Nostalgie und Sozialismus: Emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur 9783839441398

Defective memory or an aid in the process of healing? A fresh perspective on the potential of nostalgia for the historic

208 39 2MB

German Pages 264 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: »Süße Krankheit Gestern«?
Nostalgie, Sozialismus und Erinnerungsliteratur
Grundlagen des Nostalgiebegriffs
Nostalgie, die DDR und die PRL
Die DDR, die PRL und die Erinnerungsliteratur
Erinnerungsliteratur und Nostalgie
Poetik der Nostalgie
Sprache der Nostalgie
Motive der Nostalgie
Nostalgie – »Süße Krankheit Gestern«?
Nostalgie und Trauma: Uwe Tellkamps Der Turm
Nostalgie und Identität: Inga Iwasióws Bambino
Nostalgie und Ironie: Joanna Bators Sandberg [Piaskowa Góra]
Nostalgie und Utopie: Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts
Schluss: »In den Musennestern«
Danksagung
Literatur
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Nostalgie und Sozialismus: Emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur
 9783839441398

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Mariella C. Gronenthal Nostalgie und Sozialismus

Lettre

Mariella C. Gronenthal, geb. 1984, promovierte an der Universität Tübingen. Sie ist Komparatistin und forscht zu Erinnerungskulturen, Transkulturalität und deutsch-polnischen Literaturbeziehungen. Sie arbeitet als wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin in der politischen Bildung.

Mariella C. Gronenthal

Nostalgie und Sozialismus Emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die ADAMAS Stiftung Götz Hübner für interkulturelle Studien am griechisch-deutschen und polnisch-deutschen Beispiel und durch das Institut für Slawistik der Humboldt Universität zu Berlin. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/17 von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Mariella C. Gronenthal, Berlin, 2017 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4139-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4139-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: »Süße Krankheit Gestern«? | 7

NOSTALGIE , S OZIALISMUS UND E RINNERUNGSLITERATUR Grundlagen des Nostalgiebegriffs | 19

Etymologie und Begriffsgeschichte | 20 Theoretische Perspektiven | 24 Was ist Nostalgie? | 34 Nostalgie, die DDR und die PRL | 37

DDR-Nostalgie und Ostalgie | 38 PRL-Nostalgie | 41 Die DDR, die PRL und die Erinnerungsliteratur | 45

Die DDR in Literatur und Film nach 1989 | 46 Die PRL in Literatur und Film nach 1989 | 50 Erinnerungsliteratur und Nostalgie | 55

P OETIK DER NOSTALGIE Sprache der Nostalgie | 67

Nostalgische Erinnerungsnarrative | 69 Nostalgische Anspielungen | 74 Motive der Nostalgie | 79

Nostalgie und die Räume | 80 Nostalgie und die Dinge | 85 Nostalgie und die Sinne | 91

NOSTALGIE



»S ÜßE KRANKHEIT GESTERN«?

Nostalgie und Trauma: Uwe Tellkamps Der Turm | 103

Nostalgie und Trauma | 109 Nostalgie in Der Turm | 113 Nostalgie und Identität: Inga Iwasióws Bambino | 133

Nostalgie und Identität | 140 Nostalgie in Bambino | 144 Nostalgie und Ironie: Joanna Bators Sandberg | 167

Nostalgie und Ironie | 173 Nostalgie in Sandberg | 179 Nostalgie und Utopie: Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts | 201

Nostalgie und Utopie | 207 Nostalgie in In Zeiten des abnehmenden Lichts | 213 Schluss: »In den Musennestern« | 233 Danksagung | 243 Literatur | 245

Einleitung: »Süße Krankheit Gestern«? Dresden… in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern UWE TELLKAMP, DER TURM1

Wie ein Refrain durchzieht die sakral anmutende Anrufung der Stadt Dresden die Tagebuchaufzeichnungen des Lektors Meno Rohde in Uwe Tellkamps Roman Der Turm. Das ›Elbflorenz‹ wird hier als Erinnerungsraum konfiguriert, der durch seine Vergangenheit stärker als durch seine Gegenwart bestimmt ist. Im Zitat verbirgt sich eine Anspielung auf die antike Mythologie, in der die Erinnerungsgöttin Mnemosyne als Mutter der Musen auftritt. Während dort die Kunst aus der Erinnerung geboren wird, so geben bei Tellkamp die Künste der Erinnerung einen (Lebens-)Raum in den »Musennestern«. Das Gestern wird dabei als Kippfigur inszeniert – es steht an der Schwelle zwischen Süße und Krankheit, zwischen Genuss und Verderb. So entsteht ein komplexer und vieldeutiger Erinnerungsbegriff, der sich nicht an Fakten, sondern an Empfindungen orientiert. Die Formel illustriert also zweierlei, nämlich die Verflechtung von Erinnerung und Kunst und die emotionale Ambivalenz des Erinnerungsprozesses. Sie

1

UWE TELLKAMP 2008: Der Turm. Frankfurt am Main. S. 11. Kursiv i.O. Der Satz tritt außerdem an folgenden Stellen auf: S. 342, 345f., 361, 362, 363, 371, hier überall in Verbindung mit dem einleitenden Satz: »Und hörte die Spieluhr:«. Die vier Romane, die im Zentrum der Arbeit stehen – auf deutscher Seite Uwe Tellkamps Der Turm und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts, auf polnischer Seite Inga Iwasióws Bambino und Joanna Bators Sandberg [Piaskowa Góra] – werden im Folgenden unter Angabe von Kurztitel und Seitenzahl fortlaufend im Text zitiert. In diesem Buch wird das generische Maskulinum verwendet. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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nimmt nicht auf ein faktenorientiertes Gedächtnis Bezug, sondern veranschaulicht subjektive Perspektiven auf die Vergangenheit und einen künstlerischkreativen Umgang damit. Die »süße Krankheit Gestern« bezeichnet weniger das Ergebnis einer Erinnerung als vielmehr den Prozess, der sich durch den Einfluss von Gefühlen auszeichnet. Es handelt sich, kurzum, um eine Metapher für Nostalgie. Nostalgie als Krankheit zu bezeichnen ist begriffsgeschichtlich durchaus angemessen. So stammt der Terminus ursprünglich aus einer medizinischen Dissertation von Johannes Hofer aus dem Jahr 1688, in der damit ein pathologisches Heimweh bezeichnet wird.2 Handelt es sich bei der Nostalgie also um eine Anomalie im vormals gesunden Organismus der Erinnerung? Joachim Gauck bezeichnet in einer Rede zum 56. Jahrestag des Volkaufstands vom 17. Juni 1953 die »verlogene, süßliche Nostalgie« als »eine Erinnerungsform, die ohne Schmerz auskommt, ohne Scham, ohne Trauer und ohne Reue.«3 Auch hier ist die Nostalgie als dysfunktionale Erinnerung charakterisiert, und zwar deswegen, weil sie sich auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit beschränkt und andere ausblendet. Diese Selektivität wird mit dem Hinweis auf die Verlogenheit gar als Geschichtsverfälschung gedeutet. Nostalgie – eine Gefahr für Leib und Leben des kulturellen Gedächtnisses? Gaucks Formulierung ist insofern problematisch, als dass sie eine Vermischung der Begrifflichkeiten von Geschichte, Erinnerung und Nostalgie vornimmt. Bereits 1999 fordert Marius Kwint – im vollen Bewusstsein der Notwendigkeit, die Begriffe zu differenzieren – eine Hinwendung von der Geschichte zur Erinnerung: »History […] should fully admit to its illusory and constructed nature, and stop pretending that it refers to a real process which is amenable to systematic analysis and even prediction. For a truer understanding of the significance and causality of the past we should reckon more with memory, embracing all its subjective viewpoints, since awareness of the past depends on it.«4

2

JOHANNES HOFER 1688: Dissertatio medica de nostalgia, oder Heimweh. Basel: Typis Jacobi Bertschii. Zugriff unter URL: http://www.e-rara.ch/doi/10.3931/e-rara18924. Letzter Zugriff am 24.04.2014.

3

JOACHIM GAUCK 2010: »Rede zur Gedenkveranstaltung 17. Juni 1953 am 17.6.2009.« In: JOACHIM KLOSE (Hrsg.): Wie schmeckte die DDR? Wege zu einer Kultur des Erinnerns. Leipzig. S. 470-477. Hier S. 476.

4

MARIUS KWINT 1999: »Introduction: The Physical Past.« In: DERS./BREWARD/AYNSLEY

1999, S. 1-16. Hier S. 1.

E INLEITUNG : »S ÜßE K RANKHEIT G ESTERN «?

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Während Disziplinen wie die Anthropologie, die Ethnologie und die Kulturwissenschaft die Subjektivität in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bereits seit bald zwei Dekaden als Teil ihrer wissenschaftlichen Forschung akzeptieren, geht der öffentliche Erinnerungsdiskurs nicht nur in Deutschland noch immer von einem Geschichtsverständnis aus, das historische Ereignisse rational und von individuellen Abweichungen bereinigt aufarbeitet, das Individuum in diesem Prozess möglichst ausspart und bestimmte (geschichts-)politische Botschaften übermittelt. Damit hängt die mitteleuropäische Erinnerungskultur, den geschichtswissenschaftlichen Debatten zum Trotz, fest am Konzept der Meistererzählung.5 Persönliche, emotionale Zugänge zu historischen Ereignissen oder Erfahrungen stehen besonders harsch in der Kritik, wenn sie nostalgische Narrative ausbilden, die einen Anspruch auf Teilhabe an der kollektiven Erinnerung mit sich bringen. Gleichzeitig ist Nostalgie als individuelles Phänomen und Sehnsucht etwa gegenüber der eigenen Kindheit oder Jugend losgelöst von politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in der Regel unstrittig. Schließlich ist sie im 21. Jahrhundert auch ein integraler Bestandteil von Alltagserfahrung in westlichen Zivilisationen, und zwar nicht zuletzt durch ihre Instrumentalisierbarkeit im Marketing. »Retro« und »Vintage« spielen in Mode und Design eine Rolle, Konsumgüter gewinnen ihr Ansehen durch einen nostalgischen »Kultstatus«, und zahlreiche Filme und Serien werden in Remakes neu aufgelegt – von der SitcomSequel Fuller House bis zu Hollywood-Blockbustern wie Ghostbusters. Hier wird die nostalgische Bezugnahme als spielerisch-kreative Referenz auf die Vergangenheit begriffen, in der nicht mehr im Pathologischen, sondern im Künstlerischen das dominante Charakteristikum liegt – und die einen finanziellen Wert hat. Von einer destruktiven Kraft oder einer unmoralischen Abkehr von Scham und Reue, wie sie Joachim Gauck beanstandet, ist hier keine Rede. So steht die Salonfähigkeit von Nostalgie im Rahmen eines kapitalistischen Konsumismus in drastischem Gegensatz zu ihrer Dämonisierung im erinnerungspolitischen Kontext. Es ist womöglich genau durch diesen Widerspruch zu begründen, dass die negative Konnotation, die der Nostalgie anhaftet, in der Auflösung begriffen ist. Nachdem der Begriff lange ein Schattendasein in der akademischen Welt gefristet hat, wird er inzwischen in verschiedenen Disziplinen intensiv und kontrovers diskutiert. Nostalgie schickt sich an, nicht nur in ei5

Zur nationalen Meistererzählung und der Kritik daran vgl. z.B. KONRAD H. JARAUSCH 2012: »Die Krise der nationalen Meistererzählungen: ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative.« In: Historical Social Research, Supplement 24, S. 273-291. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-379113. Letzter Zugriff am 29.08.2016.

10 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

nem individualpsychologischen Sinne, sondern stellenweise auch in ihrer Bedeutung für den öffentlichen Erinnerungsdiskurs als produktive Kraft rehabilitiert zu werden. Dabei wird der Begriff im Rahmen von Debatten um Erinnerungskultur neu verortet und auch hier in seiner Subjektivität, Emotionalität und seinen schöpferischen Möglichkeiten anerkannt. Zur Anerkennung des produktiven Potenzials der Nostalgie auch im Rahmen der Erinnerungskultur soll dieser Band einen Beitrag leisten. Nostalgie ist vielschichtiger, als es das Bild vom Parasiten einer andernfalls ›gesunden‹ Erinnerung suggeriert. Die Konfiguration des Begriffs als Krankheit ist schon deswegen unzulänglich, weil sie davon ausgeht, dass zwischen guten echten und schlechten falschen Erinnerungen unterschieden werden könnte. Dass Erinnerung grundsätzlich unzuverlässig, subjektiv und selektiv ist, hat die erinnerungspolitische Kritik an der Nostalgie bislang außer Acht gelassen. Eine Neubewertung der Nostalgie ist deshalb seit Langem überfällig, spätestens aber seit der von Thomas Anz für die Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren postulierten »Konjunktur der Emotionsforschung«6 und dem daran anschließenden Affective Turn.7 In der aktuellen Aufhebung der Dichotomien von »Verstand und Gefühl, Kognition und Emotion«8 gilt es, insbesondere kollektive Nostalgie neu zu kontextualisieren und ihre Erscheinungsformen, ihre Ursachen und ihre kulturellen und gesellschaftlichen Funktionen für die kollektive Erinnerung zu entdecken und zu hinterfragen. Besonders kontrovers ist der real existierende Sozialismus als Objekt von Nostalgie diskutiert worden. Die Auseinandersetzung damit beschränkt sich auch nicht nur auf Deutschland, sondern sie existiert in ganz Ostmitteleuropa. 9 Debat-

6

THOMAS ANZ 2007: »Kulturtechniken der Emotionalisierung« In: KARL EIBL/KATJA MELLMANN/RÜDIGER ZYMNER (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn. S. 207239. Hier S. 207.

7

Während der Emotional Turn in den 1980er und teils schon in den 1960er Jahren verortet wird, ist die neueste Hinwendung zum Gefühl in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mit dem Begriff des Affective Turn belegt, vgl. BENNO GAMMERL/BETTINA HITZER 2013: »Wohin mit den Gefühlen? Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften.« In: Berliner Debatte Initial 3, Jg. 24. S. 3140.

8

ANZ 2007, S. 208.

9

Eindrucksvoll wird dies belegt durch eine polnische Anthologie von FATOS T. LUBONJA

(Hrsg.) 2002: Nostalgia. Eseje o tęsknocie za komunizmem. Wołowiec. Der al-

banische Schriftsteller versammelt hier, wie es der Titel verheißt, Texte über die »Sehnsucht nach dem Kommunismus« von Schriftstellern aus Albanien, Belarus,

E INLEITUNG : »S ÜßE K RANKHEIT G ESTERN «?

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ten gestalten sich hier meist als moralische Grundsatzdiskussionen zwischen denjenigen, die jede positive Bezugnahme auf sozialistische Regime als Gefahr für den demokratischen Gedanken einstufen, wie es das erwähnte Zitat von Joachim Gauck demonstriert, und denjenigen, die sich um eine Erinnerungskultur bemühen, die eine Vielzahl von individuellen Perspektiven einbezieht. Auch hier zeichnet sich als Grundsatzproblem ab, dass nostalgischer Erinnerung eine historische Faktizität abgesprochen wird. Im Blick auf die jüngere Forschung fallen daran anschließend zwei grundsätzliche Bewertungskriterien ins Auge: Nostalgie kann erstens daran gemessen werden, was sie über die Vergangenheit aussagt. Die nostalgieskeptischen Ansätze der Geschichts- und Politikwissenschaften sowie der Soziologie fallen in der Regel in diese Kategorie. Sie konzentrieren sich auf das verfälschende Potenzial nostalgischer Erinnerungen und werfen ihnen mangelnde Authentizität, Verklärung, Kitsch und unangebrachte Romantik vor. Demgegenüber gibt es eine zweite Herangehensweise, die danach fragt, welchen Beitrag Nostalgie zum Verständnis der Gegenwart leistet. Es sind vor allem kulturtheoretische und anthropologische Forschungen, die Nostalgie auf ihre Produktivität für die Gegenwart hin untersuchen, ihr kreatives Potential mit einbeziehen und ihr damit eine Stellung zuweisen, die über ein regressives Verharren in alten Denkmustern hinausgeht. Der Grad der Skepsis gegenüber der Nostalgie erscheint dabei stark an die Methode der jeweiligen Wissenschaft gekoppelt: Quantitative Datenerhebungen und Faktensammlungen werden durch subjektive Elemente wie den Affekt verwässert, während im Rahmen von qualitativer Forschung intersubjektiv die verschiedenen Wahrnehmungen einbezogen werden können, welche die Nostalgie generiert. Wenn es der Nostalgie aber gar nicht um eine wahrheitsgemäße Abbildung von Erinnerung im Sinne einer geschichtswissenschaftlichen Faktenorientierung geht, sondern um individuelle Perspektivierung und originelle Aneignung einer subjektiv wahrgenommenen Vergangenheit, dann verfehlt die Kritik das Selbstverständnis der Nostalgie. Sie ist nicht gleichzusetzen mit Erinnerung, sondern vielmehr als eine subjektive und emotionale Perspektive auf die erinnerte Vergangenheit zu begreifen, zu diskutieren und zu kritisieren. Die Literaturwissenschaft hat sich in dieser Debatte bislang noch nicht eindeutig positioniert, wenngleich es im anglophonen Raum bereits einige Forschungsarbeiten gibt, in denen die Verbindung von Nostalgie und Literatur in den Mittelpunkt gerückt wird.10 Insbesondere Überlegungen zum kreativen PoDeutschland, Estland, Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, der Ukraine und Ungarn. 10 Vgl. JOHN J. SU 2009: Ethics and Nostalgia in the Contemporary Novel. Cambridge sowie DENNIS WALDER 2011: Postcolonial Nostalgias. Writing, Representation, and

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tenzial von Nostalgie sind jedoch bislang weitgehend der Kulturanthropologie überlassen worden. Das bekannteste Werk in diesem Rahmen ist zweifelsohne Svetlana Boyms The Future of Nostalgia.11 Ihre Unterscheidung einer ›restorativen Nostalgie‹, die sich selbst als wahrhaftige Rekonstruktion einer glorifizierten und als kohärent empfundenen Vergangenheit begreift, und einer ›reflektiven Nostalgie‹, die ein erfinderisches und bisweilen ironisches Spiel mit Erinnerungsfragmenten betreibt, hat die Begriffsgeschichte der Nostalgie nachhaltig geprägt. Boyms Terminologie wird auch durchaus gewinnbringend in der Literaturwissenschaft zur Anwendung gebracht. Allerdings ist ihre Methode selbst nicht philologisch, sondern kulturwissenschaftlich, ihr Stil essayistisch und ihre Beispiele transdisziplinär. Sicherlich ist der große Erfolg ihrer Studie in genau diesen Eigenschaften begründet. Es fehlt indes an Untersuchungen, die die Funktion von Nostalgie im literarischen Erinnerungsdiskurs betrachten, anthropologische Ansätze einbeziehen und dabei gleichzeitig Fragen nach Poetik und Ästhetik der Nostalgie nicht außer Acht lassen. Dies ist bemerkenswert, liegt Nostalgie doch mitten im Spannungsfeld von Erinnerung und narrativer Fiktion, wie es Dennis Walder treffend formuliert.12 Die nachfolgenden Beobachtungen verstehen sich deshalb entschieden als literaturwissenschaftlich-philologisch. Gleichzeitig stützen sie sich auf kulturanthropologische Texte und Methoden, mit deren Hilfe Nostalgie in der neuesten Erinnerungsliteratur als poetologische wie auch kulturelle Größe erfasst werden soll. Die Untersuchung folgt dementsprechend zwei Leitfragen: • Welche Rolle spielt Nostalgie für die Erinnerungskultur? Welchen produkti-

ven Beitrag leistet Nostalgie für die Aufarbeitung und das Verständnis von Geschichte? Inwiefern bereichern und erweitern nostalgische Perspektiven den öffentlichen erinnerungspolitischen Diskurs? • Wie wird Nostalgie in der Erinnerungsliteratur eingesetzt? Gibt es eine Poetik der Nostalgie, die sich in bestimmten ästhetischen Strategien niederschlägt? Ist Memory. New York. Im Bereich Film ist RYAN LIZARDI 2015: Mediated Nostalgia. Individual Memory and Contemporary Mass Media. Lanham, MD et.al. zu nennen. 11 SVETLANA BOYM 2001: The Future of Nostalgia. New York. Vgl. außerdem DAPHNE BERDAHL 2010: On the social life of postsocialism. Memory, consumption, Germany. Bloomington et.al. sowie SHARON MACDONALD 2013: Memorylands. Heritage and identity in Europe today. New York. 12 WALDER 2011, S. 7: »Memory and fictional creation appear to be inextricably entwined; and somewhere in there lies nostalgia, with all the ambiguities and contradictions it brings in its wake.«

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Nostalgie nur als ein Motiv zu verstehen oder handelt es sich darüber hinaus um eine Gedankenfigur, die nicht nur beschrieben wird, sondern die dem Schreiben selbst Form gibt und es gestaltet? Um diese Fragen zu beantworten, wird eine Analyse jüngster Erinnerungsromane vorgelegt, die sich mit dem real existierenden Sozialismus auseinandersetzen: Der Turm von Uwe Tellkamp (2008), Bambino von Inga Iwasiów (2008), Sandberg [Piaskowa Góra] von Joanna Bator (2009) und In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge (2011). Die Textauswahl erhebt nicht den Anspruch auf Repräsentativität in Bezug auf die Nationalliteraturen und ihren Umgang mit der DDR bzw. der Volksrepublik Polen. Vielmehr sollen Fallstudien dazu vorgelegt werden, wie durch den Einsatz von Nostalgie der öffentliche Erinnerungsdiskurs um wertvolle und von der Geschichtswissenschaft vernachlässigte Elemente erweitert wird. In allen vier Romanen ist außerdem eine ästhetische Relevanz der Nostalgie zu beobachten, die die poetologischen Dimensionen der Texte mitbestimmt. Weil es sich bei dem besonderen Verhältnis von Nostalgie und Erinnerung an den real existierenden Sozialismus um ein transnationales Phänomen handelt, ist eine komparatistische Untersuchung von besonderem Wert. Die Beschränkung auf zwei Kulturräume wird zugunsten sorgfältiger Arbeit am Material vorgenommen. Ziel ist es nicht, eine Überblicksdarstellung zu verfassen, sondern tiefgreifende textanalytische Arbeit an jedem einzelnen Text zu leisten. Dabei sind die nationalkulturellen Spezifika Deutschlands und Polens mit einzubeziehen. Gleichzeitig eignen sich die ausgewählten Texte als komparatistischer Untersuchungsgegenstand, weil sie sich in zeitgenössische Mitteleuropadiskurse einschreiben. Sie werfen gleichsam die Frage nach einer mitteleuropäischen Qualität der Nostalgie auf.13 Es geht im Folgenden nicht – oder nur sehr eingeschränkt – um die so genannte Ostalgie, auch wenn dieses Phänomen im Hinblick auf eine Verbindung von Nostalgie mit den sozialistischen Regimen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts natürlich naheliegt. Nostalgie tritt in den ausgewählten Romanen jedoch auf unterschiedliche Art und Weise in Erscheinung und erfüllt verschiedene Funktionen, die sich nicht auf das beschränken, was in der Regel unter Ostalgie verstanden wird. So richtet sich Nostalgie in den Romanen beispielsweise bei weitem nicht nur auf die DDR oder die Volksrepublik Polen selbst, sondern auch auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Ausgehend davon, dass Nostalgie nicht 13 Den Zusammenhang zwischen Mitteleuropakonzepten und Nostalgiebegriffen behandelt ein Aufsatz d. Verf. unter dem Titel »Longing for the Empty Space – Nostalgia and Central Europe«, dessen Erscheinen in Vorbereitung begriffen ist.

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so sehr über die Vergangenheit urteilt, sondern vielmehr die Gegenwart beleuchtet, ist die nostalgische Rückwendung zur Vorkriegszeit auch ein wichtiger Faktor für die Erinnerung an die Ära des Sozialismus. Ziel dieses Bandes ist dementsprechend nicht nur eine Rehabilitierung des Nostalgiebegriffs und eine klare Konturierung seiner literarischen Ästhetik, sondern es soll auch eine neue Perspektive auf die belletristische Aufarbeitung der jüngsten mitteleuropäischen Geschichte aufgezeigt werden, die mittels Nostalgie imstande ist, Diskurslücken zu schließen. Methodisch soll eine möglichst enge Verzahnung theoretisch-konzeptioneller Überlegungen und literarisch-poetologischer Analysen erreicht werden. Im ersten Teil Nostalgie, der real existierende Sozialismus und die Literatur werden deshalb zunächst die Grundlagen des Nostalgiebegriffs bestimmt und zueinander in Bezug gesetzt. Um Nostalgie für die literaturwissenschaftliche Praxis fruchtbar zu machen, ist es notwendig, sich mit ihrer Begriffsgeschichte und ihrer theoretischen Konzeptualisierung auseinanderzusetzen. Emotionalität, Narrativität und das Raum-Zeit-Verhältnis der Nostalgie stehen dabei im Mittelpunkt. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den semantischen Dimensionen des Begriffs wird eine Definition vorgeschlagen. Diese Definition wird dann in Bezug gesetzt zu Diskussionen über nostalgische Erinnerungen an den real existierenden Sozialismus in Deutschland und Polen. Die nationalspezifischen Nostalgiedebatten werden im Kontext der jeweiligen Erinnerungskultur des Landes besprochen, so dass die Kontroversen deutlich werden. Daraufhin wird ein Überblick über die Auseinandersetzung mit der DDR und der Volksrepublik Polen in der zeitgenössischen Literatur der beiden Länder gegeben und schließlich das Textkorpus im Spannungsfeld von Nostalgie, real existierendem Sozialismus und Literatur verortet und begründet. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine organische Herleitung des literarischen Materials aus den zuvor etablierten Begrifflichkeiten und Fragestellungen. Der zweite Teil Poetik der Nostalgie kann so bereits gezielt auf das Textkorpus zurückgreifen. Um das ästhetische Potenzial der Nostalgie zu fassen, werden Textstellen aus den vier Romanen vergleichend analysiert, die nostalgische Qualitäten aufweisen. Dadurch wird auch gewährleistet, dass die anschließenden Textanalysen strukturell nicht zu weit voneinander abweichen und von einem einheitlichen Nostalgieverständnis ausgehen. Gleichzeitig ermöglicht dieser Teil eine genuin komparatistische Einführung in das Material, bevor die Romane Einzeltextanalysen unterzogen werden. Im Zuge dessen werden zunächst sprachliche Verfahren identifiziert, durch die Nostalgie in Texten zum Ausdruck kommt. Grundsätzliche Möglichkeiten der narrativen Repräsentation von Nostalgie werden besprochen und damit der philologischen Perspektive auf das Phä-

E INLEITUNG : »S ÜßE K RANKHEIT G ESTERN «?

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nomen der gebührende Platz eingeräumt. Anschließend stehen literarische Metaphorik und Motivik der Nostalgie im Mittelpunkt. Um die Bedeutung von Raumwahrnehmung, Materialität und Sinneseindrücken zu verdeutlichen, sind kulturwissenschaftliche und anthropologische Bezüge vonnöten. Im umfangreichen dritten Teil Nostalgie – »Süße Krankheit gestern«? werden schließlich Einzeltextanalysen der Romane in der Reihenfolge ihres Erscheinungsdatums vorgenommen. Sie dienen dazu, das erinnerungskulturelle und das erinnerungsliterarische Potenzial des Nostalgiebegriffs gleichermaßen zu beleuchten. Im Sinne einer pointierten Analyse wird für jeden Roman ein Schwerpunkt gewählt, der in ein befruchtendes Wechselverhältnis mit Nostalgie tritt und mit dessen Hilfe sich deshalb Funktionen nostalgischer Narrative herausarbeiten lassen. Im Hinblick auf die sozialistische Vergangenheit Deutschlands und Polens dreht sich die Kontroverse um den Begriff der Nostalgie meistens um das in der Öffentlichkeit deutlich dominantere Erinnerungsnarrativ des real existierenden Sozialismus als einer traumatischen Erfahrung im Nationalkollektiv. Deswegen wird im Kapitel über Uwe Tellkamps Der Turm die Nostalgie in Bezug zum Trauma gesetzt und aufgezeigt, dass beide Phänomene sich nicht gegenseitig ausschließend, sondern komplementär zueinander verhalten. Das Zusammenspiel der Nostalgie mit der Identität wird im Kapitel über Inga Iwasióws Bambino verhandelt. Die Brücke zwischen beiden Begriffen ist vergleichsweise leicht über den Begriff der Erinnerung zu schlagen. Gerade nostalgische Erinnerungen tragen maßgeblich zur Konstruktion von Identitäten bei, weil sie ein hohes Identifikationspotential bergen und das Individuum sie dementsprechend willentlich als Teil seiner selbst anerkennt. Solche nostalgisch beeinflussten Identitätsbildungsprozesse sind auch und gerade für die Erinnerungskultur von Relevanz. In vielen Nostalgietheorien kommt Nostalgie als Ausdruck eines spielerischen und kreativen Umgangs mit der Vergangenheit zum Tragen. Nostalgische Narrative können die Vergangenheit ver- und überformen und dadurch bestimmte Elemente besonders prägnant in den Mittelpunkt stellen, die Rahmen etwa von geschichtswissenschaftlichen Meistererzählungen nicht auftreten. Ein wichtiges Mittel hierfür sind komische und ironische Verfahren. Im Kapitel über Joanna Bators Sandberg werden deshalb die Zusammenhänge von Nostalgie und Ironie fokussiert. Schließlich werden die strukturellen Parallelen von Nostalgie und Utopie im Kapitel über Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts thematisiert. Beide Phänomene konstruieren einen alternativen Vorstellungsraum, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht gegenwärtig und deshalb unerreichbar ist. In beiden

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Fällen speist sich die Motivation für eine solche Alternative aus empfundenen Mängeln in der Gegenwart, so dass die Nicht-Gegenwart zum Projektionsraum für ideologisch konfigurierte Wunschvorstellungen wird. Nostalgische und utopische Narrative treffen dementsprechend relevante Aussagen über ihre Entstehungsgegenwart sowie deren Erinnerungskultur. Die vier Begriffe Trauma, Identität, Ironie und Utopie, die die Lektüre erhellen und die Analyse fokussieren, spielen gleichwohl in allen vier Romanen ebenso eine Rolle wie Nostalgie. Gelegentliche Querverweise sind deswegen unumgänglich und in einer komparatistischen Arbeit auch wünschenswert, damit die Textanalysen nicht in der jeweiligen Einzelphilologie verbleiben. Jedes der textanalytischen Kapitel enthält neben einer Einführung in das Romangeschehen und einem Überblick über die feuilletonistische Debatte und den Forschungsstand einen theoretischen Abschnitt über das Verhältnis der Nostalgie zum jeweiligen Schlüsselbegriff der Analyse, der den Boden für die jeweilige Auseinandersetzung mit dem Roman bereitet. Dabei sind die anschließenden Textanalysen einem fundierten narratologischen Grundverständnis ebenso verpflichtet wie einer hermeneutischen Herangehensweise, die sich gleichsam kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Einflüssen nicht verschließt. Schließlich hat jede Lektüre nicht nur ein bloßes Textverständnis auf Ebene der Geschichte und des Diskurses zum Ziel, sondern beinhaltet auch ein Erkenntnisinteresse bezüglich der Relevanz des Textes inner- und außerhalb der (literatur-)wissenschaftlichen Forschung. Im Schlusskapitel wird nochmals das komparatistische Potenzial des Gegenstands ausgeschöpft, indem die Beziehungen zwischen Nostalgie und Trauma, Identität, Ironie und Utopie über die Einzeltextanalyse hinaus in Bezug auf das gesamte Textkorpus reflektiert werden. Dadurch wird die Vergleichbarkeit der Texte, die im Rahmen der Überlegungen zur Poetik der Nostalgie bereits zum Tragen gekommen ist, zur Grundlage dafür, die Rolle der Nostalgie für die Ästhetik der Erinnerungsliteratur und für die Ausgestaltung von Erinnerungskultur systematisch zu beschreiben.

Nostalgie, Sozialismus und Erinnerungsliteratur

Grundlagen des Nostalgiebegriffs Nostalgia figures prominently in struggles over the creation of collective memory precisely because it is a key concept in the political conflict over modernity—an important weapon in the debate over whose memories count and what kinds of desires and harms are politically relevant. KIMBERLY SMITH1

Kimberly Smith erklärt in ihrem Aufsatz »Mere Nostalgia: Notes on a Progressive Paratheory«, warum Nostalgie für erinnerungspolitische Debatten von Bedeutung ist: Ihr zufolge kann Nostalgie dahingehend instrumentalisiert werden, dass sie bestimmte Erinnerungen entweder für politisch relevant erklärt oder aber diskreditiert. Zwar diskutiert Smith im Folgenden weniger die positiven Effekte dieser Funktion der Nostalgie, die bestimmte Erinnerungen in den Fokus rücken, als vielmehr die Gefahr ihres manipulativen Potenzials. Vor allem bringt sie aber die grundsätzliche Tatsache zur Sprache, dass Nostalgie eine politische Macht besitzt, die reflektiert werden muss. Dabei muss daran gelegen sein, die erinnerungspolitischen Potenziale und Funktionen von Nostalgie zu verstehen. Im Folgenden wird Nostalgie deswegen im Hinblick auf ihre semantische Vielfalt, ihre erinnerungspolitische Relevanz und ihre ästhetische Umsetzung in der Erinnerungsliteratur beleuchtet. Der Zusammenhang der zentralen Denkfiguren muss erläutert und theoretisch fundiert werden, namentlich der Bezug zwischen Nostalgie, real existierendem Sozialismus und Literatur.

1

KIMBERLY K. SMITH 2000: »Mere Nostalgia: Notes on a Progressive Paratheory.« In: Rhetoric & Public Affairs 4, Vol. 3. S. 505-527. Hier S. 507.

20 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

Zu diesem Zwecke schafft eine etymologische Analyse des Nostalgiebegriffs die Grundlage für seine theoretische Ausdifferenzierung. Es ergeben sich drei Dimensionen: Nostalgie wird erstens als Emotion kategorisiert, zweitens die von ihr ausgebildeten (kulturellen) Narrative beleuchtet und drittens die nostalgische Verschränkung von Raum und Zeit in den Blick genommen. Anschließend wird eine Definition des Begriffs entworfen, die seine Relevanz für die Erinnerungskultur herausstellt.

E TYMOLOGIE

UND

B EGRIFFSGESCHICHTE

Nostalgie fordert transdisziplinäre Betrachtungsweisen heraus. Der Begriff entstammt der Medizin, wird heute jedoch häufiger in der Psychologie verortet. Gleichzeitig machen ihn sich auch die Philologien, die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft sowie die Anthropologie, Soziologie und Ethnologie zunutze. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit liegt vor allem im Spannungsfeld von Geschichts- und Literaturwissenschaft. Ein Einstieg über Etymologie und Begriffsgeschichte, der disziplinäre Grenzen überschreitet, ist deshalb zwingend notwendig. Zu viele Forschungsarbeiten haben bisher ihren Nostalgiebegriff entwickelt, ohne sich die besonderen Bedeutungsdimensionen des Wortes zu vergegenwärtigen. Die meisten Texte, die mit Nostalgie arbeiten, nähern sich dem Begriff unter Bezugnahme auf seine Entstehung als Kunstwort und auf die Bedeutung der Wortbestandteile nostos (Rückkehr) und algos (Schmerz). In der Regel bleibt es bei diesem Verweis, dem keine ausführliche Diskussion der Etymologie folgt. Allenfalls wird der Bedeutungswandel vom medizinisch-körperlichen Leiden zur psychischen Verfasstheit noch angerissen. Dabei tragen die Wort- und Begriffsgeschichte bereits Hinweise auf die relevanten Aspekte der Nostalgie in sich.2 Erstmals geprägt wird der Begriff in der Dissertation Johannes Hofers aus dem Jahr 1688, in der Nostalgie als ein medizinisches Phänomen etabliert wird. Hofer geht sowohl vom deutschen Heimweh als auch vom französischen Mala-

2

Einen Überblick über die Begriffsgeschichte und den Bedeutungswandel gibt JEAN STAROBINSKI 1966: »The Idea of Nostalgia.« In: Diogenes 54, Vol. 14. S. 81-103. URL: http://dio.sagepub.com/content/14/54/81.full.pdf+html. Letzter Zugriff am 06.04.2016. Die verschiedenen ideengeschichtlichen Appropriationen des Begriffs diskutiert HELMUT ILLBRUCK 2012: Nostalgia. Origins and Ends of an Unenlightened Disease. Evanston, IL.

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die du Pays (im gegenwärtigen Französisch Mal du Pays) aus, um sich dem zu beschreibenden Krankheitsbild anzunähern. Er erläutert: »Aber gewiss bot sich bei der Wahl des Namens kein angemessenerer, um die zu erklärende Sache präziser zu bestimmen, als die Vokabel der Nostalgia, im Ursprung griechisch, & eben aus zwei Wörtern zusammengesetzt, deren eines Νόστος die Rückkehr in das Vaterland, das andere Α͗ʹλγος Schmerz oder Traurigkeit bedeutet: So ist es kraft des Wortes Νοσταλγία möglich, die traurige Empfindung zu bestimmen, die aus dem glühenden Verlangen nach der Rückkehr in das Vaterland herstammt.«3

Nostalgie beschreibt bei Hofer einen Zustand, in dem sich Schweizer Soldaten im Feld befanden, wenn sie von der Sehnsucht nach der Schweiz überkommen wurden. Im Text ergibt sich durch die lateinischen Übersetzungen der griechischen Vokabeln die besondere Qualität des Begriffs: Er setzt sich aus einem räumlichen Sem (Heimatland [lat. patria]), einem zeitlichen Sem (Rückkehr [lat. reditum]) und einem affektiven Sem (Schmerz [lat. dolor] oder Traurigkeit [lat. tristitia]) zusammen. Nostalgie ist folglich mehr als nur Heimweh, denn der erste Bestandteil ist eben nicht das griechische πατρίς [patris] für Heimat, sondern die Heimkehr. In Bezug auf nostos ist dementsprechend das Verhältnis von Raum und Zeit zu diskutieren. Der zweite Bestandteil algos steuert die emotionale Dimension des Begriffs bei. Der Wortbestandteil nostos wirft mit der Gewichtung des Räumlichen und des Zeitlichen eine der grundsätzlichen Streitfragen in der Begriffsgeschichte der Nostalgie auf. Wenn mit dem Wort bei Homer die Heimkehr des Odysseus und das Ende seiner Irrfahrten charakterisiert werden, liegt der Schwerpunkt zwar im räumlichen Bereich.4 Es ist jedoch die prozessuale, dynamische Komponente, 3

HOFER 1688, §2: »Neque vero de nomine deliberanti convenientuis occurit, remque explicandum praecisius designans, quam Nostalgiae vocabulum, origine graecum, & quidem duabus ex vocibus compositum, quorum alterum Νόστος Reditum in Patriam, alterum Α͗ʹλγος dolorem aut tristitiam significat: Ut adeo ex vi vocis Νοσταλγία designare possit tristem animum ex reditus in patriam ardenti desiderio oriundum.« Übersetzungen aus dem Polnischen, Lateinischen und Altgriechischen, sofern nicht anders vermerkt, von d. Verf. Das Original findet sich jeweils in der Fußnote. Publizierte Übersetzungen werden im Literaturverzeichnis direkt im Anschluss an das Original aufgeführt, die Übersetzer sind dort angegeben.

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HOMER 132007: Odyssee. Griechisch und deutsch (= Sammlung Tusculum). Aus dem Alt-Griechischen von Anton Weiher. Düsseldorf. S. 7: »Muse! Erzähl mir vom wendigen Mann, der die heilige Feste / Trojas zerstörte! Er sah dann auf mannigfaltiger Irrfahrt / Vieler Menschen Städte; er lernte ihr Sinnen und Trachten, / Duldete viel

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die die Heimkehr von der Heimat unterscheidet und die das Verständnis von Nostalgie als einem zeitlichen Konzept überhaupt erst ermöglicht.5 Dieser semantische Wandel vom Räumlichen zum Zeitlichen wird in der begriffsgeschichtlichen Diskussion bei Jean Starobinski im 18. Jahrhundert verortet. Starobinski konstatiert, dass es sich bei Nostalgie nicht um eine Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit handelt, sondern vielmehr nach der Jugend an sich und damit einem Zeitraum, der sich wiederum vor allem durch das Individuum selbst definiert.6 Demgegenüber stehen Konzepte der Nostalgie, in denen sich eine vergangene Phase des eigenen Lebens und eine klar definierte historische Situation überschneiden und ineinander verflechten. Christopher Lasch entdeckt eine solche Nostalgie im Zusammenhang mit den 1920er Jahren. Zunächst, so argumentiert er, geschah in dieser Zeit eine kollektive Nostalgisierung der Vorkriegsvergangenheit, die mit der Sorglosigkeit und der Unschuld, also mit Attributen der Kindheit assoziiert wurde.7 Später wurden die 1920er Jahre selbst zum Gegenstand der Nostalgie, und zwar erstmals losgelöst von der Sehnsucht nach der Kindheit: »This idealization of the twenties, even more than the twenties’ own idealization of the prewar era as an age of innocence, marks a turning point in the history of nostalgia. For the first time, nostalgic sentiment – only recently named as such – directed itself not to und tief im Gemüte die Leiden des Meeres, / Rang um die eigene Seele, um Heimkehr seiner Gefährten.« (Herv. d.Verf.) [»ἄνδρα μοι ἔννεπε, μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ / πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσεν: / πολλῶν δ᾽ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω, / πολλὰ δ᾽ ὅ γ᾽ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν, / ἀρνύμενος ἥν τε ψυχὴν καὶ νόστον ἑταίρων.« (ebd., S. 6, Herv. d.Verf.)] In der vierten Zeile tritt auch der Begriff algos, hier im Plural als ἄλγεα, auf. Er bezieht sich auf die »Leiden« bzw. die Hindernisse, die Odysseus auf seiner Fahrt durchlebt – also wortwörtlich die Schmerzen, die mit der Heimkehr verbunden sind. 5

So geht es auch in der Odyssee nicht nur darum, nach Hause zurückzukehren, sondern den Status Quo wieder herzustellen, die Freier aus dem Haus zu vertreiben und das Eheleben mit Penelope wieder aufzunehmen. Odysseusʼ Heimkehr ist damit auch eine Rückkehr in eine Lebenssituation, die bereits der Vergangenheit angehörte – ein Ausdruck von Nostalgie insofern, als dass die Vergangenheit in der Gegenwart reproduziert wird.

6

STAROBINSKI 1966, S. 94: »[W]hat a person wishes to recover is not so much the actual place where he passed his childhood but youth itself« (Herv. i.O.).

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CHRISTOPHER LASCH 1991: The true and only heaven. Progress and its Critics. New York. S. 107.

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generic images of childhood or to cultural symbols of childhood like the West or the small town but to a specific and carefully particularized period of historical time, a single decade at that.«8

Diese Nostalgie in Bezug auf eine festgelegte Epoche – im Gegensatz zu einer Nostalgie, die sich losgelöst von ihrer historischen Verortung auf die Kindheit richtet – ist diejenige, die im Folgenden im Hinblick auf den Zusammenhang mit Erinnerungskultur von Interesse ist. Starobinski beendet seinen Aufsatz zur Begriffsgeschichte der Nostalgie mit der Beobachtung, dass eine Verschiebung vom Räumlichen nicht nur zum Zeitlichen, sondern zum Persönlich-Psychologischen erfolgt.9 Daran anschließend kann die pathologische Dimension der Nostalgie präzisiert und in der Psychologie bzw. der Psychoanalytik angesiedelt werden. Hier ergibt sich auch der Übergang vom Wortkern, nostos, zum Wortkopf, algos. Johannes Hofer gesteht algos zwei mögliche Bedeutungen zu: Schmerz und Traurigkeit. Schmerz ist körperlich konnotiert, in dieser Bedeutung entspricht die Begriffsbildung anderen medizinischen Termini wie Neuralgie oder Myalgie. Ohne Weiteres lässt sich diese Verwendung des Schmerzbegriffs jedoch nicht übertragen, denn bei nostos handelt es sich nicht um einen Körperteil, der physischen Schmerz empfinden kann. Es handelt sich stattdessen um einen psychischen oder emotionalen Schmerz, der aufgerufen wird. Die Traurigkeit verweist unmittelbar auf dieses affektive Potenzial der Nostalgie. Bezeichnenderweise beginnt Starobinski seinen Aufsatz mit theoretischen Reflexionen darüber, dass die Geschichte der Emotion nur über Begriffsgeschichte und historische Semantik geschrieben werden kann, was er daraufhin am Beispiel von Nostalgie ausführt. Dementsprechend definiert er dieselbe klar als Emotion.10 Zwar fälschlich im Blick auf den Originaltext Hofers, dennoch beachtenswert leitet Svetlana Boym den Begriff der Nostalgie neben nostos aus algia her,

8

Ebd., S. 108. In seinem Werk zum Begriff des Fortschritts, den er als problematische Ideologie der Linken dekonstruiert, widmet Lasch der Nostalgie als einem dem Fortschritt parallelen Phänomen ein ganzes Kapitel (S. 82-119).

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STAROBINSKI 1966, S. 103: »What was at first defined in relation to the place of birth is thus redefined in relation to parental figures and to early stages of personal development. While the term nostalgia points to a given place, a concrete landscape, modern theories designate individuals or their likenesses, and symbolic substitutes which dominate childhood.«

10 Ebd., S. 81f.

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das sie ins Englische mit »longing«, d.h. Sehnsucht übersetzt.11 Hofer selbst hat die Komponente der Sehnsucht offenbar reflektiert: Laut Helmut Illbruck betitelte der Arzt das von ihm geprägte medizinische Leiden in einer Neuauflage seiner Dissertation aus dem Jahr 1710 neu: »The new name was pothopatridalgia, made up of pothos (the longing), patris, patridos (of one’s fathers, the home), and algos (the pain). All three components raise further questions but the most interesting is the apparent need Hofer felt to include the element of pothos.«12

Erneut im Sinne der Begriffsbildung medizinischer Terminologie liegt hier ein Leiden vor, dessen Gegenstand im Wortkopf genannt wird: Pothopatridalgia ist der Schmerz, der durch die Sehnsucht nach der Heimat entsteht. Die zeitliche Komponente der Rückkehr (bzw. Heimkehr, Wiederkehr) fehlt in dieser Wortschöpfung. Es sind außerdem sowohl der Schmerz als auch die Sehnsucht vertreten, die semantischen Unterschiede zur Nostalgie werden damit deutlich und Svetlana Boyms Herleitung erweist sich als verkehrt. Hofer mag mit dem Begriff das Krankheitsbild präziser beschrieben haben, auf das er sich in seiner Dissertation bezog. Bemerkenswerterweise hat sich jedoch der Begriff der Nostalgie demgegenüber durchgesetzt, der algos weniger als medizinisches Leiden denn als Traurigkeit begreift und mit nostos eine Verschränkung des Räumlichen und des Zeitlichen postuliert.

T HEORETISCHE P ERSPEKTIVEN Auf Grundlage der Begriffsgeschichte wird Nostalgie im Folgenden in drei Abschnitten theoretisch beleuchtet: Sie wird erstens als Gefühl begriffen. Als sol-

11 BOYM 2001, S. xiii. Woher Boym ihre etymologischen Ausführungen bezieht, bleibt unklar, denn Sehnsucht ist im Altgriechischen üblicherweise durch das Wort πόθος wiedergegeben, vgl. GUSTAV EDUARD BENSELER 1994: Griechisch-deutsches Schulwörterbuch. Bearbeitet von Adolf Kaegi. Stuttgart/Leipzig. S. 641: »πόθος, ό, 1) V e r l a n g e n , W u n s c h , Sehnsucht […]« (Herv. i.O.). Das Lexem algia bzw. ἄλγια oder ἄλγεια ist hingegen nicht ausfindig zu machen. 12 ILLBRUCK 2012, S. 13. Illbruck grenzt daraufhin mit Hilfe des Platonischen Symposion die Begriffe πόθος [pothos] und ἳμερος [himeros] voneinander ab, wobei er ersteres ins Englische mit longing, zweiteres mit desire übersetzt und damit himeros stärker durch (auch sexuelles) Verlangen konnotiert.

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ches wird sie zweitens dann untersuchbar, wenn sie sprachlich inszeniert wird.13 In diesem Zusammenhang spielt, auch in Anlehnung an die Nostalgietheorie, die Kategorie des Narrativs eine besondere Rolle. Drittens ist schließlich aus der Etymologie des Nostalgiebegriffs das Raum-Zeit-Verhältnis als zentral hervorgegangen. Nostalgie als Emotion Nicht nur die Etymologie des Wortes legt es nahe, Nostalgie als Gefühl zu verstehen. Auch zahlreiche Definitionen haben Nostalgie bereits so kategorisiert. Am umfassendsten geht dabei Scott Alexander Howard vor. Er formuliert: »First, I will treat nostalgia as an occurrent [sic!] emotion or affective experience, rather than simply a fascination with the past. Second, I will be concerned with nostalgia as it is brought about by the kind of memory which at least ›appears to be a »reliving« of the individual’s phenomenal experience during that earlier moment‹ (Brewer 1996: 60). Third, I take nostalgia to be among those emotions which necessarily have cognitive content: roughly, the implicit or explicit thought that the object of one’s episodic memory is both unrecoverable and desirable.«14

Howard spricht von einer »emotionalen oder affektiven Erfahrung«, attestiert derselben aber einen »kognitiven Gehalt«. Damit wirft er erstens die Frage nach dem Unterschied zwischen Emotionen und anderen affektiven Erfahrungen auf. Zugleich ruft er mit dem Aspekt der Kognition auch den Zusammenhang zwischen Nostalgie und Erinnerung auf den Plan. Die begriffliche Unschärfe Im Hinblick auf die Abgrenzung von Affekt, Gefühl und Emotion auch in der Fachwelt ist bemerkenswert. Im Sinne von Christiane Vossʼ wird der Begriff des Gefühls im Folgenden als Oberbegriff genutzt und darunter alle Phänomene gefasst, die die nicht-rationalen Aspekte im Wirken der menschlichen Psyche beschreiben und sich damit von Kognition und Volition absetzen.15 Nostalgie wird im Rahmen des Spektrums der Gefühle in 13 Vgl. STAROBINSKI 1966, S. 81f. 14 SCOTT ALEXANDER HOWARD 2012: »Nostalgia.« In: Analysis 4, Vol. 72. S. 641-650. URL: http://analysis.oxfordjournals.org/content/72/4/641.full.pdf. Letzter Zugriff am 18.03.2016. Hier S. 641. Howard nimmt Bezug auf WILLIAM F. BREWER 1996: »What is recollective memory?« In: DAVID C. RUBIN (Hrsg.): Remembering Our Past. Studies in Autobiographical Memory. Cambridge. S. 19-66. 15 Vgl. CHRISTIANE VOSS 2004: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin/New York. S. 12:

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den meisten Texten als Emotion begriffen. Darüber gibt insbesondere die Kategorie der Gerichtetheit Aufschluss: So richten Emotionen sich auf ein klares Bezugsobjekt (z.B. Trauer), während etwa Stimmungen lange andauern und sich auf eine diffuse Gesamtheit der Dinge beziehen (z.B. Weltschmerz).16 Nostalgie, die sich auf einen klar bestimmbaren vergangenen Zeitraum richtet, ist dann als Emotion von einer ungerichteten Melancholie als Stimmung abzugrenzen. Bereits in der Einleitung wurde darauf Bezug genommen, dass Kognition und Emotion in der neuesten Forschung nicht mehr als unvereinbare Gegenpole gedacht werden.17 Vielmehr gilt das eine jeweils als integraler Bestandteil des anderen. Zu den so genannten kognitiven Emotionstheorien gehören die Bewertungstheorien, deren früheste von Magda B. Arnold bereits in den 1950er Jahren entwickelt wurde. Eine Forschergruppe am Forum Scientiarum der Universität Tübingen fasst ihre Theorie wie folgt: »Die Emotion selbst besteht nach Arnold im Erleben eines durch die Einschätzung verursachten Handlungsimpulses zur Annäherung an das bewertete Objekt (positive Gefühle) oder zur Meidung des Objekts (negative Gefühle). […] Angenehme Emotionen beruhen dabei auf positiven Bewertungen und unangenehme auf negativen. Um diese Thesen zu belegen, versuchte Arnold (1960) die kognitiven Einschätzungen zu spezifizieren und kam zu dem Schluss, dass die emotionsrelevanten Einschätzungen innerhalb dreier Dimensionen variieren: Bewertung, Anwesenheit-Abwesenheit und Bewältigbarkeit.«18

Diese Theorie ermöglicht es, Howards »kognitiven Gehalt« der nostalgischen Emotion klarer zu fassen. Er definiert denselben als das Bewusstsein darüber, dass der Gegenstand der Nostalgie sowohl erstrebenswert als auch unwiederbringlich ist. Nach der Terminologie Arnolds formuliert, ist die Nostalgie also ein Gefühl, das entsteht, wenn die erinnerte Vergangenheit als erstrebenswert, also positiv bewertet wird und gleichzeitig ihre irreversible Abwesenheit be»›Gefühle‹ dient daher als Überbegriff für sämtliche affektive Phänomene. Dazu zählen neben den Emotionen auch Stimmungen und Launen, affektive Einstellungen wie Sympathie, Antipathie, Vertrauen und Misstrauen sowie lokalisierbare Empfindungen und sogar Intuitionen.« 16 Vgl. ALEXANDER KOCHINKA 2004: Emotionstheorien. Begriffliche Arbeit am Gefühl. Bielefeld. S. 63-66. 17 Vgl. S. 10. 18 ANN-CHRISTIN MONTINO et.al. 2011: »Emotionen.« In: NIELS WEIDTMANN/DIRK EVERS (Hrsg.): Konstruktion und Wirklichkeit Virtualität, Vergessen, Künstliches Bewusstsein, Autobiographische Erinnerung, Emotionen (= Interdisziplinäre Forschungsarbeiten am Forum Scientiarum 3). Berlin. S. 223-282. Hier S. 247, Herv. i.O.

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wusst als negativ wahrgenommen wird. Dieser Tatbestand wird als unerträglich, als nicht bewältigbar erachtet. Nostalgie speist sich also aus einer Kombination positiver und negativer Bewertungen, die sie zu einem komplexen Gefühl machen.19 Gleichzeitig verweist die Bewertungstheorie auf den für Nostalgie konstitutiven Vergleich der Zeitschichten, der Mängel in der gegenwärtigen Lebenssituation zum Anlass für eine positive Rekonstruktion der Vergangenheit nimmt.20 Nostalgie ist dementsprechend immer als ein Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu denken. Nostalgie ist folglich nicht als »Erinnerungsform« zu begreifen, wie es bei Joachim Gauck der Fall ist.21 Stattdessen handelt es sich um ein Gefühl, das wiederum in der Lage ist, auf Erinnerungen Einfluss zu nehmen und sie zu gestalten. Ob es auftritt, obliegt nicht einem rationalen Entscheidungsprozess, sondern ist unberechenbar. Zur Debatte steht deshalb, wie in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dieser Emotion begegnet werden kann. Die Anthropologie bezieht emotionale Erfahrungsdimensionen bereits in ihre historische Forschung mit ein. So unterscheidet Sharon Macdonald in ihrer Monographie Memorylands drei Wege, mit der Vergangenheit umzugehen: sie zu erzählen, sie zu fühlen und sie zu verkaufen.22 Anders positionieren sich die Geschichtswissenschaften. Auch und gerade dann, wenn Nostalgie als Emotion anerkannt wird, wird ihr Auftreten mit Skepsis aufgenommen. Es kommt immer wieder zu Debatten um die »akute Bedrohung der historischen Wahrheit«23 durch eine zunehmende Emotionalisierung von Geschichtsdarstellung, an denen auch Nostalgie Anteil hat. Ute Frevert und Anne Schmidt begegnen diesem

19 David Watson und Lee Anna Clarke, die Nostalgie ebenfalls als Emotion klassifizieren, bemühen sie entsprechend auch als Beispiel für einen von vielen »mixed states that represent complex combinations of basic emotions. […] [A] person may be feeling nostalgic, a mixed state that combines elements of joy and sadness« (DAVID WATSON/LEE ANNA CLARKE 1994: »Emotions, Moods, Traits and Temperaments: Conceptual Distinctions and Empirical Findings.« In: PAUL EKMAN/RICHARD J. DAVIDSON

(Hrsg.): The Nature of Emotion. Fundamental Questions. New York/Oxford.

S. 89-93. Hier S. 90). 20 Vgl. HOWARD 2012, S. 643, zum »poverty of the present requirement«. 21 Vgl. GAUCK 2010, S. 476. 22 MACDONALD 2013. Die drei zugehörigen Kapitel tragen die Überschriften »Telling the past«, »Feeling the past« und »Selling the past«. 23 ULRICH RAULFF in der Süddeutschen Zeitung vom 30.10.2003, zitiert nach JAN SÜSELBECK

2014b: »Vorwort. Generationennarrative als Emotionalisierungsfaktor der

NS-Erinnerung in den Medien.« In: DERS. 2014a, S. 9-44. Hier S. 10.

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Vorwurf in ihrem Aufsatz »Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder«.24 Sie führen die Anklage der manipulativen Instrumentalisierung von Emotionen auf Missverständnisse bezüglich des Emotionsbegriffs zurück. Demnach würden Emotionen »regelmäßig als Gegenpol zu Rationalität begriffen, als negativer Oppositionsbegriff zu Vernunft und Verstand, denen eine existentielle Bedeutung für das Gedeihen einer demokratischen Kultur zugeschrieben wird.«25 Dass diese unüberbrückbare Dichotomie von emotionalen und kognitiven Prozessen nicht mehr zeitgemäß ist, wurde bereits ausgeführt. Frevert und Schmidt stützen ihre Beobachtung mit Erkenntnissen aus Neurologie, Emotionspsychologie und Psychiatrie. Sie sprechen sich abschließend dafür aus, »Emotionen als zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis ernst zu nehmen.«26 Im Lichte dieses Plädoyers ist die produktive Auseinandersetzung mit den Leistungen nostalgischer Erinnerungen von umso größerer Aktualität. Nostalgie als Narrativ Alexander Kochinka begreift Emotionen als erlebnisbasierte Phänomene, die sich dadurch definieren, dass sie sich »irgendwie anfühl[en]«27. Die Frage nach dem produktiven Wert emotionaler und spezifisch nostalgischer Erinnerungen ist für die Literaturwissenschaft nun darüber zu beantworten, wie ihr Erleben im Erzählen zur Geltung kommt. Das Narrative steht hierbei im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand der Erinnerungsprosa im Blickfeld, aber auch deswegen, weil es explizit in der Theorie zur Nostalgie auftritt.28 24 UTE FREVERT/ANNE SCHMIDT 2011: »Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder.« In: Geschichte und Gesellschaft 37, S. 5-25. 25 Ebd., S. 18. 26 Ebd., S. 25. Vgl. auch Astrid Erll, die eine Überwindung der Dichotomie von Vernunft und Gefühl in der Hirnforschung konstatiert: »Im Gegenteil scheinen Emotionen – selbst deutlich sozial und kulturell geformt – unser Bewusstsein, Gedächtnis und unsere Handlungsentscheidungen in außerordentlichem Maße zu prägen. Gerade das autobiographische Gedächtnis ist ohne Emotionen nicht denkbar […]« (ASTRID ERLL 22011: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar. S. 99, Herv. i.O.). 27 KOCHINKA 2004, S. 136. 28 Lyrik und Dramatik spielen für das Erkenntnisinteresse indes keine Rolle. Wenngleich Nostalgie in den anderen beiden literarischen Großgattungen insbesondere im Kontext von Subjektivität und individuellem Gefühlseindruck einen gleichsam wichtigen Untersuchungsgegenstand darstellt, so lässt sich ihr Verhältnis zu kollektiver Erinnerung doch am eindrücklichsten in erzählenden Texten untersuchen.

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Dies gilt selbst für Untersuchungen, die nicht aus dem Feld der Literaturwissenschaft stammen. Während die Idee eines nostalgischen Narrativs zwar unmittelbar den Kontext philologischer Gattungszuschreibung zur Erzählliteratur evoziert, beinhaltet der Begriff auch eine ethnologische Praxis. So formuliert Wolfgang Müller-Funk in seiner Studie über kulturelle Narrative: »Kulturanthropologisch besehen stellt das literarische Erzählen eine Ausdifferenzierung, den Sonderfall einer generellen Praxis dar, die sich ubiquitär in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wiederfindet. Zweifelsohne sind es Erzählungen, die kollektiven, nationalen Gedächtnissen zugrundeliegen und Politiken der Identität bzw. Differenz konstituieren. Kulturen sind immer auch als Erzählgemeinschaften anzusehen, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden. Das gilt für die Mythen traditioneller Gemeinschaften ebenso wie für die modernen großen Erzählungen.«29

Im Rekurs auf die semiotische Auffassung von Kultur und ihre hermeneutisch geprägte Analyse, die Clifford Geertz mit seiner ›dichten Beschreibung‹30 bereits in den 1970er Jahren für die Anthropologie formulierte, stellt Müller-Funk hier die wechselseitige Befruchtung der Kultur und des Narrativen heraus. Er spricht sich außerdem gegen eine »definitorische Wut« aus, die die Begriffe der Erzählung, der Narration und des Narrativs sklavisch voneinander abgrenzt und ruft dazu auf, die literaturwissenschaftlichen Ansätze stärker für Anthropologie und Kulturwissenschaft furchtbar zu machen.31 Wenn also im Folgenden von nostalgischen Erzählungen, Narrationen oder Narrativen die Rede ist, so ist dies Ausdruck dessen, dass sich die Überlegungen nicht nur einer philologischen, sondern auch einer kulturwissenschaftlichen Relevanz verschreiben. Dass Nostalgie als Emotion grundsätzliche eines sprachlichen Ausdrucks bedarf, um untersuchbar zu werden, wurde bereits deutlich. Das Narrativ stellt hierfür eine besonders geeignete Form dar. Svetlana Boym etwa widmet Narrativen, die die Nostalgie ausbildet, einige Aufmerksamkeit.32 Auch Mitja Velikonja schreibt in seiner Studie zur postjugoslawischen »Titostalgie«: 29 WOLFGANG MÜLLER-FUNK 22008: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien. S. 14. 30 Vgl. CLIFFORD GEERTZ 1973: »Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture.« In: DERS.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York. S. 330. 31 Vgl. MÜLLER-FUNK 22008, S. 15. 32 Vgl. z.B. BOYM 2001, S. 44. Hier erörtert die Autorin, wie Verschwörungstheorien einen Angriff auf nostalgisch konstruierte Narrative einer Nationalgeschichte darstellen. Im Kapitel zu Nostalgie und Identität wird dies nochmals eine Rolle spielen.

30 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »In my own definition, nostalgia is a complex, differentiated, changing, emotion-laden, personal or collective, (non)instrumentalized story which dichotomously laments and glorifies romanticized lost times, people, objects, feelings, scents, events, spaces, relationships, values, political and other systems, all of which stand in sharp contrast to the inferior present.«33

Velikonja definiert Nostalgie als »story« und betont damit den Stellenwert des Narrativen für das Verständnis des Phänomens. Außerdem wirft er durch die Stichworte der Glorifizierung und Romantisierung nochmals die Frage nach der Glaubwürdigkeit nostalgischer Narrative auf, die im Hinblick auf die Emotionalität des Konzepts immer wieder gestellt wird. Sie schließt sich direkt an Vorwürfe der Verschleierung von Geschichte durch jedwede Art von emotionaler Erinnerung an. Es stellt sich heraus, dass die Skepsis gegenüber der Nostalgie und die Anklage der Verfälschung in erster Linie durch die Selektion ausschließlich positiver Erinnerungen begründet werden. Erinnerungstheoretiker dürfte jedoch Selektion als Mechanismus des Gedächtnisses nicht in Erstaunen versetzen, da Erinnerung niemals umfassend ist – sonst gäbe es kein Vergessen.34 Gleichzeitig ist Selektion auch ein grundsätzlicher Mechanismus des fiktionalen wie nichtfiktionalen Erzählens schlechthin. Nicht umsonst schreibt Aleida Assmann in ihrem fiktionstheoretischen Werk Die Legitimation der Fiktion: »Im Rahmen dieser Untersuchung wollen wir Fiktion als Modell der Realität verstehen, als einen konstruktiven Verstehensentwurf, der dadurch bestimmt ist, daß er zugleich über die Kontingenz des Faktischen hinausschießt und hinter ihr zurückbleibt.«35

Assmann führt aus, dass Fiktion Kohärenz herstellt und damit gegenüber der Realität (der »Kontingenz des Faktischen«) einen Mehrwert bildet, aber auch selektiert und damit bestimmte Elemente ausblendet. Fiktionale Erinnerungsnarrative 33 MITJA VELIKONJA 2008: Titostalgia. A Study of Nostalgia for Josip Broz. Ljubljana. Zugriff unter URL: http://mediawatch.mirovni-institut.si/eng/Titostalgia.pdf. Letzter Zugriff am 30.05.2016. S. 27. 34 Vgl. ALEIDA ASSMANN 2004: »Erinnerungsorte zwischen Triumph und Trauma.« In: Divinatio 19, S. 71-80. Zugriff unter URL: http://www.ceeol.com/aspx/getdocu ment.aspx?logid=5&id=b65c526e73d04b20affbc5c9d99b6738. Letzter Zugriff am 21.07.2015. Assmann diskutiert die Thesen Ernest Renans, für den das Vergessen zur kollektiven Identitätsbildung ebenso gehört wie das Erinnern. 35 ALEIDA ASSMANN 1980: Die Legitimation der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München. S. 14.

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leisten eben dies, ob sie nostalgisch sind oder nicht. Von Interesse ist deswegen, was die Selektion im Erzählen nostalgischer Erinnerungen ausmacht, dass sie sich dem Vorwurf der Verfälschung ausgesetzt sehen muss. Die Aufgabe der Literatur- und Kulturwissenschaft liegt darin, diese besonderen Selektionsmechanismen offenzulegen und zu hinterfragen. Das nostalgische Erinnerungsnarrativ kennt zwei Selbstverständnisse, die sich bereits bei Svetlana Boym abzeichnen: Entweder hält es seine selektiv emotionale, positiv bewertende Darstellung von der Vergangenheit selbst für die Wahrheit. Es ist dann aus der Sicht des Narrators durchaus authentisch. Dies ist in der restorativen Nostalgie nach Boym der Fall. 36 Die zweite Möglichkeit ist, dass sich der Nostalgiker der Reduktion der Vergangenheit auf emotionale und positive Momente bewusst ist, sich jedoch daran nicht stört. Sein Narrativ ist dann in seinen Augen zwar nicht die ganze Wahrheit, aber dennoch ein Teil davon. So geschieht es in Boyms reflektiver Nostalgie. 37 In beiden Fällen geht es der nostalgischen Erinnerung nicht um eine vollständige Darstellung aller Aspekte der Vergangenheit, sondern um einen subjektiven Zugang, dessen Wahrhaftigkeit jedoch nicht angreifbar ist, weil sie im Empfinden des jeweiligen Erzählers gegeben ist. Mangelnde Vollständigkeit kann in Bezug auf ein nostalgisches Erinnerungsnarrativ demnach zwar kritisiert werden, nicht jedoch die Authentizität der Erzählung. Tatsächlich zeichnen sich nostalgische Erinnerungen häufig durch eine Detailversessenheit aus, die das Gefühl bestärkt, es handle sich hierbei um etwas, das tatsächlich geschehen ist. Auch Ute Frevert und Anne Schmidt nennen aus gutem Grund als ein Merkmal emotionalisierter Geschichtsdarstellungen die Herstellung von Authentizität.38 Nostalgische Erinnerungsnarrative sind nicht inauthentisch, sondern sie thematisieren Erinnerungen in einer als authentisch wahrgenommenen Perspektive. Damit sind sie als Ergänzung zu faktisch orientierten Erinnerungsdiskursen zu verstehen und nicht als ihr Gegenteil. Nostalgie als Chronotopos Die Etymologie weist Nostalgie als einen ebenso räumlichen wie zeitlichen Begriff aus. Während sie im 17. Jahrhundert in erster Linie als räumliches Phänomen gedacht wird und in diesem Sinne vor allem mit dem Konzept des Heimwehs korreliert, werden ihre zeitlichen Implikationen im Verlauf der Geschichte stärker. Dabei ist zu bedenken, dass sich im heutigen Verständnis Nostalgie stets 36 BOYM 2001, S. 41-48. 37 Ebd., S. 49-55. 38 Vgl. hierzu FREVERT/SCHMIDT 2011, S. 20.

