zwang vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 158. 524 Die Rezensentin Alexandra Pontzen bezeichnet ihn sogar als „Roman zur Krise“ (Pontzen (2009): Der Roman zur Krise?), da er sich u.a. den neuen ‚Überflüssigen‘ der Spätmoderne widme. Und tatsächlich spielt eine sogenannte „neue Armut“ (WGG 152) in Form von Bettlern (vgl. WGG 9-10), Pfandsammlern (vgl. WGG 48, 95), Obdachlosen (vgl. WGG 152), einer „Streunerin“ (WGG 74) sowie weiteren „seltsam verlorene[n] und in ihrem Elend starrsinnig gewordene[n] Menschen“ (WGG 95) eine gewisse Rolle. Auch der gut situierte Warlich zeigt Angst vor dem sozialen Abstieg (vgl. WGG 151) und greift damit die wachsende und auch den Mittelstand zunehmend erreichende Prekarität auf. 525 Während die Depression zwar weit verbreitet ist, aber dennoch eher als ‚Stigma‘ gilt, so wird das Burnout-Syndrom bisweilen als „eine Art Verwundetenabzeichen“ (Wolfgang
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Beobachtung in der Klinik legt darüber frei, wie solche erwünschten und durch die gesellschaftlichen Imperative auch herbeigeführten Zustände schließlich pathologisiert werden, sobald sich die ‚Funktionalität‘ der Menschen in zu starkem Maße beeinträchtigt zeigt, und wie arbiträr eine Zuschreibung von ‚gesund‘ und ‚krank‘ entsprechend ist.526 Die ebenfalls wiederholte Wertung Warlichs, er „empfinde“ die Erschöpften „als schön“, weist einen Weg jenseits dieser stigmatisierenden Pathologisierung: einen ästhetischen Weltzugang, und dieser wiederum verdeutlicht implizit Schmidbauer: „Mehr Hofnarr als Hofrat. Über die Krisen der Psychotherapie.“ In: Kursbuch 170/2 (2012): „Krisen lieben“, S. 150-173: 159) der angeblichen ‚Leistungsträger‘ dargestellt, worauf auch Warlichs Benennung als ‚Goldränder‘ verweist. Es erhält entsprechend besondere (mediale) Aufmerksamkeit und wird zur „typische[n] Pathologie des Arbeitskraftunternehmers“ erklärt (G. Günter Voss u. Cornelia Weiss: „Burnout und Depressionen – Leiterkrankungen des subjektivierten Kapitalismus oder: Woran leidet der Arbeitskraftunternehmer?“ In: Neckel/Wagner (2014): Leistung und Erschöpfung, S. 29-57: 35) oder als ‚Krankheit der Krise‘ beschrieben (vgl. Ina Rösing: Ist die BurnoutForschung ausgebrannt? Analyse und Kritik der internationalen Burnout-Forschung. Heidelberg, Kröning: Asanger 2003, S. 46). Hartmut Böhme erkennt in ihm sogar ein „Diskursereignis von geradezu epidemischen Ausmaßen“ (Hartmut Böhme: „Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad.“ In: Neckel/Wagner (2014): Leistung und Erschöpfung, S. 170-200: 179). Versteht man das Burnout-Syndrom als eine „Zeitgeist-Erkrankung“ (Monica Titton: „Erschöpfte Prominenz.“ In: Neckel/Wagner (2014): Leistung und Erschöpfung, S. 86-103: 87), zeigt sich die Nähe zu melancholischen Phänomenen wie der Acedia, der Neurasthenie oder der Hypochondrie umso deutlicher, die in ihren jeweiligen Epochen ebenfalls recht intensiv ‚wüteten‘. Der Aspekt des ‚Ausgebrannt-Sein‘ offenbart mit Blick auf die Begriffsgeschichte der Melancholie seine historische Dimension, galt die schwarze Galle den Humoralpathologen doch als entzündlich und kam ab dem 2. Jahrhundert nach Chr. mit der ‚melancholia adusta‘ eine aus Verbrennung hervorgehende Melancholie dazu, welche in Folge als schädlichste Form der schwarzen Galle verstanden wurde (vgl. Schings (1977): Melancholie und Aufklärung, S. 62-64). Ebenfalls zeigt der historische Blick, dass die Gefühlslage, die der Begriff Burnout geradezu metaphorisch in sich aufnimmt, so neu nicht ist – bereits die Acedia galt als eine Art der psychischen Erschöpfung (vgl. Toohey (2004): Melancholy, Love, and Time, S. 137) und u.a. Marsilio Ficino und Robert Burton beschrieben die Melancholie in Folge eines Zuviels an (geistiger) Arbeit. Wenn Peter Toohey konstatiert, die Melancholie zeige sich immer dann besonders endemisch, wenn ‚Täter‘, ‚Opfer‘ und Gesellschaft konform sind, so erweist sich diese Diagnose, mit Blick auf die aktuell sich häufenden Burnout-Fälle, als durchaus treffend, fallen doch zum einen Täter und Opfer in Form eines ‚übergeschäftigen‘ Arbeiters zusammen und geht dieser zum anderen mit seinem die eigenen Ressourcen übersteigenden Leistungswillen mit den gesellschaftlichen Anforderungen an ihn konform. Je mehr der Leistungsimperativ also internalisiert wird, und dieses lässt sich ab der Moderne beobachten, desto mehr werden alternative Lebenskonzepte exkludiert, desto mehr wird die Partizipation auf dem Arbeitsmarkt zum wesentlichen Aspekt im Rahmen von individuellen Selbstbildern und desto mehr fallen, folgt man Tooheys Ansatz, ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ ineinander. 526 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 163.
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die Qualitäten der Melancholie jenseits ihres pathologischen Verständnisses. Damit nimmt Genazino zwar den aktuellen, u.a. in der Soziologie und der Philosophie geführten, Diskurs um spätmoderne Erschöpfungssymptomatiken – wie sie Ehrenberg oder auch Han beschreiben – auf, und ‚gesellt‘ ihnen die Melancholie ‚bei‘, was einer Historisierung des Diskurses gleichkommt. Das Glück in glücksfernen Zeiten „embraces boredom“, so schreibt es Svenja Frank, womit der Roman die Melancholie mitnichten als einen Zustand zeige, den es zu exkludieren oder gar zu überwinden gelte, sondern als „a gesture that can turn the general feeling of existential emptiness into a resource for self-contemplation“.527 Melancholie – auch wenn sie, wie in diesem Roman, deutlich mit Langeweile konnotiert ist – befähigt den Menschen zur Reflexion sowie zu einer gewissen Art der Klarsicht 528 und stellt so auch für Warlich selbst keine zu behandelnde Krankheit dar; vielmehr sieht er in der melancholischen Dyskrasie den ‚Normalzustand‘, während er die durch Medikamente herbeigeführte „Ausgeglichenheit“ in der Klinik als „künstlich“ bezeichnet (WGG 149), womit er gesellschaftliche Zuschreibungen umkehrt. Dennoch zeigt der Roman auch, wie die Mechanismen der Pathologisierung selbst von den ‚Betroffenen‘ affirmiert werden, denn Warlich nennt sein Leiden auch eine ‚verlarvte Depression‘ und ihm erscheint in der Klinik ein erneutes Nachdenken über die ‚Schule der Besänftigung‘ als derart besorgniserregend und pathologisch, dass er daraufhin penibel auf seine Medikation achtet (vgl. WGG 148). Eine ähnlich internalisierte Strategie der Pathologisierung zeigt sich bei Dr. Adrian, der seine ausgeprägte Empathie als krankhaft darstellt (vgl. WGG 154). Und wenn Warlich gegen Ende des Romans feststellt: „Ich bin begeistert, wie tadellos meine Denkmaschine wieder arbeitet. Ich erkenne darin ein Zeichen für meine Gesundheit.“ (WGG 138), dann wird offenbar, dass er die Zuschreibungen von melancholischer Krankheit und arbeitssamer Gesundheit, von melancholischer Dysfunktionalität und rationaler Funktionalität bisweilen doch übernimmt. Und trotzdem bietet die Melancholie Warlich ein ‚Exil‘ vor der als bedrängend und überfordernd wahrgenommenen Lebenswelt sowie vor seiner eigenen, ‚mittelmäßigen‘ Existenz.529 So beschreibt er, wie seine Beobachtungen in ihn „[ein]dringen“ und er sich ihnen zweckfrei hingeben kann, „ohne daß dabei irgend etwas herauskommen müsste.“ (WGG 17). Seine melancholischen Epiphanien müssen keiner Rationalität, keiner Effizienz und keinem Leistungsdiktum genügen, auch wenn er sich einer zeitweisen Infiltration durch diese Maxime nicht immer erwehren kann. Indem er seine Beobachtungen ästhetisch überformt, findet er in ihnen eine Zuflucht vor den Banalitäten des Alltags. „Das Angenehme an meinem Grauen ist, daß sich meine Innenwelt mehr und mehr vor die Außenwelt schiebt und daß mich unter dem Eindruck dieser Verschiebung die Außenwelt immer weniger interessiert. Es durch527 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 155. Genazino selbst bezeichnet die Langeweile als einen „sehr wichtigen kulturellen Zustand“, Genazino im Gespräch mit Spiegel (2011): ‚Der Text ist sein eigenes Misstrauen‘, S. 248. 528 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 152, 162. 529 Vgl. Marx (2011): Erzählfiguren der Verrückung im Werk Wilhelm Genazinos, S. 59-61, 64-68, der sich in seinen Ausführungen auf Hans Magnus Enzensbergers Essay „Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte“ (1988) bezieht.
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flutet mich ein angenehmes Gefühl des Entkommenseins.“ (WGG 121). So beschreibt Warlich diesen Akt, der sich durchaus mit dem deckt, was Robert King Merton als ‚retreatism‘ bezeichnet530, und im Verlauf der beschriebenen Zuspitzung vergrößert sich die Distanz zwischen Warlich und Welt, zwischen Innen und Außen, bis er schließlich „in seiner inneren Verrückung unerreichbar geworden“ (WGG 138) ist. Findet er „nur“ in der Melancholie „[e]twas von der Feinheit, die ich zum Leben brauche“ (WGG 63), handelt es sich dabei doch lediglich um „eine Freiheit des Redens und Vorstellens […], nicht eine des Handelns“ (WGG 71), so die Worte eines Tischnachbarn von Warlich in einem Restaurant. Das verändernde Potential ist – ebenfalls im Sinne Mertons und auch Plessners, der die Melancholie als Gegenhaltung zur Revolution erklärt – somit begrenzt.531 Eine Veränderung der Umstände sei ohnehin nicht vorgesehen, konstatiert Warlich, wenn er beschreibt, wie er „jahrzehntelang auf ein besseres Leben vorbereitet“ gewesen sei, „das aber nie eintrat. Sehr lange habe ich sentimental und melancholisch herumgejammert, bis ich endlich bemerkt habe: Es wird erwartet, daß der Mensch zu seinem Unglück ein bloß abwartendes Verhältnis hat.“ (WGG 132). Einzig möglich erscheint folglich die melancholische Verweigerung, in der sich das „subversive Potential“532 der Melancholie niederschlägt. Diese besteht bei Warlich in erster Linie darin, Erwartungen, die an ihn gestellt werden, zu ‚enttäuschen‘, sich einer gesellschaftlichen Konformität entgegenzustellen.533 Indem er Kleidung verwittern lässt, stellt er sich sehr konkret den Anforderungen und Erwartungen der Branche entgegen, in der er arbeitet und deren erklärtes Ziel saubere sowie intakte Wäschestücke sind. Und so ist es nur folgerichtig, dass er direkt nach seiner Kündigung die Hose vom Balkon entfernt (WGG 110), hat sie nun doch ihr subversives Potential eingebüßt. Das Verwittern-Lassen von Kleidung sowie der ‚BrotscheibenAkt‘ können darüber hinaus als Versuche gelesen werden, „der Außenwelt [ihre] Rätsel zurück[zugeben]“534, wie es Genazino in „Der gedehnte Blick“ formuliert. Warlich reagiert mit seinen Absurditäten auf die von ihm wahrgenommene Absurdität der spätmodernen Lebenswelt. In der von ihm registrierten sowie produzierten „suspension of meaning“ ist, so fasst es Svenja Frank, eine „absurdist reaction to the meaninglessness of human existence and thus a visionary acknowledgement of the melancholy condition of the world“ zu sehen.535 Ist der promovierte Philosoph aufgrund seiner melancholischen Haltung in der Lage, die absurde und bisweilen paradoxe Verfasstheit der Lebenswelt zu erkennen, 530 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 19. 531 Vgl. dazu ebenfalls die Ausführungen auf S. 19. 532 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 165, Übers. N.V. 533 „Ich fühle den Drang, zeigen zu müssen, daß ich nicht alles tue, was von mir erwartet werden kann.“, (WGG 55), denkt Warlich etwa, ehe er das Stück Kuchen in der Hotellobby zertritt. Und kurze Zeit später beklagt er sich: „Wie entsetzlich es wieder ist, wenn man genau das tun muß, was jemand von einem erwartet!“ (WGG 79). 534 Genazino (2000): Der gedehnte Blick, S. 163. 535 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 162.
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so können seine Mitmenschen dieses zumeist nicht, und reagieren entsprechend mit der Pathologisierung seines Verhaltens.536 Die melancholische Leerstelle Auf der Grundlage der Annahme, dass die Melancholie immer auch einen Verlust markiert, der aber nicht benannt und damit nicht betrauert werden kann, stellt sich die Frage, was Warlich in seiner Melancholie betrauert? Diese Frage formuliert der Roman selbst an mehreren Stellen, jedoch ohne sie zu beantworten und er knüpft dabei an den melancholischen Topos der ‚Sprachlosigkeit‘ resp. ‚Stummheit‘ sowie der Unfähigkeit, die Bilder und Konflikte seiner Innenwelt der Außenwelt sprachlich zu vermitteln, an. Bereits zu Beginn des Romans sitzt Warlich „stumm“ in einem Café und sucht in seinem „Inneren nach Worten“ (WGG 7). Kurze Zeit später konstatiert er, die „Eigenart des Lebens“ zwänge ihm „eine innere Stummheit auf.“ (WGG 9). Er bezeichnet sich als einen „sprachlose[n] Philosoph[en]“ (WGG 112), leidet an einer „plötzlich eintretende[n] Wortfremdheit“ (WGG 131) und wird „stiller und stiller […], bis ich vollständig in meinem Innenraum angekommen bin. Dort bedauert mich niemand so kenntnisreich wie ich selbst.“ (WGG 23). Warlich stellt im Hinblick auf seine psychische Konstitution fest: „Ich vermute, daß ich ein wenig krank bin, aber ich weiß nicht, wo ich meine Störung suchen soll.“ (WGG 86, Herv. i.O.). In ähnlicher Weise kann er nicht in Worte fassen, was genau ihn an der verwitternden Hose fasziniert (vgl. WGG 83). Seine melancholische Haltung definiert er wie folgt: „Ich fühle einen Widerstand gegen das, was alle tun, und kann nicht angeben, was das ist, was alle tun.“ (WG 93). „Ich würde gern beschreiben können, was an den Räumen die Beklemmung auslöst. Bis jetzt bin ich in dieser Hinsicht erfolglos.“ (WGG 112, Herv. i.O.), sagt er über die ihn zuweilen ereilende „fundamentale Unruhe“, die es ihm unmöglich macht, länger an einem ihm unangenehmen Ort, wie seinem Büro, zu bleiben. Warlich umkreist, wie diese Zitate deutlich machen, beständig eine sprachliche Leerstelle, die sein Therapeut zusätzlich markiert, wenn er dessen skurrile Episoden als „Selbstaussetzungen“ bezeichnet, deren eigentliche Bedeutung noch zu ergründen sei (WGG 142). Und obwohl der Therapeut die Hintergründe (noch) nicht offenlegen kann, fühlt Warlich sich, als hätte er an ihn ein „Geheimnis verloren“ (WGG 142). Und auch Traudel fehlen die sprachlichen Mittel, um Warlichs Verhalten in Worte ‚zu fassen‘, fragt sie doch während der Fahrt in die Klinik nicht nach den Gründen für dessen Zusammenbruch (vgl. WGG 129). Am eindrücklichsten schlägt sich die wiederholt umkreiste und dadurch zunehmend an Bedeutung gewinnende Leerstelle in dem Titel einer von Warlich früher einmal angedachten Publikation nieder: „Zaudern und Übermut. […] Phänomenologie des ...“ (WGG 83, Herv. i.O.). Bezeichnen Zaudern und Übermut die beiden Enden des melancholischen Spektrums, die Hemmung und die Euphorie, die sich zu Verzweiflung und Manie verschärfen können, so bleibt der ‚Bezugspunkt‘ unklar. Die Leerstelle markiert eine ontologische Leere, die mit dem Menschen ein „Versteckspiel“537 führt, bzw. der Mensch führt dieses vice versa mit der Leere. Die Welt wird, so Genazino, obwohl und weil es sich um eine „melancholische[] Welt“ hande536 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 162. 537 Genazino (2000): Der gedehnte Blick, S. 156.
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le, „von ihren Bewohnern immerzu zur Verstellung aufgefordert, weil sie auf keinen Fall auch melancholisch erscheinen darf. Diese unverstehbare Weigerung – daß jeder einzelne für sich etwa wissen darf, was nicht alle gleichzeitig wissen sollen – ist der letzte Grund für die Unerforschbarkeit unseres Versteckspiels.“538 Dieses Versteckspiel wird von Genazino ästhetisch umgesetzt, indem die Sätze Warlichs oftmals ebenso viel enthüllen, wie sie verbergen oder infrage stellen. Erscheint der promovierte Philosoph zunächst aufgrund seiner Bildung als ein Mann mit „beste[n] soziale[n] Voraussetzungen, um in unserer komplexen Wirklichkeit eine gute Figur zu machen […]. [H]ervorragend geeignet, unserer Gesellschaft zu vermitteln, woran es dieser am meisten mangelt, nämlich Selbsttransparenz, kritische Distanz, philosophische Erleuchtung.“539, so erweist sich diese Qualifikation zum einen für die Gesellschaft als unnütz; zum anderen zeigt sich Warlich folglich auch als ungeeignet, um das gesellschaftliche Dilemma sprachlich zu fixieren. Das daraus resultierende, ständige Umkreisen der Leerstelle treibt seine ‚melancholische Verwilderung‘ voran und kulminiert schließlich in seinen Selbstaussetzungen. In ihnen und durch sie ‚suspendiert‘ er sein ‚Selbst‘ und damit den zentralen Faktor seiner Employability, sein zentrales Kapital, auf das die Ansprüche des Arbeitsmarktes zielen, der Teil des Menschen, den die Leistungsgesellschaft als ‚Mindesteinsatz‘ veranschlagt, worin wiederum eine Form der Verweigerung zu erkennen ist. Wo selbst das Leben zur Arbeit wird, erweist sich eine Totalverweigerung als verstellt, kann sie letztlich nur das Selbst betreffen und zu einer ‚Lebensunfähigkeit‘ führen, die Warlich schließlich in die klinische Behandlung manövriert. Das Ende des Romans eröffnet seinem Protagonisten im geschützten Raum der Klinik ein gewisses Maß an Handlungsspielraum, im Rahmen dessen er sich den ‚geordneten‘ Rückzug aus der Arbeitsgesellschaft zum Ziel macht, was jedoch ebenso einer Affirmation arbeitsgesellschaftlicher ‚Spielregeln‘ und damit einem systemimmanenten Agieren gleichkommt. Die Darstellung in dem drei Jahre später folgenden Roman Wenn wir Tiere wären erscheint vor diesem Hintergrund wie eine Zuspitzung, führt hier die existentielle Leerstelle nicht nur zu einer ‚Selbstaussetzung‘, sondern sogar zu einer beinahen Selbstauflösung des Protagonisten. Ein melancholischer Selbstständiger: Wenn wir Tiere wären Im Mittelpunkt dieses ebenfalls autodiegetisch erzählten Romans steht ein freiberuflicher Architekt, Anfang 40 und namenlos. Wie schon seine literarischen Vorgänger fühlt auch er sich „vom Leben ein wenig zu schlecht behandelt“ 540 und ist mit sich und seinem Leben unzufrieden.541 Er leidet unter Ängsten, Einsamkeit, Traurigkeit, Depressionen sowie diffusen Schmerzen.542 Er empfindet sich selbst als langweilig 538 Genazino (2000): Der gedehnte Blick, S. 156. 539 Genazino (2011): Der Roman als Delirium, S. 29 und vgl. bis S. 30. 540 Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. München: Hanser 2011, S. 10. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle WGW und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt. 541 „Ich wollte nicht der Mensch sein, der ich war.“ (WGW 22). 542 Über seine Angst sagt er: „Immer wieder las ich in der Zeitung, dass Menschen mit großer unbekannter Angst plötzlich ihre Arme nicht mehr bewegen konnten oder eine
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und ist gleichzeitig gelangweilt von der „Normalität des bürgerlichen Lebens.“ (WGW 45 und vgl. WGW 26). Erschöpfung, gepaart mit Lebensekel, gehören zu seiner Verfassung bereits seit er acht Jahre alt ist (vgl. WGW 20, 87-88, 123), und wie bei Warlich wird auch die Disposition des Architekten von seinem Umfeld pathologisiert (vgl. WGW 60). Die treibende Kraft dabei ist, ebenfalls wie in Das Glück in glücksfernen Zeiten, das totalitäre Glücksdiktum, was der Architekt u.a. freilegt, indem er den „Rummelplatz“ zu einem „Volksdepressionsplatz“ (WGW 65) erklärt; ein Resultat der „diversion mechanisms of modern existence that are supposed to suppress the intrinsically melancholic condition of the world.“ 543 In einer weiteren Parallele zu Warlich offenbart er einen gewissen Verweigerungsgestus, zum Beispiel in Bezug auf die Abschaffung alter Kleidung (vgl. u.a. WGW 42). Darüber hinaus flaniert er gerne und viel, und während dieser Streifzüge verdingt er sich als detailversessener Beobachter.544 Er pflegt seine kleinen „Verrücktheiten“ (WGW 46), welche, wie er selbst feststellt, im Laufe der Zeit zunehmen (vgl. WGW 105). Ziel seiner Verweigerung ist, ganz ähnlich wie bei Warlich, eine „Lebensersparnis“ (WGW 133), also ein Leben mit der geringstmöglichen Erfüllung von Erwartungen. Im wesentlichen Unterschied zu Abschaffel und Warlich fallen bei dem Architekten aufgrund seiner Selbstständigkeit zunächst Wohn- und Arbeitssphäre räumlich zusammen und lassen sich auch zeitlich nicht eindeutig trennen. Daraus resultiert ein Hang zum Prokrastinieren (vgl. WGW 29, 91), den er vor niemandem außer vor sich selbst rechtfertigen muss. Er ist ‚Herr‘ seiner selbst und erweist sich dabei als wenig effizient. Die wirklich produktiven Phasen sind rar, denn ihm ist „die Lust an jeder Art von Arbeit abhanden gekommen [...]. Ich sehne mich nach Ruhe und Untätigkeit.“ (WGW 44). Allerdings weiß er, dass dies gegen das geltende, heteronormative Arbeitsverständnis verstößt: „Ein Mann, der nicht Tag für Tag arbeiten will, gilt als unmännlich.“ (WGW 44 und vgl. 40). Sucht Warlich noch eine Lösung innerhalb der arbeitsgesellschaftlichen Koordinaten, so ist der Architekt mit seiner generellen Ablehnung der Arbeit ‚einen Schritt weiter‘ auf dem Weg zu einer universellen Verweigerung. Da ihm dazu aber die Mittel fehlen und er Teil der arbeitsgesellschaftlichen Statusverteilung bleiben muss, wählt er, ähnlich wie die ebenfalls namenlose Protagonistin der Hundenovelle, den Weg der Selbstauflösung. Sich selbst charakterisiert der Architekt wie folgt: „Ich war ein moderner, zuweilen konfuser Mann geworden, der seiner Ich-Suche überdrüssig geworden war (das war meine Vermutung) und seine temporäre Vewirrung mehr und mehr annahm.“ (WGW 83). Diese Selbstauflösung wird zum Hauptthema des Romans und sie deutet sich bereits in der Namenlosigkeit des Protagonisten an, die als Hinweis auf eine subjektive Entfremdung zu lesen ist.545 Mit der sukzessiven ‚Übernahme‘ des Lebens eines Genickstarre erlebten.“ (WGW 116). Zur Angst vgl. auch WGW 10, 32, 50, zur Einsamkeit vgl. WGW 19, 132, 144, 147-148, zur Traurigkeit vgl. WGW 48-49, 52, 131-132, 154, zur Depression vgl. WGW 114 und zu den Schmerzen vgl. WGW 18, 46, 116. 543 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 160. 544 Vgl. WGW 30, 46-47, 63-65, 104, 136-137, 146-147. Zu den augenscheinlichen Ähnlichkeiten der Protagonisten vgl. Honold (2011): Doppelleben, halbbitter, S. 44-45. 545 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 164.
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verstorbenen Freundes nimmt sie weiter Kontur an. Dieser war ebenfalls Architekt und in einer Firma tätig, die der Hauptauftraggeber des Ich-Erzählers ist. Nach dem Tod seines Freundes fürchtet dieser zunächst um seine berufliche Existenz; stattdessen erhält er aber die Festanstellung des Verstorbenen, welche für ihn mehr Sicherheit, aber auch mehr Unfreiheit und Kontrolle bedeutet (vgl. WGW 86, 91). Das Funktionieren-Müssen innerhalb dieser veränderten Arbeitsbedingungen macht ihm Angst, denn: „Ich kann nur Arbeiten, wenn ich in der Arbeit auch meine Arbeitsunlust mitleben kann.“ (WGW 92). Eine gänzlich affirmative Haltung in Bezug auf das herrschende Arbeitsethos nennt er folglich nicht sein Eigen. Auch gefällt ihm, der einen ausgeprägten Individualismus an den Tag legt, das Konforme der Anstellung nicht; er möchte „kein X-beliebiger Angestellter sein“ (WGW 96). Daher fühlt er sich deplatziert und sein Privatleben wird zusehends vom Nachdenken über die Arbeit durchsetzt.546 Der Grübelei gesellen sich rasch körperliche Symptome und der Wunsch, zu kündigen, hinzu (vgl. WGW 101, 116). Doch zunächst bleibt er in der Position und ‚übernimmt‘ nach dem Job auch noch das Auto und die Frau des Verstorbenen; er ‚schlüpft‘ sozusagen in ein anderes Leben, wird zu einem „Gebrauchtmann“ (WGW 117). Diese Form der Identitätsaufgabe erscheint nur vordergründig durch extrinsische Gelegenheiten motiviert; in Wirklichkeit aber litt der Architekt schon zuvor unter dem ausgeprägten Gefühl, ein nicht-authentisches und entfremdetes Leben zu führen.547 Nach den Gründen für seine Verweigerung gegenüber dem gegenwärtigen Leistungsethos gefragt, nennt er „Gleichgültigkeit, Überdruss, Ekel, Melancholie“, hinter denen er wiederum das „Gefühl [] eines inneren Absterbens“ erkennt (WGW 92). Dieser Prozess der Selbstauflösung nimmt seinen Anfang folglich in einer melancholischen Disposition und kulminiert und endet gleichzeitig, als der Architekt mit einem gefundenen Personalausweis einkauft, woraufhin er verhaftet wird. Seine Festanstellung ist er dadurch los, was ihn aber eher erleichtert als sorgt. Paradoxerweise bedeutet sein Gang in das Gefängnis, in Analogie zum Klinikaufenthalt Warlichs, somit zugleich auch seine Befreiung aus einer als beengend wahrgenommenen Arbeitsrealität sowie aus dem ‚Second-Hand-Leben‘, in das er geraten ist bzw. in welches er sich manövriert hat (vgl. WGW 119-120, 128). Auch das Gefängnis wird so, wie die Klinik, von einem Tief- zu einem Wendepunkt, ja zu einem Exil. Darüber hinaus stehen beide (Nicht-)Orte für die Verweigerung der beiden Protagonisten, sich den Erwartungen der Gesellschaft gemäß zu verhalten, sind sie doch, wie Genazino konstatiert, „die beiden tiefsten bürgerlichen Möglichkeiten der Entgleisung“ 548. In ihnen gipfelt also die Verweigerung konformen Verhaltens, die eine Form melancholischer Subversion darstellt und über die ausgerechnet der Chef des Architekten 546 Als er noch sein ‚eigener Herr‘ war, sah es anders aus: „Früher war es genau umgekehrt: Ich dachte nicht einmal dann an meine Arbeit, wenn ich arbeitete.“ (WGW 101). 547 So heißt es: „Meine inneren Zudringlichkeiten schoben sich zur Hauptbelastung meiner Existenz zusammen: dass ich das wirklich und zweifelsfrei zu mir passende Leben nicht würde finden können.“ (WGW 114-115). Vgl. dazu auch Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 164-165. 548 Wilhelm Genazino im Gespräch mit Thomas David: „Von Lebensmüll und bürgerlicher Entgleisung.“ In: Cicero 26.07.2011. Auf: http://www.cicero.de/salon/von-lebensmuellund-buergerlicher-entgleisung/42437/, zuletzt gesehen am 05.02.2016.
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ausführt: „Ich gehe davon aus […], dass so gut wie alle Menschen Melancholiker sind. [...] Die Melancholie ist der Grund, dass so viele Menschen Lust auf abweichendes Verhalten haben [...]. In der Abweichung kann sich die Melancholie ausdrücken“ (WGW 71-72). Markiert sowohl die Melancholie Warlichs als auch die des Architekten das subjektive Gefühl, ein unauthentisches Leben zu führen, so werden beide, indem sie den Prozess gesellschaftlicher Exklusion vorantreiben – Warlich durch seine Selbstaussetzungen, der Architekt, indem er seine Verhaftung gewissermaßen forciert – zu „agent[s] of originality“.549 Selbstaussetzung sowie Selbstauflösung erscheinen so paradoxerweise als Versuche einer neuerlichen Selbstfindung, welche in beiden Romanen jedoch unabgeschlossen bis erfolglos bleibt, wird die weitere Entwicklung der Protagonisten doch offengelassen. Wenn wir Tiere wären endet mit dem Plan des Architekten, sich in seiner „Wohnung zu verschanzen“ (WGW 155), anstatt im Anschluss an seine Entlassung aus dem Gefängnis eine Festanstellung zu suchen, wie es der Wunsch seiner Freundin ist, von deren „Lebensangst“ (WGW 152) er sich erpresst fühlt. Tiermetaphern im Kontext von Freiheit und Gefangenschaft Als Gegenpart dieser, von Warlich und dem Architekten personifizierten, melancholischen conditio humana fungieren die bereits im Titel an prominenter Stelle vorkommenden Tiere. So beobachtet der Architekt mitten in der Innenstadt eine Ente, „auf einem Fuß mit geschlossenen Augen, offenbar im Stehen schlafend.“ (WGW 10, Herv. i.O.), deren unbekümmertes Verhalten für ihn zu einem Sehnsuchtsbild 550 wird, da es einen von (Selbst)-Reflexion freien Zustand offenbart, der lediglich die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse jenseits gesellschaftlicher Zwänge zum Ziel hat.551 Die subjektive Entfremdung des Architekten (vgl. WGW 131) ist der Ente ebenfalls unbekannt. Bezeichnenderweise beobachtet der Protagonist von Wenn wir Tiere wären im Gegensatz zu den flugunfähigen Tieren in Warlichs Epiphanien, überwiegend äußerst ‚bewegliche‘ Tiere wie Grashüpfer (vgl. WGW 42-43), ein Kornweihenpärchen (vgl. WGW 38-39), eine Amsel (vgl. WGW 55), eine Krähe (vgl. WGW 79), Eichhörnchen, Elstern, Tauben und Amseln (vgl. WGW 82-83) sowie eine geschickt manövrierende Wespe (vgl. WGW 101-102), worin sich ein im Roman zentral verhandeltes Thema offenbart: die Ambivalenz der spätmodernen Freiheit. Anders als der promovierte Philosoph, der versucht, sich in seinen Beobach549 Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 165. 550 „Ja, ich wünschte mir, die Ente nachahmen zu können. Schlafend auf einem Bein in der Stadt herumstehend: dann fiele mir kein weiterer Wunsch mehr ein.“ (WGW 11). 551 So sagt Genazino: „Wenn wir Tiere wären, hätten wir ein befreiteres Leben, weil wir nicht reflektieren müssten. Kein Tier denkt nach, das macht nur der Mensch, und in gewisser Weise liegt darin auch das Unglück des Menschen. Selbst wenn wir schon sehr oft über etwas nachgedacht haben, können wir nicht sagen: Also über diese Kacke habe ich mir schon tausend Mal den Kopf zerbrochen, ich höre jetzt damit auf. Nein, wir machen weiter. Wenn wir Tiere wären, wären wir von diesem Reflexionszwang befreit. Tiere haben nur zwei oder drei Grundbedürfnisse, alles andere ist ungeregelt.“ Genazino im Gespräch mit David (2011): Von Lebensmüll und bürgerlicher Entgleisung.
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tungen ein gewisses Maß an Freiheit zu erschaffen, ist für den zunächst selbstständigen Architekten diese Freiheit gerade ein zentrales Moment seines Dilemmas und Ursache seiner Abhängigkeit sowie seiner Prekarität (vgl. WGW 8). Ausgehend von einem angeblich ‚freien‘ Leben als Selbstständiger vollzieht der Architekt eine ‚Bewegung‘ über den engeren Rahmen einer Festanstellung bis hin zur denkbarsten Unfreiheit im Gefängnis, aber sein subjektives Gefühl des ‚Gefangenseins‘ in seinem Leben ist davon unbeeinflusst. Der Architekt hat vielmehr eine lebensweltliche und ontologische Freiheit im Sinn, wobei Freiheit zum einen die Möglichkeit zur FortBewegung aus einem unangenehmen Zustand, aber auch, wie bereits bei der schlafenden Ente beschrieben, die Befreiung von der Fähigkeit zur Reflexion sowie von der Suche nach bzw. Errichtung von einer eigenen Identität meint. Es ist wiederum eine Tierbeobachtung, die eine ‚ontologische‘ Freiheit auf den Punkt bringt: „Als Kind hatte ich Sommerfliegen gefangen und in Streichholzschachteln gesperrt, nicht selten mehrere Fliegen in einer Schachtel. Die Fliegen rasten, ohne sich bewegen zu können, sie wurden fast verrückt in der Enge der Schachtel. So ähnlich fühlte ich mich jetzt. Ich saß in einer Schachtel, ich raste vor mich hin und bewegte mich kaum.“ (WGW 108). Die Schachtel symbolisiert das Eingebundensein in arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint und greift, indem ein sprachlicher Verweis auf Paul Virilios ‚rasenden Stillstand‘ stattfindet, ein zentrales Moment der spätmodernen Lebenswelt auf: die Beschleunigung.552 Die Form des existentiellen Gefangen-Seins wird wiederum in einer Tiermetapher veranschaulicht; dieses Mal ist es eine Motte, die der Architekt im Gefängnis beobachtet: „Von meiner Schlafpritsche erhob sich eine Motte. Im matten Licht schummerten ihre kleinen Flügelchen wie fliegendes Altgold. Die Motte durchquerte die Zelle, ich verfolgte sie mit Blicken. Sie stürzte auf die Konsole über dem Waschbecken und landete in einer Staubschicht, von der sie nicht mehr hochkam. Der Staub drang rasch in ihre Flügel ein und erstickte kurz danach ihr Leben.“ (WGW 135). Wie auch schon bei Warlichs Wespe erinnert diese flugunfähige Motte an die Melencolia mit ihren zu kleinen Flügeln, und sie lässt sich als Sinnbild für das unfreie und damit unauthentische Leben des Architekten lesen. Seine existentielle Melancholie erscheint unentrinnbar (wie auch die Motte ihrem Schicksal nicht entkommen kann) sowie ohne klares Objekt bzw. ihr Objekt ist die Existenz selbst. Der einzige Ausweg ist, etwas pathetisch anmutend, der Tod. Melancholische Haltungen von Walser bis Genazino Besieht man sich die Rolle, welche der Melancholie in den Arbeitstexten Martin Walsers und, daran anknüpfend, in den besprochenen Romanen Wilhelm Genazinos zukommt, so wird eine Entwicklung hin zu einer melancholischen Haltung deutlich. Dass die Arbeitsrealität ab den 1970er Jahren den Weg des Subjekts zu Individuation und Authentizität verbaut, hatte bereits Walser zum Zentrum seiner Romane gemacht und dabei den Vorstellungsbereich der Melancholie zumindest tangiert. Diese erscheint aber vornehmlich als Handlungshemmung bzw. in einer pathologisierenden Darstellung. Der Blick in Genazinos literarische Auseinandersetzung mit dem Sujet der Arbeit offenbart eine deutlichere Bezugnahme zur Melancholie sowie einen 552 Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 42008 [1990]. Ausf. zur Beschleunigung vgl. Kap. 3.3.3.
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bewussteren Umgang mit den tradierten Bildkonventionen. Er zeigt die Melancholie entsprechend im Spannungsfeld zwischen individueller Disposition und gesamtgesellschaftlicher Verfassung, zwischen ästhetisierenden und pathologisierenden Tendenzen, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen. Abschaffel markiert hier nur einen Anfang, ist doch die Gefühlslage des gleichnamigen Angestellten den Walser’schen Protagonisten noch recht ähnlich. Zwar wird die Melancholie ständig umkreist, sie erweist sich aber dennoch als Teil einer pathologischen Reaktion. In Das Glück in glücksfernen Zeiten ist die Melancholie in ihrer philosophischen Tradition umso deutlicher anzutreffen. Zum einen ist Warlich aufgrund seiner akademischen Bildung für eine solche Melancholie sehr viel ‚geeigneter‘ – ähnlich wie es Gallistl bei Walser ist –, aber auch die literarisch abgebildete Arbeits- und Lebenswelt hat, vom Ende der 1970er Jahre bis zum Jahr 2009, eine Entwicklung gezeitigt, welche die Melancholie zunehmend zum Paradigma literarischer Darstellung der Arbeitswelt prädestiniert. Die Melancholie der Protagonisten von Das Glück in glücksfernen Zeiten und Wenn wir Tiere wären entsteht im Angesicht einer subjektiv als entfremdet und unauthentisch wahrgenommenen Arbeits- und Lebenswelt. Die Texte bilden ab, wie „aus der ungeheuren Anpassungsleistung, die Tag für Tag von den mündigen Bürgern verlangt wird, zwangsläufig Melancholie erwachsen“553 muss. Am deutlichsten ist dies bei Warlich der Fall, der darüber hinaus auch am pointiertesten exemplifiziert, wie sich die melancholische Haltung der geforderten Leistungsbereitschaft, dem konformen Verhalten sowie dem Glücksdiktum der Arbeitsgesellschaft gegenüber verweigernd verhält. Leidet Warlich darunter, sich in der Arbeitswelt nicht authentisch und ‚sinnhaft‘ verorten zu können, so fällt dieses Defizit auf ihn selbst zurück, und er reibt sich beständig daran auf, bis er als ‚erschöpftes Selbst‘ zurückbleibt. Es handelt sich um ein Selbst, „das den Wettlauf nicht mehr bestreiten kann und will – mit all seinen Gefühlsverwirrungen und Ängsten“554, und das sich ein Exil in seiner Melancholie sowie im geschützten Raum einer Klinik sucht. Im Akt der Tabuisierung qua Pathologisierung beweist Genazino zum einen die Allgegenwart der Melancholie555; zum anderen bescheinigt er ihr subversives Potential. Der namenlose Protagonist von Wenn wir Tiere wären erscheint in vielerlei Hinsicht Warlich sehr ähnlich, jedoch rückt bei ihm aufgrund seiner Selbstständigkeit das ‚Selbst‘ in den Fokus und steht somit auch verstärkt zur Debatte. Von dem im Großraum tätigen Abschaffel über Warlich, der in einer leitenden Position relativ viel Gestaltungsspielraum hat, bis zum Architekten zeichnet Genazino eine „Subjektivierung von Arbeit“556 nach, die vorläufig in der Beschreibung eines Protagonisten endet, der sowohl namenlos ist als auch beständig an seiner Selbstauflösung arbeitet, der insofern fast schon kein Subjekt mehr zu sein scheint. Damit affirmieren die Romane Genazinos durchaus die Thesen u.a. Sennetts, zeigen sie doch, welche zu553 Böttiger (2009): Das Zwangsabo Wirklichkeit. 554 Florian Öchsner: „Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur. Enno Stahls Die Seelen und Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten.“ In: Brogi et al. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 347-364: 361. 555 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Construction as Other, S. 160-161. 556 Öchsner (2013): Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur, S. 362.
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nehmenden Schwierigkeiten es bereitet, sich innerhalb der spätmodernen Lebenswelt eine Identität zu erschaffen. Allerdings ist diese Diagnose nicht auf den engen Rahmen der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft zu beschränken, sondern sie ist vielmehr existentialphilosophischer Natur, wie Genazino selbst sagt: „Ich glaube nämlich nicht, dass man realistischerweise von der eigenen Identität sprechen kann. Natürlich gibt es in jedem Leben Phasen von enorm hoher Identität, aber das ist immer nur ein vorübergehender Zustand. Die Arbeit an der eigenen Identität ist ein niemals endender Prozess – ich glaube nicht, dass sich die meisten Menschen dieser Tatsache überhaupt bewusst sind: Die meisten gehen davon aus, dass man über eine Identität verfügt oder eben nicht.“557
Die ‚Arbeit an der eigenen Identität‘ ist folglich von sich aus ein nicht abschließbarer Prozess, der damit eine melancholische Dimension erhält. Anzumerken ist, dass Genazino in diesen Ausführungen sowie in der Äußerung, dass „Identität ein mühsamer Erwerb und eine Arbeit“558 sei, eine affirmative Haltung dem universalisierten Arbeitsbegriff gegenüber offenbart, obwohl er die diversen Entgrenzungen in seinen Romanen eigentlich einer kritischen Revision unterzieht. So beschreibt er anhand des sich zuspitzenden Verhaltens der Protagonisten, welch’ negative Folgen die entgrenzten Umstände mit sich bringen und legt darüber hinaus frei, wie unrealistisch der Anspruch ist, in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit und einer wachsenden Prekarität einen sinn- wie identitätsstiftenden Beruf zur Voraussetzung für ein ‚gelingendes‘ Leben zu machen. Arbeit kann, so Genazino in einem Interview, der eigenen „Freiheit“ und „Fortentwicklung“ dienen; in der Realität seien diese Möglichkeiten aber äußerst begrenzt.559 Folglich bilden die Romane den Widerstreit zwischen Ideal und Realität ab, welcher sich in den Konflikten der Protagonisten zum einen mit der Gesellschaft und zum anderen mit ihrer eigenen arbeitsgesellschaftlichen Sozialisation niederschlägt, die dazu führt, dass Abschaffel nach 13 Jahren noch keinen seiner (verhassten) Arbeitstage versäumt hat (vgl. WGA 121), und die zumindest Warlich den Ausweg noch innerhalb der leistungsgesellschaftlichen Koordinaten suchen lässt. Ein zentraler, wenn auch versteckter Hinweis auf diese Sozialisierung ist die ‚Schamproblematik‘, unter der Abschaffel und Warlich leiden. So schreibt noch Freud in seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“, der an Melancholie Erkrankte sei frei von Scham.560 Dass Genazinos Protagonisten aber vielmehr von Scham erfüllt sind, weist darauf hin, dass sie sich ihrer, in ihrem Leiden manifestierten Dysfunktionalität mehr als bewusst sind und diese negative Bewertung bis zu einem gewissen Grad auch teilen. Dennoch überwiegt bei allen drei Protagonisten der gesellschaftliche Zwang zur Arbeit über die Affirmation 561, womit die Romane den Entwürfen einer spätmodernen Disziplinargesellschaft, bestehend aus ‚unternehmerischen Selbsts‘, nur eingeschränkt das Wort reden.
557 Genazino im Gespräch mit David (2011): Von Lebensmüll und bürgerlicher Entgleisung. 558 Genazino im Gespräch mit David (2011): Von Lebensmüll und bürgerlicher Entgleisung. 559 Genazino im Gespräch mit Hoffmeister (1989): Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle, S. 75. 560 Vgl. Freud (1991): Trauer und Melancholie, S. 433. 561 Vgl. Öchsner (2013): Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur, S. 358-359.
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Nicht die Arbeit bedeutet ein „In-der-Welt-Sein[]“562, sondern, so legen es Genazinos literarische Verhandlungen nahe, die Melancholie.563 Trotz ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung ist sie allgegenwärtig; nicht das leidende Individuum, sondern die Welt bzw. die Gesellschaft selbst, verstanden als die Anzahl der in ihr sozialisierten Individuen, ist ihr ‚Träger‘.564 Melancholie ist die spätmoderne conditio humana selbst.565 Durch ihre spezifischen Qualitäten – die Klarsichtigkeit, die ‚Sensibilität‘ sowie die Reflexionsfähigkeit – weist sie einen Weg jenseits der Exklusion und Pathologisierung von nonkonformem und angeblich dysfunktionalem Verhalten: einen ästhetischen Weltzugang. Wenn man allerdings die Frage nach einem möglichen Ausweg aus dem literarisch beschriebenen Dilemma stellt, so offenbart die Strategie der Ästhetisierung ihren zentralen ‚Nachteil‘. Denn, so beschreibt es Florian Öchsner in seinem Vortrag zu Genazino, der ästhetische Blick, wie Warlich ihn etwa auf die Erschöpften im Straßencafé oder aber auch auf eine Gruppe Arbeiterinnen am Ende des Romans wirft (vgl. WGG 156-157), entferne ihn „von einem Versuch der Verbesserung“566, womit die, zunächst als Gegenstrategie zu herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen gedachte, Ästhetisierung letztlich das System von innen stärkt. Und so lässt sich das Ende des Romans auch als ein ‚Einlenken‘, ein ‚SichErgeben‘ in arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge lesen. Wenn wir Tiere wären bildet in ähnlicher Weise ab, dass ein wirklicher Ausweg nicht existiert, und ein Zustand von Freiheit im engen Rahmen arbeitsgesellschaftlicher Partizipation wird negiert. Folglich weist keiner der Romane einen Ausweg aus der Kausalität einer Melancholie evozierenden sowie exkludierenden Arbeitsgesellschaft. Alle drei Protagonisten – Abschaffel, Warlich und der Architekt – scheitern daran, sich selbst einen Ausweg zu schaffen. Aber alle drei Romane enden auch denkbar unbestimmt567 und erscheinen so, trotz der fatalistisch anmutenden Diagnose einer ausweglosen Existenz, nicht ohne Hoffnung. Auf der Ebene der Narration wird deutlich, dass es, in Analogie zur vagen Zukunft, auch keine konkrete Vergangenheit, im Sinne eines ‚vorher‘, gibt. Zwar berichtet etwa Warlich kurz von seinem Leben vor der Beziehung mit Traudel, im selben Moment berichtet er aber, all seine Möbel seien in Folge des Zusammenziehens in eine gemeinsame Wohnung auf den Müll gekommen (vgl. WGG 16-17). Einer ‚primären Unterscheidung‘ versagen sich die Texte damit, ähnlich wie es bei der Hundenovelle der Fall war, und Genazino wählt stattdessen einen ‚dritten‘ Weg jenseits einer ‚subsidiären‘ oder ‚komplementären‘ Positionierung gegenüber seinem Sujet, welcher Flade/Rauen, Karl Eibel zitierend, als „wohlformulierte[] Ratlosigkeit“568 bezeichnen. Er entwirft, 562 Engler (2005): Bürger, ohne Arbeit, S. 52. 563 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Other, S. 155-156. 564 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Other, S. 159-161. 565 Vgl. Frank (2012): Melancholy in Wilhelm Genazino’s Novels and Its Other, S. 152, 154. 566 Öchsner (2013): Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur, S. 358. 567 Zu Abschaffel vgl. Hirsch (2006): ‚Schwebeglück der Literatur‘, S. 45. 568 Karl Eibel zit. n. Flade/Rauen (2005): Schwere Unterscheidungen und ment‘, S. 548.
Construction as Construction as Construction as
‚light entertain-
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etwas neutraler formuliert, „Assoziationsketten, Reflexionszusammenhänge, Verstehens- und Bewältigungsanfänge. Anders gesagt: In der Entfaltung der Unbestimmtheit liegt der Kunstgriff und die Voraussetzung, das Poetische aus der Alltagswelt stets neu zu erschaffen.“569 Und aus dieser Haltung entsteht „die für Genazinos Werk spezifische Unbestimmtheit aus versuchtem und scheiterndem Verstehen.“570 Für jene Unbestimmtheit, sowohl in ihrer poetischen Dimension als auch in Form einer Ratlosigkeit in Anbetracht der Dilemmata der spätmodernen Arbeitsgesellschaft, erweist sich die Melancholie als angemessenes Paradigma. 3.2.5 Melancholie 2.0: Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer (2009/2013) Halt die Deadline ein, so ist’s fein! | Hol die Ellenbogen raus, burn dich aus! 24/7, 8 bis 8, was geht ab, machste schlapp, what the fuck?! || Bück dich, bück dich, bück dich hoch [...] | Bück dich hoch, ja || Das muss heute noch zum Chef, besser jetzt [...] Ach du Schreck, Bonus-Scheck ist schon weg [...] Fleißig Überstunden, ganz normal [...] | Unbezahlt, scheißegal, keine Wahl [...] || Klick dich, fax dich, mail dich hoch Grapsch dich, quetsch dich, schleim dich hoch Kick dich, box dich, schlaf dich hoch | Bück dich hoch, ja! || Bück dich hoch! Komm, steiger den Profit! Bück dich hoch! Sonst wirst du ausgesiebt! Bück dich hoch! Mach dich beim Chef beliebt! Bück dich hoch! Auch wenn es dich verbiegt! Deichkind/Bück dich hoch (2012)
Prokrastination und Handlungshemmung – diese bei Hartmann und Duve so zentralen Motive stehen auch im Mittelpunkt von Terézia Moras 2009 erschienenem Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent. Der Roman umfasst eine Woche (von Freitag bis Freitag) und gliedert sich in die Wochentage, die wiederum in Tag und Nacht unterteilt sind. Dieser sehr stringenten und an einem ‚durchschnittlichen‘ Arbeits- und Lebensrhythmus orientierten Gliederung steht eine Diffusität auf der Handlungsebene gegenüber, bedingt durch die Arbeitsrealität des digitalen Zeitalters.571 Hauptfigur des Romans ist Darius Kopp, geboren und aufgewachsen
569 Bartl/Marx (2011): Wiederholte ‚Verstehensanfänge‘, S. 10. 570 Bartl/Marx (2011): Wiederholte ‚Verstehensanfänge‘, S. 12. 571 Verena Auffermann beschreibt es wie folgt: „Allerdings existiert der Unterschied zwischen Werktag und Sonntag, Tag und Nacht […] in dieser Geschäftswelt nicht. Das Schließen des Browser-Fensters muss das Herunterlassen des Rollladens ersetzen.“ Verena Auffermann: „Unser Mann im Netz. Terézia Mora taucht ein in die Restseele eines ult-
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in der DDR, 43 Jahre alt und IT-Fachmann. Er wird als ein „[g]eerdet[er]“ aber auch „selbstgenügsam[er]“572 Mann charakterisiert und er stellt damit den Gegenpol zu seiner Ehefrau Flora dar, die man als „schlank, hochsensibel und hypernervös“573 beschreiben kann. Trotz dieser Durchschnittlichkeit hegt er den Wunsch nach Anerkennung574 und „Status“575. Mora „erfindet“, so beschreibt es der Rezensent Klaus Zeyringer, mit ihm „einen ‚modernen Büromenschen‘ als Antihelden und lässt ihn in realistisch scheinender Schilderung den falschen Boden unter den groß auftretenden Schuhen verlieren.“ 576, worin sich bereits eine Art der hochstaplerischen Entfremdung andeutet, und zwar jener zwischen der beruflichen Rolle und dem ‚authentischen‘ Ich. Im Treiben der globalen Märkte erscheint der Protagonist zunächst als „Gewinner und Repräsentant einer neuen globalisierten Weltordnung“, aber mit der Zeit stellt sich heraus, dass er vielmehr ein „Spielb[all]“ ist.577 Vereinzelung in der New Economy Kopp selbst beschreibt seine Erwerbsbiografie als glücklich (vgl. TM 24), obgleich er häufig die Arbeitgeber wechselte, ehe er als Mitarbeiter eines Start-ups Opfer der sogenannten ‚New Economy-Blase‘ (vgl. TM 9) wurde. Mit ihrem Platzen im Jahr 2000578 folgte auf die ultimative Ausschweifung für Kopp die große Ernüchterung. Schnell findet er aber eine neue Anstellung bei einer Firma namens ‚Eloxim‘, die jedoch bald nach ihrer Gründung von ihrem Besitzer an die Konkurrenz verkauft wird; der neue Chef entlässt bis auf Kopp alle Mitarbeiter, worüber jener sagt: „Das hatte nichts mit unserer Person oder unserer fachlichen Kompetenz zu tun, im Gegenteil, unsere Person und unsere fachliche Kompetenz spielten nicht die geringste Rolle.“ (TM 23), worin sich die Kontingenz spätmoderner Arbeitsumstände nieder-
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ramodernen Spaßvogels und Business-Nerds.“ In: Zeit Literatur Nr. 42, 08.10.2009. Auf: http://www.zeit.de/2009/42/L-B-Mora-TAB, zuletzt gesehen am 20.01.2015. Meike Fessmann: „Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. Und wieder ein grosser Wurf: In ihrem zweiten Roman erzählt Terézia Mora von Menschen in Zeiten der Weltwirtschaftskrise.“ In: Tages-Anzeiger 17.09.2009, S. 43. Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. Vgl. Terézia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent. München: btb: 2011 [2009], S. 32-33. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle TM und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Die gewünschte Anerkennung wird ihm allerdings u.a. von seinem Umfeld verwehrt, welches ihn als „Telefonaffe“ oder auch „Anzugaffe“ (TM 16-17) verhöhnt, vgl. auch TM 315. Terézia Mora im Gespräch mit Harald Klauhs: „Terézia Mora: ‚Man hat aber niemals Ferien von sich‘. Ihr jüngster Roman, Der einzige Mann auf dem Kontinent, stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Preise hat Autorin und Übersetzerin Terézia Mora schon viele.“ In: Die Presse/Spectrum 22.08.2009, S. VII. Klaus Zeyringer: „Kleiner Businessmann, was nun?“ In: Der Standard 22.08.2009, S. 10. René Kegelmann: „Nomaden der Großstadt. Figurenkonstellationen in Terézia Moras Romanen Alle Tage (2004) und Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009).“ In: Zoltán Szendi (Hg.): Wechselwirkungen Bd. 2. Wien: Praesens 2012, S. 203-212: 204. „Er war bei 700 000 virtuellen Dollar angekommen, als alles zusammenkrachte. Im April 2011 stand Darius Kopp ohne Reichtümer und ohne Job da.“ (TM 10).
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schlägt. Die neuen Chefs nennen die Firma in ‚Fidelis‘ (lat.: Treue) um, und geben damit ein ‚Versprechen‘, das sie, und hier sei auf das Ende des Romans verwiesen, nicht einlösen werden.579 Fidelis ist im Bereich der Produktion und des Vertriebs von kabellosen Netzwerken tätig, womit sie zum Teil einer „Wachstumsbranche [gehört], in der die Vergangenheit nichts, die Zukunft jedoch alles (oder ebenfalls nichts) bedeutet.“ 580 Sie entspricht folglich ziemlich genau Richard Sennetts Beschreibung der New Economy.581 Kopp selbst wird mit seiner Übernahme „die Leitung des ‚gemeinsamen‘ Büros für das deutschsprachige Mitteleuropa sowie Osteuropa anvertraut[] [...]. Darius Kopp in the D/A/CH region and Eastern Europe, in Diensten von Fidelis Wireless, the global pioneer in developing and supplying scalable broadband wireless networking systems for enterprises, governments and service providers.“ (TM 23), lautet die Beschreibung, welche lediglich die PR-Floskeln der Firma zitiert. Mit den D/A/CHMärkten hat Kopp die „miesen Märkte“ (TM 32) zugewiesen bekommen, und er ist tatsächlich, der Titel des Romans bringt es auf den Punkt, der einzige Mitarbeiter auf dem Kontinent, sitzen doch alle seine Kollegen und Vorgesetzten in England oder sogar im außereuropäischen Ausland.582 Darüber hinaus steht auch das Gebäude, in welchem sich Kopps Büro befindet – ein Komplex mit mietbaren Einzelbüros – quasi leer und auch der Empfang im Foyer ist unbesetzt (vgl. TM 18-19), was den Aspekt der ‚Einsamkeit‘ zusätzlich betont. Wiederum lässt sich Sennett heranziehen, der konstatiert: „Under such conditions people are indeed on their own, left to their own devices as how best to respond to targets, commands, and performance evaluations from the center. The celebration of self-management is, though, hardly innocent. The firm need no longer think critically about its own responsibilities to those whom it controls.“583 Diese Art der Nicht-Hierarchie, des Für-sich-selbst-verantwortlich-Seins ist nur ein Aspekt der New Economy, dem sich die ‚Unsichtbarkeit‘ der Arbeit im digitalen Zeitalter sowie eine dynamische Struktur beigesellt: es wird gegründet,
579 Vgl. Björn Hayer: „Poetiken der Globalisierung. Über den Versuch einer Ästhetikbildung sozioglobaler Abstraktion bei Daniel Kehlmann und Terézia Mora.“ In: Text & Kontext: Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 35 (2013), S. 77-93: 84. 580 Roman Bucheli: „Auf verlorenem Posten. Terézia Moras rasanter Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent ist ein Krisenprotokoll.“ In: Neue Zürcher Zeitung 27.10.2009, S. 25. 581 Eine Engführung von Sennetts Begriff des ‚Drift‘ mit ausgewählten Beispielen aus der Gegenwartsliteratur findet sich auch in meinem Aufsatz Nerea Vöing: „Zwischen Affirmation und Leerstellen. Richard Sennetts Theorem des ‚Drift‘ in der Gegenwartsliteratur.“ In: Brogi et al. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 365-381, inbes. S. 371-373 zu Der einzige Mann auf dem Kontinent. 582 Es ist Kopp selbst, der diese Bezeichnung für sich wählt: „Und weil er ein glücklicher und zufriedener Mensch sein will, der mit allem zurechtkommt, was ihm das Leben so aufhalst, behauptet er stolz, er sei der ‚letzte Mann auf dem Kontinent‘. So kann man es auch nennen, wenn nach einer Firmenfusion aus einer festen Anstellung ein Honorarjob wird und wenn man die osteuropäischen Märkte betreuen soll, die sonst keiner will.“ Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. 583 Sennett (2006): The Culture of the New Capitalism, S. 61.
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fusioniert, ‚outgesourct‘ und verkauft und währenddessen werden Ideen zu Geld gemacht.584 Obwohl die Firma Drahtlosnetzwerke vertreibt, gestalten sich Kopps Versuche, Kontakt zu seinen Vorgesetzten in England und den USA aufzubauen, ironischerweise mehr als schwierig (vgl. u.a. TM 186, 307-308, 312-313, 316-320); diese ständig fehlschlagenden Kommunikationsversuche werden zu einem zentralen Thema des Romans.585 Darüber hinaus ist die Aufgabenverteilung der einzelnen Abteilungen unklar und Kopp fühlt sich von der Chefetage durch respektlosen Umgang gedemütigt (vgl. TM 26-28). In diesem Abgeschnittensein von allen firmeninternen Vorkommnissen manifestiert sich Kopps Einsamkeit, in der sich wiederum eine spezifische, durch die Globalisierung und Digitalisierung der Welt evozierte Form der Entfremdung erkennen lässt. Es zeigt sich ein Übermaß an Verantwortlichkeit, welches Kopp zu überfordern scheint.586 Statt einer neuen, durch Flexiblisierung und ‚Empowerment‘ ausgelösten Freiheit587 wächst der „Leistungsdruck“588 in den Bereichen der Selbst- und Arbeitsorga584 „Anfangs ist eine Firma eine Idee, Menschen, ein Produkt und nicht zuletzt Geld. Und wenn dann an einem gewissen Punkt nur noch das Geld übrig bleibt von der Idee einer Firma, dann entsteht die Situation, in der sich Darius Kopp befindet: Die Firma wird zu Geld gemacht. Und man nimmt dieses Geld und macht damit etwas Neues, also man macht damit wieder neues Geld.“, Mora im Gespräch mit Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘, vgl. auch TM 183 sowie Elmar Krekeler: „Ich bin ein guter Mitarbeiter. Geschichte einer Kommunikationskatastrophe: Terézia Mora hat mit Der einzige Mann auf dem Kontinent den Roman zur Zeit geschrieben.“ In: Die Welt 12.09.2009, S. 31. 585 Vgl. Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 84, der einen Vergleich mit Kafkas Werk anführt, sowie dazu auch Martina Scherf: „Kafka im Internet. Lesung bei Lehmkuhl: Terézia Mora über ihren neuen Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: Süddeutsche Zeitung 22.10.2009, k.A. 586 Vgl. Entsprechendes bei Steinfeld (2012): Was rettet die moderne Seele?, S. 121 sowie bei Ludger Heidbrink: „Wir reden umso mehr von Verantwortung, je weniger wir sie haben.“ In: Psychologie Heute 9 (2005), S. 32-33. Er führt aus, wie die Verantwortung als neues „Ordnungsmodell“ ihre Vorgänger Vernunft, Fortschritt und Zukunft ablöst und von ihnen die „Rolle eines Steuerungsmediums in steuerungsloser Zeit“ erbt (S. 32). Er plädiert für einen neuen „Pragmatismus“, der die realen Gegebenheiten nicht aus dem Blick verliert (S. 32 und vgl. S. 33). Die Verlagerung von Verantwortung lässt sich auch im Bereich des Abbaus sozialer Sicherungssysteme beobachten. Was einst in staatlicher Verantwortung lag, obliegt nun dem Einzelnen; dieses (in diesem Fall) mitteleuropäisch sozialisierte Individuum ist, wie es Franz Schultheis so bildhaft beschreibt, „dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutslos ausgeliefert“, ist doch sein „sozialer Habitus […] durch die Gewöhnung an ein Mindestmaß an Schutz vor den Unwägbarkeiten des Alltags geprägt.“ Franz Schultheis: „Ein halbes Leben. Streifzüge durch eine Arbeitswelt im Umbruch.“ In: Kaudelka/Klinger (2013): Eigenverantwortlich und leistungsfähig, S. 13-30: 16. 587 Die mögliche positive Seite dieses ‚Empowerments‘ beschreibt der Psychologe Friedrich Steinfeld in seinem Buch Was rettet die moderne Seele? wie folgt: „Eine Politik der Responsibilisierung und des Empowerment ist nicht a priori abzulehnen, sondern enthält als
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nisation. Zusätzlich kommt im Kontext der New Economy ein gehöriges Maß an Diffusität hinzu, lassen sich die Leistungs- und Zielvereinbarungen keineswegs in allen Sektoren eindeutig definieren, was zu „Konstruktion[en] von Zielfiktion“ 589 führt. Tatsächliche Arbeit wird so zu einer „work performance“590, wie sie auch Kopp praktiziert. Werden feste Strukturen und Hierarchien obsolet, so spiegelt sich diese „Dezentralisierung“591 im Erzählmodus wider. Der einzige Mann auf dem Kontinent wird, in Analogie zu Abschaffel, aus zwei Perspektiven erzählt: aus der einer allwissenden Erzählerin und aus jener Kopps, wobei die Perspektiven ineinander verschränkt sind und sich manchmal innerhalb eines Satzes abwechseln. Darüber hinaus führt Kopp lange fiktive innere Dialoge, die dem Leser seine Denkweise sowie seine Gefühle eröffnen592 und die zeigen, dass er sich der problematischen Dimension seiner Arbeit keineswegs so bewusst ist, wie er es vielleicht sein sollte. Denn nicht nur in Bezug auf die fehlende Anbindung läuft es für Kopp nicht rund; die Probleme ‚türmen‘ sich regelrecht. So hat er nach zwei Jahren immer noch keinen Arbeitsvertrag unterschrieben, erhält nur einen Teil des Lohns und zahlt seine Sozialleistungen selbst (vgl. TM 121-122), aber mit seinem „unbeschwert leichtfertig[en]“593 Charakter, dessen ‚Schlichtheit‘ im Kontrast zur Komplexität seiner Umgebung steht594, schafft er es immer wieder, sich in ein oberflächliches Gleichgewicht zu flüchten. Dabei ingoriert er jedoch wichtige Signale, was letztlich zur Zuspitzung der Verhältnisse führt.
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rationellen Kern das richtige Ziel der stärkeren Selbstverantwortung der Individuen für die Gestaltung des eigenen Lebens, ausgehend von einer Integration in den gesellschaftlichen Arbeitsprozess.“ (Steinfeld (2012): Was rettet die moderne Seele?, S. 121). In der Realität sieht er hingegen, wie auch Bourdieu, vielmehr eine Ausnutzung durch die „politische[] Klasse“, S. 121. Pongratz/Voß (2001): Erwerbstätige als ‚Arbeitskraftunternehmer‘, S. 43. Eikels (2011): Nichtarbeitskämpfe, S. 23. Eikels (2011): Nichtarbeitskämpfe, S. 24, Herv. i.O. Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 83, vgl. auch S. 87-89 sowie Monika Shafi: „‚Mit der Wende kam der Appetit‘: Work, Food, and Gender in Terézia Mora’s Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: John Pustejovsky u. Jacqueline Vansant (Hg.): „Wenn sie das Wort Ich gebraucht.“ Festschrift für Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2013, S. 307-324: 313. Ausf. dazu Anikó Ramshorn-Bircsák: „Dialogizität und Kontinuität im Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent von Terézia Mora.“ In: Stephan Krause u. Friederike Partzsch (Hg.): „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen.“ Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90. Berlin: Frank & Timme 2012, S. 129-138. Bucheli (2009): Auf verlorenem Posten. Mora selbst nennt ihn einen „Schwejkschen, lächelnden Alles-ist-in-Ordnung-Trottel“. Mora im Gespräch mit Anja Hirsch u. Ulrich Rüdenauer: „‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. Interview mit Terézia Mora.“ In: Frankfurter Rundschau 23.09.2009. Auf: https://www.fr.de/kultur/ich-kein-theoretischermensch-11525323.html, zuletzt gesehen am 05.02.2015. Vgl. Günther A. Höfler: „Wunschmaschine Stadt. Bewusstseins-, Libido- und Datenströme in Peter Roseis Wien, Metropolis und Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: Marcin Gołaszewski u. Kalina Kupczynska (Hg.): Industriekulturen: Literatur, Kunst und Gesellschaft. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2012, S. 279-290: 288.
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Die Insignien des Businessman, Anzug, Leihwagen, Laptoptasche, Automatencappuccino mit extra Zucker, zeigt Kopp, ungeachtet dieser diversen Unzulänglichkeiten, in ihrer ganzen stereotypen Verfasstheit; doch die Realität entspricht nicht diesem Ideal. Er hält sich für „hocheffizient“595, schafft im Endeffekt aber nichts. Weder verkauft er etwas, noch kann er die Finanzen seines (chaotischen) Büros 596 in Ordnung halten. Er steckt im Gefälle zwischen der „glänzenden Oberfläche der urbanen Geschäftswelt auf der einen Seite, [und] de[m] tatsächliche[n] Zustand derjenigen, die sich darin bewegen, auf der anderen Seite“.597 Es handelt sich dabei nicht bloß um ein Missverhältnis von Ideal und Realität in Bezug auf Kopp, sondern in Bezug auf die Branche im Allgemeinen. In Kopp personifiziert sich lediglich, konstatiert Sigrid Löffler, der „Widerspruch zwischen dem grandiosen Selbstbild der ITBranche und der kläglichen Realität“.598 Nach außen hin sieht Kopp aus wie „ein eiliger Businessmann, für den Zeit nichts Geringeres als pures Geld ist. Der silberne Laptopkoffer schwang kraftvoll in seiner Hand.“ (TM 17). Doch eigentlich hat er es weder eilig, noch ist er ‚busy‘, noch besitzt er Schwung oder Kraft. Er lässt alles geschehen, bis ihm ein säumiger Kunde 40.000 in bar in einem kleinen Karton vor die Bürotür stellt (vgl. TM 44-49), ob Euro oder Dollar bleibt unklar, was die Unwirklichkeit dieses Betrags unterstreicht. Nun ist er gezwungen, aktiv zu werden, um den weiteren Umgang mit dem Geld zu klären; es wird zum „MacGuffin des Romans“599, stellt es doch einen handfesten Fakt im Kontext digitaler, immaterieller Vorgänge dar. Günther A. Höfler liest diesen Handlungsstrang im Sinne von Joseph Vogl und erkennt, dass Mora hier ein „Problem […] umkreist, das Vogl als ‚Ungewissheit darüber, was eine ökonomische Wirklichkeit überhaupt sei‘“600 bezeichnet. Der ‚Drift‘ des Darius Kopp Dennoch erscheinen die Geldscheine ohne wirklichen Realitätsbezug, diffus und unwirklich zu sein, was sich auch für Kopp behaupten lässt. Mit Sennett lässt er sich als ein ‚driftender‘ Mensch lesen, dessen flexibilisierte, mobilisierte und entgrenzte 595 Maike Albath: „Langsam reißt das Netz. Terézia Mora kümmert sich um den Einzigen Mann auf dem Kontinent.“ In: Frankfurter Rundschau 23.09.2009, S. 30-31: 30. 596 Über das Büro heißt es: „Als hätte nichts, kein Gegenstand, der in den letzten 2 Jahren in diese 12 Quadratmeter gelangt ist, diese jemals wieder verlassen. De facto hat kein Gegenstand, der in den letzten 2 Jahren in diese 12 Quadratmeter gelangt ist, diese jemals wieder verlassen“ (TM 20). 597 Albath (2009): Langsam reißt das Netz, S. 31. Zur Diskrepanz zwischen Ideal und Realität vgl. auch Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. 598 Sigrid Löffler: „Modernes Arbeitsnomadentum, Selbstverlust in der Fremde. Über Terézia Moras Romane und ihre Helden.“ In: Robert Bosch Stiftung (Hg.): Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache 3 (2010), S. 4-9: 9. Auf: http://www.bosch-stiftung.de/content/ language2/downloads/PM_100304_Chamisso_Magazin_2010.pdf, zuletzt gesehen am 20.02.2015. 599 Klaus Nüchtern: „Eine Fußmassage für den Businesskasper. Der Roman zur Wirtschaftskrise: Terésia (sic) Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: Falter 14.10.2009, S. 29. 600 Höfler (2012): Wunschmaschine Stadt, S. 287-288.
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Arbeitsumstände den Aufbau einer stabilen Identität unterminieren. 601 Er ist viel unterwegs, besitzt keinen festen beruflichen Rahmen, hat eine entsprechend fragmentierte Erwerbsbiografie sowie eine ungewisse berufliche Zukunft. Wenn ethische Werte durch die sich ständig verändernden Anforderungen des flexiblen Kapitalismus, der ohne Frage Kopps Arbeitsrealität prägt, in ihrer alltäglichen Anwendung unmöglich werden, so beschreibt es Sennett, beginnt der Mensch sowohl beruflich als auch privat zu ‚driften‘. Die daraus resultierende Haltlosigkeit findet ihren Anfang in den zunehmenden Arbeitsplatzwechseln im Rahmen atypischer wie prekärer Beschäftigungsvehältnisse und zeigt letztlich ihren Einfluss auf die emotionale Konstitution der Menschen. Mit Sennetts, auf Émile Durkheim rekurrierender Feststellung „identity concerns not so much what you do as where you belong“ 602 wird deutlich, dass Kopps Arbeitswelt, die „keine verläßlichen Orte […] und keine unentbehrlichen Positionen“603 mehr kennt, ihn entwurzelt, seine gesellschaftliche Einbettung verstellt und damit auch seine Identität zunehmend prekär werden lässt. 604 So konstatiert Heimburger, die „postfordistische Arbeitsorganisation“ fordere einen „veränderten Subjektbegriff“ ein: „Die feste Identität des […] Subjekts löst sich auf und macht permanenter ‚Modulation‘ (Deleuze) und einer unbestimmten Subjektivitätsform Platz, die sich variabel an die situativen Anforderungen anpassen muss.“ 605 Dieser Umstand schlägt sich im Roman zum einen auf der Handlungsebene anhand der fehlschlagenden Versuche Kopps nieder, mithilfe von wiederholten Richtungswechseln und Anpassungsleistungen die Kontrolle zu erlangen. Zum anderen manifestiert er sich in der dezentralen Erzählperspektive. 606 Kopps Drift findet dabei vor allem in der digitalen Welt statt. Es ist die Rahmenlosigkeit des world wide web, in der er sich regelmäßig verliert. Er ist „Lost in Links“ (TM 138), wie eine ausführlich zitierte Schilderung seines Arbeitsmorgens verdeutlicht: „Er begann, wie immer, ‚zu Hause‘. Welcome, Benvenuto, Välkomen, Sulamat datang... auf Ihrer Startseite, welche die Homepage Ihrer Firma ist, the Leader in End-to-End Broadband Wireless Networks, with more then 20 years of experience. WE MAKE YOUR WIFI VISIBLE. TURN TO US. (I will.) Irgendwelche News & Events im Hause? Wie im Vorschaufenster gut zu sehen, war die letzte Nachricht Wochen alt, Kopp hatte sie also schon einige 601 Vgl. Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 20. 602 Sennett (2006): The Culture of the New Capitalism, S. 72. 603 Heinz Bude in Körber-Stiftung (Hg.): „Wachsende Ungleichheiten – neue Spaltungen? Protokoll-Nr. 112/1998.“ (Protokollband des 112. Bergedorfer Gesprächskreises in Leipzig, im Neuen Rathaus 1998). Auf: http://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/bg/PDFs/ bnd_112_de.pdf, S. 11, zuletzt gesehen am 05.11.2015. 604 Vgl. zur prekären Identität in Moras Texten, allerdings nicht in dem hier analysierten Roman, Eszter Propszt: Be-Deutung und Identität. Zur Konstruktion der Identität in Werken von Agota Kristof und Terézia Mora. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 sowie vgl. Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 312. 605 Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 67. 606 So denkt er sich an einer Stelle des Romans auf drei unterschiedlichen ‚Kanälen‘ seines Bewusstseins drei unterschiedliche Erklärungen über die Tatsache aus, dass er in seiner Firma niemanden erreicht (vgl. TM 313-314).
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Male gelesen, er konnte trotzdem nicht anders, als auch diesmal draufzuklicken. (Als wäre es ein wahrhaftiges Fenster, das man öffnen, den Kopf durchstecken, und so wirklich mehr sehen könnte.) [...] Kopp wechselte zur Nachrichtenseite. Das ist die uns in Fleisch und Blut übergegangene Reihenfolge: Startseite, Nachrichtenseite, Businessnews, Börse. [...] Visionen: So werden die Menschen in Zukunft arbeiten. In dem Artikel stand nichts, was Kopp nicht schon gewusst hätte – ‚wann und wo sie wollen‘ – er las trotzdem eine Weile darin, bevor er auf einen weiterführenden Link klickte: 305 Berufe. Der große Gehaltsvergleich. Wie viel verdienen ITIngenieure im Vergleich zu Ärzten, Architekten, Juristen, Bänkern? Kommt drauf an. Finanzkrise erreicht Top-Verdiener in New York. Leere Plätze in Edelrestaurants. […] Wir können nur hoffen, dass der Börsenexperte recht behält, der behauptet: It’s a pause, not a recession. Die außerbörslichen Kurse – Das Parkett hält Wochenende, der Ticker niemals, 24/7 liegt etwas in der Luft! – deutet darauf hin, dass die Übernahme zweier Kreditbanken durch die Regierung für eine Verbesserung der Stimmungslage sorgen wird. Folgende Firmen könnten (trotzdem und unabhängig davon) bald übernommen werden. Ist aus unserer Branche jemand dabei? Diesmal nicht. 2x Autobauer, 1x Bank, 1x Energie, 1 Baumarkt, 2x Chemie, 1x Pharma. […] Hier hatte er genug, war bereit aufzuhören bzw. anzufangen, aber wie sagte ich weiter oben, lieber Freund: es passieren winzige Dinge, zum Beispiel erscheint in der rechten unteren Ecke des Bildschirms ein kleines Fenster mit der Auskunft: Sie haben neue Mail-Nachrichten erhalten. Minimiere Browser, öffne Mailbox. [...] Sie haben 1 neue Nachricht: Thomas Schatz hat sein Profil aktualisiert. [...] Schatz’ Selbstwerbung brachte Darius Kopp für mehrere Minuten aus seinem eigenen Leben heraus. Außerstande, etwas zu denken. [...] Während er mit der Maus ziellos die Seite hoch und runter scrollte. Schlieren. Schlieren. Schlieren. Helles Nichts auf hellem Grund. Meine einzige Lichtquelle. [...] Kopp schüttelte den Kopf, als wäre ihm Wasser ins Ohr geraten. Nimm dich zusammen, Mann. Er zog die Maus nach oben, noch einmal das Rattern, er schloss die Seite. Jetzt hatte er wieder die Nachrichtenseite vor sich, links den Artikel, rechts in einem Kasten die Börsencharts, er klickte drauf: ein Automatismus. Er sah weiterhin nichts, scrollte die Seite hinunter, dann wieder hinauf. Kaufen, Halten, Verkaufen hat ausgedient. Herrje, was für ein Idiot. Noch einmal die Maus nach oben, auch diese Seite geschlossen, jetzt war der Browser ganz zu, gut so, einmal verschnaufen bevor ... das Handy klingelte und Juri verfrüht (!) vor der Tür steht. Was hätte Kopp da noch tun können?“ (TM 133-138, Herv. i.O.)607
607 Zum digitalen ‚Sich-treiben-Lassen‘ Kopps vgl. auch TM 93 sowie TM 152, wo es heißt: „Öffne Startseite, siehe, sie hat sich in den letzten 12 Stunden nicht verändert, verlasse Startseite, öffne Suchmaschine. […] Damit verging die nächste Stunde. Anfangs war es gut. Es ist gut, wenn man zunächst Sachen herausfindet, die man bereits herausgefunden hat. Das vermittelt einem das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.“ Und auf TM 296 heißt es: „Welcome, Benvenuto, Välkomen. Kopp war für die konkrete Frage noch nicht bereit, er wechselte zu den Nachrichten. Ich habe heute noch gar keine gehabt. […] Er ließ sich ein wenig treiben, klickte weiterführende Links an, um auch dort nur die Headlines zu überfliegen. Er wollte nicht allzu viel Zeit verlieren, nur gerade so viel, bis er ein wenig regeniert war.“ Darin schlägt sich zum einen der Konsumaspekt von Kopps Surfverhalten nieder, zum anderen rückt es in den Bereich der Muße, verbindet Kopp doch mit dem zweckfreien ‚Sich-treiben-Lassen‘ den Wunsch, dadurch zu regenieren, welcher sich jedoch nicht bewahrheitet.
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Kopps Handlungshemmung zeichnet sich nicht in erster Linie durch ein Nichtstun, ein im- oder unterm-Bett-Liegen, ein gelähmt am-Schreibtisch-Sitzen aus, es ist vielmehr ein Nichttun. Er tut nicht das, was er eigentlich müsste, um seine Tätigkeit ‚Arbeit‘ nennen zu können. Er erliegt den Ablenkungen des Internets und sieht sich ihnen ausgeliefert, gleichsam ohnmächtig und damit von der Verantwortung befreit, wobei er von einem Thema zum anderen, von einem Gedanken zum anderen springt, in Folge dessen seine Wahrnehmung fragmentiert erscheint. Mit der Qualität der Internetverbindung steht und fällt Kopps Laune, fühlt er sich doch ohne eine Verbindung „[q]uasi abgetrennt vom ‚richtigen‘ Leben. Also: überflüssig.“ (TM 94), so sehr ist sie ihm schon ‚in Fleisch und Blut‘ übergegangen; die Synchronisation seines Handys mit dem WLAN bezeichnet er hingegen als „Von Gottes Licht befruchtet.“ (TM 94). Die digitale Welt wird zur neuen Religion, der ‚Jünger‘ verschmilzt mit seinem Smartphone zu einer hybriden Figur. Was auf diese Form der ‚Transformation‘ folgt, ist nichts Geringeres als die „undramatische Auflösung eines Menschen in einer ‚grenzenlosen Welt‘“.608 Mora selbst beschreibt als Ausgangspunkt für ihren Roman den Wunsch, ein literarisches Abbild der sich wandelnden Arbeitsrealität zu schaffen: „Was bedeutet Arbeit für uns? Wie arbeiten wir, wie werden wir arbeiten, und wie beeinflusst dies unsere Lebensweise? Ich wollte jemanden zeigen, der in einer prekären Lebens- und Arbeitssituation steckt. Flora stellt einen Typus der prekär Beschäftigten dar, Darius in seinem Bereich einen anderen.“609 Widmet Mora sich Phänomenen wie einer zunehmenden Prekarität und Flexibilisierung, so behandelt sie diese mit einem gewissen Augenzwinkern, ohne sie aber „lächerlich“610 zu machen. Melancholie 2.0 In dieser Haltlosigkeit sowie in der Hemmung, der ‚eigentlichen‘ Tätigkeit nachzugehen, aber auch in der Vereinzelung und dem Hang zur Verdrängung schlägt sich Kopps spezifische Melancholie nieder. Erklärt man seinen Zustand zu einer Melancholie 2.0, dann wird er zu einem „modernen Taugenichts im world wide web“.611 Die Haltung ist eine ähnliche wie bei Eichendorffs müßiggängerischem Verweigerer, nur das Drumherum, das Koordinatensystem, in das sich die Melancholie einfügt, hat sich verändert, namentlich zu einer durch „Globalisierung und Fortschrittseuphorie hysterisierte[n] Welt“.612 Kopp ist demnach nicht als individuelles Schicksal zu sehen, sondern er ist eine Art literarischer Wiedergänger. Aber anders als die zuvor beschriebenen Protagonisten ist Kopp kein bewusster Melancholiker. Seine Haltung offenbart vielmehr 608 Michael Stallknecht: „Man mag mich. Terézia Mora schickt eine Expedition ins Business-Center.“ In: Süddeutsche Zeitung 23.10.2009, S. 14. 609 Mora im Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau: „‚Wahrscheinlich bin ich eine Männerroman-Schreiberin‘. Über Geld und Liebe, über Gucky, den Mausbiber, und die Eigentümlichkeiten der IT-Welt. Ein Gespräch mit Terézia Mora zum Erscheinen ihres neuen Romans.“ In: Literaturen 9 (2009), S. 42-47: 45. 610 Auffermann (2009): Unser Mann im Netz. 611 Cornelia Staudacher: „Panik heißt dieser Zustand. Der einzige Mann auf dem Kontinent. Terézia Moras neuer Roman ist ein seismografisches Meisterwerk.“ In: Stuttgarter Zeitung 13.10.2009, S. VI. 612 Staudacher (2009): Panik heißt der Zustand.
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Gleichgültigkeit613 und fehlende Reflexivität bis hin zur Verdrängung.614 Seine eigentliche Einsamkeit reflektiert er nicht.615 Nach eigenen Angaben kennt er keine Langeweile616, zu empfänglich ist er für die hedonistischen Zerstreuungen der Konsumgesellschaft.617 Dass Kopp bewusst an der Welt leidet, ist eher die Ausnahme (vgl. TM 263), doch der Grund dafür ist nicht etwa im Positiven zu suchen; vielmehr ist es seine allumfassende Trägheit, die ihn auch auf gedanklicher Ebene blockiert.618 Die Langeweile und das Nichtstun, etwa von Poschmanns, Hartmanns, Duves und Genazinos Protagonisten, sind einer vorgetäuschten Beschäftigung gewichen, die das Wissen in sich trägt, immer und überall arbeiten zu können. So suggerieren die technischen Möglichkeiten Kopp, er könne jederzeit einen vollwertigen Arbeitstag ‚starten‘619, eine zentrale Ursache dafür, dass er letztlich nichts schafft. 613 Das „Darüber-hinweg-Sein“ ist sein Zustand, schreibt Natalya Arensberg: „Träge Gefühle. Terézia Mora und ein Durchschnittsmann.“ In: Neues Deutschland 04.03.2010, S. 17. In diesem Sinne ist Kopp eigentlich ein Phlegmatiker (vgl. TM 59). Die Melancholie wird im Roman zwar dezidiert genannt, aber nicht in direktem Zusammenhang mit Kopp (vgl. TM 50, 148, 301). 614 Vgl. zu seiner verdrängten Angst TM 73, 79 sowie Auffermann (2009): Unser Mann im Netz. 615 Vgl. Szilvia Gellai: „‚Helles Nichts auf hellem Grund.‘ Ein Netz-Held an Nicht-Orten in Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: Miriam Kanne (Hg.): Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung ‚Nicht-Orte‘. Münster: LIT 2013, S. 231-258: 254-255. Vgl. auch Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 324. 616 „Wenn ich mich langweile, gehe ich a) ins Internet, b) etwas essen oder trinken, c) zu einer kulturellen oder anderen Veranstaltung, d) gucke ich fern, und schon merke ich es nicht mehr.“ (TM 74). Vgl. zum Konsum als Ablenkung u.a. TM 215-219. 617 Vgl. ausf. Kegelmann (2012): Nomaden der Großstadt, S. 209-212 sowie zum Essen, das für Kopps oberflächliches Wohlbefinden eine zentrale Rolle spielt, vgl. Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 317-321. 618 Kopps Frau Flora ist dafür umso „leidensfähig[er]“ (Mora im Gespräch mit Hirsch/ Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘). In ihrer Person erzählt der Roman eine andere, jedoch ähnlich prekäre Erwerbsbiografie (vgl. Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 86). Sie ist, als gebürtige Ungarin, gelernte Übersetzerin, jobbt aber in der Gegenwart des Romans in einer Strandbar; am Ende bricht sie zusammen und verliert die Stelle. Zuvor war sie als „Assistentin eines so genannten unabhängigen Filmproduzenten“ (TM 60) tätig, der sie eher wie einen Hund denn wie einen Menschen behandelte. Daraufhin erleidet sie eine psychische Krise und unternimmt einen Selbstmordversuch (vgl. TM 60-64). Flora ist eine „highly sensitive person“ (TM 68); bei ihr folgt ein Zusammenbruch auf den nächsten (vgl. TM 72, 338-339, 345). Und obwohl Kopp sie liebt und er sich selbst als der „good guy“ (TM 28) bezeichnet, schenkt er Floras Leid in seiner unreflektierten Art nicht die nötige Aufmerksamkeit, weshalb sie ihn am Ende verlässt (vgl. TM 342-343). Man kann in ihr durchaus eine charakterliche Opponentin zum „Schwejkschen, lächelnden Alles-ist-in-Ordnung-Trottel“ Kopp erkennen, vgl. Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 86 sowie Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 312-313. 619 So heißt es u.a. an einer Stelle, „es war um 16 Uhr, bis Mitternacht könnte man noch einen vollen Arbeitstag hinlegen, das wird sogar erwartet, nur Proleten verlassen ihren
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Kopps Melancholie lässt sich bezeichnen als eine überaus zeitgemäße ‚Melancholie 2.0‘. Verlieren sich die Protagonisten von Gustafsson, Poschmann, Walser, Genazino, Hartmann und Duve in ihren Gedanken und ihrer Selbstreflexivität, so verliert Kopp sich im Internet. Aber trotz aller ‚digital begünstigter‘ Verdrängungsarbeit kennt auch Kopp das Gefühl der Lähmung, die ins Leere laufenden Energien, und in einem inneren Monolog unterzieht er es selbst einer Pathologisierung: „Herr Doktor, was soll ich machen, mindestens einmal am Tag habe ich so einen toten Moment. Manche sagen: Punkt. Egal, ob ich gerade etwas tue, das ich gerne tue oder das Gegenteil. Es scheint davon unabhängig zu sein. Immer kommt dieser Moment, wenn Kopp deutlich spürt: ein Weg ist zu Ende, ein Schwung hat sich verbraucht. Selbst wenn man noch entfernt ahnt, was man theoretisch als Nächstes tun könnte, ist gerade das nicht möglich. Um was auch immer zu tun, braucht man seinen Körper, und dieser fühlt sich im Moment an, als wöge er 6 Tonnen. 6 Tonnen schwer, Arme gelähmt, hänge ich in meinem perfekt gefederten Sessel.“ (TM 161, Herv. i.O.)
Doch was lähmt Kopp? Zum einen fühlt er sich der Übermacht der digitalen Reize ausgesetzt, was zu einer zeitlichen Fremdbestimmung führt, hat Kopp doch nicht die innere Handlungsmacht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er wird von einem Strudel sich zunehmend beschleunigender Ereignisse mitgerissen: „Ich habe so ein Theater um die Nutzbarkeit/Nicht-Nutzbarkeit dieses Tages gemacht, und dann... Was war geschehen? Kurz gesagt: er hatte den Laptop eingeschaltet, er hatte auch schon den Browser geöffnet, er war also nur noch einen einzigen Schritt weit davon entfernt, Punkt 1 abzuarbeiten – und dann? Ich weiß auch nicht. Es ist nicht dazu gekommen, so viel kann man sagen. So, wie die erste Hälfte des Tages zu viel Zeit beinhaltet, schien es in der zweiten Hälfte zu wenig davon zu geben. In dem Moment, da sie [Kopp und Flora] die Stadt erreicht hatten, nahm eine Beschleunigung ihren Lauf, gegen die Kopp ebenso wenig ankam wie zuvor gegen die aufgezwungene Langsamkeit.“ (TM 129-130)
Die fehlende Handlungsmacht oder auch Initiative ist es, die ihn u.a. vom Ideal des ‚unternehmerischen Selbst‘ unterscheidet. Den Anforderungen, sich selbst zu motivieren, den eigenen Arbeitsalltag zu strukturieren, mit den neuen Freiheiten einer entgrenzten Arbeit umzugehen, wird Kopp nicht gerecht. Er hängt vielmehr „einem älteren Prinzip von Kapitalismus nach“.620 Der „Postulierung unendlich vieler möglicher Wirklichkeiten“ stellt er eine „umfassende[] Handlungsunfähigkeit“ gegenüber.621 Im besten Sennett’schen Sinn wird er als eine „halt- und orientierungslose, fragmentierte Existenz, ein Luftwurzler“622 beschrieben. Es ist das „mantra of Arbeitsplatz um 17 Uhr“. Aber dies bleibt im Bereich der Theorie, denn, Kopp ist „so aufgeladen mit Demotiviertheit“, dass er lieber Cocktails trinken geht (TM 31). An einer späteren Stelle denkt er: „Noch nicht 4. Bis Mitternacht kann ich noch einen ganzen Arbeitstag... Nein, das lieber nicht.“, und er geht in eine Bar (TM 128 vgl. auch TM 186). 620 Mora im Gespräch mit Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. 621 Wiebke Porombka: „Lost in Links. Anzugträger. Virtuell aufgeweichte Wirklichkeit: Der letzte Mann auf dem Kontinent von Terézia Mora.“ In: Die Tageszeitung 22.08.2009, S. 24. 622 Löffler (2010): Modernes Arbeitsnomadentum, Selbstverlust in der Fremde, S. 8.
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choice“623 der New Economy, wie Monica Shafi konstatiert, das Kopp in geschäftige Erstarrung verfallen lässt. Dieses ‚Nicht-Ich‘, das Kopp darstellt, bringt eine Reihe von „NichtEreignissen“624 hervor; er verkauft nichts, nichts wird bezahlt, seine Arbeit stellt ein „komisches Vakuum“625 dar. Irene Prugger vermerkt, der Roman bilde ab, „[w]ie man ständig ins Leere arbeitet, weil die Arbeitsbereiche nicht mehr überschaubar sind, und wie ununterbrochen telefoniert, gechattet, konferiert, recherchiert und Wichtigkeit vorgetäuscht wird, um sich all das nicht eingestehen zu müssen.“ 626 Eine ähnliche Leere erfährt auch Hartmanns Beamter, allerdings versandet der Sinn nicht in den unendlichen Weiten des Aktenarchivs, sondern in „einer selbstzirkulären Virtuellbeschäftigung ohne Folgen und Sinngenerierung“. 627 Darüber hinaus ist es aber auch die Leere des „abstrakten Weltwirtschaftsraum[s]“628, der mit seinen ungeklärten Zuständigkeiten, sich beständig verändernden Hierarchien und kafkaesk anmutenden Strukturen seinen Protagonisten in der Schwebe lässt. Kopp selbst ist es, der sich diese Leere mitkreiert, indem er verdrängend und prokrastinierend agiert. Sein digitaler Drift ist eine Art Flucht vor der Realität, der Kontingenz sowie der Angst, unnütz oder überflüssig zu sein, in das Phlegma629, in den „Nicht-Ort“630 des Internets. War er im Jahr 2000 dabei, als die New Economy-Blase platzte, platzt am Ende seine „Blase der Informationstechnologie“631, in der Kopp „vor sich hinarbeitet“ und die sich als eine „riesige[] Illusionsblase“632 entpuppt. Er wird sich der Problematik zwar bewusst und fasst den Entschluss, „[s]ich gegen die (ständig, immer, überall lauernden) Unterbrechungen zu wehren. Dinge zu Ende [zu] bringen“ (TM 124) – aber auch dieser Entschluss bleibt theoretisch. Der Umstand, dass Kopp keine festen Arbeitszeiten hat, führt dazu, dass er folglich auch keinen Feierabend hat, und so geht Kopp noch im Halbschlaf seine to-doListe durch (vgl. TM 199).633 Da seine Ablenkungen aber kein „Glücks- sondern 623 Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 324. 624 Katrin Schuster: „Verloren im Kommunikationsbeschleuniger. Äusserst charmant verfranst: Térezia (sic) Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent.“ In: Berliner Zeitung 04.02.2010. Auf: https://www.berliner-zeitung.de/aeusserst-charmant-verfranst-térezia-moras-roman--der-einzige-mann-auf-dem-kontinent--verloren-im-kommunikati onsbeschleuniger-15173854, zuletzt gesehen am 20.01.2015. 625 Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. 626 Irene Prugger: „Wie man ins Leere arbeitet. In Terézia Moras neuem Roman passiert nicht viel, obwohl dauernd rege Geschäftigkeit herrscht.“ In: Wiener Zeitung 12.12.2009, S. 11. 627 Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 85. 628 Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 83. 629 Vgl. Staudacher (2009): Panik heißt dieser Zustand, S. VI. 630 Gellai (2013): ‚Helles Nichts auf hellem Grund‘, S. 255. 631 Zeyringer (2009): Kleiner Businessmann, was nun? 632 Christoph Schröder: „Dickes Reh. Erschütternd zeitgemäß: Terézia Moras Einziger Mann auf dem Kontinent.“ In: Der Tagesspiegel 16.08.2009, S. 32. 633 „Die Welt aus mergers and acquisition, aus Firmenfusionen und hire and fire, ist ein Pulverfass. Sie lässt, so beschreibt es Mora, keinen Raum für privates Glück.“, konstatiert Auffermann; und sie schreibt weiter: „In diesem gefräßigen Immer-erreichbar-, Immer-
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höchstens Zerstreuungspotential“634 besitzen, Kopp darüber wichtige Dinge unbearbeitet lässt und zusätzlich nie mit gutem Gewissen einen Feierabend genießen kann, ist eine Zuspitzung unabdingbar. Kopps Selbstbild des (theoretisch) leistungsfähigen Businessman beginnt zu bröckeln (vgl. TM 125), seine Energien versiegen zusehends, und letztlich verliert er, aufgrund einer Fusionierung, seinen Arbeitsplatz. Wenig traurig über diesen Verlust konstatiert Kopp: „Hauptsache, es geschieht endlich irgendwas. Alles ist besser als dieses Nichts. Nichts kann es nicht geben.“ (TM 317). In Verbindung mit einem Krankenhausaufenthalt seiner Mutter sowie Unstimmigkeiten in der Ehe führt die Kündigung trotzdem zu einem Zusammenbruch: Auf einige ‚Aussetzer‘ (vgl. TM 314, 318) folgen interessanterweise wiederum Phasen konzentrierter Arbeit, die es ihm erlauben, u.a. endlich einmal seine Reisekostenabrechnungen zu erstellen (vgl. TM 328, 347-348), ehe er in seinem Büro eine Art Nervenzusammenbruch erleidet.635 Passenderweise fällt er dabei in die von ihm in seinem Büro aufgestapelte Kartonwand, welche dabei über ihm zusammen stürzt (vgl. TM 359) und so zusätzlich die Fragilität von Kopps (Lebens-)Ordnung betont. Dass in diesem Chaos der kleine Karton mit den 40.000 verschwindet, lässt Kopp vollends hysterisch werden: „Rolling on the floor laughing. Im Wortsinne. So lange, bis du dich verschluckst, zu husten anfängst, bis du eine Atembeklemmung bekommst, verursacht durch enorme Schwierigkeiten beim Ausatmen“ (TM 364, Herv. i.O., vgl. bis S. 366). Durch seine Einweisung in eine Klinik (vgl. TM 366-367) wird er endgültig „überflüssig“636, was er im Grunde genommen zuvor auch schon war, haben doch alle seine Arbeitsversuche nichts erbracht. Aus der Kündigung geht er als doppelter Verlierer hervor, hatte er doch die Warnsignale ignoriert und der Firma weiter vertraut, wie Roman Bucheli konstatiert: „Der einzige Mann auf dem Kontinent kämpft von Anfang an auf verlorenem Posten. Der Zynismus der Konzernzentrale kalkuliert mit der Naivität des Einzelnen, der mit dem System so lange spielt, bis das System mit ihm zu spielen beginnt. Darius wähnte sich gewitzt genug, aber als Ingenieur und gerissener Verkäufer hätte er wissen müssen, dass gerade einer Firma, die Fidelis heisst und damit die Treue im Namen führt, nicht zu trauen ist. Nicht der Einzelne bestimmt die Regeln des Spiels, sondern das System, und dieses freilich folgt eigenen und gewiss nicht moralischen Massgaben. Darius’ Verfallsdatum ist abgelaufen.“637
Aber Kopp wäre nicht der ‚Schweijcksche[], lächelnde[] Alles-ist-in-OrdnungTrottel‘, als den Mora in beschreibt, wenn er nicht trotzdem noch Zuversicht aufbringen könnte (vgl. TM 377). Der Roman endet mit Kopps Entschluss, sich nun mehr um seine Ehefrau zu ‚kümmern‘; er tritt die Flucht ins Private an, ein Bereich, der angeblich noch weitestgehend frei ist von Tendenzen der Ökonomisierung. 638 Hier ist
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im-Dienst-Sein versiegen die Gefühle“, Auffermann (2009): Unser Mann im Netz, Herv. i.O. Prugger (2009): Wie man ins Leere arbeitet. Die Literaturkritik erkennt darin die Symptome eines Burnout, vgl. Schröder (2009): Dickes Reh und auch Hayer (2013): Poetiken der Globalisierung, S. 86. Mora im Gespräch mit Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. Bucheli (2009): Auf verlorenem Posten. Vgl. Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘.
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durchaus die kritische Nachfrage angebracht, ob Mora eine „Neue Bürgerlichkeit“ umschreibt, also „noch mehr Privates als Waffe gegen die Globalisierung“ 639 ins Feld führt. Es ist allerdings kein Ausweg, der sich hier andeutet; vielmehr wird ein Kreislauf beschrieben, handelt es sich doch um Kopps siebte Krise. Und es wird vermutlich auch nicht seine letzte sein.640 Es ist damit ein Roman zur Krise641, die just zu dem Zeitpunkt an Fahrt gewinnt, als der Ex-DDRler Kopp beginnt, sich an den westlichen Wohlfühl-Wohlstand zu gewöhnen, wozu Mora konstatiert: „Es wird langsam klar, ewig kann das so nicht weitergehen mit unserem Lebensstandard. Der wird sich eher auf einem niedrigeren Niveau einpendeln müssen.“642 Die literarische Darstellung reiht sich damit u.a. in die DegrowthDebatte ein, auch wenn der Protagonist zunächst an Karriere und Wachstum festhält643, ahnt er das Ausmaß der globalen Wirtschaftskrise doch noch nicht.644 Einen Ausweg für den gebeutelten Kopp zeigt der Roman nicht auf, bleibt er doch trotz seiner negativen Erfahrungen und seiner sozialistischen Sozialisation dem Kapitalismus verpflichtet (vgl. TM 57), und ist vielmehr ein „Welterhalter“ als ein „Weltverbesserer“.645 Sieht man ihn jedoch in einer Reihe mit Bartleby und Oblomov, wie Auffermann es tut646, dann bekommen seine Handlungshemmung und sein Prokrastinieren durchaus eine subversive Seite; eine Interpretation, die auch Sigrid Löffler teilt, wenn sie schreibt: „Ihr Darius Kopp ist im Kern unverwundbar und unverwüstlich. Seine Trägheit lässt sich verstehen als Akt des Widerstands und der charmanten Renitenz. Sie immunisiert ihn gegen die verschleißenden Ansprüche der Arbeitswelt. So gesehen, muss man sich Darius Kopp als glücklichen Menschen vorstellen.“647 639 Stallknecht (2009): Man mag mich, S. 14. Zur Liebe als Glücksmöglichkeit in Zeiten prekärer und entfremdeter Arbeitsumstände vgl. Sigbert Gebert: „Glück in der modernen Gesellschaft: Arbeit, Liebe, Melancholie.“ In: Internationale Zeitung für Philosophie und Psychosomatik 1 (2015). Auf: http://www.izpp.de/file-admin/user_upload/Ausgabe-12015/Gebert.pdf, zuletzt gesehen am 02.01.2016, S. 5-7. 640 Vgl. Mora im Gespräch mit Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. 641 Vgl. Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit, Nüchtern (2009): Eine Fußmassage für den Businesskasper und Bucheli (2009): Auf verlorenem Posten. Vgl. auch TM 296. Ebenso wie das Wort des ‚Prekariats‘ meidet Mora zwar den Begriff ‚Krise‘; unfraglich ist beides aber Bestandteil des Romans, vgl. Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. Elmar Krekeler schreibt in der Welt: „Es gibt Bücher, vor denen hat man regelrecht Angst. Man mag sie nicht zuschlagen, denn sie sind derart auf den Punkt geschrieben, so fürchterlich zeitnah, dass man glaubt, sie könnten sich nächstes Jahr, wenn man sie aufschlägt, von selbst wie von Zauberhand aktualisiert haben. Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent ist so ein Buch.“ Krekeler (2009): Ich bin ein guter Mitarbeiter. 642 Mora im Gespräch mit Klauhs (2009): Terézia Mora. 643 Vgl. Klauhs (2009): Terézia Mora. 644 Vgl. Essmann (2009): Tollkühn stürzt sie sich in unsere Krisenzeit. 645 Mora im Gespräch mit Hirsch/Rüdenauer (2009): ‚Ich bin kein theoretischer Mensch‘. 646 Auffermann (2009): Unser Mann im Netz. 647 Löffler (2010): Modernes Arbeitsnomadentum, Selbstverlust in der Fremde, S. 10. Vgl. auch Shafi (2013): ‚Mit der Wende kam der Appetit‘, S. 314.
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Ob man Kopp nun als eine Art ‚Gewinner‘ oder eher als ‚Verlierer‘ interpretiert – der Roman hinterlässt beim Leser so oder so durchaus „Unbehagen“ im Angesicht der Frage, „wohin wir mit unserer Nachwende- und Nach-New-EconomyGesellschaft denn steuern werden.“648 Denn diese ggenwärtige Welt hält ein fatales Paradoxon bereit: Das Problem ist nicht die Arbeit an sich, die laut Mora durchaus zu einer sinnstiftenden Instanz taugt und auch Züge einer anthropologischen Konstante trägt (so lässt Terézia Mora Flora sagen: „[B]ekanntlich macht erst die Arbeit den Menschen zu einem Menschen.“ TM 10); es ist vielmehr die Realität, die zu wenig solcher Arbeitsplätze bereithält.649 Vom ‚einzigen Mann‘ zum Ungeheuer: Der Weg aus der und in die Krise Mit Das Ungeheuer legte Mora im Jahre 2013 eine fast 700 Seiten starke Fortsetzung der Geschichte um Darius Kopp und seine Ehefrau Flora vor, die hoffnungsloser nicht ausfallen könnte. Diesmal steht nicht Kopps Verfassung im Mittelpunkt, sondern die Depression seiner Frau Flora. 650 Am Ende des ersten Romans flieht sie vor ihrem Leben in Berlin, ihrer Arbeitslosigkeit sowie ihrer Ehe und zieht sich in ein Haus im Wald zurück. Hier führt sie zeitweise ein erfülltes, nicht-entfremdetes Leben, beschränkt sich auf das Wesentliche, führt körperlich anstrengende Arbeiten im Garten aus und absolviert lange Märsche. Am Ende erhängt sie sich dennoch, kurz vor ihrem 38. Geburtstag, an einem Baum.651 Nach seiner eigenen Kündigung versucht Kopp, Flora einige Zeit in ihrer Eremitage Gesellschaft zu leisten, aber er kann das bloße ‚Herumliegen‘ sowie das Abgeschnittensein von jeglichem Datennetz nicht ertragen (vgl. u.a. TMU 208-209), und so kehrt er nach Berlin zurück. Er räumt sein Büro leer, legt dabei ungeahnte Arbeitsamkeit an den Tag und findet auch die 40.000 in bar wieder, die er anlegt (vgl. u.a. TMU 211-217). Er bewirbt sich um einen neuen Job, wobei er wiederholt versucht, dem Idealbild eines motivierten unternehmerischen Ichs gerecht zu werden – „Darius Kopp Dipl-Ing. (TU) mit gesträubtem Gefieder, zu ihren Diensten. Simpatico, simpatico, simpatico. Flexibel, mobil, motiviert.“ (TMU 484) – und erhält eine Anstellung in Bayern. Sein Plan ist, Berlin zu verlassen und mit Flora neu anzufangen, doch sie folgt ihm nicht (vgl. TMU 485-493). So pendelt Kopp einige Zeit zwischen seiner Arbeitstelle, der gemeinsamen Wohnung in Berlin und dem Haus im Wald. „Arbeit und Schlaf, Arbeit, Arbeitsweg und Schlaf. That’s my life.“ (TMU 42), und da es 648 Porombka (2009): Lost in Links. 649 So hatte es Mora während einer Lesung an der Universität Paderborn am 25.10.2010 beschrieben. 650 Vgl. Mora im Gespräch mit Volker Hage: „Oberwelt und Unterwelt. Terézia Moras Roman Das Ungeheuer beschreibt einen Mann auf der Suche nach dem wahren Wesen seiner Frau.“ In: Der Spiegel 07.10.2013, S. 122. 651 Vgl. Terézia Mora: Das Ungeheuer. München: Luchterhand 52013, S. 39-40. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle TMU und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Für die bessere Lesbarkeit des laufenden Textes werden Anmerkungen mit mehr als drei Verweisen in den Fußnotenapparat verlegt. Für die bessere Lesbarkeit des laufenden Textes werden Anmerkungen mit mehr als drei Verweisen in den Fußnotenapparat verlegt.
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sich dabei um eine übermäßig anstrengende Situation handelt, kehrt er irgendwann einfach nicht mehr zur Arbeit zurück (vgl. TMU 54-55). Der Kopp des Ungeheuers ist nicht mehr der ‚Alles-in-Ordnung-Trottel‘ des ersten Romans. Er ist sozusagen auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Nachdem er seine Anstellung in Bayern indirekt kündigt, fängt kein neuer Kreislauf mit einem nächsten Job und einer nächsten Kündigung an. Floras Selbstmord verändert (selbstverständlich) alles und Kopp verlässt ganze zehn Monate nicht einmal die Wohnung, bis sein bester Freund Juri ihn dazu zwingt und ihm ein Bewerbungsgespräch organisiert. In diesem ‚versagt‘ Kopp jedoch, und er tritt schließlich aus eigener Entscheidung einen ‚Road-Trip‘ durch sein ehemaliges „Vertriebsgebiet“ (TMU 293) an. Er reist damit zwar topografisch gesehen an seine ehemaligen ‚Arbeitsorte‘, entfernt sich aber gleichzeitig zunehmend von seiner früheren Tätigkeit; der Roman stellt demnach seinen (wenn auch vorläufigen) Ausstieg aus dem Erwerbsleben dar, auch wenn deutlich wird, dass es sich nur um eine Übergangsphase handeln kann. Zunächst ohne und dann mit Floras Asche in der Urne reist er von Berlin über Ungarn, Kroatien, Albanien, Makedonien, Bulgarien, die Türkei, Armenien und Georgien bis nach Athen. Die Reise folgt keinem Plan, Kopp lässt sich einfach treiben und von seinen Reisebekanntschaften leiten, übernimmt dabei aber zunehmend die Initiative. Darüber hinaus legt er seine Internet- und Handyfixierung nach und nach ab (vgl. u.a. TMU 390, 578, 568).652 War sein Dasein als Businessman zuvor entscheidender Bestandteil seines Selbstbildes – „ein fröhlicher Business-Boy, der glaubte, es geschafft zu haben, ein williger Söldner der jüngsten Spielformen des Kapitalismus, also immer bereit, die bestehenden Verhältnisse gegen jedweden Vorwurf zu verteidigen: Wer sich nicht arrangiert, lebt verkehrt.“653, charakterisiert Hubert Spiegel ihn –, so hat er für sich erkannt, dass die Arbeit keine entsprechend heilende Kraft enthält: „Was das Gerettetwerden durch Tätigsein anbelangt, hat sich Darius Kopps Weltbild seit dem Verlust seines letzten Jobs und insbesondere im Laufe seines Jahres in Klausur modifiziert. Denn entweder wirst du gerettet durch Tätigsein oder durch Nicht-Tätigsein, durch Zufall oder durch Planung oder aber auch durch gar nichts“ (TMU 22). Er durchschaut seine eigene Sozialisierung (vgl. TMU 327), verliert seine „Arbeitslust“ (TMU 662). Sein altes Leben rekapituliert und entlarvt er als „Illusion“ (TMU 46). 654 652 Rezensent Elmar Krekeler vermerkt zu diesem Wechsel von einem digitalen zu einem realen ‚Leben‘: „Was damals vor allem in seinem Kopf ablief, stürzt jetzt ja aus der Welt auf ihn ein.“ Elmar Krekeler: „Epos an Orpheus. Jener Strich, der den Tod vom Leben trennt: Terézia Mora schickt ihren trauernden Helden Darius Kopp zu den Pforten der Hölle.“ In: Die Welt Literaturbeilage Nr. 37, 14.11.2013, S. 6. 653 Hubert Spiegel: „Der einsamste Mann auf dem Kontinent. Erst ein komischer, dann ein tragischer Held. Kann das gutgehen? Terézia Mora setzt mit Das Ungeheuer ihr großes Romanprojekt um den IT-Spezialisten Darius Kopp fort.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.09 2013, S. 33. 654 So heißt es: „Im Jahr 2000 führten wir zwei voll ausgestattete Leben in einer ebensolchen Stadt in einer ebensolchen Ära, und ich kam mir, ich schäme mich nicht, das zuzugeben, unangreifbar vor.“ (TMU 46). Und zu seiner Tätigkeit für Fidelis Wireless vermerkt er: „Der einzige Mann auf dem Kontinent. Sales engineer Darius Kopp. Seit 2 Jahren mutterseelenallein in einem 12 qm großen Arbeitskabuff in der ersten Etage eines sogenannten Businesscenters.“ (TMU 205).
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Seine neue Tätigkeit in „Vollzeit“ ist die Trauerarbeit: „Wenn jemand wie Juri so etwas verstehen könnte. Wie man Vollzeit trauern kann. Dass zu trauern nicht ein sich Gehenlassen, gar ein Nichtstun ist, sondern, im Gegenteil: ein Akt. Aktiv. Eine Aktivität.“ (TMU 57), so beschreibt Kopp sein ‚neues‘ Leben. Gerade deswegen tritt in Das Ungeheuer Kopps Arbeitsrealität in den Hintergrund. Dafür rückt seine Ehe, die für ihn immer eine Art Hafen in dem beruflichen Auf und Ab darstellte, in den Fokus sowie auch Floras Rolle in dieser Ehe, über die Kopp vermerkt: „[D]enn wir waren eine Einheit, zwei Rädchen, die ineinandergriffen. Obwohl wir im Grunde nie mehr in etwas anderem waren als in Krise, Zusammenbruch, Erholung, Zusammenbruch, Erholung, manchmal parallel zur Börse und manchmal nicht. Ich habe meine Jobs gezählt, ihre nicht, ihre sind ungezählt, aber sagen wir, es waren 10. 10 Jahre, 10 Jobs – nein, das geht nicht auf, es waren mindestens zwei pro Jahr. Also 20 Jobs, 20 körperlich schwere, geistig unter- und emotionell überfordernde Dienste, eine Fußsoldatin in der Armee der sogenannten Hilfskräfte […].“ (TMU 47-48, Herv. i.O.)
Im Verlaufe des Romans wird jedoch deutlich, dass kaum ein gemeinsames Eheleben stattgefunden hat (vgl. TMU 361-364). Ist Kopp eine hedonistische Persönlichkeit, die gerne ausgeht und die Zerstreuung wie den Genuss sucht, so verlässt Flora die Wohnung eigentlich nur zum Arbeiten, fühlt sich in der Großstadt grundsätzlich unwohl und ist von Ängsten und Panikattacken begleitet (vgl. u.a. TMU 380-381). Als Folge von Floras Selbstmord erhält auch Kopp die Diagnose „mittelschwere Depression“ (TMU 61). Diese Art der Pathologisierung seines Leidens lehnt er indes mit dem Gedanken „Ich bin nicht depressiv, ich trauere“ (TMU 61) ab. 655 So sehr Kopp aber auch trauert – und der Roman, seine Reise, ist eine einzige Trauerarbeit – so wird doch klar, dass er wenig bis nichts über Flora wusste, ihre wiederkehrende 655 „Damit greift er, greift Terézia Mora nebenhin die aktuelle Debatte darüber auf, dass in der durchtherapierten Gesellschaft die Trauerzeit immer kürzer geworden ist.“, schreibt der Rezensent Karl-Markus Gauß: „Ein Stammgast des Unglücks. Mit ihrem Roman Das Ungeheuer gehört Terézia Mora zu den Favoriten für den Deutschen Buchpreis 2013: Sie schickt darin den Helden auf eine Reise durch den Balkan – und konfrontiert ihn mit dem Tagebuch seiner Frau.“ In: Süddeutsche Zeitung 21.11.2013, S. 17. Sah das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders im Jahr 1980 noch ein Jahr als vertretbar an, so galten in der Version von 1994 nur noch zwei Monate, und aktuell nur noch wenige Wochen als ‚normal‘ (vgl. Elisabeth von Thadden: „Ist dieser Junge nicht krank? Der Psychiater Allen Frances fordert: Wir dürfen aus normalen Menschen keine Patienten machen.“ In: Die Zeit 18.04.2013, S. 55). Ermöglicht wird diese Entwicklung durch das Verständnis von Trauer als ‚Trauerarbeit‘, welches ja, im Sinne Freuds, eigentlich den psychologischen Prozess freilegen möchte, das sie darüber hinaus aber auch in einen ökonomischen Kontext stellt (vgl. Burkhard Liebsch: Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 92-97). Liest man die sich entsprechend unter dem Einfluss von Effizienz- und Rationalisierungsbestrebungen verkürzende Trauerarbeit vor dem Hintergrund der Freud’schen Ausführungen, so muss aktuell jede Trauer melancholisch werden, da sie prinzipiell unabgeschlossen bleiben muss.
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Zusammenbrüche als alltägliche „Routine“ hinnahm (TMU 385), und er ihr erst posthum durch ihr Tagebuch – bestehend aus einer Ansammlung von auf ungarisch verfassten Computerdateien, die Kopp von einer Studentin übersetzen lässt und die er parallel zu seiner Reise liest – wirklich nahe kommt. Es ergibt sich folglich eine Trennung des Romans in Kopps Reise mit Rückblenden in die gemeinsame Zeit und Floras Tagebuch, die im Roman auch rein grafisch durch eine Trennung der Buchseiten mittels eines horizontalen Strichs umgesetzt ist: „Oben die Road-Novel, während Darius Kopp die Urne mit der Asche seiner Frau nach Südosteuropa bringt, natürlich planlos, und einige Abenteuer erlebt und sich an früher erinnert. Unten die verzweifelten Versuche von Flora, möglichst lange am Leben zu bleiben, Zeugnis eines zähen, aussichtslosen Kampfes. Sie erzählt, zählt auf, übersetzt, exzerpiert, interessiert sich für ihre Krankheit, aber wird ihr nicht Herr.“ 656 Für Kopp wird sein ‚RoadTrip‘ so zu einer „doppelte[n] Reise“657 in unbekanntes Terrain. Floras Tagebuch ist nicht nur „ein Mosaik autobiografischer und medizinischer Skizzen zur Depression.“658 Es handelt sich auch um die skizzierte Erwerbsbiografie einer Migrantin, die es trotz zahlreicher Versuche nicht schafft, beruflich Fuß zu fassen. Sie berichtet von ausbeutenden Jobs, ist aber – anders als Kopp – realistisch und weiß, dass sie keine andere Wahl hat, als solche Arbeiten zu verrichten (vgl. TMU 88-89, 148-149). So hat sie in einem Immobilienbüro gearbeitet und wurde von den Kollegen gemobbt (vgl. TMU 294-300); sie war als scheinselbstständige Bürokraft tätig, ein körperlich so überfordernder Job, dass sie unter extremen Schmerzen bis zur Todesangst litt (vgl. TMU 308-311, 313-318); sie berichtet in ihrem Tagebuch von der aus dem ersten Teil bekannten menschenunwürdigen Anstellung bei einem Filmproduzenten (vgl. TMU 358-359); sie wurde als Kellnerin in einer Bar ebenfalls von den Kolleginnen gemobbt; und als Aushilfe beim Bäcker wurde sie Opfer eines rassistischen Kunden (vgl. TMU 587-592). Ihre Erwerbsbiografie ist umfangreich und bringt entsprechend viele Erfahrungen hervor (vgl. TMU 600-602). Dennoch findet sie keine enstprechende Anstellung. Wiederholt versucht sie es in ihrem Wunschberuf als Übersetzerin oder Dolmetscherin, allerdings reicht ihre Muttersprachlichkeit nicht als Qualifikation, und sie scheitert aufgrund des fehlenden Abschlusses.659 Das ständige Auf und Ab der Bewerbungen und Anstellungen sowie die ständige Anforderung, als Hochsensible in einem auf Konkurrenz und Funktionieren ausgerichteten Arbeitsumfeld bestehen zu müssen, hat gravierende körperliche wie psychische Auswirkungen (vgl. u.a. TMU 207). Sie leidet unter Ängsten und 656 Judith von Sternburg: „Terézia Mora: Das Ungeheuer. Berliner Autorin erhält Deutschen Buchpreis.“ In: Berliner Zeitung 07.10.2013. Auf: https://www.berliner-zeitung.de/kultur/ literatur/terézia-mora---das-ungeheuer--berliner-autorin-erhaelt-deutschen-buchpreis—3262 358, zuletzt gesehen am 12.03.2015. 657 Andreas Pittler: „Terézia Mora. Das Ungeheuer. Der Weg ist das Ziel – oder auch nicht.“ In: Culturmag 18.12.2013. Auf: http://culturmag.de/rubriken/buecher/terzia-mora-das-un geheuer/77948, zuletzt gesehen am 12.03.2015. 658 Jury des deutschen Buchpreises: „Terézia Mora erhält den Deutschen Buchpreis 2013 für ihren Roman Das Ungeheuer.“ 07.10.2013. Auf: http://www.deutscher-buchpreis.de/ news/eintrag/terezia-mora-erhaelt-den-deutschen-buchpreis-2013-fuer-ihren-roman-dasungeheuer/, zuletzt gesehen am 12.03.2015. 659 Vgl. TMU 305-306, 313, 585-587.
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Fremdheitsgefühlen (vgl. u.a. TMU 90), merkt sie doch wieder, dass sie ‚anders‘ ist, nicht gesellig, Smalltalk ablehnend, schweigsam, aber auch ehrlich (vgl. TMU 297299). Floras, manchmal durch Kleinigkeiten verursachte, Zusammenbrüche häufen sich660, und sie versucht, sich das Leben zu nehmen (vgl. TMU 194). Während eines Klinikaufenthaltes erhält sie die Diagnose einer nicht heilbaren „bipolare[n] affektive[n] Psychose.“ (TMU 610). Ihr Tagebuch dient ihr u.a. dazu, diese Erkrankung zu beschreiben; sie exzerpiert aus Fachliteratur (vgl. u.a. TMU 222-251, 436-441, 615616), sucht nach einem möglichen Sinn der Depression661; sie folgt dem Krankheitsbild aber auch in die Vergangenheit und landet damit unweigerlich bei der Melancholie und sogar bei der Acedia, die sie als zwei Bezeichnungen ein und desselben, oftmals bei ihr kritisierten Verhaltens ansieht und über die sie vermerkt: „Melancholieverbot und Überhöhung der Melancholie, beide Stränge sind im Abendland gleich stark. (Über andere Erdkreise weiß ich nichts. Schande oder nicht, so ist es.) Generalverdacht gegen die Traurige vs. die Annahme, wer traurig aussieht: denkt und wer denkt, ist kreativ, (Nein.)“ (TMU 281-282, Herv. i.O.). Die Gründe von Floras Melancholie-Depression sind vielfältig. Da wäre zum einen ihre schwierige Kindheit mit einer psychisch kranken, abwesenden Mutter und einer hartherzigen Großmutter zu nennen, in der ihr Leben als Verstoßene und Außenseiterin ihren Anfang nimmt; hinzu kommen ihre Probleme, in Deutschland Fuß zu fassen und nicht zuletzt ihre hauptsächlich negativen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt. Flora selbst beschreibt es wie folgt: „Diese [ihre psychische Situation] ist geprägt von drei ähnlich aussehenden, jedoch voneinander zu unterscheidenden Phänomenen: 1. die Veranlagung, am Leben zu leiden (typus melancholicus) | 2. einer posttraumatischen Belastungsstörung | 3. einer auch ohne einen Auslöser auftretenden chemischen Reaktion“ (TMU 438). Sie möchte in allen drei Punkten, gegen alle drei Phänomene „Tätigwerden“, sieht aber „Grenzen“ (TMU 439): „Gegen Melancholie kann man anarbeiten. Die Depression kannst du nur überleben.“ (TMU 440). Flora zitiert die mittelalterliche wie frühneuzeitliche Ansicht, mit einer vita activa sei der Melancholie schon beizukommen, und sie verneint diese Ansicht: „Sei tätig, dann kann dich der Dämon, der die Melancholie bringt, nicht einholen? Wer stehen bleibt, wer sich der Versenkung übergibt, fällt sofort in die Geiselhaft der Melancholie? Ohne Kontemplation keine Melancholie? Glaube ich nicht.“ (TMU 282-293). Wie diese beiden Zitate zeigen, weisen Floras Notizen, so reflektiert sie 660 Vgl. TMU 96-97, 383-390 (aufgrund eines überfordernden Supermarktbesuchs), TMU 578-589 (aufgrund eines Nachbarn, der sie im Fahrstuhl nicht anlächelt) und vgl. zur Therapie in Folge eines Nervenzusammenbruchs vgl. TMU 607-624. 661 So fragt Flora an einer Stelle: „Kurt Schneider: psychische Krankheiten sind nichts anderes als Übersteigerungsformen von sinnvollen, evolutionär bedingten psychischen Anlagen in uns. Pflicht – Zwangsneurose | Furcht – Angstneurose | Übermut – Manie. Dass Depressionen irgendeine positive Funktion haben müssen, sonst hätte sie die Evolution längst ausgerottet?“ (TMU 248-249); um später zu konstatieren, die Deprimierten würden den Gegenpart zu den „dominierenden […] Elementen“ innerhalb der Gesellschaft darstellen, die beide benötigt: „Wo jeder dominieren will, kämpfen wir, bis alle tot sind. Wo jeder deprimiert, also passiv ist, sterben wir ebenfalls. […] Das ist die Funktion meines Erduldens. Nicht nur die eigene, sondern auch die Funktionsfähigkeit der Gruppe aufrechtzuerhalten.“ (TMU 302-303).
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auch sind, durchaus Widersprüche auf. Mal vermerkt sie, man könne gegen die Melancholie ‚anarbeiten‘, mal lehnt sie die vita activa als ‚Heilmittel‘ ab. Doch ihr eigenes Leiden ist vielmehr die Depression als die Melancholie, wie sie selbst konstatiert: „Kein Auslöser. Aus dem Nichts, ohne Vorwarnung. […] Nicht das Flaubertsche ennui. Kein Lebensekel, kein Überdruss. Keine Melancholie, wenn alles schmerzlich wird. Sondern NICHTS. […] Das Nichts, aus dem nichts wird. Und warum lebst du dann noch? Aus Trotz, aus purem Trotz? Ach wo. Das wäre schließlich auch ETWAS. […] Selbst der Tod ist, soweit er freiwillig ist, eine Tat. Ich töte nicht und werde nicht getötet, weil ich nicht bin.“ (TMU 548549, Herv. i.O.)
An anderer Stelle erinnert sie an Carlyle und offenbart dabei ihren Kampfgeist, gegen die Erkrankung anzugehen: „‚Arbeit ist das beste Mittel gegen Verzweiflung.‘ […] Tätig sein. Tätigkeit vs. Tat. Die Tat ist mir nicht möglich. Also Tätigkeit. Mehr als nichts. Jeder ist ein Held, der nicht aufgibt. […] Wir geben nicht auf, wir machen weiter.“ (TMU 284, Herv. i.O.). Da ihr die Tat, sprich: der Selbstmord, nicht möglich ist, versucht sie es weiter mit ‚Tätig sein‘, hat also zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung, gegen ihre Dämonen anarbeiten zu können, noch nicht aufgegeben. Dies gelingt ihr am ehesten in der Hütte im Wald, wo sie ausreichend Abstand von der Leistungs- sowie Konsumgesellschaft hat und körperlich anstrengende Arbeiten verrichtet. Tatsächlich hilft ihr dieser archaische Lebensstil besser als alle Heilungsversuche zuvor.662 Für diese kurze Phase wirkt sie ausgeglichen und nicht-entfremdet; am Ende verliert sie den Kampf dennoch und entscheidet sich für den Suizid. Flora ist folglich ein typus melancolicus. Sie bringt eine melancholische Disposition – welche sich in den Begriffen wie ‚Hypersensibilität‘ und ‚Depressionsveranlagung‘ wiederfindet – mit. Zu einer ausgewachsenen Depression wird diese allerdings erst durch die Fremdheitserfahrungen in Deutschland und die Ablehnung durch den Arbeitsmarkt.663 Seit ihrer Kindheit lebt sie eine „prekäre Existenz“664 und findet auch im weiteren Leben keinen festen Ort, keinen Halt; vielmehr fühlt sie sich von der Gesellschaft abgelehnt: „[A]lkoholiker kannst du sein, gewalttätig kannst tu sein | 662 So hatte sie es ohne viel Erfolg u.a. mit Medikamenten, Therapien, Meditation, Glücklisten und minutiösen Tagesplänen versucht (vgl. TMU 125-127, 232-238, 408-435) und sich Roland Barthes Satz „Jemanden zu lieben ist ein hinreichender Grund, seine Existenz als sinnvoll zu empfinden.“ (TMU 326-327) herausgeschrieben, doch auch Kopps Liebe war nicht ausreichend, um ihren psychischen Zustand zu verbessern. Vielmehr macht Das Ungeheuer deutlich, wie Kopp aktiv zur Verschlechterung von Floras Depression beigetragen hat, worauf noch zurückzukommen ist. 663 „Dass sie ihre Fähigkeiten nicht in ihr Arbeitsleben einbringen kann, befördert ihre schwere Depression.“, Jan Bruck: „Terézia Mora: Das Beste aus zwei Welten.“ 08.10. 2013. Auf: http://www.dw.de/terézia-mora-das-beste-aus-zwei-welten/a-17144998, zuletzt gesehen am 13.03.2015. 664 Frauke Meyer-Gosau: „Terézia Moras Reise an den Ort der Toten. Das Ungeheuer. Terézia Mora hat für Das Ungeheuer den deutschen Buchpreis 2013 erhalten. Im Roman schickt sie ihren Helden auf eine Reise ohne Wiederkehr.“ In: Cicero 08.10.2013. Auf: http://www.cicero.de/salon/terezia-mora-das-ungeheuer-buchrezension/56055, zuletzt gesehen am 12.03.2015.
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sensibel darfst du nicht sein | wer sensibel ist, soll krepieren“ (TMU 257, vgl. auch 368). Aufgrund ihrer Depression wird sie als Patientin abgestempelt, was sie wiederum unbrauchbar für den Arbeitsmarkt macht (vgl. TMU 601-602). Steht der Arbeitsmarkt ihr überwiegend ablehnend gegenüber, so internalisiert sie diese Ablehnung mit der Zeit und fühlt sich selbst unzulänglich, da sie „[u]ngeeignete Berufe“ (TMU 614-615) ausübt. Sie kommt zu dem Schluss, dass es mehr Existenzmöglichkeiten abseits der Arbeits- und Leistungsgesellschaft geben sollte: „‚Alternativ‘ sollte ein jedes Leben sein. Es sollte Alternativen geben. Es sollte möglich sein, dass du, wenn du das eine nicht tun kannst (einer bezahlten Tätigkeit nachgehen), du etwas anderes tun kannst, das a) dein Überleben sichert und b) deine Würde erhält. […] Du kannst dich für die Gemeinschaft nützlich machen und trotzdem am Leben leiden. Aber wenigstens hast du dich nützlich gemacht. Das ist mehr als Nichts. Es ist Etwas.“ (TMU 632). Da dieses Etwas aber nicht in Sicht ist, entscheidet sie sich für die „endgültige Lösung“ (TMU 633), den Tod. Kopp sieht in Floras Selbstmord den Entschluss, „nicht mehr wertbar zu sein“, in einer Welt, die nur zwei Wege zulässt: „Wertbar bleiben oder nicht.“ (TMU 659). Das titelgebende Ungeheuer ist zum einen Floras Depression, zum anderen gerieren sich aber auch die Menschen, die sie mobben und/oder ausbeuten, als solche 665, und am Ende des Romans wird klar, dass auch Kopp ihr zu einem Ungeheuer wird. 666 Das Tagebuch macht deutlich, dass er nicht der liebende Ehemann ist, als der er (zumindest vordergründig) noch in Der einzige Mann auf dem Kontinent erscheint. Nicht nur nimmt er ihre Zusammenbrüche als gegeben hin, verbringt viel Zeit außer Haus und nimmt ihre Ängste nicht ernst. Er akzeptiert ihre Entscheidung nicht, in der Hütte im Wald leben zu wollen, fordert indirekt von ihr, zu funktionieren, in ihr altes Leben, in welchem sie unglücklich ist und er glücklich, zurückzukehren, und am Ende versucht er sogar, sie zu vergewaltigen und überschreitet damit vollends ihre körperliche wie geistige Souveränität (vgl. TMU 674-676). Und in dieser versuchten Vergewaltigung gipfelt Floras Lebenserfahrung der Ohnmacht und der Demütigung. Der Roman schließt mit einem offenen Ende: Kopp gerät in einen Mob auf den Straßen von Athen und befindet sich damit an dem Ort, der die europäische Dimension der (Wirtschafts-)Krise wohl am Besten symbolisiert, womit das individuelle Schicksal Kopps endgültig mit gesamtgesellschaftlichen wie ökonomischen Kontexten verwoben wird. Und auch wenn die Geschichte damit nicht abgeschlossen ist – Floras Urne hat ihr endgültiges Ziel noch nicht erreicht und Kopps weiteres Vorgehen ist unbekannt – so hatte die Reise dennoch eine kathartische Funktion, und der ehemalige ‚Drifter‘ Kopp hat gelernt, Entscheidungen zu treffen. Doch die Handlung weist über dieses individuelle Moment hinaus. Wie bereits Der einzige Mann auf dem Kontinent, so lässt sich auch Das Ungeheuer als ‚Gegenwartsroman‘ bezeichnen. Die Jury des Deutschen Buchpreises spricht von einem „zeitdiagnostische[n]
665 Vgl. Hage (2013): Oberwelt und Unterwelt. 666 Vgl. Judith von Sternburg: „Flora ist tot. Terézia Mora erzählt die Geschichte von Darius Kopp weiter.“ In: Frankfurter Rundschau 02.09.2013, S. 21. Vgl. auch Eva Pfister: „Darius Kopp im Porzellanladen. In ihrem neuen Roman, der mit dem Deutschen Buchpreis 2013 ausgezeichnet wurde, erzählt Terézia Mora von der Verzweiflung einer Frau aus der Sicht des verständnislosen Ehemanns.“ In: WochenZeitung 24.10.2013, S. 21.
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Roman“667. Doch wie lautet die Diagnose? „Wenn ich mich heute in meiner Welt umschaue sehe ich existenzielle Unsicherheit“668, konstatiert Mora, und Flora wird zur Personifizierung dieser Unsicherheit, sie ist das ‚Kind unserer Zeit‘. So antwortet die Autorin auf die Frage, wer zeitgemäßer sei, „der angepasste Vernetzungsexperte Darius Kopp oder dessen schwerstdepressive Ehefrau“669: „Auf den ersten Blick scheint er derjenige zu sein, der direkt dem Jetzt entsprungen ist: der unempfindliche IT-Ingenieur, der wirkt und sich verhält, als hätte er es geschafft, als wäre er integriert in seinen Arbeitszusammenhang – tatsächlich aber im Luftleeren lebt. Einen anderen, existenzielleren Aspekt solch prekären Lebens repräsentiert aber auch Flora, seine Frau, die sich nie anschmiegt an Unhaltbarkeiten, immer wieder rausfliegt aus den Assistenzjobs, mit denen sie weiterzukommen hofft – dadurch aber nicht stärker, sondern zusehends bröckeliger wird und sich zuletzt das Leben nimmt.“670
Floras Zeugnis der Depression verbleibt nicht auf der Ebene des persönlichen Tagebuchs; vielmehr kommt darin ein „pathologische[r] Gesellschaftszustand[]“ zum „Ausdruck“, „in dem Selbstoptimierung, Selbstüberforderung, Selbstausbeutung und Selbsthass ineinander übergehen.“671 Da Flora ein menschliches Tätigsein, ein Weg aus ihrer Prekarität, nicht ermöglicht wird, bleibt ihr nur die ‚Tat‘. Anders als ‚wertbar‘ kann ein Mensch in der Arbeitsgesellschaft nicht sein.
667 Jury des deutschen Buchpreises (2013): Terézia Mora erhält den Deutschen Buchpreis 2013 für ihren Roman Das Ungeheuer. 668 Mora im Gespräch mit Bruck (2013): Terézia Mora. 669 Claudia Mäder: „‚Die Sprache kann mehr als ich‘. Interview mit der Schriftstellerin Terézia Mora.“ In: Neue Zürcher Zeitung 02.05.2014. Auf: http://www.nzz.ch/aktuell/ feuilleton/literatur-und-kunst/die-sprache-kann-mehr-als-ich-1.18294689, zuletzt gesehen am 12.03.2015. 670 Mora im Gespräch mit Mäder (2014): ‚Die Sprache kann mehr als ich‘. 671 Christoph Schröder: „Terézia Moras neuer Roman Das Ungeheuer. Sie schafft den brutalstmöglichen Zugriff auf die Gegenwart: Terézia Mora mit ihrem grandiosen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman Das Ungeheuer.“ In: Tagesspiegel 14.09.2013. Auf: http://www.tagesspiegel.de/kultur/shortlist-deutscher-buchpreis-terezia-moras-neuerroman-das-ungeheuer/8790440.html, zuletzt gesehen am 12.03.2015. Der Roman beinhaltet neben Flora noch weitere schwerstdepressive bzw. Burnout-Patienten, darunter einen Psychiater, der versucht, sich samt eines Autos verschrotten zu lassen (vgl. TMU 654-663). Zur Allgegenwart von psychisch Erkrankten vgl. auch TMU 395-408.
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ENNUI UND ENTFREMDUNG
3.3.1 Zwischen Ennui und Destruktion: Frédéric Beigbeders 39,90 (2000) Anders als glücklich | ein Kind von Traurigkeit Leere bewegt mich | zwischen Wunsch und Wirklichkeit | ich nehm’s persönlich | und bring es zu Papier das macht mich ehrlich | und vielleicht hilft es mir ich will die Wahrheit sagen | darf ich ganz offen sein? | ich will Prozac haben || ich hab Angst davor wie’s weitergeht und vorm Alleinesein […] || Ihr habt die Welt längst aufgegeben | für Medien, Märkte, Merchandise ich will nicht in Eurer Logik leben | nicht so als ob ich einverstanden wär [...] Blumfeld/Anders als glücklich (2001)672
Einen ähnlich autobiografischen Roman wie Karen Duves Taxi hat bereits im Jahr 2000 der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder vorgelegt: 39,90.673 So war Beigbeder, wie sein literarisches alter ego Octave Parango, selbst viele Jahre als Werber einer angesehenen Agentur tätig, konsumierte exzessiv Kokain und landete im Gefängnis, wo er die ‚gewonnene‘ Zeit zum Schreiben nutzte. 674 Octave ist zu Beginn des Romans Anfang 30 und erfolgreicher sowie gut verdienender Texter bei der Agentur Rossery & Witchcraft (wohinter sich Beigbeders ehemaliger Arbeitgeber Young & Rubicam verbirgt).675 Er erscheint auf den ersten Blick wie ein typischer
672 Den Hinweis auf den Song habe ich Mark Siemons Rezension entnommen, Mark Siemons: „Das lebende T-Shirt. Böse neue Markenwelt: Der Antikapitalismus wird unironisch.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.06.2001, S. 49. 673 Zum Titel, im Original 99 Francs, bemerkt Beigbeder selbst: „Ich bekämpfe die Werbung mit ihren eigenen Mitteln. Mein Buch ist eine Ware. Der Preis ist der Titel: 99 Francs. Darüber steht mein Name. Soll heißen: Ich bin käuflich, eine Hure. Ich halte der Branche den Spiegel vor.“ Beigbeder im Gespräch mit Michael Kläsgen: „‚Ein Teufelskreis‘. Der Werbeexperte Frédéric Beigbeder rechnet mit seiner Branche ab.“ In: Die Zeit 19.10.2001, k.A. 674 Vgl. Beigbeder im Gespräch mit Clara Ott: „Ich bin traurig, deprimiert und hässlich.‘ Mit dem französischen Schriftsteller Frédéric Beigbeder kann man über vieles reden. Auch über die wirklich großen Themen: Liebe, Drogen, Eitelkeit und das Internet.“ In: Die Zeit 26.11.2010. Auf: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-11/interview-beigbeder, zuletzt gesehen am 10.01.2015. 675 Vgl. Katharina Doebler: „Ich entscheide heute, was Sie morgen wollen. Frédéric Beigbeder schreibt einen Werbetext für sich selbst, nennt ihn Roman und hat Erfolg.“ In: Die Zeit 13.06.2001. Auf: http://www.zeit.de/2001/25/Ich_entscheide_heute_was_Sie_mor gen_wollen, zuletzt gesehen am 20.01.2015.
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‚Gewinner-Typ‘; oder als „der absolut flexible Mensch.“676 Er ist ein ausgeprägter Hedonist, aber ebenso „einsam und todunglücklich“677. Der Roman gliedert sich in sechs Abschnitte, überschrieben mit den sechs Personalpronomen. Erzähler ist dabei immer Octave. In den wechselnden Personalpronomen manifestiert sich die Suche nach einem stabilen ‚Ich‘ und die zunehmende Entfremdung von dem, was das ‚Ich‘ mal war oder sein sollte. Diese Form der spätmodernen Ich-Dissoziation wird bei Octave durch den Drogenkonsum zusätzlich verschärft. Das Hauptthema des in Frankreich überaus erfolgreichen wie umstrittenen Romans ist der Konsum, wie eines der vielen vorangestellten Motti deutlich macht: „Wir werden bedrängt von den Wünschen, die man über uns verhängt.“ 678, zitiert Beigbeder den französischen Sänger Alain Souhon, und Octave selbst formuliert diese Diagnose wie folgt: „‚Du wirst schon noch reden‘, sagte man früher zu Menschen unter der Folter, heute heißt es: ‚Du wirst schon noch wollen.‘ Das Leiden ist größer, weil zehrender.“ (FB 48). Der moderne Mensch wird folglich vom Konsum bedrängt, und auch der Leser ist vor diesen Bedrängungen nicht gefeit, ist der Roman doch durchsetzt von transkribierten Werbespots und der Auflistung von Markennamen (vgl. u.a. 102-105)679, die seine Warennatur offenbaren, woraus sich wiederum ein Paradoxon ergibt: Der Roman ist nämlich nichts anderes als eine harsche Konsumkritik. Er entwirft einen Zustand des Ennui als Reaktion auf den Überdruss, und er beschreibt – in der Tradition der Ennui-Texte ab der Moderne, wie sie Chateaubriand oder Baudelaire verfassten – stehend, eine „deregulierte[], im narzisstischen
676 Ulf Poschardt: „Beigbeder sieht sich als gesunder Junkie. Frédéric Beigbeder arbeitete selbst als Kreativer in der Werbebranche, dann stieg er aus: Über seine Erfahrungen mit Topmodels, Drogen und Konzernchefs hat er den Roman 39,90 verfasst, der nun verfilmt wurde. Welt Online erzählt Beigbeder, warum er das sexy Leben liebt, aber trotzdem auf seine kleine Tochter hört.“ In: Die Welt 29.07.2008. Auf: http://www. welt.de/kultur/artic le2256765/Beigbeder-sieht-sich-als-gesunder-Junkie.html, zuletzt gesehen am 10.01. 2015. 677 Beigbeder im Gespräch mit Holger Christmann: „Frédéric Beigbeder: Werbung verdummt die Menschheit. Ein französischer Werbemacher hat einen provozierenden Schlüsselroman über seine Branche geschrieben. Jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.05.2001. Auf: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/interview-frederic-beigbeder-werbung-verdummt-die-menschheit-1234-90. html, zuletzt gesehen am 20.02.2015. 678 Frédéric Beigbeder: 39,90. Übers. v. Brigitte Grosse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 22002 [2001], S. 7. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle FB und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 679 Dieses brand-dropping hatte zehn Jahre zuvor bereits Bret Easton Ellis in seinem Roman American Psycho perfektioniert. Vgl. zu Marken und Werbung bei Beigbeder Julia Bertschik: „Neue Popliteratur International. Zur globalen Vernetzung popkulturellen Wissens.“ In: Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010, S. 241-257: 244. Zu Beigbeder und Ellis vgl. auch meinen Aufsatz, Vöing (2013): Zwischen Affirmation und Leerstellen, S. 373-377.