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auf eine andere zeitliche Ebene richtet, jedoch nicht notwendigerweise auf einen unerreichbaren Raum. Tatsächlich kann jemand einen Raum nach Jahren erneut besuchen und sich nostalgisch an eben die Ereignisse erinnern, die dort zu einer anderen Zeit stattgefunden haben. Der physisch-geographische Raum ist dann derselbe. Er ist jedoch materiell und semantisch neu befüllt und durch Veränderung zu einem anderen Ort geworden, so dass selbst bei nomineller Identität der Orte in der Nostalgie immer auch ein verlorener Raum zur Debatte steht. Eine Annäherung an diese Untrennbarkeit von Zeit und Raum ist über das Konzept des ›Chronotopos‹ möglich. Dieser Begriff entstammt der Bachtinschen Schrift Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman39. Zur Definition seines Gegenstandes äußert sich Michail Bachtin explizit lediglich kurz in der Einleitung: »Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehung wollen wir als Chronotopos (›Raumzeit‹ müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen.«40

Im Folgenden gewährt Bachtins Studie einen historischen Überblick über die Entwicklung des Romangenres, in welchem zahlreiche konkrete Beispiele für das Konzept des Chronotopos diskutiert werden, aus deren Lektüre sich eine umfassendere Vorstellung des Begriffs ergibt. Die Interdependenz von Zeit und Raum innerhalb der Darstellung und ihre gemeinsame Bedeutung für die Semantik der Texte stehen dabei im Mittelpunkt. Damit ist der Chronotopos ein dezidiert textliches Phänomen, es handelt sich um eine bestimmte sprachliche Repräsentation eines Raumes in enger Abhängigkeit von seiner zeitlichen Beschaffenheit. Um dies zu beschreiben, werden narratologische Phänomene der Zeitgestaltung, insbesondere Dauer und Frequenz, für die Analysen herangezogen. Sylvia Sasse formuliert, dass »über den Chronotopos […] ein historisches Raum/Zeit-Wissen im Text gespeichert wird«41 und verweist auf den ersten Satz der Abhandlung von Bachtin: »Die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des – in ihnen zutage tretenden – realen historischen Menschen war ein komplizierter, diskontinuierlich verlaufender Prozess.«42 39 MICHAIL M. BACHTIN 2008: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt am Main. 40 Ebd., S. 7, Herv. i.O. 41 SYLVIA SASSE 2010: Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg. S. 144. 42 BACHTIN 2008, S. 7.

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Sasse hebt dabei den Begriff der »literarischen Aneignung« hervor, deren Gegenstand laut Bachtin ausgewählte »Realitätsaspekte« sind.43 Unmittelbar stellt sich hier die Frage nach mimetischen Konzepten und der grundsätzlichen Möglichkeit der Abbildung von Realität in Literatur, die Bachtin diskutiert, wenn er einen Unterschied zwischen der »dargestellten Welt« und einer »erschaffende[n] Welt« betont.44 Er schreibt dazu: »Es sind dies spezifisch romanhaft-epische Chronotopoi, die zur Aneignung der realen zeitlichen (im Extrem – historischen) Wirklichkeit dienen und es ermöglichen, wesentliche Momente dieser Wirklichkeit widerzuspiegeln und in die künstlerische Ebene des Romans einzuführen.«45

Die Texte lassen demgemäß ein Raum-Zeit-Kontinuum im Text gegenwärtig werden und exemplifizieren damit die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und (textlicher) Gegenwart. Wenn man der Nostalgie den gleichen Anspruch attestiert, die Vergangenheit in der Gegenwart zu rekonstruieren, kann man sagen, dass nostalgische Erinnerungen zur Schaffung von gedanklichen und schließlich auch literarischen Chronotopoi führen.46 Der Chronotopos geht darüber jedoch noch hinaus, denn er legt neben einer zeitlichen Gebundenheit des Raums auch eine besondere zeitliche Gestaltung des Raums zu Grunde. So spricht Bachtin von der »gestalterischen Bedeutung der Chronotopoi« und führt aus: »Der Chronotopos nun liefert die entscheidende Grundlage, auf der sich die Ereignisse zeigen und darstellen lassen. Und das eben dank der besonderen Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit – der Zeit des menschlichen Lebens, der historischen Zeit – auf bestimmten Abschnitten des Raumes. Dadurch wird es auch möglich, die Darstellung der Ereignisse im Chronotopos (um den Chronotopos herum) aufzubauen. Der Chronotopos dient als Angelpunkt für die Entfaltung der ›Szenen‹ im Roman […]. Somit 43 Ebd. 44 Ebd., S. 191, Herv.i.O. 45 Ebd., S. 189. 46 Ein analoges Konzept der raumzeitlichen Verschränkung aus der deutschsprachigen Literatur findet sich bei Ruth Klüger im Begriff der ›Zeitschaft‹, vgl. RUTH KLÜGER 1992: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen. S. 78: »Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.« Die ›Zeitschaft‹ im Sinne einer Timescape ist damit ein ähnlich raumzeitlich integrierter Begriff wie der Chronotopos, und Nostalgie bezieht sich demnach nicht so sehr lediglich auf eine Vergangenheit als vielmehr stets auf eine ›Zeitschaft‹.

34 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Roman das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman.«47

In dieser Abhängigkeit der Handlung von den gegebenen räumlichen und zeitlichen Umständen erklärt sich die Relevanz des Chronotopos für die Sujetbildung.48 Wenn die Handlung in die Definition des Chronotopos einbezogen wird, geht es nicht mehr nur darum, ob eine beliebige Handlung langsam, schnell, einmal oder mehrfach vollzogen wird und wie diese temporalen Modi das Raumempfinden mitbestimmen. Wenn Elemente des Sujets einen bestimmten Raum zeitlich verankern, eine bestimmte Zeit als räumlich gestaltet ausweisen, nehmen sie vielmehr eine Verschränkung von Raum und Zeit vor. Diese kann bei entsprechender emotionaler Kodierung nostalgisch wirken. Gleichzeitig ermöglicht die Vorstellung des nostalgischen Sehnsuchtsobjekts als eines Raums auch eindrücklich eine der Grundbedingungen für Nostalgie, und zwar das, was Linda Hutcheon als »inaccessability«49 bezeichnet. Die Nostalgie richtet sich auf einen Raum zu einer bestimmten Zeit, und weil diese zwei Dinge untrennbar miteinander verbunden sind, ist der ersehnte Raum nicht mehr zugänglich – er wäre es nur zu einer anderen Zeit. Das macht den Gegenstand nostalgischer Erinnerung zu einem Chronotopos, den neben seiner Unerreichbarkeit auch seine relative Statik auszeichnet.

W AS

IST

N OSTALGIE ?

Nostalgie ist als ein Gefühl zu klassifizieren und deswegen nicht mit Erinnerung gleichzusetzen. Aus seiner Einordnung als Gefühl, genauer gesagt als Emotion ergibt sich das subjektive und relationale Wesen des Phänomens ebenso wie sein

47 BACHTIN 2008, S. 188. 48 Gary Saul Morson und Caryl Emerson erläutern diese Bezüge zwischen Raum- und Zeitaspekt zur Handlungen im literarischen Text, vgl. GARY SAUL MORSON/CARYL EMERSON 1990: Mikhail Bakhtin. Creation of a Prosaics. Stanford. S. 367: »Bakhtin’s crucial point is that time and space vary in qualities; different social activities and representations of those activities presume different kinds of time and space« (Herv. i.O.). 49 LINDA HUTCHEON 2000: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern.« In: RAYMOND VERVLIET (Hrsg.): Methods for the study of literature and cultural memory (= Literature as Cultural Memory 6). Amsterdam. S. 189-207. Hier S. 195.

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Zuschreibungscharakter. Nostalgie wird im Folgenden als eine emotional-affektive und positiv wertende Perspektive auf die Vergangenheit verstanden. Sie ist nicht mit dem (vornehmlich kognitiven) Erinnerungsvorgang gleichzusetzen, sondern stellt vielmehr einen emotionalen Einfluss auf denselben dar. In diesem Sinne exemplifiziert Nostalgie die seit dem Emotional Turn gängige Verschränkung von Kognition und Emotion. Dabei ist der Kontrast der emotional als positiv empfundenen Vergangenheit mit einer im Vergleich negativeren Gegenwart konstitutiv für die Nostalgie. Nostalgie ist als Gefühl abhängig von den (kulturellen) Narrativen, die sie ausbildet. Sie sind als eine Unterkategorie von Erinnerungsnarrativen im weitesten Sinne zu verstehen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ihren Authentizitätsanspruch nur aus dem subjektiven Empfinden des Erzählers beziehen. Wie alle Erinnerungsnarrative gehen sie selektierend vor. Ihre Auswahl beruht auf den Kriterien der positiven Bewertung. Sie sind deswegen jedoch noch nicht unwahr. Ihre Wahrhaftigkeit misst sich nicht an geschichtswissenschaftlichen und faktenorientierten Rekonstruktionen der Vergangenheit, sondern liegt ausschließlich in der Beurteilung des Nostalgikers selbst. Damit blenden sie relativierende zusätzliche Aspekte der Vergangenheit zwar aus, sind aber noch nicht falsch, sondern nur eingeschränkt. So ist Nostalgie entschieden von der Lüge abzugrenzen. Eine bewusste oder unbewusste Verfälschung von selbst erlebten Fakten kann dann nicht als nostalgisch gelten, so dass theoretische Ansätze, die Nostalgie als illusionär bezeichnen, mit dem vorliegenden Nostalgieverständnis nicht vereinbar sind. Auf dieser Grundlage ist von besonderer Relevanz, dass die Stigmatisierung von Nostalgie den erinnerungspolitischen Diskurs beschneidet. Es werden häufig nostalgische Narrative als Lügen aus dem Diskurs ausgeschlossen. Die Tabuisierung von nostalgischen Erinnerungen muss jedoch aufgebrochen werden, wenn eine produktive Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet werden soll. Nostalgische Erinnerungen müssen stattdessen dem Erinnerungsdiskurs ergänzend beigefügt und kommentiert werden. Sie ist ein ernstzunehmender Teil des Erinnerungsdiskurses und kann Aufschlüsse über Aspekte der Vergangenheit geben, die bislang keinen Einlass in erinnerungskulturelle Debatten gefunden haben. Wie die aktuelle politische Lage zeigt, kann ein Ausschluss nostalgischer Perspektiven sogar ernstzunehmende politische Konsequenzen aufweisen. Beispielsweise im Zuge des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union spielten nostalgische Narrative eine gewichtige Rolle, wie die Historikerin Anne Applebaum es gleichermaßen bissig wie unterhaltsam darstellt.50 Nostalgische 50 ANNE APPLEBAUM 2017: »Amid Brexit, British citizens are suddenly gripped by nostalgia.« In: The Washington Post am 03.04.2017. Zugriff unter URL: https://www.

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Narrative sind dementsprechend nicht lediglich als affirmative Harmlosigkeiten abzutun. Sie können stattdessen verschiedentlich zum Ausdruck von Gesellschafts- und Ideologiekritik werden. Nostalgie birgt damit auch ein subversives Potenzial. Die erinnerte Vergangenheit, auf die sich Nostalgie richtet, zeichnet sich häufig durch eine konkrete räumliche Modellierung aus. Nostalgische Narrative lassen sich deswegen als Chronotopoi lesen, die eine bestimmte Raumgestaltung mit einer bestimmten Zeitgestaltung verbinden. Sie sind durch Abgeschlossenheit, Unerreichbarkeit und relative Statik charakterisiert. In der literarischen Konfiguration eines nostalgischen Chronotopos besteht eine Möglichkeit der Aneignung der Vergangenheit. Der vorgeschlagenen Nostalgiebegriff zeichnet sich damit aus durch den Fokus auf nostalgische Geschichtsnarrative, deren emotionalen und selektiven Charakter, die Unterscheidung von der Lüge, das besondere Spannungsverhältnis zu historischen Meistererzählungen, das kritische Potenzial und den chronotopischen Charakter.

washingtonpost.com/news/global-opinions/wp/2017/04/03/amid-brexit-british-citizens -are-suddenly-gripped-by-nostalgia/?utm_term=.b3b6b044ecf2. Letzter Zugriff am 28.07.2017.

Nostalgie, die DDR und die PRL Rather than being seen as a reactionary, regressive condition imbued with sentimentality, [nostalgia] can be perceived as a way of coming to terms with the past, as enabling it to be exorcised in order that society, and individuals, can move on. PAM COOK1

Die Beobachtung, dass Nostalgie zur Aufarbeitung der Vergangenheit beitragen kann, formuliert Pam Cook in ihrer Monographie über Nostalgie im Film. Das nostalgische Spiel mit Erinnerung und Vergessen fördert im künstlerischen Bereich aufschlussreiche Perspektiven zutage, die gemäß Cook gleichermaßen die gesellschaftliche und die individuelle Dimension betreffen. Politische Sprengkraft entwickelt Nostalgie in der Regel im ersten Fall, wenn sie sich auf eine Vergangenheit richtet, die als kollektive Erfahrung wahrgenommen wird – etwa eine historische Ära. Erst dann wird sie insbesondere in der Geschichtswissenschaft als idealisierend und verfälschend problematisiert. Nostalgie geht jedoch in (literarischen) Auseinandersetzungen mit historischen Ereignissen weit über verklärende, vereinfachende und vor allem geschichtsverfälschende Darstellungen hinaus. Um der literaturwissenschaftlichen Analyse der produktiven Seiten von Nostalgie einen Kontext zu geben, muss der Umgang mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Polska Rzeczpospolita Ludowa [Volksrepublik Polen] (PRL) in Deutschland und Polen in den Blick genommen und die Rolle der Nostalgie darin verortet werden. Nostalgie-Debatten im Rahmen der Aufar-

1

COOK, PAM 2005: Screening the Past. Memory and Nostalgia in Cinema. London. S. 4.

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beitung der DDR und der PRL, die sich in der Soziologie der Anthropologie und teils auch in der Geschichts- und Politikwissenschaft vorfinden lassen, bilden hierfür den Ausgangspunkt.

DDR-N OSTALGIE

UND

O STALGIE

Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte im wiedervereinigten Deutschland steht im Allgemeinen unter der Prämisse, »dass der Untergang der kommunistischen Regime in Osteuropa im Allgemeinen und die Friedliche Revolution in der DDR im Besonderen als Sieg der Freiheit über Unfreiheit, Unterdrückung und Diktatur verstanden wurde und wird.«2

Torsten Oppelland beschreibt, wie die politische Wende von 1989 als Triumph konfiguriert wird und attestiert dem öffentlichen Diskurs eine »Konzentration auf die repressiven Elemente des Kommunismus«3. Diesen Umstand hat bereits Carola Rudnick in ihrer Dissertation Die andere Hälfte der Erinnerung von 2011 ausführlich untersucht und dabei aufgezeigt, dass die Erinnerung an die DDR als Überwachungsstaat und als »zweite deutsche Diktatur«4 in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts im öffentlichen Diskurs etabliert ist, während private und ggf. nostalgische Perspektiven keine Anerkennung finden. Rudnick arbeitet den Widerstreit zwischen den verschiedenen Perspektiven auf die DDR im gesamtdeutschen Erinnerungsdiskurs ausführlich auf, indem sie eine Untersuchung von geschichtspolitischen Debatten und Kulturtechniken der Aufarbeitung vornimmt. Dabei stellt sie drei Kriterien auf, von denen der gegenwärtige Blick auf die DDR abhängt: Ein »Primat der Politik«, eine »Deutungshegemonie« von »Konservative[n], Opfervertreter[n] und ehemalige[n] Bürgerrechtler[n] bzw. Oppositionelle[n]« und das Konstrukt der Friedlichen Revolution.5

2

TORSTEN OPPELLAND 2013: »Der Kommunismus in der Geschichtskultur Deutsch-

3

Ebd., S. 104.

4

CAROLA S. RUDNICK 2011: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deut-

lands.« In: KNIGGE 2013, S. 103-113. Hier S. 103.

schen Geschichtspolitik nach 1989. Bielefeld. S. 17. 5

Vgl. ebd., S. 731. Auch Michael Meyen stellt die Diskrepanz zwischen medial vermittelten Geschichtsbildern und subjektiven Zeitzeugenberichten vor, vgl. MICHAEL MEYEN 2013: Wir haben freier gelebt. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld. S. 225.

N OSTALGIE ,

DIE

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Die demgemäß starke Steuerung der DDR-Aufarbeitung durch bürgerlich geprägte mediale und politische Diskurse verbietet eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit wohlwollenden Perspektiven auf die DDR, auch wenn diese nicht zu Ziel haben, die Geschichte zu verharmlosen, sondern ein ausgewogenes und unabhängiges Geschichtsbild zu schaffen. Gleichwohl setzt die deutsche Debatte die Verbrechen des SED-Regimes nicht etwa mit denen des Nationalsozialismus gleich, wie es verschiedene europäische Politiker in der so genannten Prager Erklärung im Jahre 2008 forderten.6 Dass sich dies auch so schnell nicht ändern wird, zeigen die abschlägigen Reaktionen auf die wiederholten Forderungen des Leiters der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, nach dem Verbot von DDR-Symbolen.7 In Deutschland boten angesichts dieser Ausgangssituation in den späten 1990er Jahren die Debatten um Ostalgie eine starke Basis für grundsätzliche Kritik an nostalgischen Erscheinungen in der Erinnerungskultur. In Katja Nellers umfassender sozialwissenschaftlicher Studie DDR-Nostalgie wird eben diese zunächst als »positive Orientierung gegenüber der ehemaligen DDR«8 von Ostalgie und Ostidentität abgegrenzt. Neller ergänzt diese Definition folgendermaßen: »DDR-Nostalgie als positive retrospektive Bewertung der früheren DDR umfasst nach diesem Verständnis einerseits einen rationalistischen Leistungsvergleich zwischen DDR und BRD (Performanzbewertung), andererseits eine affektive Idealisierung, die die negativen Aspekte des DDR-Regimes (wie Überwachung durch die Stasi, fehlende Reisefreiheit, Mangelwirtschaft) durch nostalgische Verbrämungen ausblendet […].«9

Die Erweiterung der positiven Bewertung um den Aspekt der Idealisierung ist deutlich weitreichender, als Neller es in ihrem Text markiert, denn von einer »positiven Orientierung« zu einer »Idealisierung« und gar »Verbrämung« ist es ein weiter Schritt. Neller koppelt dementsprechend DDR-Nostalgie und Ideali6

OPPELLAND 2013, S. 104f. Zur Vergleichbarkeit der beiden Diktaturen siehe außerdem ALEIDA ASSMANN 2013: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München, darin insb. das Kapitel »Die Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen«, S. 109-123.

7

Vgl. NORBERT SIEGMUND 2014: »Knabe fordert Verbot von DDR-Symbolen.« In: rbb online am 03.01.2014. URL: http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2014/01/ knabe-fordert-verbot-von-ddr-symbolen.html. Letzter Zugriff am 20.11.2015.

8

KATJA NELLER 2006: DDR-Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen. Wiesbaden. S. 37, Herv. i.O.

9

Ebd., S. 43.

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sierung, anstatt letztere als mögliches, jedoch nicht zwangsläufiges Nebenprodukt eines nostalgischen Gefühls zu begreifen und in ersterer tatsächlich nur die positive Orientierung oder Bewertung der Vergangenheit zu sehen. Im Gegensatz zur DDR-Nostalgie tritt Ostalgie als Begriff verstärkt in anthropologischen, ethnologischen und im weitesten Sinne philologischen Untersuchungen auf. Thomas Ahbe, der den Begriff der Ostalgie am differenziertesten untersucht hat, fasst ihn in einem Aufsatz von 2013 folgendermaßen zusammen: »Ostalgie manifestiert sich auf vier Ebenen. Erstens zeigt sie sich als unkritische DDRNostalgie. Zweitens ist sie ein ostdeutscher Laien-Diskurs zur Kompensation der oben beschriebenen Diskurslücke [zwischen Darstellungen überregionaler Medien und informellen Debatten in der ostdeutschen Bevölkerung, Anm. d.Verf.] und zur Selbstvergewisserung im vereinigten Deutschland. Drittens wird bisweilen auch der professionelle, aber marginalisierte Gegen-Diskurs, der eine andere Art der Aufarbeitung der DDR und ostdeutscher Erfahrung anstrebt, als Ostalgie bezeichnet. Viertens schließlich hat sich Ostalgie als ein Geschäftsfeld der ›Ampelmännchen-Industrie‹ etabliert.«10

Diese nuancierte Abstufung lassen die meisten Untersuchungen des Phänomens leider vermissen. Implizit wird Ostalgie meistens im zweiten vorgestellten Wortsinne verhandelt, der den Konsumismus der vierten Bedeutungsebene noch zusätzlich für seine Zwecke instrumentalisiert.11 Durch die starke Konzentration auf Produkt- und Popkultur und deren politische und ökonomische Instrumentalisierung ist der Begriff der Ostalgie stark pejorativ konnotiert. Sie wird durch die Ikonisierung bestimmter Produkte und kultureller Artefakte bestimmt, welche die kulturelle Identität der DDR-Bürger geprägt haben – etwa Ampelmännchen oder Spreewaldgurken. Der Ostalgie-Begriff hebt also stark auf materielle Kultur und Konsum ab, weswegen selbst dann zwischen einer allgemeineren DDR-Nostalgie und Ostalgie zu unterscheiden ist, wenn die Komponente der Idealisierung ausgeklammert wird. Ein zentrales Problem der Debatte um Nostalgie gegenüber sozialistischen Systemen liegt auf der Hand: Durch die massive Kritik daran, dass bestimmte Produkte zu Gunsten eines finanziellen Gewinns instrumentalisiert werden, er10 THOMAS AHBE 2013: »Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg. Soziologische und diskursanalytische Befunde nach 20 Jahren staatlicher Einheit.« In: GOUDIN-STEINMANN/HÄHNEL-MESNARD

2013, S. 27-58. Hier S. 44, Herv. i.O. Zum erklärenden

Einschub vgl. ebd., S. 39. 11 Vgl. hierzu auch FRANK THOMAS GRUB 2008: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur: Ein Handbuch. Bd.1: Untersuchungen. Bd. 2: Bibliographie. Berlin. S. 563-573: »›Ostalgie‹ und Ostprodukte«.

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DIE

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fahren dieselben erst ihre starke politische Zuschreibung. Zum Vergleich: Es gab im Jahr 2009 eine Kurzinitiative, im Rahmen derer in Deutschland der Schokoriegel Twix für kurze Zeit wieder Raider hieß – wie zuletzt in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik.12 Vorwürfe, dass mit der Vermarktung von Raider etwa die Politik der Bonner Republik unter Helmut Kohl verherrlicht würde, blieben jedoch aus. Der Konsum von Produkten aus DDR-Zeiten dürfte in den meisten Fällen weitaus weniger als politisches Statement denn als privates Unterhaltungsmoment fungieren. Einer Waschmittelmarke wie Ixi oder einer Gewürzgurke wie der Spreewaldgurke sind politische Konnotationen nicht immanent – sie werden erst zu Trägern sozialistischer Ideologie, wenn man sie als solche bezeichnet. Ob und wie die Konsumenten jedoch politische Zuschreibungen vornehmen, ist bisher nicht explizit Gegenstand der Forschung. Das nostalgische Potenzial wird vielmehr unkritisch in den Konsumgütern selbst verortet.

PRL-N OSTALGIE Marek Zybura konstatiert, dass die totalitaristische Erfahrung des Faschismus in Ost- und Ostmitteleuropa einen ebenso hohen Stellenwert hat wie diejenige des Stalinismus und Kommunismus, während die Aufarbeitung des letzteren für den Westen keine Rolle spielt.13 Ganz in diesem Sinne weicht der polnische Diskurs von dem in Deutschland ab. Helga Hirsch unterscheidet bereits 1998 zwischen dem deutschen Umgang mit der DDR, der einen »bewußten Kontinuitätsbruch« zur Grundlage hatte, und dem kontinuierlichen »Übergang vom Kommunismus zur Demokratie in Polen«.14 Zybura zeigt auf, dass es deshalb in Polen niemals eine klare Verurteilung kommunistischer Verbrechen gegeben hat. Für die Perspektive auf die PRL in der polnischen Gesellschaft heute bedeutet dies:

12 Zu den Hintergründen der Aktion vgl. MAREN OSTERLOH 2009: »Darum heißt Twix plötzlich wieder Raider.« In: welt online am 20.10.2009. URL: http://www.welt. de/wirtschaft/article4913295/Darum-heisst-Twix-ploetzlich-wieder-Raider.html. Letzter Zugriff am 21.08.2015. 13 MAREK ZYBURA 2013: »Der Kommunismus und die Polen.« In: KNIGGE 2013, S. 4960. Hier S. 49. 14 HELGA HIRSCH 1998: »Bewältigen oder verdrängen? Der deutsche und der polnische Umgang mit der jüngsten Geschichte.« In: EWA KOBYLAŃSKA/ANDREAS LAWATY (Hrsg.): erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 11). Wiesbaden. S. 7886. Hier S. 79.

42 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »Aber das Bewusstsein dafür, dass der Kommunismus eine geschichtliche Fehlentwicklung gewesen war, die […] der Menschheit keinen ›neuen Weg‹ wies, sondern eine Sackgasse war, ideell, politisch, wirtschaftlich etc. – dieses Bewusstsein ist in der polnischen Gesellschaft fest verankert.«15

Diese Perspektive zeigt sich auch in der aktuellen politischen Kultur, insbesondere unter der seit 2015 bestehenden Regierung der Partei Prawo i Sprawiedliwość [Recht und Gerechtigkeit]. So besteht etwa ein andauernder Streit um sowjetische Denkmäler auf dem Gebiet Polens, deren kompromissloser Abbau von Seiten Polens immer wieder forciert wird und die Beziehungen der Republik zu Russland auf die Probe stellt.16 Die Gedenkkultur in Polen steht klar im Zeichen einer radikalen Distanzierung von jedem sozialistischen Erbe. Es gibt dementsprechend auch auf den ersten Blick keine nostalgischen Tendenzen gegenüber der Volksrepublik. Vielmehr werden wohlwollende Perspektiven um ein vielfaches stärker tabuisiert als in der Bundesrepublik. Den ostalgischen Erscheinungen in Deutschland sind zwar durchaus äquivalente Phänomene in Polen entgegenzusetzen; man denke etwa an Nasz mały PRL [Unsere kleine PRL] von Izabela Meyza und Witold Szabłowski.17 In dem 2012 erschienenen Buch berichtet das Ehepaar davon, wie es ein halbes Jahr die Lebensumstände aus dem Jahr 1981 rekonstruiert hat – Wohnsituation, Konsumverhalten und Freizeitgestaltung wurden vollständig den Möglichkeiten zur Zeit des Kriegszustandes angepasst und die Erfahrung in dem genannten Buch dokumentiert. Solche Phänomene sind in Polen jedoch deutlich weniger öffentlichkeitswirksam als in Deutschland. Die ausführlichste Auseinandersetzung mit PRL-Nostalgie legt Katarzyna Górska mit ihrer Studie »Obrazy nostalgii za PRL-em i NRD« [»Bilder der Nostalgie nach der PRL und der DDR«]18 vor, in der sie die Nostalgie nach der polnischen Volksrepublik mit der deutschen Ostalgie vergleicht. Ihre Untersuchungsgegenstände sind entsprechend dem landläufigen Gebrauch des Ostalgie15 ZYBURA 2013, S. 60. 16 »Polen will Sowjet-Denkmäler in Atombunker einlagern.« In: Spiegel Online am 30.06.2017. URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/polen-will-sowjetische-denk maeler-in-frueheren-atomwaffen-bunkern-einlagern-a-1155176.html. Letzter Zugriff am 27.07.2017. 17 IZABELA MEYZA/WITOLD SZABŁOWSKI 2012: Nasz mały PRL. Pół roku w M-3 z trwałą, wąsami i maluchem. Kraków. 18 Vgl. KATARZYNA GÓRSKA 2009: »Obrazy nostalgii za PRL-em i NRD.« In: DIES./EWA

LEPKOWSKA: Na Zachód od Wschodu. Literackie i popkulturowe obrazy

NRD, PRL i RFN. Kraków. S. 81-161.

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Begriffs Produkte der Populärkultur; dazu zählen Literatur und Film ebenso wie Werbeaktionen, Internetseiten, Zeitungsartikel und Liedertexte. Eine theoretische Konturierung der Nostalgie, eine Untersuchung ihrer Ursachen und ihrer Funktionsweisen bleibt dabei bedauerlicherweise aus. Vielmehr bietet Górska lediglich eine Materialsammlung von Memorabilia der Volksrepublik, die sie sämtlich einer negativen Bewertung unterzieht. Dabei stellt sie besonders solche Praktiken als bedenklich heraus, die einen monetären Gewinn aus Erinnerungen an das sozialistische Polen ziehen. Als Beispiel nennt sie die Beigabe eines Rasierschaums der Marke Wars als Anreiz zur Vermarktung von DVDs mit volksrepublikanischen Propagandafilmen im Jahr 2006.19 Auch hier gibt es also eine Vermengung von Konsumismus- und Nostalgiekritik. Eines wird in Górskas Ausführungen überraschend deutlich, obwohl es nur implizit im Material belegt ist, und zwar die Verbindung zwischen PRLNostalgie und dem Vorwurf des mangelnden Patriotismus. Bereits in der Einleitung zitiert Górska etwa Rafał Ziemkiewicz mit den Worten, die PRL sei nicht Polen gewesen.20 Diese Dissoziation ist bezeichnend für die polnische Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit und die Tabuisierung von Nostalgie. Górska führt als Belegstück des Weiteren einen Artikel des Journalisten Igor Zalewski an. Er schreibt über die Erfahrung des Kriegszustandes 1981 bis 1983, die ihn in seinem Polentum auf paradoxe Weise gefestigt habe. »Etwas ausgesprochen antipolnisches bekräftigt das Polentum«21, so charakterisiert er das Erlebnis selbst. Als antipolnisch bezeichnet er hier unmittelbar den Kriegszustand, jedoch fällt es leicht, seine Aussagen auf das ganze volksrepublikanische System zu übertragen, wie es auch Górska tut. Wenn dieser Teil der polnischen Geschichte derart vehement abgelehnt wird, kann daraus nur folgen, dass eine positive Sichtweise auf die PRL als unpatriotisch begriffen wird. Durch den Begriff des Patriotismus gewinnt eine Debatte um PRL-Nostalgie mithin noch an Brisanz.

19 Ebd., S. 106. 20 Ebd., S. 83: »VRP, das ist eine Abkürzung aus drei Lügen; der Staat der sich dieses Namens bediente, war gar keine Republik, das Volk hatte in ihm nichts zu sagen, na und vor allem war er nicht Polen« [»PRL to skrót od trzech klamstw; państwo, które się tą nazwą posługiwało, nie było wcale rzeczpospolitą, lud nie miał w nim nic do gadania, no i przede wszystkim nie było ono Polską«]. 21 Ebd., S. 111: »Coś bardzo antypolskiego wzmacnia polskość.«

Die DDR, die PRL und die Erinnerungsliteratur Eine genealogische Historiographie der vorigen Epoche gibt es in Polen bisher weder auf der Mikro- noch auf der Makroebene. Auf Arbeiten von Historikern müssen wir noch warten. Spuren einer derartigen Auffassung von der Vergangenheit sind jedoch in der neuesten Literatur anzutreffen. KATARZYNA CHMIELEWSKA1

In der Aufarbeitung von DDR und PRL zeigen sich kulturspezifische Besonderheiten, die auch nostalgische Narrative über den real existierenden Sozialismus berühren. So wird Nostalgie in diesem Zusammenhang in Deutschland kritisch diskutiert und zwar mitunter als idealisierend diffamiert, aber auch differenziert betrachtet. In Polen wird Nostalgie dagegen als unpatriotisch gebrandmarkt oder gleich gänzlich tabuisiert. Gleichzeitig zeigen die Debatten in beiden Ländern auf, dass es gewisse Diskurslücken in der Aufarbeitung in den Nachfolgestaaten gibt, die der offizielle Erinnerungsdiskurs nicht zu füllen im Stande ist. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus in beiden Ländern nimmt dagegen derzeit zu. Tatsächlich scheint das Sujet der DDR bzw. der PRL die anhaltende Auseinandersetzung mit dem Zweiten

1

KATARZYNA CHMIELEWSKA 2011: »Hydra pamiątek. Pamięć historyczna w dekompozycji.« In: DIES./GRZEGORZ WOŁOWIEC (Hrsg.): Opowiedzieć PRL. Warszawa. S. 16-32. Hier S. 22: »Historiografii genealogicznej poprzednej epoki jeszcze w Polsce nie ma ani w skali mikro, ani w skali makro. Na prace historyków wciąż musimy poczekać. Ślady takiego ujęcia przeszłości możemy jednak spotkać w literaturze najnowszej.« Chmielewska bezieht sich mit diesem Zitat explizit auf Joanna Bator und Inga Iwasiów.

46 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

Weltkrieg in der Erinnerungsliteratur allmählich abzulösen. Die wechselseitige Produktivität von Geschichts- und Literaturwissenschaft in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betont die Philologin Katarzyna Chmielewska. Ihrer Überzeugung nach sind literaturwissenschaftliche Methoden auch für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen. Die Literatur leistet diesen Brückenschlag, noch bevor die akademische Geschichtswissenschaft sich ihm widmen kann – und zwar in Deutschland ebenso wie in Polen. In der Literatur erschließen sich Perspektiven auf die historische Vergangenheit, die außerhalb des historiographischen Anspruchs auf Neutralität und Objektivität stehen und außerdem den akademischen Kontext hinter sich lassen – zu Gunsten der Kunst.2 Auch jenseits von den im Folgenden zu analysierenden Romanen von Uwe Tellkamp, Eugen Ruge, Joanna Bator und Inga Iwasiów gibt es hierfür in beiden Ländern eine Fülle von Beispielen.

D IE DDR IN L ITERATUR UND F ILM

NACH

1989

Die literarische Auseinandersetzung mit der DDR hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Nach der Ostalgiewelle der 1990er Jahre, die sich in erster Linie in Film- und Populärkultur niederschlug, aber auch Romane wie Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999)3 hervorbrachte, hat sich spätestens seit der Jahrtausendwende eine Fülle künstlerischer Perspektiven auf die ostdeutsche Geschichte etabliert. Dazu tragen nicht nur die multiperspektivischen Generationenromane von Uwe Tellkamp und Eugen Ruge bei. Vielmehr besteht eine ungeheure Gattungsvielfalt, die vom popkulturellen Kriminalroman Besuchsreise (2004) einer Anke Gebert zum episch angelegten Roman Nikolaikirche (2011) eines Erich Loest reicht, von Jana Hensels autobiographischen Essays in Zonenkinder (2002) zu Judith Zanders postsozialistischem Roman Dinge, die wir heute sagten (2010), in dem die DDR eher Hintergrundkulisse denn Protagonistin darstellt. Auch westliche Perspektiven

2

Ein germanistischer Aufsatz, der das Zusammenspiel von Zeitgeschichte und Literatur in ähnlicher Manier beleuchtet, liegt vor mit ERHARD SCHÜTZ 2013: »Zweitgeschichte? Gegenwartsliteratur zwischen Vergangenheitsbewirtschaftung und Geschichtsermunterung.« In: Zeitschrift für Germanistik 3, Jg. 23. S. 592-606.

3

Im Folgenden werden Autoren und Titel der Primärliteratur genannt, ohne dass in der Fußnote die vollständige Literaturangabe aufgeführt wird – dies dient der besseren Lesbarkeit des Kapitels. Alle genannten Werke werden im Literaturverzeichnis aufgeführt.

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auf die ›Wende‹ kommen zum Tragen, namhaft in Sven Regeners Kultroman Herr Lehmann (2001). Die Bandbreite erstreckt sich weiter von klassisch fiktionalen Texten über autobiographische (Schlüssel-)Romane wie Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe (2012) hin zu faktual angelegten Familiengeschichten wie Maxim Leos Haltet euer Herz bereit (2009). Dabei ist die Auseinandersetzung mit der DDR nicht auf das Medium Buch beschränkt. So spielen etwa Graphic Novels wie Mawils Kinderland (2014) eine Rolle, vom Film ganz zu schweigen, dessen Rolle für die Aufarbeitung des geteilten Deutschlands insgesamt schon besser besprochen ist als die literarischen Beiträge.4 Zu nennen sind neben Wolfgang Beckers Good bye, Lenin! (2003) und Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006) die Filme von Christian Schwochow, dessen präferiertes Sujet die DDR ist und der auch bei der Literaturverfilmung von Uwe Tellkamps Der Turm (2012) Regie geführt hat. Mit einer weiteren literarischen Vorlage hat sich auch Leander Haußmann in der Filmszene etabliert: Sonnenallee (1999) trug bereits Ende der 1990er Jahre zum Ostalgie-Diskurs bei. Das grundsätzliche Interesse an literarischen Verarbeitungen der deutschen Teilung scheint ungebrochen. Das zeigt sich bereits beim Blick auf die auf Buchumschlägen abgedruckten Pressestimmen: »›Ingo Schulze hat den langersehnten Roman über das vereinigte Deutschland geschrieben.‹ Wolfgang Höbel im ›Spiegel‹«5 »Brussig, dem Wunderknaben vom Prenzlauer Berg, ist der Deutschlandroman gelungen, auf den man seit jenen Tagen gewartet hat. (DER SPIEGEL)«6

Von der Garde deutscher Schriftsteller wird eine Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht mehr nur erwartet, sondern fast zwingend eingefordert. Dabei reicht es nicht, überhaupt einen Text zum Thema vorzulegen. Der Anspruch besteht vielmehr darin, den Text zu schaffen, der die deutsche historische Erfahrung in all ihren Facetten als kanonisches Standardwerk zur ästhetischen Vollen-

4

Hierzu vgl. etwa GERHARD LÜDEKER 2012: Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München.

5

INGO SCHULZE 92012: Simple Stories. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz.

6

THOMAS BRUSSIG 2004: Wie es leuchtet. Frankfurt am Main.

München.

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dung bringt.7 Authentizität macht dabei offenbar das ausschlaggebende Qualitätskriterium aus. Im Feuilleton spielt zumindest die Frage danach, ob die Handlung eines Textes wirklich passiert ist oder hätte passieren können, eine überproportional große Rolle. Es ist auffällig, dass sich Literatur und Film mit der Zeit nicht mehr nur mit dem Dissidententum auseinandersetzen oder reißerische Geschichten von Flucht und Gefängnis erzählen, sondern sich immer stärker auch der Darstellung des sozialistischen Alltags widmen. Überlegungen zur Nostalgie sind hier anschlussfähig: Wenn dieselbe auf ein schädliches Instrument historischer Verklärung reduziert wird, so liegt dies häufig auch darin begründet, dass nicht zwischen der Bezugnahme auf den individuell erlebten Alltag und derjenigen auf die politische Ereignisgeschichte des real existierenden Sozialismus differenziert wird. Oliver Igel spricht von »[…] der Problematik, dass Texte, die zur ›Wendeliteratur‹ gezählt werden, unter Umständen ausschließlich politisch beurteilt werden. Bereits die Zuordnung von Literaturbeispielen zur Kategorie ›Wendeliteratur‹ signalisiert eine politische Lesart, die in den Texten bereits angelegt ist. Schließlich hat die ›Wende‹ auch das Private politisiert, weshalb in diesen Schriften die Vielfältigkeit des politischen Charakters herausgearbeitet werden kann und muss. Doch die politische Beurteilung darf nicht das einzige Kriterium und einziger Analysegegenstand sein.«8

In der Literatur besteht die Möglichkeit, eine diskursive Vielfalt herzustellen und unterschiedliche Aspekte der Vergangenheit in den Blick zu nehmen, ohne sich sofort polit-moralischen Bewertungen ausgesetzt zu sehen. Diese Entwicklung hin zu einer perspektivischen Vielfalt ist uneingeschränkt positiv zu bewerten, 7

Oliver Igel diagnostiziert zutreffend unter Veweis auf Julia Kormann: »Der Begriff [der ›Wendeliteratur‹, Anm. d.Verf.] enthält eine Forderung, die einem jeweils spezifischen Vorverständnis entstammt. Das Problem dieses Verlangens – insbesondere das nach dem großen ›Wenderoman‹ – ist, dass es eine mögliche Leistung mit deren Aufgabe gleichsetzt und zur Pflicht erhebt.« (OLIVER IGEL 2005: Gab es die DDR wirklich? Die Darstellung des SED-Staates in komischer Prosa zur »Wende«. Tönning et.al. S. 26, Herv. i.O.) Igel führt das Problem der Suche nach »dem ›Wenderoman‹« im Folgenden noch aus, streicht die Unmöglichkeit der Erfüllung der Ansprüche heraus und beschreibt, wie das Feuilleton gleichzeitig jedes Jahr aufs Neue die Suche für beendet erklärt. Es ist jedoch zu bedenken, dass Igels Text vor dem Erscheinen von Uwe Tellkamps Roman Der Turm verfasst wurde, der seine Argumentation sicherlich beeinflusst hätte.

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IGEL 2005, S. 23.

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denn erst in ihr stellt sich die DDR als ein vollends akzeptierter Teil gesamtdeutscher Geschichte dar. Die offenkundigste Kategorisierung von Texten über die DDR – jenseits der erwähnten medialen und gattungstheoretischen Klassifizierung – muss die ›Wendeliteratur‹9 von solchen Texten unterscheiden, die nicht die ›Wende‹ und ihre Folgen zentral setzen, sondern die DDR selbst. Neueste Romanveröffentlichungen in der zweiten Kategorie zeichnet dabei eine Tendenz zum Metatext aus, der Authentizitätsdiskussionen abruft (vgl. Jenny Erpenbeck: Heimsuchung (2008), Julia Schoch Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009), Peggy Mädler Die Legende vom Glück des Menschen (2011)). Michael Braun schreibt über diese Texte, die er zeitlich vor allem im neuen Jahrtausend verortet: »Es geht weniger um eine Rekonstruktion der inzwischen sattsam erzählten Ereignisse, vielmehr um eine Reflexion des Umgangs mit dieser Geschichte im kollektiven und im kulturellen Gedächtnis. Diese Erinnerungsphase an Mauerfall und Einheit ist noch lange nicht beendet.«10

DDR-Geschichte dient nun als Aufhänger für literarische Reflexionen über Erinnern und Vergessen allgemein, so wie es vorher der Nationalsozialismus tat. Diese Entwicklung ist logischerweise der floating gap nach Jan Vansina11 zuzuschreiben. Die Autoren nutzen ihren Zeitzeugenstatus und stellen im Hinblick auf DDR-Geschichte Fragen nach den gängigen Modi des Erinnerns, nach der Gestaltung und den Grenzen des Erinnerungsdiskurses; und dieser neue Gegenstand ermöglicht dabei Perspektiven, die vormals unmöglich waren, weil im Kontext des Holocaust gewisse unhintergehbare moralische Rahmenbedingungen existieren.

9

Zu diesem Begriff vgl. neben IGEL 2005 auch WOLFGANG GABLER 2012: »Der Wenderoman. Zur endlosen Geschichte eines literarischen Genres.« In: Kulturation. Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik. Zugriff unter URL: http://www.kultur ation.de/ki_1_text.php?id=51. Letzter Zugriff am 09.10.2015.

10 MICHAEL BRAUN 22013a: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film. Münster. S. 93. 11 JAN VANSINA 1985: Oral tradition as history. Madison, WI. S. 23: »For recent times there is plenty of information which tapers off as one moves back through time. For earlier times one finds either a hiatus or just one or a few names, given with some hesitation. There is a gap in the accounts, which I will call the floating gap. For still earlier times one finds again a wealth of information and one deals here with traditions of origin.«

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Eine ausführliche Bibliographie der literarischen und filmischen Auseinandersetzung bis zum Jahr 2008 findet sich in Frank Thomas Grubs Handbuch zu ›Wende‹ und ›Einheit‹ in der Literatur.12 Neben einer kundigen Analyse des Verlagswesens in der DDR und der Bundesrepublik unter Berücksichtigung der Veränderungen durch den politischen Systemwechsel liefert Grub außerdem begriffsanalytische Beobachtungen zur ›Wende‹ und ›Wendeliteratur‹ sowie zahlreiche Textanalysen, die alle wichtigen Textgattungen einschließen. Eine neuere motivsystematische Studie, die die Erinnerung an die DDR in den Kontext der Erinnerungsliteratur einordnet, legte 2013 Asako Miyazaki mit ihrer Dissertation Brüche in der Geschichtserzählung vor.13 Einen interessanten Blick der Auslandsgermanistik bilden die Werke von Nick Hodgin.14 Filmischer Auseinandersetzung widmet sich insbesondere Gerhard Lüdeker. 15 Ein wichtiger Blick auf Identitätsdiskurse, der nicht nur literarische Gegenstände einbezieht, findet sich im interdisziplinären Sammelband Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989 unter der Herausgeberschaft von Elisa Goudin-Steinmann und Carola HähnelMesnard.16

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Ein struktureller Unterschied in der Aufarbeitung von PRL und DDR ergibt sich dadurch, dass an den polnischen Sozialismus nicht der Untergang eines souveränen Staates gekoppelt ist. Während es in Deutschland zumeist darum geht, der politischen, aber auch der Kulturgeschichte der DDR einen angemessenen Platz in der Erinnerungskultur zu verschaffen, sind die Diskurse in Polen von dem Be-

12 GRUB 2008. 13 ASAKO MIYAZAKI 2013: Brüche in der Geschichtserzählung. Erinnerung an die DDR in der Post-DDR-Literatur. Würzburg. 14 NICK HODGIN/CAROLINE PEARCE 2011: The GDR remembered. Representations of the East German state since 1989. Rochester sowie NICK HODGIN 2011: Screening the East. Heimat, Memory and Nostalgia in German Film since 1989. New York et.al. 15 Vgl. die erwähnte Monographie LÜDEKER 2012 sowie die Herausgeberschaft des Sammelbandes GERHARD LÜDEKER/DOMINIK ORTH 2010: Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film. Göttingen. 16 ELISA GOUDIN-STEINMANN/CAROLA HÄHNEL-MESNARD (Hrsg.) 2013: Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität. Berlin.

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streben einer Neuverortung des Landes in Mitteleuropa gezeichnet.17 Die polnische Erinnerungsliteratur knüpft folglich mit Vorliebe an die Zweite Republik an, zum Beispiel in den äußerst populären Kriminalromanen Marek Krajewskis seit seinem Debut Śmierć w Breslau [dt. Tod in Breslau] (1999).18 Katarzyna Górska bezeichnet diese Bezugnahme als eine »polnische Nostalgie«: »Um nicht an den entlegenen Mythos eines goldenen Zeitalters erinnern zu müssen, kann man doch auf unsere polnischen Nostalgien verweisen: nach Galizien, nach den Kresy, nach der Zweiten Republik.«19

Bezeichnenderweise spielen denn auch die ›Kresy‹ bzw. die ›Verlorenen Gebiete‹ im Osten eine wichtige Rolle in den Romanen von Joanna Bator und Inga Iwasiów. Daneben gibt es dennoch einige Beispiele in der Literatur, die Bezug auf die PRL nehmen. Als solche könnte man die Texte der Danzigliteratur werten, im Rahmen derer sich bereits in den 1990er Jahren Stefan Chwin in Hanemann [dt. Tod in Danzig] (1995) und Paweł Huelle in seinen Kurzgeschichten, etwa Opowiadania na czas przeprowadzki [Erzählungen zur Zeit des Umzugs, dt. Schne17 Der Wunsch, das postsozialistische Polen in die am westlichen Europa orientierte historische Linie zu stellen, zeigt sich daran, dass die Volksrepublik nicht die Zählung der ersten Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und der zweiten polnischen Republik der Zwischenkriegszeit weiterführt, sondern als eigenständige historische Epoche außerhalb eventueller Traditionen gehandelt wird, die nach der ›Wende‹ von 1989 mit dem Begriff der Dritten Republik wieder aufgenommen werden. Natürlich ist die Namensgebung der Volksrepublik nicht Bestrebungen aus der Nachwendezeit zuzuschreiben – wohl aber die Namensgebung der Dritten Republik, die das sozialistische Polen gezielt als Lücke in der Geschichte konstruiert. Zur Konstruktion des Kommunismus als »bloß eine Unterbrechung, eine Pause, eine Verzögerung in der ›normalen‹ Entwicklung« vgl. BORIS GROYS 2005: »Die postkommunistische Situation.« In: DERS. et.al.

(Hrsg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des

Postkommunismus. Frankfurt am Main. S. 36-48. Hier S. 36. 18 Die polnischen Buchtitel sind in eckigen Klammern wörtlich ins Deutsche übersetzt – außer bei Eigennamen, die unübersetzt bleiben. Die Titel veröffentlichter Übersetzungen sind mit dem Zusatz ›dt.‹ markiert und bei Abweichungen zusätzlich zur wörtlichen Übersetzung angegeben. Im Literaturverzeichnis sind deutsche Übersetzungen direkt im Anschluss an die Originalausgaben aufgeführt. 19 GÓRSKA 2009, S. 83: »Żeby nie wspominać odległego mitu złotego wieku, można wskazać choćby na nasze polskie nostalgie: za Galicją, za Kresami lub za II Rzeczpospolitą.«

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cken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdańsk] (1991),20 auch Schauplätze zu Zeiten der Volksrepublik suchen. Die politischen und wirtschaftlichen Umstände einer sozialistischen Gesellschaft spielen in diesen Texten jedoch weniger eine Rolle, vielmehr bilden auch sie einen Versuch der Auseinandersetzung mit der deutschen, also vorsozialistischen Vergangenheit des Ortes, an dem sie spielen. Selbiges gilt für Artur Daniel Liskowackis Eine kleine [deutsch i.O., dt. Sonate für S.] (2000) und Brygida Helbigs Niebko [Himmelchen] (2013), die ebenfalls den deutsch-polnischen Kontakt in den Blick nehmen. Auch in einigen Texten der so genannten literatura kobieca [Frauenliteratur] wird die Volksrepublik als Schauplatz gewählt, jedoch geschieht dies in vielen Texten beiläufig, mitunter nur in einzelnen Textfragmenten oder durch das Prisma einer textinternen Erinnerung, etwa in Grażyna Plebaneks Dziewczyny z Portofino [Die Mädchen von Portofino] (2005), Olga Tokarczuks Bieguni [Läufer, dt. Unrast] (2008) oder Sylwia Chutniks Kieszonkowy atlas kobiet [Taschenatlas der Frauen, dt. Weibskram] (2009). Während diese Werke in erster Linie vor der Folie des Feminismus wahrgenommen werden, wird ein weiterer großer Roman über die Volksrepublik hauptsächlich im Rahmen der Queer Studies besprochen: Michał Witkowskis Lubiewo (2004)21 bietet, neben seiner zweifellos großen Relevanz für polnische Debatten um die Queer Theory, eine wichtige literarische Auseinandersetzung mit dem Leben in der Volksrepublik Polen, was leider bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist.22 Obwohl das Thema durch verschiedene literarische Genres bedient wird, ist die mediale Vielfalt in Polen insgesamt bescheidener als in Deutschland. Es liegt 20 Huelles Hauptwerk Weiser Dawidek (1987) spielt natürlich auch in der Volksrepublik, interessiert hier jedoch deswegen nicht, weil es noch vor der politischen Wende erschienen ist und daher nicht aus der Retrospektive auf die PRL als ein abgeschlossenes Projekt blickt. 21 Das Buch ist seither in zwei weiteren Fassungen erschienen: 2005 in einer zweiten Auflage mit dem Zusatz »poprawiony i uzupełniony« [verbessert und vervollständigt] sowie 2007 unter dem Titel Lubiewo bez Cenzury [Lubiewo unzensiert] in der ursprünglich vom Autor intendierten Langfassung. 22 Eine Ausnahme bildet MICHAŁ CZAJA 2012: »›Lubiewo‹ jako strefa przejścia. Narracja o komunizmie w powieści Michała Witkowskiego.« In: CHMIELEWSKA 2012, S. 167-178. Für eine differenzierte Analyse des Textes in deutscher Sprache vgl. ARTUR PEŁKA 2010: »Das heterotopische Gedächtnis: Que(e)re Erzählungen aus der Volksrepublik Polen in Michał Witkowskis Lubiewo.« In: ILSE NAGELSCHMIDT et.al. (Hrsg.): Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart. Berlin. S. 183-207.

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neben den beschriebenen fiktionalen Texten eine größere Zahl autobiographischer literarischer Zeugnisse vor, die von Andrzej Stasiuks Jak zostałem pisarzem [dt. Wie ich Schriftsteller wurde] (1998) bis zu Michał Głowińskis Magdalenka z razowego chleba [dt. Eine Madeleine aus Schwarzbrot] (2001) reichen.23 Im Bereich Graphic Novel liegt mit Marzena Sowas Marzi eine wichtige Auseinandersetzung mit der Volksrepublik vor, deren naheliegender Vergleich mit Mawils erwähntem Kinderland bereits die Augen der Forschung auf sich zieht.24 Im Film steht die PRL als Schauplatz ebenfalls meist im Hintergrund, etwa in Auseinandersetzungen mit der Kriegsvergangenheit Polens wie in Wojciech Smarzowskis Róża (2011), der 1945 in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Masuren spielt, oder Paweł Pawlikowskis Ida (2013), dessen Handlung im Jahr 1962 angesiedelt ist. Präsenter ist die volksrepublikanische Kulisse in Literaturverfilmungen wie Magdalena Piekorzs Pręgi [Striemen] (2004) nach Wojciech Kuczoks Roman Gnój [dt. Dreckskerl] (2003) oder Borys Lankoszs Rewers [Rückseite] (2009) nach der gleichnamigen literarischen Vorlage [dt. Der Knochenpalast] von Andrzej Bart (2009). Die bereits erwähnte Katarzyna Chmielewska ist mit ihren Herausgeberschaften am Warschauer Instytut Badań Literackich PAN [Institut für Literarische Forschungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften] sicherlich die wichtigste Persönlichkeit in der Forschung zur literarischen Auseinandersetzung mit der PRL.25 Für einen disziplinär nicht auf die Literaturwissenschaft beschränkten Ansatz sei auf den Sammelband Popkomunizm unter Herausgeberschaft von Magdalena Bogusławska und Zuzanna Grębecka verwiesen.26 Auch die erwähnte Studie von Katarzyna Górska nimmt explizit Bezug auf Literatur.27 Weitere Informationen zur Post-PRL-Literatur finden sich auch in Veröffentli-

23 Gerade in Stasiuks Fall sind auch Texte, die sich nicht eindeutig als Autobiographien ausweisen, häufig mit der Zeit vor 1989 befasst. Als fiktionales Gegenstück zu Jak zostałem pisarzem liest sich Mury Hebronu [dt. Die Mauern von Hebron] (1992). 24 Vgl. KALINA KUPCZYŃSKA 2016: »Kinder(,) bitte nicht vergessen! – Ostalgie und PRL-Nostalgie im deutschen und polnischen Comic.« In: DIES./RENATA MAKARSKA (Hrsg.): Comic in Polen – Polen im Comic. Berlin. S. 71-89. 25 Vgl. KATARZYNA CHMIELEWSKA/GRZEGORZ WOŁOWIEC (Hrsg.) 2011: Opowiedzieć PRL. Warszawa sowie KATARZYNA CHMIELEWSKA et.al. (Hrsg.) 2012: PRL – Życie po życiu. Warszawa. 26 MAGDALENA BOGUSŁAWSKA/ZUZANNA GRĘBECKA (Hrsg.) 2010: Popkomunizm. Doświadczenie komunizmu a kultura popularna. Kraków. 27 GÓRSKA 2009.

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chungen, die sich mit der Gesamtheit der Literatur seit der politischen Wende beschäftigen.28

28 Vgl. etwa HANNA GOSK (Hrsg.) 2010: Nowe Dwudziestolecie (1989-2009). Rozpoznania, Hierarchie, Perspektywy. Warszawa.

Erinnerungsliteratur und Nostalgie Die autobiographische Erinnerungsliteratur zeigt vor allem das Gesicht des Autors, der als Autorität und als erster Zeuge für ein erinnertes Leben eintritt, das sein eigenes ist. Der Erinnerungsroman hingegen zeigt das Gesicht einer narrativen Wahrheit, die sich nicht mit der historischen Wahrheit decken muss. Dabei bedient sich der Erinnerungsroman der poetischen Imagination, durch welche das Ereignis im Erinnern verändert, verkürzt, mit fiktionalen Elementen erweitert wird – und auch verfälscht werden kann. MICHAEL BRAUN1

Wenn es um die Darstellung historischer Ereignisse in der Literatur geht, ist die Frage nach autobiographischen Schreibweisen niemals weit. Dezidiert als autobiographisch ausgewiesene Texte können indes kaum ohne eine intensive Reflexion der Kategorien von Fiktionalität und Faktualität untersucht werden. Der Erinnerungsroman nach Michael Braun hingegen entzieht sich der Bewertungskategorien von ›wahr‹ und ›falsch‹ – ebenso wie sich die Nostalgie als emotionalsubjektive Größe von diesen Urteilskriterien lossagt. So kann sich ein derart

1

MICHAEL BRAUN 2013b: »Die Erfindung der Geschichte. Fiktionalität und Erinnerung in der Gegenwartsliteratur.« In: CARSTEN ROHDE/HANSGEORG SCHMIDTBERGMANN (Hrsg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld. S. 139-161. Hier S. 139f. Unglücklicherweise nutzt Braun den Begriff der Verfälschung, der die Vorbehalte gegenüber der Nostalgie bestätigt. Er formuliert diesen Effekt jedoch als Möglichkeit und nicht als Notwendigkeit.

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klassifizierter Text zur Schaffung einer »narrativen Wahrheit« auch der Nostalgie als eines Instruments der »poetischen Imagination« bedienen. Um aufzuzeigen, inwiefern das Ergebnis dann die Geschichtsschreibung multiperspektivisch bereichert, werden im Folgenden vier Erinnerungsromane herangezogen. Bei den ausgewählten Texten handelt es sich in der Reihenfolge ihrer Erscheinungsdaten um die Romane Der Turm von Uwe Tellkamp (2008), Bambino von Inga Iwasiów (2008), Sandberg [Piaskowa Góra] von Joanna Bator (2009) und In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge (2011). Der Vergleich deutscher und polnischer Romane festigt die transnationale Relevanz der Nostalgie für die Erinnerungskultur und ermöglicht Aussagen über die mitteleuropäische Erinnerung wie auch über Rolle und Funktion von Nostalgie in den kulturspezifischen Erinnerungsdiskursen.2 Die Romane stammen aus den Jahren 2008 bis 2011 und nehmen damit einen nahezu identischen zeitlichen Abstand zu ihrem Gegenstand ein. Sie entwickeln dennoch ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte, wobei sie ihre Erinnerungsarbeit weniger durch die Reflexion des Erinnerungsprozesses im Metatext leisten, sondern es ermöglichen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Vergangenheit narrativ konstruiert wird, inwiefern sich darin Emotionen zeigen und welche Bewertungen und Deutungen sich daraus ableiten lassen. Alle vier Romane erzählen Familiengeschichten zur Zeit der DDR bzw. der PRL. Uwe Tellkamps Text beschränkt sich auf die letzten 8 Jahre vor dem Mauerfall, während die anderen drei Romane ihre Handlung tatsächlich von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre entfalten. Dabei sind alle Texte von Rückblenden in die Kriegs- und Vorkriegszeit sowie mitunter auch Vorgriffen in die Nachwendezeit durchzogen. Die Romane bedienen sich heterodiegetischer Erzählinstanzen, die durch multiple interne Fokalisierung die Perspektive verschiedener Charaktere in den Text einbringen.3 2

Über die Spezifik der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des sozialistischen Systems in der DDR und der PRL geben die Aufsätze eines Sammelbandes zu den deutsch-polnischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufschluss: BASIL KERSKI/ANDRZEJ KOTULA/KAZIMIERZ WÓYCICKI (Hrsg.) 2003: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949-1990. Osnabrück.

3

In Inga Iwasióws Bambino tritt vereinzelt eine homodiegetische Erzählinstanz auf. Ursula Phillips identifiziert unter Bezugnahme auf Brygida Helbig-Mischewski die erwachsene Magda, die Tochter der Protagonisten Marysia und Janek, als versteckte Erzählerin des Romans, vgl. URSULA PHILLIPS 2012a: »Generation, Transformation and Place in Inga Iwasiów’s Novels Bambino (2008) and Ku słońcu (2010).« In: Argument. Biannual Philosophical Journal 1, S. 17-35. URL: http://philpapers.org/rec/

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In allen Texten liegt eine starke Bindung an den jeweiligen Schauplatz vor, die Städte Dresden (Der Turm), Szczecin (Bambino), Wałbrzych (Sandberg) und Berlin (In Zeiten des abnehmenden Lichts) prägen die jeweilige Handlung maßgeblich. Verschiedene Motive treten jeweils in mindestens drei der Texte sujetbildend auf: der Bereich psychischer und physischer Krankheit (Alkoholismus, Depression, Behinderung), auch in Verbindung mit psychischer und physischer Gewalt (Vergewaltigung, häusliche Gewalt), Reflexion über Körperbilder und Schönheitsideale; sozialistische Schulbildung, Jugendorganisationen und die Armee; Religion bzw. Auseinandersetzung mit der Rolle der Kirche; schließlich auch der niedrige Lebensstandard in der Mangelwirtschaft. Es handelt sich bei den Texten um Familien- bzw. Generationenromane. Die Diskussion über dieses Genre hat sich in den letzten Jahren verkompliziert, was nicht zuletzt an der Verschiebung des vormals gängigen Begriffs des Familienromans hin zum Generationenroman deutlich wird. Dieser markiert keineswegs lediglich eine Unterscheidung im thematischen Fokus, wie es Matteo Galli und Simone Costagli behaupten.4 Seit Thomas Mann mit den Buddenbrooks den FaPHIGTA-2. Letzter Zugriff am 06.04.2016. Hier S. 22. Im zitierten Aufsatz HelbigMischewskis findet sich die Behauptung nicht explizit, wohl aber die Beobachtung, dass Magda als titelgebendes ›Bambino‹ gleichzeitig an der Grenze wie im Zentrum des Textes zu finden sei und sie als fiktionalisierte Version der Autorin verstanden werden müsse, s. BRYGIDA HELBIG-MISCHEWSKI 2009: »Szlak prowadzący do nas.« In: Kresy 1-2, Vol. 77-78. S. 141-146, hier S. 144f. Für die These von Magda als versteckter Erzählerin spricht die folgende Textstelle: »Marysia steht mir nahe, ich bestimme sie zur Ahnherrin auf Probe« [»Marysia jest mi bliska, deleguję ją do odbycia stażu na protoplastkę« (Bambino 66)]. Die Vorstellung von einer konkreten Erzählerinnenfigur verstärkt neben dem generationellen Aspekt durch die Tochter-MutterBeziehung auch den nostalgischen Aspekt als Suche der Tochter nach ihren eigenen Wurzeln. Grundsätzlich herrscht jedoch eine heterodiegetische Erzählsituation mit einer variablen internen Fokalisierung vor, im Rahmen derer dem Leser eine Innensicht aller vier Protagonisten gewährt wird. Dies stellt die These von der versteckten Erzählerinnenfigur in Frage oder zweifelt doch zumindest die Zuverlässigkeit einer solchen Instanz an. 4

Galli und Costagli bestimmen den Begriff des Familienromans »als allgemeine Bezeichnung für Texte mit Handlungsfokus innerhalb einer Familie«, hingegen fassen sie als Generationenromane solche Texte, »die chronologisch mehrere Generationen umfassen«, vgl. MATTEO GALLI/SIMONE COSTAGLI 2010: »Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman.« In: SIMONE COSTAGLI/MATTEO GALLI (Hrsg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München. S. 7-20. Hier S. 8f.

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milienroman aus der Taufe hob, hat ›die‹ Familie als soziologische Einheit einen gesellschaftlichen Wandel durchlaufen, der sich notwendigerweise auch in literarischen Repräsentationen niederschlagen musste. Neuere Veröffentlichungen bevorzugen die Bezeichnung ›Generationenroman‹, weil sie frei ist vom Bezug zu einem klassischen Familienmodell und den Kontakt zwischen den Generationen jenseits von den assoziativ überladenen Rollen von Vater, Mutter und Kind in den Blick nimmt.5 Zugunsten des Begriffs der Generation auf die Familie zu verzichten, spricht somit auch für eine differenzierte Sicht auf gesellschaftliches Zusammenleben. Julian Reidy formuliert in seiner Monographie Rekonstruktion und Entheroisierung: »Wenn im weiteren Verlauf dieser Studie von ‚Generationenromanen› im Allgemeinen die Rede ist, so sind damit, grob gesagt […], Prosatexte gemeint, in welchen intergenerationelle Konstellationen ein Strukturprinzip bilden.«6

Solch »intergenerationelle Konstellationen [als] ein Strukturprinzip« sind in den Romanen von Tellkamp, Ruge und Bator fraglos vorhanden. Hier können klare Zuordnungen der Charaktere zu den Rollen von Kindern und Eltern sowie gegebenenfalls Großeltern getroffen werden, wenn sich auch im Verlauf der Romanhandlung mitunter herausstellt, dass diese Zuordnungen fehlerhaft sind. Komplizierter ist es, Iwasióws Text mit dem Begriff des Intergenerationellen zu vereinbaren. Als Strukturprinzip greift es jedoch auch hier. Katarzyna Chmielewska schreibt über die vier Hauptfiguren im Roman: »Jeder der Helden fristet für sich genommen sein Dasein gegen die eigene Familie gerichtet. […] Alle zusammen schaffen einen Kreis, den wir heute als rekonstruierte Familie bezeichnen könnten: mit den zwei Kindern von Anna und Maria, die wie Geschwister behandelt werden und zusammen aufwachsen.«7

5

Etwa FRIEDERIKE EIGLER 2005: Gedächtnis und Geschichte im Generationenroman seit der Wende. Berlin und ARIANE EICHENBERG 2009: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen.

6

JULIAN REIDY 2013: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des ‚Generationenromansʼ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld. S. 40.

7

CHMIELEWSKA 2011, S. 25: »Każdy bohater z osobna wiedzie żywot wymierzony przeciwko własnej rodzinie. […] Wszyscy razem tworzą krąg, który moglibyśmy dziś nazwać rodziną zrekonstruowaną: z dwojgiem dzieci Anny i Marii, traktującymi się jak rodzeństwo i wychowującymi razem.«

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Die biologische Familie bildet hier ein dysfunktionales Gegenkonstrukt, von dem sich die Figuren abgrenzen. Sie suchen sich eine neue Familie, deren Zusammenhalt anstelle der Blutsverwandtschaft auf einer tatsächlich empfundenen Gemeinsamkeit basiert. Dabei ist nicht zu verachten, dass das Konzept der Familie auch eine besondere emotionale Qualität besitzt, die den Generationenroman an sich zu einem optimalen Gegenstand für Untersuchungen über Nostalgie macht.8 Die deutschen Texte wurden im Feuilleton auch als ›Wenderomane‹ besprochen9 – eine Einordnung, die selbst jenseits der komplexen Begriffsbestimmung dieses Genres an sich nicht unproblematisch ist. Alle vier Romane nehmen die ›Wende‹ als politisches Ereignis aus. Sie konzentrieren sich auf die Zeit des real existierenden Sozialismus und verweisen auf den Systemwechsel allenfalls durch Prolepsen, die in die Nachwendezeit springen. 10 Am deutlichsten ist die Leerstelle fraglos in Uwe Tellkamps Der Turm markiert, dessen Roman mit einem bedeutungsvollen Doppelpunkt endet. Auch in Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts ist der Mauerfall elliptisch ausgelassen – der letzte Erzählzeitpunkt davor ist der 1. Oktober 1989, der erste danach ein unbestimmtes Datum im Jahr 1991. In Sandberg von Joanna Bator steht am Schluss der Autounfall der Protagonistin Dominika metaphorisch für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems, das sich jedoch in Polen ohnehin schwerer auf ein bestimmtes Datum festlegen lässt als in Deutschland. Inga Iwasióws Bambino endet 1981

8

Vgl. dazu beispielsweise den Sammelband JAN SÜSELBECK (Hrsg.) 2014a: Familiengefühle. Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien. Berlin. Hier werden Emotionalisierungsstrategien in Generationenromanen untersucht, die der NSErinnerungsliteratur zugerechnet werden. Jedoch stehen die verschiedenen Aufsätze weniger im Zeichen einer Rehabilitierung emotionaler Zugänge, sondern konzentrieren sich auf die moralisch fragwürdige Instrumentalisierung von Gefühlen zur Relativierung der deutschen Schuld. Dadurch wird die Frage nach komplementären, produktiven Funktionen emotionaler Zugänge allerdings umso virulenter.

9

Vgl. THOMAS BRUSSIG 2008: »›Schau genau hin‹.« In: Der Spiegel 40 vom 29.09.2008. S. 152-153 und SANDRA KEGEL 2011: »Der Untergang des Hauses Ruge.« In: faz.net am 26.08.2011. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ ein-deutsches-jahrhundert-im-roman-der-untergang-des-hauses-ruge-11125457.html. Letzter Zugriff am 02.08.2016.

10 Wolfgang Gabler bemerkt etwa eine solche Tendenz zu einer »Literarisierung der DDR« in der jüngsten ›Wendeliteratur‹ als einer »DDR-Retroperspektive […], ohne dass die Wende gewissermaßen teleologische Konsequenz der Geschichte wäre«, vgl. GABLER 2012, Abschnitt V.