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Wahn befindliche[] und in der Einsamkeit versinkende[] Welt“. 680 Entsprechend negativ ist Octaves Einstellung seiner Arbeit gegenüber. Ist seine Haltung zunächst noch mehr oder minder gleichgültig bzw. phlegmatisch 681, wächst mit der Zeit und der wachsenden Berufserfahrung Octaves Zynismus: „Ich bin Werber: ja, ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. [...] Ich fixe Sie mit Neuheiten an, die den Vorzug haben, dass sie nicht neu bleiben. [...] Ihr Leiden dopt den Handel. In unserem Jargon nennen wir das die ‚Post-Shopping-Frustration‘. Sie müssen unbedingt ein bestimmtes Produkt haben, und kaum dass Sie es haben, brauchen Sie schon das nächste. Der Hedonismus ist kein Humanismus, sondern Cashflow.“ (FB 15)
Er könnte seinen Zynismus nicht weiter treiben, als mit der wiederholten Analogie von gegenwärtiger Werbebranche und nationalsozialistischer Propaganda. 682 Konsumieren und liquidieren liegen für ihn nicht allzu weit auseinander (vgl. FB 28). Zur kreativen Arbeit Octaves Ablehnung seiner Arbeit entspringt seinem Empfinden, sie sei moralisch fragwürdig. Sie stellt hohe Anforderungen an ihn und zwingt ihm ein nichtauthentisches Verhalten auf: „Mein offizieller Titel ist Texter/Konzeptioner; so heißen Schreibkundige heute. Ich erfinde Drehbücher für 30-Sekunden-Spots und Slogans für Plakate. Ich sage ‚Slogans‘, damit Sie mich verstehen, aber Sie sollten wissen, dass ‚Slogan‘ total has been ist. Heute heißt es ‚Claim‘. [...] Ich arbeite an acht Etats: ein französisches Parfüm, eine altmodische Modemarke, eine italienische Pasta, ein synthetischer Süßstoff, ein Mobiltelefon, ein fettfreies Joghurt, ein löslicher Kaffee und ein Sodawasser mit Orangengeschmack. Meine Tage sind ein endloses Zapping zwischen diesen acht Bränden, die ich zu löschen habe. Ständig muss ich mich mit den unterschiedlichen Problemen herumschlagen. Ich bin ein Chamäleon auf Kokain.“ (FB 42-43)
In der Formulierung ‚Zapping‘ klingt bereits Octaves Passivität an. Er ‚springt‘ nicht etwa von einem ‚Brand‘ resp. Projekt zum nächsten; er zappt, wie ein Fernsehzuschauer auf seiner heimischen Couch. Und so schädlich und überbezahlt er die Tätigkeit der ‚Kreativen‘ auch beschreibt, so ist es dennoch eine ebenso anspruchsvolle Arbeit. Dreh- und Angelpunkt von Erfolg und Misserfolg ist die eigene Idee, welche jedoch nach ihrer schwer zu beeinflussenden Schöpfung aus der individuellen Kreativität eine Vielzahl von Instanzen, eine Vielzahl von Schreibtischen passieren muss, und diesen Weg selten unbeschadet übersteht (vgl. FB 41) – eine Erfahrung, von der 680 Thomas Laux: „Der Weltverschmutzer. Frédéric Beigbeder seziert die Werbebranche.“ In: Neue Zürcher Zeitung 22.05.2001, k.A. 681 „Anfangs habe ich nicht viel erwartet. Ich befand mich im Inneren einer Maschine, die alles zermalmte, was ihr in die Quere kam, und ich habe nie behauptet, dass es mir gelingen würde, ungeschoren davon zu kommen.“ (FB 26). 682 Goebbels bezeichnet er etwa als „große[n] Texter: ‚DEUTSCHLAND ÜBER ALLES‘, EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER‘, ‚ARBEIT MACHT FREI‘“ (FB 28, Herv. i.O.); Werbung stellt für ihn den 3. Weltkrieg dar, vgl. FB 97 und dazu Beigbeder im Gespräch mit JobstUlrich Brand: „Im Dritten Weltkrieg.“ In: Focus Magazin 07.05.2001, k.A.
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auch Hartmanns Beamter berichtet. Octave beschreibt es seinem Vorgesetzten gegenüber wie folgt: „‚Hör mal, Marc, du weißt doch, dass ALLE Kreativen irgendwann durchdrehen. Die Arbeit ist einfach zu frustrierend, alles wird einem um die Ohren gehauen, und es wird immer schlimmer. Der Mülleimer ist unser bester Kunde. Für den malochen wir wie die Wahnsinnigen!“ (FB 52, Herv. i.O.). Sinn oder Unsinn, effizientes oder ‚nutzloses‘ Arbeiten liegt folglich nicht mehr in den eigenen Händen, sondern ist Resultat eines Prozesses, der wenig beeinflussbar ist. Galt ehemals der kreative-künstlerische Lebensstil noch als „Gegenentwurf“683 zur ‚normalen‘ Erwerbstätigkeit, so wird er in das postfordistische Arbeitskonzept inkorporiert und zu einem neuen ‚Ideal‘ erhoben. David Florida beschreibt die wachsende Bedeutung der Kreativität, eher affirmativ als kritisch, sogar als eine der stärksten Kräfte des Wandels, kommt ihr, verstanden als individuelle Befähigung, doch eine überaus positive Bewertung zu, mit der sich jeder gerne ‚schmückt‘. 684 Der entsprechend idealisierten kreativen Arbeit eilt voraus, sie sei frei und unabhängig, den jeweiligen Kompetenzen und Neigungen des ‚Ausführenden‘ folgend. Die in der New Economy angestrebte Entgrenzung von Arbeit und Kunst kann als Versuch gelesen werden, Entfremdungserscheinungen entgegenzuwirken.685 683 Karen Rosenberg: „Work of Art – Art as Work: Reparatur.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 410-418: 413-414. 684 Vgl. David Florida in seinem Vorwort zur überarbeiteten Version seines Buchs The Rise of the Creative Class. Revisited. New York, NY: Basic Books 2014 [2002], S. VII-VIII. 685 Vgl. Anja Lemke u. Alexander Weinstock: „Einleitung.“ In: Dies. (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn: Fink 2014, S. 9-22: 12. Die Arbeit in, nach individuellen Kompetenzen zugeordneten Projekten, die Möglichkeit, sich gestaltend und selbstverantwortlich einzubringen, der Imperativ, sich in seiner Arbeit selbst zu verwirklichen – all dies ist in diesen Kontext einzuordnen (vgl. Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 11 sowie Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 527). An dieser Stelle kann auf die umfassende Arbeit von Luc Boltanski u. Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UKV 2003 [1999] nur hingewiesen werden, die u.a. anhand von Managementliteratur ab den 1990er Jahren das Erstarken dieses „Künstlerarbeitsnarrativs“ (Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 513) nachzeichnen. Etwas pointierter ist die Darstellung von Hannes Krämer: Die Praxis der Kreativität. Eine Ethnografie kreativer Arbeit. Bielefeld: transcript 2014. Vgl. auch Ulrich Bröckling: „Über Kreativität. Ein Brainstorming.“, Andreas Reckwitz: „Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse: Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativsubjekts.“ sowie Diedrich Diederichsen: „Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung.“ Alle drei in: Christoph Menke u. Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos 2012 [2010], S. 89-97, 98-117 und 118-128. Ein überaus interessantes Projekt zum Verhältnis von Arbeit und Kunst war die Ausstellung „Tätig Sein“, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni 2004 in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst stattgefunden hat (vgl. dazu den Tagungsband: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Tätig Sein. Berlin: NGBK 2004). Ist diese Form der Entgrenzung durchaus als Ideal zu sehen, so manifestiert dieses Ideal sich u.a. in den Berufen der Unternehmensberater, der Programmierer, Werber, Social-Media-Manager, Designer und generell der sogenannten ‚Wissensarbeiter‘, vgl. Florida (2014): The Rise of the Creative Class, S. VIII.
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Im Zentrum der im Roman beschriebenen Arbeit steht ein großer Auftrag für die Firma Madone (hinter der sich Danone ‚versteckt‘, vgl. FB 20-26). Es handelt sich um einen Werbespot, der letztlich auch entsteht, nachdem die ursprüngliche Idee zahlreiche Instanzen und Veränderungen durchlaufen hat. Octave sieht sich dem Zufall, der Kontingenz ohnmächtig ausgeliefert: die nächste Tour, die nächste Idee könnte der große Wurf werden und kann so über Erfolg und Misserfolg eines ganzen Tages/Monats/Jahres entscheiden.686 Die Arbeit daran führt zum physischen wie psychischen Verfall Octaves. Er magert ab, sein Drogenkonsum steigt, er verliert die Kontrolle über sich: „‚Nein, nein, ich will aufhören! Ich bin am Krepieren, begreifst du das nicht? Schau, wie ich abgenommen habe!‘ ‚Wie Kate Moss auszusehen war noch nie ein Kündigungsgrund.‘“ (FB 102). In Folge dieser Zuspitzung ist es sein größter Wunsch, den Job zu ‚verlieren‘, wobei zu kündigen keine Option darstellt, „[w]eil es“, wie Octave argumentiert „die große Frage des Jahrhunderts […], in unserer von Arbeitslosigkeit terrorisierten und um den Kult der Arbeit organisierten Welt [ist]: ‚WARUM HAST DU GEKÜNDIGT?‘“ (FB 52, Herv. i.O.). Hierin bildet sich der Stellenwert der Prekaritätsdebatte in Frankreich deutlich ab. Zwar handelt es sich um ein Land mit ausgeprägten Hierarchien, was die ‚flexible‘ Verteilung von gesellschaftlichen Positionen eher eindämmt, womit die soziale Mobilität ebenfalls begrenzt ist.687 Die neuen Formen der Arbeitsorganisation und die daraus erwachsende Prekarität spielen dennoch eine große Rolle, wie die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Robert Castel zeigen.688 Ebenso werden die sozialen Pathologien zu einem zentralen Thema, war es doch eine Selbstmordwelle in französischen Firmen, welche die Folgen der neuen Arbeitsorganisation ins Zentrum der Aufmerksamkeit brachte und in vielen anderen Ländern dazu führte, sich der Problematik anzunehmen. 689 Der einzige Ausweg ist folglich, gekündigt zu werden, wozu Octave denkt: „Du jubilierst innerlich: Einen der größten Werbeetats der Agentur zu verlieren ist der Königsweg zur Erhöhrung deines Gebets, ins Paradies der bezahlten Faulheit einzugehen und eine lange, von der Gemeinschaft finanzierte Arbeitslosigkeit zu genießen.“ (FB 84-85). Der berufliche Misserfolg wird hier zum persönlichen Erfolg, wobei ein Leben in Arbeitslosigkeit, finanziert durch Sozialleistungen zum Sehnsuchtsort wird. Das Verfassen eines Romans mit dem Titel 39,90 ist Octaves letzter und letztlich auch erfolgreicher Versuch, die Kündigung von Rossery & Witchcraft zu erhalten (vgl. FB 13). Octave erhofft damit, einem Unglück zu entkommen, das er selbst nicht versteht: „Mit den ganzen Dingen, die dir gehören, und dem angenehmen Leben, das du führst, müsstest du zwangsweise glücklich sein. Warum bist du es nicht? Warum steckst du ständig deinen Rüssel in den Schnee? Wie kannst du unglücklich sein mit zwei Millionen Euro auf deinem Bankkonto?“ (FB 105-106). 686 Journalist Peter Kümmel konstatiert, dass die Entwicklungen der Branche selbst für Insider kaum vorherzusehen seien, weshalb die Werber entweder zu „Zyniker[n]“ oder zu „Esoteriker[n] werden würden, Peter Kümmel: „Ein Krieg um Ideen.“ In: Die Zeit 06.06.2013, S. 52-53: 53. 687 Vgl. Heidenreich (1997): Arbeit und Management, S. 315-316. 688 Zu Frankreich vgl. auch Heidenreich (1997): Arbeit und Management, S. 315-317. 689 Vgl. Frank Gerbert: „‚Es kann auch gut sein, sich zu fügen.‘ Der Sozialpsychologe Dieter Frey hält die Burn-out-Epidemie für ein Resultat zunehmender Arbeitsbelastung – aber auch wachsender Ansprüche.“ In: Focus 10 (2010), S. 102-103.
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Der Ennui des Erfolgs Octave ist ein gequälter Mensch: Er ist einsam (vgl. u.a. FB 125) und leidet unter einem Sinndefizit sowie unter Ängsten – vor allem vor dem eigenen Tod, der aufgrund seines Lebensstils auch nicht unrealistisch ist (vgl. u.a. FB 13). Der Mahnruf Memento mori! begleitet ihn.690 All dies steht in enger Verbindung zu seiner Arbeit, die er als entfremdet, sinnlos und destruktiv empfindet: „Es ist immer das Gleiche, jedes Mal, jeden Tag, alle Tage --- Tausend Kapitulationen täglich, mit eingezogenem Schwanz im Tergalanzug. Tausend Mal ‚feige Erleichterung‘. Tausend läppische Meetings, die dem Triumph des verächtlich kalkulierten Schwachsinns über das schlichte, naive Streben nach menschlichem Fortschritt den Weg bereiten.“ (FB 35). All diese Faktoren führen letztlich zu einer Zuspitzung der Umstände: Octaves Drogenkonsum, welcher u.a. die Steigerung seiner Leistungsfähigkeit zum Ziel hat, endet ihm Entzug (vgl. FB 115); als sein Vorgesetzter einen vermeintlichen Selbstmord begeht, schnupft Octave im Drogenwahn dessen Asche (vgl. FB 165). Dabei ergibt sich ein Paradoxon, welches seinen Zynismus nur noch mehr nährt: Je wahnsinniger sich Octave verhält, desto erfolgreicher ist er, und letztlich erhält er sogar den Posten seines verstorbenen Chefs. Und obwohl Octave das Gewerbe ablehnt, lässt seine Hybris nicht lange auf sich warten. Einen seiner durchschnittlichen Arbeitstage beschreibt er wie folgt: „Charlie und ich sitzen auf Plastikstühlen mit kiloweise Junk-Food als einziger Gesellschaft. Es ist immer derselbe Zirkus beim Dreh: Man parkt die Kreativen in einer Ecke [..]. Wir fühlen uns übergangen, überflüssig [...]. Wir tun so, als machte uns das alles nichts aus, denn wenn wir erst CDs der französischen Rosse [die Werbeagentur] sind, werden wir tausendmal Gelegenheit haben, erbarmungslos Rache zu üben. Wir werden reich und ungerecht sein. Wir werden unsere früheren Freunde feuern. Wir werden sämtliche Angestellten mit Zuckerbrot und Peitsche terrorisieren. Wir werden die Einfälle unserer Untergebenen uns zuschreiben. [...] Wir werden größenwahnsinnig und schamlos sein. [...] Wir werden die Drahtzieher der modernen Gesellschaft sein.“ (FB 178)
Octave inszeniert sich hier als kreatives enfant terrible, das in einem Umfeld des ‚anything goes‘ den Halt verliert. Seine Reaktion ist ein ausgeprägter Ennui im Angesicht eines ‚Zuviel‘ an Freiheit, Möglichkeiten und auch Macht. Im Ennui, wie die ihr verwandtschaftlich verbundene Melancholie ein sehr facettenreicher Begriff691, geht die Langeweile eine enge Bindung mit der Melancholie ein.692 Kann Letztgenannte einen jeden treffen, so hängt dem Erstgenannten eine aristokratische Attitüde an.693 Lambrecht sieht in ihnen sowie zusätzlich im Über690 „Schon mal darüber nachgedacht, meine Damen, dass alle Leute, die ihr seht, sämtliche Trottel, an denen ihr hier vorbeifahrt, dass all diese Menschen, absolut alle, ohne Ausnahme sterben werden?“, fragt Octave seine Kollegen (FB 123). 691 Vgl. Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 216-217. Ausf. vgl. Bürger (1997): Der Ursprung der ästhetischen Moderne aus dem ennui, Mehnert (1978): Melancholie und Inspiration sowie Völker (1975): Langeweile, S. 44, 66-67, 85, 121-123, 135146. 692 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 115. 693 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 206.
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druss drei Formen einer „Melancholie[] der Nicht-Erfüllung“.694 Ist das Spektrum der Langeweile durchaus weit gefasst, so ist der Ennui als dessen Zuspitzung bis zum Lebensüberdruss oder -ekel zu verstehen, wie wir ihn u.a. bei Robert Burton, und prominenter noch bei Charles Baudelaire, Gustave Flaubert oder Jean-Paul Sartre nachlesen können.695 Der zeitliche Aspekt der ‚langen Weile‘ verliert hier deutlich an Bedeutung gegenüber einer existentiellen Dimension.696 Darüber hinaus leidet Octave unter einer tiefsitzenden Müdigkeit – auf die Frage eines Kollegen: „‚Sag mal, Octave...bist du irgendwie müde in letzter Zeit?‘“, antwortet er: „‚Seit ich auf der Welt bin.‘“ (FB 38). Im ‚Kampf‘ mit den Anforderungen der Konsumgesellschaft verliert er, ganz im Sinne der Baudrillard’schen Fatigue, auch seine Lebensenergie. Hier zeigt sich ein aufschlussreiches Paradoxon: Die Arbeit der New Economy wartet mit „bisher nicht dagewesenen Entfaltungsspielräumen“697 auf; und dennoch ist sie überwiegend kein Ort der authentischen, sinnvollen sowie Selbstverwirklichung ermöglichenden Tätigkeit. Beschreibt Marx die Arbeit noch als eine Tätigkeit, in der man sich „verneint“ […], keine freie physische und geistige Energie entwickelt“698, leidet also der arbeitende Mensch, dem marxistischen Entfremdungskonzept zufolge, an starren, ausbeutenden und entmenschlichten Arbeitsumständen. Nun, in Zeiten des Postfordismus, verzweifelt er angeblich an dem Gegenteil: Begriffe wie ‚Flexibilität‘, ‚Freiheit‘ und ‚Kreativität‘ bestimmen den Arbeitsbegriff der New Economy – Dinge, die Marx seinerzeit implizit gefordert hat –, doch, anstatt zu einem idealen Zustand menschlicher Entfaltung zu führen, erscheint das Subjekt überfordert. Es entspinnt sich ein Konflikt zwischen imaginierter Selbstentfaltung und realer Selbstentfremdung. In einem Umfeld von kreativer und selbstbestimmter Arbeit darf es keine Entfremdung geben, doch scheint diese nun tiefere Schichten durchdrungen zu haben. Fühlte sich der proletarische Arbeiter, Marx folgend, nur „außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich“699, so ist das spätmoderne Individuum, für das Octave exemplarisch einsteht, überall außer und damit nie bei sich; es ‚veräußert‘ sich durch die Anforderungen der Arbeitsgesellschaft. Letztlich kulminiert die Entwicklung, welche in Bezug auf die Karriere ein Aufwärts, in Bezug auf Octaves Konstitution hingegen ein Abwärts beschreibt, während eines beruflichen Aufenthaltes in Miami in einem Ausbruch von Zerstörungswut und Perversion. Octave und sein Kollege Charlie begeben sich im Drogenrausch auf die „Suche nach einem Repräsentanten des weltweiten Aktionariats.“ (FB 187), um ihn für die arbeitslos gewordenen ‚Globalisierungsopfer‘ büßen zu lassen, so zumindest ihre Logik. Der Roman rekurriert damit auf die gesellschaftlichen Einflüsse des Finanzkapitalismus, der – ausgehend von den Deregulierungsbestrebungen ab den 1970er Jahren – derart an Bedeutung gewinnt, dass Klaus Dörre sogar von „finanz-
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Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 238. Vgl. Burton (2005): Anatomy of Melancholy Bd. 1, S. 389 sowie vgl. S. 59, Fn. 149. Vgl. Völker (1975): Langeweile, S. 138. Baethge (1999): Subjektivität als Ideologie, S. 37-38. Karl Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte.“ In: Ders. u. Friedrich Engels: Werke Ergänzungsbd. 1. Berlin: Dietz 21973 [1844], S. 465-588: 514. 699 Marx (1973): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 514.
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kapitalistische[r] Landnahme“700 spricht. Diese beinhaltet u.a. den wachsenden Einfluss von externen Aktionären auf firmeninterne Dynamiken 701 sowie vom beschleunigten Spekulationsverhalten an den Börsen der Welt auf die Entscheidungen von Firmenvorständen. Eine solche ‚externe Aktionärin‘, die lediglich von der Rendite ihrer Anteile profitiert, ohne die Konsequenzen der gewinnmaximierenden Entscheidungen auf Führungsebene zu verantworten, wird zum Opfer von Octave und seinem Kollegen. Sie brechen in ein Haus ein, überfallen eine alte Frau, knebeln sie. In einem Monolog beschreibt Charlie, wie die Aktionäre Kündigungen verursachen, die wiederum die Leben von Millionen (ihnen unbekannter) Unschuldiger zerstören. Sein Vater war einer davon und hat sich umgebracht (vgl. FB 192). Schließlich verprügelt und missbraucht Charlie die alte Frau, woraufhin sie verstirbt (vgl. FB 193). Und selbst wenn Charlie der Haupttäter ist, so zeigt auch Octave keine Anzeichen von Reue. Sie denken und handeln kollektiv, geschieht doch all dies in dem mit „Wir“ überschriebenen Kapitel und wird in der ersten Person Plural erzählt. Daran anschließend findet der Wechsel in die zweite Person Plural statt, wobei das Kapitel ein Motto trägt, welches jegliche Moral für obsolet erklärt (vgl. FB 203). Mit „Ihr“ sind Octave und Charlie gemeint, über die es heißt: „Ihr genießt euren beruflichen Aufstieg. Die angsterfüllten Blicke der 300 Angestellten.“ (FB 205). Die Beschreibung ihrer Haltung wird zum Abgesang auf den neuen Kapitalismus: „Ihr seid Produkte einer Epoche. Nein. Der Epoche den Vorwurf zu machen ist zu einfach. Ihr seid Produkte. Da Menschen für die Globalisierung uninteressant sind, musstet ihr Produkte werden, damit sich die Gesellschaft wieder für euch interessiert. Der Kapitalismus verwandelt Menschen in verderbliche Joghurts und dopt sie mit Spaß, das heißt, drillt sie auf die Vernichtung ihres Nächsten.“ (FB 231)
Der Mensch, so Octave, ist in Zeiten der spätmodernen Konsumgesellschaft verdinglicht.702 Auf dem globalisierten Arbeitsmarkt ‚bieten‘ sie sich, Produkten gleich, an und treten in Konkurrenz zueinander, welche sich zunehmend destruktiv geriert. Das beschriebene Sinndefizit kann dabei sowohl postmetaphysischer Natur sein, es kann sich aber auch aus einem Scheitern auf dem Arbeitsmarkt und einem damit einhergehenden subjektiv wahrgenommenen ‚Überflüssig-Sein‘ entwickeln. Am Ende der Romanhandlung überwiegt die Duplizität der Ereignisse: An dem Tag des Mordes werden Charlie und Octave befördert (vgl. FB 194), und als die Werbebranche sie für den Madone-Werbespot mit einem wichtigen Werbepreis auszeichnet, werden sie während der Dankesrede verhaftet (vgl. FB 234-6). Octave endet (vorerst) als tuberkulöses ‚Wrack‘ im Gefängnis und schreibt den Roman, um endlich seine Kündigung zu erhalten (vgl. FB 239).
700 Klaus Dörre: „Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus.“ In: Ders./Castel (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, S. 35-64: 35, ausf. vgl. S. 41-47. Zur Entwicklung der Finanzökonomie vgl. auch Vogl (2010/2011): Das Gespenst des Kapitals, S. 83-114. 701 Vgl. Howard Gardner, Mihaly Csikszentmihalyi u. William Damon: Good Work! Für eine neue Ethik im Beruf. Stuttgart: Klett-Cotta 2005 [2001], S. 56, 360. 702 Vgl. zu diesem Begriff Axel Honneth: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 [2015], S. 14-15.
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Beigbeders Kritik trifft neben der Konsumgesellschaft die Leistungsnorm 703, den damit zusammenhängenden Freizeitstress704 und den Kapitalismus im Ganzen.705 Seine Diagnose ist verheerend; er prophezeit nichts anderes als den Untergang: „Diese Zivilisation beruht auf falschen Wünschen, die du weckst. Sie wird daran zugrunde gehen.“ (FB 71). Der Werber wird zur Symbolfigur dieser defizitären Gesellschaft: „Die dummen und faschistoiden Manager und die exzentrischen, sadistischen, zynischen, perversen, drogensüchtigen megalomanischen, überbezahlten et cetera Werber“706; er beschreibt sie als sinnlos und damit Wahnsinn gerierend: „Wenn man den Leuten zu oft erklärt, dass ihr Leben keinen Sinn hat, drehen sie irgendwann völlig durch, rennen schreiend durch die Gegend, weil sie ein Dasein ohne Zweck nicht hinnehmen können, und wenn man sich das einmal überlegt, ist es auch wirklich ziemlich unerträglich, sich sagen zu müssen, dass man zu nichts da ist außer zum Sterben, und da wundert es einen dann nicht, dass jeder auf dieser Welt einen Stich hat.“ (FB 248, Herv. i.O.)
Das Unglück ist, Octave zufolge, allgegenwärtig sowie unausweichlich: „In der modernen Welt ist jeder unglücklich‘ […]: Die Arbeitslosen sind unglücklich, weil sie nicht arbeiten dürfen, die Arbeitenden, weil sie müssen. Träumt süß, vergesst euer Prozac nicht. Und stellt vor allem keine Fragen. Hier ist kein Warum. […] Du arbeitest, du hängst an anderen Menschen, du liebst bestimmte Orte, du krauchst auf einem Kiesel, der durchs Dunkel kreist. Du könntest deine Ansprüche herunterschrauben.“ (FB, 79, Herv. i.O.). Der Anspruch, ein sinnvolles sowie authentisches Leben zu führen, ist in Anbetracht der existentiellen Gegebenheiten auf der einen sowie der gesellschaftlichen Realität der Spätmoderne auf der anderen Seite für Octave ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Anhand einer Episode aus dem Leben eines einzelnen Menschen bildet Beigbeder gesamtgesellschaftliche, aber auch existentielle Dilemmata ab; einen Ausweg scheint es jedoch nicht zu geben. Zur Unmöglichkeit einer Utopie Den Versuch einer Alternative unternimmt Beigbeder in dem letzten Kapitel des Romans, welches mit „Sie“ überschrieben ist. Hier wird beschrieben, wie Marc, Octaves ehemaliger Chef, sowie seine Freundin Sophie, nachdem sie ihren Tod nur vorgetäuscht haben, auf einer paradiesischen Insel namens „Ghost Island“ (FB 252) leben, auf die sich zahlreiche angeblich verstorbene Prominente zurückgezogen haben. Die Bewohner dieses ‚Eden-Utopias‘ sind, dank der medizinischen Möglichkeiten, unsterblich; sie „sind die Zeit los“ (FB 256). Doch schnell macht sich die Langeweile breit, denn: „Sie finden, dass unter dem unverwandten Schein der Sonne das Elend ganz schön quält. [...] Vegetieren in der üppigen Vegetation.“ (FB 263). 703 So zitiert Beigbeder im ersten Motto des Romans aus Aldous Huxleys Brave New World: „[I]n einem Zeitalter fortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist.“ (FB 7). 704 „Alle brauchen irgendwelche Aktivitäten, um sich zu ‚entstressen‘, wie sie sagen, doch du weißt ganz genau, dass sie in Wirklichkeit nur durchkommen wollen.“ (FB 65). 705 Ein Motto des Romans lautet: „Charles Bukowski: „Der Kapitalismus hat den Kommunismus überlebt. Jetzt kann er sich nur noch selber auffressen.“ (FB 7). 706 Doebler (2001): Ich entscheide heute, was Sie morgen wollen.
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Die absolute Freiheit von Zwängen sowie die zyklische Struktur des Lebens lässt Depression und Überdruss sprießen, und Marc geht letztlich ins Wasser, weil er dieses ‚traumhafte‘ Leben nicht mehr aushält. Beigbeder entwirft folglich eine Utopie der Zwangsbefreitheit, der ‚Arbeitslosigkeit‘, um sie postwendend zu negieren. Der realistischere Ausweg aus der Spirale der Konsumgesellschaft ist der, den Octave eingeschlagen hat, nämlich „das pure Aufgehen in Gewalt als Ausbruch aus der konsumistischen Langeweile.“707 Mit der Zuspitzung, die in der Ermordung der alten Frau endet, erinnert 39,90 an Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho.708 Sowohl Octave als auch Ellis’ Protagonist Patrick Bateman gehören zur angeblichen ‚Elite‘ der Konsumgesellschaft und sind gleichzeitig deren Opfer. Das „postsoziale[] ‚anything goes‘“709, das einem die diversen Freiheiten der spätmodernen Leistungsgesellschaft suggeriert, kostet beide den festen Rahmen und lässt sie in Destruktivität untergehen. Diesen Weg geht Beigbeder in seiner Romanfortsetzung Au secours pardon (2007) weiter, die jedoch bei weitem nicht so eine Resonanz erhielt wie der erste Roman. Octave geht nach seiner Haftentlassung nach Moskau und wird Terrorist710, aber auch in der Revolution sieht Beigbeder keinen Ausweg. Was einzig bleibt, ist der „Wechsel in den Stillstand“711; eine wirkliche Veränderung schließt er aus: „Nach dem Tod Gottes, nach dem Tod der Utopien gibt es keine andere Hoffnung als Geld und Konsum. Der Mauerfall war ein wichtiges Ereignis, aber jetzt fehlt uns das Gegenbeispiel. Zur derzeitigen Welt haben wir keine Alternative.“712 Der Kapitalismus hat sich, wie schon Lepenies nachzeichnete713, als Produktionsordnung durchgesetzt, und mit der Zäsur von 1989 endete die Denkbarkeit einer Alternative. An anderer Stelle hingegen konstatiert Beigbeder: „Ja, davon bin ich überzeugt. Das kapitalistische System möchte uns glauben machen, dass es keine Alternative zu ihm gibt. Werbung ist die Waffe, die dafür eingesetzt wird, diese Haltung zu festigen. Die einzige Hoffnung, die man uns lässt, ist die auf ein besseres und schöneres
707 Jan Engelmann: „Flucht aus dem Luxusknast. Kulturkritik. Der Ex-Werbetexter Frédéric Beigbeder und die Ex-Markensüchtige Naomi Klein tummeln sich an den Wühltischen der Bekenntnisliteratur.“ In: Literaturen 7/8 (2001), S. 112-114: 113. 708 Zu den Parallelen zwischen Beigbeder und Ellis vgl. Pamela Russmann: „Der Missionseifer einer Zeilennutte. 39,90 von Frédéric Beigbeder. Der Titel ist Programm. Dieses lautet Manipulationswahn.“ In: Kleine Zeitung 30.06.2001, k.A. sowie Engelmann (2001): Flucht aus dem Luxusknast, S. 112. 709 Laux (2001): Der Weltverschmutzer. 710 Vgl. dazu Beigbeder im Gespräch mit Fritz Göttler u. Susan Vahabzadeh: „‚Ich werde hübsch gehasst.‘ Der Autor spricht über das Ende des Kapitalismus – und warum seit Veröffentlichung seines Romans über den Konsumterror der Werbewelt alles noch schlimmer wurde.“ In: Süddeutsche Zeitung 17.05.2010. Auf: http://www.sueddeutsche.de/kultur/iminterview-frederic-beigbeder-ich-werde-huebsch-gehasst-1.585020m, zuletzt gesehen am 20.02.2015. 711 Beigbeder im Gespräch mit Göttler/Vahabzadeh (2000): ‚Ich werde hübsch gehasst‘. 712 Frédéric Beigbeder: „‚Ich habe einen Traum.‘ Aufgezeichnet von Wolfgang Farkas.“ In: Die Zeit 28.06.2001, k.A. 713 Vgl. S. 13, Fn. 25.
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Auto. Wir wissen, dass das eine große Lüge ist. Und ich hoffe weiter darauf, dass man dieses System durchbrechen kann. Unser Problem ist, dass wir nie auszubrechen versuchen.“714
Der Wunsch nach Veränderung ist folglich da, wird aber vom System selbst unterdrückt, wie auch Octave bemerkt: „Wir sind darauf gedrillt, alles hinzunehmen. Ich surfe über dem Nichts.‘“ (FB 125). Ob es nun einen Ausweg aus der von ihm beschriebenen Misere gibt oder nicht, darüber scheint Beigbeder sich noch nicht einig zu sein, und der Literaturkritik geht es ähnlich in Bezug auf die Deutung des Romans. Während Rezensent Matthias Altenburg in dem Roman sogar ein „Manifest für die nächste Revolte“715 erkennt, so hebt Gilbert Dietrich die Passivität hervor: „Das Buch endet, wie es anfängt: in einer Enthaltung. Nur ist es jetzt eine Verweigerung dem Leben gegenüber, dem Leben, das ohnehin zum Werbetrailer verkommen war. Auflehnen kann man sich nicht, so vermittelt uns Beigbeder. Verweigerung ist die einzige Chance, denn sobald man nur irgend etwas tut, macht man mit. Das Dilemma ist, dass die Verweigerung, will sie konsequent sein, Tod bedeutet. Das weiß der Autor und so ist auch Beigbeders Buch eher eine Auflehnung als eine Verweigerung.“716
Octave selbst ist für diese ‚Strategie‘ das beste Beispiel: Er wettert zwar gegen das System und empfindet es als unlebbar; er bleibt aber dennoch passiv. Er kündigt nicht selbst, sondern er lässt sich kündigen; er mordet nicht, sondern wohnt dem Akt bei; er lässt passieren, anstatt selbst aktiv zu werden. Ein fundierter Ennui, eine tiefsitzende Müdigkeit lähmt ihn. Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone In seiner literarischen Abbildung der individuellen Folgen von zuviel Freiheit auf der einen sowie einer bedrohlichen Prekarität auf der anderen Seite lässt sich in Michel Houellebecq ein Referenzautor Beigbeders erkennen. 717 Houellebecq macht einen 30jährigen, namenlosen Pariser Informatiker zum Protagonisten seines 1994 veröffentlichten Romans Die Ausweitung der Kampfzone (Extension du domaine de la 714 Beigbeder im Gespräch mit Harry Nutt: „Im Teufelskreis des Konsums. 10 Fragen an Frédéric Beigbeder: Wie der Ex-Werber und Konsumkritiker hofft, der Warenwelt zu entfliehen.“ In: Frankfurter Rundschau 29.07.2008. Auf: http://www.fr-online.de/panorama/ interview-im-teufelskreis-des-konsums,1472782,30155 96.html, zuletzt gesehen am 10.02. 2015. 715 Matthias Altenburg: „Die Partisanen der Schönheit kommen. Gegen die Allmacht der Werbewelt: Woche-Kolumnist Matthias Altenburg über das Skandalbuch des Franzosen Frédéric Beigbeder.“ In: Die Woche 04.05.2001, S. 37. 716 Gilbert Dietrich: „Logo statt Logos. 39,90.“ 05.01.2003. Auf: http://www.rezensionen.ch/ neununddreissig-neunzig/3498006177/, zuletzt gesehen am 20.02.2015. 717 Vgl. ausf. zu Houellebecq und seiner Rolle in der französischen Literatur Wolfgang Asholt: „Die Rückkehr zum Realismus? Ecriture du quotidien bei Françoise Bon und Michel Houellebecq.“ In: Andreas Gelz u. Ottmar Ette (Hg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2002, S. 93-110.
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lutte).718 Er ist damit in einem der „Epizentren“719 der 1990er Jahre tätig; er und seine Kollegen sind die eigentlichen „Könige“720 der Gesellschaft: „hohes Gehalt, berufliche Wertschätzung, genügend Möglichkeiten, den Arbeitsplatz zu wechseln.“721 Nach außen hin repräsentiert er den „Systemmensch[en]“; in einer Art „Rollenspiel“ gibt er „den kompetenten, aber ein wenig schroffen Techniker, der keine Zeit hat, sich um seine Kleidung zu kümmern, und zutiefst unfähig ist, mit dem Benutzer ins Gespräch zu kommen“ (MH 55).722 Aber eigentlich ist er, wie Rezensentin Gerda Zeltner konstatiert, „ein depressiver Typ […], antriebsschwach, bindungsunwillig, zynisch.“723 Entsprechend ist er von der geforderten Flexibilität und Mobilität überfordert.724 Wie Beigbeders Octave wird auch er zum Autor eines Romans, dessen Protagonist er ist, und damit zur Instanz der Fokalisierung. Und wie bei Beigbeder wird auch bei Houellebecq der Wunsch, sein eigenes Leiden zu lindern, als zentraler Anlass des Schreibaktes benannt. Darüber hinaus möchte der Erzähler einen Blick auf die Gesellschaft der 1990er Jahre werfen, welche er zu einer ‚Kampfzone‘ erklärt. Er meint damit zum einen das Leben im Wirtschaftsliberalismus; zum anderen erweitert er dessen Grundsätze sowie Mechanismen auf den Bereich der Sexualität: „Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Auswei718 Houellebecq selbst arbeitete einst als Informatiker (vgl. Niklas Maak: „Der Wille zur Nacht. Der französische Skandalautor Michel Houellebecq und sein gefeierter Debütroman Ausweitung der Kampfzone.“ In: Süddeutsche Zeitung 20.02.1999, S. 13). Wie Beigbeders und Duves Texte weist sein Roman folglich eine autobiografische Dimension auf. Zum autobiografischen Aspekt vgl. auch Vincent von Wroblewsky: „Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq.“ In: Cornelia Blasberg u. Franz-Josef Deiters (Hg.): Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2004, S. 505-538: 508-509. 719 Gerda Zeltner: „Im Selbstmordraum der westlichen Welt. Michel Houellebecqs zwei Romane.“ In: Neue Zürcher Zeitung 10.04.1999, S. 80. 720 Ulrike Prokop bezeichnet die Protagonisten Houellebecqs als „Speerspitze des modernen, gut angepassten Menschen“, hinter deren „Fassade“ aber „der Schatten der Destruktion“ sichtbar wird, Ulrike Prokop: „Stigma und Gewalt. Zu einigen Szenen aus Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone.“ In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 9/10/55 (2001), S. 1119-1140: 1119. 721 Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Übers. v. Leopold Federmair. Berlin: Wagenbach 2004 [1994] S. 62. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle MH und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt. 722 Nicht nur der namenlose Informatiker spielt eine Rolle, auch die ihn umgebenen Menschen werden demgemäß beschrieben, was wiederum ein Fragezeichen hinter die Möglichkeit eines authentischen Lebens setzt, vgl. Sandra Berger: Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik. Das Romanwerk von Michel Houellebecq. Wiesbaden: Harrassowitz 2014, S. 62-63. 723 Krause (1999): Trotziger Ruf nach Transzendenz. 724 Vgl. Wroblewsky (2004): Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq, S. 513.
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tung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Alterstufen und Gesellschaftsklassen.“, heißt es dazu von dem Informatiker (MH 99). 725 In dessen Leben steht es grundsätzlich nicht zum Besten. Seine Kollegen ekeln ihn an (vgl. MH 7-8) und er versucht, der Arbeit zu entfliehen (vgl. u.a. MH 31). Er empfindet das Leben als überreglementiert 726, die Anpassungsleistungen des Lebens überfordern ihn, sie lassen es zu einem Kampf werden (vgl. MH 28, 79, 120) gegen die „Umklammerung“727 der alltäglichen Zwänge und Kontrollmechanismen und für den Wunsch, dieser zu entfliehen. Selbst die Freizeit setzt ihn unter Druck, muss sie doch, längst von leistungsgesellschaftlichen Idealen vereinnahmt, gefüllt werden (vgl. MH 23). Wie auch die Protagonisten von Poschmann, Hartmann, Duve und Genazino besitzt der Informatiker, wie Ulrike Prokop es beschreibt, ein „Lebensgefühl der Irrealität, der Isolierung und einer bis zum Zwang gesteigerten Fähigkeit der strategischen Selbst- und Fremdbeobachtung.“728 Eine umfassende Passivität ist das Resultat729; den Ansprüchen der Leistungs- und Konsumgesellschaft möchte er sich verweigern.730 Da die Vorgesetzten des Informatikers mit seiner Arbeit nicht zufrieden sind, erhält er einen neuen Auftrag, bei dem es gilt, ‚sich‘ zu beweisen: Auf einer zweiwöchigen Dienstreise soll er, gemeinsam mit seinem Kollegen Tisserand, andere Angestellte im Umgang mit einer von seiner Firma vertriebenen Software schulen (vgl. MH 39). Diese Konstellation ermöglicht es ihm, seine grundsätzliche Passivität auch während der Dienstreise auszuleben, da er seinem Kollegen die Arbeit überlässt. Das subjektive Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit (vgl. u.a. MH 41), welche er von Anbeginn des Romans hat, verstärkt sich dadurch und gipfelt in einem Ennui sowie einer Art der psychischen Selbstauflösung, die vermutlich in einer physischen Selbstauslöschung endet. Die Koordinaten dieser Zuspitzung sind aus den bisher analysierten Romanen bekannt: Der Informatiker leidet unter Einsamkeit (vgl. u.a. MH 11, 33).731 Er ist unfähig, Freundschaften zu führen. „Am Wochenende verkehre ich in der Regel mit niemandem. Ich bleibe zu Hause, räume ein wenig auf, kultiviere eine kleine Depres725 Vgl. auch MH 47, 55-58, 61, 63-66, 111 sowie ausf. dazu Berger (2014): Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, S. 64-68, Carole Sweeney: Michel Houellebecq and the Literature of Despair. London u.a.: Bloomsbury 2013, S. 125-150 sowie Thomas Hübener: Maladien für Millionen. Eine Studie zu Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone. Hannover: Wehrhahn 2007, S. 329-366. 726 „Die Regeln sind komplex und vielfältig. Außerhalb der Arbeitsstunden sind da die Einkäufe, die Sie wohl oder übel erledigen müssen, die Bargeldautomaten, von denen Sie Geld abheben müssen (und vor denen Sie oft Schlange stehen). Vor allem sind da die verschiedenen Zahlungen, die Sie den Institutionen zukommen lassen müssen, die die verschiedenen Aspekte Ihres Lebens verwalten. Zu allem Überfluß können Sie auch noch krank werden, was zusätzliche Kosten und Formalitäten mit sich bringt. Dennoch bleibt ein Stück Freizeit übrig. Was tun? Wie nützen?“ (MH 14). 727 John McCann: Michel Houellebecq. Author of Our Times. Oxford u.a.: Peter Lang 2010, S. 19. 728 Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1119. 729 Vgl. ausf. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 97-98. 730 Vgl. Sweeney (2013): Michel Houellebecq and the Literature of Despair, S. 77. 731 Vgl. dazu Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 39-55.
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sion.“ (MH 32). Er leidet unter einem Gefühl der Traurigkeit (vgl. u.a. MH 126), hat kein ‚Zuhause‘ (vgl. MH 81), das bloße Existieren erscheint ihm als Zumutung732, und er fühlt sich entfremdet.733 Seine latente Suizidalität beinhaltet ein Memento mori, wobei er zwischen Selbstmordgedanken auf der einen und sentimentalen Reflexionen auf der anderen Seite pendelt: „Ich habe so wenig gelebt, daß ich zu der Vorstellung neige, ich würde niemals sterben; kaum zu glauben, daß sich ein Menschenleben auf so wenig beschränken kann; trotzdem stellt man sich vor, daß früher oder später doch noch etwas geschehen wird. Ein schwerer Irrtum. Das Leben kann durchaus leer und kurz zugleich sein. Die Tage gehen eintönig dahin, ohne eine Spur oder eine Erinnerung zu hinterlassen; dann, plötzlich, ist Schluß. Manchmal hatte auch ich das Gefühl, mich auf Dauer in einem abwesenden Leben einrichten zu können. Daß mir diese relativ schmerzlose Langeweile erlauben würde, die üblichen Handlungen des Lebens zu vollführen. Noch ein Irrtum. Die fortgesetzte Langeweile ist keine haltbare Position: sie führt leider früher oder später zu wesentlich schmerzhafteren Wahrnehmungen, verwandelt sich also in einen positiven Schmerz. Genau das ist es, was derzeit mit mir geschieht.“ (MH 49-50)
In diesem Zitat wird deutlich, dass, wie Beigbeders Werber, auch Houellebecqs Protagonist ein ‚provisorisches‘, sich nicht real anfühlendes Leben führt. Seine Strategie ist, mit Langeweile gegen diese Art der Entfremdung vorzugehen, doch er hat damit wenig Erfolg.734 Er weiß, dass sich in seinem Leben etwas ändern muss; die unfreiwilligen Dienstreise soll eine mögliche Veränderung herbeiführen, aber er ahnt, dass es sich nur um eine Verschlechterung handeln kann. So gerät der Informatiker währenddessen immer wieder in Situationen von umfassender Handlungshemmung (etwa wenn er eine Fahrkarte kauft, um über das Wochenende nach Paris zurückzufahren, letztlich die Fahrt aber nicht antritt, vgl. MH 74), sein Leiden wird letztlich pathologisch: Mitten in Rouen ereilen ihn diffuse Schmerzen sowie Atemnot 735; der angebliche Herzinfarkt stellt sich aber als eine Herzbeutelentzündung heraus. Er verbringt zwei Wochen im Krankenhaus, die er zum Nachdenken nutzt: „Mein Geist trieb vor sich hin, unentschieden, ein wenig perplex.“ (MH 78). Sein psychischer Verfall nimmt dennoch seinen Lauf und gipfelt in dem Versuch, seinen hässlichen Kollegen Tisserand an Weihnachten zu einem Mord zu überreden, der als Rache für dessen umfassendes Scheitern in sexueller Hinsicht fungieren soll (vgl. MH 97-98).736 Doch Tisserand folgt seinem Plan nicht. Er lehnt den Mord ab 732 Ben Jeffery bezeichnet diese Ansicht als depressiven Realismus, vgl. Ben Jeffery: AntiMatter: Houellebecq and Depressive Realism. Ropely: Zero 2011, S. 14-15. 733 Seine Entfremdung drückt sich u.a. in einer von dem Protagonisten verfassten Tierfabel aus, die einen Zustand der animalisch-natürlichen Einheit beschreibt (vgl. MH 11). 734 Vgl. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 46. Hübener beschreibt Houellebecqs Langeweile auf der Basis einer Pascal- und Kierkegaard-Lektüre, vgl. S. 369-374. 735 Ausf. zum Tod in Ausweitung der Kampfzone vgl. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 274-298. 736 Prokop unterzieht den Mordaufruf durch Michel einer sehr aufschlussreichen psychoanalytischen Deutung, u.a. im Kontext der „Handlungshemmung“, denn es ist ja nicht Michel, der vor hat, mit dem Messer tätig zu werden (Prokop (2001). Stigma und Gewalt, S. 1134-1135). Berger hingegen sieht die Episode vom Messerkauf bis zum Mordaufruf als
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und stirbt kurze Zeit später durch einen selbstverschuldeten Autounfall, auf den Michel mit ostentativer Gleichgültigkeit reagiert (vgl. MH 119). Zur Empathie ist er unfähig, zu sehr dreht er sich um sein eigenes Leid 737, welches nach seiner Rückkehr nach Paris zu Selbstverletzungen führt, woraufhin er einen Psychiater konsultiert. Dieser diagnostiziert eine Depression (vgl. MH 135) und weist ihn in eine Klinik ein (vgl. MH 144).738 Nach einem längeren Klinikaufenthalt zieht er sich noch mehr zurück; er sieht sich als „Beobachter[]“ (MH 152) statt als Akteur seines eigenen Lebens. Am Ende des Romans bricht er zu einer Radtour 739 in das Pariser Umland auf, während der er, so wird es zumindest angedeutet, entweder einen Abhang hinunterstürzt oder sich endgültig im Wahn verliert (vgl. MH 155). Ennui und Arbeit bei Houellebecq und Beigbeder Houellebecqs Roman beschreibt, wie Beigbeders 39,90 nach ihm, nicht nur einen Mann in der Krise740; er zeigt einen ‚Verlierer‘ der Leistungsgesellschaft, der auf den ersten Blick noch nicht als solcher zu erkennen ist, verfügt er doch über eine berufliche Etablierung und damit über einen gewissen Wohlstand und ein gewisses Maß an Sicherheit. Für beide Protagonisten erscheint dennoch kein authentisches Leben möglich.741 Die berufliche Identität erfordert vielmehr ein Rollenspiel, das zunehmend als Belastung empfunden wird, und dies, obwohl die Identifizierung mit der jeweiligen Firma eine zentrale Forderung darstellt: So ist er als Informatiker in einer Firma tätig, die zu einer recht frühen Zeit schon die Corporate Identity für sich entdeckt und entsprechende Ansprüche an ihre Mitarbeiter stellt (vgl. MH 19). Ein beruflicher Fehler des Informatikers und ein entsprechender Rüffel durch seinen Vorgesetzten werden so rasch zu einer persönlichen Angelegenheit.742 Der einzelne Arbeitnehmer, diesen Punkt verdeutlicht Beigbeder noch mehr als Houellebecq, muss zu einem Subjekt und auch Objekt von Strategien des Selbstmarketings werden. Alle Lebensbereiche sind von den „Regeln einer tödlichen Ökonomie“ 743 durchdrungen: „Wo früher Liebe, Familie und Religion die Individuen wie ein Kokon einhüllten,
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einen kleinen Ausbruch aus der grundlegenden Passivität des Protagonisten, vgl. Berger (2014): Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, S. 66. Vgl. ausf. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 110-117. Ausf. zu dieser Diagnose vgl. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 55-70. Anders als der Zug oder das Auto, die vornehmlichen Fortbewegungsmittel Michels, kann der Protagonist mit dem Fahrrad auch nicht vorgegebene Bahnen wählen, und es ermöglicht gerade deshalb den Ausbruch aus festgefahrenen Zuständen, vgl. McCann (2010): Author of Our Times, S. 18-19. Vgl. Mirjam Schaub: „Die Feigheit des Affekts. Bei Houellebecq kommt das Ressentiment wieder zu seinem Recht.“ In: Thomas Steinfeld (Hg.): Das Phänomen Houellebecq. Köln: DuMont 2001, S. 33-53: 43-44. Vgl. dazu auch Ines Kappert: Der Mann in der Krise, oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur. Bielefeld: transcript 2008, S. 131-166. Die Menschen spielen Rollen (vgl. u.a. MH 55, 58), Dinge werden vorgetäuscht, alles ist ein Spiel oder inszeniert (vgl. MH 61, 62, 70). Vgl. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 308-312. Rupert Ascher: „Schlag um Schlag.“ In: Die Presse 08.05.2001, k.A.
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gibt es heute nichts mehr zwischen den Einzelnen und der kalten Konkurrenz um die letzten zwei verbliebenen Werte – Geld und Sex“.744 Auf diese Rahmen- und Bindungslosigkeit reagiert der Informatiker wie auch Octave mit einem ausgeprägten Ennui, welchen er selbst wie folgt in Worte fasst: „Ich liebe diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der ich lebe, widert mich an; die Werbung geht mir auf die Nerven; die Informatik finde ich zum Kotzen. Meine ganze Arbeit als Informatiker besteht darin, die Grundlagen, Vergleichsmöglichkeiten und Kriterien rationaler Entscheidung zu vervielfachen. Das hat überhaupt keinen Sinn. Offen gestanden, das ist sogar eher negativ; eine sinnlose Behinderung für die Neuronen. Dieser Welt mangelt es an allem, außer an zusätzlicher Information.“ (MH 82)
Hier offenbart sich ein deutlicher Zusammenhang zur Arbeitsthematik. Arbeit besitzt auch für Houellebecq grundsätzlich ein sinnstiftendes Moment, aber die spezielle Arbeit des Informatikers erfüllt diese Aufgabe ebenso wenig wie die Arbeit von Beigbeders Werbetexter. Beide sind, in den Augen der Ausführenden, zu selbstreferentiell745, beide ‚füllen‘ die Welt mit Dingen an, die sie nicht benötigt. Erscheint der Ennui resp. der Lebensekel von Sartre, Camus und Chateaubriand, aber auch Werthers Weltschmerz sowie Schopenhauers Pessimismus – allesamt in Bezug auf den Ennui der Protagonisten zentrale Referenzautoren –746 als Teil der conditio humana, so ist er bei Houellebecq vielmehr eine, wie Isenschmidt diagnostiziert, „Folge des Kapitalismus und der individualistischen Kultur der Neunzigerjahre“. 747 Der Informatiker selbst beschreibt ihn als einen „geistigen Zustand unserer Zeit“ (MH 148) und damit als Reaktion auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten. Und auch Beigbeder stellt die reaktive Seite von Octaves psychischer Disposition heraus.
744 Andreas Isenschmid: „Roman und antiliberales Manifest. Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone und seine Essays haben es in sich. Sie behandeln, was alle meiden: unsere graue, stinknormale Gegenwart. Und wie.“ In: Tages-Anzeiger 22.05.1999, k.A. Vgl. auch Wroblewsky (2004): Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq, S. 517-520 und zur metaphysischen Leere, unter der Houellebecqs Protagonisten leiden vgl. Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 239-274. 745 Vgl. Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1127. 746 Vgl. Wilfried Grauert: „Houellebecqs Ekel und Brauns Neugier. Positionen literarischer Zivilisationskritik.“ In: ndl 1/50 (2002), S. 64-77: 66-67, Isenschmid (1999): Roman und antiliberales Manifest und Tilman Krause: „Trotziger Ruf nach Transzendenz. Michel Houellebecq seziert die Seele im Zeitalter der Sittenfreiheit.“ In: Die Welt 13.02.1999. Auf: http://www.welt.de/print-welt/article566310/Trotziger-Ruf-nach-Transzendenz.html, zuletzt gesehen am 28.02.2015. Einen Vergleich von Houellebecqs Roman mit Sartres Der Ekel liefert Wroblewsky (2004): Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq; Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 149-154 beschreibt das Weltbild von Houellebecqs Protagonisten vor dem Hintergrund von Sartre und Heidegger. Dem Camus-Vergleich widmet sich Douglas Morrey: Michel Houellebecq. Humanity and its Aftermath. Liverpool: Liverpool University Press 2013, S. 37-38. 747 Isenschmid (1999): Roman und antiliberales Manifest.
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Im Hinblick auf einen Ausweg, eine Lösung des kritisierten Dilemmas bleibt Houellebecq im Vergleich zu Beigbeders Versuch einer Utopie aber eher ‚stumm‘. 748 Es werden wohl Auswege angedeutet, etwa, wenn Michel von einem „Mangel an Liebe“ (MH 149) spricht. Diesem Mangel wird aber nicht ‚aktiv‘ entgegengewirkt; die Menschen erscheinen vielmehr gelähmt, wie eine Beobachtung des Protagonisten in den Straßen Rouens zeigt: „Dann stelle ich fest, daß alle diese Leute zufrieden mit sich und der Welt sind; das ist erstaunlich, sogar ein wenig erschreckend. Sie schlendern träge umher, lächeln spöttisch oder machen ein dämliches Gesicht. Einige von den Jüngeren tragen Lederjacken mit wüsten Hard-RockMotiven; man kann darauf Sätze lesen wie ‚Kill them all!‘ oder ‚Fuck and destroy!‘ Aber alle verbindet die Gewissheit, einen angenehmen, hauptsächlich dem Konsum gewidmeten Nachmittag zu verbringen und so zur Festigung ihres Daseins beizutragen.“ (MH 70-71)
Dem Menschen der Gegenwart bleiben, Houellebecq folgend, nur zwei Möglichkeiten: „Entweder gehen die Personen in den Funktionen auf, die sie in der durch Fremdbestimmung geprägten Arbeitswelt und Freizeitsphäre erfüllen, und sie verlieren so ihre Identität und Menschlichkeit, oder sie vegetieren in einem entfremdeten Leben dahin und begehen schließlich Selbstmord.“749 Sowohl Beigbeders 39,90 als auch Houellebecqs Roman Die Ausweitung der Kampfzone, der sich zwar nicht die Arbeit zum Sujet nimmt, aber dennoch den Diskurs um die Verortung in der spätmodernen Arbeitsgesellschaft thematisiert, lassen sich vor dem Hintergrund der Sennett’schen Diagnosen lesen, da sie die psychische Disposition der Protagonisten aus den Lebens- und Arbeitsumständen der Spätmoderne herleiten. Ulrike Prokop bezeichnet Ausweitung der Kampfzone sogar als einen „Beitrag [zur sozialogischen wie psychoanalytischen Debatte] in szenischer Form“.750 Auch bei Sennetts The Corrosion of Charakter steht mit Rico ein Informatiker im Fokus der Überlegungen; sowohl für Rico als auch für Michel ist ihre „Kopfarbeit“ der „einzig feste[] Bezugspunkt“; die „Außenwelt“ hingegen ist „austauschbar[]“.751 Ganz ähnlich trifft es für den Kreativarbeiter Octave zu. Seine geistig sowie sprachlich erarbeiteten Entwürfe haben keinen festen Ort; kreativ sein kann und muss er immer und überall. Wobei erschwerend hinzukommt, dass Erfolg und Misserfolg zumeist in den Händen zahlreicher Anderer liegt. Beide Protagonisten führen diese Arbeitsumstände in einen Zustand der Haltlosigkeit, des Drift. Houellebecqs Hauptfigur verweigert schließlich durch die Depression – wenn nicht sogar noch endgültiger durch den möglichen Selbstmord – eine Teilhabe an dieser überfordernd erscheinenden Leistungsgesellschaft, worin sich, wie Ines Kappert beschreibt, durchaus eine „zeitgenössische Varianz“752 von Bartlebys „I would prefer not to“ lesen lasse. Diese Haltung lege etwas Entscheidendes offen: 748 749 750 751 752
Vgl. dazu Berger (2014): Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, S. 68-69. Grauert (2002): Houellebecqs Ekel und Brauns Neugier, S. 66. Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1119. Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1120. Kappert (2008): Der Mann in der Krise, S. 165-166. Den Vergleich des französischen Informatikers mit Melvilles Kopisten zieht auch Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 94.
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„In ihrer Dysfunktionalität werden sie [die ‚Krisen-Männer‘] zu Seismographen einer gesamtgesellschaftlichen Fehlleistung. In ihrer Verkümmerung führen sie unwiderruflich vor Augen, dass etwas fundamental falsch läuft in der Gesellschaft, und klagen diese an. Ihr Ekel, ihr Zynismus und ihre Unfähigkeit zur Empathie sind Artikulationen eines Leidens an der Gesellschaft, die sie als unbarmherzig und unmoralisch erleben und die auch ihren normalsten Vertretern keine Glücksmöglichkeit mehr einräumt.“753
Octave wählt einen anderen Weg: Er verweigert sich nicht, sondern ‚spielt‘ nach den Regeln des ‚Spiels‘, übererfüllt die ihm zugeschriebene Rolle des zwischen Genie und Wahnsinn schwankenden kreativen ‚Genies‘ bis in die Illegalität hinein und schlägt damit einen Weg ein, der in die Destruktion sowie in die Selbstdestruktion führt. 3.3.2 Die Suche nach einem Ausweg in Joachim Bessings Wir Maschine (2001) Tut mir leid wenn ich den Untertanenstolz jetzt verletze Doch was quatscht ihr da | Es gibt nicht genug Ausbeutungsplätze | Ihr wollt Kapitalismus mit Herz | Fick mich, aber nicht im Etap Hotel Sondern richtig schön mit Essen gehen | Und am nächsten Morgen noch Taxigeld Vor der Glotze sauer auf die scheiß Sozialschmarotzer Anstatt auf den Chef, der mit dem Geld aus eurer Arbeit Seiner Tochter noch ’nen Lamborghini kauft | Alter, dann verdient ihr’s auch […] Der Knopf leuchtet in ampelrot | Tarek sag ihnen, was haben wir im Angebot! Soll ich dich *stich*? | Willst du das *piu piu*? |Wie wärs mit *ratata*? Oder lieber *boom*? | Ich hab ein’ roten Knopf | Mit einem Totenkopf Wenn ich ihn drücke, dann geht alles hoch am Block […] Boom Boom Boom Boom| Ich bring euch alle um K.I.Z./Boom Boom Boom (2015) Lass uns glücklich sein | Oder verschwunden sein Lass uns kleiner werden | Am Horizont Was anderes sehe ich nicht | Am Horizont Lass uns weiter gehen | Als unsere Augen sehen Was anderes sehe ich nicht | Als in weiter Ferne lauter Licht || In weiter Ferne lauter Licht PeterLicht/Räume räumen (2008)
753 Kappert (2008): Der Mann in der Krise, S. 165-166.
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| Arbeit und Melancholie Abendstille. Aufräumarbeiten nach 100 Jahren Selbstverwirklichung | vor dem Schlafengehen noch etwas Holocaust und dann ab in die Bubumaschine der Mensch ist unsichtbar PeterLicht/Marketing (2008)
Joachim Bessings 2001 erschienener Debütroman Wir Maschine weist in vielen Bereichen Parallelen zu Beigbeders Abrechnung mit der Werbebranche auf. 754 Den Rahmen bildet dieses Mal eine Hamburger Werbeagentur, welche ebenfalls als ein „Kosmos der falschen Werte“755 dargestellt wird, in dem der Zufall über Erfolg oder Absturz entscheidet. Gliedert Beigbeder seinen Roman in sechs Teile, in deren Mittelpunkt (bis auf eine Ausnahme) Octaves selbstentfremdete Selbstbespiegelung steht, so stellt Bessing sechs Protagonisten in das Zentrum seines Romans, die durch eine auktoriale Erzählperspektive sowie ihre Arbeit für die Hamburger Agentur Wildcard und die gemeinsame Stamm-Osteria miteinander verbunden sind. Die Erzählweise ist episodisch angelegt sowie stark kinematografisch geprägt. Die Protagonisten befinden sich in unterschiedlichen Abschnitten ihrer Erwerbsbiografie und weisen unterschiedliche Strategien auf, sich in der postindustriellen Arbeitswelt der Kreativbranche zurechtzufinden, wobei der Roman in erster Linie die Vergeblichkeit ihrer Versuche schildert. Neben der Hauptfigur, dem Neueinsteiger Gumbo, sind es der Agenturchef Francis Gurt, dessen rechte Hand Barbara, der ehemals erfolgreiche und nun alkoholkranke Werber Alfred, der Fotograf Walter sowie Bernd, ein „Geek, ein Computerexperte, ein Nerd“756, der am Ende des Romans eine spezielle Entwicklung durchläuft, die der Annahme, er sei schräg, aber „harmlos“ (JB 69), mehr als Hohn spricht.
754 Vgl. Gerrit Bartels: „Wenn Verzweiflung am allergrößten ist. Ernste Geschichten am Anfang des neuen Jahrtausends: Die ganz schön kaputte Welt von Christian Kracht, Rebecca Casati und Joachim Bessing.“ In: Die Tageszeitung 10.10.2001, S. II-III sowie Martin Brinkmann: „‚Sirmelndes Gebrizzel‘. Gumbo-Talk oder Joachim Bessing hebt mit der Wir Maschine ab.“ In: Die Weltwoche 08.11.2001, S. 47, der Bessings Roman aufgrund seiner „Science-Fiction-Elemente“ allerdings nicht als „Anklageschrift á la Beigbeder“ liest. Eine ‚Häufung‘ von Werbern und ähnlichen Agenturarbeitern zeigt sich vor allem in Nachfolge der geplatzten Internetblase das Jahres 2000, worin sich offenbart, wie die Literatur parallel zur ökonomischen Entwicklung, hier jener der New Economy, verläuft, vgl. Christine Lehmann: „Fantasien der Auslöschung: Christian Krachts Romane Faserland und 1979.“ In: Pandaemonium germanicum 9 (2005), S. 255-273: 273 sowie Stephan Maus: „Job fressen Gumbo auf. Joachim Bessing an den Steuerknüppeln der Wir Maschine.“ In: Neue Zürcher Zeitung 29.09.2001, S. 53. 755 Maus (2011): Job fressen Gumbo auf. 756 Joachim Bessing: Wir Maschine, Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2001, S. 69, Herv. i.O. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle JB und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt.
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Von anfänglichem Enthusiasmus und folgender Resignation Auf der ersten Seite des Romans wird Gumbo wie folgt beschrieben: „Gumbo, ein junger Mann Mitte zwanzig, Brillenträger mit halblangen Haaren, springt am späten Vormittag die Stufen im Treppenhaus eines Mietshauses der Hamburger Innenstadt hinunter.“ (JB 9). Der Leser erfährt in diesem kurzen Abschnitt, dass Gumbo ein modischer ‚Typ‘ ist, nicht früh aufstehen muss sowie sich eine Wohnung in der Hamburger Innenstadt leisten kann. Er ist ein ‚Bobo‘ (bourgeois bohemian)757 und damit das New-Economy-Pendant zu dem Dandy des 19. Jahrhunders wie auch dem Yuppie der 1990er Jahre. Gumbo war BWL-Student, bis er beschloss, das Studium führe „zu nichts“ (JB 40-41), und der Zufall ihn zu Wildcard brachte. Der Agenturname wird in diesem Kontext zum telling name: In einer Hamburger Osteria lernt er Barbara kennen, die eine Affäre mit ihm anfängt (vgl. JB 34-35) und sie holt ihn in die Firma, mit der ‚Begründung‘: „Du kannst es, das sehe ich dir an.“ (JB 41) 758, woraufhin Gumbo antwortet: „Machen. Einfach machen. Loslegen. Anfangen.“ (JB 41). Er ist kein Zweifler oder Zauderer, wie einige der zuvor besprochenen Protagonisten; noch ist er voller „Tatendrang“ (JB 17) und Enthusiasmus. Noch. Denn es ist nicht seine Qualifikation, die ihm den gutbezahlten sowie rennommierten Job beschert hat, sondern schlicht und einfach der Zufall. Und so schnell, wie sich sein Einstieg in die Branche vollzieht, so schnell kann ihn auch sein Aus- bzw. Abstieg ereilen. Der Quereinstieg bei Wildcard, welcher ihn in ein vollkommen neues Umfeld ‚katapultiert‘, lässt in ihm den Wunsch wachsen, die Karriereleiter zu erklimmen (vgl. JB 37). Sein bisheriges ‚ärmliches‘ Durchschnittsleben kommt ihm jetzt falsch vor (vgl. JB 43), und so adaptiert er, schneller als sein (angeblich zu geringes) Gehalt ihm eigentlich erlaubt, den Lebensstil seiner Vorgesetzten und kauft sich teure Hemden und Designer-Möbel: „Es geht doch um nichts anderes als ein Sich-zugehörig-Fühlen, und das auch zu zeigen. Wo stünde er, zu wem zeigte er sich zugehörig, wenn er Schuhe trüge wie Bernd? [...] Auch noch weiter über Gumbo, im Olymp, sehen im Grunde alle genauso aus wie er selbst. Der Weg dorthin ist an seinen Rändern mit identisch aussehenden Menschen bestanden, die ihm begeistert applaudieren, ihm Parolen zurufen und die Wasserflasche recken. Es dauert nicht mehr lange. Es kann doch nicht mehr länger dauern. Er hält doch schon so lange durch. Warum muß ich mir das alles immer wieder gefallen lassen? Die Frage ist jetzt schon wieder leichter zu beantworten als am Nachmittag: um endlich anzukommen. [...] Davor, vor diesem letzten Moment, bevor er eintreten wird in seinen Raum, seinen Platz einnehmen wird, davor kann er auf keinen Fall aufgeben. Bis dahin muß er weiter mitmachen. Selbst wenn da am Ende etwas ist, was ihm noch weniger gefällt als das hier. Dafür hat er sich schon zu weit ins Innere hineingewagt. Dafür ist er schon zu weit gegangen.“ (JB 112-113, Herv. i.O.)
757 Vgl. David Brooks: Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite. München: Ullstein 2001 [2000]. 758 Diese Art der ‚Rekrutierung‘ scheint typisch für Wildcard zu sein, erhält doch auch eine Praktikantin einzig wegen ihres ‚Vitamin B‘ eine Anstellung (vgl. JB 151).
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Gumbo ist noch auf der ‚Suche‘ nach einer stabilen Identität759, und er versucht deshalb eine Verortung qua Inklusion. Eine theoretische Einordnung dessen, was sich hier als Gumbos Ungeduld in Bezug auf Anerkennung und Status zeigt, lässt sich mit Richard Sennett vollziehen, der schreibt: „That impatience reflects a shift in the larger culture’s value system, one in which stability as such increasingly lacks moral prestige.“760 Diese Ungeduld beruht auf einer Kausalität, die Stabilität mit Stillstand und Stillstand wiederum mit Scheitern verknüpft. Nur im Fortschritt, im Erklimmen der Karriereleiter bis zum selbstgesteckten Endziel, ist ein gelingendes Leben zu erkennen. Diese inhärente Forderung nach beständiger Dynamik kollidiert aber mit dem augenscheinlichen Wunsch nach einer Verortung, welcher sich in einer topografischen Metaphorik niederschlägt, imaginiert Gumbo doch seinen ‚Raum‘, seinen ‚Platz‘ sowie ein ‚Inneres‘, in welches er gelangen möchte, woraus sich wiederum ein Paradoxon zwischen Arbeits- und Lebenssituation ergibt. Zum Zweck einer erfolgreichen Etablierung wird Gumbo – ganz im Sinne der postindustriellen ‚Forderung‘ nach Selbst-Marketing – von einem Menschen zu einer Marke. Sein selbstgewählter Spitzname wird zum „Label“761; er ‚verdinglicht‘ damit, wie Beigbeders Octave, zu einer Art ‚Ware‘ und ist der hierarchisch organisierten Macht, welche durch angeblich flache Strukturen verschleiert wird 762, ausgeliefert. Die daraus resultierende ‚Arbeitsroutine‘ beschreibt Bessing, ganz ähnlich wie auch Beigbeder, als tagtäglichen Kampf: Gumbos Tätigkeit eine klassische ‚Irgendwas mit Medien‘-Tätigkeit, beschreibt er wie folgt: „Ich mache in der Hauptsache Konzeptioning, also entwickle Ideen, mache die Vorstufen zur Produktion bis zur Präsentation. Manche werden dann zu meinen Babys, die betreue ich dann auch weiter in der Produktion bis zur Abgabe.“ (JB 150, Herv. i.O.). Am Anfang des kreativen Prozesses steht eine Idee, welche er visualisiert und die von einer Praktikantin über Nacht auf „Präsentationspappen“ (JB 84) geklebt wird. Diese müssen von seiner Vorgesetzten ‚abgenickt‘ werden, ehe der Entwurf dem Chef Francis zum Urteil vorgelegt wird. 759 Vgl. Ruth Ciesinger: „Tristesse Gumbo. Joachim Bessing hat einen Roman geschrieben und übt sich in Gesellschaftskritik.“ In: Der Tagesspiegel 06.09.2001, S. 26. 760 Sennett (2006): The Culture of the New Capitalism, S. 75. 761 Maus (2001): Job fressen Gumbo auf. Vgl. zum Namen als Marke in der Pop-Literatur Bertschik (2010): Neue Popliteratur International, S. 242-243. Bessings Namenswahl erweist sich dabei als ähnlich einprägsam wie Genazinos ‚Abschaffel‘: Als ‚Gumbo‘ wird ein Eintopf aus den amerikanischen Südstaaten bezeichnet, der sich in zweierlei Hinsicht interpretieren lässt. Positiv gewendet vereint der ‚Gumbo‘ die Einflüsse der unterschiedlichen – in den Südstaaten, speziell in Lousiana, lebenden – Kulturen; negativ gewendet ist der Eintopf aber auch eine Art der ‚Resteverwertung‘, also ohne eine eigene ‚Identität‘. 762 Vgl. Werner Thuswaldner: „Tot den Sündern. Der Roman Wir Maschine von Joachim Bessing in der Deutschen Verlagsanstalt.“ In: Salzburger Nachrichten 05.01.2002, S. 8. Auch Kümmel konstatiert in seinem Dossier-Artikel über die gegenwärtige Werbebranche, das öffentliche Bild des Werbers in seiner ‚Laissez-faire Haltung‘ verkläre die Rolle von Hierarchie und Druck, beide seien mehr als präsent, denn eigentlich drehe sich alles um die eigene Leistungsfähigkeit sowie den Kampf gegen die Konkurrenz, nach dem Motto: „Selbstoptimierung ist das Ziel: Sei die Maschine, nicht das Zahnrädchen!“, Kümmel (2013): Ein Krieg um Ideen, S. 52-53, Herv. i.O.
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Francis ergeht sich dann, seinen Ruf als ‚kreatives Genie‘ nährend, in seinem ganz eigenen „Ritual“ (JB 86) der Mitarbeitererniedrigung und Selbsterhöhung, indem er den Entwurf bearbeitet und kritisiert, Ideen verwirft und seine Angestellten beschimpft (vgl. JB 84-91). „Danach dann, eventuell, das Ganze wieder von vorn.“ (JB 85), lautet Gumbos lakonischer Kommentar. Statt kreativer Teamarbeit ‚auf Augenhöhe‘ herrscht ein „Kraftfeld der Angst“ (JB 90), welches den Betroffenen beständige Aufmerksamkeit abringt. Der Roman inszeniert die Werbebranche als ein „Angstsystem“763 der Nicht-Teilhabe, der Ohnmacht und des Abstiegs. Es herrscht eine allgegenwärtige Angst vor dem „Gefühl des Unbrauchbargewordenseins, das es ja heute überall gebe, das in den letzten Jahren regelrecht gewuchert sei“ (JB 127), wie Francis es formuliert, womit er die wachsende und zunehmend auch die arbeitsgesellschaftlich ‚Etablierten‘ betreffende Prekarität anspricht. Anhand von Alfred und auch von Walter wird diese Form der Exklusion mit seinen psychischen wie physischen Folgen vor Augen geführt; doch auch der Mann an der Spitze – Francis Gurt – kennt diese Angst (vgl. JB 188-189).764 Dass die eigentliche Arbeit nahezu arbiträr erscheint und die Laune der Vorgesetzten sehr viel mehr zählt (vgl. JB 85-91), dass Zuständigkeiten nicht geklärt sind (ein Aspekt, den Mora in ähnlicher Weise aufgreift) und dass Stellvertreter Dinge miteinander besprechen, die sie eigentlich nicht entscheiden können (vgl. JB 30-31), lässt bei Gumbo ein Gefühl der Ohnmacht entstehen. Dieses kulminiert, als Francis ihn, per handschriftlicher Notiz, von seinem aktuellen Projekt abzieht und ihm einen völlig anderen Auftrag erteilt: „Gumbo! steht in Francis’ schleifiger Handschrift auf einem Blatt, das quer über Gumbos Tastatur liegt. Ich hatte gestern nacht die größten Schwierigkeiten, Dich privat zu erreichen. Sei doch so gut und lasse dringend Deinen Anschluß überprüfen, ist in Deinem eigenen Interesse. Ich wollte Dir sagen, daß ich Dich aus Jil Sander herausziehen muß, weil ich Dich seit gestern für etwas Wichtigeres brauche: Die RWE (größter europäischer Stromversorger) hat angefragt, ob ich in zwei Wochen auf ihrem Symposium ein einstündiges Panel abhalten kann. Thema: Skizzen zu einer Marketingstrategie für östliche Anschlußnationen. Der Job ist ziemlich wichtig für mich, auf dem Symposium hocken ziemlich viele Entscheider (gut für uns). Bitte informiere Dich irgendwie und schreibe mir das Ding übers Wochenende. Ich komme dann spätestens Montag auf Dich zu, und wir gehen das Ganze zusammen durch. Bis dahin habe ich leider keine Zeit, Dich zu briefen, weil ich mich jetzt voll in Jil Sander reinhängen muß, sonst fahren wir das an die Wand. Danke Dir! Francis Gurt. [...] Jetzt, wo alle Drecksarbeit gemacht ist, wo sich Gumbo diesen ganzen Dreck von Francis anhören mußte, jetzt soll er sich also herausziehen lassen und Skizzen zum Oststrom machen. Für einen Vortrag, den er nicht einmal selbst halten wird, denn, wie sagt Francis immer so gerne und schön: Die wollen eben meinen Namen. Gumbo hat leider noch keinen Namen. Wo soll der denn auch herkommen, wenn er die Oststrom-Skizzen recherchiert [...]?“ (JB 152-153, Herv. i.O.)
763 Brinkmann (2001): ‚Sirmelndes Gebrizzel‘. 764 Kümmel berichtet über Jean-Remy von Matt, den wohl bekanntesten Werber Deutschlands, auch er sei von Angst angetrieben (vgl. Kümmel (2013): Ein Krieg um Ideen, S. 53). Francis erscheint gewissermaßen wie das literarische Pendant zu von Matt; erfolgreich, aber trotzdem gehetzt und verängstigt.
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In diesem längeren Zitat werden unterschiedliche, auf der narrativen Ebene verhandelte Aspekte deutlich: Zum einen die Erwartung, immer und überall (nachts und privat) erreichbar zu sein (und dies auch noch im ‚eigenen Interesse‘), welche zu einer Entgrenzung von Arbeit und Freizeit führt. Zum anderen das ‚Hamsterradmäßige‘ von Gumbos Aufstiegsbestreben. Trotz seiner Mitarbeit am Jil Sander-Katalog bleibt er doch auf der untersten Sprosse der Karriereleiter, da er vor einem etwaigen Schritt hinauf von dem prestigeträchtigeren Projekt abgezogen und einer Fleiß- und Brotarbeit zugeteilt wird, die voll und ganz das ‚Ende des Expertentums‘ („Bitte informiere Dich irgendwie und schreibe mir das Ding übers Wochenende.“) besiegelt. Anstatt konkrete Anweisungen erhält Gumbo den diffusen Arbeitsauftrag, ein ‚Ding‘ irgendwie zusammenzuschreiben, der mit der Behauptung, es handele sich um einen äußert bedeutenden Vortrag, kollidiert. Gumbo fühlt sich entsprechend hin und her geschoben, er resigniert und auch sein ‚neues‘ Leben als Mitarbeiter von Wildcard, welches ihn zuvor mit Enthusiasmus erfüllte, fühlt sich plötzlich falsch an: „Er hält es nicht mehr aus, den Abend mit den Freunden am Tisch, am immer gleichen; […] Das geht ja alles, manchmal, ist auch hin und wieder ganz lustig und genau richtig, aber nicht heute. Heute muß Gumbo alleine sein und denken.“ (JB 45). Und als schließlich seine ‚Entdeckerin‘ Barbara, aus unbekannten Gründen, zu dem Entschluss kommt, sie habe sich in ihm getäuscht, aus ihm werde „leider nichts“ und diese Fehleinschätzung lapidar als „Trial and error“ (JB 130, Herv. i.O.) bezeichnet, ist Gumbos Ausstieg besiegelt. Seine Mentorin lässt ihn fallen und für ihn bricht eine Welt zusammen (vgl. JB 9596). So rasch, wie Gumbo ‚drinnen‘ war, ist er auch wieder draußen und sein Abstieg endet auf der Straße: „Gumbo ist in Fahrt gekommen und juckt sich grinsend die Stiche in den Armbeugen, um die sich grüne Blutergüsse gebildet haben. […] [Z]ieht seinen Mantel aus ihrem Loch heraus, klopft sich die Ärmel ab […], setzt sich seine Brille auf, ohne die Gläser anzupusten, stellt sich den Mantelkragen auf und kommt dabei schon ins Laufen. Über die schattige Wiese, Richtung Milchstraße.“ (JB 204205). Eine andere Abwärtsspirale zeigt sich anhand des Protagonisten Alfred – „die mahnende Kontrastfigur“765 zu Gumbo, wie Rezensent Stephan Maus konstatiert. Alfred ist ein Arbeiter ‚alter Schule‘, dessen Perspektive die Entwicklung sowie die auf Textebene konstatierte Problematik der Kreativbranche ebenfalls deutlich macht. Auf ihn trifft zu, was Peter Kümmel in seinem Artikel über die Werbebranche in Folge der digitalen Revolution schreibt: Diese lasse aus jeglicher noch so kreativen Idee nur einen weiteren Content werden, der – gleichgeschaltet mit zahlosen weiteren Contents – in Konkurrenz um die begrenzte Aufmerksamkeit der Zielgruppen trete. Das Resultat daraus beschreibt Kümmel wie folgt: „Der Schleier der Melancholie legt sich über die Kreativen, in ihrem Dämmer rücken sie einander näher, Künstler und Werber, aber sie wirken nicht froh dabei – eher hysterisch.“766 Die hysterische 765 Maus (2001): Job fressen Gumbo auf. Vgl. zu Alfred auch Friedbert Aspetsberger: „Label-Kunst, Imitate, neue Naivität. Zu den jung-deutschen ‚Popliteraten‘ Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Elke Naters, Joachim Bessing und andern.“ In: Ders. (Hg.): (Nichts) Neues. Trends und Motive in der (österreichischen) Gegenwartsliteratur. Innsbruck u.a.: Studien Verlag 2003, S. 79-104: 89-90. 766 Kümmel (2013): Ein Krieg um Ideen, S. 53.
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Phase liegt zum Zeitpunkt der narrativen Gegenwart bereits hinter Alfred und er hat sich vollkommen in einer melancholischen Resignation eingerichtet. Entsprechend bleiben die Ideen aus (vgl. JB 13-14). Einst war er ein erfolgreicher Werber, nun lebt er, so vermutet Gumbo herablassend, von Sozialhilfe (vgl. JB 20-22, 93). Er ist voll und ganz ein homo melancholicus: „Abends, beim Wein wurde er traurig. Sein Leben, so wußte er, würde bald immer so sein wie an diesem Nachmittag. Eine endlose Aneinanderreihung von Treffen mit Gerninger [ein Kunde] stand ihm bevor. Die Maschine in der Maschine: Er, Alfred, mußte gegen sein Wissen, daß da nichts ist, ständig etwas Neues schaffen. Werbung – was war das schon? Gegenseitig mußte man sich die Angst nehmen, das war alles. Die Angst, daß es einer ausspricht, daß alles so lächerlich ist und so klein. Daß begabte und erwachsene Menschen den ganzen Tag herumsitzen und brüten, welche Rolle ein Waschmittel spielen könnte. Oder eine Cola. Daß man sich eben weiter fest einredet, daß es gut ist. Daß es richtig ist und gut so. So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Das Leben als ein ständiges Sich-neu-Erfinden, ständiges Kaschieren und Behaupten konnte nicht gut gehen, ihn nicht glücklich machen. [...] Er hatte keinen Weg vor sich, dachte Alfred und begann zu weinen. Während er ging, entstand zwar ein Weg, aber wohin denn?“ (JB 22)
Alfred versucht den Ausstieg aus der, als überflüssig und sinnentleert bewerteten Branche; die Arbeit erscheint ihm als ‚Bluff‘.767 Er kündigt seine Anstellung und versucht einen Neuanfang als Wirt auf Ibiza, wobei das Irreale des Versuchs sich in der absoluten Klischeehaftigkeit, mit welcher Bessing diese Episode zeichnet, offenbart (vgl. JB 23, 51-61). Alfreds Versuch scheitert entsprechend, er kehrt zurück und wird zum betrunkenen Dauergast in der Osteria, von seinen ehemaligen Kollegen allenfalls noch ‚geduldet‘. Am Ende seiner Episode begibt er sich auf eine geheimnisvolle, esoterisch anmutende „Reise ins Licht“ (JB 93, Herv.i.O) nach München, wo er eine Urlaubsliebe sucht, aber etwas ganz anderes findet; einen anderen, einen mysteriösen ‚Ausstieg‘, der an späterer Stelle noch genauer betrachtet wird. Befindet Alfred sich am ‚Ende‘ einer versuchten Karriere, so steht Gumbo noch am Anfang; erkennt Alfred in seiner tagtäglichen Arbeit einen großen ‚Bluff‘, so affirmiert Gumbo die Regeln des Spiels noch und versucht, sich ihnen anzupassen. Seine identitäre Flexibilität sieht er dabei als seine Stärke an: „Dabei hat doch gerade Gumbo ein außergewöhnlich fein ausgebildetes Gespür. Ein Sensorium mit nanometrisch feinen Verästelungen. Er trägt es nicht nur am Kopf wie ein Schmetterling – es wächst überall aus ihm heraus, besteht aus zehntausenden Röhrchen; alle zusammen noch dünner als ein Haar. Mit Blut gefüllt, erwärmt von ihm selbst. Er ist eingesponnen davon wie in einen Kokon, und der wiederum kann sich nach der einen oder anderen Seite, nach vorne, nach hinten richten wie ein Baum aus Antennen im Wind. Andocken kann er sich damit an Menschen, wildfremde zum Teil, aber auch Tiere, Hunde, Vögel – geht alles.“ (JB 95)
Die phantastische Seite des Romans klingt in diesem Zitat bereits an; Gumbos Wunsch nach Bindung wird poetisch umgeformt, sein (immaterielles) Gespür wird 767 Es ist nicht einzig die Werbebranche, die Bessing so beschreibt. Ganz ähnlich erscheint der Journalismus (vgl. JB 61-65).
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zu einer (materiellen) Apparatur. Allerdings wird gerade dieser, Gumbos Handeln so zentral motivierende Wunsch nach Anerkennung und Bindung durch die unglückliche Liebe zu Barbara zerstört (vgl. JB 96) und damit wird auch sein ganz auf Zugehörigkeit ausgerichtetes Streben unterminiert. Fremdheitsgefühle sind die Folge. „Ich bin fremd, nur Betrachter.“ (JB 118), heißt es, habe er es doch „nie geschafft […], für etwas mitzufühlen. Ein Teil von etwas zu sein. Mich überhaupt als Teil des Lebens zu empfinden.“ (JB 118). Beschreibt Gumbo sich zunächst noch als ‚eingesponnen‘, bereit, an alles und jeden ‚anzudocken‘, so findet er sich plötzlich vereinzelt. Alle seine Versuche, Teil von etwas oder jemandem zu werden sowie Karriere zu machen, schlagen fehl. Seine Feststellung: „Mein ganzes Leben werde ich gefahren, […]. Immer steige ich in etwas, das dahingleitet. Immer werde ich gefahren, nie bin ich am Steuer.“ (JB 109) bringt seine Ohnmacht auf den Punkt. Er erfährt die von Gerhard de Haan beschriebene „Passivität des Gelebt-Werdens“768, fühlt sich als Rädchen in einer Maschine, ohne jeglichen Handlungsspielraum. In der Folge versinkt er in Ennui und wie bei Beigbeder und Houellebecq führt auch Gumbos Ennui in die Destruktion.769 Zunächst richtet er die in ihm entstehende Gewalt gegen andere, etwa gegen seinen Freund Bernd oder gegen ein in der Bahn schreiendes Kind (vgl. JB 9697, 115-116, 142-146). Am Ende des Romans mündet sie in Selbstzerstörung und Gumbo endet entsprechend als alkohol- sowie heroinsüchtiger Junkie auf Hamburgs Straßen (vgl. JB 202-205). Anhand seiner Protagonisten Alfred und Gumbo setzt Bessing – wie auch Poschmann, Genazino, Duve sowie Beigbeder und Houellebecq – die problematische bis fehlschlagende Positionierung in der Arbeits- und Leistungsgesellschaft literarisch in Szene, wobei die Spezifika der Kreativbranche, mit ihrer Betonung u.a. von Inspiration, Initiative und Teamwork, ins Blickfeld rücken. Wie Kopp möchte Gumbo Akteur eines Spiels sein, dessen Regeln er nicht beherrscht. 770 Und wie Mora hat auch Bessing damit einen Roman geschrieben, der sich in der Wahl seines Sujets deutlich an aktuellen gesellschaftlichen Debatten orientiert, einen, wie Rezensent Ulrich Rüdenauer es formuliert, „Roman zur Zeit, der sich an das Funktionieren heutiger Beziehungsökonomien unterm Diktat des Geldes und des schönen Scheins 768 Gerhard de Haan: „Buchhaltungen des Lebens.“ In: Lenzen (1989): Melancholie als Lebensform, S. 55-80: 75. 769 Bessing selbst beschreibt den Ennui als Reaktion auf den als oberflächlich und individualisiert wahrgenommenen Zeitgeist, vgl. Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin: Ullstein 31999, S. 34. Zum Aspekt der Destruktion vgl. mein Aufsatz „‚THIS IS NOT AN EXIT.‘ Die Spirale der Destruktion in der Gegenwartsliteratur.“ In: Thomas Erthel et al. (Hg.): Spannungsfelder: Literatur und Gewalt. Tagungsband des 3. Studierendenkongresses der Komparatistik. Frankfurt/M.: Peter Lang 2013, S. 251-260: 256-259. 770 Vgl. Ulrich Rüdenauer: „Joachim Bessing will Sand sein im Getriebe der Wir Maschine.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.12.2001. Auf: http://www.faz.net/aktuell/feuille ton/buecher/rezensionen/belletristik/-rezension-joachim-bessing-will-sand-sein-im-getrie be-der-wir-maschine-142419.html, zuletzt gesehen am 20.04.2015 und Sascha Verna: „Würdest du bitte endlich die Fresse halten, bitte! Joachim Bessings Roman-Debüt.“ In: Die Zeit 04.10.2001, S. 9.
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herantastet. […] Man könnte sogar sagen, Bessing wollte mal einen richtig gesellschaftskritischen Roman vorlegen: Sand sein im Getriebe der Wir-Maschine, die kein Außen, kein Dagegen mehr zulässt.“771 Erscheint Wir Maschine mit seiner Kritik an gesellschaftlichen Umständen nicht wirklich originell, wie u.a. die zahlreichen Parallelen zu Beigbeders 39,90 belegen, so beschreitet Bessing in Bezug auf die Suche nach einem Ausweg hingegen andere Wege, wobei er drei Möglichkeiten literarisch durchspielt. Terror wider den melancholischen ‚Zeitgeist‘ Zunächst wird der ‚klassische‘ Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft in Form von Alfreds fehlschlagendem Versuch eher klischeehaft beschrieben und damit negiert. Deutlich wird dabei das Paradoxe an dem Back-to-Basic-Wunschdenken, welches den meisten Ausstiegsphantasien zugrundeliegt, betont: „Das hatte der Händler [auf Ibiza] nun in letzter Zeit schon öfter gehört. Nicht nur von angehenden Wirten, auch von Töpfereigründern, Olivenfarmern, Pareo-Schneidern, Badetuchverleihern. Sie kamen vom Festland, aus Holland, Deutschland, irgendwoher, wo es kalt war, und kauften sich die alten Häuser am Meer, und alle, alle wollten sie kein Geld. Arbeiten wollten sie auch nicht. Sie lächelten, wenn sie das Wort nur hörten. Als ob Arbeit schmutzig sei, als ob Arbeit krank mache. […] Zuhause waren sie vielleicht Lehrer, kamen aber im Sommer für ein paar Wochen hierher, um die reifen Mandeln von den Bäumen zu holen. Tagelöhner! War das nicht verrückt?“ (JB 53)
Auf der Suche nach einer vermeintlich ursprünglichen, nicht-entfremdeten Arbeit werden, so beschreibt es Bessing, u.a. aus deutschen Lehrern ‚tagelöhnende‘ Arbeitsmigranten, wobei sich jeder tatsächliche Tagelöhner wahrscheinlich kaum etwas Erstrebenswerteres als eine Festanstellung im öffentlichen Dienst einer westeuropäischen Industrienation vorstellen kann. Und dennoch treibt der Wunsch nach einem solchen ‚alternativen‘ Leben, auch das bildet das Zitat ab, zahlreiche Menschen aus ganz Europa um. Sind sowohl die Integration als auch der Ausstieg verstellt, bleibt, wie Gumbos Entwicklung zeigt, nur das Abgleiten in die Destruktion, zum einen in Form einer alkohol- und drogeninduzierten Selbstzerstörung772, zum anderen in Form von purem Terrorismus, dem sich der Roman in einer weiteren Episode widmet. Zentrale Figur 771 Rüdenauer (2001): Joachim Bessing will Sand sein im Getriebe der Wir Maschine. Vgl. zum Aspekt der Gesellschaftskritik auch Maus (2001): Job fressen Gumbo auf sowie Ciesinger (2001): Tristesse Gumbo, die konstatiert: „Gumbo geht unter, aber nicht weil er die Präsentation für den Jil-Sander-Katalog in den Sand setzt. Die Menschen interessieren sich einfach weder für ihn noch füreinander. Der Nutzen des Gegenübers besteht darin, sich seine gedanklichen Ergüsse nicht selbst erzählen zu müssen.“. Gumbo verantwortet sein Scheitern demnach nicht selbst, sondern es ist durch gesellschaftliche Missstände verursacht, wie durch den übersteigerten sowie narzisstisch geprägten Individualismus und die daraus resultierende Vereinzelung. 772 Sowohl Alkohol- als auch Drogenkonsum sind sehr präsent, vgl. zum Trinken JB 18-19, 35-37, 67, 93-94, 98, 110, 121-123, 138-140 und zum Konsum von Cannabis, Kokain und Heroin vgl. JB 31, 65, 68-71, 75-78, 98-101, 167-169, 188, 190-191.
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hierbei ist der „rechts-esoterische[]“773 Bernd, der zunächst noch als ‚harmlos‘ gilt, sich am Ende des Romans jedoch als etwas naive, aber gefährliche Mischung aus Andreas Baader und Alexander DeLarge erweist.774 Nachdem er dem ahnungslosen Gumbo gegenüber mehrfach Andeutungen gemacht hat, beginnt Bernds ‚Karriere‘ als Terrorist mit kleineren Bombenanschlägen auf einen Drogentreff (vgl. JB 101) sowie einen Dönerimbiss (vgl. JB 192), dem auch der Agenturchef Francis Gurt zum Opfer fällt. Und letztlich kulminiert seine systemisch begründete Destruktivität in der angedeuteten Zerbombung Hamburgs. Könnte Bernds „Sozialkritik“775 deutlicher nicht sein, so ist sie auch in einem hohen Maße floskelhaft: „Das ganze System ist kaputt, und es ist nur noch eine Frage von, von –‚ […] es geht nicht mehr lange. Ich sehe mir das nicht mehr länger an. […] Wir verlieren die Kontrolle. Aber damit ist bald Schluß.“ (JB 79-80), sagt er an einer Stelle zu Gumbo; und an späterer Stelle proklamiert er: „Lügen alles Lügen. Lebenslügen, Arbeitslügen, Liebeslügen.“ (JB 116). Ganz dem utopischen Denken verpflichtet, schwebt ihm eine „ganze[] neue Welt“ (JB 116) vor – jenseits von Konsumismus und Materialismus, gleichsam befreit – welche er ‚herbeizubomben‘ gedenkt. Es ist die Kälte, die Erstarrung der Gesellschaft, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert, die Bernd besonders kritisiert, und die geringe Resonanz auf seinen ersten Anschlag, dem einige Drogenabhängige zum Opfer fallen, scheint ihn darin zu bestätigen (vgl. JB 117), wie auch die Erfahrungen Gumbos diese Behauptungen zu bestätigen scheinen. Bernd wird folglich aus einem Unbehagen an der spätmodernen conditio humana zu einem Terroristen und er geht damit einen entscheidenden Schritt weiter als etwa Beigbeders oder Houellebecqs Protagonisten.776 Mit Jean-François Lyotard ließe sich sagen, er habe die postmoderne „Phase der Erschlaffung“ 777 hinter sich gelassen und sich dem Terrorismus zugewandt, den Lytoard als eine von zwei Möglichkeiten sieht, sich dem melancholischen Zeitgeist gegenüber „handelnd zu verhalten“ 778, wie es Niels Werber in seiner Engführung von Lyotard und Bessing formuliert. Bessing setzt damit literarisch in Szene, was er in seinem Buch Tristesse Royale bereits thematisiert hatte. „Ich glaube eben, die Bombardierung der Stätten des Falschen von innen heraus wird die Zukunft sein“779, so seine, vor dem Hintergrund des ironischen 773 Rüdenauer (2001): Joachim Bessing will Sand sein im Getriebe der Wir Maschine. 774 Andreas Baader wird als „Andy Baader“ (JB 179) sogar namentlich genannt. An Stanley Kubricks Klassiker A Clockwork Orange (1971) erinnert neben Bernds „Suppensorium“ (JB 155) auch die Szenerie des vorletzten Kapitels, eine verlassene sowie verfallene Bühne (vgl. JB 193). Darüber hinaus wird der Film auch dezidiert genannt (vgl. JB 177). 775 Brinkmann (2001): ‚Sirmelndes Gebrizzel‘. 776 Vgl. Verna (2001): Würdest du bitte endlich die Fresse halten, bitte! 777 Jean-Françoise Lyotard: „Was ist postmodern?“ In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1993, S. 33-48: 33. 778 Niels Werber: „Der Teppich des Sterbens. Gewalt und Terror in der neusten Popliteratur.“ In: Weimarer Beiträge 49/1 (2003), S. 55-69: 59. 779 Bessing (1999): Tristesse Royale, S. 256. Vgl. zum Terror bei Bessing Anne Lena Möskens: „‚Wir waren die, die erkannten, was schieflief.‘ Joachim Bessings und Tim Staffels Terrorvisionen.“ In: Inge Stephan u. Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF. Köln,
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Habitus der sogenannten Pop-Literaten780 zu deutende Aussage, die darüber hinaus dennoch offenbart, dass die Gegenwart der frühen Nullerjahre von ihm als posthistorische Zeit ohne Spannung erlebt wird, die den Wunsch nach einem Bruch, einem, und sei es mit kriegerischen Dimensionen ausgestatteten, Großereignis evoziert. 781 Die vorletzte Szene von Wir Maschine zeigt demgemäß eine dystopische Vision des post-terroristischen Hamburgs. Ein namenloser Sprecher (vielleicht Bernd) verliest im „Nirgendwo“ (JB 193) eine Art Manifest, welches aus der ‚Wir‘-Perspektive die Beweggründe und Errungenschaften der terroristischen Akteure darlegt. Das ‚Wir‘ erscheint dabei, im Kontrast zu den wechselnden Perspektiven der vorhergehenden Episoden, die vor allem die Vereinzelung der Protagonisten betont, als eine Einheit: „Wir waren die, die erkannten, was schieflief. Wir waren die, die davor warnten, was kommt. Wir waren die, die ihr Schwert in die Hand nahmen, anstatt nur weiter damit zu fuchteln.“ (JB 198).782 Zwar führe man nun ein Leben in Ruß und Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 299-312 und zum Terror in Tristesse Royal vgl. Stefan Bronner: „Tat Tvam Asi – Christian Krachts radikale Kritik am Identitätsbegriff.“ In: Ders. u. Hans-Joachim Schott (Hg.): Die Gewalt der Zeichen – Terrorismus als symbolisches Phänomen. Bamberg: University of Bamberg Press 2012, S. 331-360: 334-337 sowie ausf. Helena Dawin: „Terror als Ausweg aus der Tristesse? (Pop-)Kulturelle Erinnerungen an die RAF.“ In: Stephan/Tacke (2008): NachBilder der RAF, S. 313-323. Zeigt der Terror in Wir Maschine deutliche Anleihen bei Bret Easton Ellis’ Roman Glamorama (1998) (vgl. Werber (2003): Der Teppich des Sterbens, S. 60-61), offenbart sich darin, wie auch in den bereits konstatierten Analogien zwischen Beigbeder und Bessing, eine ausgeprägte Intertextualität zwischen den sogenannten ‚Pop-Literaten‘ Europas sowie Nordamerikas, die Claudia Breger dazu veranlasst, von „Topoisampling“ zu schreiben (Claudia Breger: „Pop-Identitäten 2001: Thomas Meinecke, Hellblau, und Christian Kracht, 1979.“ In: Gegenwartsliteratur – Ein germanistisches Jahrbuch/Contemporary Literature. A German Studies Yearbook 2 (2003), S. 197-225: 209, Herv. i.O.). Gérard Genettes Intertextualitätstheorie folgend, handelt es sich dabei um eine Form der ‚Hypertextualität‘ (vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 [1982], S. 14-21). Zur globalen Vernetzung der Pop-Literaten, die ihre Vorbilder zumeist im anglophonen Raum finden, vgl. ausf. Bertschik (2010): Neue Popliteratur International. 780 Vgl. ausf. Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik Sonderband 10 (2003): „PopLiteratur.“ München: Boorberg 2003, der das gesamte Spektrum des Pop ausgehend von den 1960er Jahren betrachtet, sowie zu jener Strömung ab den 1990er Jahren vgl. Thomas Jung (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990. Frankfurt/M.: Peter Lang 2002. 781 Vgl. Bessing (1999): Tristesse Royale, S. 156-159 und vgl. dazu Werber (2003): Der Teppich des Sterbens, S. 58. 782 Haan bezieht sich in seinem Essay zum Identitätsbegriff auf Habermas und liefert damit eine treffliche Beschreibung der Bessing’schen ‚Wir Maschinen‘: „Es könnte doch sein, und auch dies thematisiert Habermas, daß es zu kollektiven ‚Identitätsprojektionen‘ kommt. Das heißt, eine ‚Gruppe‘ oder gar eine ‚Bevölkerung‘ könnte versuchen, sich gemeinschaftlich in einer neuen Identität einzurichten. Damit wäre das Problem der Vereinzelung schließlich gelöst, und es ist schwer vorzustellen, daß sich eine Bevölkerung zum Fall beschädigter Identität mit den oben beschriebenen Folgen erklärt. Nun meint
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Dreck, abgeschnitten von der Außenwelt und in der Hoffnung lebend, dass auch anderenorts die Menschen auf ähnliche Weise aktiv geworden seien (vgl. JB 197198), so der Sprecher weiter, aber nun habe jeder seine „Rolle“, alles habe einen „Sinn“ (JB 199). Inwiefern die terroristische Zerstörung Hamburgs auf textimmanenter Ebene tatsächlich stattfindet, bleibt offen. Immerhin folgt auf das ‚Manifest‘ noch das Abschlusskapitel, welches Gumbo als Junkie auf Hamburgs Straßen zeigt (vgl. JB 202205). Letztlich erscheint diese aber auch nicht die zentrale Leerstelle des Romans zu sein, ist doch Bernds Terror, trotz aller Gesellschaftskritik, zum einen äußert klischeehaft beschrieben, zum anderen ein Terror ohne „Referenz“, „nur ein Element des Ensembles aus Drogen, Mode, Sex und Lifestyle“ 783, bei dem, wie Niels Werber es formuliert, der „Ästhetizismus“784 im Vordergrund steht. Vielschichtiger wird die Frage nach dem Ausweg allerdings in jenen Textpassagen verhandelt, die den Rahmen der konkreten, ‚realistischen‘ Beschreibung verlassen, und die sich durch eine Abstraktheit auszeichnen, welche an phantastische sowie Science-Fiction-Literatur denken lässt. Auswege in die oder aus der Wir Maschine Um diese phantastischen Episoden zu beleuchten, ist zunächst der Frage nachzugehen, wofür das ‚Wir‘ im Titel des Romans steht.785 Eine erste Deutung geht von einem arbeitsgesellschaftlichen ‚Wir‘ aus, wobei Wildcard zu einer Art mikrokosmischem ‚Wir‘ wird, mit einer Corporate Identity, über die Agenturchef Francis behauptet: „Wildcard ist kein Medienunternehmen wie die anderen. Wir machen hier nur Sachen, die uns selbst Spaß machen. […] Das Ganze mußt du dir wie ein Spiel vorstellen.“ (JB 45). Das von Francis betonte kollektive Moment (‚wir‘, ‚uns‘) schlägt sich nieder in der preferierten Arbeitsform, der Teamarbeit. Entsprechen die dabei vorausgesetzten flachen Hierarchien allerdings nicht der Realität, so besitzt die Teamarbeit darüber hinaus, wie Sennett es beschreibt, aufgrund ihrer OberflächlichHabermas, daß dieses Experiment nicht ohne Risiko ist: ‚Sie (die Identitätsprojektionen, G.d.H.) sind auf recht schmerzliche Weise fallibel, d.h. wenn sie eine falsche Identität fördern, tun sie weh.“ (Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 67-68). Sind sowohl die Corporate Identity der Agentur Wildcard als auch die phantastische ‚Wir Maschine‘ eine solche Identitätsprojektion, so erweist sich jenes terroristische ‚Wir‘ am Ende des Romans als eine fallible Identitätsprojektion. 783 Werber (2003): Der Teppich des Sterbens, S. 62, 65. Zum Thema der Referentialität von Terrorakten vermerkt Nancy Billias, es handele sich im terroristischen Akt um eine „auto-immune disease“, die nur ein Spiegel der Gewalt des jeweiligen Systems sei und deshalb nicht zu dessen Tod führen könne, also per se selbstreferentiell sei (Nancy Billias: „Terrorism: Within and Without.“ In: Dies. (Hg.): Territories of Evil. Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2008, S. 223-234: 223-224. Die Autorin bezieht sich dabei auf Ausführungen Baudrillards). Die hier anklingende Spiegelfunktion von literarisch inszenierten Gewaltakten wird im Kontext von Bret Easton Ellis’ American Psycho wieder aufgegriffen. 784 Susanne Balthasar: „Fahren tun die andern. Pop und Flop: Die Wir-Maschine von Joachim Bessing.“ In: Frankfurter Rundschau 13.08.2002, S. 17. 785 Vgl.Verna (2001): Würdest du bitte endlich die Fresse halten, bitte!
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keit nicht das Potential, um „[d]eeper shared commitments, loyalties, and trust“ 786 zu fördern, und damit eine tiefere Verbundenheit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber herbeizuführen. Ganz im Gegenteil entwickelt sich zu der eigentlichen Verheißung einer Corporate Identity eben kein ‚Wir‘-Gefühl. Ebenso wie durch die von Francis angesprochene postfordistische Entgrenzung von Arbeit und Spiel kein Zustand ultimativ authentischer und erfüllender Arbeit hergestellt wird.787 Dass man sich im allgemeinen Sprachgebrauch aber auch in der Politik zunehmend auf ein gemeinschaftliches ‚Wir‘ stütze, drücke aus, so beschreibt Sennett es in The Corrosion of Character, die Sehnsucht der Menschen nach der Verwurzelung in einer Gemeinde aus.788 Haan schreibt dazu: „Ich-Identität ist nur in dem Maße gegeben, wie das, was als eigene Identiät behauptet wird, sich einerseits von dem unterscheidet, was andere Gesellschaftsmitglieder für ihre Identität ausgeben, andererseits von eben diesen anderen auch als Identität anerkannt ist. Damit ist die ‚Selbstidentifikation‘ abhängig von der Zugehörigkeitsanerkennung durch eine Gruppe, die sich wiederum selbst definieren muß innerhalb des weiteren gesellschaftlichen Umfeldes.“789
Und obwohl Wildcard das Versprechen von Zugehörigkeit, von einem ‚Wir‘-Gefühl gibt, wird dieses nicht eingelöst und Gumbo findet keinen Halt; weder in einer sozialen Gruppe noch in einer stabilen Institution. Er beginnt zu driften. Die Arbeitsgesellschaft als ‚Wir‘-Maschine funktioniert folglich nicht, sie hat – so bildet der Roman nach dieser Lesart ab – durch ihre Konkurrenz- und Leistungsmentalität vielmehr den Zerfall der Gesellschaft in individuelle ‚Schicksale‘ zur Folge. Die zweite Möglichkeit, das ‚Wir‘ zu interpretieren, führt wiederum zu den bereits angesprochenen, phantastisch anmutenden Textstellen. Es meint hier den Ausweg in eine andere, eine ‚echte‘ Solidarität und der Roman beschreibt damit – anders als Rezensent Ulrich Rüdenauer es deutet790 – den Ausstieg in eine ‚Wir Maschine‘ und aus einem falschen ‚Kollektivismus‘ der Bindungslosigkeit, der Vereinzelung und der Konkurrenz. So heißt es gleich zu Beginn des Romans: „Und auf alle drei [beschriebenen Protagonisten] [...] sirmelt aus großer Höhe ein silbernes Okular herab. Es überschlägt sich langsam auf seinem Flug und nach jeder Umdrehung um die eigene Achse reflektiert sein Gehäuse das Licht der Sonne in einem spektralen Blitz. Und je tiefer es fällt über die Stunden, je näher es ihnen kommt, je tiefer es eintaucht in die Atmosphäre, desto lauter wird dabei sein Ton – zuerst ist es ein Rauschen, ein Flattern, dann ein Pfeifen, wird zum Mahlen, zum Dröhnen, einem ohrenbetäubenden Geheul.“ (JB 10-11)
786 Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 115. 787 Die hier thematisierte Entgrenzung von Arbeit und Spiel weist ein sehr weites Spektrum auf (vgl. Füllsack (2009): Arbeit, S. 106-107). Sie manifestiert sich dabei zunehmend auch in der Architektur und der Gestaltung von Arbeitsräumen. In diesem Kontext ist der Bildband von Sofia Borges, Sven Ehmann u. Robert Klanten (Hg.): WorkScape. New Spaces for New York. Berlin: Gestalten 2013 überaus sehenswert. 788 Vgl. Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 137-138. 789 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 67. 790 Vgl. S. 239, Fn. 771.
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Dieses ‚sirmelnde Okular‘ lässt sich als „vage kinematographische Romaneröffnung“791 und damit als ein stilistisches Moment lesen. Es präfiguriert gleichzeitig den phantastischen Motivstrang, der schwer zu interpretieren ist und welcher von der Literaturkritik bisher wenig beachtet bzw. dem eher mit Unverständnis begegnet wurde.792 Die zweite dieser ‚phantastischen‘ Episoden erhellt den Deutungshorizont: Es wird eine, über Barbaras Bett befindliche Maschine beschrieben, welche mit einem roten Knopf ausgelöst wird (vgl. JB 39-40).793 Angeblich, so Barbara, handele es sich dabei um ein Relikt aus den Zeiten, als die Chefredakteure des Axel-SpringerVerlags sich von der RAF und der APO bedroht fühlten. Und auch wenn diese Erklärung den Anschein eines urban myth macht und dem Leser auch bald die wahre Funktion des Knopfes vor Augen geführt wird, so deutet sie dennoch auf den am Ende des Romans so präsenten Themenkreis um Gewalt, Widerstand und Terrorismus hin. Die tatsächliche Funktion der Maschine wird offenbar, als Barbara diese kurze Zeit später auslöst: „Sie schließt die Augen und atmet flach durch die Nase ein, als sich direkt über ihr in der Holzvertäfelung der Decke eine Klappe öffnet. Lautlos läßt sich das Gerät in den Raum herab. Barbara braucht die Augen nicht aufzumachen, sie weiß genau, was jetzt passiert und wie es aussieht, wenn sich die glänzenden Teleskopstangen auseinanderschieben; die Schläuche, die an ihnen glattgezogen werden; die Zylinder an den Enden der Stange, aus denen sich die Stifte schieben; die Nadelscheiden aus Gummi, die langsam zurückgezogen werden von den kleinen Motoren. Als der Lichtstrahl über ihre Brust wandert, atmet sie tief aus und konzentriert sich ganz auf das jetzt einsetzende Geräusch des Gerätes. Ein vollkommen regelmäßiges Auf und Ab wie von einem Blasebalg. Dann ist Barbara weg.“ (JB 72-73)
Die Maschine verbindet sich, auf eine nicht näher beschriebene Weise, mit Barbaras Blutkreislauf und pumpt eine „kalte Flüssigkeit“ (JB 74) in ihre Adern. Sie versinkt zunächst in Kindheitserinnerungen, in denen sie als Vierjährige mit ihrem Vater spielt, ehe sie, nachdem sich die Flüssigkeit und ihr Blut „untrennbar […] vermischt“ haben und beides „vereint durch ihren Kreislauf […] pulsiert“ (JB 74), also nachdem ein Zustand völliger Einheit erreicht ist, in einer „Nacht“, einem positiven Nichts versinkt. Als dieses erreicht ist, klappt das Gerät sich selbsttätig ein und schaltet sich aus. Diese Vereinigung, so technisch und medizinisch sie auch beschrieben wird, verläuft scheinbar schmerzfrei und führt Barbara in einen Zustand, welcher sich der oftmals konstatierten spätmodernen Zerrissenheit und Entfremdung konträr gegenüber verhält. Die eher ‚altmodisch‘ anmutende Maschine mit ihrer ‚handfesten‘ Technik, dem pumpenden Blasebalg, den Zylindern, Stangen, Schläuchen und Motoren, erinnert an die Ästhetik des Steampunk794 und sie fungiert so als Gegenentwurf zur digitalisierten Technik des 20. und 21. Jahrhunderts. 791 792 793 794
Maus (2001): Job fressen Gumbo auf. Vgl. Balthasar (2002): Fahren tun die andern. Über Walters Bett befindet sich ebenfalls eine solche Apparatur (vgl. JB 50). Dieser imaginiert eine Technik jenseits von Elektrizität. Vgl. ausf. zu dieser, dem Science Fiction zugeordneten Strömung S. J. Chambers und Jeff VanderMeer: The Steampunk Bible: An Illustrated Guide to the World of Imaginary Airships, Corsets and Goggles, Mad Scientists, and Strange Literature. New York, NY: Abrams Image 2011.
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In der dritten dieser phantastischen Episoden verbindet Barbara den schlafenden Gumbo mit der Maschine, um ihm eine Auszeit aus seiner Niedergeschlagenheit zu verschaffen (vgl. JB 174). Gumbo sieht sich daraufhin in einem Raum voll „weiße[m] Licht“ (JB 175) stehen; er verschwimmt mit der Umgebung: „Das Bild nimmt ihn in sich auf oder umgekehrt.“ (JB 176). Doch anders als Barbara führt es ihn nicht in seine Kindheit oder in die „Nacht“, sondern er beobachtet Alfred, wie dieser in München eine Performance des Künstlers Jonathan Meese besucht (vgl. JB 176-180). Am Ende wird das Bild unscharf und verschwindet; das Kapitel endet und der Roman setzt in München wieder an. Dass Bessing die Szene um Gumbos Vereinigung mit der Maschine nutzt, um einen kinematografisch anmutenden ‚Schwenk‘ an einen weiteren Handlungsort zu vollziehen, erschwert die Interpretation dieser ohnehin schon kryptischen Episoden zusätzlich. Deutlich wird aber, jenseits aller Uneindeutigkeiten, dass sowohl Barbara als auch Walter jeweils ein Exemplar der beschriebenen Maschine besitzen, und dass diese qua Verbindung mit dem Blutkreislauf einen trance- bzw. schlafähnlichen Zustand herbeiführt, der den ‚Nutzer‘ zunächst in unterschiedliche Erinnerungsbilder oder auch Imaginationen führt, ehe die Vereinigung im ‚Nichts‘ endet. Eine Verbindung mit einem ähnlich mysteriösen Objekt erlebt auch Alfred in München, und er verwirklicht dadurch, so macht es jedenfalls den Anschein, letztlich doch noch den angestrebten Ausstieg. „[A]ngezogen vom Geräusch, das er gesucht hat und jetzt gefunden“, nähert er sich einer Kugel, und „jetzt, kurz vor seinem Ursprung stehend, an seiner Quelle: einem sich in sich windenden, sich verschränkenden und sich dabei um sich selbst beständig enger ziehenden Streifenball aus Häuten, aus Muskeln, Gliedern, Körpern. Die sich gegenseitig glitzernde Schleimspuren ziehen über Rücken, Hintern, Hände und Gesichter mit ihren Schleimhäuten, die entblößt sind und von den trägen Schleifbewegungen aufgespannt. Kein Oben ist für Alfred zu erkennen und kein Unten, kein Anfang, kein Ende. Aber aus der Mitte dieses sich um sich selbst herumwindenden Balls dringt das Summen, das unwiderstehlich nach Alfreds Nähe ruft [...]. Alfred [...] robbt auf den Ball zu, [...] dabei sein Hemd aufknöpfend, sein Sakko von sich, in die Äste des Gebüsches schleudernd, wo schon andere Kleidung aufgespießt hängt – Einlaß zu verlangen, hineinzukriechen, hineinzuschlüpfen in den summenden Ball. Der sich vor ihm auseinanderspaltet in zwei gleiche Hälften: während das Summen aus seinem Inneren lauter wird, er sein gefurchtes Innerstes tatsächlich kurz offenlegt und Alfred, vollkommen nackt, genau dort in diese Mitte hineinschlüpft, sich rücklings hineinfallen läßt, um mit geschlossenen Augen liegenzubleiben und dann in das Summen der anderen einzustimmen, als über ihm die Hälften des Balls schon wieder zueinanderfinden, sich wieder ineinander verschränken und endlich schließen und es damit warm und dunkel wird um Alfred […].“ (JB 159-160)
Wird hier die ‚Wir Maschine‘ als ein organischer, kreatürlicher Ball beschrieben, geformt aus nackten Lebewesen (Menschen?), die sich durch ihre gemeinsame Bewegung und ihr Summen vereinigen, führt der implizite Autor damit einen Weg weiter, den er mit Barbaras mechanischer ‚Wir Maschine‘ bereits beschritten hat und der sich von der digitalen Technik der lebensweltlichen Realität bis hin zu dem hier beschriebenen organischen Gebilde erstreckt. Gleichzeitig wird in den dabei aufgerufenen Bildern die (u.a. anhand Gumbos) exemplifizierte Entfremdung und Zerrissenheit in einen authentischen sowie vereinigten Zustand überführt. Das im Inneren des
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Balls erklingende ‚Summen‘ lässt sich vor diesem Deutungshorizont als eine archaische Vorstufe zur Sprache deuten, welche ja das zentrale ‚Instrument‘ der Arbeit u.a. von Alfred, Francis, Barbara und Gumbo ist. Ob die ‚Wir Maschine‘ nun mechanisch oder organisch, als technisches Gerät oder als ‚Kreatur‘ beschrieben wird, das Resultat der Vereinigung mit ihr ist ein ähnliches: Der Protagonist geht auf in einer, die körperlichen wie psychischen Grenzen überschreitenden, kollektiven Entität. Er vereinigt sich, ‚vergisst‘ sich (womit er auch die Fähigkeit zur melancholischen Reflexion einbüßt), er löst sich auf. Die Potentialität einer solchen Entwicklung wird zuvor bereits angedeutet, wenn von einer „Kapsel“ in Alfreds Innerem die Rede ist, welche aber nicht weiter beschrieben wird (JB 51), oder aber wenn Gumbo sich erinnert, dass er als Kind manchmal zu einer „Kuppel“ wurde, „die sich in ihm ausdehnte; zum Zerreißen gespannt, aber ohne Schmerzen. Und gleichzeitig war er mitten in ihr drin.“ (JB 102-103). Bessing ruft damit zum einen Bilder auf, die ein ‚Innen‘ und ein ‚Außen‘ verhandeln und setzt seinen Roman damit in Beziehung zu aktuellen Inklusions- und Exklusions-Debatten; zum anderen imaginiert er einen Ausweg aus der subjektiv als krisenhaft angesehenen conditio humana der postindustriellen Arbeits- und Leistungsgesellschaft, welchen er als phantastisch anmutende Leerstellen stehen lässt. Es ist nun die ‚Aufgabe‘ des Lesers, diese, von der Literaturkritik sehr unterschiedlich aufgenommenen, Leerstellen zu füllen. Stephan Maus etwa schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung: „Doch nicht allzu oft gelingt es Bessing, das Gleichgewicht zwischen abgehobener Phantastik und noch halbwegs nachvollziehbaren Gedankenspielen zu halten. So schweift der Text häufig in seitenlange, hermetische Traumwelten seiner Protagonisten ab, die sicher einiges bedeuten. Nur was?“ 795 Wohingegen Gerrit Bartels gerade darin die poetische Kraft des Romans erkennt: „Die besten Stellen in ‚Wir Maschine‘ aber sind die, an denen man gar nicht mehr weiß: Wer wie wann? Da dräut und schwurbelt es, da fällt man in Zeit- und Bedeutungslöcher, da warten herabstürzende Okulare, summende Bälle, Höllenhunde, Morgensterne, Himmelsleitern und ähnlich Surreal-Psychedelisches; und da liegt dann, ganz genau weiß man es nicht, auch Hamburg in Trümmern.“796 Jenseits aller Uneindeutigkeit impliziert Bessings Roman eine Lesart allemal: Ein Ausweg muss her, denn sonst führt der Weg des übersteigerten Leistungsethos, der ständigen Konkurrenz und des narzisstischen Individualismus in die (Selbst)Destruktion. Gumbos ‚Kuppel‘, Barbaras Maschine und Alfreds Ball versinnbildlichen den Wunsch nach einer unentfremdeten Einheit, nach einer Gemeinschaft, in die man sich ‚fallen lassen‘ kann (wie Alfred es tut), sowie nach Stillstand und Ruhe (in denen Barbara und Gumbo verharren, während sich die Maschine mit ihnen vereinigt), nach einer „Synthese“797 des Subjekts mit einem noch undefinierten Objekt. Doch so sehr hier der Anschein eines Gegenbildes evoziert wird, bleibt Bessing dabei doch den Prinzipien der Werbebranche verpflichtet. In ihr drehe sich alles um „Connectivity“, schreibt der Journalist Peter Kümmel und meint damit: „[A]lles ist mit allem verbunden, das iPhone mit dem Werbeplakat, der Medienkonzern mit dem Großhändler, das Fernsehgerät mit dem Internet, das Soziale Netzwerk mit den 795 Maus (2001): Job fressen Gumbo auf. 796 Bartels (2001): Wenn Verzweiflung am allergrößten ist. 797 Möskens (2008): ‚Wir waren die, die erkannten, was schieflief.‘, S. 305.
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Kaufhäusern, das Auto mit dem Laptop, und an den Knotenpunkten entstehen Raum und Aufmerksamkeit: für Werbung.“798 ‚Connectivity‘ ist damit ein bedeutendes Ziel werbestrategischer Bemühungen. Doch die dabei hergestellten Verbindungen operieren lediglich an der Oberfläche. Eine tiefere Form der ‚Connectivity‘ bilden hingegen die phantastischen Episoden des Romans ab; denn es ist gerade die Existenz einer ‚wirklichen‘ Verbindung – zur eigenen Identität, zu den Mitmenschen, zur lebensweltlichen Realität –, woran es den Protagonisten mangelt. Christian Krachts 1979: Das Glück des Dandys im Gulag Das Ringen um einen Ausweg, welches Wir Maschine so zentral verhandelt, steht auch im Zentrum von Christian Krachts im selben Jahr erschienenem Romans 1979. Kracht, der ebenfalls zu den Tristesse Royale-Autoren zählt799 und der für den ausgeprägten Ennui seiner Texte bekannt ist, imaginiert dabei allerdings einen ganz anderen, zunächst konkreter erscheinenden Ausweg. Der kurze Roman zeichnet sich – aufgeteilt in zwei Teile, die wiederum in zwölf Kapitel unterteilt und mit der jeweiligen Zahl überschrieben sind – durch eine symmetrische Struktur aus. Die Handlung beginnt am Anfang des titelgebenden Jahres im Iran, kurz bevor der Schah von Persien durch die sogenannte ‚Islamische Revolution‘ gestürzt wird und Ajatollah Chomeini an die Macht kommt; die erzählte Zeit umfasst knapp ein Jahr. Im Zentrum steht ein namenloser Ich-Erzähler, der mit seinem reichen wie gebildeten Freund Christopher durch den Iran reist, da dieser ein Buch über die iranische Architektur verfassen möchte. 800 Der als Innenarchitekt tätige Erzähler fungiert dabei lediglich als Reisebegleiter und ist, seinem Partner gemäß, auch intellektuell nicht in der Lage, den Erlebnissen angemessen zu folgen (vgl. CK 48, 52-53).801 Tatsächlich zeichnet er sich durch eine gewisse Naivität aus und es ist seine Arbeit als Innenarchitekt, aus der er seinen oberflächlichen Blick herleitet (vgl. u.a. CK 21, 55).802 Ist ihm dieser Blick im revolutionären Iran wenig 798 Kümmel (2013): Ein Krieg um Ideen, S. 53. 799 Breger (2003): Pop-Identitäten 2001, S. 220 bezeichnet diese Autoren als die „königlichen Melancholiker“. 800 Vgl. Christian Kracht: 1979. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 88. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle CK und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Trotz dieses vornehmlichen Interesses lassen sich sowohl der Erzähler als auch sein Freund nicht auf das Land ein (vgl. CK 19, 53), wozu Rezensent Hubert Spiegel vermerkt: „Kracht läßt seine Figuren blind und taub durchs Land reisen, ignorant und hochmütig.“ (Hubert Spiegel: „Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Blick auf die Oberfläche reicht nicht mehr: Aus Christian Krachts Roman 1979 spricht der Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.10.2001. Auf: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/christian-kracht-1979wir-sehen-uns-mit-augen-die-nicht-die-un-seren-sind-142299.html, zuletzt gesehen am 28.04.2015). Und u.a. in diesem Desinteresse manifestiert sich der Ennui der Protagonisten. 801 Er bezeichnet ihn sogar als „etwas dämlich“ (CK 19), eine Einschätzung, die der Namenlose übernimmt. 802 Elke Heidenreich liest diese Ahnungslosigkeit postmodern: „Er hat längst kapituliert vor der Möglichkeit irgendeiner Antwort auf irgendeine Frage nach irgendeinem Sinn – es gibt keinen.“ Elke Heidenreich: „Nichts wird je wieder gut. Christian Kracht erzählt in sei-
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nützlich, wird er im Laufe des Romans wiederum als intellektuelle „Leerstelle“ 803 positiv umgedeutet. Wenn Mavrocordato, ein „rumänische[r] Dandy“ 804, den der Erzähler auf einer Party kennen lernt, sagt: „Es ist gut, wenn man schöne Dinge liebt. Sie haben sich natürlich dadurch Ihre Unschuld bewahren können, Ihre Naivität, dadurch, dass Sie noch schauen können. […] Sie haben Glück. Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäß […]. Sie sind – wide open.“ (CK 59-60, Herv. i.O.), so wird deutlich, dass die Leere nicht nur einen Mangel darstellt, sondern auch ein Potential in sich birgt: Der Erzähler kann ‚gefüllt‘ werden und damit Erfüllung finden. 805 Kracht selbst bezeichnet diesen Aspekt als Ausgangspunkt seines Romans, welchen er als ein literarisches Experiment beschreibt. Er habe eine Romanfigur erschaffen wollen, die nicht nur ein „moralisches und ein Intelligenzvakuum darstellt, sondern auch ein physisches“806, so Kracht. Von dem Hang zur Reflexion, durch den sich Gustafssons, Hartmanns, Poschmanns, Genazinos, Beigbeders und Houellebecqs Figuren auszeichnen und welcher sich bisweilen zu einem Zwang auswächst, ist der Innenarchitekt folglich nicht betroffen. Seine Handlungshemmung entspringt vielmehr einem grundlegenden, ‚dandyesken‘ Ennui als einem Zweifeln und Zaudern. Bewegen sich sowohl der Innenarchitekt als auch sein langjähriger Freund Christopher in wohlhabenden Kreisen und inszenieren sich als ‚Dandys‘, so ist Arbeit für sie keine zwingende Notwendigkeit. Vielmehr haben sie Zeit für privaten MandarinUnterricht, den der Erzähler wiederum als „harte Arbeit“ (CK 55) bezeichnet, sowie ausgedehnte Reisen.807 Sie führen ein Leben im „Reich der Freiheit“ und können sich
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nem verstörenden Roman 1979 vom Elend der Dekadenz und dem Zwang zum Opfer in einer brutalen, unverständlichen Welt.“ In: Der Spiegel 08.10.2001, S. 252, 254-255: 252. Julian Reidy: „Sonnenschein oder Schatten? Zur Entwicklung ethischer Reflexion in Christian Krachts Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.“ In: Glossen 37 (2013). Auf: http://blogs.dickinson.edu/glossen/most-recent-issue-glossen372013/julian-reidy-glossen-37-2013/, zuletzt gesehen am 28.04.2015, S. 2. Heidenreich (2001): Nichts wird je wieder gut, S. 252. Der Roman gibt deutliche Hinweise, die Mavrocordato als neuzeitlichen Des Esseintes ausweisen, vgl. auch Sebastian Domsch: „Antihumaner Ästhetizismus. Christian Kracht zwischen Ästhetik und Moral.“ In: Johannes Birgfeld u. Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 165-178: 174 sowie Gustav Seibt: „Dunkel ist die Speise der Aristokraten. Das Jahr 1979 und der Zerfall der schönen Schuhe: Christian Kracht ist ein ästhetischer Fundamentalist.“ In: Süddeutsche Zeitung 12.10.2001, S. 20. Vgl. Bronner (2012): Tat Tvam Asi, S. 343-344. Kracht im Gespräch mit Edo Reents u. Volker Weidermann: „‚Ich möchte ein Bilderverbot haben‘. Christian Kracht über die Asketen des Islam.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.09.2001, S. 27. Zum Aspekt der ‚Reise‘ bei Kracht vgl. Johannes Birgfeld: „Christian Kracht als Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters oder Vorschlag zu einer Neubewertung des angeblichen Dandys und Popliteraten Kracht.“ In: Annakutty V. K. Findeis, Hans-Wolf Jäger u. Françoise Knopper (Hg.): Akten des XI. internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 Bd. 9: „Germanistik im Konflikt der Kulturen.“ Bern u.a.: Peter Lang 2007, S. 405-411. Zur Interkulturalität in 1979 vgl. Stefan Hermes: „‚Ich habe nie Menschenfleisch gegessen‘. Interkulturelle Begegnungen in Christian Krachts Romanen 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.“ In: Mark Arenhö-
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ganz der „individuelle[n] Glückssuche widmen“.808 Doch auch dieses erweist sich als nicht erfüllend und der Innenarchitekt äußert wiederholt den Wunsch nach Veränderung (vgl. u.a. CK 79). Hierin beschreibt der Roman eine Melancholie des Überdrusses, der an die „Blasierten“ von Schnitzler oder Manns „Bajazzo“ denken lässt. Nichts interessiert mehr, alles ist langweilig (vgl. CK 53, 77, 106). Für den Erzähler wird so die Passivität zur bestimmenden Lebenshaltung und er überantwortet seinen Weg dem Zufall.809 Ein „wurzelloser und zielloser Mann“810, so beschreibt Elke Heidenreich ihn, und Peter Henning charakterisiert ihn als einen „kraftlose[n], willensschwache[n] Tändler, der das Fühlen und Handeln anderen überlässt.“ 811 Zu einer Zäsur kommt es durch den Tod Christophers, der nach einer exzessiven Partynacht in einem iranischen Krankenhaus verstirbt. Mit ihm wird der hedonistische Lebensstil als Flucht aus seinem dandyliken Ennui (vgl. u.a. CK 38-40, 56, 63) ‚zu Grabe getragen‘812 und der Erzähler nimmt dieses Ereignis als Anstoß, sein Leben zu ändern. Er verlässt, auf Mavrocordatos Drängen, den Iran und reist nach Nepal, denn er hatte auf der beschriebenen Party das erste Mal von einem heiligen Berg namens Kailasch gehört, den es 108 Mal zu umrunden gilt, um zum „Body Sattvah“ (CK 137, Herv. i.O. sowie vgl. CK 116-118), zum ‚Erleuchteten‘ zu werden.813 Doch die Umrundung des Berges führt zunächst zu keinem, wie auch immer gearteten, transzendenten Zustand814 und erst als der Innenarchitekt eine Gruppe tibetischer
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vel, Maja Razbojnikova-Frateva u. Hans-Gerd Winter (Hg.): Kulturtransfer und Kulturkonflikt. Dresden: Thelem Universitätsverlag 2010, S. 270-283 sowie Breger (2003) PopIdentitäten 2001, S. 197-225. Ausf. zum dekadenten Lebensstil der beiden vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 192-200. Vgl. Leander Scholz: „Anmerkungen zu 1979.“ In: Birgfeld/Conter (2009): Christian Kracht, S. 92-100: 99. Vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 214-224. Heidenreich (2001): Nichts wird je wieder gut, S. 254. Peter Henning: „Kippfiguren. Verstörendes Protokoll aus der Dandy-Hölle: Aus Christian Krachts apokalyptischem Roman 1979 spricht die kalte Lust am Untergang.“ In: Die Weltwoche 18.10.2001, S. 39. Zum Tod Christophers vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 202 sowie zu dessen Hedonismus vgl. Gonçalo Vilas-Boas: „Krachts 1979: Ein Roman der Entmythisierungen.“ In: Edgar Platen u. Martin Todtenhaupt (Hg.): Mythisierungen, Entmythisierungen, Remythisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München: Iudicium 2007, S. 82-96: 90. „Die Ära der hedonistischen Sorglosigkeit ist ein für alle Mal vorüber“, schreibt Hermes (2010): ‚Ich habe nie Menschenfleisch gegessen‘, S. 196 und Andre bezeichnet Christopher als den „Verlierer im Existenzkampf der Superhedonisten“, Thomas Andre: Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2001, S. 235. Der Berg wird eigentlich ‚Kailash‘ geschrieben; in dieser Falschschreibung schlägt sich die Unwissenheit des Protagonisten nieder (vgl. CK 38). Und auch der Begriff „Body Sattvah“ wird vom Erzähler falsch wiedergegeben, heißt es doch eigentlich ‚Bodhisattva‘. „Das einzige, was mir immer klarer wurde war, daß Mavrocordato sich geirrt hatte. Ich setzte lediglich einen Fuß vor den anderen und lief um einen großen Steinhaufen herum.“ (CK 141).
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Pilger trifft, eröffnet sich ihm eine positive Perspektive: Er bekommt „das wunderbare Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein […]; es war wie ein goldenes Geschenk des Himmels. […] Jetzt die nächsten Monate so zu verbringen, […] vielleicht sogar Jahre, schien mir eine perfekte Lebensaufgabe. Und warum auch nicht? Ich hatte mich von allem Unwichtigen frei gemacht, selbst von Mavrocordatos Belehrungen, ich wollte nichts mehr, ich war frei.“ (CK 145-146). Bietet der spirituelle Hintergrund jener Umrundung für den Protagonisten noch kein sinnstiftendes Potential, worin sich ein gewisser Transzendenzverlust manifestiert, besitzt doch die Gruppenzugehörigkeit dieses sehr wohl. Der Plan, sich nun für Jahre dieser ‚perfekten Lebensaufgabe‘ zu widmen, wird jedoch recht bald durchkreuzt: es folgt die Festnahme durch das chinesische Militär mit der Begründung fehlender Papiere sowie angeblicher Spionage (vgl. CK 148, 156, 158), womit die abschließende Episode des Romans beginnt: das Leben im Arbeitslager. In diesem dominieren Kälte und Hunger, schlicht: körperliches Elend. Von halb Acht bis zum Sonnenuntergang müssen die Gefangenen, mit Spaten und Axtkeilen ausgestattet, Gräben ausheben, um „die Wüste urbar zu machen“ (CK 164 und vgl. 171) – ein vermutlich aussichtsloses Unterfangen in einer radioaktiv verseuchten Umgebung (vgl. CK 166). Zu der harten körperlichen Arbeit gesellt sich ein nicht weniger überfordernder psychischer Druck. Wiederholte Vernehmungen sowie die ständige „Selbstkritik“, der sich die Gefangenen unterziehen müssen, sollen der „Auslöschung des Egoismus“ (CK 156) dienen. Am Ende dieser stetigen ‚Verbesserung‘, die auch vom Protagonisten mit der Zeit und in Übernahme der ‚chinesischen‘ Perspektive als solche erkannt wird815, stehe die Entlassung, so heißt es zunächst (vgl. CK 160). Und obwohl der Erzähler ein Höchstmaß an Anpassungs- und Kooperationswillen aufbringt (vgl. CK 159, 165), wird deutlich, dass eine Entlassung nicht Teil des ‚Systems‘ ist. Und durch die unbeteiligte und damit ‚gleichmacherische‘ Perspektive (vgl. u.a. CK 153), mit welcher der Innenarchitekt aus dem Lager berichtet, wird das eigentliche ‚Skandalon‘ zur „Norm“.816 Alles sei „nicht so schlimm“ (CK 173) heißt es weiter, man dürfe sich unterhalten und das Arbeitspensum sei machbar. Des Weiteren halte die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln sogar ‚positive‘ Begleiterscheinungen parat: „[A]b und zu befühlte ich, stehend eingekeilt zwischen den anderen Häftlingen auf der Ladefläche, meine Rippen und die Hüftknochen, die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es immer schon gewollt hatte. Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen. Das hatte ich ja nie geschafft; ein, zwei Kilo hatte ich mir früher runterhungern können, aber jetzt waren schon mindestens zehn oder zwölf Kilo weg. Gott sei Dank. […] Ich wog nur noch halb soviel wie früher, ich hatte sehr viel abgenommen, bei einem Arztbesuch wurde ich gewogen, 38 Kilo stand auf der weißen Keramikwaage. Ich müsse nun kein Blut mehr geben, ich sei viel zu dünn und schwach, sagte der Arzt, aber ich tat es trotzdem, freiwillig“. (CK 166, 182-183, Herv. i.O.) 815 Vgl. Immanuel Nover: Referenzbegehren: Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2012, S. 259-260. 816 Nover (2012): Referenzbegehren, S. 265. „In einem unbeteiligt wirkenden Tonfall berichtet er dem Leser genauso präzise von der ästhetisch ansprechenden Inneneinrichtung der Teheraner Villa wie vom Tod seines Freundes oder dem Leben in einem chinesischen Straflager.“, schreibt Lehmann (2005): Fantasien der Auslöschung, S. 268.
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Dieser dem „heroin chic“817 der 1990er Jahre verpflichtete Ästhetizismus, in welchem Oliver Jarhaus ein Zeugnis von Krachts „[ä]sthetische[m] Fundamentalismus“818 erkennt, beweist, dass der Innenarchitekt im Verlauf des Romans keinerlei intellektuelle Entwicklung vollzogen hat. Er bleibt eine Leerstelle. 819 Und der Roman endet mit den erschreckenden wie aufschlussreichen Worten: „Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“ (CK 183). Kannibale ist er (noch) nicht, so lautet die Aussage des Innenarchitekten, worin scheinbar schon das Höchstmaß an ethisch Möglichem in solch menschenunwürdigen Lebensumständen erreicht ist.820 Wie Peter Henning beschreibt, hat dennoch eine Entwicklung stattgefunden: „Er, der nie wusste, wer oder was er sein wollte, will nun nichts mehr.“ 821 Beinhaltet seine anfängliche Leere eine tiefsitzende Überzeugungs- und Ziellosigkeit, so erhält er im Gulag durch die Anpassung an die Ansichten und Forderungen der Lagerleitung sowohl eine Überzeugung als auch ein Ziel822: ein guter Gefangener zu sein. Ist der Erzähler am Anfang des Romans noch erfüllt von dekadentem Ekel, so hat er am Ende seines Weges jegliches Ekelgefühl verloren.823 Der zweigeteilte Roman ist entsprechend geprägt von Dichotomien. Es stehen sich Orient und Okzident, Überfluss und Mangel, Hedonismus und Askese, Ästhetik und Zweckrationalismus gegenüber. Individualismus trifft auf Kollektivismus. Und nicht zuletzt auch Kapitalismus und Kommunismus.824 ‚Postmodernen‘ Lebensumständen wird eine „[P]rä[P]ostmoderne[]“825 gegenüber gestellt. Der Dandy wird zum homo sacer.826 817 Heinz Drügh: „‚...und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen‘. Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur?“ In: Wirkendes Wort 1 (2007), S. 3151: 38., Herv. i.O. 818 Oliver Jahraus: „Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente.“ In: Birgfeld/Conter (2009): Christian Kracht, S. 13-23. Die Dominanz des Ästhetizismus ist uns von Bessings referenzlosem Terror bekannt, vgl. Balthasar (2002): Fahren tun die andern. 819 Vgl. Lehmann (2005): Fantasien der Auslöschung, S. 268. 820 Vgl. Nover (2012): Referenzbegehren, S. 269. 821 Henning (2001): Kippfiguren. Zur „umerzieherischen Depersonalisierung“ siehe auch Andrzej Kopacki: „Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife.“ In: Convivium (2008), S. 261-285: 281. 822 Vgl. Flade/Rauen (2005): Schwere Unterscheidungen und ‚light entertainment‘, S. 549. 823 Vgl. Spiegel (2001): Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Erzähler, dessen einzige Kindheitserinnerung der Ekel vor dem Milchrand an seinem Glas ist, beschreibt am Ende des Romans mit einer selbstverständlichen Nüchternheit, wie er und seine Mitgefangenen Maden in ihrem Kot züchten (vgl. CK 180-182). 824 Vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 347. 825 Nover (2012): Referenzbegehren, S. 190. 826 Vgl. Stefan Hermes: „Tristesse globale. Intra- und interkulturelle Fremdheit in den Romanen Christian Krachts.“ In: Grabienski/Huber/Thon (2011): Poetik der Oberfläche, S. 193. Zur Engführung von Krachts Darstellung mit Giorgio Agambens Theorie vgl. Nover (2012): Referenzbegehren, S. 260-261, 265-266.
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Zu einem Ennui der Freiheit bei Bessing und Kracht Da sich die Lebensrealität im hedonistischen sowie individualistischen spätmodernen Abendland für den Protagonisten, wie auch für Bessings Figurenarsenal, als nicht weiter lebbar erweist, liest sich der Weg in den chinesischen Gulag wie eine Flucht, ja wie eine Befreiung.827 Spiegel vermerkt hierzu: „Er ist zufrieden. Der junge Mann, der nie wußte, was er wollte oder wollen sollte, will nun nichts mehr.“ 828 War sein Verhalten Christopher gegenüber in erster Linie devot, so stellt sein Leben im Gulag die knechtischste aller möglichen Existenzen dar.829 Heraus kommt der am wenigsten lebbare aller Zustände. Zwar findet er eine zuvor nicht dagewesene „Heimat“ 830 im Gulag, doch diese kann nur im Tod enden. War zuvor ‚nur‘ seine Identität prekär, ist es am Ende sogar seine Existenz. Dem Aspekt der Arbeit kommt dabei, auch wenn er nicht das Sujet von 1979 darstellt, eine besondere Bedeutung zu, wird der Gulag doch dezidiert als „reines Arbeitslager“ (CK 170) bezeichnet. Das Motto der chinesischen Lagerleitung lautet „Reform durch Arbeit“ (CK 164) und diese ist nicht weit entfernt von dem nationalsozialistischen „Arbeit macht frei“ 831. Die Arbeit hat entsprechend einen bedeutenden Anteil an der ‚Reinwaschung‘ des Protagonisten, da sie den Insassen „als ‚menschliche Maschine‘ auf die Erfüllung der gestellten Aufgaben, die sich […] als archaische Körperarbeit stellen, reduziert“ 832 und somit auf das angeblich ‚Wesentliche‘ zurückführt; eine Reinigung von dem Ballast des Überflusses, des Alles-haben-Könnens und des Sich-entscheiden-Müssens. Die Quintessenz dieser Darstellung könnte lauten: Entweder man ist im Marxschen ‚Reich der Freiheit‘ angelangt und versinkt im dort vorherrschenden Ennui, der destruktive Tendenzen freilegt, oder aber man liefert sich einem Totalitarismus aus, der alle Entscheidungen und Freiheiten obsolet macht und einen auf das bloße Existieren reduziert.833 Nach dieser Lesart beinhaltet der Roman eine Absage an den Individualismus und das Leben im Überfluss der Konsumgesellschaft sowie im abendländischen Kapi-
827 Diese läuft schrittweise ab und wird durch Verluste vorangetrieben – zunächst Christophers Tod, dann die letzte Markenboxershorts, die der Erzähler einem tibetanischen Mönch schenkt, die zerlaufenen Berluti-Schuhe, das Körpergewicht und schließlich die „Selbstachtung“, Verena Mayer: „Triumph der Oberfläche. Geschichte eines Verlustes: 1979 von Christian Kracht.“ In: Wiener Zeitung 05.01.2002, S. 11. 828 Spiegel (2001): Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. 829 Vgl. Claude D. Conter: „Christian Krachts posthistorische Ästhetik.“ In: Ders./Birgfeld (2009): Christian Kracht, S. 24-43: 29-30. 830 Spiegel (2001): Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. Tatsächlich lässt sich das Lager als eine „Instanz der inkludierenden Exklusion“ (Stichweh (2009): Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion, S. 38) bezeichnen. Zwar sind die Insassen aus der eigentlichen Gesellschaft ausgeschlossen, aber das Lager stellt in seiner Organisation ein neues soziales Umfeld dar. 831 Arnim H. Alexander Seelig: „‚Quasi eingebettet in die Schrift‘. Der doppelte Erzählboden popmoderner Oberflächenbeschreibung und der ästhetische Fundamentalismus in Christian Krachts Roman 1979.“ Unveröffentlichte Masterarbeit, 10 (2009). Auf: https:// papyrus.bib.umontreal.ca/xmlui/handle/1866/3259, zuletzt gesehen am 29.04.2015. 832 Nover (2012): Referenzbegehren, S. 270. 833 Vgl. Jahraus (2009): Ästhetischer Fundamentalismus, S. 16.