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mit vagen Andeutungen über die politischen Veränderungen im Land. Wie in Der Turm gibt es hier keine Verweise auf die Nachwendezukunft. Eher denn als Texte über die politischen Veränderungen von 1989 sind dementsprechend alle vier Romane als Texte über den real existierenden Sozialismus zu lesen. Die Textstellen bei Eugen Ruge und Joanna Bator, die vorgreifen, reflektieren zwar die ›Wende‹ bereits als Bestandteil einer textimmanenten Erinnerung. Dennoch spielt der weit überwiegende Teil der Handlung in allen Texten in der DDR bzw. der PRL und die Auseinandersetzung mit dem Leben in diesen Staaten prägt das Sujet stark, während der politische Wandel eher als ein Instrument dient, weitere Aussagen über das sozialistische System zu treffen. Dass die beiden deutschen Romane von Autoren, die polnischen von Autorinnen verfasst sind, ist ein unglücklicher Zufall, der noch deutlicher aufstößt, da die beiden Polinnen sich auch in der akademischen Landschaft um die feministische Theorie und ihre Rezeption in Polen verdient gemacht haben. 11 In Polen werden die Texte entsprechend vornehmlich der literatura kobieca [Frauenliteratur] zugerechnet und als feministische Statements verstanden. Dies schlägt sich gerade in den wissenschaftlichen Aufsätzen nieder, die bereits über die beiden Romane veröffentlicht worden sind.12 Joanna Bator bemerkt dazu auf Nachfrage in einem Interview: »Es gibt zwei Arten von guten Büchern. Zuerst die Bücher, von Frauen oder Männern geschrieben, die in schönem Stil das Bekannte beschreiben […]. Das zweite sind die Bücher, ebenfalls von Frauen oder Männern geschrieben, die etwas verschieben und umdrehen, die wehtun. […] Ideologische Romane, unabhängig davon, ob sie von einem mit Talent gesegneten Faschisten oder von einer untalentierten, aber wohlmeinenden Feministin geschrieben sind, finden sich in der dritten Gruppe – schlechte Bücher. Wenn die Erzählung 11 Vgl. JOANNA BATOR 2002: Feminizm, Postmodernizm, Psychoanaliza. Filozoficzne dilematy feministek drugiej fali. Gdańsk sowie INGA IWASIÓW 22008a: Gender dla średnio zaawansowanych. Wykłady szczecińskie. Warszawa. 12 Dazu zählen etwa über Inga Iwasióws Roman der Aufsatz von AGNIESZKA GAJEWSKA 2010: »O pierwszym rozdziale Bambino Ingi Iwasiów. Wykład poznański.« In: Litteraria Copernicana 1, Vol. 5. S. 62-71 sowie über Joanna Bator der Text von ELIZA SZYBOWICZ 2013: »Od Zawrocia do Karpathos. PRL i uznanie w powieści kobiecej.« In: Teksty Drugie 3, S. 191-203. Eine verdienstvolle Diskussion beider Romane im Rahmen der auch in Polen gängigen Diskurse aus dem Feld des Feminismus in englischer Sprache liefert URSULA PHILLIPS 2012b: »Problems of Feminism and Postfeminism in Novels by Inga Iwasiów and Joanna Bator.« In: URSZULA

CHOWANIEC/URSULA PHILLIPS (Hrsg.): Womenʼs voices and feminism in Polish

cultural memory. Newcastle upon Tyne. S. 127-154.

E RINNERUNGSLITERATUR

UND

NOSTALGIE

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nur ein Vorwand ist, um die eigenen politischen Ansichten vorzustellen, dann kann für mich von Literatur schon nicht mehr die Rede sein.«13

Eindeutig geht es der Autorin selbst darum, gute Literatur unabhängig von feministischen oder ideologischen Fragestellungen zu schreiben. Gendertheoretische Aspekte sollen dementsprechend an gegebener Stelle aufgegriffen werden, jedoch spielen sie keine vordergründige Rolle für die Analyse, zumal positivistische Methoden hier fehl am Platz sind. Vielmehr sollen narratologische und hermeneutische Ansätze mit der Lektüre verschiedener Kultur- und Literaturtheorien vernetzt werden, um eine umfassende, jedoch textzentrierte Lesart der Romane zu ermöglichen. Bei alledem ist freilich die Verhandlung generationeller Thematiken über die männliche Linie in Deutschland und über die weibliche Linie in Polen durchaus repräsentativ für die jeweilige literarische Landschaft. Die Texte sind mit dem Vorwurf von Nostalgie gegenüber ihrem Gegenstand nicht konfrontiert worden, und der Begriff der Ostalgie ist in den Besprechungen nicht gefallen. Dabei sind die Texte gleichzeitig nicht vordergründig als Abrechnung mit der Vergangenheit rezipiert worden. Man kann also nicht behaupten, dass sich die Romane einer ausschließlich positiven oder einer ausschließlich negativen Sicht auf die Vergangenheit verschreiben. Dass die Forschung zur Erinnerungsliteratur sich in den letzten Jahren unter Bezugnahme auf Ansgar Nünning vornehmlich mit metahistoriographischen Tendenzen beschäftigt und damit innerliterarische Reflexionen über die Möglichkeit von literarischer Geschichtsschreibung in den Blick nimmt,14 verweist auf die weit fortgeschrittene Auseinandersetzung mit Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte im öffentlichen wie im künstlerischen Raum. Da über Nostalgie noch keine derart weitreichende Debatte geführt wird, findet auch die Reflexion des Phänomens bislang nur selten ausdrücklich Erwähnung in Erinnerungsromanen, und von den vier ausgewähl13 JAGODA WIERZEJSKA 2012: »Śni mi się czarna woda.« Interview mit Joanna Bator. In: Świat Książki 5, S. 4-10. Hier S. 6: »Są dwa rodzaje dobrych książek. Pierwszy to książki pisane przez kobiety lub mężczyzn, które w piękny sposób opowiadają o tym co znane […]. Drugi rodzaj to książki, również pisane przez kobiety lub mężczyzn, które coś przesuwają i odwracają, wbijają igłę pod paznokieć. […] Powieści ideologiczne, niezależnie od tego, czy pisane przez faszystę pozbawionego talentu, czy przez nieutalentowaną, choć pełną dobrej woli feministkę, mieściłyby się w trzeciej grupie – kiepskich książek. Jeśli narracja jest tylko pretekstem do przedstawienia swoich poglądów politycznych, to dla mnie nie ma już mowy o literaturze.« 14 Vgl. ANSGAR NÜNNING 1995: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Trier.

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ten Texten bietet eine metanostalgische Ebene nur Der Turm. Was prädestiniert die Texte also für eine Untersuchung ihrer nostalgischen Dimension? Nostalgie ist auf zweierlei Art und Weise in den Texten vorhanden: Erstens wird die sozialistische Romangegenwart mit (Zeit-)Räumen kontrastiert, die sich von der jeweiligen sozialen, kulturellen und politischen Realität der Figuren unterscheiden. So spielt in Uwe Tellkamps Der Turm das Dresden der Vorkriegszeit eine Rolle, bei Joanna Bator neben dem ehemals polnischen Grodno in Belarus auch die deutsche Bundesrepublik, Eugen Ruge nimmt Bezug auf Mexiko und die Sowjetunion und Inga Iwasiów verweist in Bambino unter anderem auf die ehemaligen Ostgebiete Polens in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Als Sehnsuchtsräume unterschiedlicher Art setzen diese Räume, die als Chronotopoi gelesen werden können, auch nostalgisches Potenzial frei – sie sind in der Regel durch emotionale Erinnerungen und Projektionen der Romanfiguren präsent und inszenieren so auf intradiegetischer Ebene nostalgische Narrative als Gegenwelten zu einer unbefriedigenden Gegenwart. Zweitens sind die Romane nicht etwa nur an der politischen Historie der DDR und der Volksrepublik orientiert. Sie erzählen eben nicht die Geschichte des Mauerfalls oder der Solidarność. Zwar durchdringen politische Gegebenheiten und Maßnahmen alle Aspekte der Gesellschaft, aber vor allem erzeugen die Romane den Eindruck besonderer Authentizität aus dem Fokus auf die Alltagsgeschichte. Verweise auf die Populärkultur in Fernsehen, Film und Musik, die selbstverständliche Einbeziehung bestimmter Konsumgüter oder Einrichtungsgegenstände sowie die Verwendung eines zeitspezifischen sprachlichen Jargons bilden die Grundlage für die Verankerung der Handlung in einer bestimmten Zeit. Jedoch unterliegen diese rhetorischen Schachzüge, die sich übrigens auch als ostalgisch geltende Bücher und Filme zunutze machen, nicht einer Verklärung der Vergangenheit, und zwar deswegen, weil sie in den Texten von der politischen Dimension der Historie getrennt zu sein scheinen. Auch hier tritt also eine Selektion bestimmter Erinnerungen auf. Zwar sind die ausgewählten Texte damit nicht als prototypisch nostalgische Texte zu verstehen, aber solche könnten auch zum Erkenntnisinteresse nicht beitragen. Vielmehr wurden Texte ausgewählt, die sich der narrativen Erinnerung an den real existierenden Sozialismus verschrieben haben, um darin die Rolle der Nostalgie innerhalb des Erinnerungsdiskurses zu untersuchen. Nostalgie tritt dementsprechend in den Texten nicht als Protagonistin auf, sondern spielt vielmehr eine tragende Nebenrolle, die den Handlungsverlauf nicht entscheidend beeinflusst, aber das Geschehen kommentiert und dadurch das Erinnerungsnarrativ prägt.

E RINNERUNGSLITERATUR

UND

NOSTALGIE

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Gleichzeitig lassen sich Erkenntnisse über Nostalgie, die die ausgewählten Romane zulassen, auch auf andere Texte übertragen. Das gilt ebenso für poetologische Merkmale sprachlicher und motivischer Gestaltung von Nostalgie wie auch für anthropologisch-kulturtheoretische Aussagen über die Funktion des Konzepts für den Erinnerungsdiskurs. Die Romane stehen in diesem Sinne durchaus repräsentativ für die Gesamtheit aktueller Erinnerungsliteratur. Zugegebenermaßen handelt es sich bei den ausgewählten Texten um Werke von besonderer literarischer Qualität und Tiefe. Es spricht jedoch nichts dagegen, dass Nostalgie auch in popliterarisch beeinflussten Erinnerungstexten, die sich gleichsam der Unterhaltungsliteratur zurechnen ließen, auftritt und mit den im Folgenden zu etablierenden Kategorien untersuchbar ist. Schließlich handelt es sich dabei nicht zuletzt um einen schöpferisch-kreativen Zugang zur Vergangenheit, der sich über Gattungs- und Genregrenzen hinwegsetzt.

Poetik der Nostalgie

Sprache der Nostalgie Die Zukunft verurteilt uns zum Scheitern. Die Zukunft ist für uns ein weiteres Element, das wie ein Gewitter am Horizont aufzieht und uns Vernichtung bringt. Deshalb wählen wir die Vergangenheit, das, was gewesen ist. Mithilfe von Mythen, Vorurteilen, mithilfe der historischen Politik haben wir Macht über die Vergangenheit und können sie nach Belieben gestalten. In der Vergangenheit gibt es keinen Wettlauf, keine Konkurrenz. Schließlich wird niemand mit uns um unsere Vergangenheit rivalisieren. Das Vergangene, die Geschichte, die Tradition ist die Zuflucht für Völker mit mäßigen Errungenschaften, für periphere Nationen. In der Vergangenheit liegt ihre mehr oder weniger imaginierte Größe. ANDRZEJ STASIUK1

In seinem im März 2016 in der Zeit erschienenen Essay »Hinter den Gardinen«2 beschreibt Andrzej Stasiuk eine Faszination mit der Vergangenheit, die sich von

1

ANDRZEJ STASIUK 2016a: »Hinter den Gardinen.« Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. In: zeit online am 03.03.2016. URL: http://www.zeit.de/kultur/2016-03/ polen-ungarn-europa-stasiuk. Letzter Zugriff am 03.08.2016.

2

Die polnische Fassung erschien online wenige Tage später auf den Seiten der liberalen katholischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny. Der dortige Text ist gegenüber der deutschen Fassung leicht gekürzt, es fehlt der vorletzte Satz des Zitats über die »peripheren Nationen«, wodurch das Bezugswort des Possessivpronomens im letzten

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politischer Ereignisgeschichte abhebt. Er entwirft ein Geschichtsmodell, das nicht von einer historischen ›Wahrheit‹ ausgeht, sondern stattdessen die Gestaltungsmöglichkeiten fokussiert, die sich beim Blick auf die Vergangenheit ergeben. Stasiuk zeigt damit den Konstruktcharakter von Geschichtsschreibung auf. Im Zitat wird deutlich, dass die Vergangenheit politisch instrumentalisiert werden kann, um kollektive Identitäten nach bestimmten Wünschen und Maßgaben zu generieren.3 Die Macht der Geschichte liegt darum in ihrem Potenzial für schöpferisch kreative Narrative. Genau dieser Nexus von Vergangenheit und Schaffenskraft begründet die Relevanz von Nostalgie für die Erinnerungskultur – und zwar innerhalb wie auch außerhalb von literarischen Diskursen. Wie funktioniert nun Nostalgie als schöpferischer Erinnerungsakt, als sprachliche Manifestierung, als literarisches Motiv und als ästhetische Kategorie? Dieser Frage soll im Folgenden unter konkreter Bezugnahme auf das Textkorpus nachgegangen werden. Alle vier Romane brillieren in ihrer sprachlichen Gestaltung, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise: Bei Uwe Tellkamp ist von einer stilistischen Orientierung an den großen deutschen Romanschriftstellern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, etwa Thomas Mann und Alfred Döblin, auszugehen. Lange, komplex gestaltete Sätze und ein großer Reichtum an sprachlichen Bildern stechen bei ihm ins Auge. Dagegen zeichnet sich Eugen Ruges Roman durch eine schlichte und unmittelbare Sprache unter einer besonders sensiblen Verwendung von Dialekten und Akzenten sowie durch die Einbindung der spanischen und russischen Sprache ohne Übersetzung in den Roman aus. Bei Inga Iwasiów tritt Sprache als identitätsstiftendes Mittel auf, wenn die Charaktere zwischen dem Deutschen, dem Russischen und dem Polnischen erst ihren Platz finden müssen, Sprach- und Schrifterwerb thematisiert werden und dadurch eine starke metasprachliche Ebene in den Text eingeflochten ist. Joanna Bator stellt sich wie Tellkamp ebenfalls in die Tradition großer Erzähler wie Bolesław Prus, bricht jedoch sich abzeichnende positivistische Schilderungen iroSatz entfällt und der Abschnitt seine Logik verliert, vgl. ANDRZEJ STASIUK 2016: »Na półwyspie.« In: Tygodnik Powszechny 11. Zugriff unter URL: https://www.tygodnik powszechny.pl/na-polwyspie-32668. Letzter Zugriff am 03.08.2016: »Przyszłość skazuje nas na przegraną. Przyszłość jest dla nas jeszcze jednym żywiołem, który nadciągnie niczym burza gdzieś zza horyzontu i przyniesie nam zagładę. Dlatego wybieramy przeszłość, wybieramy minione. Z pomocą mitów, przesądów i polityki historycznej mamy nad przeszłością władzę i możemy ją dowolnie kształtować. W przeszłości nie ma wyścigu, nie ma konkurencji. Nikt przecież nie będzie z nami rywalizował o naszą przeszłość. W przeszłości leży ich mniej lub bardziej wyimaginowana wielkość.« 3

Vgl. BOYM 2001, S. 44.

S PRACHE DER NOSTALGIE

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nisch zu einer postmodernen Bildcollage einer brüchigen Gesellschaft. Alle vier Texte sind als Musterbeispiele für Michail Bachtins Kategorie der Polyphonie als dem charakteristischen Merkmal der Gattung des Romans schlechthin zu begreifen.4 Wie Nostalgie in den Romanen sprachlich gestaltet wird, lässt sich in zwei Kategorien fassen: Erstens gibt es Erinnerungsnarrative, die explizit nostalgisch konfiguriert sind, und zwar – anschließend an den vorliegenden Nostalgiebegriff – durch eine besonders emotionale, affektgeleitete Sprache oder durch eine spezifische Art der selektiven Darstellung. Zweitens kommen in spezifischen Formen des Sprachgebrauchs subtile Anspielungen auf die Vergangenheit vor, die in ihrer Intensität und Häufigkeit eine Anerkennung bzw. positive Bewertung dieser Vergangenheit zum Ausdruck bringen.

N OSTALGISCHE E RINNERUNGSNARRATIVE Um das Nostalgische in Erinnerungsnarrativen zu fixieren, muss der Blick darauf gelenkt werden, was eine nostalgische Erinnerung von einer nichtnostalgischen Erinnerung unterscheidet. Zentrale Eigenschaften nostalgischen Erzählens lassen sich am Beispiel ikonischer Szenen aus den vier Romanen demonstrieren. Das erste Beispiel stammt aus Uwe Tellkamps Der Turm und gibt die kollektive Erinnerung an die Stadt Dresden vor dem Zweiten Weltkrieg in exemplarischen Aussagen wieder. Die nostalgische Erinnerung an das so genannte ›Alte Dresden‹ ist ein wichtiges Leitmotiv des Romans. Bei dem folgenden Zitat handelt es sich um Beobachtungen aus Meno Rohdes Tagebuch: »›Das war alles mal ganz anders hier. Was ist, ist nicht, was war. Kein Vergleich. Nee, nee. Heute: Dresdengrad. Provinz in der UddSR: Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken.‹ Ruinen stehen seit Jahrzehnten. Elektrifizierung plus viele Brachflächen, häßliche Magistralen, zugige Plattenbaugebiete, Fünfzehngeschosser, wie grobe Klötze einge-

4

MICHAIL M. BACHTIN 1979: Die Ästhetik des Wortes. Aus dem Russischen von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main, insb. S. 189f.: »Der Romancier […] nimmt die Redevielfalt und die Sprachvielfalt von literarischer und außerliterarischer Sprache in sein Werk auf, ohne sie abzuschwächen, ja, er betreibt sogar ihre Vertiefung […]. Und er baut seinen Stil auf dieser Spaltung der Sprache, auf ihrer Redevielfalt und Sprachvielfalt auf, wobei er die Einheit der schöpferischen Persönlichkeit und die Einheit (allerdings einer anderen Ordnung) seines Stils wahrt«.

70 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS rammt in die berühmte, jetzt lückenhafte Canaletto-Silhouette. Und früher: ›Warn wir Residenz. Residenz! Tscha, früher…‹ Sie seufzen. Fotos werden herausgesucht. Blick von der Brühlschen Terrasse zur Frauenkirche, eine Laterne mit nadeligem Licht in der Münzgasse.« (Turm 368, kursiv i.O.)

Das Zitat wird durch einen Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit eingeleitet. Dabei kommt es jedoch nicht zu konkreten Beschreibungen der Vergangenheit (die Gegenwart wird hingegen in den folgenden Sätzen sehr wohl bildhaft dargestellt), sondern es bleibt zunächst bei einer formelhaften Beschwörung. Dadurch wirkt der Bezug zur Vergangenheit wie ein Selbstzweck ohne inhaltliche Substanz. Es entstehen Leerstellen, die einen Projektionsraum eröffnen, und eben darin liegt das erste Merkmal nostalgischer Erinnerungsnarrative. Die in der direkten Rede bemühte emphatische und pathetische Anrufungsformel »Tscha, früher…« funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Sie rückt die nostalgische Erinnerung sprachlich in die Nähe der Litanei, einer sakralen Textform, die sich durch eine »Monotonie gehäufter Anrufungen«5 auszeichnet und eine Überhöhung ihres Gegenstands impliziert. Die beschwörende Anrufung der Vergangenheit ist im Zitat verbunden mit dem Seufzen als lautlichem Ausdruck der Trauer. Hier kommt die affektive Komponente zum Tragen, die ein Bedauern über den Verlust der Vergangenheit zum Ausdruck bringt. Wenn Erinnerungen in wörtlicher Rede wiedergegeben werden, können sie demnach ihre nostalgische Qualität durch bestimmte verba dicendi gewinnen, die eine emotionale Beteiligung des Sprechers bekunden. Der letzte Satz erst beschreibt auch die Vergangenheit anhand von konkreten Beispielen. Die Brühlsche Terrasse und die Frauenkirche werden hier durch Ekphrasis als Beschreibung von Fotos in den Text eingebracht. Dieser sprachliche Kunstgriff, durch den in der Rezeption Bilder evoziert werden, läuft nur scheinbar der inhaltsleeren Formelhaftigkeit und der Produktion von Leerstellen in der nostalgischen Litanei zuwider, wie es ein Beispiel aus Inga Iwasióws Bambino demonstriert. Hier erinnert sich die Protagonistin Ula an die pommerschen Ferienorte an der Ostseeküste, die sie als Kind in den Dreißigerjahren mit ihrer Familie besuchte. Zum Zeitpunkt dieser Erinnerung im Jahr 1969 ist Ula weiterhin in Szczecin ortsansässig, versucht jedoch, ihre deutsche Herkunft möglichst geheim zu halten. 5

ANDREAS KRAß 2010: Art. »Liturgische Texte.« In: HARALD FRICKE (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, H-O. Berlin (ebook). S. 491-493. Hier S. 492. Zugriff unter URL: http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/ 175648. Letzter Zugriff am 05.08.2016.

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»Die Kurorte, in die der Vater die Familie in den Dreißigerjahren mitnahm, Ahlbeck, mit einer Promenade wie am Mittelmeer, mit zarten Häuschen, die auf den mit Strandkörben vollgestellten Strand schauten. Mit den Wanderwegen, die sich bis nach Heringsdorf hinzogen, zu den Nachbarorten. Mit der Fähre nach Swinemünde und mit den Passagierschiffchen auf die Felseninsel Usedom. Mit den Holzbrücken, die sich weit ins Meer vorschoben, mit den Cafés, die auch Meeresfrüchte und Fisch anboten, nicht unbedingt aus der Ostsee. […] Die Mole verband sie mit Spaziergängen, mit Mama, die ein Sommerkleid und einen dazu passenden Hut trug, mit Papa (sogar ohne Anzeichen einer Uniform), mit den Brüdern. Dazu noch ein bunter Ball, ein Drachen, Eis.«6

Diese Erinnerung entfaltet durch ihre ausgesprochen bildhafte Sprache eine emotionale Wirkung, etwa durch den Vergleich mit dem Mittelmeer und die Personifikation der Häuser, die auf den Strand »schauten« oder der Holzbrücken, die »sich weit ins Meer vorschoben«. Dazu tragen auch die Details bei, welche die sprachlich entworfene Landschaft in diesem Zitat nochmals nahezu ekphrastisch gestalten. Durch die akribische und detaillierte Beschreibung gewinnt das Bild seine Spezifizität. Ausschnitthaft stehen einzelne erschöpfende Beobachtungen, wie das Angebot der Cafés oder die Kleidung der Eltern, einem atmosphärisch dichten und stimmungsvollen Gesamteindruck gegenüber und suggerieren eine gefühlvolle Beziehung der Figur zu ihrem Gegenstand.7 Gleichzeitig wird in diesem Zitat erneut die Vergangenheit ›heraufbeschworen‹, was sich in den elliptischen Satzkonstruktionen andeutet. So werden keine vollständigen Hauptsätze gebildet, sondern eine asyndetische Aufzählung von Substantiven vorgenommen (die Kurorte, die Wanderwege, die Fähre etc.), die in attributiven Nebensätzen ausführlicher beschrieben werden. Durch diesen syntaktischen Aufbau entsteht auch hier der Eindruck einer Litanei. Es werden keine Handlungen erinnert; stattdessen ergibt sich die nostalgische Wirkung dadurch, dass einzelne Elemente impressionistisch dargestellt werden. Die Erinnerung 6

»Kurorty, do których ojciec zabierał rodzinę w latach trzydziestych, Ahlbeck, z promenadą jak nad Morzem Śródziemnym, z lekkimi domami patrzącymi w stronę zastawionej koszami plaży. Z ścieżkami spacerowymi ciągnącymi się do Heringsdorf, do sąsiednich miejscowości. Z promem do Schwenemünde [sic!] i pasażerskimi stateczkami na skalistą Insel Usedom. Z drewnianymi pomostami wysuniętymi daleko w morze, z kawiarniami serwującymi także owoce morza i ryby, niekoniecznie złowione w Bałtyku. […] Molo kojarzyło się jednak ze spacerami, z mamą ubraną w lekką sukienkę i odpowiedni do tego kapelusz, z tatą (nawet bez zapowiedzi munduru), z braćmi. Dodać do tego kolorową piłkę, latawiec, lody« (Bambino 225).

7

Eine naheliegende Parallele eröffnet sich an dieser Stelle zur Gattung der Idylle. Dies wird im Kapitel »Motive der Nostalgie« thematisiert.

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wirkt fragmentarische und lückenhaft, so dass trotz der Details einer bildreichen Sprache auch hier Leerstellen vorhanden sind, die Raum für Projektionen offen lassen. In einem dritten Beispiel, das aus Joanna Bators Sandberg stammt, werden die Erinnerungen des Großvaters Władek Chmura an sein Heimatdorf in den ehemals polnischen Ostgebieten im heutigen Belarus wiedergegeben. Hier reflektiert die Erzählinstanz selbst die Tatsache, dass einzelne Elemente benannt werden, ohne dass sie mit unverwechselbaren Eigenschaften versehen oder gar in Bezug zueinander gesetzt werden: »Sägemehl ist das, kein Brot, sagte er zu Halina, drüben, das war Brot, das konnte man pur essen, und es schmeckte auch, wenn man nur ein bisschen Salz draufstreute. Manchmal war es noch warm, und so, nur mit Salz, konnte ich einen halben Laib aufessen, aber dieses Brot hier, das ist doch wie Lehm. Władek meinte, drüben wäre alles besser gewesen, und wenn ihm mal ein richtiger Hammer fehlte, um einen Nagel einzuschlagen, oder Winterschuhe, dann sagte er: Ja, drüben, da hatte ich einen Hammer; oder: Drüben, da hatte ich Schuhe! und nichts weiter, keine Einzelheiten, denn für ihn lag es auf der Hand, dass der Unterschied zwischen einem Hammer oder Schuhen von drüben und von hier jedem sonnenklar war.« (Sandberg 88f.)8

Władek bedient sich besonders deutlich der Form der Litanei. Bezeichnenderweise ruft er dabei jedoch nicht ein ›Früher‹ an, sondern einen Ort, das ›Drüben‹, das sich gleichsam dadurch konstituiert, dass es der Vergangenheit angehört. Das ›Drüben‹ wird durch die Form der Aussage mystifiziert. Die Wiederholung des Ausrufs verstärkt dessen emotionale Implikationen. Die Erzählinstanz weist explizit darauf hin, dass hier eine Auslassung von Einzelheiten vorliegt. Dadurch gestaltet sich auch Władeks Rückbesinnung auf sein Heimatdorf formelhaft und inhaltsleer. Im Kommentar der Erzählinstanz wird jedoch ein wichtiger Aspekt dieser Produktion von Leerstellen deutlich, und zwar die erwartete Beteiligung des Rezipienten. Władeks Beschwörung des ›Drüben‹ geht von einem hohen

8

»Trociny, nie chleb, mówił do Haliny, tam to był chleb, że sam mógł człowiek jeść i smakowało, jak jeszcze solą trochę oprószył. Czasem, wspominał, ukroiłem jeszcze ciepłego i tylko z solą mogłem pół bochna, a ten tu to sama glina. Według Władka tam wszystko było lepsze i gdy czasem brakowało mu dobrego młotka do przybicia gwóździa albo butów na zimę, mówił: tam to miałem młotek, albo: tam to miałem buty; i nie dodawał nic więcej, żadnych szczegołów, bo było dla niego oczywiste, że różnica między młotkami i butami stamtąd a stąd jest dla każdego jasna jak słońce« (Piaskowa Góra 76f.).

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Wiedererkennungswert und Identifikationsfaktor aus, die eine Erläuterung unnötig macht. Sie ist in diesem Sinne auch als Anspielung zu begreifen.9 Ein letztes Zitat, das sich im Gegensatz zu den vorigen aus einer postsozialistischen Gegenwart heraus nostalgisch dem Leben in einem sozialistischen Staat zuwendet, stammt aus Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts. Hier erinnert sich der Protagonist Alexander Umnitzer im Jahr 2001 daran, wie der Berliner Vorort Neuendorf, in dem er aufgewachsen ist, vor der ›Wende‹ ausgesehen hat: »Hier, auf dem glatten Asphalt, waren sie früher Rollschuh gelaufen und hatten mit Kreide auf die Straße gemalt. Dort war der Fleischer gewesen, wo Irina blindlings die schon im Hinterzimmer gepackten Pakete gekauft hatte. Dort die ›Volksbuchhandlung‹, jetzt Reisebüro. Und dort der Konsum, Betonung auf der ersten Silbe (und tatsächlich hatte es mit Konsum wenig zu tun), wo es vor sehr langer Zeit – Alexander konnte sich gerade noch daran erinnern – Milch auf Marken gegeben hatte.« (In Zeiten 31)

Auch hier ist die Vergangenheit in der asyndetischen Aneinanderreihung von einzelnen Erinnerungsobjekten konfiguriert: der Fleischer, die Buchhandlung, der Konsum. Dabei sind diese Dinge jedoch stärker mit Handlungen verknüpft als in den vorigen Beispielen, die sich jeweils mit der Bezugnahme auf Architektur (Tellkamp), Landschaft (Iwasiów) und Gegenstände (Bator) statisch ausgenommen haben. Mit dem Spielen auf der Straße und dem Erledigen von Einkäufen werden nun solche Handlungen angesprochen, die einer Alltagsroutine unterliegen und die in der Vergangenheit dementsprechend immer wieder passiert sind. Diese iterative Komponente ist ebenfalls ein wichtiger sprachlicher Marker von Nostalgie.10 9

Die Bezugnahme auf einzelne Gegenstände, deren Gestalt, Funktion oder Geschichte nicht ausgeführt werden, ist mit der Textstelle aus Bambino vergleichbar. Sie ist auch im Hinblick auf die Motivik des Materiellen, durch die sich die Nostalgie auszeichnet, von Relevanz. Eine emotionale Bildhaftigkeit weist Władeks Erinnerung außerdem auf; sie ist allerdings nicht visuell, sondern durch die Intensität des Geschmacks gegeben. Auch hier deutet sich bereits ein nostalgisches Motiv an, nämlich dasjenige der Sinneswahrnehmung.

10 Das Iterative lässt sich in den polnischen Texten besonders ausgeprägt durch den Gebrauch des unvollendeten Aspekts in der Verbform ausdrücken. Im Deutschen sind mitunter zur Verstärkung des einfachen Präteritums Signalwörter wie ›stets‹, ›immer (wieder)‹ u.ä. vorhanden. Es ist des Weiteren nicht nur das iterative Erzählen als narratologischer Kunstgriff, sondern die Figur der Wiederholung an sich in den Texten als sprachlicher Ausdruck von Nostalgie zu werten. Besonders prägnant kommt dies

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Wie bei Bator sind die Formulierungen voraussetzungsreich, sie implizieren eine Vorkenntnis: Der Text spricht nicht von ›einem‹ Fleischer oder ›einem‹ Konsum, sondern nutzt den bestimmten Artikel, der auf einen ganz bestimmten Laden verweist. Insbesondere mit dem Konsum, der als Institution eine zeithistorische Gebundenheit an die DDR aufweist, wird dabei das Identifikationspotenzial des Lesers abgerufen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Alexander an dieser Stelle keinen konkreten Adressaten anspricht, sondern sich seine emotionale Rückbesinnung auf seine Kindheit in erster Linie an sich selbst richtet; die Beschreibung ist von großer Intimität. Zwar ist der Sprachgebrauch im Vergleich etwa mit Ulas Erinnerung an die Ostseeküste bei Iwasiów nüchtern, dennoch kommt im Zitat eine große Vertrautheit zwischen dem Sprecher und seinem Gegenstand zum Ausdruck. Unterstützt wird dieser nostalgische Eindruck durch die Zeitmarker »früher« und »vor sehr langer Zeit«. Es lassen sich aus den vier Zitaten mithin folgende sprachliche Merkmale ableiten, die einzeln oder in Kombination auftreten können, um einem Erinnerungsnarrativ eine nostalgische Dimension zu verleihen: die formelhafte Beschwörung bzw. Anrufung einer Vergangenheit (Litanei), die asyndetische Aufzählung von Erinnerungsfragmenten, die Produktion von Leerstellen (etwa durch fragmentarische Darstellungen oder Anspielungen auf als bekannt Vorausgesetztes), gleichzeitig die akribische Beschreibung einzelner Details, die Darstellung und Benennung von Emotionen (etwa durch verba dicendi), eine bild- und metaphernreiche Sprache sowie der Einsatz von Ekphrasis, Handlungsarmut und schließlich die iterative Narration in Verbindung mit der Darstellung von (Alltags-)Routine.

N OSTALGISCHE ANSPIELUNGEN Bestimmte Aspekte erinnerter Vergangenheit treten in den Texten wiederholt durch Anspielungen auf. Sie werden nicht vordergründig thematisiert, leisten aber durch ihr rekurrentes Auftreten einen Beitrag zur Konstruktion einer Erinnerungslandschaft und bilden die Kulisse für ausdrücklich nostalgische Erinnerungsnarrative. Durch die stetige Wiederkehr bestimmter Elemente kann mithin der Eindruck einer nostalgischen Bejahung dieser Vergangenheitsaspekte entstehen. Anspielungen dieser Art geschehen in Form eines bestimmten zeithistorisch

zum Ausdruck in der bereits diskutierten Formel »Dresden… in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit gestern«.

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gebundenen Vokabulars durch Historiolekte, Soziolekte und Jargons, aber auch durch Dialekte und Akzente. Dass im Hinblick auf die DDR und die PRL von einer epochenspezifischen Sprache die Rede sein kann, die einem geographischen wie auch einem kulturellen Raum sowie einem wortwörtlichen Zeitraum angehört, belegt die Existenz linguistischer Studien.11 Die propagandistische Funktion von ideologisch durchsetzter Sprache steht hier in der Regel im Vordergrund. Nur ein Beispiel für eine dergestalt politisierte Sprache in den Romanen sei mit dem Gebrauch der Ansprache als Bürger/Bürgerin bzw. obywatel/obywatelka oder als Genosse/Genossin bzw. towarzysz/towarzyszka erwähnt.12 Die Begriffe haben in den Romanen nicht zwangsläufig eine nostalgische Wirkung, ihr Einsatz birgt jedoch in Abhängigkeit von der Rezeptionssituation immerhin ein nostalgisches Potenzial. Dies liegt darin begründet, dass diese Verwendung der genannten Vokabeln im heutigen Standarddeutsch bzw. -polnisch nicht mehr auftritt und der Sprachgebrauch damit eine Leerstelle in der Gegenwart markiert, die einen nostalgischen Bezug zur Vergangenheit aufwerfen kann. Ähnliches gilt für politisierte Vokabeln wie beispielsweise den grotesken Begriff der »Jahresendflügelfigur« (Turm 108), der einen Engel bezeichnet. Auffällig und von noch größerer Relevanz für Fragen der Nostalgie sind in den Texten jedoch nicht politisierte Abweichungen von der Standardsprache. So kann durch die Gegenüberstellung eines dialektalen Sprachgebrauchs mit dem Hochpolnischen die Abgrenzung eines ländlichen, provinziellen und möglicherweise idyllischen Raums von einem urbanen Raum markiert sein. In Bambino sind es Janeks Verwandte auf dem Dorf, die sich des Schlesischen bedienen (Bambino 27, 96, 158). In Sandberg hingegen spricht Dominikas Mutter Jadzia in der Kleinstadt Wałbrzych einen (möglicherweise schlesisch gefärbten) Soziolekt. Die damit verbundene Stadt-Land-Dichotomie wird bereits auf der ersten Seite des Romans sprachlich explizit: »Nun tu doch nicht so rennen, du Wirbelwind, sagt sie immer wieder, obwohl sie weiß, dass die Tochter es nicht mag, wenn sie so dörflich redet. So eine Städtische ist sie. Ma-

11 Zum ›DDR-Deutschen‹ empfiehlt sich SABINA SCHROETER 1994: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typischen Wortschatz. Berlin. Die Sprache der PRL untersucht Michał Głowiński im Rekurs auf George Orwells Newspeak als Politikum und Instrument der Propaganda bereits 1991, vgl. MICHAŁ GŁOWIŃSKI 2009: Nowomowa i ciągi dalsze. Szkice dawne i nowe. Kraków. 12 Vgl. Turm 205, 212, 259, 439f.; Bambino 158, 54, 135; Sandberg 123/Piaskowa Góra 108, In Zeiten 48, 179f., 203.

76 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS ma, es heißt renn nicht so und nicht tu nicht so rennen, verbessert sie neunmalklug, und es heißt wir und nicht mir. Als wär da ein Unterschied.« (Sandberg 9)13

Jadzias Sprachgebrauch erfüllt hier zwei der zentralen Funktionen des Dialekts, die Martin Schröder am Beispiel standardsprachlicher Werke des deutschen Realismus und Naturalismus identifiziert, nämlich »Illusion von Mündlichkeit [und] komische Überzeichnung«.14 Indem der Versuch unternommen wird, gesprochene Sprache in der Schriftsprache abzubilden, entsteht mithin durch Jadzias Äußerungen eine für die Nostalgie konstitutive Intimität und Vertrautheit. Der komische Effekt des Dialekts unterstützt außerdem ein Zusammenspiel von Nostalgie und Ironie. Wie der Dialekt an einen bestimmten Zeitraum im Sinne eines nostalgisch kodierten Chronotopos gebunden sein kann, zeigt sich noch intensiver an einem Beispiel aus Der Turm. Dort unterhält sich der Abiturient Christian bei einem Besuch im Haus seines Großvaters Kurt in Bad Schandau im Erzgebirge mit Lene Schmidken, einer Nachbarin, die Rumäniendeutsche ist: »›Hat Opa sonst noch was ausrichten lassen?‹ ›Ne. Hat ja bloß noch seine Reisen im Kopp. Ganz nevrozich isser. Diesʼ Jahr dachtʼ ich, er kippt um, als sie ihm die Ablehnung geschickt haben. Hat sich ja mit allen bekätzt, Krispindel der. […] Hatte aber noch keinʼ Paschaportes, Flebben, Reise-papuci, verstehst? Frißt alles in sich rein. Dann kam wieder ʼne Absage. Amazonas isʼ nich, Donaudelta darfer. Und nu isser ehmd bei’n Lippengabors.‹ ›Bei wem?‹ ›Palukesfresser. Ramasuri. Bei’n Zigeunern.‹ ›Sind doch nicht alles welche, Lene.‹

13 »Nie ciekaj, latawcu, powtarza, chociaż wie, że córka nie lubi, gdy mówi z wiejska. Miastowa taka. Wziąć, mamo, a nie wziąść, poprawia ją mądrala, włączać, a nie włanczać, sobie, a nie se. Jakby była jakaś różnica« (Piaskowa Góra 7). 14 MARTIN SCHRÖDER 2005: »Zwischen aisthesis und mimesis. Zur Funktion des Dialekts in der standardsprachlichen Literatur.« In: ECKHARD EGGERS/JÜRGEN ERICH SCHMIDT/DIETER STELLMACHER (Hrsg.): Moderne Dialekte – Neue Dialektologie. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik: Beihefte 130.) Stuttgart. S. 667-678. Hier S. 677. Als weitere Funktionen des Dialekts nennt Schröder in seinem Aufsatz »Realismus und Sozialkritik, Verfremdung und Deautomatisierung und schließlich Polyphonie und Dialogizität des Erzählens« (ebd.). Der Autor geht auch auf die Relevanz der Dichotomie von urban und provinziell ein.

S PRACHE DER NOSTALGIE

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›Ach, laß man, Jung.‹ Sie neigte den Kopf ein wenig schief und schlurfte ihrem Haus zu, wo sie seit Jahren allein lebte mit einem Siebenbürgen, das es nicht mehr gab.« (Turm 480)

Lenes Siebenbürger Sächsisch zeichnet sich durch die Verwendung zahlreicher Vokabeln aus, die im Hochdeutschen normalerweise nicht vorkommen und die Einflüsse aus dem Rumänischen vermuten lassen. Ihr Sprachgebrauch verweist so auf ihre geographische Herkunft. Spätestens der letzte Satz des Zitats zeigt außerdem auf, dass es sich um einen anachronistischen Dialekt handelt, der nicht nur einem Ort, sondern auch einer Zeit angehört, die »es nicht mehr gab«. Der Dialekt wird so auch zum Ausdruck einer nostalgischen Erinnerung. Eine ähnliche Form der Sprachverwendung findet sich bei Eugen Ruge am Beispiel der alten Nadjeshda Iwanowna. Das Kapitel, das durch diese Figur fokalisiert ist, ist sprachlich von besonderem Interesse, da Nadjeshda Iwanowna kaum Deutsch spricht und ihre Gedanken sich de facto auf Russisch abspielen dürften. Man muss sich das Kapitel deshalb theoretisch als die Übersetzung eines russischen Gedankenstroms vorstellen. Nachdem Nadjeshda Iwanowna 1976 zu ihrer Tochter in die DDR übergesiedelt ist, ist sie noch im Jahr 1989 von der deutschen Kultur befremdet, und wenn diese Verwirrung besonders schwer wiegt, bedient sich die Erzählinstanz einer Anleihe der Verstärkungsform aus dem Russischen, die die Verbform verdoppelt: »Gehörte sich einfach nicht für eine Frau, wo gab es denn sowas, die Frau trinkt, und der Mann ist nüchtern, man schämte sich wirklich, rauchen rauchte sie auch, das war alles nicht richtig […]« (In Zeiten 148)

Die Tatsache, dass diese Textpassage eine Gegenüberstellung von Nadjeshda Iwanownas sibirischem Heimatdorf Slawa mit dem Vorort von Berlin beinhaltet, ist nicht etwa Zufall. Vielmehr drückt sich so die nostalgische Sehnsucht nach der Sowjetunion, die sich durch das ganze Kapitel zieht, auch in der sprachlichen Sehnsucht nach der Muttersprache aus.15 Neben den erwähnten Jargons, Dialekten und Akzenten ist als eine nostalgierelevante spezifische Art der Sprachverwendung auch die Familiensprache zu erwähnen, die insbesondere im Hinblick auf Kindheitserfahrungen nostalgische Erinnerungen auslösen kann – ebenfalls etwa bei Eugen Ruge, wenn Alexander als Kind den Namen des mexikanischen Sängers Jorge Negrete nicht ausspre15 Weitere Beispiele finden sich im Kapitel bereits zuvor: »aber verstehen verstand sie es nicht« (In Zeiten 140), »aber arbeiten arbeitete sie auch nicht« (In Zeiten 142) und »sogar schlafen schlief sie am Ende« (In Zeiten 143).

78 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

chen kann und ihn stattdessen »Goldene Gräte« nennt (In Zeiten 83). Er benutzt den Ausdruck 35 Jahre später im Rahmen einer nostalgischen Erinnerung erneut, so dass das Wortmaterial selbst zum Nostalgieträger wird (In Zeiten 28). Wenn ein bestimmter Sprachgebrauch – als Historiolekt oder im individuellen Empfinden – an bestimmte Erfahrungen und Zeiträume gebunden sein kann, was auf die erwähnten Jargons, Dialekte und Akzente zutrifft, so drängt sich die Frage auf, ob auch intertextuelle Verweise die Entstehungs- oder Erzählzeit des Genotexts als nostalgischen Subtext in den Phänotext einfließen lassen. Abschließend lässt sich dieses Problem hier nicht disuktieren. Im Hinblick auf Uwe Tellkamps Roman kann jedoch den zahlreichen Verweisen auf den bildungsbürgerlichen Literaturkanon (besonders eindrücklich im Kapitel »Rost«, Turm 140157) eindeutig eine unterstützende Funktion im Hinblick auf die nostalgische Erinnerung an das bürgerliche Vorkriegsdresden zugeschrieben werden. 16 Auch in Sandberg kommen intertextuelle Verweise, beispielsweise auf Adam Mickiewicz, Henryk Sienkiewicz und Władysław Broniewski, zum Tragen, um der Figur Stefan Chmura eine patriotische Nostalgie einzuschreiben (Sandberg 39f.)17.

16 Von intertextuellen Verweise auf Größen der deutschen Literaturgeschichte von Johann Wolfgang von Goethe über Adalbert Stifter und Gottfried Keller bis Hermann Hesse und Thomas Mann ist in der Zeit die Rede: HELMUT BÖTTIGER 2008: »Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel.« In: Die Zeit 39 vom 18.09.2008, S. 57-58. 17 Piaskowa Góra 34.

Motive der Nostalgie The past is not only discussed and thought about, it is also materialised in bodies, things, buildings and places. It is felt, experienced and expressed through objects, such as ruined buildings, monuments, flared trousers or the marks of wear on old furniture; and practices, such as commemorative rituals, historical re-enactment, eating a sun-warmed peach or hearing a familiar melody. SHARON MACDONALD1

Sharon Macdonald kategorisiert in ihrer anthropologischen Studie Memorylands verschiedene Zugänge zur Vergangenheit: einen narrativen, einen emotionalen und einen ökonomischen. Nostalgie gehört in die mittlere Kategorie. Diese zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Vergangenheit durch räumlich-architektonische Träger illustriert wird – Ruinen und Denkmäler –, dass sie durch materielle Objekte modelliert wird – ruinöse Bauten und Schlaghosen – und dass sie durch sinnliche Wahrnehmung abgerufen werden kann – den Geschmack eines Pfirsichs oder den Klang einer Melodie. Nostalgie findet folglich nicht nur in einer spezifischen Sprachverwendung ihren literarischen Ausdruck, sondern entfaltet ihre Ästhetik außerdem im Auftreten verschiedener Motive, die sich in drei Kategorien fassen lassen: eine spezifische Gestaltung der Räume bzw. Raumwahrnehmung, das Vorkommen von Dingen als Erinnerungs- bzw. Nostalgieträgern sowie ein prägnantes Auftreten von Wahrnehmungserfahrungen über die Sinne. Diese Motive produzieren gleichsam die Nostalgie im Text. Es ist nicht notwendig, dass alle drei Elemente

1

MACDONALD 2013, S. 79.

80 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

gleichzeitig auftreten, um zur nostalgischen Qualität des Narrativs beizutragen; indes können Beispiele demonstrieren, inwiefern sich Nostalgie textlich in Räumen, Dingen und Sinneswahrnehmungen manifestiert. Bezugnahmen auf kulturwissenschaftliche Raumtheorien, Material Studies und Kulturanthropologie tragen zur Beleuchtung der verschiedenen Themen bei.

N OSTALGIE

UND DIE

R ÄUME

Nostalgie manifestiert sich in der Erinnerungsliteratur durch die chronotopische Modellierung emotional konnotierter Erfahrungsräume. Aufschluss über die Zusammenhänge von Räumlichkeit und Nostalgie gibt im Hinblick auf die Kategorisierung der Nostalgie als Emotion überdies der Sammelband Raum und Gefühl unter der Herausgeberschaft von Gertrud Lehnert. Sie geht in der Einleitung so weit zu sagen, dass »Raum und Gefühl […] nicht zu trennen [sind], und das ist am Ende mehr eine Metapher dafür, dass wir uns Welt in Raumvorstellungen aneignen. Gefühle werden »verkörpert«. Und das ist immer auch eine Verräumlichung.«2

Die Gegenständlichkeit, die in der Verkörperung wie in der Verräumlichung liegt, verweist auch auf die materielle Kultur, die ebenfalls die nostalgische Motivik berührt. Das besondere Anliegen des Sammelbandes im Blick auf den Raum ist es jedoch, eine räumliche Metaphorik für Gefühle (z.B. »Gefühlstiefe«) und Räume als Schauplätze und Produzenten von Gefühlen (»affektive Räume«) nebeneinanderzustellen.3 Entsprechend können Räume Nostalgie metaphorisch zum Ausdruck bringen, während jedoch gleichzeitig Nostalgie ein bestimmtes Raumgefühl evozieren und so den Raum aktiv mitgestalten kann. Ein Beispiel hierfür stellt in Uwe Tellkamps Der Turm das sogenannte Haus Abendstern dar. Der sechzehnjährige Christian besucht dort einen inoffiziellen

2

GERTRUD LEHNERT (Hrsg.) 2011: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue

3

Vgl. zu ersterem BURKHARD MEYER-SICKENDIEK 2011: »Gefühlstiefen. Aktuelle

Emotionsforschung. Bielefeld. S. 18. Perspektiven einer vergessenen Dimension der Emotionsforschung.« In: LEHNERT 2011, S. 26-48 sowie zu Letzterem ANGELIKA CORBINEAU-HOFFMANN 2011: »Passanten, Passagen, Kunstkonzepte. Die Straßen großer Städte als affektive Räume.« Ebd., S. 118-134.

M OTIVE DER NOSTALGIE | 81

Unterricht bei seinem Onkel Niklas, der darin besteht, dass Niklas ihm von klassischer Musik erzählt. Der Raum wird wie folgt narrativiert: »Im Sommer saßen Christian und Niklas auf der Veranda neben dem Musikzimmer. Sie roch nach den weißgelackten Holzmöbeln, die aus Gudruns Elternhaus stammten, nach dem Tabak aus Niklasʼ Shagpfeife, die er an den lauen Abenden […] genüsslich zu rauchen pflegte. Im Winter hörte Christian Niklasʼ weit ausholenden, Schleppnetze aus Erinnerungen auffischenden Beschwörungen im Wohn- und Musikzimmer zu, wo Niklas sich erst auf einen Stuhl am Ausziehtisch, dann, wenn es ans Musikhören ging, auf die Récamiere vor dem wassergrau gewordenen Spiegel setzte.« (Turm 148)

Christians Unterricht hat nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen zeitgebundenen Raum, der sich im Sommer und im Winter voneinander zwar unterscheidet, jedoch eben in dieser Spezifizität eine starke chronotopische Kopplung von Raum, Zeit und Handlung erfährt. Auch ohne dementsprechende Signalwörter wird deutlich, dass es sich hier um ein iteratives Erzählen handelt, das einmalig die immer wiederkehrenden gleichen Handlungen beschreibt. Diese Routine bestimmt das nostalgische Raumgefühl. Gleichsam stehen Attribute der Raumausstattung symbolisch für nostalgische Rückwendungen zur Vergangenheit, namentlich der »wassergrau gewordene[] Spiegel«. Schließlich sind auch Niklas Erzählungen selbst von nostalgischer Natur, worauf die Bezeichnung als »Beschwörung« hinweist. Es entsteht so ein Raum, dessen nostalgische Qualität durch Christians Wahrnehmung produziert wird, der aber gleichzeitig selbst nostalgische Erinnerung metaphorisch abbildet. Ähnliches gilt für das Zimmer, in dem im Roman Bambino die Protagonistin Ula wohnt. Sie lebt im Polen der frühen Sechzigerjahre ein unabhängiges Leben als alleinstehende Frau mit wechselnden Sexualpartnern, von denen sie Wert darauf legt, dass sie niemals bei ihr übernachten (Bambino 101). Ihr Zimmer ist ihr Rückzugsort, er ist an bestimmte Routinen und an bestimmte Gefühle gekoppelt, und ein Fremdkörper hat darin keinen Platz. Im Roman heißt es: »Ula schließt die Türen des Zimmers früher, wenn sie darin allein ist. Um vier muss sie aufstehen. Aber sie schläft nicht gleich ein. Sie raucht und liest. Liest und raucht. Damit sie in dem Moment einschläft, da sich der Kopf mit fremden Schicksalen füllt. Dann bleibt kein Platz für Bilder aus dem eigenen Leben.«4 4

»Ula zamyka drzwi od pokoju wcześniej, jeśli jest w nim sama. Wstać trzeba po czwartej. Ale nie usypia od razu. Pali i czyta. Czyta i pali. Żeby usypiać w takim momencie, kiedy głowę wypełnia cudze losy. Nie pozostawiając miejsca na obrazy z jej własnego życia« (Bambino 69).

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Vor dem Einschlafen zu lesen und zu rauchen ist durch die chiastische Wiederholung hier ebenfalls als iterative Handlung markiert, die Ula benötigt, um sich emotionalen Erinnerungen nicht ausgesetzt zu fühlen. Analog werden die schweren, blickdichten Vorhänge betont, mit denen Ula nicht nur die Blicke der Nachbarn aussperrt, sondern auch die unliebsamen Erinnerungen: »Ula verdeckt vor allem die Stunden, die sie mit sich selbst verbringt. Nichts fordert so dichte Vorhänge wie das Innenleben.«5 Indem hier die Vergangenheit im Hinblick auf den Versuch der Verdrängung als traumatisch markiert ist, wird das Zimmer, in dem diese Vergangenheit keinen Platz hat, zum positiven Komplementär, das ein nostalgisches Potenzial andeutet. Von besonderer Relevanz für die Verbindung von Nostalgie und Räumlichkeit sind des Weiteren Bachtins Bemerkungen zum Idyllischen, das er in seinem Chronotopos durch drei Merkmale bestimmt: die relative Zeitlosigkeit bzw. die absolute Zeit in der Idylle (»aus der Einheit des Ortes resultierende Abschwächung aller Zeitgrenzen«), den Fokus auf besondere Ereignisse und die Abwesenheit des Alltags (Beschränkung auf »einige wenige grundlegende Realitäten«) sowie die dominante, auch metaphorische Bedeutung der Natur (»die Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur, der einheitliche Rhythmus beider sowie die gemeinsame Sprache für die Naturerscheinungen und die Ereignisse des menschlichen Lebens«).6 Der Gedanke der Zeitlosigkeit und die gewichtige Rolle der Natur verweisen auf den in der Idyllenforschung häufig bemühten Terminus des locus amoenus.7 Während die Natur in den Romanen des Textkorpus nur selten auftritt und man allenfalls eine romantische Ästhetisierung des Urbanen in den Texten beobachten kann, gibt es einige Räume, die eine »Abschwächung aller Zeitgrenzen« illustrieren: etwa das Turmviertel in Uwe Tellkamps Der Turm, das in den Achtzigerjahren noch in der Vorkriegszeit stehen geblieben zu sein scheint, oder Neuendorf, den Heimatort der Protagonisten in Eugen Ruges In Zeiten des ab5

»Ula zakrywa przede wszystkim godziny spędzane z samą sobą. Nic nie wymaga tak

6

BACHTIN 2008, S. 161. Es ist anzumerken, dass Idylle und auch der im Folgenden re-

szczelnych zasłon jak życie wewnętrzne« (Bambino 71) levante Begriff der in Burkhard Meyer-Sickendieks Affektpoetik eine Rolle spielen, in der erstere mit dem Glück, zweitere mit der Hoffnung korreliert werden, vgl. BURKHARD

MEYER-SICKENDIEK 2005: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer

Emotionen. Würzburg. Als literarische Gattungen sind beide demnach auch emotional konnotiert – ein erneuter Brückenschlag zur Nostalgie. 7

Hierzu und zur neueren Idyllenforschung vgl. NINA BIRKNER/YORK-GOTHART MIX (Hrsg.) 2015: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin (eBook).

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nehmenden Lichts, der in der Nachwendezeit noch genauso aussieht wie in der DDR. Auch in Szczecin und in Wałbrzych, den Schauplätzen in Inga Iwasióws Bambino und Joanna Bators Sandberg, überlagern sich verschiedene Zeitschichten in einer entgrenzten Einheit dort, wo deutsche Relikte aus der Vorkriegszeit in der volksrepublikanischen Gegenwart auftauchen.8 All diese Räume weisen nicht nur Bachtins Merkmale der Idylle auf, sondern tragen auch nostalgische Verweise auf die Vergangenheit in sich. Dagegen ist die Dichotomie von Alltagsgeschehen und besonderen Ereignissen, die Bachtin ebenfalls benennt, schwieriger an den Nostalgiebegriff anzuschließen. Bachtin selbst bietet hier eine Lösung an, indem er den Alltag selbst zum bedeutungstragenden Element in bestimmten Idyllen erhebt. Auf Grundlage der Idylle der Landarbeit konstatiert er so etwa für den Heimatroman: »Die Momente des Alltags werden zu wesentlichen Ereignissen und erlangen Bedeutung für das Sujet.«9 In nostalgischen Narrativen sind der Alltag und die damit einhergehende Routine ebenfalls konstitutiv für die Handlung. Außerdem ist gerade im Blick auf literarische Auseinandersetzungen mit historischen Phänomenen im Textkorpus die Alltagsgeschichte ein mindestens ebenso dominanter Bezugspartner wie die Ereignisgeschichte.10 Iterative alltägliche Handlungsabläufe sind in den Texten an bestimmte Räume gekoppelt, die sich als nostalgisch ausweisen. Der Alltag, die Idylle und die Nostalgie laufen dort zusammen. Ein Beispiel in den Romanen bilden Küchen. In Sandberg ist die Küche ein dezidiert weiblicher Raum, ein »Königreich« (vgl. Sandberg 158-163)11, in dem die Hausfrau schaltet und waltet und

8

Zum Phänomen der deutschen Überbleibsel im Nachkriegspolen gibt es eine Reihe von Forschungsarbeiten, die sich mit dem Begriff ›poniemieckie‹ (meist übersetzt als ›postdeutsch‹) auseinandersetzen. Diese bieten auch einen Anschluss zur Frage nach der Materialität von Erinnerungen. Vgl. hierzu KATARZYNA ŚLIWIŃSKA 2013: »›Poniemieckie‹: Von Deutschen zurückgelassene Dinge und deren Ort in der neueren polnischen Literatur.« In: BISCHOFF/SCHLÖR 2013a, S. 313-326 sowie THOMAS SERRIER

2009: »Gedächtnistransfer und kulturelle Aneignung: Der deutsch-polnische Er-

innerungsraum 1945-200…« In: KIRSTIN BUCHINGER (Hrsg.): Europäische Erinnerungsräume. Frankfurt am Main. S. 154-163. 9

BACHTIN 2008, S. 165.

10 Einen programmatischen Aufsatz über die Alltagsgeschichte und ihre Methoden verfasste ALF LÜDTKE 1989: »Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?« In: DERS.

(Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und

Lebensweisen. Frankfurt am Main et.al. S. 9-46. 11 »królestwo« (vgl. Piaskowa Góra 138-143).

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ihre Handgriffe mit der immer gleichen Regelmäßigkeit auf die stets gleiche Weise ausführt: »Überall, wo ein bisschen Platz war, ist dieser mit etwas Gelbem oder Orangem besetzt. Selbst der Tee, den Jadzia zum Frühstück macht, hat eine fröhliche hellgelbe Farbe, weil sie den Teebeutel nur einen Augenblick lang im Wasser ziehen lässt und ihn dann zum weiteren Gebrauch auf eine Untertasse legt, wo er trocknend darauf wartet, dass Stefan nach Hause kommt. Dann überbrüht Jadzia ihn noch einmal, diesmal lässt sie ihn aber länger ziehen.« (Sandberg 160)12

Die Routine des Teeaufbrühens, die den ganzen Tagesablauf umfasst, nimmt Jadzias nostalgische Erinnerung an den vertrauten, bekannten Alltag präsentisch vorweg. Dass damit auch gewisse Geschlechterstereotype aufgegriffen werden, wird durch den ironisch-distanzierten Ton der Erzählinstanz deutlich, der das nostalgische Moment konterkariert. Die Frühstücksroutine tritt auch bei Eugen Ruge auf, und zwar in dem Moment, in dem sie durchbrochen wird, wenn Kurt beschließt, Irina in Zukunft die Zubereitung des Frühstücks abzunehmen: »Irina verzog das Gesicht und trauerte für ein paar Sekunden der verlorenen Morgenstunde nach: der einzigen Stunde, die ihr gehörte, wenn niemand anrief, niemand ihr auf die Nerven ging, sie in aller Stille ihren Kaffee trank und ihre erste Zigarette rauchte, bevor sie sich an die Arbeit machte, was für ein Genuss.« (In Zeiten 56)

Irinas Erinnerung an die Küche als ihren ureigenen Herrschaftsbereich weist auch sprachliche Nostalgiemerkmale auf: die asyndetische Aufzählung und die explizite Formulierung des Genusses als einer positiven Emotion. Die Küche sticht in diesem Roman als Ort der iterativen Routine auch dann ins Auge, wenn Irina ihr weihnachtliches Festmahl, die Burgundische Klostergans, vorbereitet. Beschreibungen der Zubereitung, die sich alljährlich wiederholt, ziehen sich in akribischen Schilderungen durch ein ganzes Kapitel (In Zeiten 245-259).13 Wie 12 »[W]szędzie, gdzie był skrawek wolnego miejsca, już go nie ma, bo Jadzia stawia tam coś żółtego lub pomerańczowego. Nawet herbata, którą Jadzia podaje do śniadania, ma wesoły jasnożółty kolor, bo parzyła ją, wkładając torebkę do szklanki z wrzątkiem tylko na moment, a potem odkładała na spodek do ponownego użytku, gdzie schnąc, czeka, aż Stefan wróci z pracy. Jadzia znów ją namoczy, ale tym razem potrwa to trochę dłużej« (Piaskowa Góra 140f.). 13 Eine ähnliche Rolle spielt in Inga Iwasióws Roman die titelgebende Milchbar Bambino. Schon der Weg zur Arbeit selbst wird als ein iterativer Ablauf der sich stets wie-

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im Folgenden zu zeigen sein wird, bestätigt sich die Idee der Küche als einem nostalgischen Ort der Alltagsroutine auch in Bezug auf die nostalgische Qualität von Lebensmitteln als materiellen Nostalgieimpulsen und von Geschmackserfahrungen als sinnlichen Nostalgieimpulsen.

N OSTALGIE

UND DIE

D INGE

Bachtin spricht in seinen Ausführungen zur Idylle auch von »idyllischen Gegenständen, die […] mit dem idyllischen Alltag unlöslich verbunden sind.«14 Nähere Ausführungen oder Beispiele liefert Bachtin nicht. Dennoch liegt in diesem kurzen Verweis auf die Objektkultur des idyllischen Raums die Anschlussstelle für Überlegungen zur Rolle der materiellen Kultur für die Nostalgie. Der Zusammenhang zwischen Dingen und Erinnerungen beschäftigt die Erinnerungstheorie bereits seit geraumer Zeit. Die Medialität der Erinnerung steht dabei im Fokus.15 In der eng verflochtenen Auseinandersetzung mit Medialität und Materialität entstehen auch Vokabeln wie die des Erinnerungsträgers. Dorothee Kimmich spitzt den Zusammenhang von materieller Kultur und Literaturwissenschaft dahingehend zu, dass die »spezielle Aufmerksamkeit« der Erinnerungstheorie gegenüber den Dingen »besonders dort [gilt], wo Objekte, Gegenstände oder Materialien als Anlass oder Auslöser für Erinnerungen dienen«.16 Wenn Dinge als Impulse fungieren, die eine Erinnerung auslösen, ist eine starke

derholenden routinierten Abläufe beschrieben: »Wenn sie zur Arbeit geht, kerzengerade, wohlduftend, wie sie ohne Mühe das Gitter vor der Tür zur Bar aufmacht, wie sie ein Netz Äpfel trägt, Pfützen meidet« [»Kiedy idzie, wyprostowana, pachnąca, bez wysiłku otwiera kratę na drzwiach do baru, niesie siatkę jabłek, omija kałuże« (Bambino 101)]. 14 BACHTIN 2008, S. 169, Herv. i.O. 15 Symptomatisch hierfür ist etwa die Gliederung des Überblickswerks von CHRISTIAN GUDEHUS/ARIANE EICHENBERG/HARALD WELZER (Hrsg.) 2010: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart. Hier wird den »Medien des Erinnerns« das umfangreiche dritte Kapitel gewidmet, das sechzehn verschiedene Möglichkeiten der Erinnerungsvermittlung aufführt (S. 127-245). Produkte, Architektur, Denkmale, Bilder, Fotografie und Körper gehören als dezidiert materielle Erinnerungsträger dazu. 16 DOROTHEE KIMMICH 2014: »Literaturwissenschaft.« In: STEFANIE SAMIDA et.al. (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart (eBook). S. 305-308. Hier S. 307.

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affektive Komponente nicht abwegig, woran der Schritt vom Erinnerungs- zum Nostalgieträger sich anschließt. Kimmich begründet außerdem die Konjunktur der Ding- und Objektkultur in den Philologien durch den cultural turn und nennt die interdisziplinäre Verzahnung etwa mit Ethnologie und Kulturanthropologie als Grundlage für literaturwissenschaftliche Forschungen im Bereich der Material Studies.17 Tatsächlich profitiert davon auch und gerade eine literaturwissenschaftliche Nostalgieforschung. Sie kann sich orientieren an den Forschungsarbeiten von Susan Stewart und Svetlana Boym, Daphne Berdahl und Sharon Macdonald.18 Für die Nostalgie ist nicht nur entscheidend, dass Dinge als Erinnerungsimpulse fungieren können, sondern auch, ob ihre Wahrnehmung durch Figuren im Text oder von Lesern emotional konnotiert wird. Um als Nostalgieträger aufzutreten, ist die Art entscheidend, auf die die Dinge wahrgenommen werden. Luisa Banki schreibt in einer Analyse von W.G. Sebalds Austerlitz den Dingen eine »stumme Zeugenschaft« zu: »Sie bewahren (das Wissen um) die Vergangenheit in sich, können sich aber nicht artikulieren, sondern müssen wahrgenommen, gelesen werden […].«19 Wenn diese Wahrnehmung, diese Lesart der Dinge positiv ausfällt, sind sie Träger von Nostalgie. Inwiefern Dinge als Nostalgieträger fungieren können, zeigt sich besonders eindrücklich darin, wie in allen vier Romanen des Textkorpus durch das Ansammeln von Dingen die nostalgische Erinnerung perpetuiert und Nostalgie damit performativ vollzogen wird. Jeder der Texte weist mindestens eine Figur auf, die sich nicht in der Lage sieht, Dinge zu entsorgen. Stattdessen häufen die Protagonisten zunehmend Besitz an, der einen Eigenwert für sie zu haben scheint. In Joanna Bators Sandberg kommt dies bereits dort zum Ausdruck, wo die Bewohner Wałbrzychs in den Vorgärten nach Hinterlassenschaften der deutschen Be-

17 KIMMICH 2014, S. 306. 18 Vgl. zur nostalgischen Dimension von Souvenirs BOYM 2001, S. 327-336 (»Immigrant Souvenirs«) sowie SUSAN STEWART 1993: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Durham/London. S. 132-150 (»The Souvenir«). Zur Rolle von ostdeutschen Waren und Produkten im Erinnerungs- und Nostalgiediskurs vgl. BERDAHL 2010, S. 48-59. Zu sozialistischen Memorabilia in diesem Kontext vgl. MACDONALD 2013, S. 99-106. 19 LUISA BANKI 2015: »›Treue zur Dingwelt‹ – Die Lesbarkeit der Dinge bei W.G. Sebald.« In: JOSÉ BRUNNER (Hrsg.): Erzählte Dinge. Mensch-Objekt-Beziehungen in der deutschen Literatur (= Schriftenreihe des Minerva Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv 32). Göttingen. S. 191-207. Hier S. 203.

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völkerung graben (Sandberg 81-83)20. Noch prägnanter ist jedoch Jadzias Hang dazu, Dinge zu behalten: »Jadzia wirft ungern was weg. Lieber bewahrt sie es auf, man kann nie wissen, wann man es mal brauchen kann. Altes ist oft von besserer Qualität als Neues, und dann hat man es gleich zur Hand.« (Sandberg 10)21

So ist die Plattenbauwohnung der Familie schließlich gut gefüllt mit ungenutzten Dingen. Dabei ist auch Jadzias Bevorzugung des Alten gegenüber dem Neuen symptomatisch für die gelebte Nostalgie. Sie geht mit dieser Maxime sogar so weit zu sagen: »Neue Sachen sind zu kostbar, um sie zu benutzen, am besten sieht man sie erst gar nicht, denn vom Angucken nutzen sie sich auch ab.« (Sandberg 159)22 Die Angst vor dem Verfall, der ultimativ in einem Verlust (durch die Entsorgung) münden könnte, ist gleichfalls ein Hinweis auf eine nostalgische Lust daran, Dinge aufzubewahren. Parallel zu Jadzia stellt sich in Inga Iwasióws Bambino die Protagonistin Anna in ihrem Unwillen dar, Kleidung zu entsorgen: »Sie kaufte Dinge aus Vernunft, und was es nötig hatte, besserte sie aus. Sie konnte hübsch flicken, annähen. Nichts war jemals so zerlumpt, zerlumpt – sagte sie immer – dass man es sofort wegwerfen musste. Man wird doch nicht gleich etwas wegwerfen. Und also wird man auch nichts kaufen.«23

Ganz wie Jadzia scheut sich auch Anna davor, etwas wegzuwerfen. In ihrem Fall spielt zusätzlich die Fähigkeit eine Rolle, alte Dinge dadurch zu erhalten, dass man sie repariert. Liest man auch dieses Handlungsmuster im Hinblick auf eine nostalgische Symbolik, so tauchen hier spielerische Abwandlungen und Umdeutungen des Materials als Metapher für einen kreativen Umgang mit der Vergangenheit im Rahmen nostalgischer Praxis auf.

20 Piaskowa Góra 69-72. 21 »Jadzia niczego nie lubi wyrzucać. Lepiej schować, bo nie wiadomo, co i kiedy może się przydać. Stare często jest lepszej jakości niż nowe i masz jak znalazł« (Piaskowa Góra 8). 22 »Nowe rzeczy są zbyt cenne, by ich używać, i lepiej, żeby ich w ogóle widać nie było, bo od patrzenia też się niszczą« (Piaskowa Góra 140). 23 »Kupowała rzeczy rozsądnie, co trzeba, naprawiała. Umiała ładnie cerować, sztukować. Nic nie było dość złachane, złachane – mówiła – żeby zaraz wyrzucać. Nie będzie wyrzucać zaraz. Więc i nie będzie kupować« (Bambino 142).