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talismus.834 Der Gulag kann aber ohne Frage, auch wenn er Züge eines „utopische[n] Orte[s]“835 trägt, keinen Ausweg aus den spätmodernen Zuständen weisen, die Kracht so kritisch in Szene setzt. Zum einen enthält der Roman diverse Brechungen, welche die Haltung des impliziten Autors zum Geschehen unklar erscheinen lässt.836 Zum anderen ist die sogenannte Pop-Literatur, Kracht eingeschlossen, für ihre Ironie bekannt.837 Ganz im Sinne Bröcklings, der vermerkt: „Der Ironiker kennt die Gesetze des Marktes und ihre paradoxen Anforderungen an die Individuen. Er weiß, was ihm zugemutet wird, und er spricht es auch aus. Er treibt die Dinge auf die Spitze, legt ihre Absurditäten frei – und zieht so ins Lächerliche was er nicht ändern kann.“838, kreiert Kracht einen von Ennui erfüllten Protagonisten. Einen Dandy, der die Flucht aus dem ‚Reich der Freiheit‘ antritt und in dem kompletten Gegenteil dessen endet, was man landläufig ein ‚gelungenes Leben‘ nennen würde: in einem chinesischen Gulag, der, so lässt das Romanende vermuten, die letzte Station seines Lebens sein wird. Leidet das (Leistungs-)Subjekt in postindustriellen Zusammenhängen an einem Zuviel an Freiheit und Verantwortung, so setzt Kracht folglich, ähnlich wie Bessing seine Protagonisten in der ‚Wir Maschine‘ verschwinden lässt, eine Flucht in oppositionelle Lebensumstände literarisch in Szene; der Gulag im Allgemeinen sowie die Lagerleitung im Speziellen 834 Vgl. Wolfgang Lange: „Snob auf Morgenlandfahrt. Christian Krachts hyperrealistischer Roman 1979.“ In: Neue Zürcher Zeitung 23.10.2001, S. 35. 835 Leander Scholz: „Ein postmoderner Bildungsroman. Christian Krachts 1979.“ In: Gegenwartsliteratur 3 (2004), S. 200-224: 209. 836 Vgl. Flade/Rauen: Schwere Unterscheidungen und ‚light entertainment‘, 553-554, 557. Auch Claudia Breger lehnt eine ‚realistische‘ Lesart des Romans ab, vgl. Breger (2003): Pop-Identitäten 2001, S. 214. 837 Vgl. Rebecca McMullan: „Island in the Sun. Pre-modern Nostalgia and Hyperreality in Christian Kracht’s Imperium.“ In: Germanistik in Irland 9 (2014), S. 75-87: 78-83 sowie Arnim H. Alexander Seelig: „Irony and Narrative Subtext in the Novel 1979 by Christian Kracht.“ In: Jill E. Twark (Hg.): Strategies of Humor in Post-Unification German Literature. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2011, S. 242-266. Die Präsenz von ‚campesken‘ Szenen betont ebenfalls den Stellenwert der Ironie (vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 263-265, Seelig (2011): Irony and Narrative Subtext in the Novel 1979 by Christian Kracht, S. 246-250, Drügh (2007): ‚...und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen‘, S. 40-42 sowie Breger (2003): Pop-Identitäten 2001, S. 213-217). „Sich einem faschistischen System wie dem chinesischen Lagerleben unterzuordnen, sich zu ergeben, dort zum ersten Mal so etwas wie Heimat zu empfinden, das ist schon mehr als verkommen“, sagt Kracht entsprechend im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Kracht im Gespräch mit Reents/Weidermann (2001): ‚Ich möchte ein Bilderverbot haben‘). Und Rezensent Torsten Gellner schreibt: „Kracht hat nach eigenem Bekunden herzlich bei der Niederschrift des kurzen, stellenweise monströsen Romans gelacht. Die Leser sollten es ihm gleich tun, denn trotz der inhaltlichen Brutalität streut der Roman doch genügend Signale der eigenen Künstlichkeit aus und sollte damit nicht allzu ernst gelesen werden.“ Torsten Gellner: „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Christian Krachts 1979 gibt’s jetzt auch als Taschenbuch.“ 10 (2003). Auf: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id =6376&ausgabe=200310, zuletzt gesehen am 30.04.2015. 838 Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 291.
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werden für den orientierungslosen jungen Protagonisten zu einer Art ‚Ersatz-Herren‘ in herren-losen Zeiten.839 Mit Blick auf die aktuelle Debatte erscheint er als ironische Spiegelfigur des ‚unternehmerischen Ichs‘, ohne Freiheit, ohne Verantwortung, ohne Handlungsmacht. Doch gerade die Ironie macht die ‚Bilanz‘ des Romans nicht weniger trostlos. „Veränderungsfähigkeit und Fortschrittsglaube“840 werden über die ironische Darstellung negiert, wurde doch alles schon versucht, jeder Weg beschritten, eine Erlösung dennoch nicht erreicht.841 Wie bereits Beigbeder, thematisiert auch Kracht die (Un-)Möglichkeit einer Utopie, die er als einen weiteren, inmitten eines globalisierten, aber nationalstaatlich organisierten Umfelds nicht gangbaren Ausweg andeutet (vgl. CK 50-52).842 Eine ähnlich deutliche Absage erteilt Kracht der Revolution. Allein die Schauplätze des Romans – der Iran vor, China nach der Revolution – machen eines deutlich: „[J]eder Versuch, eine bessere Gesellschaftsordnung als die des sinnentleerten Status quos herzustellen, [ist] letztendlich zum Scheitern verurteilt, und die großen Ideologien unserer Zeit führen unterm Strich alle zu ähnlichen Ergebnissen.“843 Ein nicht entwicklungsfähiges Subjekt, die Unmöglichkeit jeglichen Widerstands, kein Ausweg in Sicht – Kracht teilt sich seinen pessimistischen Blick, neben Bessing, mit Frédéric Beigbeder, der in 39,90 ebenfalls die Möglichkeit eines Auswegs aus der (selbst-)destruktiven Spirale verneint. Und in Analogie zu Poschmanns Novelle wird das ‚Verschwinden‘ zur einzigen Option, sich dem gefühlten Dilemma zu entziehen, heißt es in einer Szene, kurz vor Ende des Romans „Wir waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst.“ (CK 181).844 Beinhalten Krachts Texte oftmals eine Reise, mit der der jeweilige Protagonist eine „Erneuerung“ anstrebt, die ihn letztlich in eine „Auslöschung“ manövriert, so scheint der Innenarchitekt diese Auslöschung geradezu „zu geniessen.“845 Doch die Auslöschung trifft nicht nur ihn, sie trifft 839 Vgl. Scholz (2009): Anmerkungen zu 1979, S. 95-98. 840 Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. De Gruyter: Göttingen 2010, S. 161. 841 „At each station of an arduous journey he is confronted with competing discourses of salvation: secular Western decadence, Islamic fundamentalism, the spiritualism of Buddhism, and ultimately the collectivist nightmare of Chinese communism.“, schreibt Frank Finlay: „‚Surface is an Illusion but so is Depth‘: The Novels of Christian Kracht.“ In: German Life and Letters 66 (2013), S. 213-231: 219. 842 Vgl. Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 217-218. 843 Seelig (2009): ‚Quasi eingebettet in die Schrift‘. Zum anti-ideologischen Standpunkt Krachts vgl. auch Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 202-214. 844 Das Verschwinden spielt in Krachts gesamtem Werk eine große Rolle, als scheinbar einziger, wenn auch abstrakter Ausweg, vgl. Sven Glawion u. Immanuel Nover: „Das leere Zentrum. Christian Krachts ‚Literatur des Verschwindens‘.“ In: Alexandra Tacke u. Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der PopModerne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009, S. 101-120 sowie Richard Langston: „Escape from Germany. Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose.“ In: German Quaterly 79/1 (2006), S. 50-70. 845 Marcel Schmid: „Die Enden der Romane. Christian Krachts narrative Strategie zwischen lebensreformerischen Utopien und medialer Selbstinszenierung.“ In: Kritische Ausgabe 26 (2014): „Ende“, S. 17-20: 17.
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die „Narration“846 selbst, wie Marcel Schmid vermerkt. Die zunehmend parataktischen Sätze bilden auf syntaktischer Ebene die schrittweise ‚Reduktion‘ des Protagonisten an; das offene Ende überführt mit dem Innenarchitekten auch die Narration in ein „prekäres Dasein“847 und hierdurch wird gleichzeitig das Potential der Literatur, Auswege zu imaginieren und literarisch zu erproben, infrage gestellt. Im Verschwinden, in der Auslöschung, im Abbrechen manifestiert sich, sowohl bei Bessing als auch bei Kracht, ein ultimativ unproduktiver Akt, der ein ‚Werden‘ bezeichnet, aber kein ‚Sein‘, wie Claude D. Conter ganz im Sinne Deleuze’ und Guattaris beschreibt: „Das Verschwinden ist in allen Fällen ein transitorischer Prozess, in dem etwas Vorhandenes in einen neuen Zustand übergeht, an dessen Ende jedoch weder das Verschwundene noch das im Verschwinden neu Entstehende sichtbar werden.“848 Und in diesem ‚Werden‘, so Bronner, lässt sich durchaus ein Verschmelzen mit der Welt erkennen,849 wie es bereits Poschmann und Bessing mit ihrer jeweils eigenen poetischen Kraft angedeutet haben. Lässt sich Krachts ‚abbrechendes‘ Romanende, mit Schmid, als ein „Verfremdungsverfahren“ lesen, das die Sinnsuche und den Wunsch nach Selbsterneuerung karikiert oder sogar pervertiert 850, so ist Bessings Darstellung etwas weniger ‚hoffnungslos‘, wobei sich die Protagonisten beider Autoren den Wunsch nach einem Zustand des Nichts-mehr-Wollens, des Nicht-mehr-Entscheiden-Müssens teilen. Allesamt erscheinen sie bindungslos und auf der Suche nach kollektiven Lebensformen. So weist auch 1979 eine phantastische Episode auf, die Parallelen zu Bessings Darstellung aufweist. Auf der Party, die Christoph schließlich das Leben kosten wird und die, da sie am Vorabend der Revolution stattfindet, deutliche „Fin de siècle“-Züge851 trägt, führt der Gastgeber die beiden deutschen Dandys in einen „Haschwald“ (CK 43), wo er sich auszieht, sie auffordert, dasselbe zu tun und sich ein Gerät um den Bauch schnallt, über das es heißt: „[A]n diese hölzerne, taschenbuchgroße Maschine waren mehrere dünne Gummischläuche angeschlossen. Er nahm das Ende eines Schlauches in den Mund, ein anderes Ende gab er Christopher. Beide waren jetzt aneinander angeschlossen, […]. Der Besitzer des Hauses begann zu keuchen und an dem Schlauch zu saugen. Dann drückte er einen kleinen kupferfarbenen Schalter und die Maschine sprang an.“ (CK 44-45). Da der Erzähler dieses Experiment angeekelt beendet, wird nicht weiter beschrieben, worin die versuchte Verbindung besteht. Die Benennung als „NostalgieAkkumulator“, der mit einer „Orgon-Abart“ (CK 46) betrieben wird, weist auf die Forschung Wilhelm Reichs hin. Und wenn Stefan Bronner die Maschine mit den Worten beschreibt, sie solle „den Menschen in ‚Ich-ferne‘ Sphären katapultieren 846 Schmid (2014): Die Enden der Romane, S. 17. 847 Schmid (2014): Die Enden der Romane, S. 17. 848 Conter (2009): Christian Krachts posthistorische Ästhetik, S. 24. Vgl. auch Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 22-23, 65-81, 234-239, der neben Deleuze/Guattari auch Lacan und Žižek als theoretische ‚Paten‘ dieses Verschwindens benennt. 849 Vgl. Bronner (2012): Tat Tvam Asi, S. 356-357. 850 Schmid (2014): Die Enden der Romane, S. 19. 851 Eva Leipprand: „Ein guter Gefangener. Christian Kracht schreibt einen ziemlich paradoxen Roman.“ In: Literaturkritik 11 (2001). Auf: http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=4336, zuletzt gesehen am 30.04.2015.
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[…]. Mensch und Maschine bilden hier eine Einheit, wobei die Funktion dieser speziellen Maschine darin besteht, sein Bewusstsein ‚auszuschalten‘“852, dann lässt sich diese Beschreibung wortwörtlich für Bessings ‚Wir Maschinen‘ übernehmen. Auch bei Kracht soll eine connectivity hergestellt werden, wobei es dieses Mal der Protagonist selbst ist, der, mangels Verständnisses, eine entsprechende Verbindung verhindert. Letztlich endet er mit dem Gulag ebenfalls in einer kollektiven Entität, welche sich jedoch im Unterschied zu Bessings ‚Wir Maschinen‘ durch die absolute Determination auszeichnet. 3.3.3 Beschleunigung und Entfremdung: Don DeLillos Cosmopolis (2003) Zick dich, pitch dich, grins dich, push dich Deal dich, klatsch dich, drück dich, reib dich Swing dich, stech dich, grip dich, zech dich […] Kämpf dich, schieß dich, gräm dich, flash dich Schlag dich, kick dich, press dich, füg dich Treib dich, knöpf dich, schraub dich, quäl dich | Bück dich hoch || Du brauchst Konkurrenz, keine Friends | Do your fucking Job till the End Nimm dir ein Beispiel an Donald Trump Was ist los, reiß dich zusammen, pack mit an Deinen Einsatz gibst du denen da oben gern [...] Schenke deinen Urlaub dem Konzern [...] Trink einen großen Schluck Leistungsdruck [...] Wir steigern das Bruttosozialprodukt Deichkind/Bück dich hoch (2012) And as things fell apart | Nobody paid much attention. Talking Heads/(Nothing but) Flowers (1988)
„[H]ard-line postmodernist“853 – mit dieser Bezeichnung benennt Randy Laist die oftmals getroffene, literaturhistorische Einordnung des US-amerikanischen Autors Don DeLillo. Wie sich darin offenbart, widmet DeLillo sich in besonderem Maße den Lebensbedingungen der Spätmoderne im Allgemeinen sowie der amerikanischen Wirtschaftskultur und deren Veränderung im Speziellen, wobei er die wechselseitigen Wirkverhältnisse von Ökonomie und individueller Konstitution ins Blickfeld rückt. DeLillos literarisches Debüt Americana (1971), ein komplexer, umfangreicher sowie unstrukturiert erscheinender Text, markiert dabei den Anfang der Auseinandersetzung, die über den Roman Players (1977) führt und wiederum vorerst in sei-
852 Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 231. 853 Randy Laist: Technology and Postmodern Subjectivity in Don DeLillo’s Novels. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2010, S. 1.
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nem 2003 publizierten Roman Cosmopolis gipfelt.854 Ist in Americana die in der Destruktion des American Dream endende Sinnsuche des Protagonisten das zentral verhandelte Thema des Romans, so steht im Mittelpunkt von Players ein am Ennui des Überdrusses leidendes Pärchen, dessen Suchbewegung nach sinn- sowie identitätsstiftenden Arbeits- und Lebensumständen sie, ähnlich wie bei Beigbeder, Houellebecq und Bessing, in destruktive Tendenzen manövriert. Zum Sujet wird ‚Arbeit‘ schließlich in Cosmopolis, in dem ebenfalls der Ennui des Protagonisten sowie seine, wenn auch eher unbewusst stattfindende, Suche nach einem Ausweg aus einem als entfremdet sowie erschöpfend wahrgenommenen Leben thematisiert wird. Arbeit bei DeLillo: Von Americana bis Cosmopolis Der Arbeitsort des Protagonisten von Americana ist das kreative Milieu der TVBranche der 1970er Jahre. Die aus der Perspektive des Ich-Erzählers David Bell und im Rückblick erzählte Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre. Beschreibt Bell im ersten des in vier Teile untergliederten Romans seine Arbeit bei einem New Yorker Fernsehsender855, wo er etablierte Formate sowie die Produktion neuer Sendungen betreut, nimmt eine, sich als Sinnsuche erweisende, Reise in den amerikanischen Westen den weitaus größeren Platz innerhalb der Narration ein. Gut aussehend, narzisstisch, oberflächlich, so wird Bell beschrieben, aber mit seinen gerade einmal 28 Jahren fühlt er sich bereits „washed up“ 856, woran sein Arbeitsalltag erheblich beteiligt ist. Zwar zeugt sein Büro von erfolgreicher Arbeit, der Roman zeigt seinen Protagonisten aber in erster Linie prokrastinierend, Arbeit lediglich simulierend, wie Bell selbst beschreibt: „I should be at the office myself. Everybody’s bucking for my job. It’s a contest to see who stays later. Guy named Reeves Chubb sleeps in his office about three nights a week. […] But I’m holding my own. I may have vacation one of these days.“ (DDA 9-10). In dieser Äußerung wird mehreres deutlich: Der Leistungsimperativ des kreativen Arbeitsumfelds, demzufolge Arbeits- und Freizeit ineinander übergehen und Initiative sowie Motivation im Übermaß vorhanden sein sollen, ist allen Beteiligten bewusst. Allerdings wird all dies in erster Linie nach außen, als eine Art ‚Maskerade‘ präsentiert. Der eigentliche Inhalt der Arbeit entleert sich zur Farce. In Anbetracht dessen überrascht es nicht, dass das ‚Damoklesschwert‘ der unvorhersehbaren Kündigung jederzeit über jedem zu schweben scheint und damit die Ersetzbarkeit der notorischen ‚Arbeitssimulanten‘ behauptet.857 Bell selbst fällt es zunehmend schwer, die arbeitssame ‚Maskerade‘ 854 Vgl. Henry Veggian: Understanding Don DeLillo. Columbia, SC: University of South Carolina Press 2015 [2014], S. 30. 855 Laist liest diesen ersten Teil in der Tradition des „social realism“ stehend, Laist (2010): Technology and Postmodern Subjectivity in Don DeLillo’s Novels, S. 25. 856 Don DeLillo: Americana. London u.a.: Penguin Books 1990 [1971], S. 253. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle DDA und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt. 857 Vgl. u.a. DDA 19, 26, 28, 76, 123. Wie die Häufung an Textstellen abbildet, handelt es sich dabei um ein Leitmotiv, wobei der Roman u.a. beschreibt, wie ein solches Arbeitsklima eine mögliche Solidarität unter Angestellten unterminiert und den Wettbewerb, sei er auch nur simuliert, fördert.
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aufrechtzuerhalten, und er verliert nach und nach die Kontrolle über sein Handeln. 858 Ihn beschleicht ferner das Gefühl, sein Leben zu vertun (vgl. DDA 8). Der Wunsch nach Veränderung treibt ihn in ein neues Filmprojekt, das in seiner ziellosen Reise kulminiert und letztlich den vorläufigen Ausstieg Bells darstellt. In seinem 1977 erschienenen Roman Players wechselt DeLillo den Arbeitsort und führt seine Leser anhand des Ehepaars Lyle und Pammy Wynant an „zwei der großen Arbeitsplätze des späten 20. Jahrhunderts“ 859, das Parkett der New Yorker Börse sowie das World Trade Center; beides zentrale Symbole des USamerikanischen Finanzkapitalismus.860 Im Vergleich zu Americana erweitert DeLillo durch die zwischen Pammy und Lyle wechselnde Fokalisierung die erzählerische Perspektive. Auf der Ebene der Handlung wird hingegen eine vergleichbare Suchbewegung vollzogen, ausgehend bei einer als problematisch empfundenen Identitätskonstitution hin zu einem Ausweg aus bzw. einer Destruktion der Arbeitsgesellschaft. Lyle ist als jüngster Partner seiner Firma an der Wall Street tätig. Er ist gutaussehend, erfolgreich, ein Workaholic. Mit seiner Affinität für Zahlen, Symmetrien sowie seinem rationalen Weltzugang ist die Börse als vermeintlicher Ort der Vernunft ‚sein‘ Ort: „It was sanity here, even at the wildest times. It was all worked out. There were rules, standards and customs.“861 Pammys Arbeit befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des hier entworfenen Spektrums zwischen ratio und Emotion. Sie ist Angestellte eines „Grief Management Council[s]“ (DDP 18), ein Dienstleistungsunternehmen für ‚Trauerarbeit‘, das Trauernden eine professionelle Begleitung anbietet. Ist Lyle zunächst in seiner Arbeit ‚verortet‘, so erlebt Pammy ihre als einen „joke“ (DDP 63), sie kann ihr keinen Sinn beimessen. Doch auch Lyle distanziert sich im Laufe des Romans zunehmend von seiner Arbeit, da er realisiert, wie die dortigen Prämissen – das Rechnen, das Reagieren auf Kurse, die ‚emotionslose‘ Kopfarbeit – ihn, wie Douglas Keesey es formuliert, nach und nach zu einem „robot or cyborg, a human extension of the computers at work“862 werden lassen. Unterzieht Americana am Beispiel des Fernsehmilieus die Konsum- und Leistungsfixierung des American Dream einer kritischen Revision, so steht in Players der Finanzsektor der 1970er Jahre als Geburtsstätte einer „new world order“ 863 im Mittelpunkt, welche die zunehmende Ökonomisierung des Lebens zur Folge hat, wie sich u.a. im ‚Grief Management Council‘ manifestiert. Players markiert damit den Beginn in DeLillos Auseinandersetzung mit einer Entwicklung, die Klaus Dörre als „finanzkapitalistische Landnahme“864 bezeichnet, welche Beigbeder am Rande von 39,90 kritisiert und die DeLillo in seinem 2003 erschienenen Roman Cosmopolis 858 Vgl. u.a. DDA 78-79, 81, 90, 97. 859 David Cowart: Don DeLillo. The Physics of Language. Athens, GA: University of Georgia Press 2002, S. 45, Übers. N.V. 860 Vgl. Alessandra De Marco: „‚Morbid Tiers of Immortality‘: Don DeLillo’s Players and the Financialisation of the USA.“ In: Textual Practice 27/5 (2013), S. 875-898: 886. 861 Don DeLillo: Players. New York, NY: Vintage Books 1989 [1977], S. 28. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle DDP und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 862 Douglas Keesey: Don DeLillo. New York, NY: Twayne 1993, S. 87. 863 Boxall (2006): Don DeLillo, S. 72. 864 Dörre (2009): Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus, S. 35. Vgl. auch S. 221, Fn. 700.
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narrativ zuspitzt. Im Zentrum dieses kurzen Textes steht der Multimilliardär Eric Michael Packer, ein erfolg- wie einflussreicher Akteur des US-amerikanischen (und damit auch weltweiten) Finanzmarktes. DeLillo engt die Perspektive wiederum ein und Packer fungiert als Fokalisierungsinstanz eines personalen Erzählers. Diese Perspektive wird lediglich durch zwei kurze, in Form eines stream of consciousness verfasste Einschübe unterbrochen, in denen ein ehemaliger Mitarbeiter Packers seine „Confessions“865 ablegt. Erst am Ende des Romans offenbart sich, dass dieser Mann namens Benno Levine am Ende des Tages, über den sich die erzählte Zeit erstreckt, zu Packers Mörder wird. Zu Beginn des Romans sieht der Leser Packer an einem Tag im April des Jahres 2000866 in seiner Limousine durch die Straßen New Yorks fahren. Er ist auf dem Weg zum Friseur seiner Kindheit und kein sich ihm in den Weg stellendes Hindernis (weder ein Stauchaos noch eine Demonstration linker Anarchisten oder diverse Morddrohungen gegen seine Person) hält ihn davon ab, das unverhältnismäßig banal erscheinende Vorhaben eines Haarschnitts umzusetzen. So erstreckt sich der Weg durch die wenigen Blocks von Packers luxuriösem Appartment zum Friseur nach Hell’s Kitchen nahezu über den gesamten Roman. Zwar sitzt Packer die meiste Zeit in seiner Limousine. Da diese jedoch mit allen technischen und ästhetischen Finessen ausgestattet ist, kann er weiterhin seiner Arbeit nachgehen. Noch größere Unabhängigkeit ermöglicht ihm seine Armbanduhr, eine Art Minicomputer867, die seine berufliche, an den Börsen der Welt stattfindende Tätigkeit endgültig ‚entgrenzt‘. Packers im Roman angedeutete Erwerbsbiografie ist die typische Karriere eines Start-upUnternehmers.868 Vom Betreiber einer Website mit Aktienprognosen wurde er – dank seines analytischen Verstandes, der nahezu an eine ‚prophetische‘ Gabe heranreicht – zum Chef von Packer Capital und damit zu einem der einflussreichsten Männer der (Finanz-)Welt. Doch die beschleunigte Karriere fordert ihren Tribut. Mit seinen gerade einmal 28 Jahren ist er (wie zuvor schon David Bell) ein verlebter und erschöpfter Mann (vgl. DDC 29-30). Er führt ein aufzehrendes Workaholic-Dasein, 865 Don DeLillo: Cosmopolis. London: Picador 2003, S. 55-61, 149-155. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle DDC und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 866 Diese zeitliche Verortung ist sehr bewusst gewählt, begann in diesem Monat doch die Finanzkrise in Folge der geplatzten Dotcom-Blase, welche auch Mora zu einem Ausgangspunkt ihres Romans machte, vgl. Nicole M. Merola: „Cosmopolis. Don DeLillo’s Melancholy Political Ecology.“ In: American Literature 84/4 (2012), S. 827-853: 828, Antje Dallmann: ConspiraCity New York. Großstadtbetrachtung zwischen Paranoia und Selbstermächtigung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009, S. 221-222 sowie Matt Kavanagh: „Second Nature. American Fiction in the Age of Capitalist Realism.“ Dissertation am Department of English, McGill University, Montreal, 3 (2007). Auf: http:// digitool.library.mcgill.ca/webclient/StreamGate?folder_id=0&dvs=1433017885113~529, zuletzt gesehen am 10.05.2015, S. 238-241, 289-307. 867 Der Erzähler beschreibt sie als Gerät mit nahezu metaphysischen Qualitäten (vgl. DDC 123, 204-205). Vgl. dazu Russell Scott Valentino: „From Virtue to Virtual. DeLillo’s Cosmopolis and the Corruption of the Absent Body.“ In: Modern Fiction Studies 53/1 (2007), S. 140-162: 146. 868 Vgl. Veggian (2015): Understanding Don DeLillo, S. 91-92.
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welches durch die (technisch evozierte) Entgrenzung der Arbeit katalysiert wird (vgl. u.a. DDC 7). Packers Armbanduhr als zentrales Accessoire dieser Entgrenzung weist auf die Bedeutung der Zeit, genauer: den Aspekt der Beschleunigung im Finanzkapitalismus des 21. Jahrhunderts hin. Zeigt DeLillo in seinem Roman Players die Genese des Finanzkapitalismus aus den Deregulierungen der 1970er Jahre, so kulminiert diese Entwicklung im Cyberkapitalismus von Cosmopolis, wobei die Zeit sich als derart beschleunigt erweist, dass Packer bereits in Nano-, Zepto- und Yoctosekunden (also in einer Quadrillionstel Sekunde) denkt (vgl. DDC 78-79, 106). Dass dieses auf Wachstum und Beschleunigung setzende Wirtschaftssystem kein auf Dauer funktionierendes System ist, versucht Packers „chief of theory“ Vija Kinski (DDC 77) – eine Art postmoderne „Betriebsphilosophin“869 – ihm zu verdeutlichen. „This is why something will happen soon, maybe today“, so Kinski, und sie sieht entsprechend eine „[d]estruction“ heraufziehen, um die „acceleration of time“ zu korrigieren (DDC 79), wobei sie diese vorausgesagte Zerstörung als „a hallmark of capitalist thought“ bezeichnet (DDC 92). Tatsächlich hat die Beschleunigung für Packer ein die Grenzen des Möglichen sprengendes Maß erreicht. So bilden einige seiner zahlreichen Monitore Situationen ab, wenige Sekunden bevor sie wirklich passieren: „He saw his face on the screen, eyes closed, mouth framed in a soundless little simian howl. He knew the spycam operated in real time, or was supposed to. How could he see himself if his eyes were closed? There wasn’t time to analyze. He felt his body catching up to the independent image.“ (DDC 52).870 „[T]he future is already in the present.“871, konstatiert Veggian dazu. Der Cyberkapitalismus erschafft dadurch eine „new and fluid reality“ (DDC 83), die sich in diesen prophetischen Momenten selbst überholt.872 Packer bemerkt das zwar verwundert, er hat allerdings bezeichnenderweise nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken, so dass diese phantastisch anmutenden Momente erst am Ende des Romans, von ihm sowie vom Leser, in ihrer vollen Bedeutung erkannt 869 Mario Scalla: „Mein Wagen, meine Burg. Don DeLillo schickt einen Börsenspekulanten in einer Luxusstretchlimousine durch Manhattan.“ In: Der Tagesspiegel 08.10.2003, S. 30. 870 Vgl. auch DDC 22, 90, 93-95, 204-206. 871 Veggian (2015): Understanding Don DeLillo, S. 90. Vgl. dazu auch Anita Wohlmann: Aged Young Adults. Age Readings of Contemporary American Novels and Films. Bielefeld: transcript 2014, S. 217-220 und Laist (2010): Technology and Postmodern Subjectivity in Don DeLillo’s Novels, S. 268-269. DeLillo selbst zeichnet diese Entwicklung wie folgt nach: „In the past decade the surge of capital markets has dominated discourse and shaped global consciousness. Multinational corporations have come to seem more vital and influential than governments. The dramatic climb of the Dow and the speed of the internet summoned us all to live permanently in the future, in the utopian glow of cybercapital, because there is no memory there and this is where markets are uncontrolled and investment potential has no limit.“, Don DeLillo: „In the Ruins of the Future. Reflections on Terror and Loss in the Shadow of September.“ In: Harper’s Magazine 12 (2001), S. 33-40: 33. 872 Vgl. Toon Staes: „The Enduring Stuff of Narrative. Late Capitalist Ideology and the End of History in Don DeLillo’s Underwold and Cosmopolis.“ In: English Text Construction 4/1 (2011), S. 1-17: 9.
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werden. DeLillo zeigt damit zum einen auf, welch opake Züge das Finanzsystem durch Digitalisierung und Globalisierung erhalten hat; zum anderen weist er gleichzeitig auf die moralische Fragwürdigkeit der mächtigen Akteure des Systems hin; beides Aspekte, die auch bei der realen Finanzkrise einige Jahre später eine bedeutende Rolle gespielt haben, die DeLillo in Cosmopolis gewissermaßen präfiguriert. Anhand Eric Packers zeichnet DeLillo das Bild einer alle Grenzen überschreitenden „cyberlabor“873, die nicht zwischen Arbeit und Freizeit, Mensch und Maschine, Gegenwart und Zukunft unterscheidet874 – mit destruktiven Folgen u.a. in Bezug auf sein ‚Humankapital‘: Menschliche Körper werden zu „Produkte[n]“875 erklärt, auf die nach Bedarf zugegriffen wird oder nicht (wie bei Benno Levine), und die in jedem Fall ‚verschlissen‘ werden, steht doch Packer mit seinen 28 Jahren bereits am erschöpften Ende seines beschleunigten Lebens. 876 Wie Merola konstatiert, legt der Roman über diese Art der Darstellung die verschleierten realen Kosten des kapitalistischen Produktionssystems frei.877 Ganz ähnlich wie Lyle Wynant ist der Finanzmogul Packer Vertreter eines sich durch Logik und Struktur auszeichnenden Weltbildes. Seine Passion ist die Suche nach Mustern in den Zahlenkolonnen seiner Bildschirme (vgl. DDC 14-15, 106107)878, wobei das Ziel natürlich die Mehrung des dabei eingesetzten Kapitals ist. Packers grundlegender Überzeugung zufolge lässt sich alles abbilden und damit auch voraussagen, weshalb er die Anmerkungen seiner ‚obersten Theoretikerin‘ ignoriert, die davon überzeugt ist, dass in einem System außer Kontrolle, als das sie den gegenwärtigen Cyberkapitalismus begreift, auch bekannte Strukturen und Muster obsolet werden (vgl. DDC 85).879 In Folge dessen verspekuliert Packer – sozusagen ‚sehenden Auges‘ – sein gesamtes Vermögen und auch noch das seiner Ehefrau, was wiederum „storms of disorder“ (DDC 116) innerhalb des Marktes hervorruft. Packers Expertenwissen scheint damit vom entfesselten Cyberkapitalismus überholt (vgl. DDC 190, 200); seine Reaktion auf diese Verluste ist denkbar gering, worin sich, wie 873 Merola (2012): Cosmopolis, S. 830. 874 Vgl. Merola (2012): Cosmopolis, S. 830-831 sowie Jerry A. Varsava: „The ‚Saturated Self‘: Don DeLillo on the Problem of Rogue Capitalism.“ In: Contemporary Literature 46/1 (2005), S. 78-107: 99. 875 Stefan Grissemann u. Wolfgang Paterno: „Irrealwirtschaft. Die Pathologie des Geldes: David Cronenbergs Kinoparabel COSMOPOLIS wirft erneut die Frage auf, ob die Kunst auf die Finanzkrise adäquat reagieren kann.“ In: profil 02.07.2012, S. 96-101: 98. 876 Vgl. dazu Wohlmann (2014): Aged Young Adults, S. 228-229 und Merola, die beschreibt, der Roman setze in Szene, „how the stress of trying to incorporate a globalized finance system that is too fast and too vast for the human to follow and track overwhelms the body and the psyche, turning both Levin and Packer into the material waste of cyberlabor.“, Merola (2012): Cosmopolis, S. 848. 877 Vgl. Merola (2012): Cosmopolis, S. 848. 878 Vgl. dazu Dallmann (2009): ConspiraCity New York, S. 222. 879 Die Börse als (ehemaliger) Ort der Vernunft erweist sich, durch die „Entkoppelung des Finanzmarktes von der Realökonomie“, als zunehmend „irrational“, schreibt mit Blick auf die Entwicklung Heinz Schumacher: „Vorwiegend Endspiele. Beobachtungen zur Darstellung der Finanz- und Wirtschaftswelt in der Gegenwartsliteratur.“ In: Kritische Ausgabe 26 (2014): „Ende“, S. 27-30: 27.
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auch bei Bessings Innenarchitekt, ein tiefsitzender Ennui offenbart. Bietet sich der ‚Sinnsuchende‘ David Bell noch in Ansätzen als Identifikationsfigur und ‚Opfer‘ seiner Umstände an, so erweist sich der kalte, empathie- sowie rücksichtslose Finanzmogul Packer als ein archetypischer Anti-Held, der seinen Ennui zunehmend destruktiv ausagiert. DeLillos Protagonisten zwischen Melancholie und Ennui In Packers Ennui offenbart sich, wie auch in DeLillos früheren Romanen, eine Melancholie der Zeit- und Entfremdungskritik, die – wie in Players und Cosmopolis – mal als überdrüssiger wie resignierter Lebensekel auftaucht, mal deutlicher in der philosophischen Tradition steht, wie es in Americana der Fall ist. Der Kreativarbeiter Bell wird als ein einsamer und isolierter Mann beschrieben, wobei die Isolation eine selbstgewählte Position darstellt.880 Auch leidet er unter diversen Ängsten, u.a. vor dem eigenen Verschwinden (vgl. DDA 36, 41) sowie vor dem Tod.881 Ausgangspunkt seiner Todesangst war der Collegeabschluss, über den er vermerkt, er sei der „beginning of a new mortality, […] the start of a job, mate, child, desk, drink, sit, squat, quiver, die.“ (DDA 174). Darin schlägt sich das Gewahrwerden des Memento mori nieder. Sein Besuch eines geisteswissenschaftlichen Colleges, an dem u.a. die „theology of despair“ (DDA 32) gelehrt wird und dessen Namensgeberin bezeichnenderweise die „ST. DYMPHNA […] PATRONESS OF THOSE AFFLICTED WITH NERVOUS DISORDERS AND MENTAL ILLNESS. ‚The Nervous Breakdown Saint‘“ ist (DDA 156, Herv. i.O.), prädestiniert ihn zu einer bewusst melancholischen Haltung. Deutlich tritt Bells Melancholie zutage, wenn er von einer „black machine“ (DDA 34, 37) berichtet, die in seinem Inneren zu ‚ticken‘ begann, als er seine Karriere in Angriff nahm. Entsprechend mehren sich bei ihm Überdruss, Langeweile und Ennui und ihn beschleicht das Gefühl, ein nicht-authentisches, sekundäres Leben zu führen: „The only problem I had was that my whole life was a lesson in the effect of echoes, that I was living in the third person.“ (DDA 58).882 Er ist folglich auf der Suche nach einer stabilen und authentischen Identität im Kontext entfremdeter Arbeits- und Lebensumstände. Und als er von dem Büro seines Vorgesetzten aus indianische Bauarbeiter bei der Arbeit beobachtet (vgl. DDA 66), offenbart er einen nostalgischen Blick in eine vergangene Arbeitsrealität, die seiner eigenen Entfremdung vermeintlich konträr gegenüber steht.883 Vor diesem Hintergrund erscheint seine Reise in den amerikanischen Westen als eine Art Flucht, deren Resultat ein autobiografischer Film ist, der letztlich zum Vehikel seiner Identitätsfindung wird. Darüber hinaus dient die Reise 880 Vgl. Veggian (2015): Understanding Don DeLillo, S. 31 und Phill Pass: The Language of Self. Strategies of Subjecitivity in the Novels of Don DeLillo. Oxford u.a.: Peter Lang 2014, S. 26-28. 881 Vgl. DDA 7, 99-101, 132, 183-184, 266. Benjamin Bird bezeichnet Bells Angst sogar als eine „pathological death-anxiety, which DeLillo presents as being endemic to American culture“, Benjamin Bird: „Don DeLillo’s Americana: From Third- to First-Person Consciousness.“ In: Critique 47/2 (2006), S. 185-200: 186. 882 Vgl. dazu Bird (2006): Don DeLillo’s Americana, S. 189. 883 Vgl. dazu Christopher Donovan: Postmodern Counternarratives. Irony and Audience in the Novels of Paul Auster, Don DeLillo, Charles Johnson, and Tim O’Brien. London, New York, NY: Routledge 2005, S. 34.
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ihm als Ausweg aus seinem verhassten Job, den er zwar nicht (aktiv) kündigt, den er aber in Folge seiner Reise verliert. Ohne selbst aktiv zu werden, driftet er, wie Henry Veggian konstatiert, aus der Business-Welt.884 Der Drift, das ziellose Sich-treibenLassen, ist Bells grundsätzliche Lebensform. David Cowart schreibt treffend: „Bell in fact stumbles through life, waiting for some change, some new dispensation, to complete the displacement of the old order, in which the fiction of a knowable, stable identity enjoyed general credence.“885 Und auch Veggian beschreibt Bell als „dislocated, a drifter in time and space“886. DeLillo liefert damit bereits 1971 einen Roman, der in seinem ästhetischen Zugang zur problematischen identitären Verortung in der spätmodernen Lebens- und Arbeitswelt deutliche Parallelen zu Sennetts Diagnosen zeigt. Eine ähnliche geistige Disposition weisen die Protagonisten von Players auf. Pammy und Lyle werden als ‚DINKs‘ 887 am Rande der Wohlstandsverwahrlosung beschrieben und ihr Gefühl, ein nicht-authentisches Leben zu führen, tritt durch den Romantitel, der alle Figuren als ‚Spieler‘ ausweist, in den Vordergrund. 888 Wiederholungen auf der Ebene der Handlung stellen die Authentizität des Lebens zusätzlich infrage (vgl. u.a. DDP 24-25, 149-150, 161). Entsprechend pflegt Lyle seine kleinen Manieriertheiten und „manias“ (DDP 22), seine „routine depression“ (DDP 125). Darüber hinaus leidet er unter diffusen Ängsten (vgl. u.a. DDP 24, 38, 210). Mit den Protagonisten von Gustafsson, Poschmann und Genazino teilt er sich den Blick fürs Detail, seine geistige Klarheit trägt dabei bisweilen zwanghafte Züge (vgl. DDP 129). Seine Affinität, sein Hingezogensein zu „things“ (DDP 53, Herv. i.O.) weist dabei ebenso auf die Melancholie hin wie sie einen Gegenentwurf zur Immaterialität seiner Arbeit aufzeigt. Reagiert Lyle mit ‚Manien‘ und Depressionen, so begegnet Pammy ihrem Arbeitsumfeld mit Hassgefühlen (vgl. DDP 36). Die permanente Fluktuation der Angestellten sowie die ständige Umgestaltung der Büroeinrichtung (vgl. DDP 18-19), welche Pammy besonders stören, verweisen auf ein flexibles Arbeitsumfeld, wie es u.a. Sennett zum Gegenstand seiner soziologischen Betrachtung macht.889 Ähnlich unerfüllt wie das Berufsleben von Pammy und Lyle erscheint auch ihr von Routine, Trägheit und Langeweile geprägtes Eheleben (vgl. DDP 15-17), und vor allem in Bezug auf Pammy ist die ostentativ zur Schau gestellte Langeweile auffällig:
884 Vgl. Veggian (2015): Understanding Don DeLillo, S. 31-32. 885 David Cowart: „Whom Bell Tolls. Don DeLillos Americana.“ In: Contemporary Literature 37/4 (1996), S. 602-619: 602-603. 886 Veggian (2015): Understanding Don DeLillo, S. 33. 887 Vgl. Hannes Stein: „Bomben für die Börse. Don DeLillo über Trauerarbeit im Spätkapitalismus.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.08.1995, k.A. 888 Vgl. dazu Cowart (2002): Don DeLillo, S. 48-49, der auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes play hinweist. 889 Diese Aspekte lassen sich in Analogie zu der sich im Umbruch befindenden Wirtschaft der 1970er Jahre lesen (vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 887). Dass diese Form der Flexibilität eine Verortung im Beruf erschwert, zeigt die Tatsache, dass Pammy sich auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig verläuft und mehrfach sogar im falschen Turm des World Trade Centers landet (vgl. DDP 14).
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„Pammy examined the uses of boredom. Of late she’d found herself professing to be bored fairly often. She knew it was a shield for deeper feelings. Not wishing to express conventional outrage she said again and again, ‚How boring, so boring, I’m bored.‘ […] Things in the street, just things she saw and heard day to day, forced her into subtle evasions. Her body would automatically relax. To feel this slackening take place was to complete another weary detour.“ (DDP 51)
In dem Bild des zum Gähnen aufgerissenen Munds (vgl. DDP 52, 55) – eine Art Übersprungshandlung – gerinnt eine gewisse Art der Sprachlosigkeit, die melancholische Unfähigkeit, den Grund des eigenen Unbehagens benennen zu können resp. sich ihm gegenüber handelnd zu verhalten. Tatsächlich heißt es über Pammy, sie vergesse immer wieder, wie sehr sie ihr Leben hasse, worin sich zeigt, wie gut ihre berufsbedingt angeeigneten Verdrängungsmuster funktionieren.890 Auch in Cosmopolis wird die Melancholie über die bekannten Marker aufgerufen. Eric Packer ist, allein schon aufgrund seines immensen Reichtums, aber auch aufgrund seiner ‚Gabe‘, Kurse vorherzusagen, ein Außenstehender. 891 Er weist keine tiefergehenden Bindungen zu seinen Mitmenschen auf und sogar seine Ehefrau erscheint als Fremde. Vage Versuche, in einer Menge zu ‚verschwinden‘, Teil eines Ganzen zu werden, schlagen fehl (vgl. DDC 174-177). In seiner (zwanghaft anmutenden) Hyperreflexivität (vgl. u.a. DDC 141) sowie in seiner ‚Prophetie‘892 zeigt sich eine geistige Klarheit, die Züge der von Dürer abgebildeten ‚Überwachheit‘ trägt. Das affektive Konglomerat aus Angst, Schmerz und Niedergeschlagenheit findet sich auch bei Packer ebenso wie die prekäre Identität.893 Ein Ennui in Form von emotionaler Abgestumpftheit lähmt ihn, über den Paul Giaimo schreibt: „These young Masters of the world are not morally or socially committed to much of anything.“894, worin Sennetts Diagnose einer bindungslosen Generation zu erkennen ist.895 Wird durch die hier genannten Aspekte eine melancholische Verfasstheit des Protagonisten bereits angedeutet, so taucht sie – anders als in den zwei Vorgängerromanen Americana und Players – auch dezidiert auf: „The car moved faintly forward now and he felt the stir of a melancholy that seemed to cross deep vales of space to reach him here in the midtown grid.“ (DDC 40), heißt es über Packers Fahrt 890 Vgl. John A. McClure: „DeLillo and Mystery.“ In: John N. Duvall (Hg.): The Cambridge Companion to Don DeLillo. Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 166-178: 169. 891 Vgl. Pass (2014): The Language of Self, S. 139-141. 892 Zur Verbindung von Melancholie und Prophetie vgl. S. 123, Fn. 225 und 226. Zur Prophetie als Bestandteil des Melancholieparadigmas schreibt Dževad Karahasan: „Ein Typ von Melancholiker ist ganz der Zukunft zugewandt, fähig, vorauszuschauen, manchmal sogar begabt (verdammt?) mit prophetischen Fähigkeiten, während der andere in die Vergangenheit eingetaucht ist, die zu unterscheiden er sich weigert.“, Karahasan (2011): Aufenthalt im Spiegel, S. 62. 893 Vgl. DDC 5-6, 12, 32, 50, 125, 209. 894 Paul Giaimo: Appreciating Don DeLillo: The Moral Force of a Writer’s Work. Santa Barbara, CA, Denver, CO, Oxford: Praeger 2011, S. 105. 895 Vgl. S. 117, Fn. 195, S. 153, Fn. 399, S. 177, Fn. 513 sowie S. 198, Fn. 602 zu entsprechenden Verweisen.
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durch New York. Es ist eine urbane, großstädtische Melancholie, die ihn über die tiefen Schluchten der Wolkenkratzer regelrecht ‚anfliegt‘. Bezeichnend dabei ist, dass die Melancholie einen Weg (‚deep vales of space‘) zurücklegt, um Packer zu erreichen, wodurch sie eine materielle Dimension erhält und somit, ganz ähnlich wie in Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent, in Bezug zur Immaterialität der postindustriellen Arbeitsrealität gesetzt wird. Erweist sich Kopps ‚Melancholie 2.0‘ als vollständig digital resp. immateriell in einem Arbeitsumfeld, das sich noch einen ‚Rest‘ an Materialität bewahrt, so erhält Packers Melancholie eine eigene materielle Dimension, die sich dem in Gänze immateriellen Finanzkapitalismus gegenüber oppositionell verhält. Packers Ennui ist entsprechend fundiert und wird lediglich durch die wiederholte ‚Prekarisierung‘ seines Lebens mittels anonymer Drohungen (vgl. u.a. DDC 106107) kurzzeitig gelindert, die seiner Identität vorübergehend Kontur verleihen. Diese ‚Vitalisierungsschübe‘ sind jedoch flüchtig, und zu einer nachhaltigeren ‚Befreiung‘ aus seinem Ennui führen erst die immensen finanziellen Verluste (vgl. DDC 122, 147-148). Seine neue ‚Armut‘ entlässt ihn aus dem ‚anything goes‘ und manövriert ihn in eine scheinbar ausweglose Lage, durch die er Abstand erhält „from the need to take inspired action, make original judgements, maintain independent principles and convictions, all the reasons why people are fucked up and birds and rats are not.“ (DDC 115). Das ökonomische, aber auch das kulturelle Kapital (in Form von Wissen) – in Verbindung mit der menschlichen Fähigkeit zur Reflexion – erscheint hier als Bürde, die einen Imperativ der Originalität, des Meinung-Vertretens, des Position-Beziehens, des Unternehmens, ja des Handelns mit sich führt. Es sind wiederum, in Analogie zur Hundenovelle sowie zu den Romanen Genazinos, die Tiere, welche als ‚positive‘ Gegenbilder fungieren, erscheinen sie doch als authentische, von den diversen Dilemmata der conditio humana befreite Existenzen. Beschleunigung und Entfremdung Thematisieren auch Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent sowie DeLillos Players die Überschreitung einer ‚materiellen‘ Realität im Zuge der Digitalisierung, so weist Cosmopolis eine zugespitzte Darstellung dieser Entwicklung und der damit einhergehenden Entfremdung auf. Der Arbeitsgegenstand des Finanzmoguls ist in allerhöchstem Maße flüchtig und die Packer zuvor attestierte Hyperreflexivität erscheint als eine Reaktion auf eben diese ‚Hyperrealität‘ seines Umfelds. 896 Sein leichtfertiges Verspekulieren legt dabei Zeugnis ab für den Grad seiner Entfremdung, zeigt er doch keinerlei Bezug zu dem verlorenen Geld oder aber zu den globalen Konsequenzen seiner Transaktionen. In der darin enthaltenen Betonung der „capital’s fictitiousness“897 aktualisiert DeLillo, Nicole M. Merola folgend, Marx’ Entfremdungs-Begriff: „DeLillo rescripts Marx’s concept of alienation for the contemporary age, illustrating the ways cyberlabor estranges its workers from themselves, their fellow workers, and the natural and built worlds.“898
896 Vgl. Pass (2014): The Language of Self, S. 137-138. 897 Merola (2012): Cosmopolis, S. 830, deren Aufsatz zu DeLillos spezifischer Melancholie einschlägig im Kontext der vorliegenden Arbeit ist. 898 Merola (2012): Cosmopolis, S. 830.
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Packers forcierter Verlust am Finanzmarkt offenbart den Wunsch, sich von dieser spätmodernen Entfremdung zu befreien und zu einem authentischen Leben zurückzukehren.899 Da dieses Unterfangen allerdings fehlschlägt, folgen weitere, sich zunehmend destruktiv gerierende Versuche, wie der spontane Mord an seinem Sicherheitschef (vgl. DDC 145), ein Akt der Selbstverletzung (vgl. DDC 196-197) und letztlich die Auslieferung an seinen Mörder.900 Dieser bereits erwähnte Mann, der sich Benno Levin nennt, aber eigentlich Richards Sheets heißt, wurde als „generic labor“ (DDC 60) aus Packers Firma wegrationalisiert und daraufhin von seiner Frau verlassen. Sein Weg führte ihn bis in die Obdachlosigkeit. 901 Gegenüber Packer formuliert er, wie Merola konstatiert, sein Schicksal als Anklage: „Levin’s words dramatize his dehumanization; he feels like a by-product of his work rather than an agent doing it and recognizes himself as inherently fungible.“ 902 In diesem Sinne erweist sich auch Levin als entfremdetes spätmodernes Subjekt und sein Mord an Packer ist eine Form der neuerlichen Selbstermächtigung; darüber hinaus ‚bestraft‘ er Packer, da dieser mit seinem „Denken und Handeln“ (DDC 202, Übers. N.V.) die von Benno erlebte Unmenschlichkeit des Arbeitsmarktes personifiziere. Packer selbst fügt sich letztlich in sein Schicksal, so dass im Rückblick sein finanzieller Ruin nur die Zwischenstufe einer Entwicklung zu sein scheint, die im Tod endet. 903 Ausgerechnet dieser ‚Endpunkt‘ findet auf der Ebene der Handlung aber gar nicht statt. Zwar entdeckt Packer auf dem Monitor seiner (prophetischen) Armbanduhr das Bild einer unidentifizierten Leiche, die er selbst ist (vgl. DDC 204-206), die Handlung friert aber in einem ‚Riss in der Raumzeit‘ zwischen dem tödlichen Schuss und dem Tod selbst ein. „[T]he image on the screen was a body now, facedown on the floor. […] He thought of covering the watch but then did not. He saw the tag in tight close-up now and read the legend printed there. Male Z. […] Oh shit I’m dead. He’d always wanted to become quantum dust, transcending his body mass, the soft tissue over the bones, the muscle and fat. The idea was to live outside the given limits, in a chip, on a disk, as data, in whirl, in radiant spin, a counsciousness saved from void. […] His murderer, Richard Sheets, sits facing him. […] His hand contains the pain of his life, all of it, emotional and other, and he closes his eyes one more time. This is not the end. He is dead inside the crystal of his watch but still alive in original space, waiting for the shot to sound.“ (DDC 205-206, 209)
Packer erhält eine Art posthumane Existenz (vgl. DDC 206-207, 209); er gerinnt, so Laist, zu einem „ultimate picture of the technologist absorbed by technology, not only psychologically, but existentially.“ 904, was als Fortführung der zuvor beschrie899 Vgl. Staes (2011): The Enduring Stuff of Narrative, S. 8. 900 Zur Selbstzerstörung Packers vgl. Staes (2011): The Enduring Stuff of Narrative, S. 15. Bezeichnend dabei ist, dass Packers Ennui dermaßen tiefgreifend ist, dass er sich zerstören lässt, indem er sich passiv gegenüber dem mörderischen Bestreben Levins verhält. 901 Ist es bei Ellis noch der Gewaltakt des Yuppies an einem Obdachlosen, so dreht DeLillo die Vorzeichen um. Nun mordet der Mittellose den Milliardär. 902 Merola (2012): Cosmopolis, S. 845. 903 Giaimo (2011): Appreciating Don DeLillo, S. 113. 904 Laist (2010): Technology and Postmodern Subjectivity in Don DeLillo’s Novels, S. 272-273.
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benen ‚digitalen Entfremdung‘ zu deuten ist. Nun ist Packer endgültig, in Analogie zu Poschmanns Protagonistin, vom Menschsein selbst entfremdet, wobei die grundlegende Ursache in seiner von Digitalisierung geprägten sowie beschleunigten Arbeitsrealität zu suchen ist; das Romanende stellt lediglich eine Zuspitzung dieser Umstände dar. Ausführlich hat sich Hartmut Rosa in seinem Buch Beschleunigung und Entfremdung diesem Zusammenhang gewidmet. Er schreibt: Durch die sich zunehmend verkürzende Nutzungsdauer von technischen Objekten des Konsums sowie der „Überkomplexität“905 vieler Geräte komme es zu einer Entfremdung des Nutzers von dem genutzten Objekt. Die sich beschleunigende Innovationsfrequenz entwerte die „kulturellen und praktischen Kompetenzen“906 des spätmodernen Menschen; Orientierungslosigkeit ist die Folge. Der Mensch werde „von Raum und Zeit entfremdet“.907 So wie der spätmoderne (Büro-)Arbeiter des Dienstleistungssektors letztlich nichts ‚handfestes‘ mehr produziert, sondern in erster Linie digitale und damit nicht-materielle ‚Ergebnisse‘908 oder Contents – möglicherweise auch noch organisiert in Projekten mit langer Laufzeit –, so hat er weder im Raum, noch in der Zeit, noch in der Materialität eine Gegenwart, die er sich mit seiner Arbeit ‚teilt‘. Eine Differenz, die bereits Hannah Arendt wie folgt beschrieben hatte: „Die moderne Welt ist ein über die ganze Erde sich erstreckendes Kontinuum, aus dem Ferne und Entfernung vor dem Ansturm der Geschwindigkeit verschwunden sind. Die Geschwindigkeit hat den Raum erobert und würde ihn zu vernichten drohen, wenn ihrer noch immer wachsenden Beschleunigung nicht die für Körper unübersteigbare Grenze gesetzt wäre, an zwei verschiedenen Orten nicht gleichzeitig anwesend zu sein. […] [J]ede Verringerung von Entfernung auf der Erde kann nur um den Preis einer vergrößerten Entfernung des Menschen von der Erde gewonnen werden, also um den Preis einer entscheidenden Entfremdung des Menschen von seiner unmittelbaren irdischen Behausung.“909
Spricht Arendt noch von der für den menschlichen Körper ‚unübersteigbaren Grenze‘, so setzt DeLillo deren zunehmende Überschreitung in den Fokus seiner literarischen Betrachtung. Cosmopolis bildet ab, wie die Beschleunigung die Grenzen des ‚Menschenmöglichen‘ sprengt. Packer ist tatsächlich an zwei Orten gleichzeitig, in der materiellen sowie in der digitalen Sphäre, und er endet letztlich in einem Dazwischen. Ein Ausweg, welcher Art auch immer, ist nun nicht mehr möglich. Mögliche Auswege zwischen Flucht und Auflösung Doch nicht nur Packer, auch die Protagonisten aus Americana und Players sind um Auswege aus den problematisch dargestellten Umständen bemüht. David Bell etwa versucht den Ausstieg in Form einer Reise, auf der sich für ihn zusätzlich die Möglichkeit ergibt, Teil eines Aussteigercamps zu werden (vgl. DDA 354-363). Letztendlich kehrt er aber nach New York zurück, ohne Job und ohne Plan für die Zukunft 905 Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp 32014 [2013], S. 126. 906 Rosa (2014): Beschleunigung und Entfremdung, S. 127. 907 Rosa (2014): Beschleunigung und Entfremdung, S. 123. 908 Vgl. Kramer (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 103. 909 Arendt (2003): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 320-321, Herv. i.O.
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(vgl. DDA 334-335), womit sein Versuch, eine alternative Lebensmöglichkeit jenseits arbeitsgesellschaftlicher Kontexte zu finden, zunächst erfolglos geblieben zu sein scheint. Die Einkehr in ein ‚authentisches‘ Leben wäre damit verstellt. 910 Ein genauerer Blick auf die Erzählperspektive bietet eine andere Deutung an, denn Bells Rückkehr nach New York markiert nicht den chronologischen Endpunkt der Narration. Vielmehr wird in einigen kurzen Textpassagen die Gegenwart des Erzählers angedeutet, in der er sich auf einer Insel in der Nähe der afrikanischen Küste befindet (vgl. DDA 129, 345); als Zeitpunkt scheint das Jahr 1999 denkbar (vgl. DDA 347). Hier verbringt er seine Tage „in meditative solitude“911, u.a. damit beschäftigt, das Filmmaterial seiner Reise zu sichten sowie an dem zugrundeliegenden Manuskript zu arbeiten, welches er als „my book“ (DDA 346) bezeichnet. Die Arbeit daran ist fast abgeschlossen und gemeint ist Americana selbst. Er hat folglich sein (wenn auch kreatives) Angestelltendasein zugunsten eines Lebens als freischaffender Schriftsteller und Künstler eingetauscht (vgl. DDA 347) und diese Tätigkeit ermöglicht es ihm, die Entfremdung, welche sich in seiner „Third-[…]Person-Consciousness“ manifestiert, zu überwinden und zum „first-person narrator“ seines Lebens zu avancieren.912 Schreiben wird damit zur Ermächtigung in Zeiten, in denen die Arbeits- und damit zusammenhängend die Lebensrealität dem spätmodernen Subjekt, wie Sennett konstatiert, das angestrebte Lebensnarrativ versagt. 913 Einen ähnlichen Ausweg deuten auch die Romane Duves, Beigbeders und Houellebecqs an, werden doch auch hier die Protagonisten zu Autoren ihrer eigenen, autobiografischen Texte. Bells ‚Absprung‘ in eine schriftstellerische vita contemplativa stellt darüber hinaus eine Absage an den American Dream, mit seinem Primat der Leistung und seiner Grundannahme, Arbeit würde zwangsläufig zu Wohlstand und Erfolg und diese wiederum zu Glück führen, dar.914 Damit zusammenhängend negiert der Roman die Identitätskonstitution qua Arbeit. Ein genauer Blick auf Americana legt ein Plädoyer für die Bedeutung von Auszeiten, von Muße nahe, wobei die Melancholie selbst nicht als zu überwindender Zustand, sondern als konstitutiver Bestandteil gilt915, reiht DeLillo sich doch ein in die philosophische Tradition der Melancholie, wenn er Bell schreiben lässt: „Men on small islands would do well to avoid the pursuit of philosophy. The island illusion, that solitude and wisdome invented each other, is a very convincing one. Day by day I seem to 910 Vgl. Stephanie S. Halldorson: The Hero in Contemporary American Fiction. The Works of Saul Bellow and Don DeLillo. New York, NY: Palgrave Macmillan 2007, S. 23. 911 Donovan (2005): Postmodern Counternarratives, S. 27. 912 Bird (2006): Don DeLillo’s Americana, S. 185, 188. 913 „[A] live narrative in which the individual matters to others requires an institution with lifetime longevity.“, schreibt Sennett (2006): The Culture of the New Capitalism, S. 36. 914 Vgl. Andrew Jude Price: The Entropic Imagination in Twentieth-Century American Fiction: A Case for Don DeLillo. Ann Arbor, MI: University of Michigan 1988, S. 30-31. Zu der dem American Dream inhärenten Glücksutopie vgl. Schmid (2012): Unglücklich sein, S. 25. 915 Schon der kindliche David Bell weiß, dass die Untätigkeit, die Trägheit, die Melancholie eine „source of light“ (DDA 182) ist, die folglich ihre eigene produktive Qualität jenseits leistungsgesellschaftlicher Koordinaten sowie pathologischer Beschreibungen besitzt.
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grow more profound. Often I feel I am on the verge of some great philosophical discovery […]. Fortunately I always return to myself. […] I enjoy the triteness of the situation, man and island, exile in the ultimate suburb.“ (DDA 129)
Eine stabile Identität, die das Ziel von Bells Suchbewegungen darstellte 916, hat folglich auch sein Inselleben nicht zur Folge. Vielmehr heißt es: „I am falling silently through myself. The spirit contracts at the termination of every passion, whether the season belongs to pain or love, and as I prepare the final pages I feel I am drifting downward into coma, a sleep of no special terror and yet quite narrow and bottomless. Little of myself seems to be left.“ (DDA 345). Es ist hier hingegen nicht die Melancholie des entfremdeten Lebens, sondern die Melancholie, die einen Künstler kurz vor dem Abschluss seines großen Werkes ereilt. 917 Diese kann sich jedoch scheinbar nur aus der Distanz, durch den räumlichen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Ausstieg entfalten, in der Existenz als Schriftsteller. Spielt DeLillo in Americana die Möglichkeit eines Ausstiegs in ein quasieremitisches, freischaffend-kreatives Leben durch, so steht im Mittelpunkt von Players das komplette Gegenteil: Pammy und Lyle leiden zwar unter dem spätmodernen ‚anything goes‘ und der damit verbundenen Freiheit (vgl. DDP 14), aber auch Verantwortung.918 Sie verspüren den Wunsch, der Monotonie zu entfliehen und dem Ennui etwas entgegenzusetzen. Sie brauchen einen festeren Bezugsrahmen, eine Veränderung. Dieser Wunsch führt zum Zusammenschluss in scheinbar solidarische Gemeinschaften, die der gefühlten Vereinzelung gegenüberstehen. Lyle macht den Wunsch besonders explizit und koppelt ihn an die problematische Verortung qua Arbeit: „It’s that I’m all through with that. I’m out. Let it all come down. Don’t you think everybody, nearly, feels that way about their work, where they work all those years? It’s insane, besides. The whole thing is.“ (DDP 91). Seine Suche nach einem Ausweg führt ihn zu einer obskuren terroristischen Vereinigung, welche – ganz ähnlich wie der Terrorist Bernd in Joachim Bessings Wir Maschine – in ihren wenigen terroristischen Taten eine „purification“ (DDP 102) zu erkennen glaubt und deren grundlegendes Ziel es ist, die Hegemonie des Finanzkapitals zu brechen und darüber auch nicht-entfremdete Formen der Arbeit ‚zurückzuholen‘.919 Für Lyle wird die Integration in die Gruppe zunächst zu einem funktionierenden Gegenentwurf zu seinem „dehumanizing, mechanical, and hyperorganized job“920, wobei er einer sehr oberflächlichen Position verhaftet bleibt, die den Terrorismus einfach als eine „exciting alternative to the ennui of white collar work“921 begreift. Doch mit der Zeit 916 Vgl. Bird (2006): Don DeLillo’s Americana, S. 185. 917 Zur Melancholie der ‚Erfüllung‘ vgl. Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 236 sowie Schmid (2012): Unglücklich sein, S. 53. 918 So erscheinen sie unfähig, für ihr Handeln wirklich verantwortlich zu zeichnen (vgl. McClure (2008): DeLillo and mystery, S. 169 sowie Keesey (1993): Don DeLillo, S. 98). Die Angst vor falschen Entscheidungen führt sie in die Passivität, in einen „unmotivated, aphathetic drift.“, Cowart (2002): Don DeLillo, S. 52. 919 Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 884, 889. 920 Keesey (1993): Don DeLillo, S. 91. 921 Leif Grössinger: „Public Image and Self-Representation. Don DeLillo’s Artists and Terrorists in Postmodern Mass Society.“ In: Peter Schneck u. Philipp Schweighauser
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weicht auch hier der Nervenkitzel einem grundlegenden „torpor“ (DDP 100). Lyle wird zum Doppel- und Dreifachagenten, ohne eine klare Position zu beziehen, ohne seinen ‚Ort‘ zu finden. Den eigentlichen Ursprung seiner Melancholie kann er nicht ergründen; vielmehr nimmt er sich mit dem Terrorchef J. Kinnear eine Person zu seinem neuen Ideal, die paradoxerweise aufgrund ihrer Ungreifbarkeit, Wandelbarkeit und auch Mobilität als Personifizierung der Ideale des Finanzkapitals erscheint.922 Da es für Lyle, der somit lediglich alte Muster reproduziert, keine Veränderung gibt, zeigt der Epilog ihn entsprechend auf dem Bett eines Motels sitzend, unablässig auf Anweisungen ‚von oben‘ wartend, wobei er zum Gefangenen dieses ‚Nicht-Ortes‘ wird.923 Pammys Suche nach einem Ausweg führt sie, ganz ähnlich wie David Bell, auf eine Reise, die sie mit zwei liierten Kollegen, Jack und Ethan, antritt. Doch auch in dieser, als Idylle an einem See gezeichneten, Auszeit breitet sich mit der Zeit Langeweile aus (vgl. DDP 111-113, 177). Pammy beginnt eine Affäre mit dem sensiblen Jack, der daraufhin von seinen Depressionen überwältigt wird und sich verbrennt (vgl. DDP 199200). Eine emotionale Reaktion auf diesen Suizid gelingt der professionellen ‚Trauerarbeiterin‘ Pammy erst nach ihrer Rückkehr (vgl. DDP 205) und die letzte Szene des Romans zeigt sie flanierend in den Straßen New Yorks, wo ihr Blick auf ein Schild mit dem Schriftzug „Transients“ (DDP 208) fällt. Dieser Begriff lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, auf unterschiedliche Kontexte beziehen: Zum einen kann er die Ökonomie der 1970er Jahre (und der darauffolgenden Jahrzehnte) bezeichnen, wurde diese doch als im Umbruch befindlich wahrgenommen. Doch nicht nur die Wirtschaft, auch Pammy und Lyle erweisen sich, in ihrer Verknüpfung mit diesen wirtschaftlichen Veränderungen, als ‚flüchtig‘, bleiben sie doch nicht in neuen Kontexten und festen Identitäten verhaftet.924 Lyle, auf dem Bett des Durchgangsortes ‚Motel‘ sitzend, gerinnt zu einem Bild dafür. Übersetzt als ‚vergänglich‘ entfaltet der Begriff aber auch die Dimension eines Memento mori. Dass Pammy keinen Zugang zu diesem ‚Zeichen‘ findet, offenbart wiederum, dass sie ihre Verdrängung weiterführt und Melancholie damit nicht überwinden kann.925 Eine wirkliche Veränderung ist folglich weder für Lyle noch für Pammy zu erwarten und sie bleiben Spieler in einem als defizitär empfundenen Spiel. Die Suche nach einem festen ‚Ort‘, etwa innerhalb einer solidarischen Gemeinschaft, erweist sich – vielleicht aufgrund des zutiefst inkorporierten Individualismus – als erfolglos. Und ebenso wie Lyle gerinnt auch Packer am Ende von Cosmopolis zu einem Bild, bleibt in einem digitalen Zwischenraum, der als spätmoderner Nicht-Ort ohne Ausweg erscheint, gefangen. Auf narrativer Ebene erhält der Roman durch den ausgesparten Tod Packers eine zyklische Struktur926, die seine Protagonisten und Leser gleichsam in doppelter Gefangenschaft hält. Erstere bleiben den „zeh-
922 923 924 925 926
(Hg.): Terrorism, Media, and the Ethics of Fiction. London, New York, NY: Continuum 2010, S. 81-92: 82. Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 892. Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 892-893. Vgl. McClure (2008): DeLillo and Mystery, S. 170. Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 889. Durch die Verschachtelungen der personal erzählten Handlung mit den Bekenntnissen Levins ergibt sich eine achronische Narration, so dass der chronologisch letzte Satz in der Mitte des Romans auftaucht, vgl. dazu Merola (2012): Cosmopolis, S. 844.
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renden Zyklen des Cyberkapitalismus“927 verhaftet, Letztere der möbiusschleifenähnlichen Struktur des Textes. Ein Abschluss ist damit weder für die Protagonisten noch für die Leser möglich – ein Umstand, den Merola vor dem Hintergrund der Freud’schen Melancholiedefinition liest: „By placing its chronological end in the middle of the text, DeLillo loops the reader into the same liminal space Levin and Packer occupy. Just as the wasting cycles of cybercapitalism trap them, the novel’s structure traps the reader, making analogous the circumstances of Levin and Packer and the reader. The lack of resolution at the end of Cosmopolis – Levin and Packer are wasted but not yet wholly discarded or disappeared – makes it difficult for the reader to grieve fully their exploitation. This foreclosing of closure updates Sigmund Freud’s theories of melancholy for a contemporary socioecological context.“928
Kein Ausweg in Sicht: Bret Easton Ellis’ American Psycho Ein in ähnlicher Weise ‚geschlossenes‘ Narrativ zeigt sich auch bei Bret Easton Ellis’ American Psycho, ein Text, der in vielerlei Hinsicht mit DeLillos Romanen intertextuell verbunden ist.929 Ellis gilt als amerikanisches Vorbild der europäischen ‚Popliteratur‘ und die Texte u.a. von Beigbeder, Houellebecq und Bessing lassen demgemäß zahlreiche intertextuelle Referenzen erkennen; Ellis Roman ist hingegen nicht ohne die Texte Don DeLillos, und speziell Americana, zu denken. Bell erscheint wie ein literarisches Vorbild von Ellis’ Protagonisten Patrick Bateman und Packer wiederum folgt in vielerlei Hinsicht Bateman nach, auch wenn DeLillo seine Darstellung bei weitem nicht so sehr zuspitzt wie Ellis. American Psycho umfasst knapp drei Jahre und rückt dabei die ausgehenden 1980er Jahre in den Fokus. In vielen kurzen, unverbundenen und sich auf den zweiten Blick als achronisch erweisenden Kapiteln930 übernimmt der Leser die Perspekti927 Merola (2012): Cosmopolis, S. 847, Übers. N.V. 928 Merola (2012): Cosmopolis, S. 847. 929 Die intertextuelle Verbindung der beiden Namen offenbart sich schon in der Titelgebung. Bezeichnet der Begriff ‚Americana‘ die der US-amerikanischen Kultur entstammenden ‚Artefakte‘, womit auch der Protagonist zu einem solchen erklärt wird, vereint Ellis in seinem Titel diesen nationalen Aspekt mit einer individudellen, psychischen Disposition, worin sich die Verallgemeinerung eines „personalen zu [eine]m nationalen Zustand“ (Ursula Voßmann: Paradise Dreamed: Die Hölle der achtziger Jahre in Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho. Essen: Die Blaue Eule 2000, S. 115) erkennen lässt. Darüber hinaus zu der Bezugnahme auf Alfred Hitchcocks Psycho vgl. Barry Keith Grant: „American Psycho/sis: The Pure Products of America Go Crazy.“ In: Christopher Sharrett (Hg.): Mythologies of Violence in Postmodern Media. Detroit, MI: Wayne State University Press 1999, S. 23-40. Ebenso wie American Psycho werden auch in Americana die Menschen als austauschbar beschrieben, Namensverwechslungen häufen sich (vgl. DDA 13-14, 93, 188, 219). Auch im Hinblick auf die entleerte Sprache erscheint Americana als literarisches Vorbild, wird auch hier im plaudernden, unbeteiligten Sprechakt alles gleichgeschaltet (vgl. u.a. DDA 19, 44-45, 104-105, 256-262). 930 Vgl. Constanze Alt: Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart. Bret Easton Ellis’ American Psycho, Michel Houellebecqs Elementarteilchen und die deutsche Gegenwartsliteratur. Berlin: Trafo 2009 S. 107.
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ve des 26jährigen Ich-Erzählers Patrick Bateman. Er wird als ein durchschnittlicher „Everyyuppie“931 beschrieben; sein Umfeld bezeichnet ihn – ganz ähnlich wie den Terroristen Bernd in Wir Maschine und mit einer Penetranz, die aufhorchen lässt – als „boy next door“.932 Dabei deutet eine, zunächst noch geflüsterte, Erwiderung „‚No I’m not,‘ I whisper to myself. ‚I’m a fucking evil psychopath.‘“ (BEE 20) bereits lange vor dem ersten wirklichen Gewaltakt Batemans dessen ‚Tätigkeit‘ als sadistischer Serienmörder an, denn hinter seiner gepflegten, makellosen Fassade verbirgt sich eine absolute moralische Degeneration. Wie auch Lyle arbeitet Bateman im ‚Herz‘ der kapitalistischen Welt, an der Wall Street. Als „corporate raider“ (BEE 162) bei der Firma Pierce & Pierce933 ist er – so wird es zumindest angedeutet – für feindliche Übernahmen zuständig. Mit seiner Bildung934, seiner Arbeit, seinem Geld, seinem Aussehen und seinem Status entspricht er dem Ideal der Zeit, welches sein Kollege und ‚Vorbild‘ Timothy Price auf den Punkt bringt: „‚I’m resourceful, [...]. I’m creative, I’m young, unscrupulous, highly motivated, highly skilled. In essence what I’m saying is that society cannot afford to lose me. I’m an asset. [...] I mean the fact remains that no one gives a shit about their work, everybody hates their job, I hate my job, you’ve told me you hate yours.“ (BEE 3, Herv. i.O.). Steht diese Ablehnung direkt auf der ersten Romanseite, so überrascht es nicht, dass die erste Arbeitsszene sich erst auf Seite 63 des Romans wiederfindet. Und obwohl das entsprechende Kapitel mit „Office“ überschrieben ist, findet keine tatsächliche Arbeit statt. Vielmehr ist Bateman damit beschäftigt, Restauranttermine zu machen bzw. machen zu lassen; er scannt die ersten Seiten des Wall Street Journals und der Financial Times und erkennt nur „one ink-stained senseless typeset blur.“ (BEE 64). Er versucht vergeblich, sich zu konzentrieren, und auch die Akte, die ihm seine Sekretärin bringt und „which she did not need to bring“ (BEE 66), kann seine Aufmerksamkeit nicht bündeln. Ein ähnliches Bild zeichnet die zweite Arbeitsszene unter der Überschrift „Business Meeting“ (BEE 105). Wiederum findet keine Arbeit statt und wieder bringt Jean eine Akte mit ins Büro, „oblivious to my pain“ (BEE 106), wie Bateman kommentiert. Der „Betriebsamkeit“ der vorangegangenen ‚Wall-Street-Romane‘, wie zum Beispiel Tom Wolfes Bonfire of Vanities
931 Paul Coughlin: „Getting Away with Murder: American Psycho and Henry: Portrait of a Serial Killer.“ In: Metro 124/125 (2000), S. 100-105: 102. 932 Bret Easton Ellis: American Psycho. New York, NY: Vintage 2006 [1991], S. 11, 18, 20, 37. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle BEE und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Zur besseren Lesbarkeit des Fließtextes werden Anmerkungen ab drei Textstellen in den Fußnotenapparat verlegt. 933 Ein Name, den Ellis Tom Wolfes The Bonfire of Vanities (1987) entnommen hat, in dessen literarischer Nachfolge er ebenfalls steht (vgl. Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 77). Im Hinblick auf Batemans Gewaltausbrüche lässt sich der Firmenname durchaus auch als ein telling name verstehen, vgl. Carla Freccero: „Historical Violence, Censorship, and the Serial Killer: The Case of American Psycho.“ In: Diacritics 27/2 (1997), S. 44-58: 51. 934 Er studierte an der Harvard Business School und in Exeter (vgl. BEE 270, 211); seiner Exfreundin schrieb er „long dark […] poems“ (BEE 230). Vgl. auch BEE 95, 395.
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(1987), stehen bei Ellis „Müßiggang und Langeweile“ 935 gegenüber, eine Art der Darstellung, die an Melvilles Bartleby zurückdenken lässt. Bateman prokrastiniert (vgl. dazu auch BEE 274) und kann sich dies auch leisten, befindet er sich doch auf einer Ebene der Wirtschaftshierarchie, auf der Arbeit automatisiert ist und/oder delegiert wird936; ein Umstand, der sich mit Baudrillards ‚Dienst‘-Begriff lesen lässt.937 Batemans Arbeit erscheint ritualisiert, simuliert, ja entfremdet und entleert, zu einer Imitation geronnen938 und damit sinnentleert. Alles was zählt, ist „Präsenz“.939 Verstärkt wird diese ‚Entleerung‘ der Arbeit dadurch, dass Bateman – wie auch Lyle und Packer – nicht im produzierenden Sektor tätig ist, sondern mit immateriellen Finanzgütern arbeitet.940 Darüber hinaus fungiert Arbeit auch nicht mehr als Existenzsicherung, stammt Bateman doch, wie sein gesamtes Umfeld auch, aus wohlhabenden ‚Kreisen‘ (vgl. BEE 283). Der Grund für seine Tätigkeit an der Wall Street ist lediglich in der gesellschaftlichen Norm zu suchen, die Bateman wie folgt benennt: „Because […] I … want … to … fit … in.“ (BEE 237). Das Ideal ist immer noch der Workaholic (vgl. BEE 85, 186, 221) und Batemans großes Vorbild passenderweise der „Musterkapitalist“941 Donald Trump. Es geht um Anpassung, Inklusion qua Arbeit, auch wenn diese nur noch als inhaltsleere Imitation vorhanden ist und sie darüber hinaus ihre Dimension als Distinktionsmerkmal mittlerweile auch eingebüßt hat, da alle Menschen aus Batemans sozialem Umfeld das gleiche machen942 und alle anderen mit den abstrakten Begriffen der
935 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 82. 936 Ein Gespräch mit seiner Freundin Evelyn, in dem Bateman versucht, sich aus einer Verabredung herauszureden, verdeutlicht dieses: „‚I can’t. Work.‘ ‚You practically own that damn company,‘ she moans. ‚What work? What work do you do? I don’t unterstand.‘“ (BEE 221, Herv. i.O.). 937 Vgl. Martin Weinreich: „‚Into the Void‘: The Hyperrealism of Simulation in Bret Easton Ellis’s American Psycho.“ In: Amerikastudien/American Studies 49/1 (2004), S. 65-78: 66, 89-90. 938 Vgl. Kavanagh (2007): Second Nature, S. 4. 939 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 83. 940 Vgl. Kavanagh (2007): Second Nature, S. 114. 941 Tobias Dorfer: „‚Rien ne va plus‘ für den Musterkapitalist. Nichts geht mehr: Immobilientycoon Donald Trump geht mit seinen Kasinos in den Bankrott – ein amerikanischer Traum gerät ins Wanken.“ In: Süddeutsche Zeitung 17.05.2010. Auf: http://www.sueddeutsche.de/ geld/donald-trump-eine-pleite-rien-ne-va-plus-fuer-musterkapitalist-1.468693, zuletzt gesehen am 15.06.2015. 942 Es herrscht eine ausgeprägte Konformität, die zu ständigen, gegenseitigen Verwechslungen führt, heißt es doch über Bateman und seinen Kollegen Marcus Halberstram: „Marcus works at P & P also, in fact does the same exact thing I do, and he also has a penchant for Valentino suits and clear prescription glasses and we share the same barber“ (BEE 89). In einem Gespräch zwischen Bateman und Evelyn heißt es: „‚He’s rich,‘ I say. ‚Everybody’s rich,‘ she says […]. ‚He’s good looking,‘ I say. ‚Everybody’s good looking, Patrick,‘ she says remotely. „He has a great body,‘ I say. ‚Everybody has a great body now,‘ she says.“ (BEE 23, Herv. i.O.). Constanze Alt erkennt hierin, sich auf Habermas’ Ausführungen beziehend, eine „Homogenisierungssucht“ als Reaktion auf die unendlich vie-
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Finanzwelt nichts anfangen können (vgl. BEE 171). Auch für Bateman selbst ist das Wall-Street-Vokabular sinnentleert943, was seine Entfremdung zusätzlich unterstreicht. Sein Kontakt mit dem Finanzmarkt, für den er ja eigentlich arbeitet, beschränkt sich nahezu auf den Gang zum Bankautomaten. 944 Der Versuch der Inklusion sowie der Identitätsbildung durch Arbeit scheint gescheitert, und dies wiederum hinterlässt eine „ontological void“945, welche bei Bateman, aber auch in seinem sozialen Umfeld, Ennui evoziert.946 Zwar weist auch Bateman einen ausgeprägten Blick fürs Detail auf, welcher ihm als Orientierungshilfe in der als überkomplex empfundenen Welt dient 947; aber an-
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len Möglichkeiten in der „Neuen Unübersichtlichkeit“ der Gegenwart, Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 129-130, Herv. i.O. „I make no comment, lost in my own private maze, thinking about other things: warrants, stock offerings, ESOPs, LBOs, IPOs, finances, refinances, debentures, converts, proxy statements, 8-Ks, 10-Qs, zero coupons, PiKs, GNPs, the IMF, hot executive gadgets, billionaires, Kenkichi Nakajima, infinity, Infinity“, usw. usf. (BEE 342). Diese Auflistung, die kaum zu decodieren ist, beginnt mit Begriffen aus der Arbeitswelt und endet in Gewalt. Vgl. Leigh Claire La Berge: „The Men Who Make the Killings: American Psycho, Financial Masculinity, and 1980s Financial Print Culture.“ In: Studies in American Fiction 37/2 (2010), S. 273-297: 281-283. Diesem kommt jedoch eine spezifische Funktion zu, als Punkt der Orientierung und Demarkation, wie La Berge herausgearbeitet hat. Hierbei zeigt sich ein Zusammenhang von Batemans Besuchen beim Bankautomaten und seinen Morden, der einen Vergleich nahelegt: Dem zirkulierenden Geld steht das vergossene Blut gegenüber; in der Sezierung und Zerteilung der menschlichen Körper lässt sich eine Suche nach Zusammenhängen erkennen, die Bateman in Bezug auf den Finanzkapitalismus offenbar schon aufgegeben hat. Und nicht zuletzt zeigt sich auch eine ethische Dimension, die Richard Godden offenlegt: „Money made from merger, in that it dismembers, ‚human capital‘, necessarily bleeds.“ Richard Godden: „Fictions of Fictitious Capital: American Psycho and the Poetics of Deregulation.“ In: Textual Practice 25/5 (2011), S. 853-866: 862. Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 71. Vgl. Denis Scheck: Hell’s Kitchen. Streifzüge durch die neue US-Literatur. Augsburg: Maro 1994, S. 168. Zu diesem, einem leerlaufenden Hedonismus entspringenden Ennui heißt es: „Die Sensationen löschen einander aus, der Extremismus des Genießens ist auf Dauer gestellt, deswegen ist er so langweilig.“ Christian Jürgens: „Das Monster ist ein Moralist. Er ist der meistgehasste Autor der Welt. Und der radikalste. Neun Jahre nach dem Eklat um American Psycho meldet Bret Easton Ellis sich zurück.“ In: Die Zeit 05.08.1999. Auf: http://www.zeit.de/1999/32/199932.b.e.ellis_.xml, zuletzt gesehen am 10.06.2015. Wie Lyle verfügt auch Bateman über eine gesteigerte Wahrnehmung (vgl. BEE 124), die mit einem zwanghaften Drang nach Detailwissen korreliert (vgl. BEE 107-108, 113). An den genannten Textstellen wird mehr als deutlich, dass für ihn die Einzelheiten als eine Art ‚Anker‘ in der Realität fungieren, der einem Abdriften in eine wahnhafte Wahrnehmung entgegenwirken soll. In diesem Licht sind auch seine endlosen Auflistungen von Markennamen zu sehen: Orientierung durch Benennung ist Batemans Strategie. Aller-
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ders als etwa bei Genazino führt dieser Blick nicht in die ‚Tiefe‘, sondern er kreiert aus der Fülle der Beobachtungen eine Art ‚dichte Oberfläche‘.948 Überforderung und Verwirrung prägen Batemans Konstitution, und er erleidet wiederholt (und zumeist aufgrund von Nichtigkeiten 949, was an Abschaffel denken lässt) zahlreiche Nervenzusammenbrüche (vgl. BEE 39, 98). Er empfindet ein konstantes Gefühl von Angst und Panik950 – das durch seinen Kokain- und Tablettenmissbrauch verstärkt wird –, und im Verlauf des Romans verliert er zusehends die Kontrolle.951 So überrascht es nicht, dass die Monate an ihm ‚vorübergleiten‘ und er den Sommer in „stupor“ (BEE 278) verbringt. Eine ausgeprägte Passivität952, ein Gefühl von Leere, Langeweile und Trauer begleiten ihn (vgl. BEE 75, 360, 386). Er sieht sich selbst als depressiv (vgl. BEE 45) und er ist unfähig, seine Angst, die er wiederholt als „nameless dread“ 953 bezeichnet, zu benennen oder zu erklären. Das gefühlte Sinndefizit (vgl. BEE 163) versucht er mit dem Schmerz zu füllen, den er seinen Mitmenschen zufügt. 954 Dabei trifft es in erster Linie Menschen, die nicht in Batemans Weltbild passen, was seine Angst vor Andersartigkeit offenlegt und die Morde als Sublimation unterdrückter Gefühle ausweist.955
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dings geht ihm eben jene Fähigkeit zur sprachlichen Ordnung der Welt mit der Zeit verloren (vgl. BEE 364). Vgl. Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 71. Er dreht etwa durch, weil er sich in der Videothek nicht für ein Video entscheiden kann: „There are too many fucking movies to choose from.“ (BEE 112-113, Herv. i.O.). Vgl. BEE 39, 226, 236, 239, 264. So findet er sich in einem Kapitel, welches mitten im Satz beginnt und ebenso endet, auf der Straße wieder ohne Orientierung und Erinnerung (vgl. BEE 148-152). Über den Text verteilt tauchen weitere erzählerische Brüche auf (vgl. BEE 141, 177-179, 212, 347-352), die mit den, sich in der zweiten Hälfte des Romans häufenden, Kontrollverlusten korrespondieren (vgl. BEE 179-198, 214, 232-233, 295, 347, 382. Vgl. zu der unzusammenhängenden Erzählweise Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. Drei Theorien und ihre Anwendung auf die Literatur. München: Fink 2011, S. 222-225 sowie Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 130-131). Diese kulminieren in seiner Angst davor, sich ‚aufzulösen‘ (vgl. BEE 70, 179, 226 und vgl. dazu Padeken (2000): Das böse Ende der Moderne, S. 250). Vgl. Kavanagh (2007): Second Nature, S. 4 sowie Padeken (2000): Das böse Ende der Moderne, S. 251. BEE 115, 137, 142, 248, 264, 267, 334, 383. Bateman selbst vermerkt dazu: „My pain is constant and sharp and I do no hope for a better world for anyone. In fact I want my pain to be inflicted on others. I want no one to escape.“ (BEE 377). Vgl. dazu Florian Niedlich: „‚No Time for the Innocent‘: Evil, Subversion and Social Criticism in Joel Schumacher’s Falling Down, Bret Easton Ellis’s American Psycho and Oliver Stone’s Natural Born Killers.“ In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 32/2 (2007), S. 221-240: 227. Das beste Beispiel dafür ist die Folter an einem Bettler, dem er seine Arbeitslosigkeit sowie sein ‚Sozialschmarotzertum‘ vorwirft und ihm entgegenschreit: „I don’t have anything in common with you.“ (BEE 131), ehe er ihm die Augen aussticht. Nicht nur ist der (dunkelhäutige) Bettler das komplette Gegenteil des reichen Yuppies; er personifiziert auch die Schattenseiten und die Prekarität des Kapitalismus, die Möglichkeit des sozialen
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Und auch, wenn Bateman seine ‚namenlose Furcht‘ wie eine Art Mantra wiederholt, so sind aus der Leserperspektive die Gründe der Angst durchaus erkenntlich: Es ist u.a. die Angst vor dem sozialen Abstieg sowie vor dem Verlust seines jugendlichen Aussehens, da sowohl sein Reichtum als auch sein Äußeres konstitutive Bestandteile seines prekären Selbstbildes sind. Auf einer tieferen Ebene ist es die Angst vor der Entpersönlichung und Verdinglichung in einer von kapitalistischen Werten geprägten Welt, die Bateman letztlich in destruktive Tendenzen manövriert. 956 Es ist die Abwesenheit von Liebe, die Bateman selbst allzu klar vor Augen steht. 957 Und es ist die generelle Überforderung innerhalb spätmoderner Lebensumstände, die die Sekundärliteratur zu American Psycho in dem Neologismus „pomophia“958 (der für ‚post modern phobia‘ steht) pathologisiert. Batemans Ennui reagiert dabei überdies auf ein – sich u.a. durch die Befreiung von dem Zwang des Arbeitens ergebenes – Zuviel an Freiheit, das kein Positivum mehr darstellt, sondern eher ein „ethisches
Abstiegs. Thomas Heise schreibt dazu: „The man has been laid off, a victim of corporate downsizing, and Bateman attacks him because he expects to survive despite not working, which Bateman considers unfair to those who do. In neoliberal theory all unemployment is considered voluntary, since there is always someone who will work for less (notwithstanding minimum wage laws, which neoliberal theory decries). Not working thus negatively impacts the employed – through higher taxes and through lower property values due to urban blight – and for this Bateman wants retribution.“ (Thomas Heise: „American Psycho: Neoliberal Fantasies and the Death of Downtown.“ In: Arizona Quarterly 67/1 (2011), S. 135-160: 144). Der Obdachlose Al erscheint hier als das personifizierte Scheitern, und Batemans Gewalt an ihm wird damit zur Vollstreckung eines der Tabus der Spätmoderne, über das es bei Sennett heißt: „Failure is the great modern taboo. Popular literatur is full of recipes for how to succeed, but largely silent about how to cope with failure.“ (Sennett (1999): The Corrosion of Character, S. 118). Christopher Schaffer konstatiert in ähnlicher Weise, Bateman leide an der Angst, seine eigene Eignung für die neoliberale Gesellschaft könne infrage gestellt werden und seine Gewaltausbrüche seien Zeugnisse dessen (vgl. Christopher Schaffer: „Examining the Personality of Patrick Bateman of American Psycho.“ Walden University, 1 (2011). Auf: http://www.academia. edu/349102/Examining_the_Personality_of_Patrick_Bateman_of_American_Psycho, zuletzt gesehen am 17.06.2015, S. 3). Vgl. auch Niedlich (2007): ‚No Time for the Innocent‘, S. 229-230 sowie Ruth Helyer: „Parodied to Death: The Postmodern Gothic of American Psycho.“ In: Modern Fiction Studies 46/3 (2000), S. 725-746: 740. 956 Zu diesem Zusammenhang vgl. Arno Heller: Gewaltphantasien. Untersuchungen zu einem Phänomen des amerikanischen Gegenwartsromans. Tübingen: Narr 1990, S. 77 sowie Vöing (2013): THIS IS NOT AN EXIT, S. 252-256. 957 „I’m weeping for myself, unable to find solace in any of this, crying out, sobbing ‚I just want do be loved,‘“ (BEE 345). Vgl. dazu Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 92-101. 958 Thomas B. Byers: „Terminating the Postmodern: Masculinity and Pomophia.“ In: Modern Fiction Studies 41/1 (1995), S. 5-33. Christopher Schaffer definiert diese Phobie als ‚literal fear of ‚things falling apart‘“, Schaffer (2011): Examining the Personality of Patrick Bateman of American Psycho, S. 3.
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Vakuum“959, wie Denis Scheck konstatiert. Wie auch Beigbeders Octave driftet Ellis’ Yuppie durch das ‚anything goes‘ der finanziellen wie intellektuellen Elite, über die Matt Kavanagh vermerkt: „[I]n his enjoyment of total privilege […] there are no boundaries left to breach, no barriers left to cross.“960 Und wenn Ehrenberg die Frage stellt: „Wenn alles möglich ist, ist dann alles normal und alles erlaubt?“961, so scheint American Psycho diese zu bejahen. Die logische Konsequenz ist der Exzess 962, oder wie Ellis es formuliert: „Diese Leute haben sehr viel Freiheit und wissen nicht, was sie mit der ihnen gegebenen Freiheit anfangen sollen. […] Anders ausgedrückt, sie haben all das, was nach amerikanischem Selbstverständnis die Garantie für ewiges Glück ist, nämlich Schönheit und Geld. Und dennoch ist keiner von ihnen sonderlich glücklich, die meisten sind sogar verdammt unglücklich. [..] Patrick Bateman ist ein Mann, der alles hat und dennoch ein völliger Psychopath ist, vielleicht gerade deshalb.“963
Und so schlagen auch alle Versuche Batemans, aus seiner Spirale der Destruktion auszubrechen fehl, sei es durch Andeutungen, durch ‚Nachlässigkeiten‘ beim Vertuschen seiner Taten, oder sogar durch wiederholte Geständnisse (vgl. BEE 352, 386389), die von seinem Umfeld aber nicht gehört oder ignoriert werden. 964 Die fehlschlagende Kommunikation, die sich hier offenbart, ist – wie auch bei Mora – ein Leitmotiv des Romans. Alles verhallt im „social vacuum“965 der gelangweilten und
959 Scheck (1994): Hell’s Kitchen, S. 175. Vgl. Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und neue Medien. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997, S. 239, 241. Ellis selbst sagt dazu: „Meine These in American Psycho ist, dass man sich aus einer gefühlsentleerten Welt, in der es allein um Fassaden und Objekte geht, nur durch einen ultimativen Akt wie das Töten heraussprengen kann.“ Ellis im Gespräch mit Rainer Traub u. Marianne Wellershof: „‚Überall Bilder von perfektem Sex‘. Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror. Ein SpiegelGespräch mit Marianne Wellershoff und Rainer Traub.“ In: Steinfeld (2001): Das Phänomen Houellebecq, S. 91-111: 94. 960 Kavanagh (2007): Second Nature, S. 78. Hubert Winkels beschreibt es wie folgt: „Die Gewalt, mit der Bateman fremde Körper überzieht, der Schmerz, den er ihnen zufügt, ist sicherlich die nach außen gewendete Gestalt seines eigenen Wunsches, buchstäblich beeindruckbar (vom anderen berührt) zu sein. Sie ist eine Figur des Wunsches nach einem vollen Zeichen, das noch Wirkung täte, wenn die moralischen Normen und formalen Codifizierungen der Gesellschaft längst schon aufgelöst sind im schalen Rausch des ‚Alles ist möglich‘.“ Winkels (1997): Leselust und Bildermacht, S. 251, Herv. i.O. 961 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 289. 962 Vgl. Andreas Kilb: „Der Henker und sein Dichter.“ In: Die Zeit 06.12.1991, S. 108. 963 Ellis im Gespräch mit Scheck (1994): Hell’s Kitchen, S. 167-168. 964 Vgl. BEE 59, 80, 82, 92, 116, 118, 121, 141, 153, 197, 213, 221, 241, 295, 300, 313, 347. 965 Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 72. Ein Vakuum im sozialen Sinne zeigt der Roman auch auf einer anderen Ebene, gibt es doch nur die reiche Oberschicht und die arme Unterschicht; eine Mittelschicht hingegen ist inexistent. Alt liest hierin eine implizite Kritik an der Politik Ronald Reagans, in Folge dessen sich das Vermögen der Reichen von
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bindungsunfähigen Elite.966 Die Gesellschaft erweist sich als ein „closed system“ 967, und der erste Satz sowie der letzte Satz des Romans machen deutlich, wie hermetisch geschlossen das System ist: „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“ (BEE 3, Herv. i.O.), zitiert Ellis die Divina Commedia Dante Alighieris. Die Protagonisten und auch der Leser befinden sich somit in der Hölle, aus der es keinen Ausweg gibt, lautet doch der letzte Satz „THIS IS NOT AN EXIT“ (BEE 399, Herv. i.O.).968 Ist der Pfad ins Innere einmal beschritten, gibt es keinen Weg zurück, und dies gilt sowohl für Bateman als auch für den Leser. 969 Es werden zwar durchaus einige Möglichkeiten des ‚Ausstiegs‘ aus dem destruktiven Kreislauf, in dem die Gesellschaft im Ganzen und Bateman im Speziellen verhaftet ist, angedeutet. 970 Zudem
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selbst vermehrte, während die Mittel- und Unterschicht zunehmend prekarisiert wurde, vgl. Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 108-109. Niedlich konstatiert entsprechend: „Everyone […] has lost their ability to truly connect with others“, Niedlich (2007): ‚No Time for the Innocent‘, S. 227. Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 76. Die Geschlossenheit wird unterstrichen durch eine Wiederholungsstruktur auf der Handlungsebene, etwa wenn die späteren Morde wie Kopien der vorherigen erscheinen (vgl. Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 75). Eine Entsprechung findet sich in den ökonomischen Zyklen des Wirtschaftssystems, zu denen Diedrich Diederichsen vermerkt: „Mit Revolte ist schon gar nicht zu rechnen. […] Das System ist ein Loop, dessen zyklischer Regelmäßigkeit Wirtschaft – und Wirtschaftspolitik – ausgeliefert ist wie einem Naturgesetz.“ (Diedrich Diederichsen: „Hausbesuch beim Finanzkapital. Skrupellose Entscheider in verschworener Runde. Eine kleine Geschichte der Wall Street als Mythos in Film und Literatur.“ In: Die Zeit 25.09.2008, S. 64). Zum ‚Loop‘ vgl. auch Kavanagh (2007): Second Nature, S. 124 sowie Godden zu den zyklisch wiederkehrenden „‚Bubbles‘, ‚booms‘ and ‚busts‘ [which] are mechanisms driven by panic, whose structure is serial.“ (Godden (2011): Fictions of Fictitious Capital, S. 860). Zu den Wiederholungen auf Handlungsebene vgl. C. Namwali Serpell: „Repetition and the Ethics of Suspended Reading in American Psycho.“ In: Critique 51/1 (2009), S. 47-73: 54-56, Sonia Baelo Allué: „Serial Murder, Serial Consumerism: Bret Easton Ellis’s American Psycho (1991).“ In: Miscelánea 26 (2002), S. 71-90 sowie Helyer (2000): Parodied to Death. Constanze Alt liest den letzten Satz des Romans – der bezeichnenderweise ebenso ein Zitat ist wie der erste, worin sich offenbart, dass ein originärer Gedanke in der Welt des American Psycho nicht mehr denkbar ist – als Referenz auf Jean-Paul Sartres Theaterstück Huis clos (1947), das in seiner englischen Übersetzung No Exit und in seiner deutschen Geschlossene Gesellschaft heißt (vgl. Alt (2009) Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 80). Auch hier sind die Protagonisten Gefangene in einer Hölle, die sich in erster Linie durch deren Bindungsunfähigkeit und die sich dazu konträr verhaltende Abhängigkeit der eigenen Identitätskonstitution von der Anerkennung anderer formt, vgl. Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft.“ In: Ders.: Gesammelte Werke. Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 [1947], S. 7-59 sowie Sartres Kommentar dazu, Jean-Paul Sartre: „Jean-Paul Sartre über ‚Geschlossene Gesellschaft‘.“ In: Ders. (1991): Gesammelte Werke, S. 60-63: 61. Vgl. Schaffer (2011): Examining the Personality of Patrick Bateman of American Psycho, S. 19. So verschwindet Timothy Price, Batemans Kollege und Vorbild, zu Beginn des Romans nach entsprechender Ankündigung: „‚I’m leaving,‘ Price shouts. ‚I’m getting out.‘ […]
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lehnt Bateman alle Blicke in seine eigene Vergangenheit ab, behauptet er doch: „The past isn’t real. It’s just a dream. […] Don’t mention the past.“ (BEE 340). Entsprechend pflegt er kaum Kontakt zu seinen Eltern, womit er mögliche ‚Wurzeln‘ seines Verhaltens indirekt negiert.971 Da er zusätzlich keinerlei Hoffnung auf eine andere ‚Listen to me Patrick,‘ he screams. ‚I’m leaving.‘ […] ‚I’m leaving,‘ he screams. ‚I…am…leaving!‘ […] ‚Away!‘ he shouts. […] ‚I’m serious you dumb son-of-a-bitch. Leaving. Disappearing.‘“ (BEE 60, Herv. i.O.). Erst gegen Ende taucht er wieder auf, angeblich nach einem Reha-Aufenthalt, doch ohne eine signifikante Veränderung durchlaufen zu haben. Eine weitere Auszeit gönnt sich Bateman selbst, wenn er mit Evelyn Urlaub in den Hamptons macht (vgl. BEE 278-282), doch auch hier gewinnt der Überdruss die Oberhand und zurück in New York geriert sich Bateman grausamer als jemals zuvor. Eine letzte Möglichkeit des Ausstiegs bietet sich dem Serienmörder durch seine Sekretärin Jean, die in ihn verliebt ist und mit der er eine glückliche und friedliche Zukunft imaginiert (vgl. BEE 256-266, 379). Letztlich stößt er sie weg, da er keinen Anlaß zur Hoffnung auf Veränderung sieht. In seinem 1998 erschienenen Roman Glamorama, den Georg Diez als „logische Fortsetzung“ von Batemans Geschichte bezeichnet (Georg Diez: „‚Ich habe Angst vor dem Spiegel.‘“ In: Die Zeit 05.01.2006. Auf: http://www.zeit.de/ 2006/02/Titel_2fEaston_Ellis, zuletzt gesehen am 20.10.2011) wählt Ellis einen etwas anderen Weg, indem er seine Protagonisten, wie u.a. Bessing nach ihm, zu Terroristen werden lässt. Die Destruktivität ist hier kein ‚persönliches Hobby‘ eines (vermeintlich) einzelnen Yuppies mehr, sondern bestens organisiert und strukturiert – „aus dem einzelnen Mörder wurde eine ganze Gang von Lifestyle-Terroristen, die die Metropolen der Welt in Angst versetzen“, schreibt Diez (2006): ‚Ich habe Angst vor dem Spiegel.‘ 971 Batemans älteste Kindheitserinnerung besteht in der Vergewaltigung einer Hausangestellten mit 14 Jahren (vgl. BEE 342). Sein Vater erscheint als Leerstelle (vgl. Alan Bilton: An Introduction to Contemporary American Fiction. Edinburgh: Edinburgh University Press 2002, S. 212-213), seine Mutter litt unter Depressionen und wurde von dem Vater in eine Nervenheilanstalt eingewiesen (vgl. dazu Alt (2009) Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 99). Voßmann konstatiert in diesem Zusammenhang, der Rückblick sei für die Menschen der 1980er Jahre bedeutungslos gewesen, da ihre Probleme sich gänzlich anders darstellten als die der Elterngeneration, und der Erzähltempus des Präsens unterstreiche die rigorose Ablehnung eines Rückblicks (vgl. Voßmann (2000): Paradise Dreamed, S. 38). Was sich hierin zusätzlich spiegelt, ist die Zukunftsausrichtung der Wirtschaft, ist doch die Verachtung der Vergangenheit typisch für die literatrische Figur des Businessman, zu der man auch Bateman zählen kann (vgl. Emily Stipes Watts: The Businessman in American Literature. Athens, GA: The University of Georgia Press 1982, S. 4). In Batemans spätmoderner Resignation gesellt sich zu dieser Verachtung eine (quasi-posthistorische) Negierung der Zukunft. Krachts Innenarchitekt weist eine ähnliche Wurzellosigkeit auf, aus der ebenfalls eine ‚ahistorische‘ Haltung resultiert, verfügt auch er, eigenen Angaben zufolge, nur über eine einzige Kindheitserinnerung, welche wiederum interessanterweise mit Ekel konnotiert ist (vgl. CK 34) und über die er sagt: „Oft war es ja so, daß Christopher mich fragte, warum ich so leer war und ganz ohne Vergangenheit zu existieren schien, als ob alles, was ich vorher war, ausgelöscht wäre, […] aber es gab nichts, nichts, woran ich mich entsinnen konnte, gar nichts.“ (CK 34). Dem Innenarchitekten fehlen nicht nur die ‚Wurzeln‘, ihm fehlt auch eine elterliche Instanz, und so ist er beständig auf der (unbewussten) Suche nach ‚Ersatz-Vätern‘, die er in Christopher und
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Zukunft hat, ist kein anderer Zustand als der gegenwärtige denkbar. 972 Die daraus resultierende „ewige Gegenwart“973 wird für Bateman, wie zuvor schon für Lyle, zu einer Art Gefängnis und in diesem Punkt offenbart sich ein wesentlicher Unterschied zu DeLillos Darstellung in Cosmopolis. Packer erscheint nämlich als Mann ohne Gegenwart, überholt die beschleunigte Zeit sich doch zunehmend selbst und ist das gesamte Agieren auf zukünftige Entwicklungen ausgerichtet. Wird Krachts Protagonist zu einem Lagerinsassen ohne Vergangenheit und Zukunft und Bateman zu einem Gefangenen seiner eigenen ahistorischen Existenz, wird Packer letztlich, als ‚untote‘ sowie namenlose Leiche, zum Gefangenen eines vollständig zeitlosen, immateriellen Zwischenraums, einer Nicht-Existenz. In sehr ähnlicher Weise wie Packer ist auch Bateman gefangen in seiner entfremdeten Existenz, weisen doch beide Texte eine zyklische Struktur auf, und behaupten auch auf inhaltlicher Ebene die Unmöglichkeit eines Auswegs. Die Protagonisten von DeLillo und Ellis, aber auch von Kracht vereint folglich, dass sie Figuren ohne Historie sind974, und Batemans Resignation, die kein Gestern und kein Morgen kennt, ist vollkommen: „[I]t did not occur to me, ever, that [...] a man was capable of change or that the world could be a better place [...]. Nothing was affirmative, the term ‚generosity of spirit‘ applied to nothing, was a cliche, was some kind of bad joke. Sex is mathematics. Individuality no longer an issue. What does intelligence signify? Define reason. Desire -- meaningless. Intellect is not a cure. Justice is dead. Fear, recrimination, innocence, sympathy, guilt, waste, failure, grief, were things, emotions, that no one really felt anymore. Reflection is useless, the world is senseless. Evil is its only permanence. God is not alive. Love cannot be trusted. Surface, surface, surface was all that anyone found meaning in ... this was civilization as I saw it, colossal and jagged...“ (BEE 375, Herv. i.O.)
Mavrocordato und letztlich im chinesischen Gulag auch findet, vgl. Scholz (2001): Anmerkungen zu 1979, S. 92-100: 92, 95-98, Seibt (2001): Dunkel ist die Speise der Aristokraten und Andre (2001): Kriegskinder und Wohlstandskinder, S. 230. 972 Vgl. Winkels (1997): Leselust und Bildermacht, S. 243. 973 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 103. 974 Eine solche Diagnose trifft Gilles Deleuze im Angesicht von Melvilles Protagonist, Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin: Merve 1994 [1989], S. 21. Die Alternativlosigkeit dieses ahistorischen Ansatzes spiegelt sich auf der Erzählebene. Batemans Taten werden dem Leser detailliert präsentiert, aber sie bleiben unkommentiert. Es gibt keine mahnende Instanz, keine Figur mit hehreren Zielen, und der Text bietet keine Möglichkeiten zur Distanznahme. Die entleerte Perspektive erlaubt kein Nachdenken über eine Alternative. Eine Abgrenzung ist nicht möglich (vgl. Voßmann (2000): Paradise Dreamed, S. 40). Dass Bateman als literarischer Charakter keinerlei Entwicklung durchmacht sowie alle seine Taten gänzlich unbeachtet bleiben – oder sogar ignoriert werden –, erscheint als ein Grund für die extremen Reaktionen auf den Roman (vgl. Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 74-75). Darüber hinaus bietet Ellis auf der Textebene keinerlei Erklärung für Batemans Verhalten, vgl. Bilton (2002): An Introduction to Contemporary American Fiction, S. 208.
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Erscheint der Ausweg aus der krisenhaften conditio humana in Americana noch als durchaus möglich, so negiert Ellis dezidiert die Möglichkeit eines solchen. Nur ganz am Rand findet sich auf den letzten Seiten des Romans eine kleine Andeutung, die an die Texte von Poschmann, Bessing und Kracht denken lässt. Bateman reflektiert über seine zunehmenden Wahnvorstellungen, in denen ihm der Bankautomat Befehle erteilt und er von einer Parkbank verfolgt wird, und er resümiert: „Desintegration – I’m taking it in stride.“ (BEE 395-396), um jedoch sogleich wieder in die altbekannte Oberflächlichkeit zu verfallen. Die (Selbst-)Erkenntnis ist da, eine Konsequenz daraus folgt allerdings nicht. Die Melancholie des M-(C)-M’ Doch welchen Hinweis gibt die melancholische Haltung resp. der Ennui, der allen genannten Texten inhärent ist. Was wird von den Protagonisten der besprochenen Romane (und damit auch von den impliziten Autoren) ‚betrauert‘? Auf den ersten Blick gesehen, weist die melancholische Haltung auf eine nostalgische Rückbezüglichkeit der Protagonisten hin, wie sich u.a. in David Bells Beschreibung der indianischen Arbeiter offenbart. In Players wird – anhand eines alternden Demonstranten, der den „[r]ise of capitalism“ (DDP 151) mit menschlichen Elendsgeschichten und Aufständen enggeführt (vgl. DDP 151-152), worin sich ebenfalls ein linearer, an die kapitalistische Produktionsweise gekoppelter Determinismus erkennen lässt – ein nostalgischer Blick offenbar. Und auch in Cosmopolis wird, so konstatiert Toon Staes, implizit um eine Zeit getrauert, „when history was not equivalent to ‚the rise of capitalism‘, and when it was still time that made money and not ‚the other way arround‘“975, denn Packer erinnert, trotz seiner gerade einmal 28 Jahre, eine andere, weniger flüchtige Arbeitsrealität, wenn er behauptet: „The word office was outdated now. It had zero satuation.“ (DDC 15). Stellt für den Leser von Rothmanns Roman Junges Licht das Vokabular des Bergmanns eine Sprache mit einer sich auflösenden Verbindung von Signifikant und Signifikat dar, womit sich der Wandel der Arbeitswelt auf semiotischer Ebene abbildet, so zeigt sich in dieser Äußerung Packers die nächste Stufe dieses Wandels976, von dem Packer unmittelbar betroffen ist. Lässt sich bei DeLillo durchaus eine Trauer um vergangene Arbeitsrealitäten erkennen, so erweist sich die explizite Benennung als Verlust sowie damit zusammenhängend die ‚Betrauerung‘ dieses Verlustes als verstellt. Es handelt sich, wie Mortimer-Sandilands es ausdrückt, um einen „state of suspended mourning“977, und die Melancholie wird so zum Vehikel für die Aufbewahrung der Erinnerung an eine frühere angebliche Arbeitsrealität. Ein Ansatz, welcher sich auch in den Romanen Gustafssons und Rothmanns offenbart. Ellis Roman erweist sich hingegen als derart ahistorisch, die Resignation derart tiefgreifend, dass die Nostalgie keine mögliche Haltung mehr darstellt. Darüber hinaus weist die Melancholie – in ihrer Gestalt als eine Melancholie der Entfremdung in finanzkapitalistischen Kontexten, wie Players, 975 Staes (2011): The Enduring Stuff of Narrative, S. 8. 976 Vgl. Tanguy Harma: „The Semiotics of Power: Corrupting Sign Systems in Contemporary American Exceptionalism and in Bret Easton Ellis’s American Psycho and Don DeLillo’s Cosmopolis.“ In: European Journal of American Culture 33/3 (2014), S. 195-208: 201-202. 977 Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 333.
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American Psycho und Cosmopolis sie abbilden – auf eine abstraktere Ebene der Trauer hin, welche ich als ‚Melancholie des M-(C)-M’‘ bezeichnen möchte, und welche eine spezifische Melancholie in Folge des zunehmenden Abstraktionsgrads der ökonomischen Realität darstellt. In dieser Ausklammerung des ‚C‘ schlägt sich nieder, dass durch die Entwicklung des Finanzkapitalismus ab den 1970er Jahren die Güter mehr und mehr verschwanden und die Selbstreferentialität des Geldes zunahm.978 Als ältester, diesen Kontext in den Fokus rückender Text wird Players hier bereits auffallend explizit, wobei diese Feststellung sich in erster Linie auf Lyle bezieht, wird doch die Börse als seine „inmost crypt“ (DDP 132) beschrieben, in die er eingelassen werden und die er schützen möchte. Dieser ‚innere‘ „Nicht-Ort“ lässt sich, mit Jaques Derrida, als ein „atopische[r] Ort des Melancholikers“ 979 deuten: „Die Krypta bewahrt einen unauffindbaren Ort als Grund, mit Grund“, der „gesichert (außerhalb, ausgenommen, unversehrt)“ bewahrt werden muss, etwa um ihn vor dem Tod zu schützen, um „sicherzustellen, daß der Tod nicht im Leben statthat“. 980 Derrida beschreibt weiter, dass „die kryptische Inkorporation immer eine Auswirkung 978 Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 878. Das Objekt dieser Trauer führt zu Karl Marx’ Arbeitswerttheorie und der damit verbundenen Gleichung W-G-W, die besagt, dass Ware (W) gegen Geld (G) getauscht wird, welches wiederum gegen eine Ware gleichen Werts zurückgetauscht wird. Wurde dieses Tauschverhältnis unter dem Einfluss des Kapitalismus in ein G-W-G’ (bzw. auf englisch M(oney)-C(ommodity)M(oney)’) transformiert, wobei im Tauschprozess ein Mehrwert (G’) entsteht, der eine Kapitalakkumulation ermöglicht, so ‚entleert‘ sich diese Formel in Zeiten eines globalen wie digitalen Finanzkapitalismus, der die „Zirkulation des Geldes zum ‚Selbstzweck‘“ (Kühl (2004): Arbeits- und Industriesoziologie, S. 17, vgl. auch Distelhorst (2014): Leistung, S. 101) macht, zunehmend zu einem G-G’ (zu einem besseren Verständnis der englischsprachigen Zitate verwende ich die englische Schreibweise M-C-M’). War früher die Produktion von Ware notwendig, um das Kapital zu mehren, so mehrt es sich heute von selbst, und dies in einer Geschwindigkeit, die von keinem Menschen mehr nachvollzogen werden kann, mit einem Automatismus, der nicht mehr kontrollierbar erscheint. Urs Widmer zeichnet in seinem Essay „Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück“ diese Entwicklung mit anschaulichen Worten nach: „Alles in allem ist die Geschichte des Geldes eine Illustration der zunehmenden Abstraktionsfähigkeit von uns Menschen. Irgenwann mußten wir die Kuh nicht mehr mit eigenen Augen sehen, wir glaubten, daß wir für die Nünze, die wir statt ihrer erhielten, dann schon eine kriegen würden. Noch später reichte, statt der Goldmünze, ein Stück Papier, das uns versicherte, daß das Gold, das es repräsentierte, vorhanden und sicher aufbewahrt sei. Dann existierte auch das Gold nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so viel, wie Papierzettel im Umlauf waren [gemeint ist das Ende des Bretton-Woods-Abkommens]. Heute genügen uns grüne Ziffern auf Bildschirmen und hier und da ein Bankauszug. Der letzte Schritt ist noch nicht getan“, Urs Widmer: „Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück.“ In: Ders.: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Zürich: Diogenes 2002, S. 11-32: 12-13. 979 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 169. 980 Jacques Derrida: „Fors.“ In: Nicolas Abraham u. Maria Torok: Kryptonomie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Berlin, Frankfurt/M., Wien: Ullstein 1979 [1976], S. 7-52: 7, 19, Herv. i.O.
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unmöglicher oder verweigerter Trauer (Melancholie oder Trauer) markiert“981, wobei nicht bloß die Trauer, sondern auch der Prozess des Sich-Einverleibens letztlich unabgeschlossen bleibt. Für Lyle wird die Börse, so deutet Alessandra de Marco, zu einem Ort „where the loss of C is safely buried, a place marked by ‚sanity‘“ 982; ein Ort der angeblichen ‚Vernunft‘ resp. ‚Gesundheit‘, der einen Rückzugsort in sich zunehmend als überkomplex sowie problematisch erweisenden Zeiten darstellt und damit zu einem Ort der Verdrängung wird. Die Melancholie von Lyle erweist sich damit als eine Folge dieser Suspendierung des ‚C‘. Die spezifische Melancholie dieser ökonomischen Entwicklung beschreibt Distelhorst wie folgt: „Der Diskurs um die Leistungsgesellschaft entpuppt sich aus dieser Sicht als melancholischer Diskurs einer Gesellschaft, die es nicht wagt, um das Verschwinden dessen zu trauern, was ihr letztmögliches Zentrum gewesen ist und in den Abgrund ihrer eigenen Leere zu blicken, der durch die selbstreferentielle Zirkularität des Kapitalkreislaufs gespeist wird.“983 Auch von den Wynants wird dieser Verlust nicht entsprechend betrauert, wie De Marco weiter ausführt: „[T]he Wynants refuse to mourn the loss of C and what is lost with the erasure of the commodity form“984, weshalb für Lyle das Errichten einer inneren Krypta geradezu erforderlich wird. Die Entfremdung, die der ‚Auslöschung der Ware‘ – sprich der Entfremdung von dem produzierten Objekt durch die Transformation in immaterielle, digitale Sphären – folgt, lässt die Arbeit selbst zum verlorengegangenen Objekt werden 985, wofür American Psycho ein vernehmliches Beispiel liefert. Der Abstraktionsgrad des Finanzkapitalismus ist eine wesentliche Ursache für Batemans Abdriften in einen destruktiven Ennui, und für Bateman erweise sich deshalb der Blick zurück als verstellt, schreibt Leigh Claire La Berge, weil die sozialen Ängste der Gegenwart sich eklatant von denen der Vergangenheit unterscheiden, wobei die ‚Erzeugung‘ von Geld aus Geld jenseits einer materiellen Rückbindung das zentrale Moment des hier konstatierten ‚Epochenumbruchs‘ sei.986 Bateman versucht zwar, die sich zwischen M und M’ auftuende Lücke durch exzessiven Konsum zu ‚füllen‘987, doch dieser Versuch währt jeweils nur kurz, sind doch alle in American Psycho beschriebenen Yuppies, mit Sennett gesprochen, „cosmopolitan characters who dwell in material desires which die when consummated.“988
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Derrida (1976): Fors, S. 20, Herv. i.O. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 882. Distelhorst (2014): Leistung, S. 148. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 878. Vgl. De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 884. Im Hinblick auf Pammys Melancholie konstatiert De Marco, ihre Arbeit sei zwar ähnlich abstrakt, ihr „lost object“ sei hingegen der Tod, De Marco (2013): ‚Morbid Tiers of Immortality‘, S. 885-888. 986 Vgl. La Berge (2010): The Men Who Make the Killings, S. 275. 987 Vgl. Godden (2011): Fictions of Fictitious capital, S. 855-856. 988 Sennett (2006): The Culture of New Capitalism, S. 138. Bateman entspricht damit genau den Ausführungen Erich Fromms zu einem destruktiven Charakter, der es selbst durch extremen Konsum nicht mehr schafft, seine chronische Langeweile zu besiegen, da er bereits unfähig zur Stimulation und innerlich passiv geworden ist, vgl. Erich Fromm: Ana-
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In noch stärkerem Maße als Bateman ist Packer zwölf Jahre später ein sich in digitalisierten und damit abstrahierten Umständen verlierender Charakter. Die Börse als Rückzugsort und Krypta für die eigene Trauer existiert für den ‚entgrenzten‘ Arbeiter Packer nicht mehr. Auch kann sie in Folge der diversen Finanzkrisen kaum mehr als Ort der ‚Vernunft‘, als welche Lyle sie zunächst noch ansieht, gelten. Packers Melancholie geriert sich dadurch umso tiefgreifender und von allen beschriebenen Protagonisten lebt er am deutlichsten auf dem, von Richard Godden aufgerufenen, „dash between the M’s“.989 Besaß Lyles, als Nicht-Ort gezeichnetes, Motel am Ende von Players noch ein Restmaß an materieller Realität, so endet Packer endgültig in einem ‚Zwischen‘, welches keinen Ort und keine Zeit mehr besitzt, führte er doch ein Leben auf einer Vielzahl von ‚dashes‘, zwischen Arbeit und Freizeit, innen und außen, Gegenwart und Zukunft, und letztlich auf jenem zwischen menschlich und posthuman. Die melancholische Dimension von Ellis’ und DeLillos Texten bestätigt den von Mortimer-Sandilands in ihren Ausführungen zur Melancholie aufgespürten „core of grief“ im „heart of the modern age“, über den sie vermerkt: „[B]ut that ‚core‘ is more accurately conceived as a condition of melancholia, a state of suspended mourning in which the object of loss is very real but psychically ‚ungrievable‘ within the confines of a society that cannot acknowledge nonhuman beings, natural environments, and ecological processes as appropriate objects for genuine grief.“ 990 Damit ergibt sich ein umgekehrter Fall von Freuds unbewusstem Verlust. Bezieht sich die Melancholie nach Freud auf einen Verlust, der mehr ideeller Natur ist und deshalb nicht abschließend betrauert werden kann991, so lässt die Gesellschaft, Mortimer-Sandilands Argumentation folgend, zum einen nur bestimmte Arten von Verlust zu 992; zum anderen sind die emotionalen wie psychischen Fähigkeiten zur Trauer (resp. zur ‚Betrauerung‘) begrenzt – ein Umstand, der sich anhand der professionellen Trauerarbeiterin Pammy exemplifiziert. „There are few if any public rituals of environmental mourning […] [. N]o language to express that loss, no collection of shared symbols or rituals to acknowledge the significance of that loss“, woraus die Frage resultiert: „[H]ow does one mourn in the midst of a culture that finds it almost impossible to recognize the value of what has been lost? […] [M]elancholia is not only a denial of the loss of a beloved object but also a potentially politicized way of preserving that object in the midst of a culture that fails to recognize its significance.“993 Mortimer-Sandilands fokussiert zwar in ihrer Auseinandersetzung die Trauer um die ökologischen Folgen des menschlichen Lebensstils, die „nature-nostalgia“994, und sieht diese als eine Form des inkorporierten Verlustes, der es erlaubt, das verlorengegangene Objekt zu bewahren. Ihre Ausführungen lassen sich aber aus der ökologi-
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tomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998 [1973], S. 276. Godden (2011): Fictions of Fictitious capital, S. 860, der sich in seinem Aufsatz ausführlich der genannten Formel M-C-M’ widmet. Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 333, Herv. i.O. Vgl. S. 29, Fn. 100. Vgl. Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 336. Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 338-339, 333. Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 338-339.
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schen auf die ökonomische Sphäre übertragen, im Sinne einer Melancholie, die eine vergangene ökonomische und damit gesellschaftliche Realität betrauert, wobei sich die verdrängte Trauer in diesem Verständnis als noch problematischer erweist. Jenseits von mangelnder gesellschaftlicher ‚Erlaubnis‘ sowie psychischer ‚Befähigung‘ erscheint das Objekt dieser ökonomischen Trauer zusätzlich verstellt, was wiederum Melancholie evoziert. Denn: Kaum einer wird widersprechen, dass der Verlust an Tierarten, Regenwäldern, Ökosystemen auch ‚tatsächlich‘ ein Verlust ist. Bezogen auf ökonomische Umstände sieht dies hingegen anders aus, was wiederum die nostalgische Rückbezüglichkeit, die u.a. DeLillos Romane andeuten, der American Psycho sich hingegen dezidiert versagt, fragwürdig werden lässt. Kann man etwas betrauern, was zum einen unwiederbringlich ist und zum anderen womöglich auch gar nicht mehr gewollt wird, wie eine vorindustrielle oder industrielle Arbeits- und Lebensform? Richard Sennetts in seinem Buch The Corrosion of Character vollzogene Gegenüberstellung von fordistisch und postfordistisch geprägten Biografien legt zwar nahe, dass eine solche Trauer angebracht ist und auch vorherrscht. Und jene Romane, welche die negativen Folgen von flexibilisierten und entgrenzten Arbeitsumständen abbilden, belegen eine solche Annahme. Dass der angebliche Verlust sich dennoch verstellt ist, wie die Textanalysen des vorliegenden Kapitels zeigen, und ihm lediglich mit Melancholie begegnet werden kann, stellt u.a. auch Sennetts Darstellung infrage. Handelt es sich vielleicht, wie auch die Kritik an Sennetts Theorie andeutet995, um eine Realität, die vielmehr aus der Retrospektive kreiert wurde und so womöglich niemals stattgefunden hat? Tatsächlich entwirft Sennett sein Bild der gewandelten Arbeitsumstände vor dem Hintergrund eines heteronormativen Verständnisses von Arbeit als unbefristeter Vollzeitbeschäftigung. Dieses Idealbild entstammt der Nachkriegszeit, einer Zeit der Vollbeschäftigung, die eine „historisch einmalige Situation“996 darstellt oder auch „the golden age of capitalism“997, wie es Steffen Lehndorff auf den Punkt bringt. Dieses ‚goldene Zeitalter‘ war jedoch nur von kurzer Dauer, wobei die 1970er Jahre den Wendepunkt markieren. Der Sozialstaat, mit seinen Sicherungsnetzen sowie stabilen Arbeitsbedingungen, den Sennett in seinem Bild des Postfordimus ‚betrauert‘, ist genau genommen gerade einmal 100, der Nationalstaat, Vorgänger der ebenfalls kritisierten globalisierten Weltordnung, 200 Jahre alt.998 Die von Sennett kritisierte Flexbilität ist darüber hinaus, wie Sieferle entgegnet, so neu nicht, war doch auch die vor-industrielle agrarische Gesellschaft in hohem Maße instabil, was eine entsprechende Flexibilität der Akteure erforderte. 999 995 Sennetts Kritiker konstatieren zumeist, seine Diagnosen seien empirisch nicht haltbar (vgl. Mayer (2000): Arbeit und Wissen, S. 385-386 sowie zu den entsprechenden Zahlen vgl. Gerhard Bosch: „Entgrenzung der Erwerbsarbeit – Lösen sich die Grenzen zwischen Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit auf?“ In: Minssen (2000): Begrenzte Entgrenzungen, S. 249-268: 253-254. 996 Dieter Kramer: „Suchbewegungen in der Krise der Arbeitsgesellschaft.“ In: Ders./Hoffmann (1994): Arbeit ohne Sinn? Sinn ohne Arbeit?, S. 133-172: 134. 997 Steffen Lehndorff: „Arbeitszeitverkürzung in der Krise.“ In: Gerhard Bosch (Hg.): Zukunft der Erwerbsarbeit. Strategien für Arbeit und Umwelt. Frankfurt/M., New York, NY: Campus 1998, S. 246-270: 258. 998 Vgl. Sieferle (2002): Gesellschaft im Übergang, S. 134-136. 999 Vgl. Sieferle (2002): Gesellschaft im Übergang, S. 121-122.
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Die u.a. von Sennett als Kontrastfolie der derzeitigen Umstände herangezogenen Gegebenheiten einer vergangenen ‚Arbeitsrealität‘ erweisen sich also nach genauerem Hinsehen als verhältnismäßig junge Phänomene, die dennoch zum „Leitbild“1000 aktueller kritischer Auseinandersetzung avanciert sind. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen gesehen, lässt sich konstatieren, dass sich in der Melancholie der Primärtexte demnach eine zum Teil verdrängte Erkenntnis niederschlägt, derzufolge die positiven Gegenbilder, die im Diskurs herangezogen werden, um die postindustriellen Arbeitsumstände zu kritisieren, zumindest zum Teil einer realistischen Evidenz entbehren.1001 Damit erweist sich das möglicherweise ex negativo geformte Konstrukt einer ‚vor-postfordistischen‘ Arbeit als ein rhetorisches Konstrukt, welches der kritischen Argumentation dienlich ist, und so verliert die Argumentation selbst ihren positiven Bezugspunkt. In diesem Fall würde sich, mit Slavoj Žižek gesprochen, ein „Verlust des Verlusts“ offenbaren, mit der „Erfahrung, daß wir niemals hatten, was wir verloren haben sollen“.1002 Nicht nur das Objekt der Trauer, sondern die Trauer selbst wird verdrängt. So schreibt Heidbrink, die Postmoderne sei „im Unterschied zur Moderne eine Epoche ohne eigentliche Trauer.“ 1003 Eine Behauptung, die auch Bateman formuliert, wenn er über seine Zeit sagt: „Fear, recrimination, innocence, sympathy, guilt, waste, failure, grief, things, emotions, that no one really [feels] anymore“ (BEE 375). Und er legt auch die Strategie dieser umfassenden Form der Verdrängung frei: eine ‚Über-Affirmation‘ leistungsgesellschaftlicher Imperative. Affirmation statt Verweigerung bei DeLillo und Ellis Von Hartmann über Poschmann und Duve bis hin zu Genazino bilden die Texte in erster Linie die Strategie einer melancholischen Verweigerung, eines Widerstands, eines Stillstehens und Zauderns als Gegenbewegung zur pausenlosen Geschäftigkeit der spätmodernen Arbeitsgesellschaft ab und sie stehen damit in der in Kapitel 1 und 2 beschriebenen ‚melancholischen Haltung‘. Die Protagonisten von DeLillo und Ellis, in erster Linie Packer und Bateman, wie auch Moras IT-Fachmann und Beigbeders Werber, erscheinen hingegen vielmehr als zugespitzte Darstellungen des ‚flexiblen Menschen‘ oder aber des ‚unternehmerischen Selbst‘, und vor allem American Psycho erweist sich dabei als ein äußerst aktueller Text. Auch wenn er bereits Ende der 1980er entstanden ist und seine Protagonisten als „Vehikel zur Darstellung gesamtgesellschaftlicher Symptome“1004 eben dieser Zeit dienen, so sind dennoch, wie die Engführung mit Sennetts Thesen belegt, Parallelen zur derzeitigen Entwicklung auszumachen, die selbst den Autor überraschen: „Ich dachte damals, dass das ein besonderes Kennzeichen der neunziger Jahre wäre – es ist aber komplizierter, es ist Teil unserer Kultur. [...] Es geht um die Regeln, die die Gesellschaft dem Einzel-
1000 Schmid (2000): Arbeitsplätze der Zukunft, S. 269. 1001 Vgl. u.a. Kühl (2004): Arbeits- und Industriesoziologie, S. 63-66. 1002 Slavoj Žižek: „Jenseits der Diskursanalyse.“ In: Oliver Marchart (Hg.): Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wien: Turia + Kant 1998, S. 123-131: 127. 1003 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 91. 1004 Voßmann (2000): Paradise Dreamed, S. 16.
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nen auferlegt.“1005, konstatiert Ellis. Die von ihm angesprochenen Regeln sind u.a. der „zunehmend auf alle Lebensbereiche übergreifende Zweckrationalismus“ 1006 sowie die Ökonomisierung des Lebens, erscheint doch alles ökonomisiert, sei es der Sex (vgl. u.a. BEE 57), oder aber der Mensch an sich, der lediglich eine Ansammlung von Marken anstelle eines Individuums darstellt und sich selbst als ‚Humankapital‘ begreift.1007 Auch wenn der Roman in erster Linie die oberflächliche Konsumkultur der 1980er Jahre beschreibt, so ist er dennoch auch mehr als 20 Jahre nach der Publikation immer noch aktuell1008, wobei sich die Aktualität durch die Verfilmung im Jahr 2000 zur Zeit der platzenden Internetblase erneut bestätigte.1009 Bateman ist ein im besten Sennett’schen Sinn bindungsloser Charakter, und seine Bindungslosigkeit entspringt einer Art von zwischenmenschlichem Desinteresse, welches in den Morden kulminiert. „Our lives are not all interconnected […]. Some people truly do not need to be here.“ (BEE 226, Herv. i.O.), sagt der Täter selbst und ruft damit das Bild der ‚Überflüssigen‘ auf; eine Kategorie, die im Kontext der Arbeitsgesellschaft – als Gegenbild zu den produktiven Leistungsträgern – wiederholt instrumentalisiert wurde1010 und welche Bateman hier im Übermaß affirmiert, ist es doch Teil seiner spezifisch narzisstischen Hybris, dass er selbst entscheidet, welche Mitglieder der Gesellschaft er durch seine Taten endgültig ‚exkludiert‘. Damit können seine Morde nicht etwa als eine pure Negation von Werten und einer gültigen Ethik betrachtet werden, sondern vielmehr als eine Übertragung von kapitalistischen Werten und der Wall Street-Ethik auf das gesamte Handeln. Zwar zeigt Bateman zweifelsohne soziopathische Züge; er ist aber nicht etwa die „Verkörperung der Unkultur oder der fehlenden Bildung“1011, sondern er repräsentiert vielmehr das Ideal und den American Dream seiner Zeit. Bateman ist ein integriertes Mitglied der Gesellschaft und gleichzeitig ihr Antagonist1012 – ein paradoxer Umstand, der sich mit Ausführungen Erich Fromms aus dem Jahr 1973 erklären lässt: „Eine Person mit sadistischem Charakter wird in einer antisadistischen Gesellschaft im wesentlichen harmlos sein. Man wird den Betreffenden für krank halten. [E]r wird nie beliebt sein und kaum oder überhaupt keinen Zugang zu Stellungen finden, in denen er gesellschaftlichen Einfluß gewinnen kann.“1013 Bateman ist aber zum einen äußert beliebt, 1005 Ellis im Gespräch mit Diez (2006): ‚Ich habe Angst vor dem Spiegel.‘ 1006 Heller (1990): Gewaltphantasien, S. 76, der Gewaltdarstellungen in US-amerikanischen Texten ab den 1960er Jahren in das Blickfeld rückt. Zur Selbstdefinition als ‚Humankapital‘ vgl. Merola (2012): Cosmopolis, S. 847. 1007 Vgl. La Berge (2010): The Men Who Make the Killings, S. 285 sowie Harma (2014): The Semiotics of Power, S. 201-202. 1008 Voßmann bezeichnet ihn als „eine bis heute hin gültige Warnung vor einer wertlosen Statusgesellschaft, deren verfängliche Reize seit dem Erscheinen des Romans keineswegs abgenommen haben“, Voßmann (2000): Paradise Dreamed, S. 18. 1009 Vgl. David Eldridge: „The Generic American Psycho.“ In: Journal of American Studies 42/1 (2008), S. 19-33: 23. 1010 Vgl. S. 109, Fn. 163, S. 169, Fn. 485. 1011 Thomas Ballhausen: Bewegungen des Schreckens. Anthropophagie zwischen Metamorphose und Metastase. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2010, S. 69-70. 1012 Vgl. Niedlich (2007): ‚No Time for the Innocent‘, S. 232. 1013 Fromm (1998): Anatomie der menschlichen Destruktivität, S. 337.
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und er hat zum anderen eine mächtige Position inne, was darauf hinweist, dass sich in seinen Taten eine versteckte, systemische Gewalt niederschlägt. 1014 Wird der Zusammenhang von ‚Konsumieren‘ und ‚Liquidieren‘ schon in Beigbeders Roman thematisiert, so liefert American Psycho eine zugespitzte Vorlage dafür. Denn Bateman ist in erster Linie ein „rapist, killer, cannibal; in every sense of the word, consumer“.1015 Doch nicht nur die Konsumgesellschaft, sondern das kapitalistische System als solches findet sich in Batemans Gewalt gespiegelt. So wird er auf einer Party nach seiner beruflichen Tätigkeit gefragt, woraus sich ein Dialog voller Missverständnisse entspinnt: „‚I’m into, oh, murders and executions mostly. It depends.‘ ‚Do you like it?‘ she asks, unfazed. ‚Um… it depends. Why?‘ […] ‚Well, most guys I know who work in mergers and acquisition don’t really like it.‘ she says.“ (BEE 206). In diesem Beispiel fehllaufender Kommunikation zeigt sich neben einer phonetischen ebenfalls eine Wesensähnlichkeit: Ist Bateman beruflich (angeblich) für die feindliche Übernahme von Firmen zuständig, so praktiziert er dieses auch mit seinen Opfern, oder wie Paul Coughlin es auf den Punkt bringt: „Taking over other companies, stripping them bare and consuming them: put precisely, commercial cannibalism. Bateman’s social life follows the same methodology: appropriating people and consuming them. […] His profession suits his lifestyle, one of rampant and guiltless consumption.“1016 Wenn Ursula Voßmann Batemans Psyche mit den Worten beschreibt, er weise „mangelnde Empathie, generelle Gefühlskälte, Mitleidlosigkeit mit seinen Opfern, Gewissenlosigkeit, keinerlei Empfindungen von Schuld oder Reue“ auf, und die Opfer würden „nicht als Menschen, sondern als Objekte angesehen“1017, dann sind dies die Eigenschaften eines, von kritischer Seite konstatierten, dehumanisierenden und deregulierten Kapitalismus, der Menschen zu einer Verfügungsmasse degradiert. In diesem Aspekt zeigt sich die USamerikanische Spezifik der literarischen Darstellung. Zwar weisen die ökonomischen Entwicklungen von Westeuropa und Nordamerika im Zuge der Industrialisierung ab der Moderne eine Vielzahl von Parallelen auf, dennoch sind zwei amerikanische 1014 Vgl. dazu Han, der beschreibt, es regiere eine ‚neue‘ Art der Herrschaft mit einer ihr eigenen Form der Gewalt, die sich nicht auf die Forderung nach Gehorsam und Disziplin gründe, sondern eine „Gewalt der Positivität“ sei, „die von der Überproduktion, Überleistung oder Überkommunikation herrühr[e]“ (Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 14). Es handele sich dabei, so Han, um eine systemimmanente Gewalt, um einen „Terror der Immanenz“, der, anders als die Gewalt des immunologischen 20. Jahrhunderts, keine „Feindschaft“ voraussetze, Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 16-17, Herv. i.O. 1015 Kavanagh (2007): Second Nature, S. 77. Darüber hinaus erscheint er auch selbst verdinglicht. In Ellis’ Manhattan der ausgehenden 1980er Jahre steht alles unter dem „sign of commodity“ (Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 66) – auch der menschliche Körper, wozu Kavanagh bemerkt: „The only kind of recognition available in such a world is mediated entirely through commodities; as a result, identity is disarticulated into a random combination of styles.“ Kavanagh (2007): Second Nature, S. 12. 1016 Coughlin (2000): Getting Away with Murder, S. 105. Zur Anthropophagie als Spiegelung kapitalistischer Praktiken vgl. Christian Moser: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierung der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 109, 122-123. 1017 Voßmann (2000): Paradise Dreamed, S. 54.
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Spezifika herauszustellen: Zum einen ist es eine durch den amerikanischen Bürgerkrieg forcierte Industrialisierung, zum anderen die Entwicklung von sogenannten ‚Megakonzernen‘ durch die – auch von Bateman ‚personifizierte‘ – Praxis des ‚merger and aquisition‘.1018 In den USA zeigt sich darüber hinaus eine enge Verbindung von sozialer Herkunft, Bildung und Einkommen1019, und auch, wenn die sogenannten ‚working poor‘ ein weit verbreitetes Phänomen sind, weisen die USA eine ausgeprägte Konsumkultur, eine Gesellschaft des Überflusses auf.1020 Im landläufig konstatierten „amerikanischen Selbstverständnis“1021 spielt, wie American Psycho abbildet und damit zugleich kritisiert, der Hedonismus eine große Rolle, aber ebenso ist die vita activa, die ‚muntere Geschäftigkeit‘, ein wichtiges Thema, wie Juliet Schors Bestseller The Overworked American aus dem Jahr 1991 zeigt. Sie hält fest, „daß das Bewußstsein des Gegenwartsamerikaners mit folgendem Satz beschrieben werden könne: ‚If your’re not doing something, you are not creating and defining who you are.‘“1022 Und der Stellenwert der Arbeit wird zusätzlich deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der vielzitierte und angestrebte American Dream im Wesentlichen auf der Annahme beruht, mit harter Arbeit könne jeder alles erreichen. Doch mit der Wirtschaft steckte ab den 1970er Jahren auch dieser amerikanische Traum und damit das ‚amerikanische Selbstverständnis’ in der Krise, wobei der Literatur eine besondere Aufgabe zukommt, wenn es darum geht, ihm, wie DeLillo es u.a. in Americana praktiziert, eine ‚Grabrede‘ zu halten. Sennett beschreibt die Haltung der Amerikaner den veränderten und vielfach kritisierten ‚neuen‘ Lebens- und Arbeitsumständen gegenüber demgemäß als resigniert bis fatalistisch1023, eine Haltung, welche durch die besprochenen literarischen Texte bestätigt wird. Entsprechend resigniert erscheint Ellis Roman, der den Protagonisten zum einen in Ennui versinken lässt, zum anderen in einer Spirale der Destruktion verhaftet zeigt, aus der es keinen Ausweg gibt. Letztlich bleibt nur die Affirmation, wie Bateman selbst mehr als deutlich macht: „All it came down to was: die or adapt. […] These are terrible times.“ (BEE 345-346, Herv. i.O.). Diese Art der impliziten Kritik lässt sich folglich treffend als „Subversion durch Affirmation“ 1024 bezeichnen. Wie Bateman bereits in seiner zögerlich-verzweifelten Begründung „‚Because […] I … want … to … fit … in.‘“ (BEE 237) belegt und durch sein „die or adapt“ bestätigt, 1018 Vgl. Hall (1994): Sociology of Work, S. 17. 1019 Vgl. Bruce E. Kaufman u. Julie L. Hotchkiss: The Economics of Labor Markets. Fort Worth, TX u.a.: Thomson 72006, S. 369. 1020 Vgl. Gernot Böhme: „Das Leistungsprinzip und das Reich der Freiheit.“ In: Ders. (2010): Kritik der Leistungsgesellschaft, S. 13-22: 16, 20-21. 1021 Wolfang Riedel: „Wohlstand als Krise: Amerika 1950-1980.“ In: Gerhard Hoffmann (Hg.): Der zeitgenössische amerikanische Roman Bd. 2. München: Fink 1988, S. 31-52: 31. 1022 Peter Koslowski: „Überarbeitete und Beschäftigungslose. Sinnverlust der Arbeit durch Übergeschäftigkeit und Unterbeschäftigung.“ In: Hilmar Hoffmann u. Dieter Kramer (Hg.): Arbeit ohne Sinn? Sinn ohne Arbeit? Über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Weinheim: Beltz Athenäum 1994, S. 120-132: 129, der sich auf Ausführungen Juliet Schors stützt. 1023 Vgl. Sennett (2006): The Culture of New Capitalism, S. 9-10. 1024 Siemons (2001): Das lebende T-Shirt.