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Diese nostalgischen Handlungen, die Jadzia und Anna jeweils ausführen, sind mit dem Begriff des Hortens noch akkurater zu beschreiben als mit dem des Sammelns. Denise Wilde unterscheidet beide Kategorien wie folgt: »Grundlegend ist die kategoriale Differenz zwischen einem Sammeln als Form der Lebensgestaltung in Abgrenzung zu einem – zumeist ebenfalls als Sammeln bezeichnetes [sic!] – Horten bzw. Bevorraten als Lebenserhaltung: Sammler/-innen horten nicht, sie legen in dem Sinne keine Vorräte und Reserven an. […] Sammeln ist als eine aktive und absichtliche Tätigkeit aufzufassen, die sich von einem bloßen Geschehen oder naturhaftem Ereignis klar abgrenzen lässt.«24

Diese Unterscheidung schließt nicht zuletzt an Manfred Sommers Differenzierung zwischen einem ökonomisch motivierten, akkumulierenden und einem ästhetischen, selbstreferentiellen Sammeln an.25 Während die polnischen Romane vor allem das ökonomische Horten thematisieren, finden sich in den deutschen Romanen auch Formen des ästhetischen, ausdifferenzierenden Sammelns. Eine naheliegende Erklärung für die Weigerung, Dinge zu entsorgen, ist in der sozialistischen Mangelwirtschaft zu finden. Gleichzeitig ist das nahezu krankhafte Horten von häufig überflüssigen und veralteten Dingen eine symbolische Ersatzhandlung für eine Rückwendung in die Vergangenheit und das Begehren, dieselbe in der Gegenwart zu erhalten. Dazu kommt die positive Bewertung dieses Besitzes, die die Figuren vornehmen. Das Anhäufen von in der Regel alten Gegenständen steht damit metaphorisch für Nostalgie und ist als performativer Ausdruck dieses Gefühls zu verstehen. Die beiden Beispiele aus der polnischen Literatur zelebrieren eine Masse von Besitztümern, in der es auf die Spezifik einzelner Gegenstände nicht ankommt. Eine äquivalente Figur aus einem der deutschen Texte ist die (Ur-)Großmutter Nadjeshda Iwanowna in In Zeiten des abnehmenden Lichts, die ebenfalls in ihrem Zimmer alles aufbewahrt, dessen sie habhaft wird – auch verderbliche Dinge (In Zeiten 65f.). Der unangenehme Geruch, der dadurch entsteht (In Zeiten 72f.), zeigt die Absurdität dieses Hangs zum Horten auf und verkehrt den nostalgischen Impuls des Aufbewahrens ins Negative. Die deutschen Romane bestechen allerdings sonst vorrangig durch orchestrierte, geplante Sammlungen, in denen jedes Einzelstück einen festen Platz hat und in denen nichts dem Zufall oder der Beliebigkeit unterliegt. Ein Beispiel 24 DENISE WILDE 2015: Dinge sammeln. Annäherungen an eine Kulturtechnik. Bielefeld (ebook). S. 37f., Herv. i.O. 25 MANFRED SOMMER 2002: Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt am Main. S. 17-52.

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hierfür liefert bei Eugen Ruge Irinas Sammlung von Erinnerungsstücken, die aus der Perspektive ihres Sohnes im Eingangskapitel sechs Jahre nach ihrem Tod folgendermaßen wahrgenommen wird: »Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da – aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mitbringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das ›Wichtigste‹ (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in ›lockerer Ordnung‹ (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. […] Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic – Häuptling aller DEFAIndianerfilme, immerhin! – Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt – weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten…« (In Zeiten 17)

Bemerkenswert ist der Begriff des ›Sammelsuriums‹, der durch Irinas russischen Akzent im Deutschen verballhornt als »Sammelsirium« in die Familiensprache Einlass gefunden hat.26 Laut Denise Wilde steht der Begriff für »eine diffuse und ungeordnete Beschaffenheit des Sammelns, die eine Sinnlosigkeit dieses Tuns unterstellen könnte.«27 Jedoch tauchen später im Roman sowohl der dem Schauspieler Gojko Mitić nachempfundene Gojkovic (In Zeiten 167) als auch der Teller (In Zeiten 199) wieder auf und verleihen der nur scheinbar chaotischen Sammlung damit eine Ordnungsfunktion im Rahmen der collageartigen Handlungsführung. Ihre Wiederaufnahme erläutert gleichsam Alexanders nostalgische Bezugnahme auf diese Gegenstände im ersten Kapitel des Romans. Insbesondere der Teller muss als Beispiel für einen Nostalgieimpuls gelten, da er nicht nur als Gegenstand verbleibt, sondern die Erinnerung an eine mit ihm verbundene Geschichte evoziert, die mit der Formel »so wurde erzählt« im Zitat nostalgisch heraufbeschworen wird. Alexander gibt sich zwar Mühe, den Gegenständen ihre auratische Kraft abzusprechen: »Egal. Gegenstände, dachte Alexander … Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.« (In Zeiten 17) Der Versuch, die Dinge auf bloße Materie zu reduzieren, wirkt jedoch hilflos und wenig erfolgversprechend.28

26 Vgl. zur Familiensprache S. 77f. 27 WILDE 2015, S. 66. 28 Ein weiteres Beispiel für eine Sammlung im Roman liegt in Charlottes Wintergarten, der durch ihre Mitbringsel aus Mexiko ausgestattet ist.

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Ein Sammler, der ganz explizit den ästhetischen Wert seiner Objekte in den Vordergrund stellt, liegt schließlich in Uwe Tellkamps Der Turm mit Niklas Tietze vor. In seiner vom jüdischen Arzt Dr. Citroën übernommenen Praxis lehnt er es ab, Modernisierungen vorzunehmen. Die Arbeitsstätte gewinnt dadurch bald musealen Charakter und wird überdies zum Ausstellungsraum von Niklas› privater Leidenschaft, der klassischen Musik: »Sein Interesse galt der Musik, speziell der Dresdner Oper. Hunderte Fotos von Sängern und Musikern, viele für die stadtbekannten Musikenthusiasten Citroën und Tietze persönlich signiert, hingen in den Praxisräumen, und wie Citroën auch spielte Niklas seinen Patienten lieber Opernarien vor als sich ihre Beschwerden anzuhören. Für ihn schien die Gegenwart eine Möglichkeit unter anderen zu sein, in der man leben konnte, und nicht die angenehmste; weshalb er sie mied. Er besaß viele Bücher […]; sie waren Zeitkapseln, ihr Vorhandensein allein schien beruhigend.« (Turm 343f.)

Zwischen der Beschreibung seiner zwei Sammlungen – der Fotografien von Künstlern und der Bücher – wird Niklas als ein Mensch portraitiert, der das Vergangene der Gegenwart vorzieht. Seine unkritische Sicht auf die Vergangenheit, die er grundsätzlich als der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit überlegen empfindet, drückt er performativ in der Weigerung aus, in seiner Praxis etwas zu erneuern. Die Sammlung der Fotografien hat dabei eine besonders stark ausgeprägte Erinnerungsfunktion, »[f]or photographs belong to that class of objects formed specifically to remember, rather than being objects around which remembrance accrues through contextual association […].«29 Niklas’ Büchersammlung wird eine ähnliche Position zugesprochen, wenn die Bücher im Zitat als »Zeitkapseln« beschrieben werden, die somit ebenfalls die Vergangenheit in die Gegenwart transportieren. In beiden Sammlungen wird überdies ein selektiver Charakter deutlich, den Jadzias und Annas Horten in den polnischen Texten nicht aufweist. Während dort der Vergangenheit an sich ein Wert attestiert wird, ist es in Niklas’ Fall eine ausgewählte Vergangenheit, die es zu bewahren gilt. Das Moment der Selektion kommt im Sammelsurium bei Eugen Ruge ebenfalls zum Ausdruck, dort ist es Kurt, der »das ›Wichtigste‹ […] ausgewählt« hat. Eine solche bewusste Auswahl von aufzubewahrenden Objekten taucht auch im Roman Bambino auf, in dem die Protagonistin Ula als junges Mädchen nach dem Krieg die vom jüdischen Zahnarzt Krause hinterlassenen Instrumente aus der Arztpraxis in einem zerstörten Altbau an sich nimmt:

29 ELIZABETH EDWARDS 1999:

»Photographs

as

Objects

KWINT/BREWARD/AYNSLEY 1999, S. 221-236. Hier S. 222.

of

Memory.«

In:

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»Den Zahnarztstuhl, Ula setzt sich hinein, hatte sie immer schon ausprobieren wollen. […] Sogar wenn der Doktor in ihren Zähnen bohrte, dachte sie daran, an diesem Ort zu spielen, daran, die kühlen Instrumente anzufassen, und sie hatte gar keine Angst. Hier sind sie nun, bedeckt von einer Menge Staub, unsteril und ungesichert. Die Instrumente sind übriggeblieben. […] Sie nimmt die Instrumente, wickelt sie in einen Lappen, verbirgt, verwischt die Spuren. Sie hat etwas, Kapital.«30

Viele Jahre später bei ihrem Besuch des Vaters in Deutschland findet Ula heraus, dass der Zahnarzt noch lebt, und sie denkt an die Instrumente, die sie in einer Schachtel auf dem Hängeboden aufbewahrt (Bambino 193f.). Ulas Sammlung ist weder maßlos noch ist sie auf Präsentation und Publikum bedacht. Wie sie bereits ihr Zimmer als Rückzugsort durch Vorhänge von der Außenwelt abschirmt, so verbirgt sie auch die zahnärztlichen Instrumente als Erinnerungsträger. Sie sind jedoch ein materieller Ausdruckskörper der Vergangenheit, der für Ula einen besonderen Wert hat. Das maßlose Kompilieren von Materie wird selbst im deutschen Roman mit Nadjeshda Iwanowna von einer Slawin ausgeführt, während die ausgewählte und durchkomponierte Sammlung im polnischen Text von der Figur mit deutschen Wurzeln angelegt wird. Hier spiegeln sich möglicherweise unterschiedliche – gleichsam stereotype – kulturspezifische Auffassungen vom Sammeln und Besitzen wieder, deren erste auf Quantität, deren zweite hingegen auf Ordnung basiert und die damit die Kategorien des ökonomischen und des ästhetischen Sammelns nach Sommer reproduzieren. Nostalgische Qualitäten werden jedoch von allen erwähnten Sammlungen transportiert, indem die Objekte die Vergangenheit in der Gegenwart perpetuieren und durch ihre Besitzer eine explizite Zuschreibung von emotionaler Bedeutung erfahren.

N OSTALGIE

UND DIE

S INNE

Der bekannteste nostalgische Moment der neuzeitlichen Literatur bedient sich einer gustatorischen Erfahrung. Es handelt sich um die Madeleine-Szene in

30 »Fotel dentystyczny, Ula siada w nim, zawsze chciała spróbować. […] Nawet kiedy doktor borował jej zęby, myślała o zabawie w tym miejscu, o dotykaniu chłodnych narzędzi i w ogóle się nie bała. Teraz są tu, pokryte warstwą pyłu, niesterylne i niezabezpieczone. Zostały narzędzia. […] Zabiera narzędzia, zawija w szmatkę, chowa, zaciera ślady. Ma coś, kapitał« (Bambino 27).

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Marcel Prousts Monumentalwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.31 Die mémoire involontaire, die unwillkürliche Erinnerung an die Kindheit, die durch den Genuss eines Gebäckstücks zum Tee initiiert wird, ist Teil der umfangreichen Proust-Forschung. Thomas Klinkert formuliert den Kerngedanken des daraus entstandenen theoretischen Ansatzes, wenn er die unwillkürliche Erinnerung als Aufhebung »der zeitlichen Distanz zwischen erinnerndem und erlebendem Ich« definiert.32 Dieses Begehren nach einer Auflösung zeitlicher Grenzen, das sich auch in Bachtins idyllischem Chronotopos manifestiert, entspricht auch dem nostalgischen Gefühl. Die Theorie einer unwillkürlichen Erinnerung nach Marcel Proust basiert nicht nur auf der Madeleine als einem materiellen Erinnerungsträger und damit auf einem Objekt, sondern sie umfasst vor allem die wichtige Dimension der sinnlichen Wahrnehmung. Erst als – nicht zuletzt körperliche – Reaktion auf den Geschmack der Madeleine entfaltet sich die Erinnerung als intensives und affektives Erlebnis, das die nostalgische Qualität der Szene begründet. Geruchs- und Geschmackserfahrungen fungieren entsprechend auch in den Romanen des Textkorpus als Impulse der Nostalgie. David E. Sutton schlägt in seiner Studie Remembrance of Repasts, deren Untertitel sie als eine »Anthropologie des Essens und der Erinnerung« ausweist, eine enge Verbindung zwischen Gedächtnis und Geschmack vor. Er schreibt: »The fact that taste and smell have a much greater association with episodic than semantic memory, with the symbolic rather than the linguistic, and with recognition rather than recall, helps to explain why taste and smell are so useful for encoding the random, yet no less powerful, memories of contexts past than, say, vision or words.«33

Sharon Macdonald nimmt Bezug auf Suttons Text und widmet in Memorylands den materiellen und sinnlichen Dimensionen des Erinnerns einen Abschnitt unter dem Titel »food memories«. Dabei gilt ihr Essen als ein Element mit starker mnemonischer Kraft, weil es die Materialität des Lebensmittels selbst und die 31 Die Szene ist nachzulesen in MARCEL PROUST 1974 [1913]: In Swanns Welt (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1). Aus dem Französischen von Eva RechelMertens. Berlin. S. 108-112. 32 THOMAS KLINKERT 1996: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. Tübingen. S. 42. Eine umfangreiche Studie älteren Datums zum Thema liegt vor mit FRANZ JOSEF ZAPP 1962: Die »Mémoire Involontaire« bei Marcel Proust. München. 33 DAVID E. SUTTON 2001: Remembrance of Repasts. An Anthropology of Food and Memory. Oxford. S. 101f.

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synästhetische Erfahrung des Genusses mit allen Sinnen verbindet.34 Sie erweitert damit Überlegungen zu Erinnerung und materieller Kultur um die Dimension der sinnlichen Wahrnehmung. Auch beim abermaligen Blick in Michail Bachtins Idyllenstudie findet sich ein Bezug zu Essen und Trinken.35 Die Darstellung von Sinneswahrnehmungen in der Literatur ist überraschend wenig erforscht. Mădălina Diaconu diskutiert in ihrem Werk Tasten – Riechen – Schmecken ästhetische Dimensionen eben dieser drei so genannten Sekundärsinne, indem sie ihnen metaphorische Begriffe zuordnet, durch die sich ihr Wert für die Künste erschließt: »So bezieht sich im Weiteren die Patina nicht mehr allein auf die sichtbaren Spuren eines wiederholten Tastens; sie betrifft auch die ästhetisierende Wirkung der Zeit im Allgemeinen. Die Atmosphäre ist nicht mehr auf eine Duftwirkung beschränkt; sie wird auch synonym mit der affektiven Qualität eines Gegenstandes, einer Umgebung oder eine Situation gebraucht. Und schließlich bezeichnet das Aroma die Besonderheit eines Werks, einer Sprache usw. In einem solchen Verständnis überschreiten die Patina, die Atmosphäre und das Aroma die lokale Sinneserfahrung und eröffnen eine Welt im Ganzen.«36

Im Hinblick auf diese Verzahnung von Tastsinn, Patina und Zeit, von Geruchssinn, Atmosphäre und Affekt sowie Geschmackssinn, Aroma und Besonderheit ist der Schritt zur Nostalgie im Hinblick auf Zeit und Affekt denkbar klein. Auch die Besonderheit im Sinne einer Detailtreue und Spezifik der Beschreibung ist von Bedeutung für die nostalgische Erinnerung. Verflechtungen von Sinneswahrnehmung und Nostalgie lassen sich an Beispielen aus der Primärliteratur ohne Weiteres vergegenwärtigen. Der Titel von Inga Iwasióws Bambino impliziert Essen gleich doppelt, nämlich durch den Verweis auf das volksrepublikanische Speiseeis und auf die Milchbar desselben Namens, die als einer der Hauptschauplätze des Romans fungiert. Ein ganzes Kapitel ist dem Frühstück gewidmet, das als soziales Ereignis und als sinnliche Geschmackserfahrung beschrieben wird:

34 MACDONALD 2013, S. 89f. Macdonald verweist insbesondere auf das dritte Kapitel bei David Sutton (SUTTON 2001, S. 73-102), in dem die multisensorische und synästhetische Qualität des Essens mit der sozialen Funktion in Bezug gesetzt werden. 35 BACHTIN 2008, S. 163: »Essen und Trinken tragen in der Idylle entweder gesellschaftlichen oder aber (in den meisten Fällen) familiären Charakter; am Eßtisch kommen die verschiedenen Generationen und Altersstufen zusammen« (Herv. i.O.). 36 MĂDĂLINA DIACONU 2005: Tasten – Riechen – Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne. Würzburg. S. 437f., Herv. i.O.

94 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »[Die Posener Semmeln] sind leichter vorzubereiten – aufschneiden, schmieren, belegen. Mit Weißkäse, gelbem Käse. Zu Kaisersemmeln passt am besten Schinken. Schinken bekommen sie weniger als Käse. Waldek mag auch die Milch aus den Kannen, die gebracht werden, noch bevor sie alle ankommen, fast noch in der Nacht, noch vor dem Morgen. Hat gar nicht so einen metallischen Geschmack, wie Ula sagt, Kind einer Hygienedoktrin. Waldek schöpft mit der Kelle eine Portion direkt in den Becher […]. Er trinkt Milch, bevor ihm Ula einen richtigen Kaffee bringt […]. Bevor das aus Pulver zubereitete Rührei aufgehört hat, intensiv zu duften. Bevor sie aufgehört haben, Milchsuppe auszugeben. Und in der Küche beginnt die Zubereitung von Piroggen, Klößen, Palatschinken, Tomatensuppe, Buchweizengrütze und was nicht sonst noch.«37

Die Beschreibung der geschäftigen Morgenroutine ruft zahlreiche Sinneseindrücke ab, darunter ausdrücklich den Geschmack der frischen Milch und den Geruch des Kaffees. Es entsteht mithin ein stimmungsvolles und atmosphärisches Bild einer volksrepublikanischen Milchbar, dem eine nostalgische Qualität nicht abzusprechen ist.38 Auch bei Eugen Ruge ist das Essen ein wiederkehrendes Motiv – vom ersten Kapitel, in dem Alexander seinen greisen Vater Kurt füttern muss, über Beschreibungen von Irinas Weihnachtsgans bis zum 90. Geburtstag des Familienpatriarchen Wilhelm und dem eingestürzten Kuchenbüffet. Inwiefern spezifische Geschmackserfahrungen emotional an bestimmte Menschen und Situationen gekoppelt sein können, kommt etwa zum Ausdruck, wenn Irina darauf besteht, am Tag von Wilhelms Geburtstagsfeier für Alexander zu kochen: »[…] und dann würden sie, wie jedes Jahr, zusammen Pelmeni essen, mit saurer Sahne und Senf, wie Sascha es mochte.« (In Zeiten 62) Dass sie dieses Essen unbedingt zubereiten möchte, bringt eine nostalgische Sehnsucht nach Kontinuität zum Aus-

37 »I lepiej je [poznańskie bułki] przygotowywać – rozkroić, posmarować, przełożyć. Twarożkiem, żółtym serem. Do kajzerki najlepiej pasuje szynka. Szynki dostają mniej niż sera. Waldek lubi też mleko z kanek, przywożonych jeszcze zanim przyjdą, jeszcze bardzie po stronie nocy, przed nad ranem. Nie ma wcale metalicznego smaku, jak mówi Ula, dziecko higienicznej doktryny. Waldek czerpie chochelką porcję wprost do kubeka […]. Pije mleko, zanim Ula przyniesie mu prawdziwą kawę […]. Zanim przestanie intensywnie pachnieć robiona z proszku jajecznica. Zanim skończą wydawać zupę mleczną. I w kuchni zacznie się robienie ruskich, leniwych, naleśników, pomidorowej, gryczanej i czego tam jeszcze.« (Bambino 73) 38 Vgl. TOMASZ ZBIGNIEW ZAPERT 2008: »Nostalgia za barem Bambino.« Interview mit Inga Iwasiów. In: Rzeczpospolita am 03.10.2008. URL: http://www.rp.pl/artykul/ 199793-Nostalgia-za-barem-Bambino.html#ap-3. Letzter Zugriff am 23.09.2017.

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druck, die wenig später zunichtegemacht wird, als Irina von Alexanders Flucht in den Westen erfährt. In Bezug auf Joanna Bators Sandberg wird die Prägnanz von Sinneswahrnehmungen gar mehrfach anerkennend vom Feuilleton erwähnt.39 Besonders eindrücklich verschränken sich Nostalgie, food memories und kulturelle Identität am Beispiel Dimitris, des besten Freundes der Protagonistin Dominika Chmura. Dimitri ist zu Zeiten der Volksrepublik Polen griechischer Zuwanderer in der niederschlesischen Provinz, in der der Roman spielt. Im polnischen Exil bringen ihm seine Eltern von Kindheit an die Sehnsucht nach Griechenland bei. Ihre Heimat ist Olimbos, ein Dorf auf der Insel Karpathos in der südgriechischen Inselgruppe Dodekanes im Ägaischen Meer. »Von klein auf hat man ihn den Hunger auf Aromen gelehrt, die es hier, wo er ist, nicht gibt. Er lernt, dass er mehr wollen muss, als er hat, und dass dieses Mehr irgendwo auf ihn wartet. Zuerst lernt der Junge die Namen von Dingen wie Baklava, Olimbos, Kadafi, Karpathos, und erst viel später wird er ihren Geschmack kennenlernen, den er aber schon lieben gelernt hat.« (Sandberg 180)40

In die nostalgische Sehnsucht nach dem Ort mischt sich die nach den Geschmäckern, die diesem Ort verbunden sind – in der Aufzählung »Baklava, Olimbos, Kadafi, Karpathos« wechseln sich Süßspeisen und geographische Angaben ab.41 Der ersehnte Raum ist untrennbar mit körperlichen Wahrnehmungsphänomenen verbunden, und die asyndetische Struktur suggeriert, dass die Speisen unweigerlich einem Ort zugehörig und dass auch die Orte durch einen besonderen Geschmack gekennzeichnet sind. Die sinnliche Wahrnehmung ist mehr als nur ein 39 Vgl. RICHARD KÄMMERLINGS 2011: »Diese Liebe ist ein Butterfass.« In: Die Welt vom 02.04.2011, o.S.: »So sinnlich-detailgenau und erinnerungsgesättigt hat man die sozialistische Kleinstadt und Plattenbauwelt in der Literatur noch nicht beschrieben gefunden […].« Vgl. auch NICOLE HENNEBERG 2011: »Die Republik der Frauen.« In: faz.net am 16.06.2011. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezen sionen/belletristik/joanna-bator-sandberg-die-republik-der-frauen-1657342.html. Letzter Zugriff am 13.06.2016. 40 »Od małego nauczony jest głodu na smaki, których tu, gdzie jest, nie znajdzie. Uczy się, że musi chcieć więcej, niż ma, i że to gdzieś na niego czeka. Chłopiec najpierw poznaje nazwy rzeczy takich, jak baklawa, Olimbos, kadafi, Karpathos, a dopiero wiele lat później pozna ich smak, który nauczył się już lubić« (Piaskowa Góra 158). 41 Baklava und Kadaïfi sind süße Gebäckstücke, die nach dem Backen in Zuckersirup getränkt werden. Sie verweisen gleichzeitig auf die osmanische Vergangenheit Griechenlands, da sie traditionell Teil der türkischen und arabischen Küche sind.

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positiver Bestandteil der Vergangenheit: Sie konstituiert den erinnerten Raum gleichsam als dritte Dimension neben Raum und Zeit mit. 42 In Uwe Tellkamps Der Turm verleihen eher Gerüche als Geschmäcker verschiedenen Szenen auf prägnante Weise eine nostalgische Dimension, man denke an den Geruch von Niklasʼ Pfeife (Turm 148).43 Eine besonders sinnliche Darstellung liegt außerdem mit Christians Straßenbahnfahrt auf dem Weg zum Wehrdienst nach seiner Einberufung zur Nationalen Volksarmee vor. Christian begibt sich in diesem Kapitel auf eine gedankliche Reise durch sein Vaterhaus, die sich als Gedankenstrom entfaltet: »[Er] dachte an den Apfel auf dem Teller, der rot wie eine Billardkugel war und genauso kühl sein würde, auch zu vornehm, seine Aromen auf Verlangen und restlos in den gierigen Mund zu kippen, das Fruchtfleisch würde knacken beim Zubeißen, vielleicht würde ein Blutsaum an der Zahnspur stehenbleiben; der Apfel würde nach Stolz, nach Herbst schmecken, genauer: nach der schaumigen Eintracht zwischen Zenit und absteigender Ruhe, in der jene raphe [gr. Naht, Anm. d.Verf.] verlaufen war […]; jene raphe (Christian mochte es gern, dieses Wort): die nur für Augenblicke zu Messerklingenschärfe emporlaufende Wucht, mit der September- und Oktoberbrandung aufeinanderprallten, dieser Zeitpunkt (aber es war ja keiner, Stabenow [Christians Physiklehrer, Anm. d.Verf.] hatte von Punkt-Verwischung gesprochen, von Zeit-Ellipsen und Zeit-Klecksen), dieser Zeit-Klecks also würde aus ungeheuren Aromen die Essenz des Herbstes saugen: das waren Gerüche (für Christian begann der Herbst, der Oktober, der Monat seiner Geburt, mit Gerüchen: der Duft nach altem Brieftaschenleder, der aus den Lamellen von Pilzen stieg, der Geruch 42 Dabei weist die Erzählinstanz Dimitri und seine Familie als »Glückspilze« aus, weil sie überhaupt eine Identität haben, die sie aus nostalgischen Erinnerungen speisen können: »Für Dimitris Eltern […] bleibt der lange schmale Landzipfel im Mittelmeer der schönste Ort der Welt. Sie wissen nicht, dass diese Sehnsucht, kristallisiert in fertigen Bildern, die den Kindern wie süße Götterspeisewürfel verabreicht werden können, sie zu Glückspilzen im Vergleich zu den meisten Einwohnern dieser Stadt macht, deren Vaterland entweder nicht mehr existiert oder die nie eins hatten.« (Sandberg 181) [»Dla rodziców Dimitriego […] wąska i długa wysepka na Morzu Śródziemnym pozostaje najpiękniejszym miejscem na ziemi. Nie wiedzą, że ta tęsknota, skrystalizowana w obrazach gotowych do rozdawania dzieciom jak kostki słodkiej galaretki, czyni z nich szczęściarzy wśród większości mieszkańców miasta, których ojczyzny albo już nie istnieją, albo ich nigdy nie mieli.« (Piaskowa Góra 159)] Im erneut auf Sinneswahrnehmung rekurrierenden Vergleich der Erinnerung mit Götterspeise ist der Bildspender ein Nachtisch. Die nostalgische Erinnerung wird also als Genussmittel dargestellt. Sie ist ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann. 43 Vgl. auch S. 81.

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nach Pferden, der aus nassem Laub kam, die ohnmächtige Süße des Obsts in den ›Anker‹Gläsern, die in den Einweckkesseln erhitzt wurden) […].« (Turm 532)

Hier werden verschiedene Geschmäcker und Gerüche auf engem Raum zu einem nostalgischen Bild der eigenen Kindheit verdichtet, die Christian nunmehr als beendet empfindet. Der fragmentarische Stil mit den zahlreichen Einschüben trägt dazu bei, dass sich die Wahrnehmung der Worte auf die affektiven Eindrücke reduziert und sinnliche Bilder entstehen, die ein intensives Erleben suggerieren. Dabei gerät es zur Nebensache, dass zwar der Apfel als tatsächliche Erinnerung beschrieben wird, sein Verzehr jedoch im Konjunktiv steht und es sich bei Christians Gedanken um Möglichkeiten handelt, die seiner Phantasie eher als seinem Gedächtnis entspringen. Das Schwelgen in der Erinnerung an das Vaterhaus ist deshalb als Basis für ein nostalgisch-kreatives Spiel im Umgang mit der Vergangenheit zu begreifen. Die Darstellungen sinnlicher Erfahrung von Geschmack und Geruch benötigen stets auch eine materielle Grundlage – Kaffee, Pelmeni, Baklava oder einen Apfel. Analog lässt sich eine Verbindung von Dingkultur und Sinneswahrnehmung für die Musik feststellen. Auch die akustische Erfahrung spielt nämlich eine Rolle für die sinnliche Dimension Nostalgie. Hier gelten Instrumente oder Tonträger als Erinnerungsträger, die den Klang als sinnlichen Reiz hervorbringen. Jean Starobinski erklärt in seinen Überlegungen zur Nostalgie den Zusammenhang zwischen musikalischer Wahrnehmung und Erinnerung: »The tune, a fragment of the past, strikes our senses, but it also revives in the imagination all our former life and all the ›associated‹ images with which it is connected. This ›memorative sign‹ is related to a partial presence which causes one to experience, with pleasure and pain, the imminence and the impossibility of complete restoration of this universe which emerges fleetingly from oblivion.«44

Musik setzt also als »memoratives Zeichen« Erinnerungsprozesse in Gang, deren Verlauf sich der Kontrolle des Erinnernden entzieht. Es handelt sich folglich um einen weiteren Impuls für die unwillkürliche Erinnerung. Der auditive Reiz ist ebenso wie gustatorische und olfaktorische Erlebnisse im Stande, das emotionale Moment beizusteuern, infolgedessen eine Erinnerung in ein nostalgisches Narrativ gefasst wird. Die besondere Wirkung von Ton als einem Impuls für Nostalgie stellen Karin Bijsterveld und José von Dijck in ihrem Sammelband Sound Souvenirs zur 44 STAROBINSKI 1966, S. 92f.

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Untersuchung. In der Einleitung gehen die Herausgeber dezidiert auf die Rolle sowohl von Musik als auch von alltäglichen Geräuschen und Klängen in der Erinnerungsbildung ein: »Perhaps the inverse relation between sound and memory can help us understand an intriguing finding – the finding that people use recorded music more often than recordings of everyday sounds as a way of gaining access into their memories. Both recorded and unrecorded sound can trigger and help to recall memories, but how easily do people remember sound and music without using recordings? People have remarkable capacities in recalling music.«45

Musik scheint im menschlichen Bewusstsein eine besonders zuverlässige Speicherfunktion zu erfüllen, die sie für nostalgische Impulse prädestiniert. Das spiegelt sich auch im Inhaltsverzeichnis des Bandes wieder, von dessen vier Teilen zwei mit den Titeln »Auditory Nostalgia« und »Technostalgia« überschrieben sind und deren Aufsätze damit nicht nur die im Untertitel genannte Erinnerung, sondern gezielt nostalgische Phänomene in den Blick nehmen. Die Rolle der klassischen Musik bei Uwe Tellkamp ist bereits deutlich geworden. Bei Inga Iwasiów spielt schon im Titel neben dem Essen auch Musik eine Rolle, denn außer der Milchbar und einem Speiseeis bezeichnet Bambino auch einen in der Volksrepublik produzierten Plattenspieler, dem ein eigenes Kapitel im Roman gewidmet ist (Bambino 309-316) und auf dem die Kinder Magda und Tomek die polnische Rockband Budka Suflera hören. Während die Musik in Der Turm im Hinblick auf die erwähnten Interpreten und Dirigenten die Vorkriegszeit heraufbeschwört, verankert die Rockmusik in Bambino die Handlung dezidiert in der Volksrepublik und konnotiert damit das Leben im Sozialismus nostalgisch. In Joanna Bators Sandberg treten Bezüge auf zeitgenössische Liedermacher der PRL mit dem gleichen Effekt wiederholt auf, etwa auf Edward Stachuras Lied »Nie rozdziobią nas kruki« [»Uns zerstückeln nicht die Raben«], dessen erste Refrainzeile »Ruszaj się, Bruno« (»Beweg dich, Bruno«) als stehende Wendung im Text aufrtitt.46 Bei Eugen Ruge gibt es gleichfalls 45 KARIN BIJSTERVELD/JOSÉ VAN DIJCK (Hrsg.) 2009: Sound Souvenirs. Audio Technologies, Memory and Cultural Practices. Amsterdam (ebook). S. 13. 46 Vgl. etwa Sandberg 12/Piaskowa Góra 10. Der Text wurde später von einer Reihe weiterer Künstler musikalisch umgesetzt. Seinerseits verweist Stachuras Text auf eine Novelle von Stefan Żeromski mit dem Titel Rozdziobią nas kruki, wrony aus dem Jahr 1895, vgl. GRAHAM CRAWFORD/J. PODLASZEVSKI 2008: »An Introduction to the Songs of Edward Stachura.« In: Ulbandus Review 11, S. 222-231. Hier S. 231. URL: http://www.jstor.org/stable/25748189. Letzter Zugriff am 21.08.2016.

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prägnante Einsätze von Musik, vorrangig durch den Schlager »México lindo i querido« [»Schönes und liebes Mexiko«] in der Fassung von Jorge Negrete (1950) sowie das bekannten Propagandastück »Lied der Partei«.47 Für die Untersuchung nostalgischer Motivik in der Literatur bieten sich somit zahlreiche Ansatzpunkte. Die Beispiele zeigen, dass sich Raum, Ding und Sinneswahrnehmung nicht nur getrennt voneinander als Träger von und Impulse für nostalgische Erinnerungen betrachten lassen, sondern dass die einzelnen Motivkategorien häufig aufeinander verweisen und ineinander verschränkt sind: etwa im Hinblick auf die Küche, das Essen und den Geschmack oder das Musikzimmer, den Tonträger und die Musik. Die nostalgische Qualität einer Erinnerung manifestiert sich in solchen Fällen mit besonderer Intensität im Text, die durch verschiedene sprachliche Merkmale noch unterstützt werden kann. All diese Aspekte der poetischen Dimension von Nostalgie ermöglichen eine systematische literaturwissenschaftliche Analyse des Phänomens, seiner Erscheinungsformen und Funktionsweisen. Indem man sich auf diese Weise der Nostalgie in ihren genuin literarischen Eigenschaften annähert, eröffnen sich auch Möglichkeiten, Erkenntnisse über ihren Beitrag zu kollektiver Erinnerung zu generieren.

47 »Mexico lindo y querido«, das bereits 1921 verfasst, jedoch erst später durch die Aufnahme von Jorge Negrete große Bekanntheit erlangte, hat selbst einen zutiefst nostalgischen Text, der von der Sehnsucht nach Mexiko erzählt. Für den Text vom »Lied der Partei« vgl. In Zeiten 208.

Nostalgie – »Süße Krankheit Gestern«?

Nostalgie und Trauma: Uwe Tellkamps Der Turm Zigarettenqualm, aquarische Rauchkringel, Augen deckenwärts im Funzellicht einer Wohnung irgendwo im Prenzlauer Berg. Fensterläden, von denen die Farbe geplatzt ist, mit Zeitungen verstopfte Ritzen, steinharter, bröselnder Fensterkitt; der Kachelofen tut, was er kann, aber Sperrholz, Zaunlatten, schimmlige Kohle reichen nur für ein paar Stunden Wärme am Tag. UWE TELLKAMP, DER TURM

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In Uwe Tellkamps Monumentalroman Der Turm kommen zahlreiche Gebäude vor, die dem Verfall anheimgestellt sind. Die Momentaufnahme im Zitat beschreibt Altbauten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg im Jahr 1984. Protagonistin des Romans ist jedoch die Dresdner Stadtlandschaft mit der Ruine der Frauenkirche, der zu Romanbeginn noch im Wiederaufbau befindlichen Semperoper und den bürgerlichen Villen, die den Romanfiguren ihr Zuhause schenken. All diese Bauten, die sämtlich vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, sind durch den Zahn der Zeit gezeichnet und von der Baufälligkeit bedroht. Sie erinnern an ein anderes Dresden, dessen Zeit unwiderruflich vorbei ist. Es ist dieser Bezug auf eine vorsozialistische Vergangenheit, der dem Roman seine starke nostalgische Note verleiht. Die Sehnsucht nach der kulturellen, architektonischen und ästhetischen Blütezeit der Stadt Dresden wird dabei auch zum hervorstechenden Charakterzug einiger Romanfiguren. Das so genannte ›Alte Dresden‹ fungiert als Kontrastwelt zur sozialistischen Textgegenwart. Die1

Hier S. 499. Der Roman wird im Text fortlaufend unter Angabe des Kurztitels Turm und der Seitenzahl zitiert.

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ser Gegensatz wird räumlich modelliert: Den ausgemergelten Jugendstilvillen und ruinösen Prachtbauten der Dresdner Innenstadt werden die Neubauten der Achtzigerjahre entgegengestellt, die funktional, aber nicht hübsch anzusehen sind. Nostalgie ist im Roman an den Verlust der Schönheit gekoppelt, und der nostalgisch geprägte Blick oszilliert im Text zwischen einer Ästhetisierung des Verfalls und einer Verurteilung desselben. Die räumliche, d.h. in diesem Fall insbesondere die architektonische Symbolik durchzieht den Roman beinahe aufdringlich. Mit Ostrom, wo die Parteifunktionäre in aufgeräumten neuen Einfamilienhäusern leben, und dem JugendstilWohnviertel der bürgerlichen Protagonisten, dem Turmviertel, stehen Neues und Altes, funktionaler Pragmatismus und ausufernde Schönheit, glatte und heile Oberflächen und kaputte und angegriffene Substanz im Kontrast zueinander. Die Räume der Macht sind vergangenheitslos, sie entstammen einer neuen Zeit und sind Repräsentanten der sozialistischen Gesellschaft. Die privaten Rückzugsräume der Protagonisten bedeckt eine wortwörtliche wie auch metaphorische Staubschicht. Sie sind der Vergangenheit verschrieben und zeigen sich als Symbole eines bildungsbürgerlichen Konservativismus. Während die Sphäre des Bürgerlichen im Roman von nostalgischen Gefühlen durchsetzt ist und als Sehnsuchtsort, Hort des Wissens und der Kultur inszeniert wird, ist die politische Gegenwart des real existierenden Sozialismus traumatisch aufgeladen und wird über Metaphern der Krankheit und des industriellen Abfalls im Text verankert. In Der Turm werden damit sowohl eine traumatische als auch eine nostalgische Perspektive auf die Vergangenheit narrativ abgebildet. Diese Gegenüberstellung kulminiert in der Inszenierung des öffentlichen Raums als einer Giftfabrik und des privaten Raums als einer Wissensfabrik. Im Tagebuch Meno Rohdes, eines der Protagonisten des Romans, kommen diese Konnotationen bereits auf den ersten Seiten zu einer extremen Verdichtung, zunächst im Hinblick auf den staatssozialistischen, negativ konnotierten Bereich: »[…] im Tiefseedunkel kroch das Spülicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB, in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlekraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der Eisenhütten und der Industriezonen, die verstrahlte Beize der Uranbergwerke, Giftsuppen der Chemieanlagen Leuna Buna Halle und der Kaliwerke, von Magnitogorsk und von den Plattenbaugebieten, die Toxine der Düngemittelanlagen, der Schwefelsäurefabriken; […]« (Turm 7, kursiv i.O.)

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Die Beschreibung, die die Romanhandlung allein schon geographisch unbestreitbar in der DDR verortet, entwirft eine Anti-Wissens-Gesellschaft. Die genannten Arbeitsstellen – Kombinate, Fabriken, Werke, Hütten – rufen die Vorstellung von ungesunden Arbeitsbedingungen hervor; ihre Erzeugnisse und Abfallprodukte werden als Gifte explizit benannt. Für einen Bildungs- oder Dienstleistungssektor ist in dieser Welt kein Platz. Parallel hierzu wird wenige Seiten später eine ähnliche semantische Verdichtung des Bürgertums vorgenommen: »Die Große Uhr schlug, und das Meer stieg vor den Fenstern, den Zimmern mit den Farntapeten und den Eisblumen an den Leuchtern, den Stuckdecken und schönen Möbeln, ererbt aus verschollener Bürgerlichkeit, worauf die Baskenmützen der Denkmalpfleger anspielten, die gemessenen Gesten törtchenessender Damen in den italienischen Cafés, die blumigen und chevaleresken Grußzeremonien der Dresdner Kunstausübung, die versteckten Zitate, die mandarinhaften, pädagogischen, anspielungsreichen Rituale des Freundeskreises Musik, die gravitätischen Küren schlittschuhlaufender älterer Herren in den Eisparks; übriggeblieben im sanfthügeligen Elbtal in Häusern unterm Sowjetstern, übriggeblieben wie die Hermann-Hesse-Ausgaben der Vorkriegszeit, die zigarrenbraunen Thomas-Mann-Bände des Aufbau-Verlags aus den fünfziger Jahren […]« (Turm 10, kursiv i.O.)

Hier werden die Häuser der Romanfamilie, die alten Jugendstilvillen in Dresden beschrieben. Architektur, Inneneinrichtung und selbst Mode (»Baskenmützen«) symbolisieren dabei das Werteuniversum der Protagonisten, das als »verschollene Bürgerlichkeit« den Gegenstand nostalgischer Sehnsucht bildet und eine gegenwärtige Leerstelle aufzeigt. Die einzelnen Elemente beziehen gleichzeitig als Konfiguration nostalgischer Emotion Räume, Dinge und Sinneswahrnehmungen ein. Die damit verbundene Ästhetik verweist auf die Künste im weitesten Sinne: Architektur, Musik, Tanz und Literatur. So wird die Giftfabrik des DDRProletariats gleichsam der Wissensfabrik des Bürgertums plakativ gegenübergestellt. In das entworfene Bild vergangener Pracht bricht jedoch ein Symbol für die sozialistische Herrschaft ein, und zwar der Sowjetstern, der alles überstrahlt. Die Repräsentanten des Bürgertums werden durch den Kontrast mit der sozialistischen Gegenwart zu Erinnerungsträgern, zu Relikten aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Die Geschichte der Familie Hoffmann/Rohde während der letzten sieben Jahre der DDR, die Uwe Tellkamp erzählt, verzahnt das Genre des Generationenromans mit einer Reflexion über den Sozialismus der DDR. Dieser Tatsache verdankt es der Text, dass er vom Feuilleton zum Gesellschaftspanorama mit be-

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sonderem Authentizitätsanspruch erhoben worden ist – am nachdrücklichsten von Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung, der das Buch jedem empfiehlt, der »wissen will, wie es denn wirklich gewesen ist in der späten DDR«.2 Bei all den Schwierigkeiten, den einen, den großen ›Wenderoman‹ zu küren,3 ist Tellkamp den Erwartungen des Feuilletons wohl bisher am nächsten gekommen. Im Roman versucht die Familie, deren unterschiedliche Zweige in dem der Dresdner Villengegend Weißer Hirsch nachempfundenen Turmviertel zuhause sind,4 ihr bildungsbürgerliches Wertesystem gegen das sozialistische System zu verteidigen, das seinerseits auf den Untergang zusteuert. Schon diese Grundkonstellation des Romans ist eine nostalgische, denn die bürgerliche Familie wirkt erstens im Kontrast mit der sozialistischen Gegenwart anachronistisch, zweitens beruht ihre Wertewelt darauf, das ›Althergebrachte‹ bis in die Gegenwart zu kontinuieren, was sich besonders durch den Bildungstransfer zwischen den Generationen im Text offenbart. Auf knapp eintausend Seiten entfaltet der Roman darüber hinaus durch sein monumentales Figurenarsenal, dessen Vertreter die unterschiedlichsten Perspektiven auf das Leben in der DDR aufzuzeigen vermögen, ein umfassendes Bild der Gesellschaft. Die heterodiegetische Erzählinstanz macht sich vor allem die Innensicht dreier Protagonisten zunutze, die jeweils einen Haupthandlungsstrang des Romans bestimmen. Dabei handelt es sich um Christian Hoffmann, seinen Vater Richard Hoffmann und seinen Onkel Meno Rohde. Christian ist zu Romanbeginn Internatsschüler kurz vor dem Schulabschluss. Er absolviert anschließend seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, weil er wünscht, später Medizin zu studieren. Bei einer Übung verunglückt einer seiner Kameraden tödlich. Daraufhin kommt es zum Eklat zwischen ihm und seinen Vorgesetzten und er wird wegen ›Öffentlicher Herabwürdigung‹5 zu einer Haftstrafe verurteilt. Seine Zeit als Strafgefangener ist ebenfalls Teil der Romanhandlung. Richard ist Unfallchirurg. Neben der Tätigkeit im Krankenhaus kreist seine Geschichte um sein Verhältnis mit der Verwaltungsangestellten Jos2

JENS BISKY 2008: »Aufruhr der Uhren.« In: Süddeutsche Zeitung 214 vom 13./14. 09.2008, S. 13.

3

Vgl. IGEL, 2005, S. 26.

4

Vgl. BÖTTIGER 2008, S 57.

5

Vgl. Turm 799. Zum zugehörigen Paragraphen im StGB der DDR vgl. Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968 in der Fassung des Gesetzes vom 19. Dezember 1974. §220. Zugriff unter URL http://www.verfas sungen.de/de/ddr/strafgesetzbuch74.htm. Letzter Zugriff am 04.06.2015. Man beachte die Änderung vom 28. Juni 1979. In dieser Fassung wird das Gesetz auch im Roman zitiert.

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ta, mit der er ein uneheliches Kind hat. Dadurch macht er sich für die Staatssicherheit erpressbar. Meno schließlich ist Lektor und unter anderem mit der Zensur belletristischer Texte betraut. Er und seine Schwester Anne, Richards Frau und Christians Mutter, sind Kinder überzeugter Sozialisten, jedoch hat Anne sich von dieser Familientradition weitgehend frei gemacht, während Meno sich zwischen bildungsbürgerlicher Familienkultur und sozialistischer Staatsideologie aufgerieben sieht. Seine Reflexionen über die DDR, die im Roman in Ausschnitten aus seinen Tagebüchern dargelegt werden, beziehen verschiedene Perspektiven mit ein und erreichen mithin einen hohen Grad an Differenziertheit. Der Turm ist patriarchalisch angelegt. Die Familie wird als Träger eines bildungsbürgerlichen Wertekanons konstruiert, nur um das damit einhergehende Weltbild als marode zu entlarven. Selbst dies geschieht allerdings in konservativen Mustern, hat doch etwa das Familienoberhaupt, der Arzt, eine Affäre mit einer Sekretärin. Zwar zeigt das Doppelleben Richards auf, dass das bildungsbürgerliche Familienmodell nicht nur am Sozialismus, sondern auch schlicht an einer modernen Realität zerschellt. Dabei bestätigt die Affäre aber gleichsam ein stereotypes Bild der Familie der gehobenen Mittelschicht – und zwar losgelöst vom gesellschaftspolitischen Kontext der DDR. Das Muster, das Tellkamp seine Romanfamilie durchlaufen lässt, ist wie die Gesamtstruktur des Romans zeitlos bis an die Grenze des Klischees. Der Turm will ein Klassiker sein und hält sich als solcher an ein bestimmtes stoffliches Repertoire. Sein Konservativismus ist ihm auch durchaus in der Kritik zu Lasten gelegt worden. 6 Alle drei Hauptfiguren zeichnen sich darüber hinaus aber durch innere Konflikte aus, die aus der Diskrepanz zwischen der Prägung durch ein bürgerliches Umfeld einerseits und der Ideologie des Sozialismus andererseits resultieren. Die deutliche räumliche Symbolik bildet einen geeigneten Ausgangspunkt für anschließende Überlegungen. Zwei bemerkenswerte Arbeiten haben sich der Frage des Raums in Uwe Tellkamps Der Turm bereits angenommen: Anne Fuchs’ Text »Topographien des System-Verfalls«7, der sich der Raumsemantik nach Jurij M. Lotman bedient, und David Clarkes Aufsatz »Space, Time and Power«8, der den

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Vgl. etwa GABLER 2012, Abschnitt IV: »Polarisierte Hegemonie«. Gabler verurteilt

7

ANNE FUCHS 2009: »Topographien des Systemverfalls. Nostalgische und dystopische

den Roman als affirmativ, undynamisch und moralisierend. Raumentwürfe in Uwe Tellkamps Der Turm.« In: Germanistische Mitteilungen 70, S. 43-58. URL: http://www.bgdv.be/Dokumente/GM-Texte/gm70_fuchs.pdf. Letzter Zugriff am 09.01.2014. 8

DAVID CLARKE 2010: »Space, Time and Power. The Chronotopes of Uwe Tellkamp’s Der Turm.« In: German Life and Letters 4, Vol. 63. S. 490-503. URL: http://online

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Roman einer Analyse mit Hilfe von Michail M. Bachtins Chronotopos unterzieht. Beide Autoren nehmen auf die starke räumliche Getrenntheit zwischen sozialistischer und bürgerlicher Sphäre Bezug.9 Von größerem Interesse sind jedoch an dieser Stelle ihre Bemerkungen über Nostalgie. Fuchs liest die Nostalgie im Text als eine antimarxistische »Rebellion gegen die Verwerfungen der modernen Geschichtlichkeit«10. Sie hält sich in ihren Ausführungen eng an die Terminologie von restaurativer und reflektiver Nostalgie nach Svetlana Boym, deren Thesen zur politischen Instrumentalisierung der Nostalgie sie auch in Tellkamps Roman bestätigt findet.11 Das sich abzeichnende Ende der DDR im Roman begreift sie schließlich als Überwindung einer »verkrustete[n] Geschichtsnostalgie«12. Damit wird Nostalgie zu einem Ausdrucksmittel des Widerstands gegen den Sozialismus, das jedoch mit dem Mauerfall ausgedient hat. Clarke dagegen konzentriert sich auf die dem Text inhärente Nostalgiekritik, die im Roman vor allem von Meno explizit geäußert wird. Das Turmviertel betrachtet Clarke dabei als einen Chronotopos, der durch Stillstand gekennzeichnet ist und in dem sich eine alternative, illusionäre Wirklichkeit manifestiert, die von den Ereignissen der Gegenwart unberührt bleibt.13 Nostalgie ist in dieser Lesart ein Mittel zur Weltflucht, die jedoch nicht gelingen kann, weil die politischen Gegebenheiten letztlich nicht ausgeblendet werden können, was Clarke am Beispiel von Christian Hoffmann bestätigt sieht. Die Aufsätze bieten gegensätzliche Deutungen dazu an, welche Funktionen Nostalgie für die Figuren erfüllt – bei Fuchs ist sie ein Mittel zur aktiven Rebellion gegen das sozialistische System, bei Clarke ein Mechanismus der passiven Flucht davor. In beiden Fällen ist die sozialistische Textgegenwart implizit als eine traumatische Erfahrungswelt gefasst. Die Nostalgiker bei Uwe Tellkamp schaffen damit nicht nur ein Narrativ der Vergangenheit, sie kommentieren vielmehr auch ihre gegenwärtige Lebenswirklichkeit. Zu überlegen ist deshalb, ob die nostalgische Reflexion darüber hinausgeht, lediglich einen eskapistischen Gegenentwurf zum Sozialismus anzubieten. In Der Turm ist der Verweis auf die präsozialistische Vergangenheit im Bild des ›Alten Dresden‹ präsent. Die Räumlichkeiten des Turmviertels gehören dalibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1468-0483.2010.01512.x/pdf. Letzter Zugriff am 09.01.2014. 9

Vgl. FUCHS 2009, S. 44 und CLARKE 2010, S. 493.

10 FUCHS 2009, S. 45. 11 Vgl. zu diesem Aspekt von Boyms Werk ausführlich S. 141f. 12 FUCHS 2009, S. 58. 13 CLARKE 2010, S. 500f.

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gegen der Textgegenwart an, auch wenn sie in ihrer (innen-)architektonischen Ausgestaltung auf das ›Alte Dresden‹ Bezug nehmen. Auf den ersten Blick scheinen beiden Chronotopoi ähnliche Bezugsgrößen und Funktionsweisen inhärent. Ein genauerer Blick zeigt jedoch das ästhetische Stadtbild des ›Alten Dresden‹ als leere Kulisse, während das Turmviertel nicht ausschließlich eine räumliche Rekonstruktion der Vergangenheit darstellt, sondern von der DDR und dem sozialistischen System nicht zu trennen ist. Als im Verfall begriffene architektonische Zeugen der Vergangenheit stehen die Jugendstilvillen dabei auch für eine spielerische Variation erinnerter Zeit. Als dritter Pol dieser topischen Konstellation des Romans sind die Räume der Staatsmacht zu begreifen, und zwar sowohl die öffentlichen als auch die privaten. Sie stellen der nostalgischen Sphäre des Bürgertums die traumatische Dimension der Erinnerung an den real existierenden Sozialismus entgegen.14 Indem die Protagonisten in Tellkamps Der Turm der nostalgischen Erinnerung an das vorsozialistische Dresden frönen, setzen sie sich gleichsam gegen die traumatischen, giftigen Erfahrungen der sozialistischen Gegenwart zur Wehr. Dabei illustriert die nostalgische Perspektive einen lebhaften Kampf gegen die Geschichtsvergessenheit, der sowohl in Bezug auf das bürgerliche Dresden der Vorkriegszeit als auch auch auf die DDR selbst gedacht werden muss – denn der Roman kritisiert nicht nur das Verhältnis der DDR zu Dresdens bürgerlicher Vorkriegsgeschichte, sondern implizit auch das Verhältnis der wiedervereinigten Bundesrepublik zur Geschichte der DDR. Nostalgie und Trauma erweisen sich im Roman als komplementäre Sichtweisen auf die DDR-Vergangenheit und tragen gerade in ihrem Wechselspiel zur umfassenden Darstellung einer historischen Epoche bei.

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Aleida Assmann schreibt in Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur hinsichtlich der bundesdeutschen Erinnerung an die deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts:

14 Der räumlichen Konstellation des Romans widmet sich auch MONIKA BARWIŃSKA 2016: »Deutsch-polnische postsozialistische Erinnerungen. Aufstieg und Niedergang in postsozialistischen Raumentwürfen in den Romanen Sandberg und Der Turm.« In: CAROLIN FÜHRER (Hrsg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Göttingen. S. 139-158.

110 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »Ein wichtiger Grund für die anhaltende Bedeutung historischer Epochen im deutschen Kommunikations- und Erinnerungshaushalt ist ihr Gewaltcharakter, mit dem Unrechtsstaaten ihre eigene Bevölkerung sowie andere Staaten und Minderheiten terrorisiert haben. Die Erinnerung ist in diesem Falle ein Zeichen dafür, dass diese Geschichte noch Ansprüche an die Gegenwart stellt und einer nachträglichen Bewertung und Bearbeitung harrt. Denn nach Überwindung eines Unrechtsstaats kann eine wahrhafte Demokratie nur dann entstehen und gefestigt werden, wenn die Täter identifiziert sind, das Leid der Opfer anerkannt wird und die entsprechenden Lehren und Konsequenzen aus dieser Erfahrung gezogen werden.«15

Dass Assmann den Begriff der Gewalt zentral für die Erinnerungskultur in Deutschland setzt, ist bezeichnend und dadurch zu erklären, dass sie sich insbesondere mit kollektiven Traumata auseinandersetzt. So reflektiert sie auch in ihren Ausführungen zur Erinnerung an die DDR, die sie als »Vergangenheitsbewältigung« klassifiziert,16 vor allem die Rolle von Opfern und Tätern und die notwendigen Maßnahmen zu Entschädigung bzw. Rechenschaft – auch diese Begriffe passen zu Assmanns Perspektive auf Erinnerung als Überwindung historischer Traumata. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die Terminologie in Bezug auf den real existierenden Sozialismus nicht so einfach anwendbar ist wie auf das Dritte Reich. »Nach 1989 haben sich die ehemaligen DDR-Bürger sowohl als Nutznießer (Nostalgie) wie als Opfer des SED-Regimes gefühlt«17, stellt Assmann fest. Hier ist Nostalgie, die kaum mehr als eine stichwortartige Parenthese wert zu sein scheint, klar als Gegenbegriff zu dem Trauma konzipiert, mit dem die Opfer des Systems zu kämpfen haben mögen. Im Weiteren wird auf sie jedoch nicht differenziert eingegangen. Das Schweigen ist bezeichnend, tabuisiert es doch einen durchaus von Assmann als vorhanden anerkannten Teil des Erinnerungsdiskurses. Die Überlegungen zur dichotomischen Gegenüberstellung von Bürgertum und Staatsmacht in Uwe Tellkamps Der Turm passen zu der Vorstellung von Nostalgie und Trauma als einem kontrastiven Begriffspaar. Mit Blick auf andere Forschungsarbeiten zeigt sich jedoch, dass beide Phänomene keinesfalls miteinander unvereinbar sind. Vielmehr ist ein nostalgisches Gefühl gegenüber dem prätraumatischen Zustand eine häufige Nebenwirkung der traumatischen Erfahrung. So konstatiert es Piotr Sztompka, der kollektive Traumata im Postsozia15 ASSMANN 2013, S. 109f. 16 Im Gegensatz zur Erinnerung an den Nationalsozialismus, den sie mit der Strategie der »Vergangenheitsbewahrung« korreliert, vgl. ebd., S. 115. Beide Stellen kursiv i.O. 17 Ebd.

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lismus untersucht. Er behandelt Nostalgie in seinem Aufsatz »The Trauma of Social Change« vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen in Europa, vor allem aber in Polen, nach 1989. Bei ihm wird sie als eines der Symptome beschrieben, die ein Trauma des sozialen Wandels markieren. Sztompka schreibt unter der Überschrift Nostalgic Image of the Past: »Another indicator of trauma is the comparison of the present socioeconomic situation with the past. […] Appraising the situation of others three years after the break, around half of the respondents believed that people were generally more satisfied under socialism.«18

Sztompka begreift den politischen Wandel von 1989 als traumatische Erfahrung für das Kollektiv, in Folge derer traumatisierte Individuen einen Vergleich der Gegenwart mit der prätraumatischen Situation, also dem Leben in der sozialistischen Gesellschaft, vornehmen. Dabei wird die Zeit, die vor dem traumatischen Einschnitt liegt, als deutlich positiver bewertet und dementsprechend Erinnerungsnarrative nostalgisch gestaltet.19 Sztompka begreift damit im Gegensatz zu Aleida Assmann das Trauma weniger als Folge einer Gewalterfahrung als vielmehr einer Verlusterfahrung. Für Tellkamps Der Turm hieße dies, dass das Leben in der DDR als posttraumatische Situation konzipiert ist und die Zeit davor, insbesondere die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vor den traumatischen Einschnitten durch die beiden Weltkriege, einem nostalgischen Blick unterliegt. Trauma und Nostalgie können aber nicht nur in dieser Abhängigkeit voneinander in Erscheinung treten, sondern weisen auch strukturelle Parallelen auf. Beide lassen sich disziplinär in der Psychologie verorten und teilen die Konnotation des Schmerzes – das griechische trauma lässt sich ins Deutsche als ›Verletzung‹ übersetzen. Astrid Erll bespricht das Trauma in ihrem einführenden Werk zur Erinnerungstheorie unter dem Stichwort der »Psychologischen Gedächtnisforschung«: »Von einem Trauma ist die Rede, wenn Erfahrungen angesichts ihrer extremen emotionalen Intensität nicht hinreichend verarbeitet, und d.h. narrativiert, werden können. Zu den Mechanismen traumatischer Erinnerung gehören Verdrängung, Dissoziation von der Er-

18 PIOTR SZTOMPKA 2004: »The Trauma of Social Change. A Case of Postcommuist Societies.« In: JEFFREY C. ALEXANDER et.al. 2004: Cultural Trauma and Collective Identity. Berkeley. S. 155-195. Hier S. 180f. 19 Nostalgie wurde bereits als ein Phänomen charakterisiert, das durch eine negative Bewertung der Gegenwart zustande kommt, vgl. zur Bewertungstheorie S. 26f.

112 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS fahrung bereits während der Enkodierung sowie die unfreiwillige und zwanghafte Reproduktion von sinnlichen Erinnerungsfragmenten […].«20

Auch im Trauma zeigt sich also ein Zusammenhang emotionaler Phänomene mit Erinnerung, nur dass Erll den Anteil der Emotion im Ereignis selbst verortet und nicht so sehr im bewertenden Blick auf dieses Ereignis. Astrid Erll benennt des Weiteren »Mechanismen traumatischer Erinnerung«, die in einem interessanten Verhältnis zur Narrativierung von Nostalgie stehen. Dabei erinnert der Aspekt der »sinnlichen Erinnerungsfragmente« an Prousts unwillkürliche Erinnerung, die im Rekurs auf das Trauma ihre negative Kehrseite erkennen lässt. Die weiteren genannten Erscheinungsformen des Traumas jedoch scheinen die Verwandtschaft zur Nostalgie in Frage zu stellen. Wo das Trauma sprachlos macht, dissoziiert, tabuisiert, da gibt Nostalgie überbordende Information. Zwar produziert auch das nostalgische Erinnerungsnarrativ Leerstellen durch ungenaue Beschreibung, aber dieselben dienen dazu, die Projektionsfläche und das Identifikationspotenzial zu vergrößern. Nostalgie schweigt nicht wie das Trauma, sondern schwelgt in ihrem Gegenstand und verliert sich mitunter in akribischen Detailbeschreibungen. So hüllt das Trauma die Vergangenheit ins Dunkel; die Nostalgie sucht dagegen, aufzudecken. Darin bestätigt sich die Funktion von Nostalgie als Mittel gegen die Geschichtsvergessenheit. Unterdessen liegt diesen entgegengesetzten Möglichkeiten, Vergangenheit zu narrativieren, ein gemeinsamer Mechanismus zugrunde: die Verdrängung. Während im Trauma das Schweigen über die negativen Erfahrungen in eine absolute Stille mündet, spricht die Nostalgie stattdessen über andere, über positive Dinge. Diese Erkenntnisse zeigen, dass der traumatische oder der nostalgische Charakter einer Erinnerung nicht durch ihren Gegenstand vorgegeben ist. Eine Erinnerung provoziert nicht zwangsläufig ein Trauma oder ein Gefühl von Nostalgie, vielmehr ist es dasselbe historische Ereignis, das in ein traumatisches Schweigen oder in eine nostalgische Litanei münden kann. Gleichsam ist zu beachten, dass nicht nur im Sprechen über ein traumatisches Ereignis, sondern auch im nostalgischen Schwelgen durchaus ein Tabubruch liegen kann, wenn Letzteres den Blick auf Aspekte der Vergangenheit richtet, die zuvor aus dem Erinnerungsdiskurs ausgeschlossen waren. Umso mehr drängen sich Fragen an Uwe Tellkamps Roman auf. Worüber wird in welcher Form und von wem (nicht) gesprochen? In den Antworten auf diese Fragen sind Nostalgie und Trauma komplementär eher als dichotomisch zu denken. Gemeinsam fügen sich die verschiedenen Narrative im Sprechen über die DDR zu einem Bild. Möglicherweise liegt eben darin der Schlüssel für die besondere Authentizität des Romans, die das Feuilleton preist. 20 ASTRID ERLL 22011, S. 98, Herv. i.O.

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Das ›Alte Dresden‹ als Sehnsuchtsort und die Variation dieses Topos’ im Dresdner Turmviertel sind Kernstücke des Romans. Die nostalgiegetränkten Räume des Bürgertums mit den durch das sozialistische Regime konnotierten Räumen im Dresden der Romangegenwart zu kontrastieren, legt das ihnen eingeschriebene Narrativ des Traumas offen. Dabei erfolgen die Beschreibungen der Räumlichkeiten aus der Perspektive bestimmter Romanfiguren sowie auch durch die heterodiegetische Erzählinstanz. Die Analyse wird aufzeigen, wie im Roman nostalgische und traumatische Narrative einander bedingen und durchdringen. Das ›Alte Dresden‹ Meno Rohde prägt den Begriff des ›Alten Dresden‹ in seinen nostalgiekritischen Tagebucheinträgen, in denen er die rückwärtsgewandte Lebensführung seiner Verwandten missbilligend reflektiert, und gibt dabei auch den entscheidenden intertextuellen Hinweis: »Ja, das ist er, einer von hier oben, ein Türmer: die von der Vergangenheit wie von einem gelobten Land sprachen, sich mit ihren Insignien, heraldischen Erkennungszeichen, ihren Karten und Fotografien umgaben; was war sie ihnen? Ein Sternbild von Namen, eine Milchstraße von Erinnerungen, ein Planetensystem Heiliger Schriften, und die heiligste davon, die Sonne, hieß DAS ALTE DRESDEN, geschrieben von Fritz Löffler […].« (Turm 363, kursiv i.O.)

Meno verweist auf Fritz Löfflers kunsthistorisches Standardwerk Das Alte Dresden, erschienen erstmals 1955 in Leipzig.21 Diese bebilderte Chronik umfasst die baugeschichtliche Entwicklung Dresdens vom Mittelalter zunächst bis ins 19., in späteren Auflagen bis ins frühe 20. Jahrhundert. Dabei wird das umfassende Bildmaterial von kommentierenden Bildunterschriften sowie ausführlichen Langtexten, die sich nach historischen Epochen in der Stadtgeschichte aufgliedern, begleitet. Fritz Löffler selbst schreibt im Vorwort zur Erstauflage: »Im Bildteil erscheinen keine Trümmer. Der Verfasser hat sie nicht deshalb beiseitegelassen, weil er weiß, wie schmerzlich und niederdrückend der Anblick dem Betrachter ist, sondern weil er seine historische Betrachtung vor dem Februar 1945 abschließt.«22

21 FRITZ LÖFFLER 111992: Das Alte Dresden. Geschichte seiner Bauten. Leipzig. 22 Ebd., S. 7.

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Das ›Alte Dresden‹ kommt damit als eine unzerstörte, heile Stadt zur Darstellung. Durch das Pathos, das die Vorworte zu den unterschiedlichen Auflagen und das – bemerkenswerterweise mit dem Titel »Memento« versehene – Einleitungskapitel durchzieht, wird die Zerstörung Dresdens jedoch stets mitgedacht. Löffler schreibt im Vorwort weiter: »Der Band wendet sich zuerst an alle, die mit der Stadt noch vor ihrer Zerstörung durch eigenes Erleben verbunden waren. Er wendet sich aber auch an die, die ihre frühere Größe und Herrlichkeit nur nach Bildern oder von Erzählungen her kennen und niemals das Glück hatten, ›diesen heiteren Morgenstern, der der Welt leuchtete‹, wie es der greise Gerhart Hauptmann im Februar 1945 ausdrückte, zu sehen. Er wendet sich besonders an die junge Generation, damit sie aus Glück und Unglück dieser Stadt ihre Erkenntnis ziehe.«23

Den Protagonisten in Der Turm ist dieses ›Alte Dresden‹ tatsächlich kaum aus der eigenen Lebenserfahrung, allenfalls aber aus der Kindheit bekannt. Das ›Alte Dresden‹ existiert schon bei Löffler ausschließlich als ein Raum der Vergangenheit. Das Anliegen der Chronik ist die Rekonstruktion eines unzugänglichen, verlorenen Raums, der von einem logisch darauf folgenden ›Neuen Dresden‹ abgetrennt und durch seine Unwiederbringlichkeit charakterisiert ist. In dieser Gebundenheit an eine verlorene Zeit ist das ›Alte Dresden‹ sowohl bei Löffler als auch bei Tellkamp als Chronotopos zu denken. Im Chronotopos des ›Alten Dresden‹ erstehen all die Baudenkmäler wieder auf, die 1945 den Bombenangriffen zum Opfer fielen und die auch Uwe Tellkamps Türmer, wie die im Turmviertel wohnhaften Figuren im Roman heißen, als Sehnsuchtsorte deklarieren. Meno verurteilt die rückwärtsgewandte Einstellung seiner Familienmitglieder nicht nur im Tagebuch. Auch die stellenweise durch ihn fokalisierte heterodiegetische Erzählinstanz gibt Einblick in seine Gedanken. Meno reflektiert die positive Bewertung des ›Alten Dresden‹ durch seine Familie und übt Kritik daran: »Und so sind sie hier oben alle, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie seufzen ›Frauenkirche!‹ und ›Taschenbergpalais!‹ und ›Hach, die Semperoper!‹, aber nie ›Außentoiletten! Die herrlich cholerabefördernden Sanitärbedingungen!‹ oder ›Die Synagoge!‹ oder ›Die befreienden Wohnverhältnisse früher, zehn Mann auf eine Mietskasernenwohnung!‹« (Turm 347)

23 Ebd.

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Menos metanostalgische Reflexion moniert den selektiv nostalgischen Erinnerungsvorgang, von dem auch Löfflers Werk nicht frei ist. Zum ›Alten Dresden‹ gehören sowohl im Bildband als auch für die Türmer im Roman demnach nur die Frauenkirche, das Taschenbergpalais und die Semperoper, jedoch kein Wohnraum. Die erwähnten Mietskasernenwohnungen gehören der verdrängten Vergangenheit an, für die im nostalgisch geprägten Narrativ des ›Alten Dresden‹ kein Platz ist. Auch Menos Verweis auf die Synagoge geht d’accord mit der Rekonstruktion in Löfflers Chronik: Obwohl es sich dabei um einen GottfriedSemper-Bau handelte, so wird die Synagoge in dem gut 440 Seiten starken Bildund Textteil spärlich mit einem Bild und drei Sätzen abgehandelt, von denen einer lautet: »Die Synagoge gehört nicht zu den großen Leistungen Sempers.«24 In der Erinnerungsliteratur gibt es bei aller Tendenz zur Metahistoriographie wenige Stellen, an denen Metanostalgie betrieben wird. Von umso größerem Interesse sind Menos Bemerkungen an dieser Stelle. Er thematisiert eben jene Dichotomie aus Schweigen und Sprechen, die auch die besondere Beziehung von Trauma und Nostalgie charakterisiert. Der Vorwurf, dass über bestimmte Dinge nicht gesprochen wird, nimmt hier die nostalgische Selektion von identitätsstiftenden Bauwerken ins Visier. Meno impliziert, dass über die Existenz der Synagoge und damit über die jüdische Vergangenheit Dresdens geschwiegen wird. Gleichwohl ist es kaum möglich, die Synagoge zu erwähnen, ohne über ihre Zerstörung in der Pogromnacht am 9. November 1938 zu sprechen. Da das Schweigen nicht ausdifferenziert, bleibt unklar, ob es eine bürgerliche – und latent antisemitische! – Verklärung offenlegt oder nicht vielmehr Ausdruck eines Tätertraumas ist, das die Gräueltaten der Nationalsozialisten tabuisiert. In letzterem Fall wäre das nostalgische Schwelgen in Erinnerungen an die Architektur des ›Alten Dresden‹ eine alternative Bewältigungsstrategie zur völligen Sprachlosigkeit und ein Ausdruck des Traumas. Mit dem Hinweis auf die Synagoge politisiert Meno die nostalgischen Erinnerungen der Türmer und schreibt ihnen Bedeutung jenseits eines kunsthistorischen Diskurses zu. In Fritz Löfflers Das Alte Dresden dagegen sind die begleitenden Texte zum Bildmaterial erstaunlich frei von ideologischen Interpretationen im Sinne des Sozialismus.25 Dies unterstützt die Konstruktion des ›Alten Dresden‹ als weitgehend ideologiefreien Raum, der sich ausschließlich über Ästhetik definiert. Die politischen Umstände der Entstehung der Gebäude sowie ih24 Ebd., S. 381. 25 Vgl. zur Werk- und Wirkungsgeschichte des Bandes INGRID WENZKAT 2006: »Fritz Löffler: ›Das alte Dresden‹. Zur Wirkungsgeschichte eines Buches.« In: HOLGER STARKE (Hrsg.): Geschichte der Stadt Dresden. Band 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006. S. 629-634.