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hat er „Flexibilität, Anpassung“1025 zu seiner Strategie erklärt, wie Alt konstatiert, womit sie begrifflich an den aktuellen Diskurs anknüpft. Dass diese Strategie hingegen die zunehmende Prekarisierung der eigenen Identität zur Folge hat, eine Diagnose, die auch Sennett in den Vordergrund seiner Ausführungen stellt, ist Bateman selbst mehr als bewusst: „...there is an idea of a Patrick Bateman, some kind of abstraction, but there is no real me [...]. I simply am not here. Its hard for me to make sense on any given level. Myself is fabricated, an aberration […]. I am a noncontingent human being. [...] My conscience, my pity, my hopes disappeared a long time ago [...] if they ever did exist.“ (BEE 376-377 Herv. i.O.).1026 Das sind Worte, die ebenfalls von Packer stammen könnten. Dieser ist, wie auch Bateman, in jedem Fall ein assimiliertes Mitglied der Leistungsgesellschaft in New Economy-Kontexten und damit ein ‚flexibler Mensch‘ resp. ein ‚unternehmerisches Selbst‘, das jedoch, so bildet der Roman ab, mittlerweile ausgebrannt ist und das unter seiner Freiheit und den sich daraus ergebenden vielzähligen Möglichkeiten leidet. Sein Ennui lässt sich als eine Form der Müdigkeit im Angesicht eines „Übermaß[es]“ an „Reizen, Informationen und Impulsen“ lesen, welche, Han folgend, die „Wahrnehmung fragmentarisiert und zerstreut“.1027 Lässt sich in diesem ‚Ausge1025 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 124-125. 1026 Bateman stellt damit ein ‚Nicht-Ich‘ ohne Moral dar (ähnlich in Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 68-69). Er ist zugleich Subjekt und Objekt seiner Handlung, wobei sich letzteres vor allem in seiner obsessiven Auseinandersetzung mit seinem Körper zeigt (vgl. Moser (2005): Kannibalische Katharsis, S. 118). Er bezeichnet sich darüber hinaus als „truly vacant“ (BEE 275) und als ein „automaton“ (BEE 343), das apathisch und monoton reagiert, anstatt wirklich zu leben (vgl. Niedlich (2007): ‚No Time for the Innocent‘, S. 228). Sein Leben empfindet er als klischeehaft und unauthentisch (vgl. BEE 279). Seine umfassende Entfremdung kulminiert schließlich in einem zeitweiligen Wechsel der Erzählperspektive von der ersten zur dritten Person Singular (vgl. BEE 349351, vgl. dazu Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 84). Seiner Depersonalisierung gesellt sich eine dehumanisierende Tendenz hinzu, etwa wenn er bei sich selbst keinen Herzschlag wahrnimmt (vgl. BEE 166), er sein Leben auf die reine Existenz reduziert (vgl. BEE 384). Da ‚normale‘ Formen der Identitätsfindung verstellt seien, bleibe Bateman lediglich die Flucht in Omnipotenz- und Gewaltphantasien, konstatiert Arno Heller (vgl. Heller (1990): Gewaltphantasien, S. 77). Und Weinreich nennt den Roman eine „panic-driven quest for identity“ (Weinreich (2004): ‚Into the Void‘, S. 72), was Batemans Morde als verzweifelte Versuche erscheinen lässt, sich in die Welt ‚einzuschreiben‘ (vgl. Winkels (1997): Leselust und Bildermacht, S. 251 sowie Birgit Däwes: „‚Blank Fiction‘? Identity, Representation, and the Unreliability of Cultural Memory in Bret Easton Ellis’s American Psycho and Chuck Palahniuk’s Fight Club.“ In: Rüdiger Kunow u. Wilfried Haussert (Hg.): Cultural Memory and Multiple Identities. Berlin: LIT 2008, S. 161-184: 167, die vermerken, die Zerstörung Anderer stabilisiere Bateman). Martin Büsser beschreibt anschaulich, Bateman versuche in den „Eingeweiden“ der Opfer „auf das Innere zu stoßen, das ihm fehlt“, Martin Büsser: Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Ventil 2000, S. 98 sowie vgl. auch Moser (2005): Kannibalische Katharsis, S. 121. 1027 Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 26.
Gegenwartsliterarische Narrative
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branntsein‘ bereits eine Überaffirmation leistungsgesellschaftlicher Imperative erkennen, so erweist sich Packer (wie auch die Protagonisten von Players sowie Bateman) als bindungsloser, driftender Mensch. Die ‚Zukunftsgerichtetheit‘ des Finanzkapitalismus wird in seinen prophetischen Kursvorhersagen überspitzt, und er unterstützt die (bisweilen) destruktiven Praktiken des Kapitalismus, welche sein ‚chief of theory‘ wie folgt beschreibt: „Old industries have to be harshly eliminated. New markets have to be forcibly claimed. Old markets have to be re-exploited. Destroy the past, make the future.“ (DDC 92-93) Und wenn Packer auf theoretischer Ebene feststellt: „The logical extension of business is murder.“ (DDC 113), bezeichnet er damit treffend die ‚Praxis‘ des Serienmörders Bateman. Dieser zeigt mitunter kannibalische Tendenzen, wohingegen es sich bei Packer in erster Linie um eine Form des ‚Selbstkannibalismus‘, des Sich-Aufzehrens in beschleunigten Zeiten handelt, wie Merola diagnostiziert: „To metabolize the effects of cybercaptalism, the novel insists, requires an incorporation of digitization’s speeds and compressions that inherently endangers materiality. For bodies and cities the process of metabolizing cyberfinance becomes an act of self-cannibalization.“1028 Ist bei Ellis der Protagonist in jeglicher Hinsicht ein Täter, wird bei DeLillo Packer, als Agent des Finanzkapitalismus ebenfalls ein ‚Täter‘, schließlich auch zum Opfer dieser Praxis, und sein Mörder avanciert in einer gegenläufigen Bewegung vom Opfer zum Täter. Diese Verkehrung impliziert zwar den Wunsch nach einem gerechten Ausgleich sowie die Hoffnung darauf; einen Ausweg weisen beide Texte dennoch nicht auf. Lediglich der älteste hier besprochene Roman Americana sieht noch ein Gegenentwurf vor, und Bell, dem der Ausstieg letztlich gelingt, da er sich anders als Lyle, Bateman und Packer den Anforderungen und Imperativen der Leistungsgesellschaft verweigert, macht die Muße zu seinem Lebensideal: „Inaction is the beginning of that kind of knowledge which has as its final end the realization that no action is necessary. It works forward to itself and then back again and there is nothing more relaxing and sweet.“ (DDA 335). Er erfährt die Melancholie nicht bloß als lähmende Konstitution, sondern als schöpferisch-produktive Kraft. Sechs Jahre später in Players und 14 Jahre später bei Ellis ist von dieser kreativen Melancholie keine Rede mehr; auch Packer kennt sie nicht, ist sie doch, vor dem Hintergrund der sich im American Dream niederschlagenden Glücksutopie, ohnehin ein prekäres Konzept. Darüber hinaus verhält sich die melancholische Verweigerung problematisch gegenüber der u.a. von Juliet Schors beschriebenen, auf dem Primat einer vita activa beruhenden US-amerikanischen Selbstdefinition. Was bleibt, ist der Ennui Batemans und Packers, welcher keinen Widerstand mehr beinhaltet und auch keine produktive Dimension. Er erschafft keine ‚neue‘ Welt, ersinnt keine Alternative; er verliert sich vielmehr in destruktiven Tendenzen, die jedoch keinen Weg aus dem subjektiv empfundenen Dilemma weisen.
1028 Merola (2012): Cosmopolis, S. 846.
4. Fazit Wo immer ich auch bin, du bist bei mir Stehst da, so selbstverliebt und arrogant und grinst mich an | Voller Genugtuung streust du eine Hand | voll Zweifel in mein kleines Glück Doch bitte nimm sie zurück | Melancholie, nimm sie zurück | Was hast du der Menschheit jemals Gutes gebracht? | Außer Musik und Kunst und billigen Gedichten | Hast du darüber schonmal nachgedacht? | So klappt das nie | Melancholie, so klappt das nie Ich mein, du weißt ja, eigentlich mag ich dich sehr gerne | Wenn du nur ab und zu mal deine Fresse halten würdest || Aber du zerredest mich so lang, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin und was ich will Komm, sei endlich still | Melancholie, sei endlich still […] || Fick dich ins Knie | Melancholie, du kriegst mich nie klein Gisbert zu Knyphausen/Melancholie (2010) Hinter dem Burnout liegt das Paradies, ich hab es gesehen | – es ist schöner als Paris Ich hab ne Dreizimmerwohnung umsonst, am Rande der Galaxie Ohne Vertrag, ohne Telefon, ohne Büro und ohne Miete Nur einen Garten mit blauen Bäumen, unter denen sich Leute Lieben | Das erhoffte Land ist abgebrannt Flo Mega/Hinter dem Burnout (2014)
Arbeit und Melancholie – diese sich zunächst scheinbar kontrastiv zueinander verhaltenden Begriffe besitzen, so offenbaren sowohl die kulturgeschichtliche Perspektive als auch die Analysen der gegenwartsliterarischen Narrative, ein durchaus enges, wechselseitiges Verhältnis. Die Betrachtung der synchronen und diachronen Berührungspunkte – also der Momente, in denen sich ‚aus‘ einer melancholischen Haltung ‚heraus‘ mit dem jeweils herrschenden Arbeitsverständnis auseinandergesetzt wird oder in denen die ‚Vertreter‘ von herrschenden gesellschaftlichen Normen, Idealen und Imperativen Vorstellungen und Entwürfe von Melancholie betrachten und zugleich bewerten – ist ab dem Mittelalter besonders aufschlussreich, nimmt hier doch eine gesellschaftliche sowie mentalitätsgeschichtliche Entwicklung ihren Anfang, die
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in gegenwärtige Leistungs- und Arbeitsgesellschaften führt. In deren Kontext fungiert die Melancholie als Vehikel für Kritik sowie als Gegenposition, und sie geriert sich immer dann besonders endemisch, wenn das Arbeitsgebot allzu emphatisch oder rigoros verkündet wird, „weil etwas, das unterdrückt wird, umso heftiger wieder ausbricht“1, wie Földényi bemerkt, wobei sich das Spektrum zwischen dem verweigernden bis widerständigen Gestus der Dandys und Flaneure, der Melancholie des politisch ‚ohnmächtigen‘ Bürgertums und einem gänzlich resignierten Lebensekel zeitgenössischer Autoren entfaltet. Der kulturhistorische Blick erweist sich dabei als eine Art „Archäologie der Gegenwart“2: Er fördert u.a. zu Tage, dass der Diskurs um das Arbeitsverständnis des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts deutliche Parallelen zur aktuellen Auseinandersetzung zeigt, lassen sich doch etwa Nietzsches Ausführungen aus den „fröhlichen Wissenschaften“3 ebenso in den gegenwärtigen Diskurs integrieren. Und er macht zudem sichtbar, dass die analysierten Romane der 1990er und frühen ‚Nullerjahre‘ einen, den literarischen Werken des Fin de Siècle sehr ähnlichen Gestus aufweisen, dass hier also eine ‚Gestimmtheit‘ transportiert wird, die geradezu eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Zeit um 1900 schlägt.4 Die Protagonisten der jeweiligen Texte teilen sich eine, zu einem ausgeprägten Ennui auswachsende, „mangelnde Tatkraft“, und diese wiederum setzt sich, wie Immanuel Nover es beschreibt, auf beiden Seiten des hier eröffneten historischen Spektrums zu einem gefühlten „Verlust der Bezugssysteme“ und einer wahrgenommenen „‚Dezentralisierung des Subjekts‘“ in Bezug.5 Der Ennui der Texte, aber auch die in der Literatur transportierte Acedia oder Melancholie – je nachdem, welche ‚Gestalt‘ die melancholische Haltung in dem jeweiligen literarischen Zugriff einnimmt – markiert dabei einen kritischen Standpunkt, und dieser ist in den gegenwartsliterarischen Narrativen in verstärktem Maße anzutreffen. Die Primärtexte des dritten Hauptkapitels liefern Beispiele für eine zunehmende Darstellung dieser Art. „Work, and despair not.“6, hieß es noch bei Carlyle, und ebenfalls bei den frühchristlichen Mönchen, dem humanistisch gelehrten Robert Burton sowie Martin Luther galt die Arbeit als bestes Heilmittel gegen eine melan1
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Lázló F. Földényi: „Glück und Melancholie oder Lob ihrer Unzeitgemässheit. Über die Karriere zweier Begriffe.“ In: Neue Zürcher Zeitung 29.09.2007. Auf: http://www.nzz.ch/ glueck-und-melancholie-oder-lob-ihrer-unzeitgemaessheit-1.562041, zuletzt gesehen am 10.08.2016. Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 9. Vgl. Nietzsche (1988): Die fröhliche Wissenschaft, S. 557. Vgl. S. 51 sowie Fußnote 297 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Nover (2012): Referenzbegehren, S. 21, 23, 28, der Bret Easton Ellis als einen spätmodernen Dandy bezeichnet, und vgl. auch Winkels (1997): Leselust und Bildermacht, S. 255 sowie ausf. Tacke/Weyand (2009): Depressive Dandys. Zum „fin de millénaire“ siehe Ines Detmer: „‚Look West in Anger‘: Exklusive Emotopien in Christan Krachts 1979 und Salman Rushdies Fury. Ein Beitrag zur Affektpoetik des neo-dekadenten Romans.“ In: Dies. u. Birte Heidemann (Hg.): From Popular Goethe to Global Pop. The Idea of the West Between Memory and (Dis)Empowerment. Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2013, S. 209-228: 209-210. Nover (2012): Referenzbegehren, S. 28, 34. Carlyle (1965): Past and Present, S. 139, Herv. N.V.
Fazit
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cholische Konstitution – eine Forderung, die sich in Lars Gustafssons Nachmittag eines Fliesenlegers noch durchaus bestätigt findet.7 Die Mehrzahl der Primärtexte bildet hingegen ab, wie ‚Arbeit‘ und ‚Verzweiflung‘ verstärkt ineinander fallen8, etwa wenn sich von Anna Seghers Die Rettung über Allan Sillitoes Saturday Night and Sunday Morning bis hin zu Ralf Rothmanns Junges Licht der Wechsel von einer Gegenüberstellung hin zu einer Engführung von Arbeit und Melancholie offenbart; oder aber wenn die komparatistische Analyse der ‚Arbeitstexte‘ Martin Walsers und Wilhelm Genazinos die sukzessive Entwicklung einer melancholischen Haltung freilegt. Konstituieren sich Arbeit und Melancholie zunächst noch in Abgrenzung zueinander, so verschränken sie sich ab der Moderne und in den analysierten Texten der Gegenwart sind sie schließlich aufs Engste verbunden. Ein Grund dafür liegt in der Gestalt der spätmodernen Arbeit selbst, eine Hypothese, die sich mit Lars Distelhorsts Ausführungen zur Leistungsgesellschaft fundieren lässt. Er widmet sich dabei den zunehmenden Zahlen von Depressions- und Burnout-Diagnosen sowie deren Häufung im Bereich der neuen Dienstleistungen und der Wirkungsstätten des ‚unternehmerischen Selbst‘. Routinearbeiter sind, Distelhorst folgend, durch einen gewissen „Ekel“, der sie von ihrer Tätigkeit distanziert, vor entsprechend pathologischen Reaktionen geschützt, denn ihre Arbeit verströmt nicht die Illusion, ein „Ort der Selbstverwirklichung“9 zu sein. Ein Aspekt, der u.a. anhand von Allan Sillitoes Protagonisten Arthur Seaton implizit bestätigt wird, dessen ermüdende Routinearbeit ihn nicht als ‚Subjekt‘ betrifft und ihm so Tagträumereien ermöglicht (vgl. AST 37-38). Je mehr jedoch das ‚Selbst‘ des Arbeiters und seine Tätigkeit ineinanderfließen, die Selbstverwirklichung zwar angestrebt wird, sich aber als kaum umsetzbar zeigt, desto eher entsteht eine melancholische Konstitution.10 Der vergleichende Blick auf die Primärliteratur macht dabei ein Spektrum innerhalb der literarischen Auseinandersetzung sichtbar, das sich zwischen den beiden Polen eines ‚existentialistischen‘ und eines ‚sozialrealistischen‘ Zugriffs entfaltet. Einige Texte nehmen dabei eher eudämonistische und ontologische Fragestellungen in den Fokus und integrieren die Arbeit der Protagonisten als einen Aspekt in ein größeres, existentielles Ganzes; andere wiederum beziehen sich sehr explizit auf den aktuellen Diskurs um die Prekarität des Subjekts in einer veränderten und sich weiterhin verändernden Arbeitswelt, die u.a. grassierende Erschöpfungszustände zur Folge hat. Das sich dabei ebenfalls eröffnende berufliche Spektrum ist breit und erstreckt sich von einem Fliesenleger über einen Beamten bis hin zum Bergmann; von einer arbeitslosen Laborantin über eine Taxifahrerin und den Angestellten einer Wäscherei bis hin zu einem IT-Ingenieur; von zwei Werbern über einen Informatiker und einen untätigen Innenarchitekten bis hin zu Akteuren des spätmodernen Finanzkapitalismus. Trotz dieser Breite zeigt sich dennoch ein deutlicher ‚Überhang‘ im Bereich der postindustriellen Arbeit; eine Beobachtung, die Erhard Schütz in seiner Auseinandersetzung mit dem Sujet der Arbeit in der Gegenwartsliteratur teilt: viel 7 8
Vgl. Feldkamp (1992): Sisyphos als Fliesenleger. Vgl. Rudolf Helmstetter: „When everything is work, it’s hard to know what’s not (Wir arbeiten dran).“ In: Etzold/Schäfer (2001): Nicht-Arbeit, S. 40-79: 68. 9 Distelhorst (2014): Leistung, S. 103-104. 10 Vgl. Distelhorst (2014): Leistung, S. 142-143, 146-148.
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Agentur, viel Prekariat, wenig Fabrik.11 Der körperlich Arbeitende und der klassische Angestellte rücken an den Rand der Betrachtung; Berufe der New Economy treten ins Zentrum und werden zunehmend kritisch beschrieben12, ebenso wie die gewandelten Anforderungen der Arbeitsgesellschaft, welche im Bild eines ‚unternehmerischen Selbst‘ gerinnen.13 Die nicht-körperliche Arbeit bietet sich darüber hinaus für eine kritische Darstellung in Gestalt einer Arbeitsverweigerung ‚im Kleinen‘ – also jenseits von Protest oder gar Revolution – an, ist sie doch sehr viel schwerer zu kontrollieren als etwa die Akkordarbeit am Fließband.14 Und diese Hypothese schlägt wiederum die Brücke zur Melancholie, wie Kai von Eikels beschreibt: „Unter einer dünnen Schicht aus Betriebsamkeit enthüllt der Schreibtisch sich als Ort der Muße, der im selben Zug genossenen wie erlittenen Langeweile, der Tagträume und des dumpfen Vorsichhinbrütens“15 – es ist zu ergänzen: der Melancholie. Generell kann also ein Anstieg in Bezug auf die literarische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt beobachtet werden, und diese ist nur bedingt der oftmals ange-
11 Vgl. Erhard Schütz: „Literatur – Museum der Arbeit?“ In: Kift/Palm (2007): Arbeit – Kultur – Identität, S. 13-32: 18-19. 12 Hierbei zeigt sich die geplatzte Internetblase des Jahres 2000 als wichtiges Ereignis. Vgl. Sabine von Dirke: „Sleepless in the New Economy: Money, Unemployment and Identity in the Literature of Generation Golf.“ In: Mark W. Rectanus (Hg.): Über Gegenwartsliteratur. Interpretationen und Interventionen. Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 141-156: 141-142 sowie Enno Stahl: „‚Wir schlafen nicht‘, New Economy und Literatur.“ In: Kift/Palm (2007): Arbeit – Kultur – Identität, S. 85-97. 13 Vgl. Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 509-516. Vgl. ausf. Michael Eggers: „Passiv, aktiv. Arbeit bei Rainald Goetz.“ In: Lemke/Weinstock (2014): Kunst und Arbeit, S. 139-156. Diese Art der Darstellung lässt sich durch zweierlei Gedanken herleiten: Es zeigt sich, dass die Autoren selbst entweder auf dem politischen, gegenwärtige Entwicklungen kritisch aufgreifenden, oder aber auf dem autobiografischen Weg zum Sujet der Arbeit gelangen. Ist die Schriftstellerei selbst durchaus als ein prekäres Berufsfeld zu bezeichnen, so schöpfen die Autoren aus persönlichen Erfahrungen, wenn sie flexible, aber auch prekäre Arbeitsumstände in den Fokus ihrer Betrachtung rücken. Die meisten Autoren leben von wechselnden Finanzierungen, sind oft auf Lesereise, also ‚mobil‘, und müssen als ‚Arbeitskraftunternehmer‘ auch in puncto Selbstmarketing aktiv werden. Darüber hinaus können sie theoretisch immer und überall arbeiten (vgl. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 77 sowie Schütz (2007): Literatur – Museum der Arbeit?, S. 19). Entsprechend führt der Autor Rainer Merkel im Jahre 2006 während einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Literaturtage des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin zum Thema „Literarische Kritik der ökonomischen Kultur“ aus, dass „die Selbstbeauftragungsmechanismen, denen man als Autor immer unterliegt, im eigenen Bewusstsein tatsächlich die Hierarchien eines Unternehmens reproduzieren“ und damit „Hochleistungs- und Effizienzdenken“ auch vor den Schriftstellern nicht ‚Halt‘ machen. Rainer Merkel zit. n. Anne Kraume: „Neue Abschaffels. Eine Tagung im Literaturhaus in Berlin befasste sich mit der ‚Literarischen Kritik der ökonomischen Kultur‘.“ In: Die Tageszeitung 31.01.2006, S. 16. 14 Vgl. Eikels (2011): Nichtarbeitskämpfe, S. 19. 15 Eikels (2011): Nichtarbeitskämpfe, S. 19.
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führten Virulenz des Themas in Zeiten des Wandels und der Krise zuzuschreiben. 16 Zwar ist durchaus ausschlaggebend, dass sich die Arbeitsrealität verändert; von noch größerem Gewicht ist aber, wie sie sich verändert, wozu Hubert Winkels vermerkt: „Das Wirtschaftsleben […] ist heute in einem solch hohen Maße individualisiert und emotionalisiert, dass es eine quasi-natürliche Neigung zur emotionalen Kommunikation in den Künsten und also auch in der Literatur selbst aufweist.“ 17 Wird die Arbeitswelt folglich literarischer, so wird der Mensch – welcher ja zentrales Subjekt und Objekt literarischer Darstellung ist – bereits seit dem 17. Jahrhundert ‚ökonomischer‘; er wird zu einem homo oeconomicus.18 Dessen zunehmend prekärer Konstitution widmen sich die gegenwartsliterarischen Narrative, und sie ‚arbeiten‘ dabei, wie Heimburger schildert, „statt mit der Einnahme einer ausdrücklichen Protestposition, mit der Darstellung von Ambivalenzen und Widersprüchen“ und dabei werden die „inneren Paradoxien des gegenwärtigen kapitalistischen Geistes […] [, d]ie Zumutungen und die bereits den Anforderungen an das neue Arbeitssubjekt inhärenten Widersprüche […] ästhetisch imitiert und akzentuiert.“19 Erscheinen die Umstände der Arbeitswelt zunehmend als ambivalent, zwischen Freiheit und Zwang, Individualisierung und Globalisierung, Ganzheitlichkeit und Entfremdung, Verantwortung und Fremdbestimmung schwankend, so greifen die gegenwartsliterarischen Narrative diese Ambivalenzen auf und inszenieren darüber die „Ungültigkeit diskursiv erzeugter Positivbilder der neuen Arbeitswelt“. 20 Ambivalent bis paradox wird dabei neben der angeblichen ‚Flexibilität‘ auch der spätmoderne Freiheitsbegriff dargestellt, welcher eine ökonomische Freiheit bei gleichzeitiger systemischer Unfreiheit offenlegt21; es handelt sich demnach um eine „paradoxe[] Freiheit“22, hinter der sich neue gesellschaftliche Zwänge jenseits disziplinargesellschaftlicher Prinzipien verbergen.
16 Eine solche Argumentation findet sich u.a. bei Grisseman/Paterno (2012): Irrealwirtschaft, S. 97 sowie bei Künzel/Hempel (2001): Finanzen und Fiktionen. 17 Winkels (2009): Die Literatur und die Entgrenzung der Erwerbsarbeit, S. 406. 18 Vgl. Vogl (2010/2011): Das Gespenst des Kapitals, S. 44-46. 19 Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 358. 20 Annemarie Matthies: „Die Arbeitswelt der Elite. Entzauberungen der schönen neuen Arbeitswelt in fiktionalen Erzähltexten nach 2000.“ In: Kritische Ausgabe 27 (2014): „Arbeit“, S. 7-10: 7. 21 Žižek vermerkt über diesen Freiheitsbegriff der Spätmoderne, „that (market) freedom is unfreedom for those who sell their labor-power“, Slavoj Žižek: First as Tragedy, Then as Farce. London, New York, NY: Verso 2009, S. 135. Vgl. dazu auch Carl Hegemann: „Freiheit ist, grundlos etwas zu tun. Über die Zukunft eines Begriffs.“ In: Menke/Rebentisch (2012): Kreation und Depression, S. 81-86. 22 Han (2013): Müdigkeitsgesellschaft, S. 25.
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4.1
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ARBEIT UND MELANCHOLIE: EINE ENGFÜHRUNG II
Wie die bisherigen Ausführungen bereits andeuten, überwiegt in den gegenwartsliterarischen Narrativen eine kritische Positionierung. Ein, in früheren Zeiten durchaus angestimmtes, ‚Lob der Arbeit‘ ist in den analysierten Texten nicht anzutreffen. Die Kritik der Texte des ersten Unterkapitels, die Romane Lars Gustafssons, Heiko Michael Hartmanns sowie Ralf Rothmanns, entfaltet sich dabei in erster Linie hinsichtlich einer ontologischen Dimension. Zwar beschreiben sie existierende bzw. einmal existente Arbeitswelten und greifen dabei sehr deutlich auf das ‚Bildreservoire‘ der Melancholie zurück, Arbeit steht bei ihnen aber letztlich für etwas Anderes. Im Zentrum stehen Fragestellungen nach Glück, Sinn und der Vergänglichkeit des Lebens. Bei ihnen wird die gesellschaftliche Dimension der Arbeit von einer existentiellen überlagert, die Fragen nach einem gelungenen Leben, nach ‚Glücksfähigkeit‘ und nach individuellen Sinnzuschreibungen aufwirft. Die handwerkliche Arbeit wird, für Gustafssons Fliesenleger aber auch für Rothmanns Bergmann, zum Anlass für eine individuelle Erinnerungsarbeit, wodurch das ‚Beschreiten‘ eines Lebensweges zu einer Art biografischer Arbeit transformiert wird, zu deren Metapher etwa Gustafssons geflieste Wand gerinnt. Im Kontext einer allegorischen Lesart wird der Mensch zu einem ‚Arbeiter der Existenz‘, dessen Arbeit, wie die Arbeit des Fliesenlegers an der ungleichmäßig gefliesten Wand, letztlich unabschließbar bleibt und damit genuin melancholisches Potential in sich birgt. Ebenfalls existentielle Fragestellungen verhandelnd, thematisiert Hartmann in seinem Beamtenroman Unterm Bett zunächst, wie die melancholische Disposition seines Beamten dessen Berufswahl bedingt, womit er das Verhältnis von Beruf und Berufung einer zugespitzten Darstellung unterzieht. So zeichnet der Protagonist Dominik Vogel das Selbstbild eines sowohl geeigneten, unter dieser Eignung aber gleichsam leidenden Beamten, und aus seiner Berufung resultiert gerade kein authentisches sowie sinnstiftendes ‚Aufgehen‘ im Arbeitsumfeld – im Sinne einer ganzheitlich verstandenen Selbstentfaltung. Der Roman zeigt damit zwar durchaus eine Bezugnahme auf aktuelle Diskurse, etwa indem er ein Leben in Abhängigkeit von Dichotomien wie Freiheit und Unfreiheit, Sicherheit und Prekarität, Authentizität und Entfremdung beschreibt, letztlich wird aber auch hier, über die herausgearbeiteten Melancholiemarker, eine übergeordnete, ontologische Dimension eröffnet. Vogel weist – jenseits seiner arbeitsgesellschaftlichen Etablierung, die Sicherheit und Stabilität in sich birgt – eine melancholische Disposition auf, denn seine Reflexionen der Koordinaten eines sinnhaften und als ‚gelungen‘ geltenden Lebens sowie von existentialistischen Kategorien wie Tod, Angst und Freiheit evozieren eine Melancholie, die Züge der Heidegger’schen Geworfenheit trägt. Einen deutlicheren Bezug zum addressierten Diskurs weisen die Texte des zweiten Unterkapitels auf, legen sie doch Zeugnis dafür ab, wie in der Literatur kritisch auf ökonomische Entwicklungen reagiert wird. 23 Sie knüpfen wie Poschmann in ihrer Hundenovelle an Debatten um zunehmende Prekarität und arbeitsgesellschaftliche Exklusion an; thematisieren wie Karen Duve vor dem Hintergrund einer Tätigkeit im Dienstleistungssektor die Verschiebung von Verantwortung; lassen ihre Protagonis-
23 Vgl. Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 39.
Fazit
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ten wie Wilhem Genazino melancholisch auf eine unterfordernde und als banal empfundene Arbeit blicken; oder aber sie beschreiben wie Terézia Mora eine Haltlosigkeit angesichts von Digitalisierung, Prekarisierung und verschobener Verantwortung. Auch die Texte des dritten Unterkapitels, welche vornehmlich das Arbeitsumfeld der sogenannten New Economy verhandeln, lassen sich als äußerst kritische Kommentare lesen. Mit einer Haltung des melancholischen Überdrusses, des Ennui, reagieren die Protagonisten auf multiple Entgrenzungen, paradoxe Freiheit, erzwungene Flexibilität sowie eine verlagerte Verantwortung. Frédéric Beigbeder und Joachim Bessing widmen sich dabei der Kreativbranche als Ort der angeblichen Selbstentfaltung und kontrastieren dieses Ideal mit einem literarischen Abbild einer angeblich entfremdenden Realität; und Don DeLillo schildert eine zunehmende Selbstentfremdung aufgrund einer übermäßig beschleunigten Arbeitswelt, die in einer identitären Auflösung des Protagonisten mündet. Jenseits der bereits genannten Schlagworte wie ‚Flexibilität‘, ‚Freiheit‘ und ‚Ganzheitlichkeit‘ bilden die Romane weitere, spezifischere Paradoxien ab, wie etwa bei Mora, die ihren Protagonisten Kopp in einer illoyalen, unsolidarischen Firma namens Fidelis (lat. ‚Treue‘) arbeiten lässt, die – obwohl sie Kommunikationstechnologien vertreibt – intern derart von misslingender Kommunikation geprägt ist, dass Kopp in einer Kluft zwischen Ideal und Realität versinkt. Beigbeder exemplifiziert an Octave eine weitere Paradoxie, ist dieser doch umso erfolgreicher, je wahnsinniger er sich verhält. Hierbei adressiert Beigbeder die von ihm häufig kritisierte Amoralität der Werbebranche sowie der Konsumgesellschaft. Bessings Gumbo sieht sich gleich einer Vielzahl von Paradoxien gegenüber: Er will selbst gleichzeitig Dynamik und Verortung, und das erweist sich nicht nur als ein widersprüchliches, sondern als ein scheiterndes Unterfangen. Eine weitere Paradoxie ergibt sich, als sein Vorgesetzter ihm den diffus formulierten Auftrag gibt, für einen Vortrag zu recherchieren („Bitte informiere Dich irgendwie und schreibe mir das Ding übers Wochenende.“ [JB 152]), und gleichzeitig betont, der Auftrag sei von höchster Wichtigkeit; eine Paradoxie, die zum einen aus der Schwierigkeit resultiert, welche sich bei der qualitativen Beurteilung von geistiger sowie kreativer Arbeit ergibt und die zum anderen den Einfluss der Beschleunigung auf den Wissens- und auch Bildungsbegriff zeigt.24 Den Ambivalenzen und Paradoxien einer spätmodernen, postindustriellen Arbeits- und Leistungsgesellschaft begegnen die ausgewählten Beispiele aus der Gegenwartsliteratur mit der Einnahme einer, in der Einleitung spezifizierten, melancholischen Haltung. Wurde die Melancholie des 20. Jahrhunderts bereits als Vehikel für Zeit- und Entfremdungskritik ausgewiesen – eine Behauptung, für die das zweite Kapitel, speziell das Unterkapitel „2.11 Spätmoderne ‚Melancholien‘“, weitere Beispiele anführt – so lassen sich nun, auf Grundlage der Textanalysen, die Adressaten dieser Kritik spezifizieren. Auf einer übergeordneten Ebene weist die Melancholie, im Sinne dessen, was landläufig als ein „Unbehagen in der Postmoderne“ 25 bezeichnet wird, auf ein gefühltes Sinndefizit sowie ein Sich-Ausgeliefert-Fühlen an eine als kontingent und unübersichtlich wahrgenommene spätmoderne Lebenswelt hin, ist doch die ontologische Dimension konstitutiver Bestandteil des Melancholieparadig24 Vgl. dazu Pia Schnadt: „Lernen in der Endlosschleife.“ In: Lenzen (1989): Melancholie als Lebensform, S. 41-54: 50. 25 Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 238.
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mas. Mit ihrer verstärkten Bezugnahme auf ökonomische Gegebenheiten und Entwicklungen seit der Moderne markiert die Melancholie darüber hinaus Gefühle von Verdinglichung, etwa bei Kopp, der sich im Bewerbungsprozess in puncto Selbstmarketing übt, bei Octave, der Menschen als ‚Produkte‘ bezeichnet, bei Houellebecqs Informatiker, der sich einem ökonomischen Primat unterworfen fühlt 26, sowie bei Gumbo und Bateman, die vielmehr als ‚Labels‘ resp. als eine Ansammlung von ‚Labels‘ denn als Individuen charakterisiert werden. Im engen Bezug zur Arbeitsrealität markiert die Melancholie zudem eine neue Form der Entfremdung und widerspricht damit dem postfordistischen Ideal einer Selbstentfaltung ermöglichenden Arbeit. So etwa fühlt sich Poschmanns Protagonistin in einem Umfeld, das Initiative und Leistungsbereitschaft erfordert, als müsse sie diese Ideale zumindest vortäuschen, als könne sie nicht ‚sie selbst‘ sein. Daraus resultiert ein ‚Rollenspiel‘, welches das Gefühl eines nicht-authentischen Lebens – eine gefühlte „Sekundarität allen modernen Lebens“27, wie Seelig es formuliert – zur Folge hat. Sehr deutlich wird dieses Gefühl auch in Karen Duves Roman Taxi verhandelt, haftet doch dem Taxifahren der Ruf einer ‚Übergangslösung‘ an und birgt es, durch das ständige In-Bewegung-Sein, ein flüchtiges Moment, das ein ‚Ankommen‘ verhindert. Diese Feststellung trifft in ähnlicher Weise auf Genazinos Protagonist Warlich zu, der für seine berufliche Tätigkeit überqualifiziert ist, und dessen Gefühl eines nichtauthentischen Lebens der Kluft zwischen dem Ideal einer sinn- sowie identitätsstiftenden Arbeit und der Realität seiner eigenen, banalen Arbeit entspringt. Daraus resultiert eine Suche nach Auswegen und Alternativen, die das gegenwärtige Leben wiederum provisorisch erscheinen lässt. In einer gefühlten Kluft zwischen Ideal und Realität hat auch Kopps Entfremdung ihren Ursprung, wobei er selbst, allerdings vergeblich, versucht, dem leistungsgesellschaftlichen Ideal zu entsprechen. Gesteigert wird diese Entfremdung durch die von Digitalisierung und Globalisierung geprägten Arbeitsumstände sowie durch die ungeklärten Verantwortlichkeiten innerhalb seiner Firma. In dieser Kluft verliert sich ferner Gumbo, der sich innerhalb der Kreativwirtschaft behaupten möchte, aber stattdessen eine individuelle Handlungsohnmacht erlebt, aus der seine Entfremdung resultiert. Octaves Entfremdung findet ebenfalls in der Kreativbranche und damit in einem Umfeld vermeintlicher Selbstentfaltung statt; allerdings schafft er es nicht, sich ‚ausreichend‘ mit seinen Projekten zu identifizieren und steht seiner Arbeit, u.a. aus moralischen Gründen, kritisch gegenüber. Dies macht ihn zu einem entfremdeten ‚Rollenspieler‘, zu welchem ebenfalls Houellebecqs Informatiker wird, kann er sich mit seiner Firma doch nicht identifizieren und zieht sich deshalb in eine zynische Resignation zurück, aus der das subjektive Gefühl resultiert, ein „abwesende[s] Leben“ (MH 49) zu führen. Grundlegend entfremdet ist auch Ellis’ Protagonist Patrick Bateman, der seine Fremdheitserfahrungen sehr deutlich auf den Punkt bringt, wenn er konstatiert „there is no real me [...]. I simply am not here.“ (BEE 376-377, Herv. i.O.). Mit der Maskerade des attraktiven ‚Boy next door‘ kann dieser seinen Identitätsverlust nur bedingt verbergen, der eine ‚Corrosion of Character‘ im Sinne Sennetts darstellt.28 Zu einer sehr pointierten Darstellung dieser spätmodernen Form der Selbstentfremdung kommt DeLillo. Macht dieser in Americana noch einen ‚Krea26 Vgl. Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1120. 27 Seelig (2009): ‚Quasi eingebettet in die Schrift‘, S. 4. 28 Vgl. Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 125-126.
Fazit
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tivarbeiter‘ zum Protagonisten, der die Lebbarkeit des American Dream infrage stellt, so rücken in Players sowie Cosmopolis Akteure des globalen Finanzsystems ins Zentrum. Vor allem der Protagonist Eric Packer wird dabei als ein, das Ideal des ‚flexiblen Menschen‘ übererfüllender Charakter gezeichnet, der sich am Ende des kurzen Romans dennoch in der übermäßig beschleunigten Zeit des Finanzkapitalismus sowie im ‚Hyperraum‘ einer Cyberlabor verliert, die keinen festen Ort und keine feste Zeit mehr hat und mit der sich Packer entsprechend weder Zeit noch Ort teilt. Dieser Umstand führt zu einer tiefgreifenden Entfremdung, die in einer Entfremdung vom Menschsein selbst kulminiert. So hat Packer die digitale Technik in noch stärkerem Maße inkorporiert als etwa Moras Protagonist, weshalb er letztlich in einer hybriden Zwischenexistenz verhaftet bleibt. Eine Identitätsstiftung qua Arbeit, zentrales Moment eines spätmodernen Arbeitsverständnisses, stellen die Texte damit grundsätzlich infrage, erweisen sich doch alle Protagonisten als wenig erfolgreich bei dem Versuch, eine stabile Identität aufzubauen. Kopps und Gumbos Versuche der Anpassung, die eine ständige ‚Modulation‘ des eigenen Standpunktes erfordern, Octaves fragmentierte Perspektive, Krachts Protagonist als ein ‚leeres Gefäß‘, Ellis’ narzisstischer Yuppie, Genazinos hochstapelnder Architekt, die namenlosen Protagonisten von Poschmann, Genazino, Houellebecq und Kracht – sie alle legen Zeugnis dafür ab, dass der Anspruch einer identitätsstiftenden Arbeit letztlich eine ‚Überarbeitung‘ des Arbeitsbegriffes bedeutet. Die Texte problematisieren damit, wie Susanna Reckermann in ihrer Analyse herausgestellt hat, „anhand der (fast) unmöglich gewordenen Suche ihrer Protagonisten nach lebensweltlicher Erfüllung die destruktiven Folgen heutiger Lebenswirklichkeit für das Individuum […]. Keiner […] scheint noch in der Lage, sich in aktiver und bewusster Auseinandersetzung mit der Welt als Subjekt zu konstituieren.“29 Neben resp. in enger Verklammerung mit dieser spätmodernen Form der Entfremdung weisen die Textanalysen die zunehmende Entgrenzung der postindustriellen Arbeit als einen weiteren Adressaten der kritischen Darstellung aus. ‚Entgrenzung‘ meint dabei nicht bloß die permanente Vermischung von Beruflichem und Privatem sowie die potentielle Möglichkeit, immer und überall zu arbeiten, wie sie u.a. Mora, Bessing und DeLillo abbilden. Die „postfordistische Rhetorik“ 30 vom ‚Flow‘, die eine ganzheitliche, also eine den ganzen Menschen betreffende und einbeziehende Arbeit voraussetzt, stellt eine weitere Form der Entgrenzung dar und diese wird entsprechend kritisch in Szene gesetzt, wie Hübener in seinen Ausführungen zu Houellebecq apostrophiert: „Ein Hobby hat man, während man einen Beruf ausübt. Ein Hobby hat man immer, nicht nur zu bestimmten Tageszeiten. Das ist der Grund, weshalb der Beruf zu einem solchen zu machen ist: Damit man nie aufhört, ‚im Dienst‘ zu sein, mit ihm verschmilzt.“ 31 Anhand der Kreativarbeiter Octave, Gumbo und Bell wird exemplifiziert, dass eine solche Verschmelzung nicht zwangsläufig zu einem Zustand der authentischen, erfüllenden Arbeit führen, sondern auch in Entfremdung resultieren kann. Statt einer angeblich ganzheitlichen Erfüllung wird vielmehr eine Zerrissenheit in Szene gesetzt, die sich u.a. im narrativen Modus der Texte niederschlägt. So teilt sich die Perspektive von Moras Protagonisten Kopp in eine auktoriale und eine personale Perspektive, die bisweilen unvermittelt innerhalb 29 Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 144. 30 Eikels (2011): Nichtarbeitskämpfe, S. 33. 31 Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 307.
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eines Satzes wechseln, und der Bericht des Ich-Erzählers aus Beigbeders 39,90 zerfällt sogar in sechs Modi. Somit ist der Feststellung Martin Jörg Schäfers zuzustimmen, dass die „literarischen Modelle“ zwar „keine Modelle für eine andere, bessere oder gar befreite Arbeit“ liefern, aber „doch Anlässe dafür, im Erzählen von einer anderen Arbeit und einer anderen Nichtarbeit nicht die Ganzheitlichkeitsphantasmen zu reproduzieren, über welche sich die Theoriefiguren von Arbeit, Nichtarbeit und Ästhetik traditionell organisieren.“32 Zeigen die analysierten Beispiele folglich Identitäten im Spannungsfeld von Selbstentfaltung und Selbstentfremdung, so ist ein weiterer, den Konflikthorizont wesentlich prägender Faktor, die Auflösung vermeintlich klarer Positionen im Sinne eines erodierenden resp. sich verkehrenden Herr-Knecht-Verhältnisses. Duves Taxifahrerin beispielsweise mangelt es bisweilen deutlich an Arbeitsmotivation, obwohl oder gar, weil sie ihre ‚eigene Herrin‘ ist. In einem ähnlichen Licht erscheint der Genazino’sche Architekt, der als Herr seiner selbst wenig effizient ist. Am pointiertesten werden die gewandelten Anforderungen in puncto Zuständigkeit, Motivation und Selbstorganisation aber anhand von Moras Protagonisten Kopp in Szene gesetzt, dessen Scheitern gleichzeitig die ‚Lebbarkeit‘ dieser Ideale infrage stellt. Neben und mit der Arbeit werden folglich Hierarchien, Positionen und Zuständigkeiten entgrenzt und daraus resultiert u.a. eine Verlagerung von Verantwortung, die den Menschen bisweilen mit einem ‚Zuviel‘ an Freiheit konfrontiert. Dass dieses ‚Zuviel‘ in ein Gefühl des ‚anything goes‘ umschlagen kann, welches bisweilen in destruktive Tendenzen bis hin zum Exzess oder bis zum alles erfassenden Ennui manövriert, bilden Beigbeder, Bessing, DeLillo und Ellis ab. 33 Ein ‚Zuviel‘ an Handlungsspielraum kann folglich, anstatt zu einer Eskalation von Handlung zu einer Hemmung derselben führen, wozu Hübener vermerkt: „Wenn alles möglich ist, geht nichts mehr.“34 Die Energien laufen leer und alles erscheint diesen ‚erschöpften Selbsts‘ als Mühsal, ja als Arbeit.35 Die eigenmächtige ‚Stilllegung‘ von Hartmanns Beamtem, die körperliche ‚Schwere‘ der Arbeitslosen aus der Hundenovelle, Alex’ und Kopps Trägheit, Abschaffels und Octaves Müdigkeit, Warlichs Melancholie, das ‚Ausgebrannt-Sein‘ der Protagonisten DeLillos – sie alle legen Zeugnis ab für eine ‚Überforderung‘36 im Angesicht der arbeits- und leistungsgesellschaftlichen Anforderungen und reihen sich damit vordergründig in die aktuelle Debatte um zunehmende Depressions- sowie Burnout-Erkrankungen, um die sogenannten ‚sozialen Pathologien‘ der Gegenwart ein.
32 Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 608. 33 Zu Ellis vgl. Schaffer (2001): Examining the Personality of Patrick Bateman of American Psycho, S. 8. 34 Hübener (2007): Maladien für Millionen, S. 325-326. 35 Über dieses Leerlaufen bemerkt Michael Cuntz: „Dem instabilen Agieren der Figuren liegt immer wieder das Schema der Zyklothymie zugrunde, ein Changieren zwischen manischer Überdrehtheit, Hyperaktivität und dem Zusammenbruch, in dem es an der notwendigen Energie selbst für die kleinsten Handlungen fehlt.“ Michael Cuntz: „Extrem normal – der überholte Normalismus. (Link – Ehrenberg – Houellebecq).“ In: Christina Bartz u. Marcus Krause (Hg.): Spektakel der Normalisierung. München: Fink 2007, S. 143-172: 144. 36 Vgl. Maasen (2013): Vom gesellschaftlichen Sinn der Müdigkeit(en), S. 38.
Fazit
4.2
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DIE PROTAGONISTEN ZWISCHEN VERWEIGERUNG UND ANPASSUNG
Kurzum: Die Arbeit verliert ihre Grenzen und die Protagonisten ebenso. In solchen Umständen kann die Arbeit zum Leben werden und im Umkehrschluss das Leben zur Arbeit, wie Gustafsson, Rothmann und Hartmann in ihren Texten abbilden. Wird die berufliche Tätigkeit des Fliesenlegers, des Bergmanns und des Beamten zu einer ‚Arbeit des Lebens‘ selbst, so empfinden auch Abschaffel, Warlich sowie Houellebecqs Informatiker ihre bloße Existenz als solche; sie leiden unter einer, von Iuditha Balint pointiert beschriebenen, „metaphorische Entgrenzung der Arbeit“, aus der letztlich eine „negative[] Wertung des Lebens“37 resultiert. Erweisen sich die Protagonisten der Primärtexte, in ihrer ‚negativen Wertung des Lebens‘ sowie ihrer melancholischen Disposition, durchaus geschlossen als eine „Acedia Squad“38 im Sinne Thomas Pynchons, so zeigt sich in Folge der Textanalysen eine deutliche Zweiteilung des Figurenarsenals in Bezug auf deren Haltung gegenüber den Idealen und Anforderungen der Leistungsgesellschaft, wobei sich die Zauderer und Verweigerer auf der einen und die Angepassten sowie die gesellschaftlichen Ideale Affirmierenden auf der anderen Seite gegenüberstehen. Die Verweigerer weisen dabei jene, bereits in der Einleitung zitierte, Diagnose einer „eigentümliche[n] Ermüdung von Handlungsschwung inmitten eines historisch exorbitanten Niveaus von Potenzialität“39 auf, und sind damit Protagonisten eine Spielart der Verweigerung, über die Werner Bätzing und Evelyn Hanzig-Bätzing resümieren: „Das Machbare nicht zu machen, sich ihm zu verweigern, ist nicht irgendeine Aktivität des Subjekts und schon gar keine passive, in der es sich ins Private zurückzieht bzw. in Resignation bei sich verharrt. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine Handlungsweise des Subjekts, die eine Entgegensetzung gegenüber dem bloßen Gelebtwerden durchs Ganze darstellt. Sofern nämlich eine solche Verweigerung Befreiung von äußeren und inneren Zwängen bedeutete, innere Souveränität und Unabhängigsein und damit das Verweilen des Menschen bei sich selbst ermöglichte, käme ihr die Bedeutung zu, einen Riss im Bestehenden zu generieren. Denn mit der Verweigerung entstünde eine Unterbrechung des permanenten Reproduzierens von Vorgegebenem, des blinden, bewusstlosen alltäglichen Funktionierens. Die Verweigerung des Ganzen, oder, was dasselbe ist, das Machbare nicht zu machen, hätte darüber hinaus noch eine ganz andere, eine bedeutungsstiftende Funktion: Sie würde die Linearität des Fortschrittsdenkens und seine vermeintlichen Gewissheiten, dass mit dem Fortschritt alles immer besser, perfekter, berechenbarer und beherrschbarer werde, unterminieren und damit das klassische abendländische Dogma von der Linearität von Entwicklung überhaupt unterlaufen.“40
37 38 39 40
Balint (2014): Arbeit als Metapher, S. 28-29. Pynchon (1993): The Deadly Sins/Sloth. Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not? Werner Bätzing u. Evelyn Hanzig-Bätzing: Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit. Zürich: Rotpunktverlag 2005, S. 437-438, Herv. i.O.
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In diesem Sinne ist u.a. Poschmanns Arbeitslose zu deuten, werden als Gründe für deren Arbeitslosigkeit mangelnde Initiative und Leistungsbereitschaft genannt, womit sich die Protagonistin dem herrschenden Ideal, also der „Hegemonie“41 der Arbeitswelt, ebenso entgegenstellt wie sie sich grundsätzlich dem Leistungs- und Konsumideal ihres gesellschaftlichen Umfelds verweigert. In ähnlicher Weise ist die individuelle melancholisch-depressive Konstitution von Karen Duves Protagonistin als eine literarische Auseinandersetzung mit einer Art der Verweigerung zu interpretieren, die von Jean Baudrillard als Fatigue bezeichnet wird: eine Form der ‚grundlosen‘ Müdigkeit, die sich den Existenzbedingungen der Leistungsgesellschaft verweigert42 und die ihre ‚Nachfolger‘ in Alain Ehrenbergs Bild des ‚erschöpften Selbst‘ sowie in Byung-Chul Hans Müdigkeitsgesellschaft findet. Einen Gestus der Verweigerung und des Rückzugs weisen darüber hinaus auch Hartmanns Beamter sowie Genazinos Protagonisten auf. Eine Zwischenposition nimmt Kopp ein: Zwar versucht er, dem Ideal des ‚flexiblen Menschen‘ zu entsprechen und strebt die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung an, letztlich agiert er aber wenig handlungsfähig. Die Beschreibung seiner Arbeitsumstände deckt sich mit der Sennett’schen Schilderung der sogenannten New Economy mit ihren diffusen Zuständigkeiten, unklaren Handlungsanweisungen sowie einem hohen Maß an Eigenverantwortung. Der Roman bildet damit ab, dass Arbeit zwar (idealiter) sinnstiftend sein kann, dass die Arbeitsrealität der New Economy aber zu Haltlosigkeit und Einsamkeit führt. Moras Protagonist versinkt in dieser Kluft zwischen Ideal und Realität und in Folge dessen in einer ‚Melancholie 2.0‘, einem im Internet prokrastinierenden Nichttun, das zwar noch kein verweigerndes Nichtstun ist, das sich aber dem leistungsgesellschaftlichen Ideal der Effektivität entgegenstellt. Eine Affirmation leistungsgesellschaftlicher Ideale manifestiert sich hingegen bei Beigbeder, dessen Protagonist Octave ein ‚flexibler Mensch‘ ist, der nach den Regeln der New Economy spielt und sich dabei als äußerst erfolgreich erweist. Er wird damit zwar als ein Vertreter des arbeitsgesellschaftlichen Ideals beschrieben; gleichzeitig werden aber auch die ‚Folgen‘ einer solchen Existenz thematisiert: Octave ist bindungslos bis hin zur moralischen Degeneration, worin ebenfalls deutliche Parallelen zu den Diagnosen Richard Sennetts zu erkennen sind. Gumbo aus Bessings Wir Maschine ernennt die Anpassung an die leistungsgesellschaftlichen Anforderungen gleichermaßen zu seiner Strategie, der Erfolg bleibt ihm aber aufgrund der fehlenden Anerkennung durch seine Vorgesetzten verwehrt. Zwar ersehnt Gumbo nichts mehr als den Erfolg; gleichzeitig hat er aber das Gefühl, kaum selbst Einfluss darauf zu haben, und in diesem Gefühl des „Gelebt-Werdens“43 bilden sich die verschleierten Hierarchien in der angeblich von Teamwork sowie von flachen Hierarchien geprägten Arbeit der New Economy ab. Gumbo wird von einem Erwählten zu einem Verstoßenen innerhalb eines vom Narzissmus der Beteiligten bestimmten Arbeitsumfelds, womit die Prekarität sowie die Kontingenz innerhalb der gegenwärtigen Arbeitswelt ins Zentrum der Darstellung rückt. Als Vertreter einer leistungsgesellschaftlichen Elite verkörpern ferner DeLillos Ehepaar Wynant und Eric Packer ohne Frage herrschende Ideale, ebenso wie Ellis’ 41 Lillge (2016), Arbeit, S. 217. 42 Vgl. Becker (2012): ‚Die Helden der Konsumgesellschaft sind müde‘, S. 93-94. 43 Haan (1989): „Buchhaltungen des Lebens, S. 75.
Fazit
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Protagonist Bateman, auf den diese Zuschreibung in zugespitztem Maße zutrifft, weist er doch eine Strategie der Überaffirmation gesellschaftlicher Ideale und systemischer Mechanismen auf. Unt mit seiner Bindungslosigkeit und seiner moralischen Degeneration ist DeLillos Finanzmogul Packer ein literarischer ‚Ahne‘ von Ellis’ Protagonisten. Wird letztgenannter als ein radikaler „Ästhet“44 charakterisiert (in der Nachfolge von Huysmans Des Esseintes sowie als Vorbild für Krachts Innenarchitekten), so zeigt sich darin eine deutliche Parallele zum Protagonisten von DeLillos Americana. In beiden Figuren formulieret sich, u.a. durch ihre nihilistische Haltung, eine Absage an den American Dream45 und damit eine Infragestellung des USamerikanischen Selbstverständnisses des Exceptionalism, gründet dieser sich doch zum einen auf einer historisierenden Herleitung der kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Spezifika der USA 46, welche American Psycho in Form von Batemans ahistorischem Nihilismus aufs Deutlichste negiert. Zum anderen hat der American Dream die freie Marktwirtschaft mit ihrem angeblichen Freiheitsversprechen zum Kern47, deren spätmoderne Auswüchse sowohl Ellis als auch DeLillo kritisieren, indem sie darstellen, wie der neoliberale Finanzkapitalismus Menschen zu ‚Humankapital‘ verdinglicht und dadurch von ihrem Menschsein selbst entfremdet. Wie diese kurze Betrachtung offenbart, ist eine melancholische Verweigerung innerhalb der sogenannten ‚Pop-Literatur‘ kaum anzutreffen. Vielmehr schlägt die Melancholie hier überwiegend in einen Ennui um, der sich nur bedingt handlungsgehemmt geriert und der letztlich in einen destruktiven Aktionismus mündet. Die intertextuellen Verbindungen legen dabei frei, dass ausgehend von Ellis und DeLillo auch bei europäischen Autoren, wie Beigbeder, Houellebecq, Bessing und Kracht, der ästhetische Zugriff auf die spätmoderne Arbeitswelt mit „einer sehr spezifischen Radikalität“ geschieht, wodurch, so konstatiert Hubert Winkels, „der Preis für ein ökonomisches Effizienzgeschehen herausgearbeitet wird, in Form von Vernichtung von Menschen, von Zerstörung und Explosion.“ 48 Mit Blick auf das ‚Gros‘ der literarischen Darstellung erweist sich die deutschsprachige Auseinandersetzung dennoch, Winkels folgend, als überwiegend weniger radikal, wobei diese Beobachtung zu spezifizieren ist: Eine Bezugnahme auf die Tradition einer melancholischen Verweigerung ist in diesen Texten sehr viel ausgeprägter und diese ‚verhindert‘ mit der ihr zugrundeliegenden Handlungshemmung destruktive Akte in der Art, wie die oben genannten Autoren sie in Szene setzen. Wurde in der Einleitung bereits behauptet, das amerikanische Selbstverständnis – mit seinem ‚pursuit of Happiness‘ und dem von einem nachdrücklichen Leistungsimperativ geprägten American Dream – stehe einer melancholischen Selbstbenennung im Wege, so lässt sich diese Vermutung nun, in Folge der Textanalysen, genauer fassen: Was sich verstellt zeigt, ist die Einnahme einer melancholischen Verweigerungshaltung und was daraus resultiert, ist ein Ennui, der wiederum, aufgrund des ungebrochenen Primats einer vita activa, in Destruktion umschlägt. 44 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 74. 45 Zu Ellis vgl. Scheck (1994): Hell’s Kitchen, S. 170. 46 Vgl. Harma (2014): The Semiotics of Power, S. 199 zu Ellis und DeLillo sowie ausf. S. 197-199 zum American Exceptionalism. 47 Vgl. Harma (2014): The Semiotics of Power, S. 199. 48 Winkels in Ders./Schlossig (2007): Arbeitswelt und Gegenwartsprosa.
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Mit dieser Zweiteilung bezüglich einer Verweigerung resp. einer (Über-)Affirmation herrschender leistungsgesellschaftlicher Ideale korrespondiert eine Zweiteilung des identifikatorischen Potentials der Protagonisten. Sind Gustafssons Fliesenleger, Poschmanns Arbeitslose, Duves Taxifahrerin und auch Genazinos Protagonisten noch durchaus als Identifikationsfiguren zu bezeichnen, so trifft dies auf diejenigen der im Kapitel „3.3 Ennui und Entfremdung“ analysierten Romane nicht zu. Auffallend ist folglich, dass die Figuren der Verweigerung dabei überwiegend positiv, diejenigen der (Über-)Affirmation leistungsgesellschaftlicher Ideale hingegen zumeist ambivalent bis negativ gezeichnet werden, wie etwa die moralisch degenerierten ‚flexiblen‘ Menschen bei Beigbeder, Houellebecq, DeLillo – mit Ausnahme Bells – und, am drastischsten, bei Ellis. Kopp nimmt hierbei wiederum eine Zwischenposition ein, zeichnet Mora ihn in ihrem Fortsetzungsroman Das Ungeheuer doch in einem deutlich negativeren Licht als es Der einzige Mann auf dem Kontinent noch vermuten ließ. Alle Protagonisten, ob sie nun als Identifikationsfiguren oder als ‚Anti-Helden‘, als Kritiker oder gar als Personifikation einer als krisenhaft inszenierten spätmodernen Arbeitsrealität fungieren, eint, dass sie unter dieser leiden. Eine Engführung mit den zentralen Theorien des Diskurses legt dabei frei, dass die Haltung der ‚Angepassten‘ den Ausführungen Ehrenbergs zum ‚erschöpften Selbst‘ entspricht, weisen sie doch ein inkorporiertes Leistungsethos auf und scheitern an dem eigenen Anspruch, mit dem Übermaß an Verantwortung zurecht zu kommen. Die Figuren der Verweigerung bestätigen hingegen die Entgegnung Byung-Chul Hans, demzufolge nicht ein Übermaß an Verantwortung, sondern ein Übermaß an äußerem, gesellschaftlichen Druck das zentrale Problem ist. Gerhard de Haan teilt diese Annahme, wenn er schreibt: „Es ist nicht die Fülle der Möglichkeiten, die die Person ergreift, vielmehr ist es die Fülle der gesellschaftlichen Nötigungen, die die Person ergreift.“49
4.3
ARBEIT UND MELANCHOLIE: (K)EIN AUSWEG IN SICHT
Die betrachteten gegenwartsliterarischen Narrative stetzen die Dilemmata der spätmodernen Arbeitsgesellschaft folglich vielstimmig in Szene und inszenieren ebenso vielstimmig ihre (defizitären) Grundannahmen, Ideale und Forderungen, doch stellt sich die Frage, welche Auswege sie daran anschließend imaginieren. Stellt die Möglichkeit einer melancholischen Verweigerung resp. eines melancholischen Rückzugs eine durchaus traditionsreiche Spielart des gesellschaftlichen Ausstiegs dar, wie die kulturgeschichtlichen Überlegungen offenlegen, wird diese in den analysierten Texten negiert. Musste schon Huysmans Des Esseintes musste, nach seinem aufwendig inszenierten melancholischen Eskapismus, den Rückweg in gesellschaftliche Kontexte antreten, und auch bei Poschmanns Arbeitsloser, Moras Flora, dem alternden Werber Alfred aus Bessings Wir Maschine, Ellis’ Yuppie sowie DeLillos Werber David Bell und seiner professionellen Trauerarbeiterin Pammy Wynant entpuppen sich die versuchten oder erzwungenen Ausstiege und Exklusionen als nicht lebbar. Posch-
49 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 66.
Fazit
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manns Arbeitslose etwa zieht sich zurück, bis sie zu einer neuzeitlichen Melencolia wird, die sich von ihrer steinernen Stufe erhebt und zum Hund regrediert. Warum es ausgerechnet der Hund ist, der zum melancholischen ‚Kompagnon‘ und zum Katalysator der beschriebenen identitären Selbstauflösung wird, legt der Exkurs zum Motiv des ‚Melancholiehundes‘ frei. Die Forschungsliteratur bezeichnet den Hund zwar wiederholt als Begleittier des Melancholikers und ernennt ihn damit zu einem Topos, leitet diesen aber zumeist nicht selbst her. Es war Dürer, der mit seinem Stich Melencolia I das Motiv, das zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange wie ambivalente Motivgeschichte aufweist, endgültig zu einem Topos der Melancholie macht, doch er markiert gleichzeitig einen Bruch mit der Abbildungstradition der ihm vorausgehenden humanistischen Gelehrtenportraits, der sich in der auffallenden Jämmerlichkeit von Dürers Windhundes manifestiert. An diesem Punkt ‚setzt‘ Poschmann bei Dürer ‚an‘ und sie geht einen Schritt darüber hinaus: Bei ihr verstirbt der Hund und die neuzeitliche Melencolia selbst regrediert zum Hund, ehe sie sich im Sternenhimmel auflöst. Für Poschmanns Hundenovelle ist das Tier-Motiv entsprechend von zentraler Bedeutung, wird im Tod des Hundes die Möglichkeit einer humanistischen vita contemplativa negiert und zudem die Existenzberechtigung der Protagonistin ‚als Mensch‘, der die Anforderungen und Ideale der vita activa nicht erfüllt bzw. nicht erfüllen möchte, infrage gestellt. Indem sie eine solche Entwicklung nachzeichnet, entspricht die Novelle der Diagnose Zygmunt Baumans, welcher konstatiert: „Wer jedoch unter heutigen Bedingungen ausgeschlossen wird, dem erscheint es, als sei es für immer. Da gibt es keine Lösung und kein Heilmittel mehr“50, wobei Poschmann die ‚Formel‘ Inklusion qua Arbeit bestätigt, aber gleichzeitig kritisch in Szene setzt. In ihrem ästhetischen Zugriff auf die aktuelle Debatte um Prekarisierung und Exklusion wählt sie eine zugespitzte Darstellung, denn der Protagonistin bleibt letztlich nur das ‚Tier-‘ bzw. ‚Partikel-Werden‘ im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari übrig. In Analogie zu Poschmanns Protagonistin ist auch Warlich ein Vertreter einer humanistischen vita contemplativa, die von Genazino aber ebenfalls als nicht mehr lebbar dargestellt wird. Stattdessen nimmt der Protagonist sich selbst als ‚Gefangener‘ seiner entfremdeten Erwerbstätigkeit wahr. Zwar versucht Warlich mit kleinen absurden Gesten seine eigene, gefühlte Absurdität des entfremdeten sowie als provisorisch wahrgenommenen Lebens nach außen zu bringen, sich damit gewissermaßen zu ‚befreien‘ und somit ein Restmaß an Widerständigkeit zu erhalten; letztlich wird dieses Bestreben aber pathologisiert und er wird von seiner Freundin in eine Klinik eingewiesen. Diese ist für ihn zunächst ein Ort der gesellschaftlichen Exklusion, wird letztlich aber zu einem Refugium, in dem er sich seine melancholische (Zurück-)Haltung bewahren kann. Darin wiederum manifestiert sich ein Beispiel für die literarische Auseinandersetzung mit Versuchen von ‚systemimmanenten‘ Aus- resp. Umstiegen, der sich auch Warlichs ‚Schule der Besänftigung‘, sein Klinikaufenthalt und schließlich sein Plan einer Frühverrentung, die Gefängnisaufenthalte von Genazinos 50 Zygmunt Bauman im Interview mit Susanne Lang u. Jan Feddersen: „‚Sie werden viel zu tun haben‘. Die globalisierte Moderne produziert – Müll. Auch gesellschaftlichen Müll. Doch ein Zurück kann es nicht geben. Ein Gespräch mit dem polnisch-britischen Starsoziologen Zygmunt Bauman.“ In: Die Tageszeitung 29.04.2006. Auf: http://www.taz.de/1/ar chiv/?dig=2006/04/29/a0260, zuletzt gesehen am 15.06.2016.
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Architekten sowie von Octave, und die ‚Auszeit‘ von Houellebecqs Informatiker in einer Klinik zuordnen lassen. Die Autoren exemplifizieren dabei die gesellschaftliche Exklusion melancholischer Tendenzen und Haltungen exemplifizieren. 51 Einer solchen Exklusion sieht sich auch Moras Protagonistin Flora ausgesetzt, bleibt dieser doch die dauerhafte Inklusion in arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge verwehrt und sie erscheint mit ihrer beruflichen und damit zusammenhängend mit ihrer identitären Existenz entsprechend prekär. Moras Fortsetzungsroman Das Ungeheuer thematisiert das Ausmaß und die Folge von Floras Exklusion, welche letztlich den Suizid als einen endgültigen Ausstieg wählt (und damit der ‚existentiellen Arbeit‘ doch ein Ende setzt).52 In den Texten wird nicht nur vermittelt, dass ein Ausstieg aus der Gesellschaft nicht lebbar ist, überdies wird der aktiven Umgestaltung gegenwärtiger Um- und Zustände eine Absage erteilt. Zwar wird die Möglichkeit eines Protests bis hin zu einer Revolution und zu anderen Formen des (gewaltsam) herbeigeführten gesellschaftlichen Umbruchs von den Texten durchaus aufgegriffen, etwa in Gestalt der Demonstranten in Das Glück in glücksfernen Zeiten, des vereinzelten Kapitalismuskritikers und der Terroristen in Players, der protestierenden Anarchisten in Cosmopolis, der zu Terroristen werdenden Protagonisten Beigbeders und Bessings oder aber des revolutionären Szenarios von 1979, und die Autoren nehmen damit implizit auf diejenigen Stimmen innerhalb des Diskurses Bezug, die prophezeien, über kurz oder lang werden sich die Verlierer der veränderten Arbeitsrealität – die Prekarisierten, die Marginalisierten, die Arbeitslosen – erheben und einen Umbruch herbeiführen wollen.53 Die Möglichkeit einer Veränderung ‚zum Guten‘ durch Protest oder gar Revolution verneinen die Texte jedoch; Beigbeder etwa anhand des zum Terroristen werdenden und damit scheiternden Octave; Houellebecqs Informatiker, indem er eine erfolgreiche Revolte als unwahrscheinlich darstellt (vgl. MH 124-126)54; Kracht, indem er seinen Protagonisten durch die unterschiedlichen Systeme sowie (post)revolutionären Szenarien reisen lässt, die er dabei allesamt als dysfunktional herausstellt; und der von Bessing sowie DeLillo beschriebene Terror, der nur losgelöst von der sonstigen Handlung und ohne ein ‚Danach‘ zu existieren scheint.55 Die dabei bisweilen aufgebrachte Gewalt läuft ins Leere und spitzt sich zu, wie neben Ellis auch DeLillo abbildet, dessen Protagonist Packer zunächst lediglich an den Finanzmärkten destruktiv agiert, ehe er einen Mord begeht und schließlich den Mord an sich selbst zulässt. Oder aber sie verhallt in einem „ethische[n] Vakuum“56, wie bei 51 Vgl. Dieter Lenzen: „Vorwort.“ In: Ders. (1989): Melancholie als Lebensform, S. 1-3: 1. 52 Der Suizid als Ausweg findet sich ebenfalls bei Hartmann, Beigbeder und Houellebecq; und auch in den Arbeitstexten von Walser spielt er eine entscheidende Rolle. Wird das Leben selbst zur Arbeit, bleibt letztlich bloß der Selbstmord, um dieser zu entfliehen. 53 Vgl. Jim Clifton: Der Kampf um die Arbeitsplätze von morgen. München: Redline 2011, S. 11. 54 Vgl. dazu Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1138. 55 Vgl. dazu Bessing (1999): Tristesse Royale, S. 156. 56 Scheck (1994): Hell’s Kitchen, S. 175. Mit ihrer Darstellung einer sich zuspitzenden Gewalt bestätigen die Autoren die Ausführungen Immanuel Novers, der konstatiert, dass die Gewalt als „das atavistische und archaische Andere oftmals als ‚Ausweg‘ aus der kommerzialisierten Simulation der Hyperrealität verstanden“ wird. Entsprechend werden Schmerz,
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Ellis bzw. stärkt sogar das bestehende System, wie Packer es in Worte fasst: „The protest was a form of systemic hygiene, purging and lubricating. It attested again, for the ten thousandth time, to the market culture’s innovative brilliance, its ability to shape itself to its own flexible ends, absorbing everything around it.“ (DDC 99). Mit der Inszenierung dieser Art der gefühlten Ausweglosigkeit reihen sich die Texte ein in die Tradition eines posthistorischen Denkens, das lediglich das Andauern gegenwärtiger Zustände voraussieht und die Geschichte damit als ‚Farce‘ begreift.57 Sie formulieren eine Aporie, die Sandra Berger mit den Worten beschreibt: „Sowohl der fiktive Leser als auch der Protagonist verharren hier im Dilemma einer gänzlich auf sich selbst zurückgeworfenen Existenz ohne Möglichkeit zur Transzendenz und ohne die Fähigkeit, ihr Dasein zum Positiven hin zu wenden.“ 58 Liest man diese Absage an Protest und Revolution mit Bourdieu, so ist eine Ursache für sie in der wachsenden Prekarisierung zu suchen, hat diese doch eine Demobilisierung zur Folge, welche die Betroffenen davon abhält, sich aufzulehnen. Denn es es brauche, so betont Bourdieu, „ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart […], um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können“ und er fordert deshalb einen „politische[n] Kampf“: „Darüber hinaus sollten sie [die ‚Opfer der Ausbeutung‘] vor allem auch ermutigt werden, sich auf internationaler Ebene, also auf derselben Ebene, auf der auch die Folgen der Prekarisierungspolitik wirksam werden, mit dem Ziel zu mobilisieren, diese Politik zu bekämpfen und die Konkurrenz zu neutralisieren, die sie zwischen den Arbeitnehmern erzeugen will.“ 59 Zwar äußern die Protagonisten der analysierten Texte den Wunsch nach Solidarität – die Voraussetzung jener von Bourdieu geforderten Mobilisierung ist – oder schlicht nach Liebe als der privatesten Form von Solidarität und Bindung60: Kopp etwa entschließt sich – allerdings zu spät – für eine Besinnung auf seine Ehefrau; Houellebeqs Informatiker61 und sogar Ellis’ Serienmörder kritisieren einen Mangel an Liebe; Bessings Protagonisten erleben Liebe zwar zumeist als Enttäuschung62, aber sie verlieren trotzdem nicht den Glau-
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Leid und Zerstörung als ‚authentisch‘ wahrgenommen und der abstrakten, immateriellen und entfremdeten Gegenwart gegenübergestellt und ergeben dabei einen kurzzeitigen „Ausweg aus der Erstarrung“, ohne einen wirklichen Ausweg zu weisen, schreibt Nover (2012): Referenzbegehren, S. 15, 18. Zu Kracht vgl. Conter (2009): Christian Krachts posthistorische Ästhetik, S. 30-32, 42-43. Berger (2014): Moralistisches Spiel, S. 70. Pierre Bourdieu: „Prekarität ist überall.“ In: Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998 [1997], S. 96-102: 101, Herv. i.O. Zu Liebe und Solidarität vgl. Kramer (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 141. Zum Mangel an Solidarität bei Houellebecq vgl. Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1138 sowie zum unerfüllten Wunsch nach Liebe vgl. Sweeney (2013): Michel Houellebecq and the Literature of Despair, S. 151 sowie Heide Hammer u. Gabriele Resl: „Every you and every me – Über politische Haltungen und romantische Versprechen in literarischen und philosophischen Texten.“ In: Doris Guth u. Heide Hammer (Hg.): Leave me or love me. Liebeskonstrukte in der Populärkultur. Frankfurt/M.: Campus 2009, S. 165-181: 176-178. Zu Gumbos scheiternder Affäre mit Barbara vgl. JB 91, 95, 172-173 sowie zu Alfreds unglücklicher Liebe vgl. JB 57-61.