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re Funktionen treten in den Hintergrund. Analog ist das ›Alte Dresden‹ in Der Turm in erster Linie ein unpolitischer Raum, dessen Funktion einzig darin liegt, die Defizite der Gegenwart aufzuzeigen, die jedoch ihrerseits stets politisch kontaminiert ist. Dadurch wird in den nur scheinbar unschuldigen Erinnerungen an das Vorkriegsdresden das Unpolitische positiv konnotiert, das Politische negativ. So ist hier die sozialistische Textgegenwart, die sich durch eine Politisierung des Alltags auszeichnet, als eine traumatische Erfahrung modelliert. Der nostalgische Chronotopos des ›Alte Dresden‹ speist sich aus dem Vergleich mit der Gegenwart und ist dabei insbesondere auf das fokussiert, woran es im Hier und Jetzt mangelt. Meno gibt im Tagebuch Gesprächsfetzen von Zusammenkünften der Familie wieder: »›Das war alles mal ganz anders hier. Was ist, ist nicht, was war. Kein Vergleich. Nee, nee. Heute: Dresdengrad. Provinz in der UddSR: Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken.‹ Ruinen stehen seit Jahrzehnten. Elektrifizierung plus viele Brachflächen, häßliche Magistralen, zugige Plattenbaugebiete, Fünfzehngeschosser, wie grobe Klötze eingerammt in die berühmte, jetzt lückenhafte Canaletto-Silhouette. Und früher: ›Warn wir Residenz. Residenz! Tscha, früher…‹ Sie seufzen. Fotos werden herausgesucht. Blick von der Brühlschen Terrasse zur Frauenkirche, eine Laterne mit nadeligem Licht in der Münzgasse.« (Turm 368, kursiv i.O.)

Bemerkenswert ist die Bezugnahme auf Dresdens Status als Residenzstadt. Zur Residenz gehören die Kurfürsten und sächsischen Könige, Repräsentanten eines Klassenbewusstseins, das der Sozialismus zu überwinden trachtet. Hier zeigt sich die nostalgische Rekonstruktion des ›Alten Dresden‹ als Mittel im Kampf gegen die Geschichtsvergessenheit, wie es auch Anne Fuchs konstatiert, denn diese unliebsame Vergangenheit hat in der Erinnerungskultur der DDR keinen Platz. Dennoch bleibt das nostalgische Narrativ in erster Linie ein ästhetisches und unpolitisches. Der Verweis auf die Residenz ist leer und mündet nicht in Gesellschaftskritik. Dabei scheint der Wunsch nach Rückkehr zum gesellschaftlichen und politischen System der Residenzzeit den Romanfiguren nicht eigen zu sein – zumindest gibt es darauf keinen Hinweis. So zeigt sich der Chronotopos des ›Alten Dresden‹ als einer des Stillstands. Das Konstrukt der Türmer ist nicht lebendig und nicht dynamisch, sondern verbleibt als Kulisse. Ab der sechsten Auflage von 1981 ist die ursprüngliche Fassung von Löfflers Das Alte Dresden um ein Kapitel zu den Bauten des frühen 20. Jahrhunderts erweitert, so dass das Werk die Geschichte der Kulturdenkmäler Dresdens bis zu den Bombenangriffen der Alliierten im Jahr 1945 umfassend dokumentiert. Es enthält nunmehr auch eine einzige Fotografie des zerstörten Dresden aus dem

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Jahr 1947 im Kapitel zu »Zerstörung und Wiederaufbau«26, das Rekonstruktionen verschiedener Bauten des ›Alten Dresden‹ dokumentiert und mit den Worten schließt: »Nach Fertigstellung dieser Bauten wird die großartige Silhouette Dresdens, wie sie die Welt seit fast 250 Jahren kennt, wiederhergestellt sein.«27 Die Idee einer ›Wiederherstellung‹, also einer (architektonischen) Rekonstruktion des ›Alten Dresden‹ ist als nostalgischer Topos hier vermerkt. Dabei geht es jedoch ebenfalls nur um eine Erneuerung des Äußeren, nicht etwa um eine Weiterentwicklung der Substanz, also der Lebensbedingungen oder des politischen Systems, die beide nicht vorkommen. Wenn in Der Turm also das ›Alte Dresden‹ als nostalgischer Chronotopos konfiguriert wird, so zeichnet sich dieser durch Oberflächlichkeit und Stillstand aus. Verschwiegen werden indessen alle gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Implikationen. Dieses Schweigen infolge einer Verdrängung verweist auf mögliche historisch-kollektive Traumata, deren Tabuisierung im Roman durch Menos Nostalgiekritik nur angerissen wird. Welche Funktion erfüllt demnach das Narrativ des ›Alten Dresden‹? Nostalgische Erinnerungen laden zur Identifikation ein und erlauben Identitätsbildung. Über das Trauma schreibt dagegen Aleida Assmann: »Trauma ist ein Gegenbegriff zu Identität; traumatische Erfahrungen von Leid und Scham finden nur schwer Einlaß ins Gedächtnis, weil diese nicht in ein positives individuelles oder kollektives Selbstbild integriert werden können.«28

Der Turm exemplifiziert genau dieses Phänomen: Die sozialistische Ideologie bedroht die Identität der Türmer, während das ›Alte Dresden‹ Erinnerungen bereitstellt, die das kollektive Selbstbild positiv bereichern. Identitätsstiftende Erinnerungen in Der Turm sind demnach unpolitischer Natur. Dabei ist im Rekurs auf die negative Konnotation des Politischen die Flucht ins Private als eine Rebellion gegen das System zu lesen. Der Text selbst schlägt als Erklärung für die Nostalgie gegenüber dem ›Alten Dresden‹ auch Selbstzweck vor. Meno zitiert namenlose Familienmitglieder im Tagebuch: »›[…] Manschma denk ich, ihr braucht das ä bissl, ihr wärt im Grunde gar ni klücklisch, wennʼs alte Dräsdn off äma wieder da wär!‹ ›Mit dir redʼsch kee eenzsches Wort mehr!‹« (Turm 369f., kursiv i.O.) 26 LÖFFLER 111992, S. 425-427. Abb. 518 findet sich auf S. 426. 27 Ebd., S. 427. 28 ASSMANN 2004, S. 5.

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Die Vermutung, es ginge eben nicht um die Rückkehr des ›Alten Dresden‹, sondern um die Nostalgie selbst und damit um die Möglichkeit zur Beschwerde über die Gegenwart, wird als Affront aufgefasst. Liest man die Nostalgie als antitraumatisches Moment der Identitätsstiftung und die Objekte ihrer Sehnsucht als Gegenstände der positiven Identifikation, so ist ein Wunsch nach Rekonstruktion durchaus logisch. Genau diese Wiederherstellung der Vergangenheit wird in Der Turm am Beispiel der Semperoper durchgespielt. Es ist das Kapitel »Eiserner Vorhang« (Turm 581-594), das von den Eröffnungsfeierlichkeiten der Semperoper am 13. Januar 1985 erzählt und dessen mehrdeutiger Titel den Kampf des sozialistischen, planwirtschaftlichen gegen das kapitalistische System ins Theater verlegt. Dabei spielt der Vorhang nicht nur auf die Selbstdarstellung der DDR auf der Theaterbühne der Semperoper an. Die Szenerie evoziert auch ein allegorisches Bild vom Kalten Krieg, in dem jede Seite die jeweils andere Gesellschaft als eine Theaterinszenierung hinter einem Vorhang wahrnimmt, der sich kaum jemals hebt, um einen tatsächlichen Blick auf die fremde Bühne zu ermöglichen. Der relevante Teil des Kapitels ist durch Richard fokalisiert, der an dem großen gesellschaftlichen Ereignis als Theaterarzt teilnimmt. So entdeckt der Leser das wieder aufgebaute Gebäude in einer begeisterten Perspektive, die sich nochmals aus dem Vergleich mit der Vergangenheit speist: »Was er [Richard, Anm. d.Verf.] kannte, war die Ruine des Opernhauses, die bäumchenbewachsen, mit eingestürztem Giebel, ausgebranntem Zuschauersaal und vermauerten Türen über Jahrzehnte das Bild des Theaterplatzes bestimmt hatte. Mit offenem Mund blieb er auf der Treppe stehen und sah sich um. Dann lief er die Treppe wieder hinunter, um die festliche Perspektive des Aufgangs noch einmal auf sich wirken zu lassen, lief hinauf, tastete über die Marmorsäulen, verschlang Bilder, Ornamente, die im wie Champagner moussierenden Licht hunderter Lampen frisch gewaschen und neugeboren ihre Augen öffneten, mit hungrigen Blicken.« (Turm 584)

Die Darstellung dreht die Nostalgie nach dem ›Alten Dresden‹ um – nun ist das ruinöse, zerstörte Dresden die Vergangenheit, und die architektonische Schönheit ist die Gegenwart. Eine antinostalgische Haltung also? Mitnichten. Graf Arbogast beobachtet Richard in seinem Staunen und kommentiert: »›Da wird man wieder jung, Herr Hoffmann, nicht wahr? wenn man all das hier sieht.‹« (Turm 585) Der Satz unterstreicht, wie Richard in seinem Verhalten zu einem staunenden, neugierigen und überwältigten Kind wird, das seiner Begeisterung nur durch Überschwang Ausdruck zu geben vermag, indem er die Dinge mit den Augen »verschlingt«, sich gleichsam einzuverleiben sucht und alles anfassen

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möchte. Die sinnliche Komponente der Nostalgie zeigt sich hier deutlich. Gleichzeitig wird die Semperoper selbst zum Sinnbild für Richards Leben – so wie der Semper-Bau zu alter Blüte zurückgekehrt ist, so sehnt Richard sich nach den unschuldigen Tagen seiner Kindheit. Der Vergleich mit der Ruine der Semperoper wirkt hier nur unterstützend, denn das zerstörte Gebäude ist für Richard auch Symbol seiner eigenen Geschichte und seines eigenen Traumas: Er trägt Narben von den Bombenangriffen auf Dresden an den Händen. Im Folgenden kommentiert Arbogast das kollektive Gedächtnis der Dresdner und macht damit einen weiteren Beitrag zur Metanostalgie des Romans: »›Jaja, die lieben Dresdner‹, sann Arbogast, ›sie wollen immer nur zurück. Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Monarchien. Groß werden sie dort, wo sie etwas ›wieder‹ haben, wieder bauen können … Ihr Stil ist zusammengestohlen, eklektisch, nicht primär … und doch hat er etwas Eigenes im ganzen, und er ist auch liebenswert. Vielleicht ist das die Kunstausübung der Zukunft: Etwas noch einmal machen, wenngleich der Zeit tributzollend, wodurch das Gewesene doch ein heimlich Neues wird, womöglich auch in seinen Tiefen erkannt und somit gewürdigt werden kann. […]‹« (Turm 585)

Der Wissenschaftler reflektiert die in den architektonischen Stilrichtungen auftretenden Wiederholungen und Bezugnahmen auf Vergangenes als ein ›Zurückwollen‹ – aber im Gegensatz zu Richard zeigt er die Möglichkeit zur Variation auf. Er macht damit deutlich, dass auch eine wieder aufgebaute Semperoper eben nicht das Original ist, sondern ein Neubau, und stellt Richards unkritischkindlicher Rekonstruktion der Vergangenheit eine Anerkennung derselben entgegen, ein Tribut, das auch Veränderungen zulässt und dadurch das Vergangene »in seinen Tiefen [erkennt]« – der ästhetischen Hülle also auch in ihrer Neuauflage Substanz verleiht. Richards Perspektive einer Rückkehr auch zur Kindheit wird dadurch widersprochen – bei ihm bleibt die Rekonstruktion zwangsläufig illusorisch, leer wie ein unbespieltes Bühnenbild. Die Vorstellung vom ›Alten Dresden‹ wird damit als oberflächlich entlarvt. Eine Weiterentwicklung kann es nur geben, indem man »der Zeit tributzollend« etwas wiederholt – nicht, indem man es einfriert. Das ›Alte Dresden‹ besteht als nostalgischer Chronotopos auf Grund seiner Selektivität, die sich ausschließlich auf das Kriterium der Schönheit stützt und alles, was die ästhetische Kulisse mit Leben füllt, außen vor lässt. So entsteht eine maximale Stasis. Gerade durch die Leerstelle des Politischen wird ironischerweise die Nostalgie der Romanfiguren gegenüber der präsozialistischen Vergangenheit zu einem relevanten Statement über ihre gegenwärtige Lebenswirklichkeit. Erstens besteht darin ein Bezug zur Zensur in der DDR. Zweitens

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ist der Fokus auf die absolute Öffentlichkeit der Architektur als Gegenbewegung zum Rückzug ins Private zu lesen. Drittens ist das Schweigen über polithistorische Elemente nicht zuletzt ein Hinweis auf die Koexistenz von Nostalgie und Trauma. Jugendstilvillen und Furnierholzschränke Der Stillstand des ›Alten Dresden‹ kann für die Jugendstilvillen des Turmviertels, in denen die Protagonisten leben, nicht grundsätzlich geltend gemacht werden. Zwar verweisen auch sie in ihrer morbiden Schönheit in erster Linie auf eine bürgerliche Vergangenheit der Jahrhundertwende, sie sind jedoch mit Leben gefüllt, das von der Gegenwart im real existierenden Sozialismus geprägt ist. Im Gegensatz zur makellosen Erscheinung der neu aufgebauten Semperoper zeichnen sie sich durch materiellen Verfall aus, der sie als tatsächliche Boten der Vergangenheit ausweist und nicht als kulissenhafte Wiederauflage. So sind die Villen im Turm ein Element in der Raumgestaltung des Romans, das eine kontinuierliche Beständigkeit und eine Dynamik des Verfalls in sich vereint. Gleichzeitig symbolisieren gerade diese Gebäude durch ihre materiellen Mängel auch den Verfall des Staatssystems.29 Während das Sprechen über das ›Alte Dresden‹ von Leerstellen im Stadtbild wie auch im intellektuellen Diskurs bestimmt ist, wird die Vergangenheit der Jahrhundertwende im Turmviertel materiell manifest – und zwar nicht als Rekonstruktion, sondern als Original. Den verfallenden Bürgerhäusern sind mehrere Zeitschichten eingeschrieben. Sie bringen die Vergangenheit der Vorkriegszeit und die Gegenwart in der sozialistischen DDR zur Synthese. Dadurch sind sie nicht nur leere, ästhetische Kulisse, sondern Schauplätze des Kampfes zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Ästhetischen und dem Politischen.30

29 Äquivalent wird in Eugen Ruges Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts das verfallene Wohnhaus der Urgroßeltern in feuilletonistischen Auseinandersetzungen als Symbol für die DDR gedeutet, vgl. KEGEL 2011. 30 Die Unbeweglichkeit des ›Alten Dresden‹ schleicht sich trotzdem mitunter auch im Turmviertel ein. Es scheint, als wolle man die Zeit ausschalten, um den nostalgischen Rückzugsraum vor der Dynamik der Gegenwart zu schützen, könne sich aber des langsam fortschreitenden Verfalls nicht erwehren, der zwischen dem Bürgertum im Turmviertel und den Funktionären des Regimes keinen Unterschied macht. Ein Beispiel hierfür liefert Niklas Tietze.

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Das Turmviertel zeigt sich schon im zweiten Kapitel aus Christians Perspektive als »Anderreich«31, in dem sich verschiedene Zeitschichten übereinander schieben. Christians Beobachtungen sind zunächst noch klar in der Gegenwart des ausklingenden Jahres 1982 situiert: »Auf der Mondleite streckten Ulmen ihr Totengeäst in den Himmel. Es begann zu schneien. Die Flocken stoben und wehten über den Weg, der kaum genügend Platz für die Ladas, Trabants und Wartburgs ließ, die sich an den äußersten Straßenrand drängten, hier und dort die verwitterten, lückenhaften, von Hagebutten- und Brombeergerank überwucherten Zäune schiefschoben.« (Turm 29)

Die Verortung im zeithistorischen Kontext geschieht nicht zuletzt durch die Aufzählung der Automarken, die man auch prosaischer durch den Begriff »Autos« hätte ersetzen können. Darin liegt ein Beispiel für den nostalgischen Hang sowohl zu asyndetischen Aufzählungen und punktueller Spezifik als auch zur narrativen Darstellung von zeitgebundener Objektkultur. In den »verwitterten, […] überwucherten Zäune[n]« kommt der Verfall zum Ausdruck. Abgesehen von der Bewegung des Schnees handelt es sich insgesamt um eine starre Szene, die in ekphrastischer Manier eine Momentaufnahme entwirft. In der Fortsetzung des Zitats dreht Christian in seiner Vorstellung die Zeit zurück, füllt die Lücken, kittet die Risse und erschafft auf diese Weise eine Vergangenheit selbst: »Die Lichtröcke der noch funktionierenden Laternen begannen zu tanzen, Christian mußte an die Eindrücke so manches Abendspaziergangs denken, wenn ihm Kutschen vor den schweigenden, in Vergangenheit zurückgezogenen Häusern erschienen waren, sich aus der nächtlichen Unschärfe der Mond- und Wolfsleite gelöst hatten, an Winterabenden wie diesem unhörbar im Schnee davongerollt oder angekommen waren: Damen mit Hermelinmuffs stiegen aus, nachdem ein Diener beflissen den Schlag geöffnet hatte, die Pferde schnaubten und tänzelten im Geschirr, witterten Hafer und Zucker, den heimatlichen Stall, und dann öffnete sich das Tor mit den beiden sandsteinernen Kugeln auf den Pfeilern und der bizarren Schraubenblüte auf dem Bogen, Rufe ertönten, eine Kammerzofe lief eilends die Treppe hinab, um das Gepäck entgegenzunehmen… Christian schrak zusammen […].« (Turm 29f.)

Auch im Turmviertel können also im Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit Leerstellen aufgedeckt werden, die sich durch – tatsächliche oder fiktive – Erinnerungen füllen lassen. Diese verweisen jedoch nicht, wie im Chronotopos 31 Der Begriff fällt explizit erst später, bei der Beschreibung des Inneren des Tausendaugenhauses (Turm 36).

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des ›Alten Dresden‹, auf leblose architektonische Elemente, sondern auf soziale Interaktion und gesellschaftliche Ereignisse. Christians Vision ist dabei die einer möglichen, nicht etwa der tatsächlichen Vergangenheit. Es handelt sich nicht um seine eigene Erinnerung, stattdessen erinnert die Szene an Romane des russischen Realismus. Durch den ästhetisierenden Charakter von Christians Vergangenheitsentwurf, der sich in sinnlicher und bildreicher Sprache entfaltet, erfährt die Szene ihre besondere nostalgische Qualität. Die anschließende Darstellung des Innenlebens des Tausendaugenhauses zeigt sich ebenso aus Christians Perspektive. Beim Betreten der Villa, in der Meno wohnt, denkt der Sechzehnjährige: »Ja. Hier sind wir. Hier bist du zu Haus. Und wenn ich hineingehe, die Türschwelle überschreite, werde ich verwandelt werden.« (Turm 30) Das Zitat des »Mutabor« aus Wilhelm Hauffs Kalif Storch ist nicht der einzige Verweis auf dessen orientalische Märchen.32 Es verstärkt die Diskrepanz zwischen innen und außen, privat und öffentlich. Das Bürgerhaus, das Christian hier betritt, eröffnet eine Welt, die mit seinem Leben als Schüler des im Erzgebirge gelegenen Internats Waldbrunn nichts zu tun hat. Nicht nur ist der Raum ein anderer, Christian empfindet sich selbst als einen anderen Menschen in dieser Welt. Diese radikale Abtrennung des Tausendaugenhauses von der Außenwelt inszeniert die Villa als einen dem ›Alten Dresden‹ entsprechenden unerreichbaren Chronotopos. Im Vergleich zu der verschneiten Kälte, durch die Christian und Meno zum Tausendaugenhaus gelaufen sind, wird die Villa in Christians Blick als Schutzraum inszeniert, der sich in historistische Elemente kleidet. »Vielleicht auch arbeitete das Parkett unter dem ausgetretenen Fußläufer. Christian verharrte, aber es war nichts mehr zu hören. Sein Blick wanderte langsam über die vertrauten und ihn doch immer wieder verwundernden Dinge: die gründunkle, etwas verschossene Stofftapete des Flurs mit den Pflanzen- und Salamandermotiven, den ovalen Spiegel, dessen Versilberung an einigen Stellen blind geworden war und eine bleiige Tönung angenommen hatte, den aus rohem Kiefernholz gefügten Kleiderschrank neben der Treppe, in dem er sich als Kind manchmal zwischen Kartons mit Ersatzglühbirnen und Arbeitskleidung vor Robert und Ezzo versteckt hatte, wenn sie ›Räuber und Gendarm‹ gespielt hatten; über den Flurleuchter mit dem grünen Tukan aus Ton daran, der reglos an einem Bindfaden hing und mit seinen traurig wirkenden, aufgemalten Knopfaugen nach Peru sehen mochte.« (Turm 32f.)33 32 Besonders eindrücklich sticht außerdem der Name des Hauskaters Chakamankabudibaba aus Hauffs Märchen Die Errettung Fatmes ins Auge. 33 Anne Fuchs diskutiert intertextuelle Verweise in diesem Zitat und deutet den Raum als Zitatlandschaft, vgl. FUCHS 2009, S. 46f.

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In fast filmischer Zoomtechnik entfaltet sich hier der Raum vom Boden und den Wänden hin zu den schweren und großen Einrichtungsgegenständen. Während zunächst noch das Parkett arbeitet, kommt es im Anschluss zur vollständigen Stille, und der Anhänger am Leuchter schwingt nicht, sondern ist bewegungslos. In diesem Stillstand scheint die Zeit völlig aufgehoben. Gleichzeitig verweisen Elemente wie die verschossene Stofftapete und der blinde Spiegel auf die unendlich langsame und unaufhaltsame Dynamik des Verfalls. Im Anschluss an die räumlichen Gegebenheiten und unverrückbaren Möbelstücke konzentriert sich Christians Wahrnehmung auf bewegliche Gegenstände im Raum. »Selbst hier hatte es im Vergleich zu seinem letzten Besuch kaum Veränderungen gegeben: noch immer lag die mit einem Schutzumschlag aus Zeitungspapier versehene Nummer der ›Nature‹ neben einigen Biologie-Fachzeitschriften, alle schon mit einer leichten Staubschicht bedeckt, und einigen Exemplaren der ›Weimarer Beiträge‹, die ziemlich zerlesen waren. Daneben die heutige Ausgabe der ›Union‹ ordentlich zusammengefaltet, das maserige Papier roch nach Druckerschwärze.« (Turm 35)

Der Stillstand wird hier fortgeführt: Sogar die beweglichsten Elemente, die Zeitungen und Zeitschriften, haben gegenüber einer unbestimmten Vergangenheit, nämlich seit Christians letztem Besuch, nicht den Ort gewechselt. Allein die zerlesenen »Weimarer Beiträge« und die aktuelle »Union« suggerieren, dass sie nicht außerzeitlich und statisch, sondern tatsächlich in Gebrauch sind. Beide Zeitschriften konnotieren politische Aussagen: Die »Weimarer Beiträge« als wichtigste, systemkonforme Literaturzeitschrift der DDR, die »Union« als progressive Tageszeitung. Sie sind das einzige Anzeichen für eine Dynamik im Raum, und sie verweisen gleichzeitig nicht auf eine großbürgerliche Vergangenheit, sondern auf die sozialistische Gegenwart. Ein ähnlicher Einbruch des Systems in den bürgerlichen Raum findet sich bei der Beschreibung des Zimmers, das Christian mit seinem Bruder Robert teilt: »Die hohen und massigen Furnierholzschränke, Wohnraum-Typensatz, Modell RUND 2000, aus dem VEB Möbelwerke Hainichen, die zu fünft entlang der Wände standen, nur eben Platz für eine Couch, die Schreibtische und das Bett ließen – Roberts mußte ausgezogen werden – , erdrückten das Zimmer mit ihrer dunklen Massivität.« (Turm 264)

Die Möbel wirken fehl am Platz in dem Haus, dessen Einrichtung sonst zum Großteil noch aus der Vorkriegszeit stammt. Beschreibungen, in denen Gegen-

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stände aus DDR-Produktion bedrückend oder beengend auf die Figuren des Romans wirken, durchziehen als Metaphernfeld den gesamten Roman.34 Das ›Alte Dresden‹ und das Turmviertel modellieren mithin verschiedene nostalgische Ansätze: Während die rekonstruierte Semperoper symbolisch für den Versuch steht, die Vergangenheit in der Gegenwart wiederzubeleben, zeigen die Bürgervillen im Turmviertel das Bestreben auf, an einer Vergangenheit festzuhalten, die kontinuierlich bis in die Gegenwart hineinzureichen scheint. In beiden Fällen bildet jedoch für die Protagonisten die Vergangenheit den entscheidenden Referenzpunkt: »[I]n die Vergangenheit ging ihre Zukunft, die Gegenwart war nur ein blasses Schattenbild, eine unzulängliche und verkrüppelte Variante, ein fader Aufguß der der großen Tage von einst, und manchmal hatte ich auch den Verdacht, daß es gut war, wenn etwas in die Vergangenheit sank, wenn es starb und verdarb, daß die Türmer es insgeheim billigten, denn dann war es gerettet – es gehörte nicht mehr der Gegenwart an, aus der man floh, und oft wurde genau das, war es tot, plötzlich in den Himmel ihrer Wertschätzung gehoben, was man, als es lebte, nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte.« (Turm 354, kursiv i.O.)

Menos Tagebuchaufzeichnungen bringen es erneut auf den Punkt: Die Vergangenheit wird von den Türmern als einziger Raum für ein gutes Leben anerkannt, die Gegenwart hat keine Chance. Dass aber ein kompletter Rückzug in die Vergangenheit unmöglich ist, zeigen nicht zuletzt symbolische Einbrüche der sozialistischen Gegenwart in die Räume des Turmviertels wie der eingangs erwähnte Sowjetstern oder die Zeitungen. Die Villen werden durch sie zu einer Hybride zwischen den Zeiten, die einen Gegensatz zur rein vergangenheitsbezogenen Denkfigur des ›Alten Dresden‹ bildet. Die Beschreibung des Turmviertels nimmt die Gegenüberstellungen von Vergangenheit und Gegenwart, Bürgertum und Sozialismus, Privatem und Politischem auf. Während jedoch diese drei Dichotomien in der Erinnerung an das ›Alte Dresden‹ als klare Binäroppositionen zu verstehen sind, werden die Gegensatzpaare im Turmviertel zusammen gedacht und verstärken damit die im vorigen Kapitel aufgedeckte Nostalgiekritik. Bei der Beschreibung des Tausendaugenhauses kommt außerdem noch das Spannungsverhältnis von Dynamik und Stillstand zum Tragen, das sich ohne Weiteres nicht in die Reihe von dichotomischen Gegenüberstellungen fügen lässt. Im Turmviertel scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, aber die Anzeichen des Verfallsprozesses sind zugleich überdeutlich. Weder Stillstand noch Fortschritt sind dabei eindeutig positiv oder ne34 Vgl. auch Turm 802 sowie 815.

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gativ zu bewerten. Das Bild eines ›Alten Dresden‹, einer Perpetuierung der Vergangenheit ohne Verfallserscheinungen, dekonstruiert sich selbst; es zeigt sich, dass es nur als gedankliches Konzept Bestand haben kann. Ist dies auch als Nostalgiekritik zu verstehen, so sind die negativen Konnotationen der Anzeichen sozialistischer Gegenwart in den Räumen der Türmer auch Vorboten einer Kritik am bedingungslosen Fortschrittsglauben des Regimes. Während sich das Trauma bezüglich des ›Alten Dresden‹ zuvor noch als unterdrückte Kehrseite der Nostalgie präsentierte, so tritt es im Turmviertel in deutlicherer Sprache zutage und ist an die Symbole sozialistischer Realität gekoppelt, wie es etwa die Beengung durch die Möbel aus dem VEB versinnbildlicht. Diese Intensität negativer Erfahrungen, die nach Astrid Erll das Trauma hervorbringt, wird sich in den Beschreibungen des ›Neuen Dresden‹ noch deutlicher zeigen. Brücken, Gitter und Zäune Neben dem ›Alten Dresden‹ gibt es gegenüber dem Turmviertel noch eine zweite Kontrastfigur, und zwar die eines ›Neuen Dresden‹, in dem eine politische bzw. ideologische Sphäre modelliert wird. In Anknüpfung an die Aufsätze von Anne Fuchs und David Clarke ist die räumliche Gegenüberstellung der bürgerlichen Dissidenten des Turmviertels mit den systemkonformen Funktionären Ostroms nochmals in den Blick zu nehmen. Während sich bezüglich des ›Alten Dresden‹ eine Verflechtung traumatischer und nostalgischer narrativer Strategien in textuellen Leerstellen bereits abgezeichnet hat, sind in der Analyse des Turmviertels nostalgiekritische Aspekte besonders deutlich geworden. Nun steht nochmals der Begriff des Traumas in seiner komplementären Beziehung zur Nostalgie im Blickfeld, der vor allem im Blick auf politisierte Räume der realsozialistischen Gegenwart im Roman von Relevanz ist. Ostrom bildet einen plakativen Kontrast zum Turmviertel, der raumsemantische Analysen in der Tradition Jurij Lotmans geradezu herausfordert. 35 Die Grenze zwischen den beiden Sphären, von denen eine der bildungsbürgerlichen Wertewelt der Türmer, die andere der sozialistischen Ideologie des Staatsapparats zugeschrieben ist, ist durch eine Brücke markiert, die man nur nach zweifacher Kontrolle durch Wachleute passieren darf. So schirmt sich die Elite Ostroms, die politische und intellektuelle Führungsmacht der Stadt, systematisch von der breiten Masse der Bevölkerung ab. Es entsteht ein weiteres »Anderreich« als eine von äußeren Einflüssen hermetisch abgeriegelte Welt, zu der es nur einen streng regulierten Zugang gibt. Strukturell ist Ostrom also ähnlich konfiguriert wie etwa das Tausendaugenhaus. 35 Vgl. hierzu FUCHS 2009.

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Es ist diesmal Meno, der dem Leser den Blick auf diese Welt gewährt. Wegen eines Termins mit dem Autor Georg Altberg, genannt ›der Alte vom Berge‹, begibt er sich zu Beginn der Romanhandlung im Winter 1982/83 nach Ostrom. Meno soll den Schriftsteller zur Selbstzensur seines neuen Werks bewegen. Unabhängig von der militärischen Präsenz im Viertel, die in dem Kapitel evident wird, soll im Folgenden ausschließlich die räumliche Struktur beleuchtet werden. Ostrom wird selbst durch Menos vergleichsweise unparteiischen Blick als ein durch und durch politischer Raum inszeniert. Hier wie auch im Turmviertel flicht Tellkamp zahlreiche Straßennamen in den Text ein, die durchaus als nostalgische Anspielungen gelesen werden können. Während im Turmviertel Namen wie Mondleite oder Wolfsleite das Stadtbild dominieren, heißen in Ostrom die Straßen nach Leitfiguren sozialistischer Fortschrittsideologie, darunter nach auffällig vielen sowjetischen Berühmtheiten: Zetkinweg, Nadeshda-KrupskajaStraße, Majakowskiweg und German-Titow-Weg verweisen auf die auf die sozialistische Politikerin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin, Lenins Ehefrau Nadežda Krupskaja, den sowjetischen Futuristen Vladimir Majakovskij und seinen Landsmann, den Kosmonauten German Titov. Eine politische Verortung wird so geradezu aufdringlich vorgenommen. Eben diesen Zweck haben Straßennamen natürlich auch als Maßnahme ideologischer Propaganda in der DDR erfüllt. Sie sind Ausdruck der politischen Durchdringung des alltäglichen Lebens. Im Vergleich mit dem dekadenten Grandeur der Jugendstilvillen im Turm fällt die Beschreibung der Straßenzüge in Ostrom deutlich bescheidener aus. Dem Leser erschließt sich das Stadtviertel in den Augen Menos wie folgt: »Taxushecken, zu lotrechten Mauern geschnitten, schirmten eine Reihe zweistöckiger Einfamilienhäuser ab, die alle den gleichen hellgrauen Rauhputz trugen, je eine Garage und am Gartenzaun Briefkästen in Form von Kuckucksuhren besaßen, die mit Tannenreisern und kleinen Jahresendflügelfiguren – so sagte man hier angeblich, erinnerte sich Meno, durch die Nase lachend – geschmückt waren. Neben den säuberlich geräumten und mit Splitt bestreuten Vorgartenwegen wuchs in jedem Grundstück eine Douglaskiefer; in den Ästen hatte man jeweils eine Vogelbirne und einen Meisenring befestigt; aus dem Schnee unter dem Stamm lugten Gartenzwerge in den Ausführungen mit Pfeife, mit Schubkarre und mit Spaten hervor, die roten Füßchen hatte der schelmisch lächelnde Zwerg auf das Blatt gestützt. Über der Eingangstür eines jeden Hauses steckte zwei Fahnen: rechts die Fahne der Republik, links die der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.« (Turm 108f.)

Besonders augenfällig ist die Konformität, die das Stadtbild prägt. Anders als im Turmviertel gibt es keine individuellen Merkmale der einzelnen Häuser, sondern

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sie sehen alle gleich aus. Das bezieht sich nicht etwa nur auf die Bauweise, sondern auch auf die Gestaltung der Grundstücke durch Bäume in den Vorgärten und erstreckt sich sogar auf das abgezählte Vogelfutter in diesen Bäumen. Ein eindeutiger politischer Verweis besteht in der Ausstattung der Häuser mit Fahnen. Obwohl es sich hier auch um die Darstellung einer Vorstadtidylle handeln könnte, wirkt der Raum eher trist und leer als beschaulich und friedlich, die roten Füße der Gartenzwerge markieren einen grotesken Einbruch in eine Welt der rechten Winkel und Grauschattierungen. Insgesamt deutet sich in der Beschreibung an, dass Ostrom als Ideal der sozialistischen Stadt konzipiert ist, deren Aufbau als Ausdruck sozialistischer Werte verstanden werden muss. Von der Kulturpolitik der DDR, die die ideologische Standhaftigkeit der Gesellschaft zu fördern hatte, war schließlich auch der Städtebau nicht ausgenommen. So formuliert Joachim Palutzki: »Künstler und Schriftsteller wurden gleichermaßen wie auch die Städteplaner und Architekten dazu verpflichtet, ihre Tätigkeit als eine politische und gesellschaftliche anzusehen, deren Zielsetzung den Vorgaben der Partei zu folgen hatte.«36 Dabei weisen die bereits im Jahr 1950 von der DDR-Regierung verabschiedeten »16 Grundlagen des Städtebaus«37 die Richtung: Sie erklären städtebauliche Entscheidungen als »ausschließlich[e] Angelegenheit der Regierung« und ordnen in der Stadtplanung alle Entscheidungen der Funktionalität unter. Nicht etwa die kunstvolle Verwirklichung ästhetischer Maximen ist deshalb dominant, wie es in den Rekonstruktionen des ›Alten Dresden‹ durch die Türmer der Fall ist, sondern stets nur die politische Aussage. Mehr noch: Ästhetische Maßstäbe werden selbst durch die Politik bestimmt und orientieren sich an ideologischen Botschaften. Der Grundsatz der Zweckmäßigkeit erfordert die Zugänglichkeit von relevanter Infrastruktur für alle Stadtteilbewohner. Ostrom stellt diesbezüglich ein Musterbeispiel dar: »Als [Meno] den Hügelkamm erreichte, konnte er fast das gesamte Viertel übersehen: das ›Haus der Kultur‹ mit der wuchtigen Plastik ›Aufrechte Kämpfer‹ davor, die ihre granitenen Fäuste in den Morgen reckten; die mit Sandsteinplatten gepflasterte, von Pylonen gesäumte Allee, die vom ›Haus der Kultur‹ in den Engelsweg mündete, eine kastanienbestandene Sackgasse, wo sich eine HO, eine Drogerie, ein Blumenladen und ein Elektroge-

36 JOACHIM PALUTZKI 2000: Architektur in der DDR. Berlin. S. 26. 37 LOTHAR BOLZ 1951: Von deutschem Bauen. Reden und Aufsätze. Berlin (Ost). S. 3252. Zitiert nach URL: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/wiederauf bau-der-staedte/64346/die-16-grundsaetze-des-staedtebaus. Letzter Zugriff am 01.03. 2016.

128 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS schäft befanden, in denen die Hausfrauen Ostroms einkauften; außerdem ein Damen- und ein Herrenfriseur.« (Turm 109)

Zur Infrastruktur gehört mit dem »Haus der Kultur« ein Veranstaltungsort, aber auch Geschäfte zur täglichen Versorgung – so etwa die Filiale der Handelsorganisation, in diesem Falle vermutlich ein Lebensmittelgeschäft oder gar ein HOSpezialhandel, dessen Sortiment nur bestimmten Kreisen in der DDR zugänglich war. Von Interesse ist auch der Hinweis auf die Skulptur »Aufrechte Kämpfer«, für die zwar keine Vorlage zu ermitteln ist, deren Titel aber gemeinsam mit der Beschreibung gereckter Fäuste sogleich an andere Denkmäler des sozialistischen Realismus erinnert.38 Ihre Funktion ist nicht unmittelbar praktischer, sondern ›moralischer‹ Natur. Sie ist ein Beispiel für die Unterordnung der Ästhetik unter politische Botschaften. In all diesen Punkten gestaltet sich Ostrom als das Gegenteil des Turmviertels: Es ist funktional, aber nicht ästhetisch; es ist Ausdruck sozialistischer (Kultur-)Politik und lässt dabei keinen Raum für private Individualität; und seine Existenz ist gänzlich dem Wiederaufbau geschuldet und trägt keinerlei Verweis auf eine nichtsozialistische Vergangenheit in sich. Die Erzählstimme erwähnt indes beiläufig, dass Ostrom über eine autarke Kohleversorgung verfügt, ein Spezialkrankenhaus und einen eigenen Küchenkomplex besitzt. Ostrom stellt damit eine Parallelwelt zum Turmviertel und zum gesamten Rest der Stadt Dresden dar, die versucht, sich im Angesicht der bröckelnden Macht sozialistischer Regime unabhängig von tatsächlichen internationalen politischen Veränderungen zu erhalten. Damit steht der Raum als Metonymie für die gesamte DDR, bildet jedoch außerdem ein unerwartetes Äquivalent zum Turmviertel, indem tagesaktuellen Entwicklungen zum Trotz ebenfalls an bestimmten gesellschaftlichen Ordnungen festgehalten wird. Diese strukturelle Parallele macht deutlich, dass es auch eine andere DDR gegeben hat, ein zweites ›Neues Dresden‹, zu dem das Turmviertel ebenso gehört wie die Dresdner Alt- und Neustadt mit ihrer relativen Vielfalt und ihren Relikten einer nichtsozialistischen Vergangenheit. Politisierte Räume in Der Turm sind neben Ostrom vor allem die Räume des Militärs und das Gefängnis, gehören also in den Handlungsstrang um Christian. All diese Räume sind beengt und bedrückend dargestellt. Das Ausbildungszentrum der NVA ist mit Stacheldraht umzäunt (Turm 537), die Baracke in der Militärstrafvollzugsanstalt in Schwedt hat vergitterte Fenster (Turm 824). Dazu kommen die Misshandlungen, die Christian von den Unteroffizieren während 38 Man denke etwa an das Ernst-Thälmann-Denkmal im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg oder an das ebenfalls in Berlin gelegene Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park mit der zentralen Statue »Der Befreier«.

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des Wehrdienstes erfährt, namentlich die Szene, in der sie seinen Kopf in eine Toilettenschüssel zwingen und die Spülung betätigen (Turm 626). Auch diese Art der Gewaltanwendung spielt mit dem beengten Raum. So wie es im Turmviertel Boten der sozialistischen Gegenwart gibt, so gibt es auch Einbrüche des Ästhetischen in den politisierten Raum. Während Christians Strafprozess, der im 60. Kapitel »Reise nach Samarkand« beschrieben wird, kommt es zu folgender Szene: »Der Hof war von einem Stacheldrahtzaun umgeben. Auf einer der Betonplatten lag eine Blüte. Christian bückte sich, bekam sie zu fassen: eine der Apfelblüten vom Elbhang drüben, aus den italienisch anmutenden Gärten. Er bekam einen Stoß, krümmte sich, nach Luft schnappend, nach vorn. ›Noch mal, und es hat Konsequenzen‹, sagte der Oberleutnant. Flure, katakombisch. Christian roch: abgestandene Luft, er sah nirgendwo ein Fenster.« (Turm 802)

Sowohl der Stoß durch den Oberleutnant als auch die engen Flure entziehen Christian die Luft zum Atmen; es handelt sich auch hier um eine metaphorische Raumgestaltung, die Bedrohung und Einschränkung von Seiten des Systems mittels physischer Beengung aufzeigt. Daneben liegt in der Apfelblüte aus den »italienisch anmutenden Gärten« ein Verweis auf das bürgerliche, wenn nicht sogar das ›Alte‹ Dresden. Sie wird so für Christian zu einem Boten aus dem privaten Raum und Sehnsuchtsort, dem Turmviertel. 39 Die Gewaltanwendung des Oberleutnants kommt der Botschaft der Apfelblüte jedoch zuvor und unterbindet jede Referenz auf die ›andere Welt‹ des Bürgertums.

39 Eine vergleichbare Stelle findet sich in Joanna Bators Sandberg: »Später werden sogar deutsche Schokoladenpapierchen über die Grenze geweht, die tragen die Aufschrift Milka und das Bild von einer lachenden Kuh und riechen noch nach Kakao. Die Kinder von Piaskowa Góra werden sie sammeln, mit den Fingernägeln das Staniolpapier glattstreichen und solange daran riechen, bis der Schokoladenduft weg ist« (Sandberg 35) [»Nieraz dolecą nawet opakowania od niemieckich czekolad zza zachodniej granicy, z napisami Milka, rysunkami uśmiechnętej krowy i wciąż wyczuwalnym zapachem kakao. Dzieci z Piaskowej Góry będą je zbierać, wygładzać paznokciami sreberka i wąchać tak długo, aż słodki zapach zniknie« (Piaskowa Góra 30)]. Die Schokoladenpapiere fungieren ebenfalls als Boten aus einer anderen, besseren Welt und speisen durch den Geruch überdies die sinnliche Dimension der Nostalgie ein. Auch die Apfelblüte erinnert an Christians Reflexionen über Geschmack und Geruch des Apfels auf seiner Straßenbahnfahrt zum Wehrdienstantritt (Turm 532), vgl. S. 96.

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Mit der Beengung und Strangulation, die bis zur Misshandlung reicht, wird Christian schließlich die Sprache selbst genommen. Nach seinem Strafvollzug kehrt er zurück in den regulären Wehrdienst. »Christian war jetzt der Stubenälteste, von den anderen mit einer Mischung aus Scheu und Respekt angesehen; er hatte das Gefühl, außer der Reihe zu laufen, ein lebender Anachronismus zu sein, wie Meno das genannt hätte. Es gab keine Frage nach Schwedt und Samarkand; er hatte unterschreiben müssen, zu schweigen. Das Reden wurde ihm fremd, er beschränkte sich, wenn es unumgänglich wurde, auf das nötigste. Er hatte unterschrieben. Er wollte nicht zurück. Das Brot schmeckte ihm. Die Kameraden waren nett, besonders der Goldschmied. Die Panzer waren gut. Die Sonne war schön.« (Turm 877)

Christian sieht sich hier selbst als einen »Anachronismus«, aber die Vergangenheit ist nicht länger positiv konnotiert. Sie wird verdrängt, aber nicht selektiv nostalgisch, sondern vollständig, und fällt dem Schweigen anheim, das in harschem Kontrast steht zu Christians vorheriger Eloquenz. Die kurzen belanglosen Hauptsätze, mit denen das Zitat schließt, bilden dabei keine verheißungsvollen Leerstellen wie nostalgische Asyndeta, sondern sie sind Ausdruck von Christians Trauma. Verschiedene Räume sind in Uwe Tellkamps Der Turm somit als politisierte Räume konstruiert, in denen keine Möglichkeit des Rückzugs ins Private besteht. Die politische Ebene ist durch die starke Abhängigkeit von Doktrinen und Entscheidungen der Staatsmacht gekennzeichnet, die stets ideologische Fragestellungen reflektiert. Gleichzeitig sind diese Räume mit starken Beengungs- und Beklemmungsgefühlen verbunden, die das traumatische Potenzial des Politischen andeuten. Dies spiegelt sich besonders in dem Motiv der Sprachlosigkeit wider, die Christian am Ende des Romans befällt. Im Zusammenhang mit der Abwesenheit von Ästhetik, Kunst und privater Individualität in den politisierten Räumen gestaltet sich die politische Ebene im Roman als eine traumatische Sphäre, die der nostalgischen kontrastiv gegenübersteht. Gleichzeitig zeigen die Einbrüche des Politischen und des Privaten in die jeweils anders konnotierten Räume auch metaphorisch auf, dass beide Phänomene miteinander untrennbar verbunden sind. Uwe Tellkamps Roman gestaltet sein umfassendes und als authentisch gerühmtes Bild der DDR weniger als eine Erzählung klarer politischer Positionen als vielmehr in einem Wechselspiel verschiedener zeitlicher, räumlicher und gleichsam ideologischer Sphären, die sich gegenseitig kommentieren. So spiegelt das Verhältnis der bürgerlichen und der sozialistischen Ideologie mit ihren assoziier-

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ten Räumen nicht nur den Zusammenhang von Nostalgie und Trauma, sondern auch den der Nostalgie immanenten kommunikativen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Trias des ›Alten Dresden‹, des Turmviertels und der politischen Räume eines ›Neuen Dresden‹ illustriert Nostalgie und Trauma über verschiedene aneinander anschließende Dichotomien als Gegenwelten, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, jedoch gleichsam miteinander zusammenhängen. Die Konstruktion von hermetisch abgeriegelten Räumen, in die einzudringen nur wenigen vorbehalten ist und den Eindringling innerlich verändert, verbindet das Turmviertel und Ostrom. Als drittes derartiges »Anderreich« ist auch die Vorstellung vom ›Alten Dresden‹ zu denken, das sich in seiner zeitlichen Gebundenheit dem Einflussbereich der Romanfiguren jedoch vollends entzieht. Natürlich symbolisiert jede derart inszenierte unüberwindbare Grenze zwischen Räumen auch die Abgeschiedenheit der DDR selbst. Gleichzeitig ist das räumliche Setting von Welten und Gegenwelten in Der Turm derart verschachtelt, dass nichts mehr von Substanz zu sein scheint, weil es kaum noch einen Raum gibt, der nicht als das »Andere« von irgendetwas fungiert. So dekonstruiert der Roman die Vorstellung eines abgeschlossenen ideologischen Weltbildes – sei es ein sozialistisches oder ein nostalgisches. Wo sich die Beschreibungen des ›Alten Dresden‹ nostalgisch im wortreichen und teilweise pathetischen Wortschwall ergießen, da sind die Beschreibungen der politisierten Räume sprachlich ärmer. Das Verhältnis von nostalgischem Informationsüberfluss und traumatischer Sprachlosigkeit hat sich jedoch als problematisch erwiesen: Leerstellen sind nicht automatisch als Hinweise auf eine nostalgische Selektion oder auf traumatische Verdrängung zu identifizieren, sondern können auf beide Phänomene gleichermaßen verweisen. Hierin zeigt sich nicht nur der Konstruktcharakter narrativer Erinnerungen, sondern es wird auch deutlich, dass aus historischen Ereignissen nicht etwa Nostalgie oder Trauma zwangsläufig hervorgehen, sondern dass beide als affektive Reaktionen auf Erfahrungen gelesen werden müssen und somit durch dieselbe Ursache ausgelöst werden können. Die räumliche Gegenüberstellung einer ästhetischen bzw. ästhetisierten Welt, sowohl im Traum vom ›Alten Dresden‹ als auch im morbiden, vom Verfall gekennzeichneten Turmviertel, und andererseits der funktionalen politischen Welt sozialistischer Neubauten und öffentlicher Räume ist damit letztlich Ausdruck eines Kontrasts von Wertewelten: Tellkamps Roman inszeniert einem Kampf der Diktatur des Bürgertums gegen die Diktatur des Proletariats. Dabei ist die Nostalgie dem Fortschrittsglauben des Sozialismus entgegengesetzt, und die vermeintliche Idylle der Vergangenheit dem Trauma der Gegenwart. Dass es sich

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beim bürgerlichen Werteuniversum jedoch um eine ebensolche Ideologie handelt wie die sozialistische, wird von den Romanfiguren nicht erkannt. Ihre reaktionäre Faszination mit der bürgerlichen Kultur spiegelt auf groteske Weise den bedingungslosen Glauben an die Fortschrittlichkeit des Sozialismus. Damit handelt es sich im nostalgischen Blick auf die Vorkriegszeit eben nicht nur um einen Kampf um die Ehrenrettung im Sozialismus vertuschter historischer Epochen Dresdens, der die Vergangenheit in den Mittelpunkt stellt, sondern, ganz im Sinne des nostalgischen Prinzips, auch um eine Spiegelung der Gegenwart und um ein Mittel zur Ideologiekritik.

Nostalgie und Identität: Inga Iwasióws Bambino Man hört das ja bei anderen. […] Russische, Deutsche, Posener (auch eine Beleidigung), Warschauer (ebenfalls bitter), Bauer, Ukrainer, Zigeuner, Jüdin, Jiddelchen, Jüdchen. All diese unsinnigen Erinnerungen. Das ewige Beschwören der Wurzeln. Die sie vielleicht gar nicht haben, weil es damit ja aufgehört hat, einfach zu sein. Manchmal hört man in der Stimme was Sentimentales. Weiß man ja, war so ein alter Ukrainer. Weiß man ja, die Jüdin hatte ihr Bündel Scheine. […] Man spricht eben über seine Fremden. Wie über Haustiere. Ein normales, geselliges Gespräch. Ein täglicher Dialog in Szczecin. INGA IWASIÓW, BAMBINO1

Inga Iwasióws Roman Bambino, der bislang nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, zeichnet das Bild der frühen polnischen Volksrepublik als das einer Gesell1

Hier S. 278: »To się słyszy u innych. […] Ruska, niemra, poznaniak (też obelga), warszawiak (równe dotkliwy), wsiok, Ukrainiec, Cygan, żydówa, żydzisko, żydek. Te wszystkie niedorzeczne przypomnienia. To ciągłe przywoływanie korzeni. Których być może nie mają, bo to przestało być proste. Czasem w głosie słychać coś jak sentyment. Wiadomo, to był stary Ukrainiec. Wiadomo, Żydówa miała paczki. […] Mówienie o swoich obcych. Jak o zwierzętach domowych. Normalna, towarzyska rozmowa. Szczeciński, codzienny dialog.« Die Originalzitate werden im Folgenden unter Angabe des Titels Bambino und der Seitenzahl in der Fußnote angegeben. Die Übersetzungen ins Deutsche stammen sämtlich von d. Verf.

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schaft, die sich zwischen den Kulturen noch nicht gefunden hat. Vier Protagonisten wollen sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben an dem Ort aufbauen, der noch bis eben Stettin hieß und nun Szczecin heißt.2 Sie erschließen sich den Raum, in dem noch keine polnische Vergangenheit etabliert ist, während die deutsche Vergangenheit schon aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet. Das polykulturelle Vorkriegspolen hat es hier nicht gegeben, Stettin war seit 1720 deutsch und lag überdies in Preußen sehr zentral. Die Stadt, die nicht nur auf einmal polnisch, sondern ebenso plötzlich in der Peripherie im deutsch-polnischen Grenzland situiert ist, bemüht sich in Iwasióws Roman gegen jede demographische Statistik um eine homogene polnische Identität. Als Schmelztiegel der Verbliebenen und der Zugezogenen wird der Raum jedoch stattdessen zum Testgelände für transkulturelle Begegnungen verschiedenster Art.3 So ist es nicht nur die ›niemra‹4, die Deutsche, die mit einem abfälligen und stark pejorativen Wort im oben genannten Zitat als Fremde verurteilt wird. Die Textstelle, die den Alltagsrassismus der Volksrepublik aufgreift, nimmt außerdem Bezug auf Russen und Ukrainer, Roma und Juden, schließlich auch auf Zugereiste aus dem eigenen Land, insbesondere solche aus der Provinz, die mit dem Etikett des Anderen, des Fremden belegt werden. Dabei ist die Frage nach den nationalen und ethnischen Wurzeln virulent wie eh und je, auch wenn sie »aufgehört hat, einfach zu sein«. Kollektive und persönliche Identität sind in dieser Gesellschaft nicht getrennt voneinander zu denken. Im Kampf um Zugehörigkeit liegt den Ressentiments und der Exklusion ein essentialistischer Kulturbegriff zu Grunde, in dem nationale, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit untrennbar aneinander gekoppelt und durch die Herkunft (im Sinne sowohl einer regional bestimmten Heimat als auch einer biologisch-genetischen Abstammung) definiert werden. Diese Grundkonstellation des Romans, die alles andere als nostalgisch erscheint, ist der Ausgangspunkt für die Suche der vier Protagonisten nach einem 2

Im Folgenden werden konsequent die Städtenamen verwendet, die zum jeweiligen historischen Zeitpunkt in der betreffenden Stadt galten. So spielt der Roman Bambino fast ausschließlich in Szczecin, die Protagonistin Ula wird jedoch 1930 in Stettin geboren.

3

Zu den historischen Hintergründen des Romangeschehens empfiehlt sich die Lektüre der ausführlichen Studie zur Stadtgeschichte Szczecins seit 1945 von JAN MUSEKAMP 2010: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 27). Wiesbaden.

4

›Niemra‹ bezeichnet eine deutsche Frau, der Begriff entspricht etwa dem deutschen ›Polacke‹ für einen Polen.

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Platz in der Gesellschaft. Marysias Familie wird aus den abgetretenen Ostgebieten Polens nach Niederschlesien umgesiedelt, von wo aus sie zur Ausbildung nach Szczecin kommt. Janek, dessen Vater unbekannt ist und den seine Mutter bei den Großeltern zurückgelassen hat, gelangt aus einem Dorf nahe Poznań von einem Bauernhof in die Hafenstadt. Ula, die eigentlich Ulrike heißt, ist gebürtige Stettinerin, die nach dem Krieg ohne ihre Eltern und Brüder in Szczecin zurückbleibt und sich im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Bewohnern entschließt, nicht fortzugehen. Die fromme Kriegswaise Anna wird aus der Provinz zwischen Częstochowa und Kielce von ihrem Halbbruder zur Schule nach Szczecin geschickt.5 Sie alle gelten als Fremde in der Stadt. Ihre Freundschaften und Beziehungen zeugen von ihrem verzweifelten Streben nach Zugehörigkeit, einem positiven Selbstbild und Stabilität. Dabei spielt Alterität in den individuellen Lebenswegen durchaus eine gewichtige Rolle. Hier sind Fragen von Herkunft und Abstammung von besonderer Relevanz, denn der Einzelne kann sich von seiner persönlichen Vergangenheit im Roman niemals freimachen. Jeder der Protagonisten, so entwirft es das Kapitel »DOPPELGÄNGER«6, hat eine signifikante Kontrastfigur, deren Schicksal das eigene hätte sein können. Für Marysia ist es ihre Freundin Nastia in der Ukrainischen Sowjetrepublik; für Janek sein jüngster Onkel auf dem Hof der Großeltern; für Anna die Frau des Halbbruders im Heimatdorf; und für Ula die Schwägerinnen in der Bundesrepublik bzw. in der DDR, wo sie ihre bis dahin vermissten Brüder in den Sechzigerjahren wiederfindet. »Jeder hat so jemanden. […] Wenn jenes Schicksal auf den ersten Blick auch beneidenswert scheint, die Umgebung einen angenehmen Eindruck macht (angenehmer jedenfalls als die, in der wir täglich leben, wir, in unserer grundlegenden Inkarnation), so verschließen wir doch die Augen davor, wir setzen uns lieber nicht auf die andere Seite des Spiegels, sonst nehmen wir jenem Ort den Zauber. Im schlimmsten Falle denken wir: Das also

5

Bei Musekamp finden sich Kapitel zu den jeweiligen Bevölkerungsgruppen, denen auch die Protagonisten des Romans angehören: Ula vertritt die deutsche Bevölkerung (zu deren Vertreibung und der verbliebenen deutschen Minderheit vgl. MUSEKAMP 2010, S. 50-64), Marysia gehört zu den »Repatrianten von jenseits des Bugs« (ebd., S. 92-97, kursiv i.O.) und Janek und Anna sind der »Bevölkerung aus Zentralpolen« (ebd., S. 82-89) zuzurechnen. Musekamp erläutert die Bedingungen und Folgen der Vertreibung und Neuansiedlung dieser Gruppen.

6

»SOBOWTÓRY«, kapitalisiert i.O.

136 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS ist mein verlorenes Paradies. Jenes, das mir hätte zufallen sollen. Das also ist die Hölle, der ich entgehe.«7

Dieses alternative Leben wird als ein Ort imaginiert, an dem man zugehörig ist und der nicht durch die Fremdheitserfahrung des Alltags in Szczecin bestimmt ist. Als »verlorenes Paradies« trägt er durchaus idyllische Züge. Dabei versuchen die Protagonisten einerseits vehement, sich von diesen Alternativen abzugrenzen, andererseits dient ihnen die Vorstellung davon als Auslöser für selbstreflektierende Erinnerungsarbeit. So entstehen nostalgische Sehnsuchtsorte, die nicht in die konkrete Wirklichkeit überführt werden dürfen, wenn sie nicht vom Himmel zur Hölle werden sollen. Über die tatsächliche Geschichte Szczecins wird geschwiegen. Die Stadt will sich als polnische Metropole nach dem Krieg ganz neu (er)finden, ohne Kontinuitäten zu einer unliebsamen Vergangenheit herstellen zu müssen. Die Protagonisten sprechen gleichfalls ungern über ihre eigenen Lebensgeschichten, aber der Frage nach den eigenen Wurzeln können sie sich nicht endgültig verweigern. Dabei steht für die Figuren zur Debatte, ob sie ihre jeweilige Vergangenheit als Teil der eigenen Identität akzeptieren können oder nicht. Das Bedürfnis nach einer persönlichen Geschichte und damit nach Verwurzelung geht einher mit der Sehnsucht nach einer Identität, die weder problematisch noch bruchstückhaft wäre. Nostalgische Praxis, Identität und Alterität sind auf diese Weise im Roman eng miteinander verwoben. Inga Iwasiów ist selbst Literaturwissenschaftlerin, und ihre Publikationsliste umfasst vor allem Texte aus dem Bereich der Gender Studies. 8 Dennoch ist Bambino beileibe nicht ausschließlich als gendertheoretisches Probierstück zu betrachten. Auch die Kritik sieht mehr in dem Text, der als einziger von Iwasióws mittlerweile fünf Romanen zu den Nominierten für den Nike-Preis gehört.9 Krzysztof Cieślik schreibt:

7

»Każdy ma kogoś takiego. […] Jeśli ten los wydaje się na pierwszy rzut oka do pozazdroszczenia, otoczenie sprawia wrażenie przyjaznego (bardziej niż to, w którym żyjemy na co dzień, my, w naszym podstawowym wcieleniu), przymykamy oczy, wolimy nie sadowić się po drugiej stronie lustra lub odbieramy temu miejscu urok. W najgorszym wypadku myślimy: oto mój raj utracony. Ten, który powinien mi przypaść. Oto piekło, którego unikam« (Bambino 268).

8

Vgl. vor allem IWASIÓW 22008a.

9

Unter den Werken ist auch der Nachfolgeroman von Bambino unter dem Titel Ku słońcu [dt. Zur Sonne], vgl. INGA IWASIÓW 2010: Ku słońcu. Warszawa.

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»Bambino ist ihr erster Roman, und sollte jemand einen herben Schlag gegen das starke Geschlecht erwartet haben, so wird er schwer enttäuscht sein. Stattdessen erhalten wir ein sauber gezeichnetes Bild der PRL-Wirklichkeit mit außerordentlich tiefgründigen Beobachtungen der Nachkriegsschicksale der Polen.«10

So verhandelt die Autorin im Roman polnische Zeit- und Szczeciner Stadtgeschichte im Spannungsfeld von Einzelschicksalen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Auch Dariusz Nowacki lobt in der Gazeta Wyborcza den Roman als »Panorama ›polnischer Schicksale‹ über einen beeindruckenden Zeitraum hinweg […], in dem Geschichten die Geschichte entschieden dominieren.«11 Diese Beschäftigung mit »Geschichten«, mit »polnischen (Nachkriegs-)Schicksalen« ist Grundlage für die Anerkennung des Feuilletons, das den Roman als besonders authentisch lobt und darin seine Qualität begründet sieht. 12 Der Forschung gilt Bambino als entschieden unnostalgischer, wenn nicht gar antinostalgischer Roman.13 Dieses Urteil fußt jedoch auf einem Nostalgiebegriff, der verklärende und komödiantische Darstellungsmodi in den Blick nimmt und Nostalgie mit Ostalgie gleichsetzt. Nostalgische Erinnerungen gegenüber der PRL im Sinne einer emotional-sinnlichen und selektiv positiven Perspektive sind dagegen nicht von der Hand zu weisen. So vereint bereits der Titel des Romans in sich drei ikonische Symbole für die Volksrepublik Polen: Die Milchbar Bambino in Szczecin, die in den frühen Neunzigerjahren mit dem beginnenden Kapitalismus einer Videothek weichen musste; den Bambino Plattenspieler, der in 10 KRZYSZTOF CIEŚLIK 2008: »Wydziedziczeni.« In: Twórczość 12, Jg. 757. S. 122-124. Hier S. 122: »Bambino jest jej pierwszą powieścią i jeśli ktoś spodziewał się mocnego uderzenia w brzydszą płeć, będzie mocno rozczarowany. Zamiast tego otrzymujemy sprawnie nakreślony obraz PRL-owskiej rzeczywistości z wyjątkowo wnikliwą obserwacją powojennych losów Polaków«. 11 DARIUSZ NOWACKI, 2008: »Dlaczego PRL mógł się kiedyś podobać.« In: wyborcza.pl am 07.10.2008. URL: http://wyborcza.pl/1,75475,5775960,Dlaczego_PR L_mogl_sie_kiedys_podobac.html. Letzter Zugriff am 07.08.2015: »[P]anoramę ›polskich losów‹ o imponującym zakroju czasowym […], w której historia pisana małym ›h‹ zdecydowanie dominuje nad Historią.« Brygida Helbig-Mischewski nimmt das Wortspiel auf, in dem Geschichten klein und ›die‹ Geschichte groß geschriebenen wird. Demnach zeigen Geschichten in diesem Sinne »eine Vorstellung von der Wirklichkeit von der weniger offiziellen, prosaischeren Seite, von innen heraus« [HELBIGMISCHEWSKI 2009, S. 142: »[P]rzedstawiani[e] rzeczywistości od tej mniej oficjalnej, prozaicznej strony, od podszewki«]. 12 Zur Bedeutung von Authentizität in nostalgischen Narrativen vgl. S. 31. 13 Vgl. PHILLIPS 2012a, S. 22.

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vier Versionen zwischen 1963 und 1972 von der Firma Fonica in Łódź produziert wurde; und das Speiseeis Bambino, das nach wenigen Produktionsjahren in Stargard Szczeciński seit 1968 ebenfalls und noch bis heute in Łódź hergestellt wird.14 Inga Iwasiów selbst reflektiert die nostalgische Dimension in einem Interview als ihr Anliegen: »Ja, es ging mir um die Nostalgie, die ich selbst empfinde. Ich kenne die Milchbars gut, meine Großmutter hat dort gearbeitet. […] Ich habe nirgends meine Großmutter porträtiert, ich wollte aber diese vergessene Stimmung festhalten, aus dem Gewebe der Stadt diese Fragmente der verschmähten Vergangenheit hervorrufen.«15

Iwasiów spricht von einer »vergessenen Stimmung«, einer »verschmähten Vergangenheit«, die sie offenlegen möchte. Sie betont damit ganz explizit die Bedeutung des Emotionalen, Stimmungsvollen für die Erinnerungskultur und spricht Nostalgie eine erinnerungspolitische Funktion zu, nämlich das Schweigen über bestimmte Aspekte der Vergangenheit zu brechen. Für den polnischen Leser dürfte bereits der Titel des Romans als Impuls unwillkürliche Erinnerungen auslösen, die nicht nur auf Szczecin beschränkt sind, weil Bambino sich auf gesamtpolnische Erinnerungsorte beruft. Außerdem bedeutet das italienische Wort im Deutschen »Kind« – auch hierin liegt eine nostalgische Dimension, richtet sich Nostalgie doch nur zu oft auf die Kindheit als Inbegriff einer sorglosen Lebensphase. Der Roman stellt zu Beginn die vier Protagonisten in je einem eigenen Kapitel vor, das erzählt, wie die Person nach Szczecin gelangt ist. Anschließend folgt die Handlung den Lebenswegen der Figuren in Szczecin zwischen 1959 und 1981. In der titelgebenden Milchbar Bambino treffen sie aufeinander – Anna und Ula als Mitarbeiter, Janek als Stammkunde und Marysia als unregelmäßiger Gast und Untermieterin von Ula. Im weiteren Verlauf wird der Leser Zeuge der Entstehung und des Scheiterns von Liebesbeziehungen: Ula verliebt sich in den Mathematikprofessor Stefan, der jüdischer Herkunft ist und nach einer längeren Beziehung mit ihr im Zuge der antisemitischen Regierungskampagne von 1968 aus Polen ausgewiesen wird. Marysia und Janek heiraten und bekommen eine Tochter namens Magda. Janek wird Mitarbeiter der polnischen Sicherheitsbehörde (Urząd Bezpieczeństwa, kurz UB), während Marysias eigenes Leben stagniert. 14 Vgl. ZAPERT 2008. 15 Vgl. ebd.: »Tak, [chodziło mi] o nostalgię, którą sama odczuwam. Znam dobrze bary mleczne, pracowała w nich moja babcia. […] Nie sportretowałam w żadnym wątku mojej babci, chciałam natomiast utrwalić zapomniany nastrój, wywołać z tkanki miasta fragmenty wzgardzonej przeszłości.«

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Die Ehe scheitert, beide verfallen dem Alkohol. Anna wartet am längsten auf das private Glück. Sie heiratet im Alter von 37 Jahren den Kapitän Adam und bekommt mit ihm einen Sohn, Tomek. Dass Adam meistens auf See ist und sie außerdem betrügt, nimmt Anna stoisch hin. Ein glückliches Ende gibt es im Roman für keinen der Protagonisten. Ula kann die Trennung von Stefan nicht verwinden, Anna lebt in einer unglücklichen Ehe, Marysia nimmt sich das Leben und Janek kehrt Szczecin in der Hoffnung auf ein neues Leben in der polnischen Hauptstadt den Rücken. Im Roman ersetzt die Gruppe von vier vormals unverbundenen Menschen die Familie. Als alleinstehende Menschen gelten sie schon zu Beginn ihrer gemeinsamen Geschichte im Jahr 1959 als Außenseiter, und aus dieser Rolle, die sich auch in anderen Kontexten bestätigt, erwächst ihre besondere Position in der Erinnerungslandschaft. Der Leser des Romans begleitet die Figuren durch das private und das berufliche Leben und wird Zeuge ihres Bestrebens, sich eigene verwurzelnde Strukturen zu schaffen. Dabei kommt die Tatsache, dass die leiblichen Verwandten als dysfunktionale Vergleichsfolie auftreten, schon darin zum Ausdruck, dass der Leser die Familiennamen der Protagonisten nicht erfährt, die eine Kontinuität und Verbundenheit zum Ausdruck bringen könnten. Die Herkunft wird verheimlicht, weil sie an Traumata gebunden ist: Marysia erzählt niemandem davon, dass sie auf Anweisung der Mutter im Krieg mehrmals neugeborene Brüder zum Sterben im Wald aussetzen musste; Janek verschweigt, dass sein Vater unbekannt ist und welche soziale Ächtung er deshalb erfahren hat; Anna distanziert sich gedanklich von ihrer streng katholischen Mutter und passt sich an das sozialistische Wertesystem an; und Ula verbirgt ihre deutsche Abstammung. Alle vier suchen in Szczecin einen Raum, in dem sie eine Identität aufbauen können, die sich von genealogisch bedingten Zuschreibungen freimacht. Mit der Kontinuität wird gebrochen, und Vergessen sticht Erinnerung. In dem derart geschichtsvergessenen Raum halten sich trotz allem nostalgische Perspektiven auf die Vergangenheit. Die eigene Herkunft bleibt eine relevante Größe für die Figuren, obwohl sie als zutiefst problematisch empfunden wird und der Wunsch danach, ohne Vergangenheit leben zu können, für alle zur Debatte steht. Sie bewegen sich damit im Spannungsfeld einer (nostalgischen) Aneignung und einer (traumatischen) Verdrängung der eigenen Geschichte. Für Ula und Marysia findet dieses Spannungsfeld auch räumliche Entsprechung in Deutschland und der Ukrainischen Sowjetrepublik. In diesen beiden Figuren kommt der Konflikt von Herkunft und Identität in den Fremdzuschreibungen von Alterität, in der selbst empfundenen polnischer Zugehörigkeit und in der nostalgischen Rückwendung zur eigenen Geschichte besonders prägnant zum Ausdruck.

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Dass Identität und Erinnerung untrennbar verbunden sind, wird mit der neueren erinnerungstheoretischen Debatte und spätestens seit Jan Assmanns Werk Das kulturelle Gedächtnis16 allgemein als selbstverständlich anerkannt. Nostalgie ist von der Erinnerung abhängig; daher ist es naheliegend, dass sie ebenfalls eine enge Verwandtschaft mit Identität aufweist. Wenn Identitätsbildung unter Rückgriff auf Geschichte passiert, so beinhaltet sie in aller Regel die Suche nach Elementen in der Vergangenheit, die positiv zum eigenen Selbstbild beitragen können.17 Kollektive Nostalgie ist dann ein entscheidender Faktor bei der Bildung kollektiver Identitäten. Eine solche Nostalgie definiert Identität zumeist über die Herkunft und deren Kontinuität bis in die Gegenwart, nicht etwa über ein Gefühl von Zugehörigkeit. Diesen Umstand reflektiert Dennis Walder in der Monographie Postcolonial Nostalgias.18 Für seine Thesen zu Wechselwirkungen von kollektiver Nostalgie und Nationalidentität führt er Pierre Noras ›Erinnerungsorte‹19 als Beispiel an, die er weniger als universelle denn als selektive und damit nostalgische Sammlung von Erinnerungen wertet. Er belegt seine Ausführungen dadurch, dass bei Nora die jüdische Vergangenheit Frankreichs partiell, die muslimische gar vollständig ausgelassen worden ist.20 Die französische Nationalidentität wird also über Rückwendungen konstruiert, in denen Selektion und kulturelle Exklusion zusammenfallen. Denkt man diese Appropriierung von Nostalgie weiter, so wird deutlich, dass Nostalgie auch in Kontexten Identitätsbildung vorantreiben kann, die nationalistische Interessen verfolgen. Die Reflexion nostalgischer Phänome-

16 JAN ASSMANN 62007: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. 17 Aleida Assmann greift diesen Gedanken in ihrer Definition des Traumas auf, das sie als Gegenbegriff zu Identität versteht, vgl. ALEIDA ASSMANN 2004, S. 5 sowie S. 117 des vorliegenden Bandes. 18 WALDER 2011, vgl. insb. die Einleitung, S. 1-23. 19 PIERRE NORA 1984-1992: Les lieux de mémoire. Paris. Das monumentale Werk ist nur auszugsweise in den folgenden zwei Ausgaben ins Deutsche übersetzt: DERS. 1998: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Frankfurt am Main sowie DERS. 2005: Erinnerungsorte Frankreichs. Aus dem Französischen von Michael Bayer, Enrico Heinemann, Elsbeth Ranke, Ursel Schäfer, Hans Thill und Reinhard Tiffert. München. 20 WALDER 2011, S. 5.

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ne gibt gerade in diesem Bereich wichtigen Aufschluss über geführte Erinnerungsdiskurse. Svetlana Boym nimmt ebenfalls Bezug auf den Zusammenhang zwischen Nostalgie und Nationalismus, wenn sie unter dem Begriff der restorativen Nostalgie beschreibt, wie nostalgische Erinnerungsnarrative dazu instrumentalisiert werden können, nationale Identität zu stärken. Sie illustriert dies am Beispiel von Gründungsmythen und Verschwörungstheorien, die über den Begriff der Tradition21 einen Sinn für das ›Eigene‹ aufbauen, das im Begriff der Heimat kulminiert und gegenüber einem ›Fremden‹ verteidigt werden muss: »Home is not made of individual memories but of collective projections […]. ›We‹ (the conspiracy theorists) for whatever reason feel insecure in the modern world and find a scapegoat for our misfortunes, somebody different from us whom we don’t like. We project our dislike on them and begin to believe that they dislike us and wish to persecute us. ›They‹ conspire against ›our‹ homecoming, hence ›we‹ have to conspire against ›them‹ in order to restore our imagined community.«22

Eine Gruppe, die sich in ihrer Identität bedroht fühlt, sucht demnach umso dringlicher die Beständigkeit eines positiven Vergangenheitsbildes, an das die Gegenwart in einer kontinuierlichen Linie anschließt und das sich im Hier und Jetzt zu einer ›Heimat‹ verdichten lässt. Dabei wird die Vergangenheit so konstruiert, dass sie sich »complete, stable, coherent, safe«23 anfühlt, wie es Linda Hutcheon schreibt. Um eine solche Kohärenz und Sicherheit propagieren zu können, wird die Ausgrenzung, die kulturelle und soziale Exklusion zur Maxime, die ein ›Fremdes‹ gegenüber dem ›Eigenen‹ ausschließt und eine Kategorisierung in ›Wir‹ und ›Sie‹ propagiert. Die Theorien von Walder und Boym koppeln Nostalgie an einen Identitätsbegriff, der Herkunft zum entscheidenden Merkmal erhebt. Beiden ist aber auch das Element der Alterität eingeschrieben. Bei Walder liegt dieser Umstand in der postkolonialen theoretischen Ausrichtung, die schon im Titel deutlich wird, aber auch Boym beruft sich in ihrer Argumentation auf Mechanismen des Othering. Dieser Begriff meint seit seiner systematischen Einführung in Gayatri Spivaks 21 Die Tradition ist neben Erinnerung und Identität der dritte Schlüsselbegriff in der Erinnerungstheorie Jan Assmanns, vgl. ASSMANN 62007, S. 16: »Die vorliegenden Studien handeln vom Zusammenhang der drei Themen ›Erinnerung‹ (oder: Vergangenheitsbezug), ›Identität‹ (oder: politische Imagination) und ›kulturelle Kontinuierung‹ (oder: Traditionsbildung).« 22 BOYM 2001, S. 43. 23 HUTCHEON 2000, S. 195.

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Essay »The Rani of Sirmur«24 den Vorgang, in dem ein Kolonisator das kolonisierte Subjekt mit Zuschreibungen der Fremdheit und Andersartigkeit belegt, um seinen hegemonialen Anspruch zu festigen und die eigene Identität zu stabilisieren. Bei Walder wie bei Boym steht die politische Instrumentalisierung nostalgischer Geschichts- und Heimatentwürfe in einem engen Zusammenhang mit Mechanismen des Othering. Othering ist längst nicht mehr nur im Zusammenhang mit (post-)kolonialen transkulturellen Begegnungen zu beobachten. In der Diskussion um die Anwendbarkeit postkolonialer Theorie auf Polen werden in der Regel Imperien, etwa das zaristische Russland oder die Habsburgermonarchie, aber auch die Sowjetunion als Hegemonen begriffen.25 So stellt auch Ursula Phillips die Romane von Inga Iwasiów in den Zusammenhang der polnischen Post-Dependency Studies (badania postzależniościowe), die sie als spezifisch polnische Antwort auf die postkoloniale Theorie des Westens begreift, und schreibt: »[…] Poland may be described as a ›postcolonial‹ society, emerging from being ›colonized‹ in the ideological sense by the Soviet system, which in the Polish public psyche is heavily overwritten by the legacy of 19th-century domination/colonization by Tsarist Russia.«26

Sie gibt jedoch außerdem zu bedenken, dass bereits in der Zweiten Republik der Zwischenkriegszeit auch nichtpolnische Minderheiten einer Kolonialisierung durch Polen unterlagen und die hegemonialen Verhältnisse sich dadurch umkehrten.27 Diese komplexen Formen der Macht in der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der die Rollen von ideologischem Aggressor und Opfer 24 GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK 1985: »The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives.« In: History and Theory 3, Vol. 24. S. 247-272. URL: http://www.jstor. org/stable/2505169. Letzter Zugriff am 12.05.2016. 25 Vgl. zum Postkolonialen und der Slavia WOLFGANG STEPHAN KISSEL (Hrsg.) 2012: Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen. Frankfurt am Main et.al. Einen interessanten Beitrag unter besonderer Berücksichtigung Polens und der ehemaligen polnischen Ostgebiete leistet BOGUSŁAW BAKUŁA 2006: »Kolonialne i postkolonialne aspekty polskiego dyskursu kresoznawczego (zarys problematyki).« In: Teksty Drugie 6, S. 11-33 [in englischer Sprach DERS. 2014: »Colonial and Postcolonial Aspects of Polish Borderlands Studies: An Outline.« Aus dem Polnischen von Tadeusz Z. Wolanski und Anna Warso. In: Teksty Drugie 1, S. 96123]. 26 PHILLIPS 2012a, S. 18f. 27 Ebd.

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nicht immer klar definierbar sind, kommen in Inga Iwasióws Bambino zum Ausdruck. Exemplarisch für das transkulturelle Nebeneinander in Szczecin steht etwa die Kapitelüberschrift »POCZTÓWKI, ODKRYTKI, KARTKI […]« (Bambino 114) – alle drei Wörter lassen sich als »Postkarten« übersetzen, jedoch handelt es sich beim ersten Wort um den standardpolnischen Ausdruck, beim zweiten um einen Russismus und beim dritten um einen Germanismus. Auch das einführende Zitat über die »Fremden« in Szczecin hat bereits demonstriert, inwiefern Alterität und Othering eine gewichtige Rolle in Inga Iwasióws Roman spielen und besonders prägnant in der Sprache manifestiert sind. In der Gegenüberstellung des Polnischen mit dem Deutschen (Ula), dem Russischen bzw. Ukrainischen (Marysia) und Jüdischen (Stefan) werden im Roman die Minderheiten der Volksrepublik zum Subalternen28 stigmatisiert. Die erste Frage, die sich mithin stellt, ist im Anschluss an Spivak die nach der Stimme der Minderheiten im Roman. Kann das Subalterne in Szczecin sprechen und wenn ja, wie ist seine Stimme gestaltet? Tatsächlich werden die Minderheiten im Eingangszitat nicht durch sich selbst, sondern durch die polnischen Bewohner der Stadt beim Namen genannt. Mit den Bezeichnungen »Niemra« (Deutsche), »Ruska« (Russische) und »Żydek« (Jüdchen) erfahren die Figuren ein Othering durch drastische Beleidigungen. Um Mechanismen der Exklusion im Roman zu untersuchen, eignen sich daher die Beobachtungen Judith Butlers zum Gewaltpotential von Sprache in ihrem Text Excitable Speech.29 Im Rekurs auf J.L. Austins Sprechakt- und Louis Althussers Interpellationstheorie entwickelt Butler nicht nur Thesen zu den Wirkmechanismen sprachlicher Gewalt, sondern auch zur Wiederaneignung und positiven Umwertung von hate speech durch die Opfer. Sie sieht demzufolge im verletzenden Wort sogar ein »instrument of resistance […] that destroys the prior territory of its operation.«30 Die Anwendbarkeit dieser Überlegungen auf Prozesse der kulturellen Ausgrenzung in Inga Iwasióws Roman steht zu untersuchen. Nostalgie kann ebenso wie Othering zum Mittel einer dominanten Kultur werden, um die eigene Identität zu bekräftigen und zu stabilisieren. Die polnische Identität wird im Roman aber auf den Prüfstand gestellt. Zwar gibt es die Ausgrenzung durch das Othering von Minderheiten, jedoch gibt es keine polni28 Vgl. GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK 2008: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subaltern Artikulation (= Texte zur Theorie der politischen Praxis 6). Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Wien. 29 JUDITH BUTLER 1997: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/London. 30 Ebd., S. 163.

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sche Meistererzählung zur Geschichte von Szczecin, auf die nostalgisch zurückgegriffen werden könnte. Von Relevanz ist hierbei, dass die nostalgische Identitätsbildung nationalistischer Prägung von Konzepten der Herkunft ausgeht, postkoloniale Identitäten jedoch durch Zuschreibungen und Zugehörigkeitsgefühle entstehen. Diese verschiedenen Möglichkeiten der Identitätsbildung geraten auch in Bambino in Konflikt. Im Wechselspiel von Othering, Verdrängung und nostalgischer Wiederaneignung der Vergangenheit entsteht mithin das Bild einer brüchigen Gesellschaft. Am Beispiel von Marysia und Ula, den nominell nichtpolnischen Protagonistinnen, zeigt sich, wie Minderheiten-Identitäten nicht zuletzt durch nostalgische Rückwendungen konstruiert werden, um gleichzeitig in Konflikt mit Alteritätszuschreibungen zu geraten. Dabei schreibt Nostalgie in Marysias Fall Minderheitengeschichte, während in Ulas Fall der Kampf gegen die Nostalgie als eine Abwehr nationalistischer Meistererzählungen zu lesen ist.

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IN

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Die Protagonisten in Bambino versuchen verschiedentlich, sich der eigenen Identität zu versichern. Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern Nostalgie als Mittel der Identitätsbildung fungieren kann. Zwei Funktionen von Nostalgie treten im Roman zutage: Im Fall von Marysia als einer Repräsentantin der östlichen Grenzgebiete ist Nostalgie ein Instrument, sich gegen eine nationalkollektive volksrepublikanische Meistererzählungen durchzusetzen und Minderheitengeschichte in den Erinnerungsdiskurs einzubringen. In Bezug auf Ulas deutsche Herkunft ist Nostalgie dagegen negativ konnotiert, da sie in den Kontext nationalistischer Instrumentalisierung gestellt wird. Hier spielt auch die besondere Komplexität von Ulas Beziehung mit Stefan, der jüdischer Herkunft ist, eine Rolle. Das Russische, das Deutsche und das Jüdische fungieren gleichsam als alteritäre Phänomene in der volksrepublikanischen Gesellschaft, deren Einfluss auf nostalgische Erinnerungen sich in der Analyse deutlich herausstellt. Russenschlampe Marysias Lebensgeschichte bis zu ihrer Ankunft in Szczecin 1959 eröffnet den Roman. Die »Repatriierung«31 ihrer Familie in die niederschlesische Provinz aus den östlichen Grenzgebieten Polens, die nach 1945 an die Sowjetunion abgetre-

31 Zum euphemistischen Beigeschmack dieses Begriffs vgl. MUSEKAMP 2010, S. 92.

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ten werden, erfolgt erst 1957. Sie ist damit historisch zu denjenigen zu zählen, die die freiwillige Ausreise aus der Sowjetunion in Anspruch genommen haben, welche polnischen Staatsbürgern zwischen 1955 und 1958 ermöglicht wurde. 32 Zu diesem Zeitpunkt ist Marysia 17 Jahre alt. Sie entschließt sich, nicht bei ihrer Familie zu bleiben, sondern eine Ausbildung in Szczecin zu beginnen, so dass sie die Eltern aus der Ferne finanziell unterstützen kann. Mit der Entscheidung für eine Ausreise stellt sich die Frage der eigenen Identität im Rekurs auf die Sprache, die in Sambor und Drohobycz, Marysias Herkunftsorten, zwischen dem Polnischen, dem Russischen und dem Ukrainischen schwankt. »Denn welche Sprache soll man als Muttersprache bezeichnen und welche als eine, die nur zeitweilig in Gebrauch ist, schließlich spricht niemand, ja wie denn auch, von ›Mundart‹? Wer spricht unsere Sprache, wenn das doch bedeutet, ein bisschen so und ein bisschen so zu reden, eigentlich abwechselnd? Und wie könnte es anders sein, wenn es doch immer schon so war? Dass die Kinder am dreckigen Flüsschen hinter den Häusern anders sprachen, die Frau Lehrerin anders, aber schon zuhause am Abend ging man irgendwie den Mittelweg dieses Sprechens. Des eigenen und dessen des Vaters (das heißt, des Ehemanns), der eine andere Sprachmelodie hat, andere Plänkeleien, Sprüchlein. Es hilft alles nichts, verflucht noch eins, man muss solche Entscheidungen fällen. Die einzig möglichen, und danach abwarten. Der Rest hängt von den anderen ab.«33

Der Begriff gwara, hier als »Mundart« übersetzt, bezeichnet grundsätzlich einen regiolektalen und soziolektalen Sprachgebrauch. In den früheren polnischen Ostgebieten war die gwara insbesondere durch russische und ukrainische Einflüsse charakterisiert.34 Marysias Heimat wird am Beispiel ihrer Sprache als eine 32 Vgl. ebd., S. 97. 33 »Bo który język uznać za ojczysty, a który za chwilowo używany, wszak nikt nie powie, niby jakim sposobem, ›gwarę‹? Kto mówi po naszemu, jeśli to znaczy mówienie trochę tak i trochę tak, właściwie na przemian? Jak by to inaczej mogło być, skoro było tak zawsze? Że inaczej dzieciaki nad brudną rzeczką za domami, inaczej pani nauczycielka, ale już w domu wieczorem jakby się szło środkiem tego mówienia. Własnego i ojca (znaczy męża), który ma inną strużkę pieśni, pogaduszek, odzywek. Nie ma co, naser mater, trzeba podjąć takie decyzje. Jedyne możliwe, a potem czekać. Reszta zależy od innych« (Bambino 10). 34 Metasprachliche Reflexionen, die durch gwara ausgelöst werden, durchziehen das Kapitel über Marysias Vorgeschichte: Der Begriff »haczka« (Hacke, hochpolnisch: motyka) etwa wird als einer reflektiert, den man nicht in den Ostgebieten, sondern in Schlesien benutzt (Bambino 13). Andere Ausdrücke wie »karman« (Geldbörse, hoch-

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Region der friedlichen Transkulturalität inszeniert, als ein Ort, an dem man sich nicht auf eine Sprache festlegen muss, sondern die Differenzen aushält, solange man sich nur versteht. Damit trägt die Darstellung zum Diskurs der ›Verlorenen Gebiete‹ als einem idyllisch-nostalgischen Sehnsuchtsort bei.35 Dabei verstehen die Sprechenden selbst ihre Ausdrucksform als eigenständige und identitätsstiftende Sprache. Hier zeichnet sich ein Konflikt ab: Die Sprache, derer sich Marysia und ihre Familie bedienen, ist mehr als die Summe zweier essentieller Bestandteile, die für klar voneinander abgrenzbare Kulturen stehen und zwischen denen man sich entscheiden kann. Sie ist ein eigenständiges Drittes. Sich auf eine Muttersprache festzulegen, die nur Polnisch oder Russisch sein kann,36 bedeutet nicht etwa nur, sich eines Teils der eigenen Identität zu entledigen und den anderen beizubehalten. Vielmehr heißt es, die Identität völlig zu verlieren und eine neue aufgezwungen zu bekommen. Aber die Umstände, denen Marysias Familie ausgesetzt ist, nehmen darauf keine Rücksicht: Man spricht entweder Polnisch und kann dann als Pole umgesiedelt werden, oder man spricht Russisch und ist fortan Sowjetbürger. Als Marysia zur Ausbildung an die Schwesternschule in Szczecin kommt, ist als Erweiterung der gesprochenen Sprache die Schrift das Merkmal, das sie als Fremde identifiziert: »Die ersten Monate in Szczecin waren seltsam. Die Schule zehrte an ihr. Am meisten zehrte die eigene Sprache an ihr. Noch einige sprachen ebenso weich wie sie. Darum ging es also nicht mit der Sprache. Nicht um den Akzent. Im Übrigen sprach sie überhaupt nicht viel. Sie hatte so viel aufzuholen. Ein anderes System. Mehr verschiedene Fächer. Es ging um die Bücher. Um die Buchstaben. Sich umzustellen von der Kyrilliza auf das lateinische Alphabet. Das war seltsam und schwierig. […] Marysia stammelt wie ein Kind. Sie

polnisch: portfel, Bambino 15) oder Verkleinerungsformen auf -eńko oder -eńka, etwa »serdeńko« (Herzchen, hochpolnisch: serdeczko oder serduszko), die im ostpolnischen Raum beheimatet sind, treten unkommentiert auf. Sogar ganze Sätze der direkten Rede stehen in der gwara, etwa »Gehen wir schon, Kleine, gehen wir, Herz« [»Pojedziem my już, maleńka, pojedziem, serce« (Bambino 19)]. 35 Zu diesem Diskurs vgl. BAKUŁA 2006, S. 12 bzw. BAKUŁA 2014, S. 97f. 36 Zur Rolle des Ukrainischen in der Sowjetunion und seiner Verdrängung durch das Russische vgl. ROLAND MARTI 1998: »Sprachenpolitik im slavischsprachigen Raum: Das Verhältnis ›großer‹ und ›kleiner‹ slavischer Standardsprachen.« In: Zeitschrift für Slavische Philologie 2, Vol. 57. S. 353-370. Hier S. 359-361.

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buchstabiert auf Polnisch. Niemand nimmt ihr das besonders übel. Sie ist nicht die Einzige.«37

Dadurch, dass Marysia weicher spricht als andere, wird sie sogleich als Fremde identifizierbar. Mehr noch leidet sie aber unter dem Verlust des Leseverständnisses. Zuvor war Marysia eine Musterschülerin, die nach Herausforderungen suchte. Nun ist sie auf das Buchstabieren zurückgeworfen. Hier sieht es tatsächlich so aus, als sei Marysia als Repräsentantin des Subalternen in Szczecin wortwörtlich ihrer Stimme, ihrer Sprache beraubt. Die Dichotomie von Eigen und Fremd spielt auch in Marysias Beziehung zu Janek von Beginn an eine Rolle. So muss sich Marysia in Janeks Familie als Polin erst behaupten: »Janek musste erzählen, nach Hause schreiben, dass er eine Frau aus dem Osten heiratet. Von dort. Großvater hätte das nicht überlebt. Aber er lebt ja jetzt schon nicht mehr. Die Tanten und Onkel geht das überhaupt nichts an. Sie wundern sich nur ein bisschen. Die Ruskis sind immer noch Ruskis. Wilde. […] Sie ist Polin? Was soll das denn für eine Polin sein? Polen werden hier geboren. Wir sind Polen. Aber was soll’s.«38

Das Verständnis von Identität ist hier essentialistisch und herkunftsbezogen: Es besteht die Gegenüberstellung von ›Wir‹ und ›Sie‹, die nicht nur räumlich durch den Geburtsort, sondern auch sprachlich durch die schlesische gwara (»My som Polacy« statt hochpolnisch »(My) Jesteśmy Polakami«; auch die schlesische Aussprache, die orthographisch im »som« statt »są« markiert ist, sticht ins Auge) gekennzeichnet. Identität bemisst sich für Janeks Familie am Begriff der Tradition und der Kontinuität. Sie kann nur als Erbe bestehen, nicht durch ein Zugehörigkeitsgefühl erworben werden.

37 »Pierwsze miesiące w Szczecinie były dziwne. Pochłonęła ją szkoła. Najbardziej pochłonął ją własny język. Niektórzy mówili tak miękko jak ona. Nie o to więc chodziło z językiem. Nie o akcent. Zresztą za wiele nie mówiła. Miała sporo do nadrobienia. Inny system. Więcej innych przedmiotów. Chodziło o książki. O litery. Przestawić się z cyrylicy na łaciński alfabet. Ty było dziwne i trudne. […]. Marysia duka jak dziecko. Składa polskie litery. Nikt nie ma tego bardzo za złe. Nie ona jedyna« (Bambino 87). 38 »Janek musiał powiedzieć, napisać do domu, że żeni się z kobietą ze wschodu. Stamtąd. Dziadek by tego nie przeżył. Ale nie żyje. Ciotek i wujków to nie ma prawa obchodzić. Dziwią się trochę tylko. Ruscy są zawsze ruscy. Dzicy. […] To Polka? Jaka z niej Polka? Polacy rodzili się tutaj. My som Polacy. Ale niech tam« (Bambino 96).

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Janek wendet solche Exklusionsmechanismen zunächst nicht auf Marysia an. Im Gegenteil scheint die neu gefundene Zweisamkeit für beide ein Mittel gegen das Gefühl des Fremdseins zu bieten – Marysia fühlt sich mit Janek nicht auf ihre Herkunft aus den Ostgebieten reduziert, während Janek seinen Status als vaterloses Kind abzulegen vermag. Mit diesen Vergangenheiten wollen sie abschließen: »Das ist Vergangenheit, sie haben nun Kraft für die Zukunft […]. Die Vergangenheit soll sich zum Teufel scheren!«39 Die Ostgebiete, aus denen Marysia stammt, werden also zwar zunächst als ein Ort funktionaler und gelebter transkultureller Identität nostalgisch dargestellt. Diese Identität, die zunächst ganzheitlich und konfliktfrei erscheint, wird jedoch nach der Umsiedlung zum Problem, weil sie in der neuen Umgebung als alteritär gilt. Stellenweise verschärft das die nostalgische Sehnsucht nach der alten Heimat, aber schon bald ist das Erbe der Herkunft eine Last, die Marysia abzulegen sucht. Die Identifikation damit reißt jedoch nicht ab. Noch beim Besuch ihres Cousins empfindet Marysia beim Klang des »Grenzland-Polnischen« ein Gefühl von Vertrautheit und Schönheit.40 Eine nostalgische Sehnsucht ist hier nicht zuletzt durch den sinnlichen Aspekt des Hörens angelegt. Marysia besucht schließlich ihre alte Heimat zusammen mit ihrer Tochter Magda, weil sie »plötzlich Sehnsucht verspürt«41: »Das Kind sollte es sehen. Man sollte es dem Kind zeigen. […] Danach lohnt es sich dann auch, etwas anderes zu finden. Einen anderen Ort, den man ›Heimat‹ nennen kann. Das heißt, die Heimat ist ja hier, Volkspolen, über das so schöne Verse geschrieben wurden, gerade richtig für die Fibel, aber Marysia mischt sich in Politik nicht ein.«42

Noch immer begreift Marysia ihren Herkunftsort als eigentliche Heimat, auch wenn sie sich sogleich selbst zurechtweist. Sie reflektiert auch ihre eigene Erinnerung als nostalgisch: Ȇber dem Bild, das sie im Kopf hat, liegt so etwas wie

39 »Przeszłość, mają siłę na przyszłość […]. Przeszłość niech idzie w cholerę!« (Bambino 97). 40 »Dieses Grenzland-Polnisch, anerkanntermaßen das schönste« [»Ta kresowa polszczyzna, uznawana za najpiękniejszą« (Bambino 238)]. 41 »[…] nagle czuje pragnienie« (Bambino 259). 42 »Dziecko powinno zobaczyć. Trzeba dziecku pokazać. […] Potem warto znaleźć coś innego. Inne miejsce nazywane ›ojczyzną‹. To znaczy ojczyzna jest tu, Polska Ludowa, o której napisano piękne wiersze, w sam raz do czytanek, a Marysia nie miesza się do polityki« (Bambino 257).

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Patina. Eine veredelte Form des Verfalls, des Belags.«43 Auf der Reise kommt es zum Abgleich mit der Wirklichkeit, die den positiven Erinnerungen nicht standhalten kann. Indem Marysia sich dem Gegenstand der Nostalgie stellt, verliert sie ihn. Auf der Rückfahrt nach Szczecin weint sie auf die Perlenkette, die sie von ihrer Freundin Nastia geschenkt bekommen hat und »außer der sie nichts mehr hat. Nichts hat sie. Nichts. Alles ist vergangen.«44 Mit dieser Erkenntnis kommt Marysia auch der Teil ihrer Identität abhanden, den sie sich bis hierhin durch ihre nostalgischen Erinnerungen bewahrt hat. Als die Ehe mit Janek scheitert, holt die Vergangenheit sie ein, und in den Konflikten wird die Herkunft, die nicht mehr Heimat ist, zur Waffe. Beide beginnen nun mittels Hassrede, den jeweils anderen einem Othering zu unterziehen: » – Du, du… Russische. Du hattest nichts, als ich mich deiner annahm. Fahr doch zurück in dein Russenkaff am Arsch der Welt – begann er sie nachzuäffen. Den Akzent ihrer Eltern imitierte er durchaus gekonnt, wurde ihr klar. Aber nicht ihren eigenen. Doch irgendwen imitierte er schon. Sie dachte, dass jetzt ganz gut zum Vorschein kam, was er wirklich über sie dachte. Ja, für ihn ist sie eine Russische. Für diesen Bauern aus dem Umland von Poznań, diesen ungewollten Bastard, für diese Null. Ist sie eine Russische.«45

Janek bedient sich nicht nur eines derben und verletzenden Vokabulars, sondern er verwendet auch den Akzent, der Marysia seit Beginn ihres Lebens in Szczecin als eine Andere gebrandmarkt hat, gegen sie. Bedenkt man, wie stark Sprache sich hier als identitätsstiftend gezeigt hat, sind seine Worte besonders grausam. Marysia setzt sich zur Wehr, indem sie seine Beleidigungen aufgreift und sie sich aneignet. Von einer positiven Umwertung im Sinne Judith Butlers kann jedoch kaum die Rede sein, denn Marysia nutzt etwa den Begriff der »Russenschlampe« lediglich als Vergleichsmoment, um ihrerseits Janek aufzuzeigen, dass er noch weniger wert ist als sie: 43 »Na obrazie, który nosi w głowie, coś jak patyna. Uszlachetniony rodzaj rozkładu, nalotu« (Bambino 262f.). 44 »Płacze nad koralami, poza którymi nic nie ma. Nic nie ma. Nie ma. Wszystko odległy« (Bambino 267). 45 » – Ty, ty… ruska. Wziąłem cię bez niczego. Możesz jechać na to swoje ruskie zadupie – zaczął ją przedrzeźniać. Całkiem udatnie naśladował akcent jej rodziców, uświadomiła sobie. Przecież nie jej. Ale kogoś naśladował. Pomyślała, że wypuszcza na powierzchnię to, co o niej naprawdę myśli. Tak, dla niego jest ruska. Dla tego chłopka spod Poznania, dla tego niechcianego bękarta, dla tego zera. Jest ruska« (Bambino 275).

150 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS » – Lieber bin ich eine Russische als ein Banause vom Dorf – schleudert sie ihm entgegen, und nur beim ersten Mal tut es ihr Leid. – Lieber bin ich eine Russenschlampe als ein Stasi-Schwein – ruft sie ein anderes Mal. – Lieber hab ich einen russischen Vater als eine Mutter, die eine Hure ist – sie erspart ihm nichts.«46

Das Element des Othering tritt besonders in dem letzten Vorwurf zutage, in dem Marysia Janek als Bastard beschimpft und damit seine ureigenen Ängste und Traumata angreift. Gleichzeitig versucht sie, seinen Angriffen die Macht zu nehmen, indem sie sich klar zu ihrer Vergangenheit bekennt und sich seine Verletzungen als Selbstbeschreibungen aneignet, dabei aber bei der pejorativen Wortwahl bleibt. Trotz der negativen Konnotationen ist jedoch eine bekennende Aneignung der Identität auszumachen. In diesem kathartischen Moment ist Marysia wieder ein Mensch mit einer Vergangenheit – wenn auch ohne jedes nostalgische Potenzial. Die Entwicklung von einer alteritären Identität über eine Identitätslosigkeit hin zu einer negativen Identität mündet aber schließlich zurück in Nostalgie. Während Marysia und Janek zu Beginn ihrer Ehe versuchen, sich in die Geschichtslosigkeit zu flüchten, zieht sich Marysia am Ende ihres Lebens ganz in die Vergangenheit zurück: »Marysia lebt im Erinnern.«47 Dabei wird durch den Begriff des »rozpamiętywanie«, des Erinnerns, das Prozessuale stark betont, gegenüber etwa »pamięć«, der Erinnerung. Marysia lebt demnach nicht an den Orten ihrer eigenen Vergangenheit, sondern sie lebt durch den Versuch, derer habhaft zu werden. Sie fährt noch einmal in die Ukraine: »[S]ie weint viel mit Nastia, die andere Dinge durchlebt, die irgendwie ihr gehören, so weit entfernt wie aus einer anderen Galaxis – sie ist Großmutter geworden, wonach sie eigentlich schon lange aussah. Sich in ihrem Gesicht und ihrem Leben widerzuspiegeln ist nicht besonders zufriedenstellend, eher stimmt es traurig. Dieser zweite Besuch ist kein gelungener, sie kann sich mit niemandem von Herzen unterhalten, außer mit der weinerlichen Nastia. Die Cousins und Cousinen sind zurückhaltend. Nur unterschwellige Bemerkungen, die sich gegen Janek richten. Die Tante ist gestorben. Trotz allem – es ist eine Erleuchtung. Sie stellt fest, und dieses Wissen kommt völlig überraschend über sie, dass sie dort ein echtes Leben hatte und dass sie gern immer noch dort wäre.«48 46 » – Lepiej być ruską niż nieukiem ze wsi – rzuca i tylko pierwszy raz jest jej przykro. – Lepiej być ruską suką niż ubecką świnią – woła kiedy indziej. – Lepiej mieć ojca ruskiego niż matkę kurwę – niczego mu nie oszczędzi« (Bambino 276). 47 »Marysia żyje rozpamiętywaniem« (Bambino 341). 48 »[D]użo płacze z Nastią, która żyje innymi, jakimś swoimi, sprawami, odległymi niczym obca galaktyka – została babcią, na którą od dawna wygląda. Przeglądanie się

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Mit dem zweiten Besuch stellt sich bei Marysia die nostalgische Sehnsucht wieder ein. Diese Nostalgie lehnt sich nicht mehr an tatsächliche Erinnerungen an. Vielmehr ist sie ausschließlich noch Ausdruck einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit, ein verzweifeltes Verlangen nach nicht etwa einer spezifischen, sondern irgendeiner Identität, durch die sie existieren kann. 49 Marysias Selbstmord inszeniert auf radikale Weise das Scheitern ihrer nostalgischen Suche nach einer Identität, die sich zwischen Verdrängung und Aneignung, Fremd- und Selbstzuschreibung schließlich vollends aufgelöst hat. Es bleiben stets die ›Verlorenen Gebiete‹, die Marysias Identitätskonflikte modellieren. Dabei spielt die nostalgische Inszenierung dieses Raums eine gewichtige Rolle. Er wird als Gegenmodell zum polnischen Szczecin dargestellt, und die Geschichte der »Repatrianten« in der Volksrepublik wird mittels nostalgischer Rückwendung in den Roman eingebunden. Nostalgie als Mittel der Konstruktion von Identitäten fungiert damit nicht nur als Element einer patriotischen Nationalgeschichtsschreibung wie bei Svetlana Boym und Dennis Walder, sondern auch als Widerstandsmechanismus des Anderen. Im Vergleich mit der essenzalistischen Gegenüberstellung von ›Wir‹ als der nostalgischen und nationalistischen Mehrheit und ›Sie‹ als der als fremd und anders konstruierten Minderheit ist damit die Perspektive für Marysia umgekehrt: Nostalgische Erinnerungen werden zum Instrument des Anderen, das in der Vergangenheit seine Identität sieht. Sie bewahren die Erinnerungen der Minderheit und modellieren einen Kampf gegen die Geschichtsvergessenheit der Volksrepublik. Damit bleibt das Subalterne eben nicht stumm, sondern schafft sich eine nostalgische Stimme im Roman. Niemra »Ula ist natürlich ein polonisierter Name. Ulrike, so hatte sie es in den Papieren stehen, bevor sie sie tief vergrub.«50 Mit diesen Worten betritt Ula die Bildfläche. Ihre Zerrissenheit zwischen einer polnischen und einer deutschen Identität w jej twarzy i życiu nie daje satysfakcji, zasmuca. Ten drugi wyjazd nieudany, nie ma z kim o czym od serca, poza tą płaczliwą Nastią, rozmawiać. Kuzynostwo powściągliwie. Jakieś insynuacje wokół Janka. Ciotka nie żyje. Mimo to – olśnienie. Twierdzi, ta wiedza spływa na nią niespodziewanie, że prawdziwe życie miała tam i tam by chciała być nadal« (Bambino 342). 49 Dieses Phänomen fasst Susan Stewart als das »desire for desire« (STEWART 1993, S. 23). Vgl. hierzu ausführlich S. 210-212. 50 »Ula to oczywiście spolszczone imię. Ulrike, tak miała w papierach, zanim je głęboko schowała« (Bambino 32).

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zeigt sich bereits an ihrem Namen.51 Den deutschen Namen Ulrike hat sie abgelegt, er steht wie ein Fremdkörper im polnischen Text, zumal er nicht deklinierbar ist, weil es im polnischen keine Feminina gibt, die auf -e enden. Dennoch taucht er an signifikanten Stellen im Roman wieder auf, als würde ihre Vergangenheit die polonisierte Deutsche wieder einholen. Ihre Familienabstammung tabuisiert Ula. In emotionalen Momenten kommt sie jedoch durch die Verwendung des Namens zum Vorschein, zum Beispiel bei der Erinnerung an den Tod der Mutter: »Ula verfügt über Ulrikes Gedächtnis, auch wenn sie das niemandem erzählt.«52 Dabei entscheidet sich Ula nicht aus kultureller oder gar nationaler Überzeugung für ein Leben in Polen. Vielmehr ist ihre Loyalität eine regionale: Sie hängt an ihrer Stadt und will sich von ihr nicht trennen. Während die anderen drei Protagonisten sich erst aktiv nach Szczecin begeben und ihre Ankunft dort eine wichtige Rolle spielt, wird Ulas Verbleib in Szczecin als das Ausbleiben einer Entscheidung inszeniert, woraus ein Identitätskonflikt zwischen dem Deutschen und dem Polnischen folgen wird: »Jedes von ihnen kommt aus einer anderen Richtung, legt einen anderen Weg zurück. Drei mit dem Zug. Eines von ihnen, eine, Ulrike-Ula, ist schon vor Ort. Ulas Weg ist der Verzicht auf den Weg, der nicht vollzogene Fahrscheinkauf, die nicht gefällte Entscheidung über Route und Transportmittel. Ihr Weg ist der Text, die Niederschrift, das Wort. Denn aus Ulrike… irgendeiner, wird Ula… irgendeine.«53

Dass Ula in Szczecin bleibt, ist weder die Folge einer durchdachten Entscheidung für Polen noch gegen Deutschland. Sie bleibt zunächst umständehalber. Die Identität, die sich im Folgenden herausbildet, entsteht auf Grundlage dieser zufälligen Entwicklung – und sie wird sprachlich manifestiert im Namen, wie das Zitat betont. Dabei ist Ula ständig räumlich mit ihren eigenen Erinnerungen konfrontiert, so dass keine Projektionsfläche entstehen kann, die nostalgische spielerische Weiterentwicklungen zulässt. In Ulas Fall ist nur die zeitliche Di-

51 Für Marysia gibt es übrigens eine ähnliche, allerdings im Roman weniger präsente konstitutive Bedeutung des Namens, denn in den ehemals polnischen Ostgebieten heißt sie Maria oder Maryjka, vgl. z.B. Bambino 15 sowie 265. 52 »Ula ma pamięć Ulrike, chociaż nikomu nie opowiada« (Bambino 160). 53 »Każde z nich jedzie z innej strony, pokonuje inną drogę. Troje pociągami. Jedno z nich, jedna, Ulrike-Ula, jest na miejscu. Jej droga to rezygnacja z drogi, niewykupienie biletu, niedecydowanie na trasę i środek lokomocji. Jej droga jest tekstem, zapisem, słowem. Bo z Ulrike... Jakiejś, staje się Ulą… jakąś« (Bambino 64).

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mension der Erinnerung unerreichbar, der Raum ist dagegen konstant geblieben und für sie zugänglich. Anfangs ist es noch miteinander vereinbar, Deutsche zu sein und in Szczecin zu wohnen: »Sie verbirgt nicht, dass sie Deutsche ist, eine niemra.«54 Ula benutzt sogar selbst den pejorativen Begriff für sich, und folgerichtig wird die deutsche Identität in der Folge immer problematischer. Vielmehr stellen sich diejenigen Erlebnisse, die Ula mit dem deutschen Stettin verbindet, als traumatisch heraus: von der Einberufung des Vaters und der Brüder, die ihre Kindheit jäh beenden, über die einsamen Kriegsjahre, die Vergewaltigungen durch die Rote Armee 1945 und den jämmerlichen Tuberkulose-Tod ihrer Mutter. Es gibt hier für Ula keine positiven Erinnerungen. Es zeigt sich in einem Gespräch Ulas mit Janek, dass sie Identität nicht als Folge einer nationalen oder familiären Herkunft begreift, sondern als bewusste und bejahende Identifikation: » – Warum fährst du eigentlich nicht zu deinen Leuten? – fragte er, fragte er immer wieder, ganz offen. Als einziger. Sie lachte nur. – Wozu? Zu wem? Meinem Vater geht es gut, mein Bruder ist mit der Familie nach Australien gegangen, über West-Berlin – das hatten sie plötzlich beschlossen, sie hatte nichts davon gewusst, natürlich nicht, davor hatte sie ja auch nichts über sie gewusst. Sie waren erstmal zum Vater, und dann diese seltsame Entscheidung, so weit weg. – Ehrlich gesagt, ich war ihnen nicht besonders verbunden. Andere Beschäftigungen, in der Kindheit. Ein ganz anders erlebter Krieg. Eine langjährige Pause – sie sagt ihm das ehrlich, vielleicht nennt sie alles zum ersten Mal so deutlich beim Namen.«55

Janek fragt nach »ihren Leuten« und vollzieht damit ein Othering durch die Konstruktion eines polnischen ›Wir‹ und eines deutschen ›Sie‹. Ula widersteht dieser Zuschreibung. In ihrer Antwort zeigt sich, dass es für sie nicht die Blutsverwandtschaft ist, die Verbindung schafft, sondern die gemeinsame Erfahrung. Zugehörigkeitsgefühl empfindet sie nicht gegenüber ihrer Familie, sondern ge54 »Nie ukrywa tego, że jest Niemką, niemrą« (Bambino 90). 55 » – Czemu ty właściwie nie jedzisz do swoich? – zapytał, pytał raz po raz, otwarcie. On jedyny. Tylko się uśmiechała. – Po co? Do kogo? Ojciec ma się dobrze, brat wyjechał z rodziną do Australii, przez Berlin Zachodni – tak zdecydowali nagle, nic o tym nie wiedziała, normalne, przedtem też niczego o nich nie wiedziała. Przedostali się do ojca, a potem taka dziwna decyzja, tak daleko. – Prawdę mówiąc, nie byłam z nimi specjalnie związana. Inne zajęcia, w dzieciństwie. Inaczej spędzona wojna. Wieloletnia przerwa – mówi mu to szczerze, może pierwszy raz wszystko tak dokładnie nazywa« (Bambino 335).

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genüber der Stadt Szczecin und den Menschen, die ihren Lebensweg an diesem Ort geteilt und begleitet haben. Identität ist damit nicht Resultat eines Erbes, keine kontinuierliche Fortführung einer Tradition. Diese Identität aber, die nicht an eine nationalkulturelle Herkunft oder biologisch-familiäre Abstammung gebunden ist, ist dann auch nicht zwangsläufig nostalgisch. Ula ist zwar nicht gänzlich frei von nostalgischen Gedanken. Sie weist sie jedoch stets von sich und deklassiert sie bereits im Entstehen als nutzlos und unvernünftig. Beim Besuch an der Ostsee wird sie so etwa von intensiven Erinnerungen an Familienurlaube in den Dreißigerjahren, als sie noch ein kleines Mädchen war, erinnert: »Die Kurorte, in die der Vater die Familie in den Dreißigerjahren mitnahm, Ahlbeck, mit einer Promenade wie am Mittelmeer, mit zarten Häuschen, die auf den mit Strandkörben vollgestellten Strand schauten. Mit den Wanderwegen, die sich bis nach Heringsdorf hinzogen, zu den Nachbarorten. Mit der Fähre nach Swinemünde und mit den Passagierschiffchen auf die Felseninsel Usedom. Mit den Holzbrücken, die sich weit ins Meer vorschoben, mit den Cafés, die auch Meeresfrüchte und Fisch anboten, nicht unbedingt aus der Ostsee. Nach dem Krieg wurde die Küste aufgeteilt, deshalb waren solche Erinnerungen nur ein nebliger Ausblick, kaum ein Eindruck, der sich erneuerte, wenn sie sich auf die hölzerne Mole in Międzyzdroje stellte, sie wiederholte nicht, nicht einmal in Gedanken, denn wozu auch, den deutschen Namen. Die Mole verband sie mit Spaziergängen, mit Mama, die ein Sommerkleid und einen dazu passenden Hut trug, mit Papa (sogar ohne Anzeichen einer Uniform), mit den Brüdern. Dazu noch ein bunter Ball, ein Drachen, Eis. Ein solches Bild, es nutzt niemandem zu irgendetwas. Man weiß nicht einmal, ob es echt ist.«56

56 »Kurorty, do których ojciec zabierał rodzinę w latach trzydziestych, Ahlbeck, z promenadą jak nad Morzem Śródziemnym, z lekkimi domami patrzącymi w stronę zastawionej koszami plaży. Z ścieżkami spacerowymi ciągnącymi się do Heringsdorf, do sąsiednich miejscowości. Z promem do Schwenemünde (sic!) i pasażerskimi stateczkami na skalistą Insel Usedom. Z drewnianymi pomostami wysuniętymi daleko w morze, z kawiarniami serwującymi także owoce morza i ryby, niekoniecznie złowione w Bałtyku. Po wojnie wybrzeże uległo podziałowi, więc tamte wspomnienia były tylko mglistym powidokiem, ledwie wrażeniem, odnawianym, gdy stawała na drewnianym molo w Międzyzdrojach, nie powtarzała nawet w myślach, bo po co, niemieckiej nazwy. Molo kojarzyło się jednak ze spacerami, z mamą ubraną w lekką sukienkę i odpowiedni do tego kapelusz, z tatą (nawet bez zapowiedzi munduru), z braćmi. Dodać do tego kolorową piłkę, latawiec, lody. Obrazek rodzajowy, nikomu potrzebny do niczego. Nie wiadomo czy prawdziwy« (Bambino 225).

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In diesem Gedankenstrom offenbart sich Nostalgie auf vielfältige Weise. Ulas Gedanken verfallen in die detailgetreue Beschreibung einer idyllischen, geradezu arkadischen Landschaft. Gleichzeitig reflektiert sie die absolute Unwiederbringlichkeit dieses Bildes. Die Erinnerung ist »neblig« und dadurch nicht greifbar oder stabil. Sie ist außerdem nutzlos (»denn wozu auch«). Noch nachdem Ula dieses nostalgische Erinnern als Unfug abtut, wird das Bild der landschaftlichen Idylle durch die familiäre Harmonie ergänzt. Sie imaginiert ihre Eltern und ihre Brüder und fügt sie in das Bild glücklicher Tage ein. Doch wieder wird die nostalgische Rekonstruktion gebrochen und als sinnlos abgetan. Ula wehrt sich aktiv gegen jede positive Erinnerung aus der deutschen Vergangenheit. Eine solche würde ihre Identifikation mit dem selbst gewählten Polentum stören, somit erlaubt sie sich diese Erinnerungen nicht. Trotz dessen bleibt Ula in Szczecin fremd. Sie hat inzwischen Angst, als Deutsche identifiziert zu werden: »Sie weiß, dass sie sie ansehen. Wenn sie zur Arbeit geht, kerzengerade, wohlduftend, wie sie ohne Mühe das Gitter vor der Tür zur Bar aufmacht, wie sie ein Netz Äpfel trägt, Pfützen meidet. Sie könnten reden. Diese Deutsche. Den Akzent hat sie schon lange abgelegt. Was das hieße, einen Akzent zu haben – ihr Gaumen versucht nicht einmal, sich daran zu erinnern. Es ist umgekehrt. Das Deutsch, das sie in Gedanken spricht, klingt hölzern. Also würde sie vielleicht gar keiner als ›Deutsche‹ bezeichnen. Wer weiß das schon noch von ihr?«57

Hier zeigt sich erneut die immense Bedeutung der Sprache für die Konstruktion einer Identität. Nicht einmal ein Akzent verweist noch auf Ulas Vergangenheit, sie entwöhnt sich der eigenen Muttersprache und bricht somit ein weiteres Mal mit ihrer deutschen Herkunft. Außerdem scheint ihre Herkunft sogar ein selbst empfundener Makel zu sein, dessen sie sich nicht entledigen kann, sogar wenn er von außen nahezu unsichtbar geworden ist. Ula bleibt misstrauisch und übervorsichtig auch gegenüber ihrer Wahlheimat Polen. Gleichzeitig gibt es ein drängendes Bedürfnis, sich mit dem Deutschen auseinanderzusetzen und seine Rolle für die eigene Identität zu überprüfen. Ulas Vorgesetzter im Bambino, Walter, und der ihr bekannte Schneidermeister Hel57 »Wie, patrzą na nią. Kiedy idzie, wyprostowana, pachnąca, bez wysiłku otwiera kratę na drzwiach do baru, niesie siatkę jabłek, omija kałuże. Mogłyby gadać. Ta Niemka. Akcentu pozbyła się dawno. Co znaczyłoby mieć akcent – jej podniebienie tego nawet nie probuje pamiętać. Jest odwrotnie. Niemiecki, mówiony w myślach, brzmi drewniano. Czyli może nikt by nie mówił ›Niemka‹. Kto to jeszcze wie o niej?« (Bambino 101).

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mut sind ebenfalls Deutsche. Walter spricht anfangs sogar noch mit Ula über das alte Stettin. (Bambino 95f.) In Ulas Bedenken, sich mit ihnen über die gemeinsame Herkunft auszutauschen, offenbart sich die anhaltende Angst von ihrer Seite.58 Ula schiebt die Erinnerungen an das Deutsche konsequent beiseite, dennoch kommt dieser Teil ihrer Vergangenheit immer wieder an die Oberfläche, nicht zuletzt auch in nostalgischen Bildern wie in der Erinnerung an die OstseeKurorte der Dreißigerjahre. Ula entscheidet sich für eine Identität ohne Vergangenheit. Sie sabotiert deswegen nicht nur die kollektive Erinnerung an die deutsche Geschichte Szczecins, sondern auch die individuelle Erinnerung an ihre eigene Kindheit und Jugend – erfolglos. Nostalgische Erinnerungen werden damit zum Ausdruck des Traumas, das Ula erlebt hat. Das ambivalente Verhältnis zur Vergangenheit setzt sich auch in Ulas Reise nach Deutschland im Jahr 1967 fort. Sie weiß inzwischen, dass ihr Vater in Westberlin lebt, ihr älterer Bruder Hans in Stralsund. Der andere Bruder, Jürgen, ist verstorben. Die Entscheidung, ihre Familie zu besuchen, ist mit einer gewissen Resignation verbunden: »Na gut, sie muss wohl einfach. Es sich ansehen. Es ist ihre Familie.«59 Es ist Pflichtgefühl, das sie antreibt, keine echte Verbundenheit. Der Vater bringt im Laufe des Zusammentreffens nostalgische Erinnerungen zur Sprache: » – Du wohnst also in unserem Stadthaus? – fragt der Vater. – Und wer hat die Wohnung des Doktors? Erinnerst du dich? Wie du dich gefürchtet hast, zu ihm zu gehen.«60 Für den Vater sind mit dem Stadthaus in Stettin und dem Zahnarzt in der Nachbarwohnung sorglose Vorkriegszeiten verbunden, die er in einem vorsichtigen Geplänkel aufzurufen versucht, weil sie ihm etwas bedeuten. Ula wehrt sich gegen sein Bild der Vergangenheit und stellt sogar das Erinnerungsvermögen des Vaters vollends in Frage: »Nein, sie hatte sich nicht gefürchtet. Absoluter Mist. Sie hatte den Zahnarzt gemocht. Ob der Vater, der jetzt schrecklich alt, fremd, deutsch ist, mit seiner unpassenden jungen Familie, 58 »Sie will ihn etwas fragen. Etwas, das sie nicht einmal ihrem Vorgesetzten anvertrauen will. Sie hat schon zu einem Gespräch mit ihm angesetzt. Aber nein, es ist besser, Ruhe zu geben. Sie will Helmut fragen, ob die Leute es wissen. Ob er etwas von der Familie weiß. Ob er manchmal auf Deutsch träumt. Aber sie fragt nicht. Sie ist sich nicht sicher. Vielleicht ist es nur der Vorname?« [»Chce go o coś zapytać. O coś, czego nie chce powierzyć nawet kierownikowi. Przymierzała się do rozmowy z kierownikiem. Ale nie, lepiej dać spokój. Chce zapytać Helmuta, czy ludzie wiedzą. Czy on coś wie o rodzinie. Czy czasem śni mu się coś po niemiecku. Jednak nie pyta. Nie jest pewna. Może to tylko imię?« (Bambino 129f.)]. 59 »Dobrze, po prostu musi. Zobaczyć. To jej rodzina« (Bambino 192). 60 » – Więc mieszkasz w naszej kamienicy? – pyta ojciec. – A kto ma mieszkanie po doktorze? Pamiętasz? Jak się bałaś do niego chodzić« (Bambino 193).

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sich überhaupt an etwas erinnern kann?«61 Dabei wendet sich Ula nicht nur gegen die Erinnerung ihres Vaters, sondern gleichsam gegen seine Identität, die sie als »fremd« und »deutsch« empfindet – zwei Begriffe, die sie äquivalent setzt. Die Reise nach Deutschland, die einen Schulterschluss zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bilden sollte, macht die Differenzen nur umso deutlicher. Ula hat zwar deutsche Wurzeln, die sie nicht verleugnen kann, aber sie will diese Identität nicht. Es ist Ula selbst, die ihre innere Stimme des Deutschen, die sich in nostalgischen Bildern immer wieder Bahn bricht, zum Schweigen zu bringen versucht. Sie ist es auch selbst, die das Deutsche mit dem Attribut der Fremdheit belegt. Den Erinnerungen daran spricht sie jeden Sinn ab, und dennoch scheitert der Versuch, ihre Verbindung mit dem Deutschen auszulöschen. Ula ist wieder und wieder dazu gezwungen, sich gegenüber ihrer Herkunft zu positionieren. Will sie derselben auch keinerlei Bedeutung beimessen, so ist die wiederkehrende Notwendigkeit einer Abgrenzung von unfreiwillig entstehenden nostalgischen Vergangenheitsbildern doch ein integraler Bestandteil ihrer eigenen Identitätsbildung. Das ›jüdische Geheimnis‹ Vor dem Hintergrund von Identitäts- und Identifikationsfragen ist die Liebesbeziehung von Ula und Stefan besonders brisant. Sie lernen sich ebenfalls in der Milchbar Bambino kennen, wo Stefan regelmäßig zum Mittagessen einkehrt. Beide haben vordem nur rein sexuell motivierte Beziehungen und zeigen sich gleichermaßen überrascht von der emotionalen Kraft ihres gegenseitigen Begehrens. Zwischen ihnen entsteht eine Verbindung, die sie sich selbst nicht zur Gänze erklären können und in der Ula ihre deutschen Wurzeln weiter problematisiert, während Stefan seine jüdische Herkunft verschweigt. 62 Erst mit seiner 61 »Nie, nie bała się. Kompletna bzdura. Lubiła dentystę. Czy ojciec, teraz strasznie stary, obcy, niemiecki, z niepasującą młodą rodziną, coś może pamiętać?« (Bambino 194). 62 Hans-Christian Dahlmann differenziert in seinem Aufsatz zu den antisemitischen Regierungsmaßnahmen in Polen 1968 bereits im ersten Absatz zwischen »polnischen Juden respektive Polen jüdischer Herkunft« (HANS-CHRISTIAN DAHLMANN 2008: »Die antisemitische Kampagne in Polen 1968.« In: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 4, Bd. 56. S. 554-578. Hier S. 554). Stefan wird in diesem Kapitel bewusst nicht als »Jude« bezeichnet, seine jüdische Identität wird jedoch als gegeben betrachtet, da sie in der fiktionalen Welt des Romans zweifellos eine Rolle spielt. Gleichzeitig kann auf den Begriff der ›Ethnie‹ an dieser Stelle nicht verzichtet wer-

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Ausweisung aus Polen 1968 ist er gezwungen, sich Ula anzuvertrauen. So zerschellt die Beziehung schließlich an der politischen Wirklichkeit, wenngleich Ula Stefan noch jahrelang nicht vergessen kann. Ula versucht, ihre deutsche Herkunft zu verheimlichen, indem sie sich bis zur Unkenntlichkeit assimiliert. Stefan verschweigt seine Abstammung noch konsequenter als sie. Beide Figuren erleben einen Konflikt zwischen der individuellen Identifikation einerseits und der Identität, die ihnen von außen durch ihre Herkunft zugeschrieben wird und die sie als Täter bzw. Opfer markiert, andererseits. Die Kollektividentitäten, die dabei zur Debatte stehen, korrespondieren mit persönlichen und kollektivhistorischen Traumata. Ulas Ablehnung des Deutschen wird im Roman jedoch nicht explizit an den Nationalsozialismus gekoppelt. Stefans Identität wird hingegen dort problematisiert, wo er sich durch Verdrängung von den traumatischen Erlebnissen des Holocaust abzugrenzen versucht. Der Leser erahnt durch diese Textstellen schon früh seine jüdische Herkunft, die Ula noch verborgen bleibt. Der erste Hinweis auf den Holocaust steckt in Stefans Geständnis Ula gegenüber, dass er mit einer Frau in Schweden verheiratet ist, die Auschwitz überlebt hat (vgl. Bambino 107). Ula stellt keine Fragen. Das Kapitel »DER PROFESSOR, 1962 UND DAS NICHTSEIN«63 ist intern durch Stefan fokalisiert, so dass der Leser tiefere Einblicke in die Geschichte der Figur gewinnt. Nach Kriegsende ist er fast ebenso zufällig nach Szczecin gelangt, wie Ula dort verblieben ist, im Bestreben, sich so weit wie möglich von Auschwitz zu entfernen. »Er wohnte in einem Zimmer zur Untermiete in einer fremden Stadt […] und wartete auf die Möglichkeit zur Weiterfahrt, möglichst immer weiter, er kam aus dem Süden Polens und entfernte sich von dem Ort, von jenem Ort, und begriff zuerst nicht, dass diese Stadt deutsch war und das nebenan, so dicht wie das Ende der Welt, die Grenze verlief.«64

Auschwitz bleibt als »jener Ort« verschleiert und tabuisiert. Zur Sprache kommt dafür das Deutsche, das Stefan im Folgenden noch deutlicher als Bedrohung darstellt: den, weil sich das Judentum im Roman eben auch durch Kriterien von Herkunft und Abstammung konstituiert. Inwiefern diese sprachlichen Formen antisemitische Diskurse aufgreifen, wird im Folgenden thematisiert. 63 »PROFESOR, 1962 I NIEBYT«, kapitalisiert i.O. 64 »[…] [M]ieszkał w sublokatorskim pokoju w obcym mieście […], czekając na możliwość wyjazdu, byle dalej, jechał z południa Polski, oddalając się od miejsca, od tamtego miejsca, nie kojarząc najpierw, że to miasto jest niemieckie i że obok, szczelna jak koniec świata, przebiega granica« (Bambino 110).

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»In der Stadt steckte das Deutschtum, ja, es steckte darin. Es störte ihn nicht, solange es sich nicht in der Sprache zeigte, schließlich erinnerten Schilder und Steine nicht an die Baracken und den Stacheldraht, aber die Worte, manchmal, natürlich doch. Zum Glück erhoben sie hier nicht ihre Stimme auf Deutsch, nicht auszudenken. Sie schwiegen auf Deutsch, das schon. Manchmal krümmte er sich unter dem Einfluss eines Lautes, von dem sich dann herausstellte, dass es gar kein deutscher war.«65

Es ist auch hier die Sprache, die eine bestimmte Teilidentität konstituiert, und zwar eine Täteridentität. Die Materialisierung des Deutschen in »Schildern und Steinen« weist tatsächlich einen quasi-nostalgischen Bezug aus, zumal mit dem Ausdruck »szyldy« wieder ein deutsches Lehnwort benutzt wird. Die deutsche Vergangenheit ist in den Dingen zutiefst verankert; das Stadtbild trägt die Geschichte in sich und wird so zu einem chronotopischen Gebilde. Bedrohlich ist aber nicht diese materielle Konstellation, sondern einzig die deutsche Sprache. Überdies zeigt sich an dieser Stelle eine besondere Form von sprachlicher Gewalt, jedoch nicht als Hassrede, sondern in komplexerer Form. Es handelt sich hier nicht um eine Beleidigung, die gezielt gegen jemanden verwendet wird, sondern um den besonderen Klang der deutschen Sprache, der verletzend ist, weil er die Erinnerung an körperliches Leiden abruft. Als Geräusch entzieht sich dieser Klang einem durch die Opfer aktiv vorgenommenen Bedeutungswandel, wie ihn Judith Butler für beleidigende Äußerungen vorschlägt. Diese semantische Nullstelle wird noch intensiver deutlich, wenn »auf Deutsch geschwiegen« wird. Stefans eigene Identität bleibt bei alledem vage. Die Dämonisierung des Deutschen ist kaum spezifisch als ein jüdisches Schicksal markiert. Seine Figur verweist im Spannungsfeld zwischen ihm und dem Deutschen mithin auf die Gesamtheit der Opfer des Nationalsozialismus und nicht nur auf die Juden. Von Relevanz sind im Weiteren die Szenen, in denen Stefan von Ulas deutscher und Ula von Stefans jüdischer Herkunft erfährt. Für Stefan hat dieses Wissen schließlich einen erstaunlich niedrigen Stellenwert: »Als er begriff, dass Ula Deutsche ist, oder eigentlich, dass sie es früher einmal gewesen war, stellte sich das als gleichgültig heraus.«66 Die Formulierung ist bezeichnend: Ihre deutsche Identität liegt für ihn in der Vergangenheit und braucht deshalb die Gegenwart 65 »W mieście tkwiła niemieckość, tak, tkwiła. Nie przeszkadzała mu, póki nie oznaczała języka, w końcu szyldy czy kamienie nie przypominały baraków i drutów, natomiast słowa, czasem, owszem. Na szczęście nie podnosili tu głosu po niemiecku, nie do pomyślenia. Milczeli po niemiecku, to tak. Czasem kulił się pod wpływem jakiegoś dźwięku okazującego się wcale nie niemieckim« (ebd.). 66 »Kiedy zrozumiał, że Ula jest Niemką, czy właściwie, że kiedyś nią była, okazało się to obojętny« (Bambino 113).

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nicht zu berühren. Herkunft ist weniger wichtig als Identifikation. Dennoch führt die Erkenntnis zu weiteren Reflexionen über Identität: »Ihm wurde bewusst, was er schon so viele Male hätte sehen müssen. Die Bücher in deutscher Sprache. Die Einrichtung der Wohnung. Er wusste nicht, was sonst noch. Ihr hygienischer, glatter Körper? Konnte man es daran auch sehen? Er wusste, wie ein jüdischer Körper aussah, er wusste, wie ein Mensch in der Uniform eines SS-Manns aussah, ohne Körper. […] Sie war ein Ideal. Sie war eine Deutsche und ein Ideal. Dort, am Fenster, verstand er, welche Bedeutung das hatte. Er nährte sich mit Leben geradewegs von einer Frau, deren Landsleute ihn hatten vernichten wollen. Das ging ihm gerade noch durch den Kopf. Dann hörte er sofort auf so zu denken. Er verbot es sich. Es erschreckte ihn.«67

Stefan ist also nicht frei von einem genealogisch motivierten Identitätsbegriff, der sich überdies biologistisch in physiognomischen Merkmalen niederschlägt. Auch das Jüdische essenzialisiert er selbst im Bild des »jüdischen Körpers«. Er verwehrt sich jedoch der symbolischen Übertragung, die das Verhältnis zwischen ihm und Ula in eines zwischen einem Juden und einer Deutschen oder gar Nationalsozialistin überführt. Zu einer produktiven Auflösung dieses Spiels der Identitäten kommt es nicht, stattdessen wird der Gedankengang schlicht von ihm gekappt und zum Verstummen gebracht. Eine Leerstelle bleibt bestehen. Ula setzt sich von Beginn an damit auseinander, dass sie ihre Herkunft nicht dauerhaft verschweigen kann. Ihre Bedenken, sich Stefan zu öffnen, äußern sich im Roman an folgender Stelle: » – In dem Zimmer haben meine Eltern geschlafen – sagt sie einfach zu Anna. Und zu ihm auch, nach einiger Zeit, nach Monaten, als sie sich sicher ist, dass sie sich ihm zu erkennen geben kann. Dass sie hier schon vor dem Krieg gewohnt haben. Dass sie von hier ist. Ein schreckliches Wort: Einheimische. Sie ist sich jetzt sicher (aber sie fürchtet sich trotzdem), dass ihm das wiederum gar nicht so viel bedeuten wird. Dass er sie vielleicht auch

67 »Dotarło do niego to, co tyle razy musiał widzieć. Książki po niemiecku. Urządzenie mieszkania. Nie wiedział, co jeszcze. Jej higieniczne, gładkie ciało? Czy po nim też było widać? Wiedział, jak wygląda ciało żydowskie, wiedział, jak wygląda człowiek w esesmańskim mundurze, bez ciała. […] Ona była ideałem. Była Niemką i ideałem. Tam, przy oknie, pojął, jakie to ma znaczenie. Nakarmi się życiem prosto z kobiety, której ziomkowie chcieli go unicestwić. To ledwie przemknęło mu przez głowę. Zaraz przestał tak myśleć. Zabronił sobie. Wystraszył się tego« (Bambino 114).

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in Gedanken nicht mit diesem Wort betiteln wird. Er denkt von ihr als ›Ula, meine Urszula‹.«68

Ula antizipiert, was der Leser bereits in Stefans Gedanken erfahren hat: Dass sie in seinen Augen unabhängig von ihren deutschen Wurzeln existiert. So ist in der Fremdzuschreibung Stefans möglich, wozu sie allein nicht imstande scheint, nämlich sich die deutsche Identität abzusprechen und die Relevanz der Herkunft auszulöschen. Ihre Überlegungen leitet eine sprachliche Identitätszuweisung: »autochtonka«, die Einheimische oder Autochthone. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Begriff als Fremdzuschreibung ihr gegenüber angewandt wird, vielmehr stigmatisiert sie sich selbst damit, ohne das Wort einer positiven Neukonnotation zu unterziehen. Dabei ist der Begriff der Einheimischen gut geeignet, um nostalgische Narrative zu entwickeln, weil er Kontinuität über einen großen Zeitraum hinweg suggeriert. Dass Ula ihn als aufgezwungen empfindet, spiegelt erneut ihre Ablehnung nostalgischer Vergangenheitsbilder und die damit einhergehende Ablehnung ihrer Herkunfts-Identität. Indem er seine jüdische Identität radikal verschweigt, inszeniert sich Stefan selbst auch als Pole. Anders als Ula geht er dabei nicht aktiv vor, sondern setzt sein Schweigen so ein, dass seine Rede entsprechend mehr Gewicht erhält, etwa im Gespräch mit Ula über seine Briefmarkensammlung: »Stefan sammelt Briefmarken. Wenn er Kinder hätte, könnte er sich mit ihnen das Album ansehen. Alle sind sorgfältig in ihre Fächer hineingesteckt, unbeschädigt. Polnische Briefmarken, nur polnische. Davon erzählt er Ula, obwohl sie es nicht hört. In Szczecin bekommt man eine Menge Hitlers, die mit Hitler und seinen Generälen. Die Leute haben eine Menge davon, aber ich sammle nur die Serien der Polnischen Post. Das erzählt er ihr. Wozu?«69

68 » – W tym pokoju sypiali rodzice – mówi po prostu Annie. I jemu też, po pewnym czasie, po miesiącach, kiedy jest pewna, że może mu wyznać. Że tu mieszkali przed wojną. Że jest stąd. Okropne słowo: autochtonka. Już jest pewna (ale jeszcze i tak się boi), że dla niego to nie będzie tak znów dużo znaczyć. Że może nie będzie tym słowem o niej myślał. Pomyśli o niej ›Ula, moja Urszula‹« (Bambino 148). 69 »Stefan zbiera znaczki. Gdyby miał dzieci, mógłby z nimi oglądać klaser. Wszystkie starannie powkładane w przegródki, niepokancerowane. Polskie znaczki, tylko polskie. Mówi o tym Uli, chociaż ona tego nie słucha. W Szczecinie można mieć mnóstwo hitlerów, tych z Hitlerem i jego generałami. Ludzie tego mają mnóstwo, ale ja zbieram tylko serie Poczty Polskiej. Mówi jej. Po co?« (Bambino 121).