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ben daran, wie sich in Gumbos Ausruf: „Ja! Ja zur Liebe!“ (JB 147) zeigt; und ebenfalls in der Suche nach einem Aufgehen in einer kollektiven Entität, nach einer neuen ‚Enge‘, die Sicherheit und ‚Halt‘ verspricht – wie sie die diversen ‚Wir Maschinen‘ sowie der Gulag aus Krachts Roman darstellen – schlägt sich eine Sehnsucht nach Solidarität und Bindung nieder. Dass die Protagonisten dennoch allesamt vereinzelt sind, lässt sich als eine Bestätigung der Bourdieu’schen Ausführungen deuten. Eine Tendenz zu einem ausgeprägten Individualismus und dadurch zu Vereinzelung und einem gefühlten Mangel an Solidarität63 ist aber nur eine Ursache für die konstatierte Absage an alternative Szenarien; eine weitere Ursache ist ebenfalls bedingt durch die Gestalt postindustrieller Arbeitumstände. Zwar ermöglicht diese melancholische Verweigerung ‚im Kleinen‘, wie kurze Momente der Muße und der Prokrastination. Was die Angestellten des Dienstleistungssektors, die Mitarbeiter der Werbeagenturen, die Vereinzelten der New Economy allerdings nicht können, ist, ihre ‚Holzclocks‘ (franz. sabots)64 in die sich zunehmend abstrakt gerierende ‚Maschine‘ zu werfen, um so entweder zu spätmodernen Ludditen zu werden oder sich andauernde Phasen der Nicht-Arbeit und der Muße zu erschaffen. Die Reichweite von Protest und Revolution erweist sich in den Koordinaten der spätmodernen Lebenswelt folglich als begrenzt, denn je abstrakter die ‚neuen Herren‘ der gewandelten Arbeitsumstände anmuten, je mehr sie sogar, wie in selbstständigen Arbeitsverhältnissen oder aber in Idealen wie jenem des ‚unternehmerischen Selbst‘, inkorporiert werden, desto diffuser und damit unerreichbarer wird der Adressat für Protest und Auflehnung. Wo der ‚Feind‘ aber im Inneren liegt, da gewinnt, gleichsam als nächste Stufe hinter Selbstorganisation, Selbstmarketing und Selbstausbeutung, die Strategie der Selbstzerstörung an Bedeutung, wie sie u.a. Bessing, Kracht und DeLillo kohärent in Szene setzen. Richtet Bateman seine Gewalt noch nach außen, so wendet sie sich nun nach ‚Innen‘, auf das eigene Ich und den eigenen Körper, wobei die letzte Stufe dieser Entwicklung der Selbstmord darstellt, den sowohl Hartmann und Mora als auch Beigbeder und Houellebecq thematisieren. Eine dritte Ursache für die Absage an Protest und Revolution führt weg von der Gestalt spätmoderner Arbeitswelten, hin zu den Spezifika der melancholischen Haltung, ist doch der Melancholiker, ebenso wie der ‚flexible‘ Mensch, gerade kein sich solidarisierendes Subjekt, besteht seine Haltung doch in einem Beiseitetreten und Beobachten, in Einsamkeit und Eskapismus. Schon Helmuth Plessner hat die Melancholie als Gegenbild zur „revolutionären Aktion“65 entworfen, und die Einzeltextanalysen bestätigen diese Behauptung. Reale Formen solidarischer Vereinigung ‚bieten‘ die literarischen Texte nicht an; die Imagination einer anderen, möglicherweise ‚besseren‘ Zukunft ist verstellt; ein Denken im ‚Futur‘ ist „dem melancholischen Bewußtsein“ grundsätzlich „nicht gegeben.“ 66 Die ihm einstmals zugeschriebene prophetische Gabe scheint der Melancholiker somit über die Jahrhunderte verloren zu haben. Die Romane u.a. von Gustafsson und Beigbeder versagen sich entsprechend dem Entwurf einer ‚anderen‘, von erfüllender Arbeit geprägten sowie von Melancholie befreiten Welt, wie ihn die archistischen Utopien noch zeichneten. Und auch 63 64 65 66
Vgl. Lillge (2016): Arbeit, S. 131-132. Zur Herkunft des Wortes ‚Sabotage‘ vgl. Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 10. Plessner (1963): Immer noch Philosophische Anthropologie?, S. 66. Theunissen (1994): Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst, S. 339.
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Krachts 1979 ist hier zu nennen, der – in sehr ähnlicher Weise wie Beigbeder in seiner ‚Insel-Utopie‘ – die Lebbarkeit innerhalb eines ‚Reichs der Freiheit‘ negiert. Die literarische Auseinandersetzung weist ein utopisches Denken folglich als verstellt aus, womit die Texte den seit der Aufklärung vorgebrachten Vorwurf der melancholischen „Utopielosigkeit“67 indirekt bestätigen – ein Aspekt der melancholischen Haltung, den auch Ludwig Biswanger betont, wenn er schreibt, die Zukunft sei für den Melancholiker „keine offene Möglichkeit, sondern eine bereits vollzogene oder im Vollzug begriffene Tatsache“68, der er sich, ganz im Sinne einer als kontingent wahrgenommenen Gegenwart, ausgeliefert sieht. Die eigene Handlungsmacht und damit der eigene Gestaltungsspielraum erscheint den Protagonisten der Primärtexte somit entsprechend begrenzt. In recht ähnlicher, kritischer Weise vermerkt Ludger Heidbrink: „Die melancholische Sichtweise auf die Welt ist nicht zu kognitiven oder ethischen Leistungen fähig, sondern nur zur Beschreibung individueller Erfahrungsgehalte, die notwendigerweise normativ kontingent bleiben.“69 Der Melancholiker macht keine Revolution70 und er versagt sich zudem dem Entwurf möglicher Alternativen, und dieses mag, wie es Gisbert von Knyphausen in dem zum Motto des vorliegenden Fazits gewählten Songtextes besingt, als ihr zentraler ‚Nachteil‘ gelten, der sich mit dem Rückzug der Melancholie in die Künste verstärkt, ist damit doch, wie Lenzen in Analogie zu Knyphausen darlegt, ihre „gelungenste Exkommunikation“ vollzogen, ist sie nun „interniert […] in einer der Alltagswelt entzogenen Subkultur.“71 Eine Möglichkeit des Auswegs jenseit von Veränderung, Revolution oder gar Utopie zeichnen etwa die Texte Poschmanns, Genazinos, Bessings, Krachts und DeLillos dennoch nach, und auch Ellis deutet sie an: Es handelt sich um den denkbar unbestimmten, aber ebenso ‚poetischen‘ Entwurf der identitären Selbstauflösung als Ausweg, der trotz seiner Unbestimmtheit bisweilen eine enge Verklammerung mit der Kritik an entfremdenden Zuständen offenbart. Ersetzt der Protagonist aus Wenn wir Tiere wären seine eigene Identität schrittweise mit einer fremden, so lässt sich dieses als Beispiel sowohl für einen Ausweg als auch für eine Entfremdung lesen. In ähnlicher Weise ist das ‚Werden‘ von Poschmanns Arbeitsloser als eine sukzessiv verlaufende und denkbar vage endende Auflösung zu lesen, verliert sie sich doch letztlich im Hundsstern. Fast analog zu Poschmanns Protagonistin wandelt Gumbo am Ende von Wir Maschine ’gen Milchstrasse. Beigbeders Octave strebt über die Zersplitterung in sechs Perspektiven ein „Infinitiv[-W]erden“ an (FB 268). Bessings Figuren verbinden sich zu diesem Zweck mit den ‚Wir Maschinen‘ und führen dadurch einen Zustand der ‚Bewusst-losigkeit‘ herbei, der als Befreiung von dem Zwang fungiert, ein handelndes, sich beständig konturierendes und darüber beständig reflektierendes ‚Ich‘ darzustellen. Die diversen, auf der Handlungsebene beschriebenen ‚Wir Maschinen‘ bleiben als mögliche, wenn auch denkbar abstrakte Auswege 67 Lenzen (1989): Vorwort, S. 1. 68 Ludwig Biswanger: „Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien.“ In: Ders.: Ausgewählte Werke Bd. 4: „Der Mensch in der Psychiatrie.“ Hg. v. Alice Holzhey-Kunz. Heidelberg: Asanger 1960, S. 351-428: 373. 69 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 50. 70 Vgl. dazu ebenfalls Schmid (2012): Unglücklich sein, S. 99. 71 Lenzen (1989): Vorwort, S. 1.
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bestehen, die in eine solidarische sowie kollektive Entität jenseits leistungsgesellschaftlicher und individualisierter Vereinzelung führen. Sie werden mal als mechanisches Gerät, mal als organisch anmutendes Gebilde beschrieben, und lassen sich damit als ein Gegenentwurf zur, von einer digitalen Technik geprägten, lebensweltlichen spätmodernen Realität deuten, welcher dadurch entfremdende Tendenzen zugeschrieben werden. Christian Krachts im selben Jahr erschienener Roman 1979 weist einen recht ähnlichen Weg wie Bessing, wobei der Protagonist hier die ‚Flucht‘ aus einem Ennui evozierenden ‚Reich der Freiheit‘ sucht und im Kollektivismus eines Arbeitslagers endet. Mit dieser ironischen Utopie stellt Kracht die Möglichkeit eines alternativen Lebens grundlegend infrage, ist es doch ein ‚Zuviel‘ an Freiheit und einer damit einhergehenden Haltlosigkeit, worunter der Protagonist zunächst leidet, wohingegen das Arbeitslager für ihn zu einem Ort des ‚Glücks‘ und, paradoxerweise, der Befreiung wird, die sich in der sukzessiven Auslöschung der eigenen Existenz und Identität zuspitzt, wodurch der Roman zu einer „Poetik des Verschwindens“ 72 wird. Bateman wiederum zerfällt in ein identitäres „Patchwork“ ohne „Kern“ 73, in ein ‚Nicht-Ich‘ ohne Aussicht auf einen anderen als diesen Zustand; und auch DeLillo schreibt über eine „Identität in bröckelnden Bildern“74, wobei Cosmopolis die Abbildung einer speziesistischen Dimension dieser Auflösung beinhaltet, die neben der Auflösung des ‚Ichs‘ die Auflösung des Menschen in den Fokus nimmt, über die Berger konstatiert: „Nicht äußere Not, Katastrophen oder Kriege bedrohen die Protagonisten, sondern sie leiden innerlich derart an ihrer condition humaine, dass die Abschaffung des Menschen und damit ihrer selbst zunächst als eine wünschenswerte Zukunftsvision erscheint.“75 Diese literarischen Abbildungen identitärer Auflösungen lassen sich auf den ersten Blick vor dem Hintergrund von Sennetts Analyse einer postfordistischen Arbeitsorganisation lesen, die dem Individuum eine kohärente Lebensgeschichte und damit eine stabile Identität verstelle. Sennetts Ansatz beruht dabei auf der Annahme, dass eine mit sich selbst authentische sowie einheitliche Identität die Norm sei, wobei diese Ansicht, Haan folgend, auf aufklärerische Ideale zurückzuführen ist. Ihr entspringt eine „Verpflichtung auf eine Ich-Identität“76 – eine Identität, die ihr individuelles, nun von der Vergangenheit losgelöstes und damit ‚vereinzeltes‘ Leben auch „individuell zu verantworten“77 hat. Haan beschreibt, dass Jürgen Habermas und 72 Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 79-80. 73 Alt (2009): Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart, S. 125. 74 Don DeLillo: „Der Narr in seinem Zimmer. Ein großer amerikanischer Schriftsteller erzählt von der Einsamkeit des Schreibens.“ In: Die Zeit 29.03.2001. Auf: https://www. zeit.de/2001/14/200114_l-delillotext.xml/komplettansicht, zuletzt gesehen am 18.06.2016. 75 Berger (2014): Moralistisches Spiel, S. 244, Herv. i.O. Sie bezieht sich auf Houellebecqs 2005 erschienenen Roman Die Möglichkeit einer Insel, der ebenfalls den, auch von DeLillo formulierten, Gedanken einer posthumanen, auf einen Computerchip ausgelagerten Identität, thematisiert. Vgl. dazu Sweeney (2013): Michel Houellebecq and the Literature of Despair, S. 155-156 sowie S. 168-181. 76 Lenzen (1989): Vorwort, S. 2 zum Essay von Haan. Deutlich wird hierbei, so Haan, die monotheistische Prägung des aufklärerischen Denkens, Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 73. 77 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 59.
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auch Sennett an diesen Identitätsbegriff anknüpfen, um das Bild einer „vernünftige[n] Identität“78 zu zeichnen, wohingegen Formen von „gespalten[en]“, „zwanghaft integrierte[n]“ oder aber ‚diffundierenden‘ Identitäten mit Begriffen aus der Psychopathologie belegt werden.79 Hinter dieser Wertung steht die Forderung, dass selbst in „einer defizitären Gesellschaft […] die dem einzelnen beigebrachten Beschädigungen per Eigenleistung überwunden werden“80 müssen. Bei Habermas wird dieses ‚vernünftige‘ Individuum noch durch eine „Kontinuität der Lebensgeschichte“81 zusammengehalten, doch gerade diese Kontinuität wird, Sennett folgend, durch die gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb von Arbeitsorganisation verhindert. Daraus ergibt sich folgendes Paradoxon: Auf der einen Seite erweist sich das Leben bisweilen als fragmentiert, als ein Mosaik aus einzelnen Lebensphasen, aus wechselnden Beschäftigungsverhältnissen, Arbeitgebern, Jobs und Projekten, was ein flexibles, mobiles und anpassungsfähiges ‚unternehmerisches Selbst‘ erfordert, das sich in seiner Arbeit widerspiegelt, selbstverwirklicht und, dem Ganzheitlichkeits-Paradigma folgend, mit ihr verschmilzt. Auf der anderen Seite werden „Identitätsdiffusion“82 oder gar ein Identitätszerfall, unter Beeinflussung aufklärerischer Ideale, dennoch grundsätzlich als ‚pathologisch‘ bewertet – eine Annahme, die bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Ernst Mach oder Hermann Bahr kritisiert sowie dekonstruiert wurde.83 In deren Nachfolge stehen einige der hier behandelten Autoren, setzen sie der Forderung nach einer stabilen Identität doch zahlreiche Formen der Selbstauflösung entgegen, die zum einen die Ausführungen Sennetts zu bestätigen scheinen, die darüber hinaus aber gleichzeitig die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer stabilen, einheitlichen und einzigen Ich-Identität stellen und eine Pathologisierung von multiplen, bröckelnden und zerfallenden Identitäten dem gesellschaftlichen Umfeld zu-, selbst aber nicht fortschreiben. Zwar wird dabei durchaus eine kritische Perspektive an jenen, den identitären Zerfall evozierenden Lebens- und Arbeitsumständen offenbar, und zwar in jenen Texten, in denen Auflösung mit Entfremdung enggeführt wird, aber die identitäre Auflösung wird von den Protagonisten nicht ausschließlich erlitten. Vielmehr wird sie u.a. von Poschmanns Arbeitsloser, Bessings Protagonisten sowie Krachts Innenarchitekt durchaus genossen resp. angestrebt, statt sie als subjektive Entfremdung wahrzunehmen. Das ‚Werden‘ wird dem ‚Sein‘ vorgezogen und wird so zu einem 78 Jürgen Habermas: „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“ In: Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 92-126: 92-93. Vgl. dazu Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 63. 79 Jürgen Habermas: „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“ In: Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 92-126: 92-93. Vgl. dazu Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 63, 67. 80 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 67. 81 Habermas (1976): Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden, S. 93. 82 Habermas (1976): Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden, S. 93. 83 Vgl. Nover (2012): Referenzbegehren, S. 34.
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Ausweg – jedoch ein durchaus problematischer, wie Ulrich Bröckling betont: „[A]uch die Verflüssigung von Positionen und ein Hinundherspringen zwischen pluralen Identitäten führen nicht […] heraus: Die nomadischen, ‚queeren‘ oder hybriden Subjekte […] mögen zwar den auch in einer nachdisziplinären Gesellschaft noch wirksamen Homogenisierungsdruck […] unterlaufen, dem Flexibilisierungsimperativ einer radikalisierten Marktökonomie haben sie wenig entgegenzusetzen.“ 84
4.4
DIE KRITIK DER LITERARISCHEN MELANCHOLIE
Dass die Narrative demgemäß mehr Fragen aufwerfen als sie Antworten geben können, ist u.a. dem Diskurs selbst geschuldet, denn die conditio des von den herangezogenen sowie analysierten Texten entworfenen spätmodernen Leistungssubjekts ist komplex sowie von Paradoxien geprägt. Beobachtet Ulrich Beck mit Blick auf die aktuelle Diskussion eine gewisse „Ratlosigkeit“ 85, so ist diese auch den Primärtexten anzumerken. Grissemann und Paterno resümieren in ihren Ausführungen zur Reaktion der Kunst auf die Finanzkrise gemäß: „So reagiert die Kunst wie sie reagieren muss: verständnislos. Sie bildet nicht die Ursachen ab, sondern die Wirkungen, führt nicht die Schuldigen vor, sondern widmet sich leichter Greifbarem“. 86 Und Peter Boxall betont in recht ähnlicher Weise, die „possibility of athetic or political counternarratives has dwindled almost to the point of disappearance“. 87 Tatsächlich ist die konkrete Kritik an aktuellen Um- und Zuständen innerhalb von westlichen Arbeitsgesellschaften durchaus problematisch und entsprechend fordert Ulrich Bröckling in seinen Ausführungen zum ‚unternehmerischen Selbst‘, die Kritik müsse „‚anders anders‘“ sein, denn: „Wovon sich befreien, wenn ‚ein grundlegendes Verlangen nach Freiheit‘ die Triebkraft unternehmerischen Handelns darstellt?“88 Wohin flüchten, wenn eine sich zunehmend entgrenzende Arbeitsorganisation und Ökonomie „kein Jenseits der Grenzen“ mehr besitzt, „sondern allenfalls Räume, in denen der Sog stärker oder schwächer wirkt“?89 Durch diese Ausweglosigkeit erhält der Diskurs selbst eine zyklische Struktur und erweist sich damit als melancholisch in einem ‚postmodernen Sinn‘: „Der Postmoderne fehlt eine intellektuelle Melancholie, sie kennt keine utopischen Großziele mehr, keinen zentralen Vernunftbegriff, keinen einheitlichen Begriff philosophischer
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Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 285. Beck (1999): Modell Bürgerarbeit, S. 27. Grissemann/Paterno (2012): Irrealwirtschaft, S. 101. Boxall (2006): Don DeLillo, S. 35. Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 285-286. Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 288. In recht ähnlicher Weise beschreibt es Sigbert Gebert: „Wenn aber alle Tätigkeiten als Arbeit bezeichnet werden, Arbeit nicht länger eine Abgrenzung von Tätigkeiten, sondern nur noch den Gegensatz zur Freizeit meint, sind grundsätzliche Alternativen zur Arbeit nicht denkbar, sondern nur verschiedene Arten von Arbeit und Arbeitsverteilung.“ Gebert (2015): Glück in der modernen Gesellschaft, womit er die von Balint konstatierte ‚metaphorische Entgrenzung‘ von Arbeit (vgl. S. 170, Fn. 489) sehr treffend definiert.
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Kritik, keine Idee konkreter Praxis.“90 Allesamt lassen die hier angeführten Diagnosen eine gewisse (melancholische) Resignation erkennen und sie betonen mit der scheinbaren Ausweglosigkeit die Liminalität der literarischen Repräsentation oder gar der melancholischen Kritik. Dabei bleiben sie jedoch dem ‚Was‘ der literarischen Texte verhaftet, indem sie beschreiben, welche Umstände in ihnen geschildert, welche Fragen gestellt, welche Lösungen imaginiert werden. Die Analyse des ‚Wie‘ – das Melancholie-Paradigma – hingegen bezeugt, dass der Beitrag der Literatur so unberedt nicht ist: Die Melancholie im Zusammenspiel mit der Literatur – als melancholische Haltung – ‚leistet‘ mehr als ihr bisweilen von den zuvor zitierten Autoren sowie auch von Knyphausen und Lenzen zugestanden wird, und als ihre Definition als „Universalmetapher“91 darüber hinaus zunächst vermuten lässt, ist sie doch keineswegs ein ‚leeres Gefäß‘, das beliebig zu füllen ist. Vielmehr verfügt sie über ureigene Qualitäten, welche sich auf beiden Ebenen der melancholischen Haltung zeigen – sowohl auf textimmanenter Ebene anhand der Protagonisten, die als melancholische Subjekte inszeniert werden, als auch auf der übergeordneten Ebene des Narrativs, welches eine melancholische Haltung aufweist. Mit Blick auf die Protagonisten ist hier eine ‚Klarheit im Denken‘ zu nennen, die seit Pseudo-Aristoteles entscheidender Bestandteil des Melancholie-Paradigmas ist, sich über die diversen kulturgeschichtlichen Prozesse erhalten hat und so entsprechend in den gegenwartsliterarischen Narrativen anzutreffen ist. Das melancholische Subjekt oder aber die melancholische Haltung des Narrativs offenbart eine spezifische „Sensibilität, [ein] Gespür für Sinn und dessen Fehlen“.92 Es ist wiederum der zeitdiagnostische und zeitkritische Impetus der Melancholie, der sich aus dieser Sensibilität speist, und dem melancholischen Außenseitertum kommt dabei eine nicht unbedeutende Rolle zu. Alle beschriebenen Protagonisten erscheinen auf die eine oder andere Weise als Außenstehende und können so, ganz in der Melancholietradition stehend, zu Subjekten einer (unterschiedlich ausgestalteten) Erkenntnis werden, die nur im Abstand zu den jeweiligen gesellschaftlichen Dilemmata wachsen kann. Sie nehmen, wie Sandra Berger zu Houellebecqs Protagonisten vermerkt, „eine vom eigentlichen Geschehen separierte[] Position“ ein, die ihnen „eine unbeteiligte Beobachtung ermöglicht.“ 93 Und aus dieser Position heraus treten jene gesellschaftlichen Dilemmata umso vernehmlicher hervor; oder, um es im thematischen Kontext der vorliegenden Arbeit zu spezifizieren, in der „Kontemplation fällt auf, wie sehr die Arbeit lärmt, stört, belastet und die Würde nicht zuletzt des Arbeitenden ruiniert“.94
90 Ludger Heidbrink: „Zubehör der Nacht oder Das Ende der Melancholie.“ In: Frankfurter Allgemeine Magazin 04.05.1990, S. 90-104: 104, Herv. N.V. 91 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 135. 92 Schmid (2012): Unglücklich sein, S. 99, Herv. i.O. Bronner konstatiert recht ähnlich, allerdings im Hinblick auf die Literatur als Ganzes: „Die Sprache der Kunst umfasst die Möglichkeit, jeglichen Diskurs zu überschreiten, indem sie auf das ‚souveräne Lachen‘ über die Unmöglichkeit des Sinns hinarbeitet.“ Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 49, Herv. i.O. 93 Berger (2014): Moralistisches Spiel, S. 62 und vgl. dazu bis S. 64. 94 Baecker (2002): Die gesellschaftliche Form der Arbeit, S. 228.
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Dieser „Habitus“95 der Beobachtung äußert sich am deutlichsten in Genazinos ‚gedehntem Blick‘, aber ebenso bei den Erzählern von Gustafssons, Rothmanns und Poschmanns Texten, bei Figuren wie der hypersensiblen Flora, dem genau beobachtenden Informatiker Houellebecqs sowie den Detail-Versessenen Lyle, Packer und Bateman. Ihnen gegenüber stehen mehr oder minder ‚ahnungslose‘ Figuren, wie Kopp, Gumbo oder Krachts Innenarchitekt, deren Ahnungslosigkeit aber derart augenscheinlich ist, dass in Abgrenzung dazu auf der Ebene des Narrativs dennoch eine Einsicht in gesellschaftliche Missstände gegeben wird. Selbst die ahnungslosesten oder die passivsten Figuren werden demnach zu Akteuren dieser Erkenntnis, wie überdies Lepenies aufgreift: „Die Melancholie hat etwas Produktives, das klingt etwas paradox, weil sie zunächst einmal mit Hemmungen zu tun hat. Melancholie ist auch Handlungshemmung. Melancholie ist ein Zustand von jemandem, der eigentlich etwas tun will, es aber nicht tun kann. Dann auf sich zurückgeworfen ist und anfängt, darüber nachzudenken in dieser Dauerreflexion, warum etwas nicht funktioniert.“ 96 Kommen die theoretischen, der Frage nach den Gründen und Folgen einer dysfunktionalen Leistungsgesellschaft nachgehenden Ansätze bisweilen zu pathologisierenden Zuspitzungen, so stehen diese in der Nachfolge einer langen Tradition: Bereits ab der frühchristlichen Acedia wird eine Strategie der Pathologisierung als Reaktion auf grassierende melancholische Zustände sichtbar, und diese lässt sich bis zur heutigen Burnout-Diskussion nachzeichnen. Entsprechend schreibt Ehrenberg in seinem Buch über das erschöpfte Selbst: „Die Verwandlung der Krankheit der ‚großen Seelen‘ und des Genies zu einem gefühlsmäßigen Elend hat zweifellos auch mit der Schichtzugehörigkeit der Patienten in den Irrenanstalten zu tun, also mit der Arbeiterklasse. [...] Mit dem Abstieg der Krankheit auf der sozialen Leiter verschwindet auch ihr Erhabenes. Wie es der radikale Politiker Eugéne Pelletan formulierte: ‚Die Krankheit, die beim gewöhnlichen Menschen lediglich eine geistige Zerrüttung ist, ist bei den großen Ideenmenschen eine natürliche oder erhabene Position[.]‘“97
Darin wird zunächst augenfällig, wie sich die beiden Vorstellungsbereiche ‚Melancholie‘ und ‚Arbeit‘ in Abgrenzung zu- oder auch im Zusammenspiel miteinander konstituieren. Zudem wird deutlich, dass die Melancholie der Gegenwart, Ehrenberg zufolge, die Depression ist. Die Betonung der, den analysierten Texten inhärenten, melancholischen Haltung weist hingegen einen anderen Weg, da diese weit über eine bloße pathologische Konstitution hinausgeht – ein Umstand, den u.a. Elisabeth von Thadden akzentuiert: „Dabei konnte doch das Leiden der Seele einmal etwas Vorzügliches sein. ‚Meine Freude ist die Melancholie‘, schrieb, als die Neuzeit noch nicht geboren war, Michelangelo und wusste also schon von der Liaison, die die moderne Empfindsamkeit der unverwechselbaren Seele, Quelle der Kreativität, mit dem Unglück eingehen würde. Die Melancholie, eine Urahnin der 95 Prokop (2001): Stigma und Gewalt, S. 1128, Herv. i.O. 96 Lepenies im Gespräch mit Hatting (2006): ‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem‘. 97 Ehrenberg (2008): Das erschöpfte Selbst, S. 46-47.
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Depression, zeigte damals noch an, wie wahrnehmungsfähig ein Mensch sein konnte und also auch für das Leiden empfänglich. Krank hätte sich ein Michelangelo gewiss nicht genannt. Die Melancholie, Ausweis des Künstlers, galt ihm als Ausdruck von Individualität: eine Freude.“98
Gustafssons und Rothmanns nostalgische bis existentielle Melancholie, Hartmanns dialektische Reflexionen, Poschmanns melancholisches Werden, Alex’ Fatigue, Genazinos beständig umkreiste Leerstelle, Kopps ‚Drift‘, Bessings und Houellebecqs Ennui, DeLillos ‚black machine‘ aus Americana resp. der Ennui in Players und Cosmopolis, Ellis’ ‚nameless dread‘ – sie alle stellen nicht bloße Krankheitsgeschichten einer sozialen Pathologie der Spätmoderne dar, sondern vielmehr eine „Lebensform in hypermoderner Zeit“.99 In entsprechender Weise legt etwa Genazino eine Strategie der Pathologisierung frei, der er einen ästhetischen Zugriff entgegenstellt, dessen Zeugnis die Romane selbst sind. Jenseits einer pathologischen Beschreibung etabliert Genazino die Melancholie als zentrale Konstitution seiner Protagonisten und macht sie darüber hinaus zum Signum einer spätmodernen conditio humana. Ihre Melancholie markiert die wahrgenommene Liminalität gegenwärtiger Zustände, tritt sie doch immer dort auf, „wo die verinnerlichte Gewalt der Vergangenheit nachlässt, ohne daß es möglich scheint, die Zukunft durch selbstständiges, vernunftgeleitetes Handeln den eigenen Bedürfnissen gemäß zu verändern“, womit sie darüber hinaus die Erkenntnis ermöglicht, „daß der Gegner des Selbst im Ich sitzt“, in welchem sich „alte Disziplinierungsstrukturen“100 eingeprägt haben. Die melancholische Haltung befähigt folglich zum einen dazu, über den ihr eigenen Habitus der (außenstehenden) Betrachtung und Reflexion zu einer ‚Erkenntnis‘ zu gelangen, zum anderen stellt sie sich pathologisierenden Zuschreibungen entgegen, wird sie in Zeiten des Umbruchs doch zu einer „angemessenen Haltung“ 101 und nicht etwa zu einer krankhaften Reaktion. Eine weitere, meines Erachtens weitaus bedeutsamere wie genuine Qualität der melancholischen Haltung liegt hingegen in ihrem (u.a. von Freud beschriebenen) spezifischen Verhältnis zum Aspekt der Trauer. So markiert sie einen erlittenen Verlust und stellt gleichzeitig das Objekt dieses Verlusts als prekär bis vakant dar. Dadurch bezeugt die melancholische Haltung deutlich, wie – über eine explizite Kritik hinausgehend – in den Texten etwas betrauert wird, das sich nicht abschließend betrauern lässt – ein Aspekt, der in den Textanalysen zu DeLillo und Ellis bereits eine zentrale Rolle spielte und dem im Folgenden vertiefend nachgegangen werden soll.
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Elisabeth von Thadden: „Der Souverän dankt ab. Die Seele kann nicht mehr. Der Soziologe Alain Ehrenberg analysiert, wie im 20. Jahrhundert die Erschöpfung zur Massenerkrankung wurde.“ In: Die Zeit 07.10.2014. Auf: http://www.zeit.de/2004/42/st-ehrenberg, zuletzt gesehen am 25.06.2016. 99 Lenzen (1989): Vorwort, S. 1. 100 Mauser (1999): Melancholieforschung im 18. Jahrhundert, S. 131-132, 140. 101 Böhme (1988): Natur und Subjekt, S. 162.
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DAS ABWESENDE OBJEKT MELANCHOLISCHER TRAUER
Eine gewissermaßen nostalgische Dimension der Trauer weisen die drei Romane des Kapitels „3.1 Literarische ‚Arbeit‘ am Bildreservoir der Melancholie“ auf. Diese operiert jenseits des hier konstatierten verlorengegangenen Objekts und lässt die Objekte der Trauer entsprechend durchaus greifbar erscheinen. So trauert Gustafssons Fliesenleger offen um ein vergangenes Leben und damit um eine vergangene Arbeitsrealität; Hartmanns Beamter zeigt ebenfalls eine gewisse Nostalgie, wenn er seine Arbeit jenseits von Digitalisierung und spätmodernem ‚Leistungsgefuchtel‘ beschreibt; und auch Junges Licht imaginiert eine vergangene Arbeitsrealität, die allerdings gerade nicht zum Objekt einer nostalgischen Rückbezüglichkeit taugt, weshalb die Trauer letztlich ins Leere läuft. Zunächst recht augenscheinlich ist der Verlust von Poschmanns Arbeitsloser, verliert sie doch erst ihre Arbeitsstelle und danach alle ihre sozialen Kontakte. Betrauert werden diese Verluste von ihr jedoch nicht, da weder die Arbeit noch das soziale Miteinander ihrem eigentlichen Bedürfnis eines zurückgezogenen Lebens entsprechen. Ein Leben ‚jenseits‘ ist ihr allerdings, zum einen aufgrund gesellschaftlicher Normen, zum anderen aufgrund der eigenen Sozialisation, verstellt, und diese Unmöglichkeit eines Ausstiegs wird zum Objekt ihrer Trauer, wie sie auch von Duves Taxifahrerin in ihrer melancholischen Verweigerung betrauert wird. Genazino lässt Warlich das Objekt seiner Trauer als wiederkehrende Leerstelle umkreisen, womit sein Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten selbst zu einer „Phänomenologie des ...“ (WGG 83, Herv. i.O.) wird. Letztlich wird hier ebenfalls die Unmöglichkeit, in einer spätmodernen Leistungsgesellschaft dem Lebensentwurf einer selbstbestimmten humanistischen vita contemplativa zu folgen, zum Objekt der Trauer. Da der sich darin abzeichnende Wunsch nach einer alternativen Lebensweise dem übermäßig reflektierenden Warlich selbst als ‚hehrer‘ Wunsch darstellen dürfte, bleibt er unartikuliert. In Folge wird die menschliche Reflexionsfähigkeit selbst zur Zielscheibe der Trauer, versagt sie ihm doch zum einen das Aufgehen in seiner ‚banalen‘ Erwerbstätigkeit, verstellt sie zum anderen den als klischeehaft erscheinenden sowie unrealistischen Wunsch nach einem alternativen Leben. Moras Businessman Kopp ist ein gänzlich anderer, kaum reflektierender Charakter. Seine durch Globalisierung sowie Digitalisierung geprägte Arbeit lässt einen Zustand jenseits dieser, seinen Drift begründenden, Arbeitsrealität zum Objekt der Trauer werden; einen begrenzten Arbeitsbegriff, in der die Arbeit einen festen Ort, eine feste Zeit, Verbindlichkeit und Sicherheit mit sich bringt – abseits spätmoderner, postindustrieller ‚Diffusitäten‘.102 Eine Arbeit, die Sennett als ‚fordistische‘ Arbeit charakterisiert, wobei sich der Roman einer solchen (vereinfachenden) Darstellung entzieht, indem er nicht das Bild einer vermeintlich ‚authentischeren‘ vergangenen Arbeit imaginiert. Eine nostalgische Haltung ist für Kopp aber verstellt, da er als Bürger der ehemaligen DDR in einem System sozialisiert wurde, das mittlerweile nicht mehr existiert; ein Aspekt, der sich darüber hinaus in Bezug auf Flora sowie auf Poschmanns Arbeitslose anführen lässt. Der Blick zurück wird zudem auch von Kracht, Ellis sowie DeLillo negiert, werden doch Bateman, Packer und Krachts In-
102 Vgl. Winkels in Ders./Schlossig (2007): Arbeitswelt und Gegenwartsprosa.
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nenarchitekt als Menschen ohne eine Vergangenheit gezeichnet. Vor allem DeLillos Cosmopolis macht dabei ersichtlich, dass zwischen den Koordinaten eines spätmodernen, beschleunigten und zunehmend immateriellen Lebens und dem Leben der Elterngeneration die Schnittmenge schwindet, wird doch, wie auch Haan beschreibt, durch die Beschleunigung „alles […] historisch kontingent“, was eine ausgeprägte „Orientierungslosigkeit“ zur Folge hat.103 Erliegt keiner der analysierten Texte der vereinfachenden Darstellung einer nostalgischen Trauer, die legt die obige Betrachtung der Möglichkeit bzw. der Unmöglichkeit nostalgischer Bezugnahmen dennoch frei, dass es in erster Linie die westeuropäischen Texte sind, in denen eine solche nostalgische Trauer zumindest anklingt, und diese Beobachtung lässt denkbar werden, dass das Objekt der Trauer durchaus in einem Wirtschaftssystem wie der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ zu suchen ist; eine Trauer, die für die USA nicht zutrifft, weshalb eine nostalgische Rückbezüglichkeit ins Leere laufen muss. Wurde in dem Unterkapitel „Die Melancholie des M-(C)-M’“ bereits das verborgene Objekt der Trauer von DeLillos sowie Ellis’ Protagonisten hervorgehoben, so lassen sich diese Befunde auf Beigbeders und Houellebecqs Romane übertragen. Sowohl der Werber Octave als auch der namenlose Informatiker kritisieren mit nachdrücklichen Worten die Selbstreferentialität ihrer Arbeit, wodurch eine Trauer um eine vergangene ökonomische Realität zwar angedeutet, aber nicht explizit vollzogen wird. Eine solchermaßen explizite Trauer versagt sich zum einen, da sie sich als gesellschaftlich verstellt erweist und zum anderen, weil die emotionalen wie psychischen Fähigkeiten zur ‚Betrauerung‘ begrenzt sind.104 In Verklammerung damit steht das von Lars Distelhorst herausgearbeitete Objekt einer spezifisch spätmodernen Trauer: der Leistungsbegriff.105 Erfolg und Scheitern wird, wie u.a. die Romane Duves, Moras und Bessings abbilden, zur zentralen Frage eines subjektiv als gelungen wahrgenommenen Lebens, und dies suggeriert, Distelhorst folgend: Wer sich anstrengt und Entsprechendes leistet, der wird ein erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft werden – eine Annahme, die ihre Wurzeln in der protestantischen Ethik hat. 106 Die Leistungsgesellschaft gibt damit vor, eine gerechte, durchlässige Gesellschaft von Gleichen unter Gleichen zu sein, wobei dieses Ideal zunehmend in unterschiedlichen Bereichen, wie dem Bildungssektor, dekonstruiert wird. 107 Sie hat damit ihren 103 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 62. Den Beginn der Beschleunigung sieht Haan übrigens bereits in der Aufklärung und dem Bestreben einiger Aufklärer, ihre Ideale und Ziele in der eigenen Lebensspanne realisiert sehen zu wollen, vgl. S. 59. 104 Vgl. Mortimer-Sandilands (2010): Melancholy Natures, Queer Ecologies, S. 333. 105 Vgl. Distelhorst (2014): Leistung, S. 73. 106 Vgl. Maasen (2013): Vom gesellschaftlichen Sinn der Müdigkeit(en), S. 37. 107 Gilt eine ‚gute‘ Bildung oftmals als ein Indikator für eine erfolgreiche arbeitsgesellschaftliche Inklusion, scheinen die analysierten Texte dieser Annahme zu widersprechen, denn es handelt sich überwiegend um durchaus ‚gebildete‘ sowie gut ausgebildete Figuren, deren kulturelles Kapital ihnen letztlich aber, bezüglich einer – auch subjektiv empfundenen – erfolgreichen Einbindung in arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge wenig nützt oder ihnen sogar, wie bei Warlich, im Wege steht. Entsprechend schreibt Heidenreich über Krachts Innenarchitekten: „Alles, was der Ich-Erzähler weiß über Seidenstoffe, gute Schuhe, das Rot in der Renaissance-Malerei, seine Weltläufigkeit, seine Sprachkenntnis-
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Kern verloren, da es oftmals eben nicht die objektiv erkannte und bewertete Leistung ist, die dem Leistungssubjekt einen gesellschaftlichen Status einbringt bzw. sichert: „In einer Leistungsgesellschaft, die außerstande ist, ihren Gegenstand zu bestimmen, ist jeder Mensch das Objekt machtbasierter Zuschreibungen, die aus ihm ebenso gut einen Leistungsträger wie einen Überflüssigen machen können [...]. Die heute von vielen Menschen verspürte Unsicherheit hat damit nicht primär die Sorge zum Gegenstand, weniger zu schaffen als die Konkurrenz, sondern ist Resultat der Erfahrung radikaler Kontingenz, insofern heute jeder davon bedroht ist, sich vielleicht schon morgen auf der Seite der Verlierer wiederzufinden – nicht aufgrund von Faulheit oder Erschöpfung, sondern der schlichten Tatsache, von einer undurchschaubaren Norm auf der Basis ebenso undurchschaubarer Kriterien plötzlich vollkommen anders beurteilt zu werden als zuvor.“108
Leistung als „alleinige Richtschnur der Statusverteilung“ ist folglich nur noch ein Ideal, und dennoch erscheint sie als „einzig öffentlich rechtfertigungsfähiger Maßstab“109 – ein Paradoxon, welches sich in der, innerhalb der Primärtexte kritisierten, Kontingenz, dem Gefühl individueller Handlungsohnmacht, niederschlägt. Zwar wird Leistung überall eingefordert, worin sie allerdings besteht, wird zunehmend unklar, wodurch die Leistungsgesellschaft zu einem „Kasino“ 110 verkommt; und aus diesem versuchen u.a. Kopp, Octave und Gumbo als Gewinner hervorzugehen, und aus diesem gehen DeLillos Protagonisten sowie Bateman bereits als vermeintliche ‚Gewinner‘ hervor, ohne sich jedoch als solche wahrzunehmen. Hinter den unterschiedlichen, hier beschriebenen Objekten der ‚Betrauerung‘ – eine vergangene Realität, der Leistungsbegriff − steht, so lässt sich zusammenfassen, ein sich unterschiedlich abstrakt gerierender kultureller Verlust, den die Melancholie innerhalb der Primärtexte markiert. Dieser kulturelle Verlust wird wiederum in der Literatur, in dem jeweiligen Narrativ selbst, aufbewahrt, ja melancholisch inkorporiert. Die Literatur übernimmt damit, neben und in Verbindung mit dieser ‚Aufbewahrung‘ des Verlorengegangenen – wie sie etwa bei Gustafsson und Rothmann sowie bei DeLillo stattfindet – die Rolle einer ‚Zeugin‘, sie vollzieht, wie Merola herausstellt, einen „melancholy act of witnessing“.111 In diesem Sinne erweist sich etwa Rothmanns Roman Junges Licht als eine Art ‚literarisches Museum‘: Zwar kann der Text nur bedingt auf aktuelle Diskurse bezogen werden, findet die Handlung doch in den 1960er Jahren statt; durch die Engführung zweier Generationen, die
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se, all das hilft ihm nicht, zu überleben in einer brutalen und unverständlichen Welt, der jede Moral abhanden gekommen ist.“ (Heidenreich (2001): Nichts wird je wieder gut, S. 254), womit der Roman einen „umgekehrten Bildungsweg“ (Scholz (2004): Ein postmoderner Bildungsroman, S. 208) nachzeichnet. Und in ähnlicher Weise nimmt Ellis die Bildungselite in den Fokus und charakterisiert sie als moralisch degeneriert. Distelhorst (2014): Leistung, S. 73. Sighard Neckel: „‚Leistung‘ und ‚Erfolg‘. Die symbolische Ordnung der Marktgesellschaft.“ In: Eva Barlösius, Hans-Peter Müller u. Steffen Sigmund (Hg.): Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in Deutschland. Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 245-265: 248. Distelhorst (2014): Leistung, S. 90. Merola (2012): Cosmopolis, S. 848.
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sich in der Zweiteilung des Romans niederschlägt, wird dennoch der Wandel der Arbeitsrealität, wenn auch noch jenseits postindustrieller Einflüsse, thematisiert. In der Arbeit des, vermutlich verunglückten, Bergmanns werden Bilder einer vergangenen Arbeitswelt sprachlich fixiert, wobei die literarische Beschreibung eine museale Funktion des Aufbewahrens und Ausstellens übernimmt. Diese Funktion wird allerdings gleichzeitig unterminiert. Zwar verbindet Rothmann die Nostalgie des Rückblicks in die Kindheit des Protagonisten mit jener in Bezug auf die Veränderung der Arbeitsrealität, weshalb sich am Ende des kurzen Romans sowohl der kindliche Protagonist Julian Collien von den milieugesättigten und melancholischen Bildern seiner Vergangenheit verabschiedet wie auf Leserebene von der Arbeitswelt der 1960er Jahre Abschied genommen wird. Gleichzeitig wird die scheinbar nostalgische Rückbezüglichkeit und die museale Dimension des Romans auf mehreren Ebenen gebrochen, worin ein deutlicher Unterschied zur ‚Arbeiterliteratur‘ etwa eines Max von der Grüns markiert wird. Sind dessen Schilderungen einem sozialrealistischen Vorhaben verhaftet, so rekurriert Rothmann zwar auf von der Grün, bricht aber gleichzeitig mit dessen Vorgehen, u.a., indem kein eindeutiger Zugang zur verwendeten Bergmannssprache eröffnet wird und diese dadurch in der Sphäre der Vergangenheit verbleibt. Zum anderen wird der Versuch, Relikte der Vergangenheit freizulegen und zu bewahren, auch konkret als vergeblich dargestellt, zerfällt doch das vom Bergmann ausgegrabene Fossil umgehend zu Staub, als es mit dem ‚frischen‘ Lufthauch, ja dem jungen Licht der Gegenwart in Berührung kommt. Zwar legt der Bergmann ein verschüttetes Objekt frei, er birgt es wie aus einer melancholischen Krypta; dieses Objekt kann aber gerade nicht ans Licht geholt, konserviert und gezeigt werden, wodurch gleichsam die Liminalität der musealen Funktion von Literatur markiert wird.112 Freilegen geht vielmehr mit Zerstören, mit Auflösen einher, woraus sich, wie Gunnar Schmidt in seinem Aufsatz zur ‚Trophäe‘ hervorhebt, eine „Spannung zwischen Triumph und Trauer“113 ergibt. Auch dem kindlichen Protagonisten Julian ist eine Nostalgie des Rückblicks versagt, da seine Kindheit als eine Zeit der Demütigung und des Missbrauchs beschrieben wird. Im Hinblick auf den Arbeitskontext deutet sich ein weiterer Bruch an, bietet sich für Julian doch nicht die Möglichkeit, seiner Elterngeneration, speziell seinem Vater, beruflich nachzufolgen, hält seine Zukunft doch ein neues Licht ‚Über Tage‘ bereit. Sind die Aspekte des Erinnerns sowie des (melancholischen) Bezeugens bei Rothmann überaus zentral, so lassen sie sich ebenfalls in den Texten von Beigebeder, Houellebecq, Ellis und DeLillo erkennen, legen diese doch Zeugnis ab für die Folgen von Verdinglichung, von Entfremdung und Entgrenzung. Indem sie an den Personen, den Individuen und ihren materiellen Körpern ‚festhält‘, sie in ihrem Narrativ mal mehr mal weniger individuelle Subjekte fokussiert, thematisiert die Literatur die „wahren Kosten“114 des beschleunigten und globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystems, wie Merola anhand von DeLillos Cosmopolis ausführt:
112 Vgl. Gunnar Schmidt: „Trophäe. Ästhetisierung der Melancholie.“ In: Andreas C. Bimmer (Hg.): Sich benehmen. Marburg: Jonas 1993, S. 121-128: 122. 113 Schmidt (1993): Trophäe, S. 125. 114 Merola (2012): Cosmopolis, S. 848, Übers. N.V.
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„Levin and Packer function as the ghosts that trouble our understanding of the present. They are the rats, the currency exchanged in the production and reproduction of cybercapitalism, and the novel operates as a form of embodied memory. Having made clear their status as natural resources that feed cybercapitalism, Cosmopolis holds on to the bodies of Levin and Packer, forcing the reader to do the same and thereby defying one hallmark of capitalism, the obfuscation of the real costs of its reproduction. Through its assessment of the attenuated socioecological relationships into which cybercapitalism situates Levin, Packer, and New York City, Cosmopolis acknowledges human and built materiality and socioecological processes as appropriate objects of melancholic attachment. “115
Den hier von Merola konstatierten Aspekt der melancholischen Repräsentation hebt auch Wagner-Egelhaaf in ihrer Auseinandersetzung mit der Melancholie in der Literatur hervor: „Die melancholische Repräsentation ist Repräsentation dessen, was sie nicht ist; daß sie repräsentiert, ist ihre […] produktive Leistung, was sie repräsentiert, ist Darstellung ihrer Nichtrepräsentation. Es handelt sich um eine Aura des über sich selbst Hinausweisenden, des mit sich selbst nicht Identischen, die den Fortgang der literarischen Signifikation erst legitimiert. Aus eben diesem Grunde muß die Literatur fortgesetzt verlorene Objekte produzieren – und Melancholie über ihren Verlust.“116
Demnach ist das eigentliche Objekt der Trauer nicht nur den Protagonisten verstellt, sondern gleichsam den Erzählern der Narrative, den impliziten Autoren und damit dem Diskurs um die sich wandelnde Arbeitrealität selbst. Die Trauer kann demzufolge nicht abschließend ‚bearbeitet‘ werden; die melancholische Reflexion dreht eine Spirale ins Unendliche. Dieser Umstand rückt die literarische Repräsentation mit ihren spezifischen Qualitäten in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Arbeit des Autors wird damit zu einer Art ‚melancholischen Arbeit‘117, die sich auf Vergangenes und Gegenwärtiges richtet, statt Zukünftiges zu imaginieren. Gleichzeitig wird dabei ersichtlich, dass sich dieser vergangene oder auch gegenwärtige Verlust beständig entzieht, womit die Melancholie der gegenwartsliterarischen Narrative den Žižek’schen „Verlust des Verlustes“118 markiert, der sich einer Heroisierung der Vergangenheit widersetzt. Zeigt sich die literarische „Probe auf den Gehalt“119 etwa der soziologischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem Diskurs in Bezug auf Ehrenberg und Han noch als durchaus ‚unentschieden‘ – wobei einige Texte den Ausführungen Hans zum äußeren Druck innerhalb der Leistungsgesellschaft, andere wiederum den Ausführungen Ehrenbergs zum inneren Druck einer inkorporierten Leistungsnorm näher stehen –, so legt die Engführung mit den Thesen Richard Sennetts deutlichere 115 Merola (2012): Cosmopolis, S. 847-848, Herv. N.V. 116 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 529-530, Herv. i.O. 117 Vgl. Asholt (1991): Literatur in Frankreich zwischen L’art pour l’art und Belle Epoque, S. 285, zur spezifischen Trauerarbeit des Künstlers, wobei er sich auf Ausführungen Stéphane Mallarmés bezieht. 118 Žižek (1998): Jenseits der Diskursanalyse, S.127. Vgl. S. 286, Fn. 1002. 119 Haan (1989): Buchhaltungen des Lebens, S. 71.
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Widersprüche frei. Gustafsson etwa veranschaulicht in seinem Roman Nachmittag eines Fliesenlegers, dass sich im Rückblick auf den individuellen Lebensweg ein Anspruch auf Kohärenz versagt, setzt sich das Leben doch vielmehr aus einem Mosaik aus individuellen Entscheidungen, Wendepunkten und Phasen zusammen, für welche die mal besser mal schlechter verarbeiteten Fliesen stehen. Der Roman bezieht damit eine erkennbar andere Position als die theoretische Auseinandersetzung etwa eines Richard Sennett, wird doch jedes Leben, nicht bloß jenes innerhalb postindustrieller Kontexte, als letztlich fragmentarisch beschrieben. Der Fokus auf die Melancholie, die durch einen solchermaßen fragmentierten, beständige Anpassungsleistungen erfordernden Lebensweg evoziert wird, offenbart den Menschen als Ganzes, nicht bloß den ‚driftenden‘, als homo melancholicus. Ein weiterer Widerspruch ergibt sich bei der Betrachtung der von Sennett eröffneten historischen Dimension: Die Mehrzahl der Texte versagt sich einem idealisierenden Blick ‚nach hinten‘, auf eine wie auch immer geartete, vor-postindustrielle Arbeit, und unterspülen damit die von Sennett entworfene, „binäre Opposition[]“ 120, die einem Bestreben verhaftet scheint, das Jaron Lanier wie folgt beschreibt: „Gelegentlich träumen wir von einer Form von Trost, von Authentizität und Heiligkeit, die tief in einer Vergangenheit wurzelt, wie sie so nie existierte.“ 121 In diesem Gegenpart zu binären oder dichotomen Entwürfen und Zuschreibungen zeigt die Literatur eine ihr eigene Mehrsichtigkeit. Diese schlägt sich u.a. in den Ambivalenzen der ‚melancholischen Helden‘ nieder, die, wie Sandra Berger in Anbetracht des Houellebecq’schen Informatikers konstatiert, als Repräsentanten und als ‚Opfer‘ gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse und Ideale fungieren können: „Ist ihm [dem Protagonisten] als Beobachter und Analysten seiner Umgebung erstens eine gesellschaftskritische Funktion zuzuschreiben, tritt er zweitens als Repräsentant eben jener Gesellschaft auf und fungiert drittens in seiner Rolle als Ich-Erzähler als poetologische Reflexionsfigur.“122 So können sowohl die Verweigerer als auch die Angepassten unter den Protagonisten zu Reflexionsfiguren der literarischen Kritik werden, manifestiert sich in ihnen doch eine Form der Kritik, die Bröcklings Forderung nach einem ‚anders anders‘-Sein entspricht, denn: „Anders anders zu sein, schließt Verweigerung ebenso ein wie Verweigerung der Verweigerung.“ 123 Aus dem spezifischen Verhältnis des Erzählers oder auch des impliziten Autors ergeben sich auf der nächst höheren Ebene des Narrativs weitere Möglichkeiten zur Mehrdimensionalität, denen sich Oliver Flade und Christoph Rauen gewidmet haben. Sie kommen dabei zu dem Schluss, die Literatur könne, indem sich der Erzähler weder für noch wider sein Sujet ausspreche, „unbestimmte dritte Werte“ andeuten, wodurch die ‚Aussage‘ des jeweiligen Narrativs in der Schwebe gehalten werde: „Sie [die Literatur] offeriert keine bereits eingeschliffenen Schemata, sondern trägt im Gegenteil zu deren Destabilisierung bei, ohne dem Druck ausgesetzt zu sein, selbst
120 Bronner (2012): Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 50. 121 Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Du bist nicht der Kunde der Internet-Konzerne, du bist ihr Produkt. Hamburg: Hoffmann und Campe 42014 [2013], S. 175. 122 Berger (2014): Moralistisches Spiel, S. 60. 123 Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst, S. 286.
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Alternativen vorschlagen zu müssen; im Extremfall begnügt sie sich mit ‚wohlformulierte[r] Ratlosigkeit‘.“124 Die literarische Darstellung verfügt entsprechend über eine ihr eigene Mehrdimensionalität, die u.a. dazu führt, Binaritäten ‚aufzubrechen‘ und zu dekonstruieren. Dadurch eröffnet sie einen Raum jenseits eines Effizienz-, Rationalitäts- und Leistungsprimats, der Platz lässt resp. schafft für Uneindeutigkeit, für Muße, für Trauer, ja für Melancholie.125 Sie wird damit zu einer Art „Therapeutikum“ 126, zu einem „Poetopharmakon“127, wie Fuest es nennt – und dieses in doppelter Hinsicht, mit Blick auf den Leser sowie auf den Autor. Zwar bemerkt auch Fuest – wie andere vor ihm – das „gestörte Verhältnis“ des Melancholikers zur „Tat“, da dessen Reflexionsund Wissensdrang sich überwiegend hemmend ausagiert; die ‚Poetopharmaka‘ der Literatur aber „schreiben sich her aus der melancholischen Analyse und schärfen den kritischen Verstand. Das Poetopharmakon ist der Versuch, etwas Konstitutives aus der melancholischen Analyse zu machen. Ein Angebot.“128 Im Schreiben schreitet das melancholische Subjekt folglich zur Tat; die Literatur bietet ihm einen Raum für Handlung und Aktivität. Hier offenbart sich „seine Fähigkeit, abwesende Dinge zu evozieren, die Arbeit mit Begriffen wie auch die Arbeit mit Bildern.“ 129 Das „Handwerk des Schreibens“ wird somit, wie Anette Schwarz es in ihrer Auseinandersetzung mit der Melancholie formuliert, zur „Arbeit der Melancholie“.130 Das Schreiben wird darüber hinaus in anderer Hinsicht ‚fruchtbar‘, weisen doch einige der analysierten Texte eine metapoetischen Ebene auf, die einen indirekten Verweis auf einen Ausweg aus den als defizitär wahrgenommenen Arbeits- und Lebensbedingungen der Spätmoderne bereithält. So werden sowohl Beigbeders Werber als auch Houellebecqs Informatiker zu Autoren ihrer eigenen, autobiografischen Texte, ebenso wie DeLillos Protagonist David Bell. Und in ähnlicher Weise thematisiert Gustafssons Nachmittag eines Fliesenlegers eine metapoetische Dimension, die die Arbeit des Schriftstellers reflektiert.131 Unter Hinzunahme des autobiografischen Hintergrunds wird das Schreiben ebenfalls bei Duve und Rothmann zu einer Möglichkeit der arbeits-
124 Flade/Rauen (2005): Schwere Unterscheidungen und ‚light entertainment‘, S. 562, 547548. Sie beziehen sich dabei auf Karl Eibels Buch Die Entstehung der Poesie (1995). 125 So erscheinen etwa Warlichs Beobachtungen, die monotonen Reihungen bei Ellis sowie die Unproduktivität von Duves Taxifahrerin, um nur einige kurze Beispiele zu nennen, als Formen der ‚Entschleunigung‘, des Innehaltens, der „Langeweile als ästhetisches Surplus“, wie es Ursula Frohne bezeichnet, Ursula Frohne: „‚Doing Nothing‘. Zeiterfahrung und alternative Tätigkeitsmodelle in der Gegenwartskunst.“ In: Lemke/Weinstock (2014): Kunst und Arbeit, S. 49-75: 60-61. 126 Schwarz (1996): Melancholie, S. 17. Die Protagonisten der Texte werden dadurch von ‚Patienten‘, als die sie bisweilen von ihrem Umfeld angesehen und etikettiert werden, selbst zu Therapeuten; eine Feststellung, die Gilles Deleuze bereits mit Blick auf Bartleby getroffen hat, vgl. Deleuze (1994): Bartleby oder die Formel, S. 60. 127 Fuest im Gespräch mit Probst (2011): ‚Werdet Zwerge!‘ 128 Fuest im Gespräch mit Probst (2011): ‚Werdet Zwerge!‘ 129 Karahasan (2011): Aufenthalt im Spiegel, S. 62. 130 Schwarz (1996): Melancholie, S. 151. 131 Vgl. LG 114-122 und dazu Wischmann (2006): Gegenwart (1980-2000), S. 358.
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gesellschaftlichen Positionierung.132 Hinter all den genannten Darstellungen verbirgt sich somit die mögliche Erwerbstätigkeit als Schriftsteller, und Martin Jörg Schäfer beschreibt diese Ebene des metapoetischen Verweises wie folgt: „Im Zeichen der ästhetischen Entpragmatisierung inszenieren diese Texte sich einerseits als die Befreiung von einer als Einschränkung begriffenen Arbeit: als andere oder bessere Arbeit bzw. als Nichtarbeit, die anders und besser als Arbeit ist. Andererseits tritt die bessere Arbeit oder Nichtarbeit – eben indem sie bereits performativ die Hervorbringung des Texts organisiert – in diesem selbst oft thematisch an die Ränder oder ganz in den Hintergrund. Als Medium seiner Hervorbringung organisiert die bessere Arbeit bzw. Nichtarbeit den Sinnhorizont, in welchem der jeweilige Textkorpus seine semantischen Ordnungen und Erzählmuster präsentiert. Die bessere Arbeit bzw. Nichtarbeit wird dadurch allgegenwärtig, ohne notwendig immer benannt zu sein. Sie und ihr Status als Medium der Hervorbringung des betreffenden literarischen Texts müssen aus zunächst nebensächlich scheinenden Details, von seinen Rändern her oder mit Umwegen über seine Paratexte und Intertexte rekonstruiert werden.“133
Rekonstruiert werden kann demnach die Vorstellung einer „Künstlerutopie“, die, wie Genazino konstatiert, „[s]eit 200 Jahren also der einzige Ausweg“ ist, „der sich real anbietet“134 und dies scheinbar auch bleibt. Darüber hinaus erweist sich das Schreiben nicht nur als Möglichkeit einer beruflichen Verortung als Autor, sondern gleichsam als Form der neuerlichen Ermächtigung in kontingenten Zeiten, die einem ein kohärentes Lebensnarrativ versagen. Die Autoren der gegenwartsliterarischen Narrative erzählen Geschichten, erschaffen narrative Zusammenhänge, u.a. um damit eine „Kohärenz in die Dinge zu bringen“135, eine „aktive Gestaltungsmöglichkeit“136 zu nutzen, die die Realität durchaus versagt.
4.6
AUSBLICK
Doch welche Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich dadurch auf Seiten der lebensweltlichen Realität? Die Frage nach möglichen Alternativen zur Arbeits- und Leistungsgesellschaft ist bereits zahlreich gestellt worden und ebenso zahlreich beantwor-
132 So beruht Duves Roman zum einen auf autobiografischen Erfahrungen der Autorin, die selbst, vereinfacht gesprochen, von einer Taxifahrerin zu einer Autorin geworden ist; zum anderen wird auf Textebene das ‚Schreibhobby‘ der Protagonistin Alex als möglicher Ausweg angedeutet. Junges Licht ist zwar aus der Perspektive des kindlichen Julian erzählt und weist keine darüber hinausgehende Erzählinstanz auf, die eine zukünftige Entwicklung andeuten könnte. Dafür sind aber Rothmanns weitere ‚Ruhrgebietstexte‘ Stier (1991), Wäldernacht (1994) sowie Milch und Kohle (2000) im Rückblick erzählt, und zwar jeweils aus der Perspektive eines heimkehrenden Künstlers resp. Autors. 133 Schäfer (2013): Die Gewalt der Muße, S. 30. 134 Genazino im Gespräch mit Hoffmeister (1989): Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle, S. 74. 135 Wroblewsky (2004): Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq, S. 509. 136 Berger (2014): Moralistisches Spiel, S. 71.
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tet, etwa im Entwurf der ‚Bürgerarbeit‘, in Überlegungen zur Arbeitszeitverkürzung und zum Mindesteinkommen.137 Die kulturwissenschaftliche Betrachtung dieses Diskurses erbringt, neben oder in Ergänzung dieser Ansätze, weitere: Auf der Basis einer historischen Perspektive können die Gültigkeiten gegenwärtiger Ansichten und Verständnisse hinterfragt und in ihrer kulturellen Verfasstheit erkannt werden, galt Arbeit vor nicht allzu langer Zeit, etwa den Brüdern Grimm, noch als „ein uraltes viel merkwürdige seiten darbietendes wort“138 und keineswegs als nicht zu hinterfragende Gegebenheit oder gar als anthropologische Konstante. Damit verbunden ist eine „Reflexion des verwandelten arbeits- und lebensweltlichen Vokabulars“, die eine erneute, auch metaphorische Begrenzung des Arbeitsbegriffes zum Ziel hat.139 Die Selbstverständlichkeit von Arbeit lässt sich hierbei ebenso infrage stellen, wie das gegenwärtige Arbeitsverständnis mittels eines kulturhistorischen sowie komparativ-transkulturellen Blicks mit synchron und diachron existierenden Arbeitsbegriffen kontrastiert werden kann. Beziehen sich diese Gedanken auf den Aspekt der ‚Arbeit‘, so birgt die Auseinandersetzung mit der Melancholie weitere Impulse: Die Anerkennung der Melancholie als konstitutivem Bestandteil der conditio humana jenseits pathologischer Zuschreibungen kann eine „Wiederentdeckung der ermöglichenden, schöpferischen Melancholie“140 zur Folge haben – einer Melancholie nicht als ‚Hemmschuh‘ oder gar als Refugium von Resignierten, Vereinzelten und Eskapisten, sondern als eine „Haltung, die es erlaubt, das Mögliche zu denken.“141 In diesem Sinn ist etwa Volker Friedrichs Forderung nach einer „heitere[n] Melancholie“142 ebenso zu verstehen wie Peter Handkes Bild einer „klaräugigen“ und solidarischen „Wir-Müdigkeit[]“143 sowie Byung-Chul Hans „hei-
137 Allgemein zu alternativen Modellen vgl. Engler (2005): Bürger, ohne Arbeit, Freytag/Hawel (2004): Einleitung: Arbeit und Utopie und Warnfried Dettling: „Diesseits und jenseits der Erwerbsarbeit.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 202-214. Zu Mindesteinkommen und Bürgergeld vgl. Ahrens (2009): ‚Bekommt ein Junge vielleicht jeden Tag einen Zaun zu streichen?‘, S. 78-82, Beck (1999) ‚Modell Bürgerarbeit‘, S. 7-189, Thomas Schmid (Hg.): Befreiung von falscher Arbeit. Thesen zum garantierten Mindesteinkommen. Berlin: Klaus Wagenbach 1984. Zur Anerkennung von Hausarbeit vgl. Sabine Wolf: „Erwerbsarbeit und Hausarbeit – Zum dualen Denken in der Ökonomik und seinen Folgen für das Geschlechterverhältnis.“ In: Willy Bierter u. Uta von Winterfeld (Hg.): Zukunft der Arbeit – welcher Arbeit? Basel, Berlin, Bonn: Birkhäuser 1998, S. 194-212: 207. Zur Arbeitszeitverkürzung vgl. exemplarisch Stephan Krull: „Aus der arbeitspolitischen Defensive zur Befreiung der Arbeit.“ In: Sabine Gruber, Frigga Haug u. Stephan Krull (Hg.): Arbeiten wie noch nie!? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit. Hamburg: Argument 2010, S. 63-87: 84-87. 138 Zit. n. Angelika Gencarelli u. Ute Friedrich: „Editorial.“ In: Kritische Ausgabe 27 (2014): „Arbeit“, S. 3. 139 Balint (2014): Arbeit als Metapher, S. 29. 140 Konstantin Ingenkamp: Depression und Gesellschaft. Zur Erfindung einer Volkskrankheit. Bielefeld: transcript 2012, S. 344. 141 Maasen (2013): Vom gesellschaftlichen Sinn der Müdigkeit(en), S. 51. 142 Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 145 und vgl. bis S. 146. 143 Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 15, 28.
Fazit
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lende Müdigkeit“144. In ähnlicher Weise entwirft der bosnische Autor und Literaturwissenschaftler Dževad Karahasan in seinem Essay zur Melancholie der Gegenwart zwei unterschiedliche ‚Melancholien‘, eine historische und eine subjektive. Die subjektive Melancholie meint dabei die individuelle Konstitution; die historische hingegen ist eine durch die Lebensumstände evozierte Melancholie, die auch eigentliche ‚NichtMelancholiker‘ – „Individuen, die von ihrem psychophysischen Habitus her an und für sich nichts mit Melancholie zu tun haben“145 – zu Melancholikern werden lässt, und Karahasan nennt den ‚flexiblen Menschen‘ Sennetts als entsprechendes Beispiel. Dieser wird zu einem solchen, lebt er doch in „Lebensbedingungen […], die durch sich selbst einen melancholischen Zustand erzeug[en]“, und er spezifiziert: „Zu jenen ‚gezwungenen‘ oder ‚historischen Melancholikern‘, die […] die Mehrheit in unserer heutigen Welt bilden, liefert Richard Sennett Erklärungen, wenn er vom ‚flexiblen Menschen‘ spricht. Dies ist der typische Bewohner unserer Zeit, ein Mensch, der aufgrund seiner unermesslichen Anpassungsfähigkeit ‚flexibel‘ ist, einer der modernen Nomaden, die dorthin gehen, wo sie gerade gebraucht werden oder wo Arbeit angeboten wird.“146 In diesem, von Karahasan gezeichneten Bild eines ‚melancholisch-flexiblen Menschen‘ manifestiert sich wiederum die Herausforderung eines Denkens in Paradoxien, über das Lenzen vermerkt: „Jeder Versuch, kulturelle Verluste nicht trauernd zu überwinden, sondern, wie im Falle der Realisierung der vielen Ichs gleichsam in der Schwebe zu halten, das heißt die Melancholie nicht durch Trauer‚arbeit‘ zu ‚heilen‘, sondern zuzulassen, mündet in ein Paradoxon. Das bedeutet, daß die Frage nach der Möglichkeit von Melancholie als Lebensform in eine andere umgegossen werden müsste; in die Frage nach der Möglichkeit, mit Paradoxie zu leben.“147
Die Etablierung von Lebens- und Arbeitsumständen, die die Erstgenannte zulassen und die Letzgenannte eindämmen, ließe sich als ein erster Schritt in diese Richtung ansehen. Nicht die Abschaffung der Melancholie kann demnach das Ziel sein, sondern vielmehr die Stärkung einer subjektiven gegenüber einer historischen Melancholie. Entsprechend schreibt Karahasan, nur in Betrachtung der, sich zwischen Arbeit und Freizeit, Unfreiheit und Freiheit, Sicherheit und Prekarität, Abhängigkeit und Selbstständigkeit, Gehorsam und ‚Empowerment‘, Motivation und Hemmung, Anpassung und Verweigerung ergebenden, „Ungleichgewicht[e]“ der Spätmoderne könne man zu „möglichen Heilmitteln für unseren krankhaften melancholischen Zustand kommen. Die Frage ist nur, ob wir das wirklich wollen. (Es ist klar, daß wir unsere Epoche nicht heilen können, damit haben wir uns wohl abgefunden – es wäre dennoch großartig, wenn wir das wenigstens wollten.) […] Victor Hugo hat geschrieben, Melancholie sei die Freude, traurig zu sein. Ich fürchte, er hatte recht.“148 Karahasan sollte dies aber nicht allzu sehr fürchten, selbst wenn die „kommende Zeit“ sich als eine „Zeit der Melancholie“149 erweisen sollte. Denn lässt sich die 144 145 146 147 148 149
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Melancholie schon nicht heilen – und schon gar nicht mit Arbeit –, so hat die vorliegende Auseinandersetzung mit ihr einige Antworten und Ergebnisse zu Tage gefördert und damit bestätigt, so dass von einer „Unvermeidlichkeit“ der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen ‚Dilemmata‘ der Spätmoderne im Sinne Böhmes gesprochen werden kann.150 Denn es ist keineswegs die von Arendt prognostizierte „tödlichste[], sterilste[] Passivität“ 151, die sich in der spätmodernen Melancholie manifestiert. Die Melancholie hat vielmehr die Voraussetzungen sowie das Potential, ein gesellschaftliches Korrektiv zu sein, sie stellt sich einer herrschenden „Ideologie der Beschäftigung“152 entgegen und sie weist einen Weg jenseits von aktuellen Tendenzen, Strategien und Idealen: jenseits einer ‚Überarbeitung‘ von Arbeit im Hinblick auf ihr identitäts- wie sinnstiftendes Potential, jenseits von Euphemismen einer postfordistischen Rhetorik, jenseits einer Idealisierung von Vergangenem und auch jenseits einer Pathologisierung von Verweigerung. Was die Melancholie anbietet, leistet und auch fordert ist nichts weniger als die Revision einer sich als hegemonial erweisenden vita activa.
150 Vgl. Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not?, S. 35. 151 Arendt (2003): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 411. 152 Michael Hirsch: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 44.
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Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
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Literaturwissenschaft Rebecca Haar
Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6
Laura Bieger
Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0
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