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Die Sammlung ist ein genuin nostalgisches Motiv.70 Mit der Polnischen Post greift Stefan überdies einen nationalen Erinnerungsort Polens auf. So gemahnt seine Tätigkeit an einen Versuch, eine nostalgische polnische Meistererzählung zu etablieren. Stefan stellt hier polskość und niemieckość, Polentum und Deutschtum einander gegenüber, spart das Judentum als dritte Instanz jedoch aus. In seinen vorangegangenen Reflexionen ist es der Gegensatz zwischen jüdisch und deutsch, der von Relevanz ist. Seine selbstgewählte Identität ist aber eindeutig die eines Polen, unabhängig von Abstammungskriterien. Im Sammeln von Objekten, die auf die polnische Dimension der Regionalgeschichte verweisen, vollzieht Stefan einen Akt der performativen Nostalgie und gleichzeitig der Konstruktion einer persönlichen Identität. Erst im Rahmen der antisemitischen Kampagne 1968 und der damit Verbundenen Ausweisungswelle wird Stefan seitens der Regierung explizit als Jude klassifiziert.71 Es ist dieser Moment, in dem er Ula seine jüdische Herkunft enthüllt: »Als er ihr sagte, dass er Probleme in der Schule hätte, verstand sie es nicht. Er presste hervor: – Wegen meiner Herkunft. Scheiße! Haben die das schon vergessen! Wohin das führte! – Sie wusste, dass er aus Warschau kam. Dass er sich während des Kriegs versteckt hatte, nach den Gründen hatte sie nicht gefragt. Der Krieg war ein fatales Thema für Erörterungen.«72

Stefan begründet seine Probleme durch seine Herkunft, »pochodzenie« – nicht durch das, was er ist, sondern dadurch, woher er stammt. Er begreift sich nicht als Juden, sondern allenfalls als Polen jüdischer Herkunft. 73 Dieser Herkunft wird nicht von ihm, sondern von einer außenstehenden Instanz Bedeutung beigemessen; Identität entsteht damit durch Fremdzuschreibung. Ula ist zunächst erschüttert und will wissen, warum sich Stefan ihr nicht früher anvertraut hat. Er sagt: »Und von welcher Bedeutung wäre das gewesen? Oder wäre es vielleicht doch von Bedeutung gewesen?«74 In dieser Frage liegt das ganze Dilemma der Beziehung: Beide wünschen sich, dass ihre Herkunftsidentität keine Rolle spielt, 70 Vgl. hierzu S. 86-91. 71 Vgl. zu den historischen Hintergründen DAHLMANN 2008. 72 »Kiedy jej powiedział, że ma kłopoty w szkole, nie zrozumiała. Wydusił z siebie: – Ze względu na pochodzenie. Cholera! Już zapomnieli! Do czego to doprowadziło! – Wiedziała, że jest z Warszawy. Że podczas wojny się ukrywał, nie pytała o powody. Wojna to był fatalny temat do roztrząsania« (Bambino 202f.). 73 Vgl. hierzu Anm. 62 sowie DAHLMANN 2008, S. 554. 74 » – A jakie to by miało znaczenie? Czy może miałoby? – « (Bambino 205).

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da sich beide qua Zugehörigkeitsgefühl als Polen identifizieren. Die Frage, ob man die Bedeutung der Herkunft leugnen kann, hängt jedoch stets wie ein Schatten über beiden. Dabei gibt Stefan nachdrücklich zu bedenken: »Du warst für mich niemals eine Deutsche.«75 Für Ula war er seinerseits niemals Jude oder jüdischer Herkunft, denn sie hat von seiner Herkunft ja nichts gewusst. Auch sie differenziert schließlich zwischen Herkunft und Identität: »Er hatte nie so von ihr gedacht. Sie glaubt ihm, denn sogar wenn er lügt… das hat keine Bedeutung. Möglich, dass die Menschen in dieser Stadt, weitab von anderen, offensichtlicheren Orten, die auf den Karten der Geschichte deutlicher markiert sind, gar nicht in diesen Kategorien denken. […] Jedenfalls war die Frage der Herkunft für beide nie das wichtigste. Besonders nachdem sie einmal aneinander Gefallen gefunden hatten.«76

Der Konstruktcharakter von nationaler oder ethnischer Identität kommt in Ulas Überlegungen deutlich zum Ausdruck: Die Kategorien sind nicht absolut und nicht biologisch belegbar, sondern sie entstehen in den Gedanken von Individuen. Dadurch wird insbesondere die herkunftsbedingte Zuschreibung von Stefans Judentum als Teil eines antisemitischen Diskurses deutlich. Die Bezeichnung als Jude, die Stefan für sich selbst niemals vornimmt, wird von anderen Figuren weiter etabliert. Annas entsetzter Kommentar zu Ulas Enthüllung lautet: » – Aber das ist doch unmöglich, er kann doch kein Jude sein! – Anna spricht das so aus, als hätte [Ula] eine Straftat zugegeben, einen Regelbruch, ein unverzeihliches Vergehen.«77 Annas anschließende Rechtfertigung ihrer eigenen emotionalen Reaktion ist gleichsam durchzogen von Kindheitserinnerungen an die Pogrome in ihrer Heimatstadt. Das Judentum ist für sie keine differenzierbare Größe, sondern biologistisch-essentiell definiert und überdies mit persönlichen Traumata verbunden, die sie verdrängen möchte. Eine Auseinandersetzung damit ist ihr unangenehm. Auch Janek hat vordem bereits von Stefans Herkunft gewusst. Als Mitarbeiter der UB hat er Stefan beschattet. Stefans Zurückhaltung in Bezug auf seine Vergangenheit wertet Janek als verdäch-

75 »Nie byłaś dla mniej nigdy Niemką« (Bambino 206). 76 »Nigdy tak o niej nie myślał. Wierzy mu, bo nawet jeśli kłamie... to nie ma znaczenia. Możliwe, że ludzie w tym mieście, z dala od innych miejsc bardziej oczywistych, dokładniej zaznaczonych na mapach historii, nie myślą w ogóle w takich kategoriach. […] W każdym razie sprawa pochodzenia dla obojga nie była najważniejsza. Zwłaszcza gdy zasmakowali w sobie« (Bambino 207). 77 » – Ależ to niemożliwe, on nie może być Żydem! – Anna tak to wymawia, jakby odkryła jakieś przestępstwo, odstępstwo, niewybaczalne przewinienie.« (Bambino 200).

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tig, Stefan bleibt für ihn ein »jüdisches Geheimnis«78. Diese Formulierung zeugt ebenfalls von einem Antisemitismus, der auch darin begründet liegt, dass Stefans Undurchschaubarkeit für Janek zum beruflichen Problem werden kann. Nach Stefans Ausreise sieht sich Ula im Gespräch mit Anna mit diesen Essenzialisierungen und Vorurteilen konfrontiert. Hier bricht aus ihr heraus, was sie von den Verurteilungen hält: » – Und jetzt sieh an. Ich, die Deutsche, die Einheimische, habe hier zusammengelebt mit einem Juden – sie sagt es bitter, besonders nachdrücklich, hält inne. – So sieht das für dich aus? Danach fragst du mich? Genau wie die anderen? Wie all die anderen Weiber, die ich getröstet habe? Denen ich Ratschläge gegeben habe? Jetzt sind sie es, die mich beraten. Ich muss sagen, sie beraten mich hervorragend. Ich soll im Erdboden versinken mit meinem Juden, mit meinen Nazi-Eltern, mit meinen Butterkeksen. Das würden sie gerne sehen, mehr von diesem Unglück.«79

Ula macht die schematische Fremdzuschreibung deutlich, die sie selbst als »Einheimische« und Stefan als »Juden« klassifiziert und zeigt der Freundin auf, dass ihr Verhältnis mit Stefan sich nicht auf diese Herkunftsidentitäten beschränkt, so wenig wie sie sich auf ihre »Nazi-Eltern« reduzieren lässt. Sie verurteilt damit auch das Bedürfnis der »anderen«, die in diesem Falle die polnische Bewohnerschaft ihres Altbaus bezeichnen, in klar voneinander abgrenzbaren Kategorien zu denken. Dieses Bedürfnis nach einfachen Denkschemata ist auch ein nostalgischer Wunsch nach einer einfacheren Welt, und Ulas Urteil beinhaltet demnach Nostalgiekritik. Stefan und Ula stellen sich mit ihrem Versuch, Identität ohne Rücksicht auf ethnische Kriterien und Abstammungslinien zu definieren, letztlich entschieden gegen die antisemitische Regierungskampagne, die »Juden […] als einheitliche Gruppe imaginiert«80 und eine verschwörungstheoretisch anmutende Essenzialisierung von Identitäten vornimmt, um sie als das Andere, Fremde gegenüber dem polnischen Nationalkollektiv zu exkludieren. Die Stigmatisierung des Judentums wird im Roman mithin viel stärker als ein Makel der volksrepublikani78 »Żydowska tajemnica« (Bambino 256). 79 » – A teraz zobacz. Ja, Niemka, autochtonka, żyłam tu z Żydem – mówi to gorzko, specjalnie dobitnie, przystaje. – Tak to dla ciebie wygląda? O to mnie pytasz? Jak inni? Jak te wszystkie baby, które pocieszałam? Którym radziłam? One mi teraz radzą. Nie ma co, radzą mi świetnie. Zapaść się pod ziemię razem z moim Żydem, z moimi hitlerowskimi rodzicami, z moimi herbatnikami. One chętnie by zobaczyły więcej takiego nieszczęścia« (Bambino 203). 80 DAHLMANN 2008, S. 558.

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schen Gesellschaft inszeniert denn als eine Gräueltat des Nationalsozialismus, als welche sie größtenteils der Sprachlosigkeit des Traumas anheimfällt. Ula und Stefan stehen hier als Andere auf der gleichen, antinostalgischen Seite gegenüber dem Regime und seinem rückschrittlichen Versuch, eine kulturell und ethnisch homogene Gesellschaftsform zu propagieren. In der Forschung wird der Nostalgie vor allem die Funktion zugeschrieben, historische Meistererzählungen aus der Perspektive nationaler Mehrheiten zu konstruieren. Sie erscheint fast ausschließlich als Instrument eines Nationalismus, der essentialistische Kulturvorstellungen propagiert und Identität mit Herkunft gleichsetzt. Im Zusammenhang mit Theorien der Transkulturalität und der transnationalen Geschichte steht diese Herangehensweise auf dem Prüfstand. Die Rolle der Nostalgie für die Identitätskonstruktionen von Minderheiten hat sich als ebenso wichtig und komplex erwiesen. In zwei unterschiedlichen Dimensionen widersetzt sich Nostalgie der Instrumentalisierung durch eine nationalkulturelle Meistererzählung: Im Fall von Marysia bestätigt Nostalgie nicht die Mehrheits-, sondern die Minderheitenidentität als eine Herkunftsidentität, im Fall von Ula und Stefan ist die Auseinandersetzung mit der Nostalgie eine Folie für die Kritik am Konzept der Herkunftsidentität schlechthin. Dass die Herkunft oder die Wurzeln, wie es im Roman auch heißt, keine zweifelsfrei artikulierbare oder auch nur festzustellende Referenzgröße darstellen, wird im Text zu einem bestimmenden Charakteristikum der polnischen Volksrepublik. Die Vorstellung einer Identität, die an regionale und biologische Kriterien gebunden ist, ist mit der Realität nicht länger vereinbar, aber das Konzept übt weiterhin Macht über die Wahrnehmung der Wirklichkeit aus. In dieser Gesellschaft gibt es keinen Konsens über nostalgische Gegenstände vom Schlag nationaler Erinnerungsorte. Es gibt hingegen vieles, was sich im polnischen Erinnerungsdiskurs der Nostalgie entzieht – namentlich die imaginierte deutsche und jüdische Vergangenheit Szczecins. Nostalgie ist bei all ihrem Potenzial für die Identitätsbildung deshalb gleichzeitig auch eine Bedrohung der neu zu erschaffenden Ordnung. Die Kopplung von Identität und Herkunft im Roman wird besonders prägnant durch Sprache modelliert. Sprache wird zum Indikator der Herkunft und damit auch zum Merkmal von Identität. Vor allem in ihrer klanglichen, der semantischen Ebene enthobenen Qualität ist sie auch ein materieller Träger nostalgischer Erinnerung, wie für Marysia die gwara, oder aber des Traumas, wie für Stefan das Deutsche, und diese Art der Sprachreflexion verweist nicht zuletzt auf den Aspekt sinnlicher Wahrnehmung, der für die Nostalgie von so großer Be-

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deutung ist. Die Materialität der Sprache wird umso deutlicher, da der Roman durchaus als multilingual gelten kann. Die Frage nach der Stimme des Subalternen im Roman beantwortet sich denn auch in der Sprache als einem Geräusch. Weder Marysia als Repräsentantin der ›Verlorenen Gebiete‹ noch Ula als Angehörige der deutschen Minderheit ergreifen das Wort, um für ihre Herkunft zu sprechen. Die Sprachen ihrer Herkunft sind dennoch als Klänge präsent im Roman – einmal nostalgisch, einmal traumatisch konnotiert. Sprache ist außerdem als Instrument von Fremdzuschreibungen von Relevanz. Insbesondere in Bezug auf das Jüdische wird die politische Willkür solcher Identitätskonstruktionen transparent. Indem die jüdische Abstammung unhinterfragt in die Identität als Jude mündet und qua Zuschreibung zur politischen Realität wird, wird ein nostalgisches Herkunftskonzept zum Zwecke des Othering eingesetzt, jedoch nicht positiv für die Bestätigung eines »Wir«, sondern negativ im Hinblick auf die Exklusion eines »Sie«. Im Roman wird die Kritik an dieser Form von Nostalgie zur Systemkritik. Es kann also nicht nur, wie in Uwe Tellkamps Der Turm, Nostalgie selbst als Kritik am sozialistischen Regime fungieren, sondern auch Nostalgiekritik als Regimekritik erscheinen. Erneut zeigt sich hier, dass Nostalgie nicht ihrem Gegenstand eingeschrieben ist, sondern sich als Ermessens- und Einstellungsphänomen auf die unterschiedlichsten Aspekte richten und zu entgegengesetzten Zwecken instrumentalisiert werden kann.

Nostalgie und Ironie: Joanna Bators Sandberg [Piaskowa Góra] Zwei Milizionäre, der eine mehr, der andere weniger betrunken, springen aus dem Gefährt, bereit, verfickt nochmal, die Alte zu verprügeln, aber der Anblick der im Schnee liegenden Jadzia rührt ihr Herz. Mensch, Scheiße, guck mal, die Frau, scheiße, die kriegt da n’ Kind, sagt der mehr Betrunkene zum weniger Betrunkenen, der zwar von kleinerem Wuchs, aber höherem Dienstgrad ist. Die Bürgerin gebiert, bestätigt der weniger Betrunkene dem mehr Betrunkenen, zum Teufel! Jessesmaria, fluch nicht, du blöder Sack, wenn eine Bürgerin gebiert. JOANNA BATOR, SANDBERG1

Die Volksrepublik Polen ist bei Joanna Bator in der niederschlesischen Kleinstadt Wałbrzych versinnbildlicht, und hier vor allem im Stadtteil Piaskowa Góra, deutsch Sandberg, der dem Roman seinen Titel gibt. Hauptschauplatz der 1

Hier S. 123. Der Roman wird im Text fortlaufend aus der deutschen Übersetzung von Esther Kinsky unter Angabe des Titels Sandberg und der Seitenzahl zitiert. Die polnischen Originalzitate werden unter Angabe des Titels Piaskowa Góra und der Seitenzahl in der Fußnote angegeben. Hier Piaskowa Góra 107f.: »Dwóch milicjantów, bardziej i mniej pijany, wskakuje z wozu gotowych, kurwa, przylać starej, ale widok Jadzi leżącej w śniegu porusza ich serca. Patrz, kurwa, baba, kurwa, rodzi normalnie, mówi bardziej do mniej pijanego i wyższego stopniem, choć nie wzrostem. Obywatelka rodzi, mniej do bardziej potwierdza, jak rany! Chryste, nie klnij, głupi chuju, jak obywatelka rodzi«.

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Handlung ist die dortige Plattenbausiedlung, wohl eines der plakativsten Bilder für den real existierenden Sozialismus in Ostmitteleuropa. Während das architektonisch symbolträchtige Ensemble den Blick auf den Raum lenkt, steht seine Bewohnerschaft metonymisch für die Gesellschaft Polens im Sozialismus.2 Dabei gibt es im Roman zwar keine Stellen, an denen das sozialistische System, seine Ideologie und die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe von den Figuren intellektuell reflektiert oder fundierter Kritik ausgesetzt werden.3 Dennoch sind in Sandberg die subtilen Bezüge zum zeithistorischen Kontext der Handlung allgegenwärtig und erzeugen eine besondere Reibung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, die aufdeckt, wie die sozialistische Staatsform und die zugrundeliegende Ideologie noch die scheinbar apolitischsten Lebensläufe durchdringt. So zeigt es sich etwa in der oben zitierten Szene, die sich auf dem Weg der Protagonisten Jadzia und Stefan Chmura ins Krankenhaus zur Geburt ihrer Tochter Dominika ereignet. Jadzia liegt in den Wehen, es ist Weihnachtsabend, Wałbrzych versinkt im Schneechaos und kein Taxi ist aufzutreiben. Stefans Mutter Halina stellt sich dem Wagen der Miliz in den Weg, als die drei zu Fuß nicht mehr weiterkommen. Bereits die Bezeichnung als »Milizionäre« (»milicjanci«) anstelle von Polizisten verankert die Handlung ebenso in einer sozialistischen Gesellschaft wie der Begriff der »Bürgerin«.4 Der Sprachgebrauch birgt ein nostalgisches Potenzial für den Leser, das sich durch die unverkennbare raumzeitliche Einordnung in den Kontext der Volksrepublik entfaltet. Gleichzeitig ist die Szene von großer Komik, die durch die stereotypisierten Darstellung der beiden Beamten entsteht und ihren Ursprung damit ebenfalls in der historischen Verortung hat. Vor allem das sprachliche Spiel aus Dienstgrad, Grad der Alkoholisierung und Körpergröße, das im Wechsel von ›mehr‹ und ›weniger‹, ›höher‹ und ›niedriger‹ hierarchische Strukturen persifliert, erschafft eine komische Dimension. Auch im Kontrast zwischen sozialistischem Jargon und Vulgärsprache liegt eine ironische Brechung, die sich in der Trivialisierung des Politischen entfaltet. Die Szene weist damit eine Gleichzeitigkeit nostalgischer und komischer Momente auf. Beide Dimensionen sind durch ihre emotionale Komponente miteinander verbunden. Während Joanna Bators Sandberg zahlreiche Beispiele für nostalgische Erinnerungsmomente liefert, handelt es sich gleichzeitig um einen ausgesprochen 2

Zur Rolle des Plattenbaus und seiner Bewohner im Roman vgl. BARWIŃSKA 2016.

3

Ganz anders als etwa in Uwe Tellkamps Der Turm, in dem die explizite Auseinandersetzung mit den politischen Dimensionen der DDR durch die Protagonisten integraler Bestandteil der Handlung ist.

4

Vgl. S. 75.

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humorvollen Text. Seine Komik kommt in der Lust am Sprach- und Wortspiel zum Tragen, durch die sich die Poetizität des Romans in für Prosatexte außergewöhnliche Höhen steigert. Es handelt sich außerdem um einen überdurchschnittlich anspielungsreichen Roman, der ebenso wie mit der Sprache auch mit den Bezügen zur historischen Wirklichkeit spielt. Die Darstellung der Volksrepublik Polen durch die heterodiegetische nullfokalisierte Erzählinstanz liest sich so auch als ironische Persiflage. Bei alledem weicht die Komik bisweilen plötzlich einer tiefen Tragik. So kommt es am Schluss des Romans zu einer ironischen Umdeutung eines polnischen Erinnerungsorts von großem nostalgischen Wert. Es handelt sich um Jacek Kaczmarskis Lied »Mury« [»Mauern«] aus dem Jahr 1978.5 Das Stück wird in Polen mit der Solidarność-Bewegung verbunden und ruft im kulturellen Gedächtnis den Widerstand gegen das sozialistische Regime auf. Im Roman wird diese patriotische Nostalgie gebrochen, indem das Lied umkonnotiert wird. Es untermalt einen Autounfall, mit dem die Haupthandlung endet: »Dominika schreit: Halt an!, Edyta erbricht sich auf dem Rücksitz, und Jagienka singt: Reißt der Gitter Zähne aus den Mauern. Der Gitter Zähne, ihre Zähne, der Zähne Klingen, brich entzwei. […] Zum Bahnhof Wałbrzych Stadt biegt man nach rechts ab, aber nicht bei fast hundert Stundenkilometern, doch Jagienka fährt gar nicht zum Bahnhof, heute fährt niemand zum Bahnhof, und die Mauern stürzen ein, es stürzen die Mauern und begraben die alte Welt.« (Sandberg 470f., Herv. i.O.)6

Zeilen aus dem Lied sind in der deutschen Übersetzung kursiv gesetzt, aber auch der Teil »und die Mauern stürzen ein, es stürzen die Mauern und begraben die alte Welt« ist ein direktes Zitat aus Kaczmarskis Text. Eine Markierung ist im polnischen Original auf Grund der hohen Bekanntheit nicht notwendig. Das 5

Der Text ist nachzulesen in JACEK KACZMARSKI 2012: Antologia Poezji. Warszawa. S. 96f. Zur Geschichte von Kaczmarskis Lied und der katalanischen Vorlage »LʼEstaca« [»Der Pfahl«] von Lluís Llach vgl. MAREK PAYERHIN 2012: »Singing Out of Pain. Protest Songs and Social Mobilization.« In: The Polish Review 1, Vol. 57. S. 5-31. Hier insb. S. 15f. Zugriff unter URL: http://www.jstor.org/stable/41557949. Letzter Zugriff am 16.06.2016.

6

»Dominika krzyczy, zatrzymaj się, Edyta wymiotuje na tylnym siedzeniu, a Jagienka śpiewa, wyrwij murom zęby krat. Zęby krat, jej zęby, żyletka, połam bat. […] Do Dworca Miasto skręca się w prawo, ale nie przy prawie stu kilometrach na godzinę, a poza tym Jagienka nie wybiera się na dworzec, dziś nikt nie wybiera się na dworzec, a mury runą, runą mury i pogrzebią stary świat« (Piasowa Góra 436).

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Lied, das das Ende des Sozialismus besingt, wird ironisch neu kontextualisiert. Während aus der Zerstörung bei Kaczmarski ein neues, gerechteres System erwächst, so begraben die metaphorischen »einstürzenden Mauern« im Rahmen des Autounfalls die Fahrerin Jagienka selbst und ihre Freundin Edyta. Nur die Protagonistin Dominika überlebt den Unfall schwer verletzt. Motive, die die Handlung des Romans dezidiert in der Volksrepublik verorten, erzeugen folglich ein Spannungsfeld nostalgischen und ironischen Potenzials. Dabei ist ein ironischer Umgang mit nostalgischen Phänomenen wie im Fall von Kaczmarskis »Mury« ebenso von Interesse wie eine Dialektik nostalgischer und ironischer Potenziale innerhalb der gleichen Erinnerungsfiguren, wie sie die Milizionäre im ersten Beispiel aufweisen. Ebenso wie das Trauma funktioniert auch die Ironie als Ergänzungsfigur der Nostalgie. Sie kann die Nostalgie ebenso durchdringen wie das Trauma, wenn beide sich auf die gleichen Tatbestände richten. Darüber hinaus kann die Nostalgie selbst jedoch zum Gegenstand der Ironie werden. Sandberg gilt auch in Deutschland als einer der gelungensten polnischen Gegenwartsromane und wurde hierzulande wie in seiner Heimat im Feuilleton begeistert besprochen.7 Dieser Erfolg setzte sich auch im Nachfolgeroman Chmurdalia [Wolkenfern] (2010) fort, in dem Bator die Schicksale der Figuren vom Sandberg in die Nachwendezeit weiterschreibt. Sandberg stand im Jahr 2010 außerdem auf der Longlist des Nike-Preises.8 In polnischen wie deutschen Rezensionen werden nicht nur die authentische Darstellung der Volksrepublik und die besonders eindringliche Kraft der Sprache hervorgehoben, sondern auch die Konstruktion der Charaktere und der Familiendynamik lobend erwähnt. Im 7

Vgl. TOMASZ MIZERKIEWICZ 2009: »Nowa zasada epickości.« In: Fa-Art 1-2, Vol. 75-76. S. 44-46. Hier S. 44: »Joanna Bators Roman Sandberg wird mit wohlwollenden wie auch enthusiastischen Rezensionen begrüßt, Leserinnern und Leser überaus unterschiedlicher ästhetischer und ideeller Präferenz sind sich einig in ihrem Erstaunen über das unerwartete Lektüreabenteuer, aber wenn man sich ihre Stimmen genauer anhört, so entdecken wir jenen Ton, der in der Rezeption wichtiger Bücher anklingt, die etwas Neues in der Literatur ankündigen« [»Powieść Joanny Bator Piaskowa Góra witana jest recenzjami albo sprzyjającymi albo entuzjastycznymi, czytelniczki i czytelnicy o nader różnych preferencjach estetycznych i ideowych łączą się w zdzwiwieniu nieoczekiwaną przygodą lekturową, a jeśliby wsłuchać się w ich głosy dokładnej, wychwycimy ów ton, pobrzmiewający w odbiorze książek ważnych i zapowiadających coś nowego w literaturze«].

8

Wolkenfern war im darauffolgenden Jahr unter den Finalisten. 2013 gewann Bator die Auszeichnung für ihren dritten Roman Ciemno, prawie noc [Dunkel, fast Nacht] (2012).

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polnischen Feuilleton ist zudem die Zuordnung zur so genannten Frauenliteratur (kobieca literatura) ein wiederkehrendes Motiv, das jedoch in den deutschen Besprechungen weniger Raum einnimmt. Joanna Bator selbst merkt an, dass der feministische Betrachtungsfilter ein ausschließlich polnisches Phänomen zu sein scheint, das der Vielschichtigkeit des Textes nicht gerecht wird. 9 Das deutsche Feuilleton widmet sich umgekehrt ebenso besonders einem Aspekt, der in Polen eine geringere Rolle spielt, und zwar der deutschen Vergangenheit Wałbrzychs im Roman. Weder auf den einen noch auf den anderen Blickwinkel ist dieser ausgesprochen dichte Roman jedoch zu reduzieren. Im Zentrum der Handlung stehen die Großmütter Halina Chmura und Zofia Maślak, Zofias Tochter Jadzia Chmura und deren Tochter Dominika Chmura. Die Lebensgeschichten dieser vier Frauen werden nicht linear und geordnet erzählt, sondern erschließen sich in der Lektüre verschiedener Handlungsfragmente und Momentaufnahmen erst nach und nach. Die Möglichkeiten, Kohärenz und Kausalität in der Erzählung von Geschichte und Geschichten 10 herzustellen, werden so schon mit der Makrostruktur des Romans hinterfragt. Gerade weil der Roman sich einer Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit mitunter entzieht, gelingt ein umfassendes Bild der volksrepublikanischen Gesellschaft unter Einbezug einer schier grenzenlosen Themenvielfalt. Da wird der schlesische Bergbau ebenso geschildert wie die Alltagskultur von der Waschmittelmarke bis zu den Sexual9

WIERZEJSKA 2012, S. 6: »In Deutschland hat kein Kritiker, der Sandberg besprochen hat, über ›feministische Ideologie‹ oder ›Frauenliteratur‹ geschrieben, und das Buch hatte dort viel bessere Rezensionen als in Polen. Meine Romane konzentrieren sich auf weibliche Heldinnen, so wie bei Stasiuk auf Männer und ›Männersachen‹, oder bei meinem Liebling Witkowski auf ›Schwuchteln‹, denn es ist nicht nur so, dass das Subjekt tot ist, wie es die Philosophen schon lange verkündet haben, sondern es ist auch einer geschlechtlichen Auflösung unterlegen« [»W Niemczech żaden krytyk, omawiając Piaskową Górę, nie pisał o ›feministycznej ideologii‹ ani ›literaturze kobiecej‹, i ta książka miała tam o wiele lepsze recenzje niż w Polsce. Moje powieści koncentrują się na kobiecych bohaterkach, tak jak u Stasiuka na mężczyznach i ›męskich sprawach‹, a u mojego ulubieńca Witkowskiego na ›ciotach‹, bo podmiot nie dość, że umarł, jak ogłosili dawno filozofowie, to jeszcze uległ płciowemu rozproszeniu«]. In diesem Zusammenhang ist auf die Rezension von Nicole Henneberg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu verweisen, die mit den Worten »Die Republik der Frauen« betitelt ist (HENNEBERG 2011). Das Thema Weiblichkeit ist damit durchaus auch im deutschen Feuilleton präsent, jedoch kann man nicht behaupten, dass Henneberg den Roman einseitig vor der Folie des Feminismus bespricht.

10 Vgl. hierzu S. 137, Anm. 11 sowie NOWACKI 2008 und HELBIG-MISCHEWSKI 2009, S. 142.

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gewohnheiten, und die Überbleibsel der deutschen Vergangenheit erhalten ebenso viel Raum wie die Kriegs- und Vorkriegsschicksale der Polen. Am prägnantesten fällt in der Darstellung der Einheitsgesellschaft wohl die Angst vor allem, was fremd ist, ins Auge, die sich in Alltagsrassismen, Misogynie, Homophobie und Antisemitismus äußert.11 Chronologisiert man die Ereignisse des Romans, so stehen die Kriegserfahrungen der Großmütter am Anfang. Halina verbringt ihre Kindheit und Jugend in einem Dorf in den heute belarussischen Ostgebieten Polens. Stefan, das uneheliche Kind des russischen Bärenbändigers Wowka aus einem Wanderzirkus, ist bereits zwei Jahre alt, als Halina mit ihrem Mann Władek nach Niederschlesien umgesiedelt wird. Nach Władeks Tod zieht sie Stefan dort allein auf. Zofia stammt aus Zalesie, einem Dorf in der heutigen Woiwodschaft Łódź in Zentralpolen. Erst zum Ende des Romans erfährt der Leser, dass ihre Tochter Jadzia nicht das Kind von Zofias Ehemann Maciek Maślak ist. Stattdessen stellt sich heraus, dass Zofia im Frühjahr 1945 dem flüchtigen Juden Ignacy Goldbaum in ihrem Häuschen Unterschlupf gewährt und mit ihm das Kind gezeugt hat. Jadzia selbst gelangt 1965 als Zwanzigjährige aus Zalesie nach Wałbrzych und heiratet Stefan Chmura. Die Tochter Dominika kommt als Zwilling zur Welt, ihre Schwester Paulina stirbt bei der Geburt. Jadzia verfällt in eine schwere postpartale Depression, so dass Dominika die ersten Lebensjahre hauptsächlich bei Halina verbringt. Ihre Jugend ist von Ausgrenzung, einer tief empfundenen Wurzellosigkeit und Nicht-Zugehörigkeit geprägt. Als junge Erwachsene begeht Dominika den radikalsten vorstellbaren Bruch mit der Norm: Sie beginnt eine heimliche Liebesbeziehung mit dem jungen Priester Adaś. Eine geplante Flucht des jungen Paars nach Warschau in ein gemeinsames Leben scheitert nicht nur auf Grund des erwähnten schweren Autounfalls, sondern auch deswegen, weil Adaś unter dem Druck der Kirchenoberen und seiner Familie einen Rückzieher macht. Im Epilog, der in den frühen 1990er Jahren spielt, holt Dominika ihre Mutter aus Piaskowa Góra ab, um sie an ihrem nomadischen Leben als Weltenbummlerin teilhaben zu lassen. Erst im Nachfolgeband Wolkenfern erfährt man, dass diese Reise die beiden nach Griechenland zu Dominikas Kindheitsfreund Dimitri führen wird.

11 Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Körperlichkeit der Protagonisten. Zur Manifestierung verschiedener Alteritätsphänomene in Körpern im Roman vgl. MARIELLA C. SCHEER 2014: »Zu krank, zu mager, zu dunkel. Die Unangemessenheit des Köpers in Joanna Bators Piaskowa Góra.« In: TORSTEN ERDBRÜGGER/STEPHAN

KRAUSE (Hrsg.): Leibesvisitationen. Der Körper als mediales Politi-

kum in den (post)sozialistischen Kulturen und Literaturen. Heidelberg S. 257-272.

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Obwohl der Roman vorrangig in Wałbrzych spielt, zieht die Handlung doch weite Kreise durch Mitteleuropa in seiner ganzen historischen und räumlichen Dimension. Eben darin liegt auch eine nostalgische Note des Romans: Wie schon in Gestalt der Protagonistin Marysia in Inga Iwasióws Bambino, so wendet sich auch hier die Handlung den ›Verlorenen Gebieten‹ im Osten Polens zu. Während Marysia in Bambino aus der Ukraine stammt, so werden Halina und Władek aus dem heutigen Belarus umgesiedelt. In Zofias Liebe zu Ignacy ist außerdem die Sehnsucht nach dem polykulturellen und multiethnischen Vorkriegspolen modelliert. Während sich in Polen Nostalgie zumeist auf die Zweite Republik richtet, spielt jedoch in Sandberg auch die Volksrepublik als Gegenstand nostalgischer Erinnerungen eine Rolle. Dabei bedient sich der Roman ostalgischer Topoi wie dem Branding und Namedropping, des Spiels mit volksrepublikanischem Kitsch sowie einer ironischen Stereotypisierung volksrepublikanischer (Gedanken-)Figuren. Leitgedanke der Analyse ist demnach die Frage, wie sich diese unterschiedlichen Nostalgien zueinander verhalten und welche Rolle die Ironie für die Abgrenzung der Formen voneinander spielt.

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Eine ironische Dimension von Nostalgie wird in der Theorie an unterschiedlicher Stelle besprochen. Tatsächlich gilt Ironie nicht selten als Merkmal einer je spezifischen Subkategorie von Nostalgie, etwa mit Mitja Velikonjas satrischer Nostalgie, Svetlana Boyms reflektiver Nostalgie und Sharon Macdonalds Metanostalgie. Velikonja nimmt neben Unterscheidungen zwischen kollektiver und persönlicher, materieller und konzeptioneller sowie instrumentalisierter und selbstreferentieller schließlich auch eine Differenzierung mimetischer und satirischer Nostalgie vor. Diese letzte Dichotomie charakterisiert er folgendermaßen: »The former alludes to authenticity, is swathed in the aura of the ›actually experienced‹, obsessed with realistic representation (imitation, reconstruction), and it is dogmatic (nonanalytical), meaning non-exceptionable. Satirical nostalgia is just the opposite: it is youthfully playful, ironic, deliberately eclectic or hybrid, boisterous, blasphemous, and indifferent to old canons; it swears by the borrowed and mediated past rather than being concerned with what truly happened.« 12

12 VELIKONJA 2008, S. 29, Herv. i.O.

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Das Satirische bildet hier einen Überbegriff, denn es charakterisiert die Funktion dieser Nostalgie als Angriff auf die Vergangenheit im Gegensatz zu einer Bestätigung; das Ironische ist hingegen eines der sprachlichen Instrumente, das die satirische Nostalgie anwendet. Die rhetorische Grundbedeutung der Ironie, der gemäß das Gemeinte und das Gesagte sich gegensätzlich verhalten,13 kommt in der satirischen Nostalgie dadurch zum Tragen, dass die Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung nicht zwangsläufig notwendig ist. Die Gegenüberstellung von Gesagtem und Gemeintem wird mithin zu einer Gegenüberstellung von Gesagtem (Nostalgischem) und Tatsächlichem (Historischem). Die satirische Nostalgie ist dann von einer Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Wiedergabe von historischen Umständen entbunden. Um als ironisch zu gelten, muss eine Aussage jedoch das Gemeinte bzw. hier das Tatsächliche erkennen lassen. Für die satirische Nostalgie bedeutet das, dass sie den spielerischen Umgang mit der Vergangenheit nur so weit treiben kann, wie der historische Referenzpunkt noch erkennbar bleibt. Diese Gegenüberstellung eines mimetisch-authentischen und eines satirischironischen Umgangs mit der Vergangengheit entspricht weitgehend dem Verhältnis restorativer und reflektiver Nostalgie nach Svetlana Boym. Auch sie benutzt den Begriff des Ironischen bei der Unterscheidung der beiden Kategorien: »Restorative nostalgia takes itself dead seriously. Reflective nostalgia, on the other hand, can be ironic and humorous. It reveals that longing and critical thinking are not opposed to one another, as affective memories do not absolve one from compassion, judgement or critical reflection. Reflective nostalgia does not pretend to rebuild the mythical place called home […]. This type of nostalgic narrative is ironic, inconclusive and fragmentary.«14

Boym kontrastiert wie Velikonja eine Nostalgie, die ihren Gegenstand als authentisch (wenn nicht gar als historische ›Wahrheit‹) begreift, mit einer, die humorvoll und spielerisch mit der Vergangenheit umgeht und dafür ironische Sprachfiguren benutzt – man beachte im letzten Satz die Bindung des Ironischen an das »nostalgische Narrativ«. Den Terminus der Satire meidet Boym, und er passt auch nicht zu ihrer positiven Vorstellung dieser Nostalgieform. In der reflektiven Nostalgie entwickelt sich ein Vergangenheitsnarrativ, das Geschichte 13 Vgl. etwa WOLFGANG G. MÜLLER 2010: Art. »Ironie.« In: HARALD FRICKE (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, H-O. Berlin (ebook). S. 185189. Hier S. 185. Zugriff unter URL: http://www.degruyter.com/viewbooktoc/pro duct/175648. Letzter Zugriff am 16.06.2016. 14 BOYM 2001, S. 49f.

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nicht so zeigt, wie sie war, sondern so, wie sie ›möglicherweise‹ war oder wie sie hätte sein können. Auch bei Boym entfaltet Nostalgie ihr ironisches Potenzial dementsprechend durch den Gegensatz von nostalgisch Artikuliertem und tatsächlich Vorgefallenem. Anders formuliert Sharon Macdonald den Ironie-Aspekt nostalgischer Erinnerungen. Sie diskutiert eine Erscheinungsform der Nostalgie, die in ihren ökonomischen und warenbezogenen Aspekten an Ostalgie erinnert.15 Diese bezeichnet sie als »›meta-nostalgia‹ – a strategic and ironic playing with the nostalgic form to demonstrate its opposite«16. Nostalgische Praktiken dienen hier nicht dazu, eine Vergangenheit positiv und affirmativ darzustellen, sondern sie werden ironisch eingesetzt, um eine negative Bewertung der Vergangenheit auszudrücken. Anders als bei Velikonja und Boym bedient sich das nostalgische Narrativ hier nicht eines ironischen Stils, sondern einer Poetik der Übertreibung. Es wird neu kontextualisiert und erst dadurch zum Gegenstand einer ironischen Aussage. Der Gegensatz besteht hier nicht zwischen Gesagtem und Tatsächlichem, sondern wieder zwischen Gesagtem und Gemeintem – der nostalgischen Äußerung und der antinostalgischen Haltung, die sich dahinter verbirgt. Es ist folglich zu unterscheiden zwischen der satirischen und der reflektiven Nostalgie einerseits, die eine ironische Qualität der Nostalgie selbst bezeichnen, wie sie die Szene mit den zwei Milizionären in Sandberg illustriert, und der Metanostalgie andererseits, die einen ironischen Umgang mit der Nostalgie beschreibt, wie sie die Neukontextualisierung von Kaczmarskis »Mury« im Roman darstellt. Macdonalds Metanostalgie ist auch an Kajetan Mojsaks Überlegungen zur Ästhetisierung der Volksrepublik Polen anschlussfähig, der wiederum zwei Herangehensweisen kontrastiert: Dämonisierung einerseits; Ironie, Groteske und Nostalgie andererseits.17 Über die Ästhetisierung der Volksrepublik Polen in nostalgischer Form schreibt Mojsak: »Gerade die Exotisierung oder ›Autoorientalisierung‹ ist also einer der ästhetischen Grundzüge des populären Bilds von Volkspolen. Sie beruht darauf, die Andersartigkeit und ›Seltsamkeit‹ des Lebens in der PRL zu unterstreichen, für diese Zeit spezifische Kulturformen ausfindig zu machen: materielle Gegenstände, tägliche Gewohnheiten etc., da-

15 Vgl. hierzu AHBE 2013, S. 44. 16 MACDONALD 2013, S. 104. 17 KAJETAN MOJSAK 2012: »Estetyzacje PRL-u.« In: CHMIELEWSKA 2012, S. 90-105. Diese Gegenüberstellung entspricht in vielerlei Hinsicht auch einer Gegenüberstellung von Trauma und Nostalgie.

176 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS rauf, die Diskontinuität zwischen der PRL und dem, was davor und danach war, zu unterstreichen.«18

Nostalgie ist dann nicht als politisches Instrument der Kontinuität zu begreifen, wie es im Rahmen von Identitätsbildungsprozessen am Beispiel von Inga Iwasióws Bambino aufgezeigt wurde, sondern als künstlerischer Ausdruck einer historischen Diskontinuität, die bei Joanna Bator auch durch die komplizierten und tabuisierten Verwandtschaftsverhältnisse zum Ausdruck kommt. Ironische Reappropriierungen nostalgischer Topoi kommen in Sandberg besonders in Bezug auf die Nostalgie gegenüber den so genannten ›Verlorenen Gebieten‹ zum Tragen. Komplexer gestalten sich dezidiert volksrepublikanische Motive, die eine Gleichzeitigkeit nostalgischen und ironischen Potenzials aufweisen. Sie lassen sich im Rekurs auf Linda Hutcheon begreifen, die in ihrem Aufsatz »Irony, Nostalgia, and the Postmodern« eine Wesensverwandtschaft von Nostalgie und Ironie postuliert, indem sie beide als »dimension[s] of the postmodern«19 beschreibt. Die Gemeinsamkeit der beiden Konzepte sieht Hutcheon darin, dass sie Reaktionen evozieren. Nostalgie und Ironie entstehen demnach erst als Zuschreibungen durch Subjekte: »I want to argue that to call something ironic or nostalgic is, in fact, less a description of the ENTITY ITSELF than an attribution of a quality of RESPONSE. […] In both cases, it is the element of response – of active participation, both intellectual and affective – that makes for the power.«20

Zum wiederholten Male zeigt sich hier, dass Nostalgie nicht etwa einem Gegenstand immanent ist, sondern erst in der emotionalen Rekonstruktion einer Vergangenheit entsteht und damit eher Aussagen über den Nostalgiker denn über den Referenzpunkt trifft. Auch dem Ironischen wohnt eine reaktiv-emotionale Komponente inne – dies wird nicht nur von Hutcheon anerkannt, wenn sie im Zitat die affektive und die intellektuelle Beteiligung gleichermaßen für wichtig

18 Ebd., S. 95: »To właśnie egzotyzacja czy ›autoorientalizacja‹ jest jednym z podstawowych rysów estetycznych popularnego obrazu Polski Ludowej. Polega ona na podkreślaniu odmienności i ›dziwaczności‹ życia w PRL-u, wszukiwaniu specyficznych dla tamtych czasów form kulturowych: przedmiotów materialnych, codziennych obyczajów, etc., na podkreślaniu nieciągłości między PRL-em a tym, co było przed i po nim«. 19 HUTCHEON 2000, S. 190. 20 Ebd., S. 199, Herv. i.O.

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erachtet, sondern es lässt sich auch linguistisch belegen. 21 Hutcheon fasst zusammen: »[…] [I]rony and nostalgia are not qualities of objects; they are responses of subjects – active, emotionally- and intellectually-engaged subjects. The ironizing of nostalgia, in the very act of its invoking, may be one way the postmodern has of taking responsibility for such responses by creating a small part of the distance necessary for reflective thought about the present as well as the past.«22

Ironie ist bei Hutcheon dann, ebenso wie Nostalgie, ein durch das Subjekt emotional und intellektuell determiniertes Phänomen und nicht nur, wie bei Velikonja, Boym und Macdonald, eine rhetorisch definierte Möglichkeit der Sprachverwendung. Für die Lektüre von Joanna Bators Roman stellt sich daran anschließend zunächst die Frage, welche Subjekte es sind, die solche nostalgischen und ironischen Reaktionen zum Ausdruck bringen. Hierfür ist eine grundsätzliche Unterscheidung der Erzählinstanz von den Figuren unumgänglich. Während nostalgische Erinnerungen in Sandberg durchaus auch von den Figuren hervorgebracht werden, liegt die ironische Brechung stets bei der Erzählinstanz. Wenn sie es ist, die in Hutcheons Sinne Verantwortung für die Herstellung einer zur Reflexion von Vergangenheit und Gegenwart notwendigen Distanz übernimmt, dann kann sie gemäß dem obenstehenden Zitat als Ausdruck des Postmodernen gelten – und zwar kraft ihrer Fähigkeit zu Nostalgie und Ironie. Neben dem zuschreibenden Subjekt sind auch diejenigen Objekte von Relevanz, die einer gleichzeitigen Zuschreibung von Nostalgie und Ironie unterliegen. Im Roman wird die Volksrepublik zum Beispiel mittels des Gebrauchs von Stereotypen modelliert, die nostalgische und ironische Komponenten in sich vereinen. Dabei sind Stereotype nach Hans Henning Hahn und Eva Hahn zu verstehen als »Verallgemeinerungen, bei denen die emotionale Komponente dominiert, sie sind emotional aufgeladen, ja diese emotionale Geladenheit stellt offensichtlich den wichtigsten Informationsgehalt dar.«23 Eben hier kann eine nostal21 Vgl. MONIKA SCHWARZ-FRIESEL 2009: »Ironie als indirekter expressiver Sprechakt: Zur Funktion emotionsbasierter Implikaturen bei kognitiver Simulation.« In: ANDREA BACHMANN-STEIN/STEPHAN MERTEN/CHRISTINE ROTH (Hrsg.): Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Trier. S. 223-232. 22 HUTCHEON 2000, S. 207. 23 HANS-HENNING HAHN/EVA HAHN 2002: »Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung.« In: HANS-HENNING HAHN (Hrsg.): Stereotyp,

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gische Instrumentalisierung anschließen. Stereotype sind des Weiteren wahrnehmungsabhängig und bringen »Meinungen über die Merkmale der Mitglieder einer sozialen Gruppe« zum Ausdruck, die »mit positiven oder negativen Wertungen verbunden«24 sind. Insofern können gerade historische Stereotype als werturteilsbasierte Äußerungen von subjektiven Wahrnehmungen ein deutlicher Ausdruck nostalgischer Erinnerungen sein.25 Neben Stereotypen spielen Trivialphänomene eine Rolle für die Untersuchung von nostalgisch-ironischen Wechselwirkungen im Roman. Den Begriff der Trivialität ordnet Julia Genz als Wertungsdiskurs zwischen Banalität und Kitsch in die Diskurse der »leichten Zugänglichkeit« ein.26 Während das Banale sich nach Genz dadurch auszeichnet, dass es nicht exklusiv ist, besteht die Kritik am Trivialen in seinem Mangel an Komplexität. Kitsch gilt dagegen als ästhetische Kategorie. Alle drei Begriffe sind als Werturteile zu verstehen, die ihrem Gegenstand eine unzulässige Simplifizierung vorwerfen.27 Als werturteilsbasiertes Phänomen, das sich ebenfalls Vorwürfen der Vereinfachung und der von Genz beschriebenen »Allzu-Zugänglichkeit« ausgesetzt sieht, gibt es hier verschiedene Anknüpfungspunkte für die Nostalgie.

Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt am Main. S. 17-56, hier S. 22. 24 MARTINA THIELE 2015: Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes (= Critical Media Studies 13). Bielefeld (ebook). S. 30. 25 In Sandberg kommen außer den im Folgenden relevanten berufsgebundenen Stereotypen noch zahlreiche weitere Stereotypen vor: das nationale Stereotyp des gut situierten deutschen Schwiegersohns, das im Konflikt mit dem des Hitlerdeutschen (»hitlerowski«) steht (Sandberg 205-212/Piaskowa Góra 181-187); das Stereotyp der sexuellen Orientiertung, das das schwule Pärchen im Wohnblock als »Homodingsbums« (»homoniewiadomo«) stigmatisiert (Sandberg 226-233/Piaskowa Góra 199-205 ); und das religiös-ethnische Stereotyp des reichen Juden (Sandberg 366/Piaskowa Góra 329), das Symptom eines tiefliegenden Antisemitismus ist. Diese drei Beispiele sind zwar prominent, sie sind jedoch nicht spezifisch für die Zeit der Volksrepublik, sondern reichen über diesen Zeitraum weit hinaus. Während sie außerdem stellenweise ironischen Darstellungsmodi unterliegen, weisen sie zwar sehr wohl historische, jedoch keine nostalgischen Charakteristika auf. 26 JULIA GENZ 2011: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München. S. 62. 27 Ebd., S. 89.

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Ein prägnantes Motiv im Roman ist die Nostalgie gegenüber den so genannten ›Verlorenen Gebieten‹. Dieser nostalgische Topos wird zunächst voll entfaltet, um schließlich einer ironischen Brechung unterzogen zu werden, die den Gedanken der Nostalgie selbst ad absurdum führt. Dieser Form der Nostalgie steht im Roman die Modellierung der Ära Gierek und damit des Politischen gegenüber, das hier nicht als Trauma dargestellt wird wie etwa bei Uwe Tellkamp, sondern vielmehr einer andauernden Ironisierung und Trivialisierung unterzogen wird. Schließlich sind auch intermediale Anspielungsphänomene zu betrachten, die den kulturellen historischen Kontext der Volksrepublik in den Blick nehmen und in denen Nostalgie an der Grenze zum Kitsch steht, jedoch gleichzeitig gesellschaftliche Missstände aufzeigt. Hammer, Brot und Fotoalbum Als nostalgischer Chronotopos wirkt nicht nur in Inga Iwasióws Bambino, sondern auch in Sandberg das Motiv der ›Verlorenen Gebiete‹. Wie schon Iwasiów, so konfiguriert auch Bator diesen Raum dezidiert als Objekt nostalgischer Narrative und nutzt ihn gleichzeitig, um ihrem Roman eine mitteleuropäische Dimension einzuschreiben.28 Die Debatte um die heute litauischen, belarussischen und ukrainischen Gebiete und die literarische Thematisierung der Nostalgie, die sich darauf richtet, bringt dabei eine Parallele zur Exilliteratur hervor. So können auf die ehemaligen polnischen Ostgebiete die gleichen Heimatkonzepte Anwendung finden, die Alfrun Kliems in der Literatur des Exils feststellt und für die die Kategorien der Entwurzelung und der Idyllisierung maßgeblich sind. Spätestens mit der Frage nach der Heimkehr schließen sich nostalgische Topoi daran an. 29 Halina und Władek Chmura gelangen mit dem kleinen Stefan nach Kriegsende aus den an die Belarussische Sowjetrepublik abgetretenen Gebieten nach Wałbrzych. Mit der Ansiedlung in einem neuen Raum beginnt für sie eine neue Zeitrechnung. Gegenwart und Vergangenheit sind voneinander wie durch eine unüberwindbare Grenze klar getrennt, die auch konkret räumlich existiert: Die Gegenwart gehört Wałbrzych, die Vergangenheit dem Heimatdorf bei Grodno bzw. Hrodna. Halina und Władek sind von ihren Wurzeln abgeschnitten. Die Vergangenheit ist ein abgeschlossener, unzugänglicher und statischer Raum und

28 Vgl. S. 13, Anm. 13. 29 ALFRUN KLIEMS 2002: Im Stummland. Zum Exilwerk von Libuše Moníková, Jiři Gruša und Ota Filip. Frankfurt am Main. Vgl. S. 59-78, insb. S. 74-78.

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damit ein klassischer chronotopischer Gegenstand der Nostalgie. Während Władek sich denn auch ganz dem nostalgischen Blick ergibt, durchläuft Halinas Umgang mit der Vergangenheit ein Stadium der Verdrängung und entwickelt sich dann zu einem kreativen Spiel mit nostalgischen Erinnerungsmomenten. Für Władek bestimmen die Erinnerungen an sein Heimatdorf sein Leben nach der Umsiedlung stärker als die volksrepublikanische Gegenwart. Er hat seine Heimat als eine Idylle im Gedächtnis, die er pausenlos dem Vergleich mit einer defizitären Gegenwart aussetzt. Dabei mystifiziert Władek die Vergangenheit und stellt sie in wenig konturierten Bildern als ein weitgehend undefiniertes ›Drüben‹ vor: »Sägemehl ist das, kein Brot, sagte er zu Halina, drüben, das war Brot, das konnte man pur essen, und es schmeckte auch, wenn man nur ein bisschen Salz draufstreute. Manchmal war es noch warm, und so, nur mit Salz, konnte ich einen halben Laib aufessen, aber dieses Brot hier, das ist doch wie Lehm. Władek meinte, drüben wäre alles besser gewesen, und wenn ihm mal ein richtiger Hammer fehlte, um einen Nagel einzuschlagen, oder Winterschuhe, dann sagte er: Ja, drüben, da hatte ich einen Hammer; oder: Drüben, da hatte ich Schuhe! und nichts weiter, keine Einzelheiten, denn für ihn lag es auf der Hand, dass der Unterschied zwischen einem Hammer oder Schuhen von drüben und von hier jedem sonnenklar war.« (Sandberg 88f.)30

Władek beruft sich auf sinnliche Wahrnehmung; sein Schwelgen im Geschmack des Brots spielt mit dem Thema der Proustschen Madeleine.31 Dabei nimmt das Brot als Grundnahrungsmittel einen besonderen Stellenwert ein: Władek braucht die (nostalgische) Erinnerung wie das Brot zum Leben. Nur durch sie existiert er überhaupt. Auch Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs werden bei Władek zu Nostalgieträgern. Von der Madeleine unterscheiden sie sich jedoch insofern, als dass sie gegenüber dem erinnerten ›Original‹ Mängel aufweisen. Die erinnerten Gegenstände sind gegenüber den präsenten Dingen mit einer auratischen Qualität versehen, die mit einer kognitiv-faktischen Erinnerung nichts zu tun hat, son30 »Trociny, nie chleb, mówił do Haliny, tam to był chleb, że sam mógł człowiek jeść i smakowało, jak jeszcze solą trochę oprószył. Czasem, wspominał, ukroiłem jeszcze ciepłego i tylko z solą mogłem pół bochna, a ten tu to sama glina. Według Władka tam wszystko było lepsze i gdy czasem brakowało mu dobrego młotka do przybicia gwóździa albo butów na zimę, mówił: tam to miałem młotek, albo: tam to miałem buty; i nie dodawał nic więcej, żadnych szczegołów, bo było dla niego oczywiste, że różnica między młotkami i butami stamtąd a stąd jest dla każdego jasna jak słońce« (Piaskowa Góra 76f.). 31 Vgl. S. 92.

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dern sich gänzlich auf atmosphärisch-emotionales Schwelgen verlegt. Władek kann damit als Prototyp eines Nostalgikers schlechthin gelten. Im Text ist auch Władeks Krebskrankheit metaphorisch als ein Rückzug in die Vergangenheit inszeniert. Sein körperliches und sein emotionales Leiden werden eins: »Władek Chmura war vergiftet, sowohl von der Sehnsucht (von der er wusste) als auch von einer beginnenden Krankheit (von der er nichts wissen wollte) […]« (Sandberg 87).32 Nostalgie fungiert hier wortwörtlich als ›süße Krankheit Gestern‹. Ihre Verflechtung mit dem Krebs findet ihren Höhepunkt in Władeks Tod, der sich als sukzessive Rückkehr ins ›Drüben‹, zu den Wurzeln darstellt: »[…] er aber wollte nach dem größeren der beiden Windräder greifen, mit dem er dann kurz darauf durch die Wiese seiner Kindheit davonging, der letzte Weg, den er vor sich sah. Die andere Hand, die wieder kindlich weich geworden war, lag in der seiner längst verstorbenen Mutter, mandeläugig und braunhäutig, was sie infolge einer genetischen Laune von werweißwem geerbt hatte, vielleicht von einer Ururgroßmutter, die Dschingis Khans Soldaten vergewaltigt hatten, und so ging und ging er, bis die Wiese in einer plötzlichen Lichtexplosion erstrahlte.« (Sandberg 97)33

Der nostalgische Wunsch, wieder Kind zu sein, wird Władek im Sterben erfüllt. Er ist wieder im ›Drüben‹ angekommen, das hier durch die »Wiese seiner Kindheit« gezeichnet, aber nicht durch individuelle Züge definiert wird, sondern als allgemeingültiges Bild einer landschaftlichen Idylle verbleibt. Władeks Bild der ›Verlorenen Gebiete‹ ist somit als ein Projektionsraum zu verstehen, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er leicht mit individuellen Zuschreibungen gefüllt werden kann, die von nostalgischen Motiven geleitet sind. Im Moment seines Todes hat er die unüberschreitbare Grenze zu diesem Chronotopos durchbrochen und wird Teil davon. Es ist bezeichnend, dass sich das nostalgische Sehnen nur im Sterben erfüllen kann. Władeks Nostalgie ist dabei ambivalent: Sie ist die Krankheit, die ihn umbringt, aber sie ist auch der Weg zurück zu sei-

32 »Władka Chmurę trawiły tęsknota (o czym widział) i początek choroby (o czym wiedzieć nie chciał) […]« (Piaskowa Góra 75). 33 »[…] on sięgał po największy z wiatraczków, z którym po chwili odszedł przez łąkę swojego dzieciństwa, ostatnią drogą, jaką zobaczył. Z drugą reką znów dziecinnie miękką w dłoni dawno zmarłej matki, o skośnych oczach i smagłej skórze odziedziczonej w wyniku genetycznego kaprysu nie wiadomo po kim, może po praprababce zgwałconej przez żołnierzy Dżyngis-chana, szedł tak długo, aż łąka rozbłysła w nagłej eksplozji światła« (Piaskowa Góra 84).

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nen Wurzeln. So illustriert seine nostalgische Erinnerung auch seinen Kampf um Identität im für ihn geschichtslosen Niederschlesien.34 Halina bildet die Gegenfigur zu ihrem nostalgischen Mann: Sie möchte ihre Herkunft am liebsten vergessen. Während Władek die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit betrauert, ist Halina an einer klaren Abgrenzung von der Gegenwart gelegen. So hat das ›Drüben‹ für Halina eine gänzlich andere Bedeutung: »[…] doch am wichtigsten war für Halina, dass niemand von drüben nach Wałbrzych kam. Sie wollte nicht einmal den Namen jenes Drüben erwähnen, ja tat vor sich selbst so, als hätte sie ihn vergessen, und dank dieser kleinen Schummelei war jenes ferne Dorf bei Grodno sozusagen weniger existent.« (Sandberg 84)35

Halina reagiert auch auf gelegentliche Erinnerungen ihres Sohnes Stefan, indem sie sie abstreitet und ihm beibringt, zu glauben, dass sein Geburtsort und sein Onkel Franciszek nicht existieren und seine ersten Lebensjahre nie geschehen sind. Dadurch legitimiert sie die Tatsache, dass sie gemeinsam mit Władek Stefans Dokumente hat fälschen lassen, um ihn vier Jahre jünger zu machen. Mit dieser Maßnahme will sie Stefans langsame körperliche Entwicklung und möglicherweise auch die Tatsache vertuschen, dass er nicht Władeks Sohn ist. Halina unternimmt damit den Versuch, die Vergangenheit ungeschehen zu machen und eine Zeitspanne regelrecht auszulöschen. Während Władek die Vergangenheit in der Gegenwart nostalgisch rekonstruiert, macht Halina sie zunichte. 36 Der nostalgischen Perspektive ihres Ehemanns setzt Halina damit die Verdrängung der Vergangenheit entgegen. Beide entscheiden sich für eine Seite der Grenze zwischen dem Heimatdorf bei Grodno und Wałbrzych: Władek für die Vergangenheit und damit für die Nostalgie, Halina für die Gegenwart und damit 34 Insofern ist Władek durchaus auch als parallele Figur zu Inga Iwasióws Marysia in Bambino zu denken. 35 »[…] ale dla Haliny najważniejsze było, by do Wałbrzycha nie trafił nikt stamtąd. Nawet nie chciała wymieniać nazwy tego stamtąd, udając przed samą sobą, że zapomniała, bo dzięki temu małemu oszustwu daleka wieś po Grodnem, w której się urodziła, istniała jakby mniej« (Piaskowa Góra 72f.). 36 Eine analoge Szene der Auslöschung von Zeit gibt es zwischen Jadzia und Dominika bereits im der Haupthandlung vorangestellten Anfangskapitel: »Jadzia radiert Dominikas dreiunddreißig Jahre aus. Sie bläst sie weg wie Krümel vom Tisch. Jetzt ist nichts mehr hinter Dominika. Wenn sie einen Schritt rückwärts macht, fällt sie in ein Loch« (Sandberg 13f.) [»Przekreśla Jadzia Dominiki trzydzieści trzy lata. Zdmuchuje jak okruchy ze stołu. Za Dominikę więc nic. Jak zrobi krok w tył, to wpadnie w dziurę« (Piaskowa Góra 11)].

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für die Verdrängung. Halina ist dennoch kein antinostalgischer Charakter. Ihre Perspektive auf den Chronotopos der ›Verlorenen Gebiete‹ wandelt sich im Verlauf des Buchs und geht über in eine kreativ-spielerische Umdeutung des Motivs, die ironisch mit den zuvor etablierten nostalgischen Zügen spielt. Als Halina mit Władek und Stefan im Zug nach Wałbrzych umsiedelt, stirbt auf der Fahrt ein aristokratisch aussehender älterer Herr. Seine Frau wird mit seinem Leichnam an der neuen sowjetisch-polnischen Grenze zurückgelassen. Die Zuginsassen stürzen sich auf die Hinterlassenschaften des Ehepaars in der Hoffnung, Wertsachen zu finden, sind jedoch enttäuscht angesichts der Erkenntnis, dass neben Kleidungsstücken nur Dinge von persönlichem und emotionalen Wert zu finden sind – mit Papieren und Büchern beinhaltet das Gepäck des Ehepaars eine nostalgische Materialsammlung der emotionalen Reminiszenz an die ›Verlorenen Gebiete‹.37 Halina ergattert ein Fotoalbum, dessen Bilder Episoden aus dem Leben des Ehepaars erzählen: Die Hochzeit, eine Jagd und ein Urlaub, darüber hinaus verschiedene Familienmitglieder sind dort abgebildet (Sandberg 150)38. Ein Fotoalbum ist nicht nur ein prototypischer Erinnerungsträger, sondern auch prädestiniert als Nostalgieimpuls, weil es Materialität mit sinnlicher Erfahrung verknüpft: »Albums have weight and tactility, they often smell, sometimes of damp, rotting card, the scent of ›pastness‹«, so beschreibt es Elizabeth Edwards.39 So bietet der Gegenstand visuelle, taktile und olfaktorische Stimulation, die auf eine konkrete und individuelle Vergangenheit verweist, gleichzeitig aber das Vergangene als abstraktes Gut, als ›pastness‹ idealisiert. Alle Bilder in Halinas Album zeigen, wie es für ein solches Objekt nicht untypisch ist, glückliche Erinnerungen, so dass das Album als nostalgischer Erinnerungsort par excellence gelten kann, der die ›Verlorenen Gebiete‹ als einen vollkommenen Ort zeichnet. In Wałbrzych versteckt Halina das Fotoalbum zunächst im Schrank und schenkt ihm weiter keine Beachtung, was als Metapher für ihre Verdrängung zu lesen ist. Später kommt es jedoch zur Wiederaneignung und zu einer unerwarteten Neukontextualisierung des nostalgischen Narrativs des Fotoalbums. Als kleines Mädchen findet Dominika das Album im Schrank und möchte wissen, worum es sich dabei handelt. Halina zeigt ihrer Enkelin die Bilder, erzählt dabei die Ge37 Zur nostalgischen Qualität des Sammelns vgl. S. 86-91. 38 Piaskowa Góra 131f. 39 EDWARDS 1999, S. 228f. Das Foto und insbesondere das Fotoalbum als Erinnerungsträger sind Gegenstände einer weitreichenden medien- und erinnerungstheoretischen Debatte. Edwardsʼ Aufsatz liefert hier einen für die Nostalgiethematik interessanten Ansatz, der die Medialität des Fotos und des Fotoalbums in den Vordergrund stellt.

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schichte der Personen auf den Bildern jedoch so, als wären es die Urgroßeltern des Kindes. Darüber hinaus füllt sie Leerstellen im bildbegleitenden Narrativ mit ausgedachtem Hintergrundwissen: »In einem großen schönen Herrenhaus haben sie gewohnt. Gutsherren wohnen so, für Gutsherren ist das normal, dass es nicht so ist wie in einer Kate, sie haben Fußböden und Standuhren, Essen in Hülle und Fülle, und du solltest mal sehen, was sie alles in Kisten und Kasten hatten, wieviele Vorräte. Für hundert Jahre genug! Hatten sie auch Kleider für kleine Mädchen? Und ob, wie sollten sie keine Kleider für kleine Mädchen haben, in jeder Truhe mindestens zweihundert, rosa, hellblau, geblümt. Auch mit Spitze? Auch mit Spitze, mit Puffärmeln, und sogar bodenlang, dunkelrot, veilchenblau, lila. Und Schuhe? […]« (Sandberg 152)40

Halina erfindet ihrer Enkelin eine Vergangenheit – Wurzeln, die sie selbst gern hätte und auf die sie stolz sein könnte; ein Leben nicht nur in Wohlstand, sondern im Überfluss. So wird das Album zur »›Wohnung‹ von Menschen ohne Ort«, wie es Annegret Pelz formuliert.41 Dazu greift Halina auf eine Vorstellung vom Gutsherrentum zurück, die durch Wunschvorstellungen und Sehnsüchte emotional überzeichnet ist, etwa durch die Steigerung der Farben und Applikationen an den Kleidern oder den naiven Namen »Leokadia Großherr, geborene Reich« (Sandberg 152)42. Anstatt die Vergangenheit in den ›Verlorenen Gebieten‹ weiter zu verdrängen, erzählt Halina sie nun so, dass sie auch in ihren Augen eine nostalgische Erinnerung wert ist. Halinas Vorgehen zeugt von der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es wert ist, nostalgisch erinnert zu werden. Da ihre eigene Vergangenheit eine solche emotionale Erinnerung nicht zulässt, schafft sie sich selbst eine neue Vergangenheit. Sie verbindet dafür den nostalgischen Chronotopos der ›Verlorenen Gebiete‹ mit dem nostalgischen Erinnerungsträger, dem Fotoalbum, und eignet sich beides in einem subjektiv-emotionalen Narrativ an. Indem sie Dominika die 40 »W dużym, pięknym dworze mieszkali. Dziedzice tak mieszkają, dla dziedziców to normalne, że nie w chałupie, że podłogi, zegary stojące, jedzenia pod dostatkiem, a żebyś ty widziała, ile rzeczy mieli w kufrach pochowane, ile zapasów. Na sto lat! Mieli na przykład sukienki dla dziewczynek? No pewnie, że mieli, sukienek mieli nie mieć. W każdym kufrze po dwieście co najmniej, różowe, niebieskie, w kwiatuszki. I koronkowe? Koronkowe też, z bufiastymi rękawami, do ziemi samej, amarantowe, fiołkowe, liliowe. A buciki? […]« (Piaskowa Góra 133). 41 ANNEGRET PELZ 2013: »Wohnung beziehen – im Album.« In: BISCHOFF/SCHLÖR 2013a, S. 213-222. Hier S. 213. 42 »Leokadia Wielkopańska, z domu Bogacka« (Piaskowa Góra 133).

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Geschichte ihrer Familie erzählt, schafft sie eine neue Wirklichkeit, die sich nicht den Regeln des Faktums unterwirft, sondern denen der Möglichkeit. Halina handelt hier nach den Prämissen einer satirischen Nostalgie nach Velikonja und einer reflektiven Nostalgie nach Boym. Dabei macht sie die Gestalten auf den Fotos zu Władeks Vorfahren. Die neu erzählte Vergangenheit verändert deshalb nicht ihre eigene Geschichte, sondern lediglich die ihrer Enkeltochter. Dominika selbst jedoch durchschaut das Manöver beim Blick auf die vermeintlichen Urgroßeltern: »Aber ich sehe gar nicht so aus wie sie. Ach, ob du so aussiehst wie sie oder nicht, das ist doch egal, sagt Halina wegwerfend, sie ist erschrocken über diese plötzliche Entdeckung des Kindes« (Sandberg 154).43 Dominika deckt das ironische Element in diesem Prozess der Neuerfindung der Geschichte auf, indem sie mit einer unschuldigen Bemerkung die Konterhistorie entlarvt. Zu einer Aneignung der erfundenen Familiengeschichte für Halina selbst kommt es schließlich dadurch, dass weitere Fotos aus dem Leben Halinas und Dominikas zum Album hinzugefügt werden: »Nachdem Dominika nach Piaskowa Góra geholt worden ist, vervollständigt Halina nach und nach die unabgeschlossene Geschichte der Grafen aus dem Zug mit Fotos ihrer Angehörigen und kritzelt mit ihrer ungelenken Schrift Bildunterschriften dazu: Jadzia und Stefan Silvester 1980, Wir alle Weihnachten 1981, Apitur (durchgestrichen und verbessert zu: Abitur) von Dominika, Grażynka und ihr Deutschland 1989. Nach ihrem Tod finden sie das Album in ein leinenes Geschirrtuch gewickelt, es ist in makellosem Zustand und fast voll. Dominika klebt noch ein Foto von Halina dazu, darauf trägt sie einen Verband um den Hals und einen türkischen Pullover mit Applikation, aus dem sie guckt, als sei sie zum ersten Mal in ihrem Leben von ihrem eigenen Spiegelbild angenehm überrascht.« (Sandberg 156)44

43 »Prawnuczka Dominika Chmura, powtarza dziecko, ale niepodobna jestem. Podobna nie podobna, macha ręką Halina, zmartwiona tym nagłym odkryciem wnuczki« (Piaskowa Góra 135). 44 »Gdy Dominikę zabiorą na Piaskową Górę, Halina będzie w miarę upływu czasu dokładać zdjęcia bliskich do niedokończonej historii hrabiów z pociągu i podpisywać je swoim niewyrobionym pismem Jadzia i Stefan Sylwester 1980, My wszyscy na Święta 1981, Matóra (skreślone i poprawione na Matura) Dominiczki, Grażynka i jej Niemce 1989. Po jej śmierci album zostanie odnaleziony w idealnym stanie, zawinięty w lnianą ściereczkę, prawie zapełniony. Dominika doda na niego fotografię Haliny z opatrunkiem na szyi, w tureckim swetrze za aplikacją, z której patrzy ona tak, jakby pierwszy raz w życiu mile zaskoczyło ją własne odbicie w lustrze« (Piaskowa Góra 137).

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In diesem Akt der Fortschreibung verschwimmen die Grenzen zwischen faktischer Geschichte und nostalgischem Spiel vollends. Die Neukontextualisierung des nostalgischen Erinnerungsorts des Fotoalbums ist an dieser Stelle ihrer ironischen Brechung bereits wieder enthoben, weil sie unsichtbar geworden ist. Greifbar war das spielerisch-komische Element schließlich vor allem in Halinas begleitenden Erzählungen, die sich durch die naive Übertreibung auszeichneten. Zum Schluss ist das Fotoalbum wieder ein Objekt der nostalgischen Erinnerung. Halinas Neuerfindung der Geschichte und Umdeutung des Topos der ›Verlorenen Gebiete‹ in einen Schauplatz des wohlhabenden Lebens im Überfluss zeugt letztlich von dem Wunsch nach Verwurzelung und Identität. Aus Władeks nostalgischer Perspektive auf die Vergangenheit spricht das gleiche Bedürfnis. So inszenieren auch in diesem Roman nostalgische Narrative der Vorkriegszeit das Problem der Entwurzelung der Menschen in der frühen polnischen Volksrepublik, ohne dass der Wirklichkeitsanspruch dieser Erinnerungen von Belang wäre. Nostalgie sagt mehr über die Gegenwart der nostalgischen Figuren aus als über die erinnerte Vergangenheit. Eine letzte ironische Brechung erfährt das Motiv der ›Verlorenen Gebiete‹ schließlich in der postsozialistischen Perspektive auf die Volksrepublik. Der Babel, das Wohnhaus der Chmuras auf Piaskowa Góra, wird im Epilog, der in den 1990er Jahren spielt, nämlich ebenfalls als nostalgischer Ort in der Wahrnehmung seiner Bewohner konzipiert: »Wie konnten sie uns das antun, murrten die Bewohner des Babel. Früher haben wir auf dem Babel gewohnt, wie in der BeErDe. Alles haben wir gehabt, man brauchte nur ein bisschen zu spekulieren. Eher musste man aufpassen, dass man nicht zu viel gegessen und getrunken hat. Und wenn einer im Bergbau war, hoho, dem ging es gut. Solange es den Bergbau gab. Berechtigungsscheine für Autos, Urlaub, Läden für Leute mit der Karte B wie Bergmann. Der Bergmann war König. (Sandberg 472)«45

Das ›Früher‹, das hier beschworen wird, erinnert stark an das ›Drüben‹, das Władek in seinen Erinnerungen an die ›Verlorenen Gebiete‹ konstruiert. Durch diese Parallele wird die Verschmelzung von Raum und Zeit in einem nostalgischen Chronotopos überdeutlich, denn das ›Früher‹ der Bewohner des Babels spielt sich ja am gleichen Ort ab wie ihre Gegenwart und ist dennoch genauso 45 »Jak to nam narobili, sarkali mieszkańcy Babela. Kiedyś to się żyło na Piaskowej Górze jak w Enerefie. Wszystko było, jak się trochę zakombinowało. Że człowiek czasem nie przejadł i nie przepił, tyle tego było. A jak górnikiem się było, to hoho. Potąd się miało. Talony na samochody, wczasy, sklepy na kartę G. Górnik to był pan« (Piaskowa Góra 438).

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weit entfernt wie Władeks ›Drüben‹. Auch die Modellage der Vergangenheit als Wohlstandsort weist Parallelen sowohl zu Władeks als auch zu Halinas Konstruktion der ›Verlorenen Gebiete‹ auf, schließlich sind auch bei Władek mit dem Hammer und den Winterstiefeln bestimmte materielle Güter von Belang, während sich der Wohlstand bei Halina vor allem in schönen Kleidern bemisst. Es ist folglich in erster Linie der Besitz, der die Vergangenheit als eine positiv zu bewertende ausweist und den Mangel der Gegenwart aufzeigt. Es ist paradox, dass die Figuren durch diesen überschwänglichen Hang zum Materialismus versuchen, etwas Substantielles zu erschaffen, das die Abwesenheit einer substantiellen Vergangenheit ersetzt. Nicht nur Władek ist deshalb ein typischer Nostalgiker, sondern auch die anderen Figuren sind gezeichnet von der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nicht gibt und niemals gab. Indem zum Schluss des Romans diese nostalgische Perspektive auf die Volksrepublik ausgedrückt wird, werden die nostalgischen Narrative der ›Verlorenen Gebiete‹ radikal relativiert. Schließlich wird zuvor im Roman die Bitterkeit der Menschen im sozialistischen Polen ausführlich zum Thema gemacht. Indem nostalgische Narrative mit einer äquivalenten Rhetorik unterschiedlichen Gegenständen angediehen werden, wird der Zuschreibungscharakter der Nostalgie deutlich. Gleichzeitig wird Nostalgie so in einem ironischen Kunstgriff als grundsätzlich gegenstandslos entlarvt. Die Figuren im Roman unterliegen weniger einer Sehnsucht nach einer konkreten Vergangenheit als vielmehr einer Sehnsucht nach einem Sehnsuchtsort.46 Der feuchte Traum von Gierek Volksrepublikanischen Stereotype wie die des Milizionärs, die nostalgische und ironische Potenziale verflechten, sind im Roman vor allem im Bereich des Politischen angesiedelt und repräsentieren Gesellschaft und Regime des polnischen Sozialismus – eine Ebene, die ansonsten nicht eben dominant im Text erscheint. Selbst die großen politischen Ereignisse des Jahres 1989 werden mit einem einzigen attributiven Einschub abgehandelt: »[…] denn die Geschichte zwischen Dominika und Adaś war außer dem Zusammenbruch des Kommunismus das Interessanteste, das sich im Babel ereignete« (Sandberg 447).47 Stefan Chmura ist die einzige Figur im Roman, die sich persönlich zum Sozialismus positioniert. Seine Einstellung zum politischen System, in dem er lebt, 46 Diese Beobachtung fasst Susan Stewart als das »desire for desire« (STEWART 1993, S. 23). Vgl. hierzu ausführlich S. 210-212. 47 »[…] bo historia Dominiki i Adasia była najciekawszą rzeczą, jaka wydarzyła się ostatnio na Babelu oprócz upadku komunizmu« (Piaskowa Góra 412).

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ist in erster Linie durch seine Beziehung zu Edward Gierek charakterisiert, der von 1970 bis 1980 Parteisekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) war. Zu Beginn der Ära Gierek schließt sich Stefan dem Personenkult um den Parteisekretär an: »Stefan findet den derzeitigen Parteisekretär Edward Gierek einen anständigen Kerl, zumal er ja auch Kumpel ist. Er hat was Stattliches, er kann reden und man sieht ihm die Ehrlichkeit an der Nasenspitze an. Die anderen, erklärt er Jadzia, die wollen sich doch nur an die Fleischtöpfe machen, sich den Bauch auf Staatskosten vollschlagen und sich überallhin kutschieren lassen. Aber nicht Gierek. Als der gefragt hat: Werdet ihr helfen?, da hat Stefan ganz feuchte Augen gekriegt.« (Sandberg 74f.)48

Wie ganz Polen erlebt Stefan die 1970er Jahre als Zeit des Aufschwungs und der Chance. Gierek spielt hierbei eine Schlüsselrolle als Identifikationsfigur, wozu er von Stefan nicht zuletzt deswegen stilisiert werden kann, weil er sich auf ein Stereotyp besinnt, nämlich das des górnik, des Bergmanns. Das in der deutschen Übersetzung verwendete Wort »Kumpel« verstärkt dieses Berufsgruppenstereotyp noch. Nicht etwa als Politiker wird Gierek mit Attributen wie Ehrlichkeit und Stattlichkeit versehen, sondern als Bergarbeiter. In dieser subjektiven und positiven Darstellung Giereks liegt bereits hier eine Anknüpfungspunkt für nostalgische Rückwendung von Seiten des Rezipienten. Insbesondere Giereks Aufruf »Werdet ihr helfen?«, der als Politslogan Pomożecie einen wichtigen Teil des polnischen kulturellen Gedächtnisses darstellt, ist als zutiefst emotionales Erlebnis inszeniert. Am 25. Januar 1971 sagte Gierek, bereits in seiner Funktion als Parteisekretär, auf der Werft in Gdańsk die berühmten Worte: »Ihr dürft, Genossen, überzeugt sein, dass wir, genau wie ihr, aus dem gleichen Holz geschnitzt sind und kein anderes Ziel haben als das, welches wir schon öffentlich erklärt haben und das ist das Grundprogramm unseres Handelns. Wenn ihr uns helft, dann denke ich, dass es uns gemeinsam gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen. Also? Werdet ihr helfen?«49 48 »Stefan uważa że obecny sekretarz partii, Edward Gierek, to porządny chłop, tym bardziej że też górnik. Prezencję ma, gadkę i uczciwość w oczach. Inni, tłumaczy Jadzi, to tylko, żeby do żłobu się dorwać, kałdun napchać za państwowe i dupę powozić w te i nazad. Ale nie Gierek. Jak zapytał, pomożecie? to Stefanowi aż się mokro w nosie zrobiło« (Piaskowa Góra 64). 49 »Oświadczenie I sekretarza Komitetu Centralnego Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej Edwarda Gierka podczas spotkania z delegatami załóg stoczni w Gdańsku z

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Der joviale, geradezu anbiedernde Ton der Rede entspricht sozialistischer propagandistischer Rhetorik. Stefans hochemotionale Reaktion darauf birgt im Lesen bereits eine gewisse Komik, gleichzeitig beschwört sie aber auch den Geist eines vergangenen Idealismus herauf, der nicht ohne nostalgisches Potenzial bleibt. Die ironische Brechung des Lobgesangs auf den Parteisekretär folgt auf dem Fuße. Das Zitat setzt sich fort: »Dann träumte er von Gierek, in dem Traum war Gierek er selbst und er, Stefan, war irgendwie so, aber nicht ganz, als wäre er Jadzia, ein bisschen jedenfalls, und wenn er aufwachte, schämte er sich. Dieser Gierek! Was für ein Prachtmensch, dieser Vater des Volkes.« (Sandberg 75) 50

Durch die verschachtelte Formulierung verschleiert die an dieser Stelle durch Stefan fokalisierte Erzählinstanz den homoerotischen Traum. Stefan imaginiert sich dabei als seine eigene Ehefrau und nicht etwa als Mann in einer Beziehung mit einem anderen Mann. Auch sexuelle Handlungen werden nicht explizit benannt, jedoch spricht Stefans Scham für bildreiche und emotionale Traumbilder. Indem er Gierek begehrt, wird gleichsam die Bigotterie der homophoben Gesellschaft auf Piaskowa Góra entlarvt und die (in der Rezeption nostalgisch wirkende) Schwärmerei für Gierek ironisch zugespitzt. Die Erscheinung des Parteisekretärs in der privaten Sphäre, nämlich in der Traumwelt und noch dazu in Fragen des sexuellen Begehrens, unterzieht die politische Dimension einer radikalen Trivialisierung. In der Ostalgie-Debatte wird in der Regel alltäglichen Produkten eine politische Dimension zugeschrieben.51 In Sandberg funktioniert die Gegenüberstellung von Politik und Alltag umgekehrt: Die Politik wird alltäglich gemacht. Es gibt also im Roman keine Politisie25 I 1971 r.« In: MELANIA SOBAŃSKA-BONDARUK/STANISŁAW BOGUSŁAW LENARD (Hrsg.) 1998: Wiek XX. Wybór tekstów źródłowych z propozycjami metodycznymi dla nauczycieli historii, studentów i ucznów. Warszawa. S. 407. Zugriff unter URL: https://www.warszawa.ap.gov.pl/droga_do_solidarnosci/plansza08_01. html. Letzter Zugriff am 30.06.2016: »Możecie być, towarzysze, przekonani, że my, tak samo jak wy, jesteśmy ulepieni z tej samej gliny i nie mamy innego celu, jak ten, który żeśmy zdeklarowali i to jest podstawowy program naszego działania. Jeśli nam pomożecie, to sądzę, że ten cel uda nam się wspólnie osiągnąć. Jak? Pomożecie?«. 50 »Potem śnił sny o Gierku, gdzie Gierek był sobą, a on, Stefan, jakby nie do końca, jakby Jadzią był trochę, i wstydził się po przebudzeniu. Ten Gierek! Co za wspaniały człowiek, ojciec narodu« (Piaskowa Góra 64). 51 Vgl. S. 40f.

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rung des Nichtpolitischen, sondern eine Entpolitisierung des Politischen. Dies ermöglicht eine nostalgische Hinwendung zur Volksrepublik bei gleichzeitiger ironischer Brechung. Im Roman unterliegt Stefans Begeisterung nachfolgend einer großen Enttäuschung. Er muss die Erfahrung machen, dass politische Versprechen nicht eingehalten werden und dass sich der von Gierek versprochene Wohlstand nicht einstellt: »Die Waren verschwanden aus den Läden, um Stefan zu ärgern, dabei hatte er doch gesagt: Wir werden helfen, und dann fingen auch noch einige an zu unken, das schwarze Gold, das sie in Wałbrzych im Schweiße ihres Angesichts schürften, sei einen Scheißdreck wert. Wer konnte, haute ab zur Vertragsarbeit in die BeErDe. Das war zu viel. Dazu hatte er nicht gesagt: Wir werden helfen, dafür war er nicht übers Leder gesprungen.« (Sandberg 197)52

Diese Textstelle dekonstruiert den Mythos des Pomożecie, der nicht die Ergebnisse erzielt hat, die sich Stefan davon erhoffte. Sein eigener Rückgriff auf die Rede Giereks entlarvt seine vormalige Euphorie als bittere Ironie. In der Folge dieser Erkenntnis flüchtet sich Stefan in den Alkohol, der es ihm erlaubt, seine Desillusionierung zu vergessen. Gierek versinkt also zunächst in der Bedeutungslosigkeit, obgleich er zuvor eine so wichtige Instanz im Rahmen von Stefans Identitätsbildungsprozess als Bergmann und als Unterstützer des Sozialismus gewesen ist.53 Schließlich wird die Ära Gierek jedoch wiederum zum Gegenstand nostalgischer Erinnerungen für Stefan. Bereits in den 1980er Jahren ist seine Enttäuschung verdrängt. Die Arbeitslosigkeit und seine Alkoholsucht nagen an ihm. Die Gegenwart hat ihm nichts Positives mehr zu bieten, und so projiziert er Bilder des Erfolgs auf die Vergangenheit. Er blickt nostalgisch zurück: »[…] Stefan erinnerte sich an die Zeiten, als es in ihm kribbelte, an die erste und letzte Bierkneipe, an der er teilgenommen hatte, als Genosse Gierek regierte, und der, hoho, der 52 »Towary ze sklepów poznikały Stefanowi na złość, bo przecież mówił, pomożemy, a do tego niektórzy zaczęli nawet przebąkiwać, że czarne złoto, które wydobywają w Wałbrzychu w trudzie i znoju, gówno jest warte. Kto mógł, uciekał na kontrakt do Enerefu. Tego już było za wiele. Nie po to mówił, pomożemy, nie do tego skakał przez skórę« (Piaskowa Góra 174). 53 Alkoholismus als Reaktion auf Enttäuschungen spielt auch in Inga Iwasióws Bambino eine Rolle. Neben Janek ist hier vor allem Marysia zu erwähnen, deren Wunsch zu vergessen schließlich im Selbstmord mündet.

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konnte regieren, damals gab es alles. Ein Bergmann, der galt etwas. […] Denkt nicht, dass wir einen prellen wollen, verdammt noch mal, wollt ihr helfen? Verdammt noch mal, ja, wir wollen helfen!« (Sandberg 253)54

Während Gierek in seiner Rede die Besinnung auf Gemeinsamkeiten der Politiker mir den Arbeitern, aber auch die Kraft des Kollektivs und ein großes Ziel beschworen hat, verkürzt Stefan diese Aussage auf den Gehalt, der in seiner subjektiven Wertung die größte Relevanz hat: den Anstand und die Ehrlichkeit des Politikers, Eigenschaften, die er aus seinem gelernten Beruf des Bergmanns ableitet. Dass sie sich nicht bestätigt haben, spielt keine Rolle mehr. Stefan reduziert seine Erinnerung auf ihren positiven emotionalen Gehalt. Die Vulgarismen, die er hinzufügt, stellen ein weiteres Beispiel für die Trivialisierung des Politischen dar. Sie erhöhen gleichzeitig die affektive Intensität der Aussage. Gierek ist also als kulturelle Ikone reinstalliert. Dabei geraten politische Leistungen und Fehler des Parteisekretärs völlig in den Hintergrund. Es geht Stefan vielmehr um einen nur vage greifbaren Geist, eine Stimmung, die hinter dem bekräftigenden Pomożemy steht, »Wir wollen helfen«. Seine nostalgische Erinnerung an die frühen Siebzigerjahre kommt zwar im Gewand einer politischen Aussage daher; die Nostalgie dient jedoch im Grunde dazu, eine vollends apolitische Haltung selbst in politischen Kontexten aufzuzeigen. Sie ist auch hier eigentlich nicht einem begehrenswerten, in der Vergangenheit liegenden Gegenstand verschrieben, sondern wird als Selbstzweck entlarvt. Der Roman verwehrt sich so letztlich einer klaren Stellungnahme gegenüber dem Sozialismus, indem er die nostalgische Perspektive als trivial ironisiert. Ein letzter Bezug zu Gierek bestimmt schließlich auch Stefans Tod. Umgeben von seinen ehemaligen Kollegen lässt sich der übergewichtige und alkoholkranke Stefan auf ein Krapfen-Wettessen ein und erleidet dabei einen tödlichen Schlaganfall: »In dem Moment, in dem sein Stiefvater seine Mutter erblickt hatte, erschien Stefan Edward Gierek, dem er so überstürzt Hilfe versprochen und auch geleistet hatte, und das hatte er jetzt davon […].« (Sandberg 273)55 Hier wird Bezug genommen auf das Sterben von Stefans Ziehvater Władek. Während Władeks Tod als die Erfüllung einer nostalgischen Konstruktion inszeniert ist, 54 »[…] Stefanowi przypominały się czasy musowania, pierwsza i jedyna Karczma Piwna, w której brał udział, gdy rządził towarzysz Gierek, a on, oj, umiał rządzić, że wszystko było. Górnik to był ktoś. […] Nie myślcie, że naciągnąć kogoś tutaj chcemy, pomożecie, kurwa? Kurwa, pomożemy!« (Piaskowa Góra 224). 55 »W momencie, w którym jego ojczym zobaczył matkę, Stefan pomyślał o Edwardzie Gierku, któremu zbyt pochopnie obiecał pomożemy i pomagał, a tu proszę« (Piaskowa Góra 241).

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bedeutet er für Stefan die finale Desillusionierung. Gierek ist nicht mehr als Gegenstand überbordender Emotion dargestellt, er ist nicht mehr Objekt eines schwärmerischen Begehrens oder einer verzweifelten Nostalgie. Die deutsche Übersetzung formuliert Giereks Auftritt als ein »Erscheinen«, während Stefan im polnischen Original lediglich an ihn denkt [»pomyśleć«] – ein kognitiver Vorgang, in dem Stefan zuletzt eine rationale Bewertung des PomożecieKomplexes vornimmt, die entgegen aller vorigen emotionalen Herangehensweise negativ ist. Die nostalgisch-emotionale positive Bewertung Giereks und die resigniert-rationale negative Perspektive bilden einen finalen ironischen Gegensatz, der metonymisch für die gesamte politische Sphäre im Roman steht: Sie wird bei gleichzeitigem Aufzeigen ihres nostalgischen Potenzials letztlich der Lächerlichkeit preisgegeben. Edward Gierek steht in Sandberg stellvertretend für die Realpolitik der polnischen Volksrepublik. In Stefans Perspektive auf den Parteisekretär entfaltet sich die Bewertung nicht nur der sozialistischen Politik, sondern auch der zugrundeliegenden Ideologie. Dabei verhält sich Stefan weder intellektuell noch rational, sondern naiv, emotional und idealistisch. Durch die verschiedentliche Trivialisierung komplexer politischer Gegebenheiten entfaltet sich gleichzeitig ein nostalgisches Narrativ, das die 1970er Jahre in einem emotionalen Zugang als positiv darstellt, sowie auch eine ironische zweite Ebene, die sich durch die Reibung der Nostalgie mit den negativen Auswirkungen des politischen Systems entfaltet. Isaura und Rebeka Deutlich präsenter als eine politische Ereignisgeschichte ist im Roman die produkt- und warenorientierte Alltagsgeschichte volksrepublikanischer Kultur. Markennamen, Personen des öffentlichen Lebens, Bücher, Lieder und Fernsehsendungen verankern die Handlung eindeutig im sozialistischen Polen. Auch die nostalgische Qualität solcher Anspielungen bedarf einer kritischen Untersuchung im Hinblick auf ironische Potenziale und Umdeutungen. Der Trivialisierung des Politischen steht die Frage nach einer ostalgischen Politisierung der Alltagskultur zur Seite – eine solche bleibt im Roman jedoch aus. Stattdessen erfüllen die zahlreichen intermedialen Verweise auf Fernsehen und Musik andere Funktionen im Gefüge der literarische modellierten Nostalgie. Besonders für Jadzia Chmura ist die Flucht in fiktionale Welten von großer Bedeutung. Nicht nur liest sie mit Begeisterung schon als junges Mädchen Trivialromane wie Helena Mniszkównas Trędowata [Die Aussätzige] (1909), sondern auch noch in den 1980er Jahren gilt ihre größte Leidenschaft den Liebesge-

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schichten. Am wichtigsten ist für sie die brasilianische Telenovela Escrava Isaura aus dem Jahr 1976, die in Polen unter dem Titel Niewolnica Izaura [Die Sklavin Isaura] zwischen 1984 und 1985 ausgestrahlt wurde und deren Handlung auf dem 1875 erschienenen gleichnamigen Roman von Bernardo Guimarães beruht. Dieser Serie ist der Großteil des vierzehnten Kapitels gewidmet. Sie wird dort bereits im ersten Satz als Inbegriff des kleinen Alltagsglücks in der Volksrepublik stilisiert: »Das ist die schönste halbe Stunde meines Lebens, sagte Jadzia und setzte sich vor den Fernseher, in die Sitzkuhle, die Stefan hinterlassen hatte.« (Sandberg 320)56 Schon das Format der Serie fordert in der Rezeption eine gewisse nostalgische Praxis: Die Wiederholung einer immer gleichen Handlung, nämlich dem Fernsehen, zu regelmäßigen Zeiten lädt im Rückblick zum Schwelgen in der klaren und einfachen Struktur der Vergangenheit ein. Gleichzeitig bildet die Flucht in die Welt der Telenovela eine strukturelle Parallele zum nostalgischen Eskapismus. Es geht in der Serie um die schöne, elternlose und kultivierte Sklavin Isaura, die auf einer Baumwollplantage lebt, und ihren grausamen Besitzer Leoncio, der sie liebt, jedoch gleichzeitig erpresst und drangsaliert. Im Finale der Serie ist Leoncio als Bösewicht überführt und nimmt sich das Leben. Isaura heiratet Alvaro, ihren anständigen, jungen und sehr reichen Verehrer. Ähnlich wie die stereotypisierten Darstellungen von Milizionären und Politikern beruft sich der polnische Isaura-Kult auf eine verallgemeinerte und simplifizierte Wahrnehmung. Hier ist das Stereotyp der Frau der 1980er Jahre von Bedeutung, die sich in der klassischen Rollenverteilung der Zeit wiederfindet und die dieses Geschlechterverhältnis gerne in romantischen Liebesgeschichten umgesetzt sieht. So zeigt sich die Faszination für die Serie durch Jadzias Perspektive eindeutig darin, dass sie eine patriarchalische Gesellschaftsordnung zum Ausdruck bringt, die sich in den Mechanismen von Macht und Unterwerfung manifestiert: »[Leoncio] reißt Isaura zum Tanz, beugt ihre schmale Taille wie einen Tulpenstengel, quetscht ihre Brust an seinen gewaltigen Oberkörper, das Mädchen fällt fast in Ohnmacht davon. Dieser Leoncio ist in einer seltsamen grausamen Leidenschaft zu Isaura entbrannt. So eine Leidenschaft hätte Jadzia gern mal erlebt gehabt! […] [E]twas in Jadzia wünscht, dass Leoncio Isaura am Kopf packen, in den Staub schleudern und vergewaltigen würde. Dass er sie zerzausen, beschlafen, besudeln, schänden würde, ihr dieses propere Kleidchen verschmutzen, zerfetzen, besabbern, beschmieren, bespritzen würde.« (Sandberg 321)57 56 »To najpiękniejsze pół godziny w moim życiu, mówiła Jadzia i siadała przed telewizorem w gnieździe po Stefanie« (Piaskowa Góra 284). 57 »Do tańca Izaurę porywa, kibić jej szczupłą gnie jak łodyżkę tulipana, pierś miażdży o potężny tors, już niemal dziewczę pada w omdleniu. Ten Leoncio okrutny namięt-

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Jadzias Faszination für die Serie kulminiert in Phantasien, in denen Leoncio Isaura vergewaltigt. Durch ihre starke Identifikation mit der Serienfigur wirken diese Vorstellungen gleichzeitig masochistisch wie voyeuristisch. Sie bringen Jadzias Verständnis klassischer Geschlechterrollen und deren normierter gesellschaftlicher Praxis zum Ausdruck: »Die Frau Isaura soll sich widersetzen, um schließlich dem Mann Leoncio zu erliegen. Erst Widerstand, dann Erliegen. Diese Reihenfolge muss eingehalten werden« (Sandberg 322).58 Durch die Gewalteinwirkung Leoncios in Jadzias Vorstellung wird dieses Rollenverständnis radikalisiert und seiner Unschuld enthoben. Es wird im Roman außerdem mit Dominikas unabhängiger Lebensart kontrastiert und so durch eine feministische Perspektive gebrochen. Die Sklavin Isaura stellt damit neben ihrem nostalgischen Potenzial eine ironische Vorführung dessen vor, wie sich Frauen in eine Situation, die die Gleichberechtigung der Geschlechter unterminiert, fügen und sie perpetuieren. Der Einfluss der Serie auf die polnische Gesellschaft reicht dabei weiter als nur in Jadzias Phantasie hinein. Joanna Bator schildert den Isaura-Kult in all seinen Facetten, die die reine Rezeption am Fernseher weit überschreiten. Folgende Beschreibungen lösen sich von Jadzias Perspektive und werden von der Erzählinstanz angestellt: »Die Frauen möchten Isaura haben, Isaura sein, und sie essen, sie tauschen Rezepte für Isaura-Käsekuchen und Isaura-Napfkuchen. Man braucht nur ein bisschen Kakao, und schon ist er braun wie eine Brasilianerin von der Hazienda. Sonntags nach dem Mittagessen stopfen sich ganze Familien mit Isaura voll und trinken süßen Tee dazu. Wenn Isaura im Fernsehen kommt, ist auf den Straßen von Piaskowa Góra keine einzige Frau zu sehen, die Promenade am Babel entlang ist wie leergefegt, und nicht einmal Eis wird an der Bude gekauft, obwohl doch Sonntag ist.« (Sandberg 323)59 nością dziwną do Izaury pała. Jadzia takiej namiętności bardzo by zażyć chciała! […] [C]oś w Jadzi pragnie, by Leoncio chwycił Izaurę za łeb, rzucił w piach i zniewolił. Żeby ją rozczochrał, zbałamucił, zbrukał, zbezcześcił, żeby jej tę kieckę schludną wybrudził, wyszarpał, zaślinił, zapaćkał, pokleił« (Piaskowa Góra 285). 58 »Ma się opierać Izaura kobieta, żeby ulec mężczyźnie Leonciowi. Najpierw opieranie, potem uleganie. Ta kolejność musi być zachowana« (Piaskowa Góra 286). 59 »Kobiety pragną Izaurę mieć, być Izaurą i ję zjeść, podają sobie przepisy na sernik Izaura i babkę piaskową Izaura. Wystarczy trochę kakao i już jest brązowawa jak Brazilyjka z hacjendy.W niedzielę po obiedzie całe rodziny wpychają Izaurę do ust i popijają słodką herbatą. Gdy leci Isaura w telewizji, na ulicach Piaskowej Góry nie ma kobiet, pustoszeje promenada wzdłuż Babela i nawet lodów z budki nikt nie kupuje, choć to niedziela« (Piaskowa Góra 286f.).

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Diese Reaktionen auf die Telenovela haben in Polen einen großen Wiedererkennungs- und Identifikationswert. Auch heute noch gibt es Kuchen mit dem Namen Isaura. Wie auch im Zitat wird in der Regel damit ein Marmorkuchen bezeichnet, was darauf anspielt, dass die Figur in der Serie eine, wenn auch sehr hellhäutige, Person of Colour ist. Dieses Detail reflektiert gleichsam den Alltagsrassismus der Volksrepublik. Der Kultstatus der Serie, der Rekordeinschaltquoten hervorbrachte und infolgedessen die Straßen zur Sendezeit leer waren, ist ein bemerkenswertes Detail der volksrepublikanischen Alltagsgeschichte. Der hohe Bekanntheitsgrad begründet das große nostalgische Potenzial. Der Isaura-Kult entfaltet seine ironische Dimension im Roman in der Nachahmung der Schauspielerin durch die Frauen auf Piaskowa Góra. Bereits im oben genannten Zitat kommt es zum Ausdruck: Die Frauen wollen Isaura nicht nur haben oder essen, sie wollen sie »sein«. Deswegen färben sich Jadzia und alle ihre Freundinnen die Haare schwarz. Als die Schauspieler und Schauspielerinnen auf eine Pressereise nach Polen kommen, fährt Jadzia sogar mit ihren Freundinnen nach Warschau, um ihre Heldin zu erleben. In der Beschreibung verschwimmt die Nacheiferung der Fernsehfigur mit einer vollständigen Identifikation: »Auf dem Breslauer Hauptbahnhof zeigt sich, dass sie nicht die einzigen sind, sie auf die Idee gekommen sind, Isaura und Leoncio zu treffen. Am Bahnsteig warten schon etliche weitere Sklavinnen aus Breslau, Wałbrzych, Świdnica und Świebodzice, bereit, sich in die Waggons der zweiten Klasse zu stürzen, um sich einen Platz für die Reise durch die Nacht zu sichern.« (Sandberg 324)60

Es sind keine Frauen, die aussehen wie die Sklavin Isaura, es sind »weitere Sklavinnen« – die Wahl der Metapher anstatt des Vergleichs ist hier deutlich als ironischer Seitenhieb darauf zu verstehen, dass die Frauen sich willentlich in patriarchalische Machtstrukturen fügen und durch ihre Selbstinszenierung als Sklavinnen sogar ein noch ausgeprägteres hierarchisches Gefälles idealisieren, als es ihre gesellschaftliche Realität zu bieten hat. Auch in der weiteren Beschreibung des Ausflugs ist die Rede niemals von den Frauen, sondern nur noch von den »Isauras«: »In jedes Abteil quetschen sich neun, zehn Isauras, je nach Gewieftheit und Körperfülle; vor Aufregung schwitzen sie unter ihrer türkischen Baumwolle, trotz Bac-Deodorants.« (Sandberg 60 »Na Dworcu Głównym we Wrocławiu okazuje się, że nie one jedne wpadły na pomysł spotkania z Izaurą i Leonciem. Na peronie czekają inne niewolnice – z Wrocławia, Wałbrzycha, Świdnicy i Świebodzic, gotowe rzucić się do wagonów drugiej klasy, by zająć miejsce na całonocną podróż« (Piaskowa Góra 288).

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324f.)61 Deutlich wird hier die Diskrepanz aufgezeigt, die sich zwischen der empfundenen Einzigartigkeit der Fernsehfigur und der Konformität auftut, die sich doch gerade aus einem Bedürfnis nach Individualität entwickelt. Gleichzeitig wird die Figur der Isaura persifliert und karikiert, denn durch ihre Verkleidungen werden die polnischen Frauen nicht automatisch zu der grazilen und schönen Figur, sondern ihre Mode ist nur ein Imitat, und ihre körperliche Statur unterzieht sich ebenfalls keinem magischen Wandel. Das Idealbild wird hier durch eine ironische Konfrontation mit der Realität seiner Erhabenheit enthoben und so dekonstruiert. Die absurde Verschmelzung der Fernsehfigur mit den Frauen findet ihren Höhepunkt zuletzt nochmals in Jadzias Selbstwahrnehmung, die beim Anblick der Schauspieler in eine Ekstase gerät: »[…] sie weiß selbst nicht mehr, wo und wer sie ist, ob sie sie selbst ist oder die Sklavin Isaura« (Sandberg 330).62 Die Verhandlung der Serie und ihres Statusʼ in der polnischen Erinnerungskultur birgt durch das große Identifikationspotenzial für den polnischen Leser nostalgische Momente, enthält jedoch gleichzeitig eine Vielzahl ironischer Brechungen durch die Erzählinstanz, die mit eben dieser Nostalgie spielen. Auseinandersetzungen mit dem Isaura-Kult im Roman gehen damit über eine ostalgische Rückwendung zur Kultur im Sozialismus weit hinaus und sind keinesfalls mit einer ostdeutschen Sandmännchen-Romantik zu vergleichen. Sie erinnern vielmehr daran, was Kalina Kupczyńska in Bezug auf Mawils Graphic Novel Kinderland als einen »ironischen Fetischismus« bezeichnet.63 Ein zweites Beispiel aus dem Bereich der intermedialen Verweiswelt verzahnt nostalgische und ironische Tendenzen mit einem anderen Effekt. Es handelt sich um den Schlager »Rebeka«, der in den 1930er Jahren nach chassidischen Motiven von Zygmunt Białostocki zu einem Text von Andrzej Włast komponiert wurde. Beide waren jüdische Musiker, von denen man vermutet, dass sie im Warschauer Ghetto zu Tode gekommen sind. Das Stück bildet damit eine Referenz auf das Polen der Zwischenkriegszeit. Selbst dem unwissenden Leser fällt möglicherweise der Hinweis auf die jüdische Kultur durch den Namen Rebeka ins Auge. Zum Zitat des Lieds kommt es, während Jadzia noch in Zalesie bei ihrer Mutter Zofia lebt. Dort taucht eines Tages ein unbekannter junger Mann auf, der sich viel später als ihr Halbbruder, der Sohn ihres jüdischen 61 »Po dziewięć, dziesięć Izaur wciska się do przedziałów, a liczba zależy od sprytu i tuszy; pocą się z emocji pod turecką bawełną, mimo dezodorantów Bac« (Piaskowa Góra 288). 62 »[…] już sama nie wie, gdzie i kim jest, czy ona to ona, czy niewolnica Izaura« (Piaskowa Góra 293). 63 KUPCZYŃSKA 2016, S. 85.

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Vaters, herausstellen wird. Jadzia ist fasziniert von dem Fremden und gibt sich in Folge seines Besuchs sogleich romantischen Tagträumen hin: »Jeder Vergleichsmöglichkeit begeben, summte Jadzia in schiefen Tönen von Rebekka, der armen, die in Vergessenheit wartet, bis Du kommst, nur Du… doch es gab keine Fortsetzung, es wurden keine Kirschen mehr aus einer gepflegten Männerhand verspeist, das war’s gewesen, ein nicht gehaltenes Versprechen, kleine Fliegen, die im Licht der untergehenden Sonne tanzten, ein davonfahrendes Auto.« (Sandberg 22)64

Jadzia weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie Halbjüdin ist. Sie weiß auch nicht, dass der Besucher ein Jude ist. Im Hinblick auf ihre spätere heftige Ablehnung der eigenen ethnischen Zugehörigkeit und ihre grundsätzliche Furcht vor allem, was der ihr bekannten Norm nicht entspricht, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie den Ursprung des Lieds kennt, das sie sehnsuchtsvoll pfeift. Jadzias Reaktion auf den Besuch des fremden Mannes durch das unwillkürliche Summen eines Liedes zu erzählen, verleiht dieser Situation eine gleichermaßen emotionale wie auch körperliche Erlebnisqualität. Mit dem Lied betrauert Jadzia gleichsam den Verlust ihrer eigenen jüdischen Identität, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Tatsächlich gehört sie selbst zu denjenigen Figuren im Roman, die sich gegenüber allem Fremden und damit auch gegenüber dem Judentum ablehnend verhalten. Ihr Schwelgen in der jüdischen Kultur hat damit eine entschieden ironische Komponente. Diese Ironie setzt sich auch in Jadzias eigener Identifikation mit der Protagonistin des Lieds fort. Das Lied selbst erzählt eine nostalgische Geschichte: Das junge Mädchen Rebeka besingt ihre Liebe zu einem Angebeteten, den sie abgesehen von einer einzigen Begegnung nur aus der Ferne kennt und von dessen Hochzeit mit einer anderen sie gebrochenen Herzens Zeugin wird. Im Refrain heißt es: »Oh du Erträumter, / oh du Ersehnter, / du weißt ja nichts davon, / dass sich in einem kleinen Städtchen jemand nach dir / die Augen ausweint, / dass die arme Rebeka / in Gedan-

64 »Pozbawiona porównania Jadzia nuciła, fałszując, że biedna Rebeka w zapomnieniu czeka, aż przyjedziesz po nią ty, ale nie było żadnego ciągu dalszego, żadnych więcej wiśni wyjadanych z delikatnej męskiej dłonim tylko to i tylko tyle, niespełniona obietnica, tańczące w zachodzącym słońcu muszki, odjeżdżający samochód« (Piaskowa Góra 19).

198 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS ken versunken wartet, / bis du sie holen kommst / und sie zu deinem Weibe nimmst / fort, zu den Toren des Palasts.«65

Für Jadzia hat das Lied eine wörtliche Bedeutung, sie identifiziert sich mit der Figur der Rebeka und den »Erträumten« mit dem fremden Besucher. Die symbolische Ebene, in der eben dieser Besucher für ihre jüdische Identität, ihren unbekannten Vater und metonymisch gar für das multikulturelle Vorkriegspolen steht und nostalgisch betrauert wird, erschließt sich nur dem Leser. Isaura und Rebeka sind zwei fiktive Frauenfiguren, die dem Roman durch ihren Bekanntheitsgrad und ihre emotionalen Konnotationen als nostalgische Momente zugeführt werden. Beide entstammen künstlerischen Werken, die nicht frei von Kitsch sind und als solche eine klare emotionale Wertung erfahren, die eine nostalgische Perspektive begünstigt. Gleichzeitig wird die ausgebildete Verweisstruktur jedoch im Roman genutzt, um eine ironische Dimension einzuspeisen. Diese entsteht durch eine konsequente Übertreibung, die eine implizite Kritik an misogynen Gesellschaftsstrukturen und am Antisemitismus offenlegt. Im Hinlick auf das komplexe Wechselspiel von Nostalgie und Ironie, das bereits einige terminologische Kategorien in der Nostalgietheorie hervorgebracht hat, gilt es an dieser Stelle zu betonen, dass die Konzepte in Sandberg zwei unterschiedliche Verbindungen eingehen: Erstens die Ironisierung eines grundsätzlich nostalgischen Topos’, nämlich der ›Verlorenen Gebiete‹, und zweitens das ironisch-nostalgische Spiel mit bestimmten Erinnerungsorten der Volksrepublik, das im Rekurs sowohl auf politische Ereignisgeschichte als auch auf private Alltagsgeschichte Gesellschaftskritik betreibt. Im Diskurs um die so genannten ›Verlorenen Gebiete‹ wird deutlich, dass Nostalgie dezidiert als Zuschreibungsphänomen begriffen werden muss. Die unterschiedliche Wahrnehmung des gleichen Raums durch Władek und zeigt, dass Nostalgie nicht etwa ihrem Gegenstand immanent ist. Damit ist die Gleichsetzung von Geschichte oder Erinnerung mit Nostalgie endgültig delegitimiert und die Einordnung der Nostalgie in den Bereich der Affekte bestätigt. Nostalgie zeigt sich hier des Weiteren nicht so sehr als Sehnsucht nach einem konkreten 65 »O ty wymarzony, / o ty wytęskniony, / nie wiesz o tym przecież ty, / że w małym miasteczku za tobą ktoś / wypłakał z oczu łzy, / że biedna Rebeka / w zamyśleniu czeka, / aż przyjedziesz po nią sam / i zabierzesz ją jako żonę swą / hen, do pałacu bram.« Der Text ist der Interpretation von Tadeusz Faliszewski aus dem Jahr 1932 entnommen: »Polish Tango: Rebeka – Tadeusz Faliszewski, 1932.« In: YouTube am 12.05.2011. URL: https://www.youtube.com/watch?v=X8ePFedG8ZU. Letzter Zugriff am 07.07.2016.

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Raum, sondern vielmehr als Sehnsucht danach, sich nach etwas zu sehnen. In den nostalgischen Momenten ist zu erkennen, dass ein Bedürfnis nach einer Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte besteht. Hier spielen erneut Identitätsbildungsprozesse eine wichtige Rolle. Während in Sandberg durch nostalgische Narrative Sinn und Identität konstruiert werden, lösen die ironischen Brechungen diese Konstruktionen auf und weisen Geschichte grundsätzlich als fragmentarisch und unvollständig aus. Schließlich besteht die ironische Brechung des an sich prototypisch nostalgisch narrativierten Raums darin, dass er keinesfalls individuell und konkret beschrieben wird, sondern derart abstrakt gehalten ist, dass sich sprachlich ähnliche Beschreibungen später auf gänzlich andere Räume du Zeiten richten. Damit wird die Relevanz des Gegenstandes der Nostalgie an sich in Frage gestellt. Das affektive Phänomen selbst rückt in den Mittelpunkt, während das, worauf es sich richtet, in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Die Analyse von volksrepublikanischen Topoi illustriert die Instrumentalisierung von Stereotypen zur Konstruktion nostalgischer Narrative mit einer ironischen Brechung. Die stereotype Darstellung von Politikern, Bergleuten und Funktionären, aber auch von Frauen und Juden geht einher mit bestimmten Wertungsdiskursen, insbesondere der Trivialisierung und dem Kitsch. Eine nostalgische Dimension entwickeln all diese Stereotypen durch den Grad ihrer Vertrautheit und das damit einhergehende Identifikationspotenzial für eine breite Leserschaft. Sie werden jedoch sämtlich ironisch gebrochen, indem sie überzeichnet werden und dadurch verschiedentlich Gesellschaftskritik betreiben. So werden die diskutierten Stereotype dazu genutzt, das politische System, Antisemitismus und Misogynie aufzudecken. Weitere Beispiele ließen sich etwa im Hinblick auf latente und manifeste Rassismen und Homophobie diskutieren. Hier fehlt jedoch die nostalgische Komponente. Gleichzeitig entwickelt Bator ein dichtes Gefüge von intertextuellen Verweisen, das zum Bild des sozialistischen Polen entscheidende Beiträge leisten kann. Dabei ist der Einbezug popkultureller Elemente aus Fernsehen, Musik und Literatur ein wirkmächtiges Mittel, die Handlung in der historischen Epoche zu verorten und nostalgische Potenziale beim Rezipienten abzurufen. Die Implikationen, die mit den jeweiligen Verweisgegenständen einhergehen, sind jedoch so vielschichtig, dass sie sich nicht nur als eine naive Vergangenheitsverklärung erklären lassen. Vielmehr räumen sie der Volksrepublik einen Platz in der polnischen Geschichte ein, der die Epoche mit der zweiten wie auch der dritten Republik verbindet und die gängige Deutung als historische Fehlentwicklung66 relativiert.

66 Vgl. ZYBURA 2013, S. 60.

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Abschließend ist ein nur subtil auftretendes Motiv zu nennen, und zwar der ausgeprägte Wunsch der Figuren nach materiellem Besitz. Ein Beispiel dafür bildet das Fotoalbum bzw. Halinas narrative Kontextualisierung der Bilder, die von Beschreibungen der Garderobe der angeblichen Urgroßeltern gekennzeichnet ist. Auch Stefans Enttäuschung im Angesicht der Mangelwirtschaft und der leeren Läden stellt eine Form dieses Begehrens dar. Dörthe Bischoff und Joachim Schlör formulieren unter Bezugnahme auf Jeremy Bentham: »Besitz ist die Basis einer Hoffnung«.67 In dem quasi-nostalgischen Verlangen nach Dekadenz und Überfluss äußert sich schließlich auch eine Kritik des sozialistischen Systems.

67 DÖRTHE BISCHOFF/JOACHIM SCHLÖR 2013b: »Dinge des Exils. Zur Einleitung.« In: DIES.

2013a, S. 9-20. Hier S. 12.

Nostalgie und Utopie: Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts – Bei Baba Nadja, sagte Alexander, kommt das Wasser aus einem Brunnen. Wilhelm räusperte sich. – […] [W]enn du groß bist, dann muss man nirgends in der Sowjetunion mehr Wasser aus einem Brunnen holen. Wenn du so groß bist wie dein Vater, dann ist in der Sowjetunion längst der Kommunismus angebrochen – und vielleicht schon überall auf der Welt. Dass sämtliche Brunnen abgeschafft werden sollten, fand Alexander wenig erfreulich, aber er wollte Wilhelm nicht wieder enttäuschen. Darum sagte er: – Die Sowjetunion ist das größte Land der Welt. EUGEN RUGE, IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS1

Der fünfjährige Alexander Umnitzer fährt im Jahr 1959 mit seiner Mutter Irina aus der heimatlichen DDR zur Großmutter in die Sowjetunion. Nach der Rückkehr soll er seinem Stiefgroßvater Wilhelm von der Reise berichten. Im Gespräch zwischen dem kleinen Jungen und dem sechzigjährigen partei- und systemtreuen Familienpatriarchen, das Eugen Ruge in seinem Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts inszeniert, kommt mehr zum Ausdruck als nur ein intergenerationelles Missverständnis im Spiel von Erwartung und Enttäuschung. Wäh1

Hier S. 93. Der Roman wird im Text fortlaufend unter Angabe des Kurztitels In Zeiten und der Seitenzahl zitiert.

202 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

rend Alexander durch seine kindliche Perspektive die Idylle des Dorflebens im westsibirischen Slawa in den Blick nimmt und diese Erinnerung als abenteuerliche Erfahrung eines Sommers positiv bewertet, steht der Brunnen in Wilhelms Augen für Rückschrittlichkeit und primitive Lebensart. Er stellt dem nostalgischen Blick seines Stiefenkels die kommunistische Utopie entgegen, die als Leitziel in der sowjetischen Fortschrittsideologie angelegt ist. Die Sowjetunion wird in Ruges Roman zum Projektionsraum verschiedener Figuren, hier überlappen sich Erinnerungen an ein idyllisches Dorfleben und der Traum von der klassenlosen Gesellschaft. Bei allen inhaltlichen Unterschieden lassen sich doch strukturelle Ähnlichkeiten der verschiedenen Konstruktionen beobachten: Sowohl in der Imagination als nostalgische Idylle wie auch als utopische Wunschvorstellung ist das Sowjetische eine Folie für Projektionen, die emotional aufgeladen sind und die die Hoffnungen und Sehnsüchte der Figuren widerspiegeln. Dabei wird nicht so sehr eine Vorstellung des konkreten Raums bemüht als vielmehr die eines symbolischen Ortes, der sich in einzelnen Objekten wie dem Brunnen materialisiert. Die zeitliche Gerichtetheit, die in der Nostalgie als Vergangenheits- und in der Utopie als Zukunftsbezug besteht, ist bei alledem zweitrangig. Vielmehr zeichnet sich das imaginierte Bild vor allem durch seine momentane Unerreichbarkeit und seine Vollkommenheit aus, nicht aber durch seine zeitliche Verortung. So verschwimmen in den verschiedenen Vorstellungen von der Sowjetunion Nostalgie und Utopie zu einer Einheit. Im Klappentext des Romans wird der Begriff der Utopie aufgenommen. Hier wird der Titel als Metapher gelesen: »Die Strahlkraft der politischen Utopie scheint sich von Generation zu Generation zu verdunkeln: Es ist die Zeit des abnehmenden Lichts.« (In Zeiten, Umschlagtext) Das Buchcover unterstützt diese Lesart visuell: Ein Schwarzweißfoto, das aus Untersicht aufgenommen ist, zeigt einen linkerhand mit Platten-, rechts mit Altbauten gesäumten Straßenzug, kahle Bäume und darüber eine fahle Wintersonne. Davor sind auf vier weißen geraden Balken Autor und Titel sowie der Zusatz ›Roman‹ zu lesen. Während aber Autorname und paratextuelle Einordnung schwarz gedruckt sind, nimmt sich der Titel dagegen in grellem Rot aus und ist von der Gattungszuschreibung durch einen roten fünfzackigen Stern abgegrenzt. So deutet das Cover die »Zeit des abnehmenden Lichts« als die Zeit des Roten Sterns, der als Symbol des Sozialismus den Weg zum Kommunismus leuchten soll, aber sein Ziel nicht erreicht, sondern zuvor erlischt. Im Roman selbst tritt der Titel in einem anderen Kontext auf, und zwar erneut in Bezug auf das Dorf Slawa. Hier erinnert sich die Großmutter Nadjeshda Iwanowna, von Alexander »Baba Nadja« genannt, sehnsuchtsvoll an ihre Heimat, nachdem sie zu ihrer Tochter nach Ostberlin gezogen ist:

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»Die Birken leuchteten gelb, ein warmer Herbst dieses Jahr, gut für die Ernte, dachte Nadjeshda Iwanowna. In Slawa wurden jetzt die Kartoffeln gemacht, die ersten Feuer rauchten schon, das Kartoffelkraut brannte, dann war sie gekommen, unwiderruflich: die Zeit des abnehmenden Lichts.« (In Zeiten 139)

Hier handelt es sich bei der »Zeit des abnehmenden Lichts« um eine Zeit der Ernte, der Wärme und der Gemütlichkeit vor dem Winter. Die verlässliche jährliche Wiederholung dieses Jahresabschnitts trägt zur nostalgischen Qualität der Erinnerung bei. Nadjeshda Iwanownas Erinnerung an den Herbst in Slawa ist emotional kodiert, sie schwelgt, sie zählt die vertrauten routinierten Handlungen auf und beschwört sinnliche Bilder und Gefühle herauf – die »Zeit des abnehmenden Lichts« ist hier Gegenstand von Nostalgie und hat mit dem Scheitern der Utopie nichts gemein. Die »Zeit des abnehmenden Lichts« bezeichnet also einmal die Unerfüllbarkeit einer utopischen Zukunftsvorstellung, andererseits steht sie für eine nostalgisch erinnerte Vergangenheit. Auch die Sowjetunion wird im Roman einmal als Ort der Utopie, einmal als nostalgischer Ort imaginiert. Das Bindeglied von Nostalgie und Utopie liegt in der Projektion bestimmter Ideologeme auf einen Gegenstand, der nicht gegenwärtig ist und damit per definitionem unzugänglich. Diese Zusammenhänge zwischen Nostalgie und Utopie lassen sich dahingehend untersuchen, inwiefern die Vergangenheit wie auch die Zukunft als Projektionsräume ideologischen Denkens fungieren können. Im Roman betreibt Nostalgie Ideologiekritik, gleichzeitig ist sie aber selbst ideologisch determiniert und bringt ein Bedürfnis nach ideologischer Orientierung zum Ausdruck. Als Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts 2011 den Deutschen Buchpreis gewann, hielt sich das Feuilleton bedeckt, war doch mit Uwe Tellkamps Der Turm erst drei Jahre zuvor ein Generationenroman über die DDR mit dem Preis bedacht worden. Der Jury wurde mangelnde Kreativität vorgeworfen, und im Feuilleton hieß es hämisch: »deutsche Geschichte plus Familienroman gleich Deutscher Buchpreis.«2 Der Vergleich mit Uwe Tellkamp, der in nahezu jeder Rezension bemüht wird, wird Eugen Ruges Text jedoch nicht gerecht, weil dieser sowohl sprachlich als auch inhaltlich ein anderes und dabei nicht minder wichtiges Bild der DDR zeichnet. So nimmt der Roman nicht etwa das Bürgertum in seiner oppositionellen Haltung, sondern vorrangig sozialistische Eliten in den Blick und zeigt die Konflikte derjenigen auf, die an das System glauben und 2

SEBASTIAN HAMMELEHLE 2011: »Ein allzu gradliniger Gewinner.« In: Spiegel Online am 11.10.2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/buchpreis-gewinner-eu gen-ruge-ein-allzu-geradliniger-gewinner-a-791098.html. Letzter Zugriff am 26.06. 2015.

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sich gleichzeitig mit seinen Fehlern auseinandersetzen müssen. Beide Werke setzen damit in ihrer Aufarbeitung der ostdeutschen Geschichte unterschiedliche Schwerpunkte, die bei weitem nicht austauschbar sind. Trotzdem hat sich die Germanistik bedauerlicherweise bislang wenig mit Ruges Roman beschäftigt, während es über Tellkamps Text mehrere Forschungsarbeiten gibt. In Zeiten des abnehmenden Lichts besteht aus drei Erzählsträngen, die sich unregelmäßig abwechseln und eine bemerkenswerte perspektivische Vielfalt ermöglichen. Zwar liegt durchgehend ein heterodiegetischer Erzähler vor, die Perspektive ist jedoch durch Fokalisierungswechsel von Kapitel zu Kapitel eine andere. Der erste Erzählstrang spielt im Jahr 2001 und erzählt, wie Alexander, inzwischen 47 Jahre alt, nach Mexiko reist, um dort in Folge seiner Diagnose eines tödlichen Non-Hodgkin-Lymphoms die Exilvergangenheit seiner Großeltern aufzuspüren. Dem sind fünf Kapitel gewidmet, darunter das erste und das letzte, die sämtlich durch Alexander fokalisiert sind. Der zweite Erzählstrang nimmt aus Perspektive verschiedener Charaktere Momentaufnahmen in deren Leben in den Blick, die sich mosaikartig zu einer Geschichte der Familie Powileit/Umnitzer fügen. Die acht Kapitel spielen in den Jahren 1952, 1959, 1961, 1973, 1976, 1979, 1991 und 1995. Im dritten Erzählstrang wird aus sechs verschiedenen Perspektiven in jeweils einem Kapitel von den Ereignissen des 1. Oktober 1989 berichtet. Es handelt sich um den 90. Geburtstag von Wilhelm Powileit und den Tag, an dem der Familie Alexanders Flucht in den Westen bekannt wird. Neben Alexander gehören zu den Figuren, deren Innensicht die Erzählinstanz ermöglicht, noch Wilhelm und seine Frau Charlotte, deren Sohn Kurt und seine Frau Irina (Alexanders Eltern), Irinas Mutter Nadjeshda Iwanowna sowie Alexanders Sohn Markus. Der Roman kann als Generationenroman im engsten Sinne begriffen werden.3 Charaktere außerhalb der Familie spielen allenfalls marginale Rollen. Die 3

Bei aller Einigkeit über die Genrezuschreibung als Familien- bzw. Generationenroman ist man im Feuilleton geteilter Meinung über das Verhältnis zum Urtext dieser Art, Thomas Manns Buddenbrooks. Iris Radisch bezeichnet den Text in der Zeit als den »großen DDR Buddenbrook Roman« (Iris Radisch 2011: »Ein Meter Leben retten.« In: zeit online am 01.09.2011. URL: http://www.zeit.de/2011/36/L-Eugen-Ruge. Letzter Zugriff am 26.06.2015). Darauf reagiert die Süddeutsche Zeitung mit einem Seitenhieb, wenn Radisch von Volker Breidecker in ihrem Urteil als »notorisch enthusiasmiert« herabgewürdigt wird (Volker Breidecker 2012: »Mutlose Mitte.« In: sueddeutsche.de

am

09.10.2012.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/deutscher-buch

preis-fuer-eugen-ruge-mutlose-mitte-1.1159645. Letzter Zugriff am 26.06. 2015). Auch Sebastian Hammelehle schreibt dem Roman im Spiegel die BuddenbrooksQualität nachdrücklich ab und verweist auf den seiner Ansicht nach rechtmäßigeren

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Familienstruktur ist durch Generationenkonflikte gekennzeichnet, in denen sich jeweils der Sohn gegen den Vater auflehnt und damit den vorangegangenen Lebensentwurf in Frage stellt: Der Ausgangspunkt liegt bei Wilhelm, dem Funktionär, der nicht nur den Idealen des Sozialismus, sondern auch der Deutschen Demokratischen Republik treu ergeben ist. Sein Stiefsohn Kurt ist ein rationaler Wissenschaftler, der dem Sozialismus anhängt, jedoch gegenüber der praktischen Umsetzung in der DDR kritische Zweifel hegt. Alexander, der von seiner russischen Mutter Sascha genannt wird, ist der erste Protagonist, der im sozialistischen System aufwächst und keine Alternativen kennt. Er rebelliert gegen die Ideale seines Vaters. Markus ist beim Mauerfall 12 Jahre alt, und dort, wo er noch auf die sozialistische Ideologie trifft, erscheint ihm diese als lächerlich und grotesk. Deswegen kann er auch die Auflehnung seines Vaters, die in der Republikflucht gipfelt, nicht als solche erkennen, sondern fühlt sich schlicht von ihm im Stich gelassen. Der Roman folgt mit dieser Struktur zwar der männlichen Linie der Familie, allerdings spielen mit Charlotte und Irina die Frauen eine wesentlich prominentere Rolle als etwa bei Uwe Tellkamp.4 Das Feuilleton verweist mit Nachdruck auf die autobiographischen Elemente, die sich durch den Text ziehen und seine Entstehung überhaupt erst möglich gemacht haben.5 Dabei liegt das Augenmerk besonders auf dem Schlüsselcharakter der Figuren Alexander und Kurt Umnitzer, die sich als Eugen Ruge selbst und sein Vater Wolfgang dechiffrieren lassen. Diese autobiographischen Elemente sind nicht gänzlich zu ignorieren, weil vor allem die Figur des Kurt Umnitzer stark durch den Beruf als Geschichtswissenschaftler definiert ist und die damit verbundenen ideologischen Hintergründe auch durch den Historiker Wolfgang Ruge und seine Rolle in der Geschichtswissenschaft der DDR determiniert sind.6 Ohne in biographistische Vergleiche abzugleiten wird es deshalb Träger dieses Titels, Uwe Tellkamps Der Turm, bei dem man die »reichen Mittel des klassischen bürgerlichen Romans« eher finden könne (Hammelehle 2011). 4

Eugen Ruges Roman Follower (2016), der als lose Fortsetzung von In Zeiten des abnehmenden Lichts verstanden werden muss und bezeichnenderweise in einer utopischen und von technischem Fortschritt bestimmten Zukunft spielt, schreibt diese Linie noch weiter: Der Protagonist ist Alexander Umnitzers Enkel Nio, Markusʼ Sohn.

5

Vgl. insb. Kegel 2011.

6

Deutlich wird die Bedeutung Wolfgang Ruges als Wissenschaftler vor allem in der autobiographischen Analyse der DDR-Geschichtswissenschaft von Joachim Petzold, vgl. JOACHIM PETZOLD 2000: Parteinahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. Hrsg. v. Martin Sabrow. Potsdam. Auch in den verschiedenen Forschungsarbeiten zur DDR-Geschichtswissenschaft, um die sich vor allem Martin Sabrow verdient gemacht hat, tritt der Name Wolfgang Ruge auf, vgl. et-

206 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS

im Folgenden Verweise auf das Geschichtsverständnis der DDR geben, die indirekt auch auf Wolfgang Ruge Bezug nehmen. Eine Analyse von In Zeiten des abnehmenden Lichts muss dabei anerkennen, dass sie einen Roman zum Gegenstand hat, der den Möglichkeiten und Grenzen fiktionaler Texte unterliegt – anders als Wolfgang Ruges Autobiographie. Bezeichnend ist, dass Eugen Ruge nur ein Jahr nach Erscheinen seines Debutromans die Memoiren seines Vaters überarbeitet und, nach deren Ersterscheinung im Jahr 2003, neu herausgegeben hat. Gelobtes Land – Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (2012)7 ist ein autobiographischer Text, der diejenigen Teile der Familiengeschichte beleuchtet, die der Roman nicht wiederzugeben vermag. In Zeiten des abnehmenden Lichts erzählt eine kontinuierliche Geschichte mit einer klaren Linie, deren subtile Brüche nur durch die fragmentarische Anordnung und die multiple Perspektivierung zum Vorschein kommen. Stilistisch zeigt sich Eugen Ruges Prägung durch das Theater: In einem wesentlich höheren Maße als die zuvor besprochenen Texte setzt der Roman auf Dialoge, um die Handlung voranzutreiben. Dementsprechend sind auch die Generationenkonflikte durch Streitgespräche zwischen den Figuren modelliert, in denen die Funktionen ideologischen Denkens am Beispiel des Sozialismus kritisch reflektiert werden, wie es Angelika Overath in der Neuen Zürcher Zeitung herausstellt: »Dieser intensive, spannende Roman ist auch ein melancholischer Text über die Vergänglichkeit. Er relativiert jeden ideologischen oder religiösen Imperativ im Namen der Würde eines endlichen Menschenlebens.«8 Die Auseinandersetzung mit der politischen Dimension des Lebens im Sozialismus ist demnach bei Ruge wie schon bei Tellkamp explizit, wohingegen das volksrepublikanische politische System bei Iwasiów und Bator eine eher untergeordnete Rolle für das Denken und Handeln der Charaktere spielt. Wie schon Joanna Bators Sandberg, so gibt Eugen Ruges Roman auch der Nachwendezeit Raum und bringt die DDR damit sowohl als Gegenwart der Protagonisten im Text zur Darstellung als auch als erinnerte Vergangenheit. Der 1. wa MARTIN SABROW 2001: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969. München sowie DERS. 2005: »Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft in der DDR.« In: CHRISTOPH CORNELIßEN (Hrsg.): Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen. S. 83-99. 7

Die frühere Fassung trägt den Titel Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen einer Emig-

8

ANGELIKA OVERATH 2011: »Ostdeutscher Totentanz.« In: NZZ online am 08.10.

ration. 2011. URL: http://www.nzz.ch/ostdeutscher-totentanz-1.12889360. Letzter Zugriff am 26.06.2015.

N OSTALGIE UND UTOPIE

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Oktober 1989 fungiert dabei als Scheitelpunkt; implizit strukturiert sich das Romangeschehen in ein Davor und ein Danach. Demzufolge bildet nicht der Fall der Mauer den Zenit der Ereignisse, sondern Alexanders Flucht in den Westen – wenngleich Alexander die einzige Hauptfigur ist, deren Perspektive auf diesen 1. Oktober 1989 nicht erzählt wird. Das Datum ist bezeichnend: Es geht dem Roman nicht um eine Darstellung politischer Ereignisse wie dem Mauerfall, sondern darum, wie sich das Individuum gegenüber Politik und Gesellschaftssystem positioniert. Eine besondere Rolle spielt dementsprechend einmal mehr das Verhältnis von Staatsideologie und persönlichem Werteuniversum. Dabei ist der Traum von einer besseren Welt für die Figuren bestimmend: für Alexander, der in den Westen flieht; für Kurt, der verzweifelt an der Idee der DDR hängt; für Wilhelm, der die sozialistische Utopie in der Sowjetunion kurz vor der Verwirklichung sieht; und für Charlotte, die sich nostalgisch ins mexikanische Exil zurücksehnt. Die entscheidende Frage ist deswegen, inwiefern all diese Sehnsüchte im Roman nostalgische und utopische Momente miteinander verschmelzen und welche Rolle eine – und nicht ausschließlich die sozialistische – Ideologie dabei spielt.

N OSTALGIE

UND

U TOPIE

Das Utopische ist, wie schon zuvor das Ironische, ein fester Bestandteil des Vokabulars von Nostalgietheorien, in denen es vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die jeweilige Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Nostalgie umrissen wird. Unter Bezugnahme auf die Nostalgieforschung können strukturelle Ähnlichkeiten von Nostalgie und Utopie im Folgenden zunächst als Grundlage dafür dienen, das Wechselspiel der Konzepte klarer zu fassen. Auch die Relevanz des Ideologiebegriffs für beide Begriffe im Hinblick auf die anschließende Textanalyse ist zu diskutieren. In der Forschung wird die Utopie zumeist als zukunftsorientiertes Gegenstück zur vergangenheitsbezogenen Nostalgie eingeführt. Der Nexus der beiden Phänomene findet sich besonders namhaft bei Svetlana Boym – immerhin weist ihr Werk schon mit dem Titel The Future of Nostalgia ein Spiel mit der zeitlichen Verortung auf. Boym schreibt in der Einleitung, dass der Nostalgie eine »utopische Dimension«9 inne wohne. Sie erläutert:

9

BOYM 2001, S. xiv: »utopian dimension«.

208 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »Nostalgia is not always about the past; it can be retrospective but also prospective. Fantasies of the past determined by needs of the present have a direct impact on realities of the future. Consideration of the future makes us take responsibility for our nostalgic tales.«10

Boym geht auf alle drei Zeitstufen und ihre Bedeutung für die Nostalgie ein: In der Vergangenheit liegt der Gegenstand, den die Nostalgie imaginiert; die Gegenwart stellt die Bedürfnisse, die Nostalgie überhaupt erst motivieren; und die Zukunft ist die eigentliche Einflusssphäre der Nostalgie. So wie die Nostalgie Vergangenheitsbilder hervorbringt, entstehen in der Utopie bestimmte Vorstellungen von der Zukunft. Zwischen diesen Konstruktionen kann nach Boym ein Sinnzusammenhang bestehen. Sie löst Diskussionen über nostalgisches Denken von der Vergangenheit und spricht sich dafür aus, den Einfluss der Nostalgie für Gegenwart und Zukunft anzuerkennen. Das gemeinsame Element des nostalgischen und des utopischen Denkens besteht dabei in der Imagination von und der Sehnsucht nach einer Alternative zur Gegenwart, die der Ausgangs- und Referenzpunkt bleibt. Nostalgische und utopische Konstrukte lassen sich nur im Hinblick auf die Bedürfnisse der Gegenwart (»needs of the present«) begreifen. Dabei ist die zeitliche Verortung in Vergangenheit respektive Zukunft nur insofern relevant, als dass es sich um einen dezidiert nicht gegenwärtigen Zeitpunkt handelt. Scott Alexander Howard beschreibt den Gegenwartsbezug der Nostalgie mit dem »poverty of the present requirement«,11 demzufolge Nostalgie aus einem empfundenen Mangel in der Gegenwart entsteht. Die Formulierung schließt an die bei Boym genannten Bedürfnisse der Gegenwart an. Howard spricht auch ein damit einhergehendes grundsätzliches Problem an: die Gefahr, in der nostalgischen Erinnerung nicht etwa tatsächliche Charakteristika der Vergangenheit zu benennen, sondern stattdessen durch eine Neukonstruktion der Vergangenheit den Wunsch danach zu erfüllen, dass das gegenwärtige Defizit getilgt werde. Wenn dies geschieht, handelt es sich bei der nostalgischen Erinnerung um eine Projektion von Sehnsüchten auf die Vergangenheit. Dass ein gegenwärtig empfundener Mangel die Vorstellung von Alternativen motiviert, kann ebenso als Mechanismus von utopischen Zukunftsvorstellungen geltend gemacht werden. Die Utopie-Definition nach Bernhard Spies lautet: »Als Utopien bezeichne ich Ideen einer besseren Welt, die das vorgestellte Gute der Gegenwart entgegensetzen; anders ausgedrückt: die nicht Ideale des Gelingens der gegebe-

10 Ebd., S. xvi. 11 HOWARD 2012, S. 643.

N OSTALGIE UND UTOPIE

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nen Ordnung imaginieren, sondern eine andere, der vorfindlichen Welt entgegengesetzte Ordnung.«12

Diese Begriffsbestimmung schließt an Karl Mannheims Ideologie und Utopie an. Dort wird das »utopische Bewußtsein« als eines definiert, »das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet.«13 Die Utopie ist dann eine Nostalgie der Zukunft, die Nostalgie hingegen eine Utopie der Vergangenheit. In beiden Fällen wird eine narrative Modellierung von Sehnsüchten vorgenommen, deren Kristallisationspunkt immer die Gegenwart bleibt. Zusätzlich spiegelt sich auch das für die Nostalgie signifikante komplexe Verhältnis von räumlicher und zeitlicher Komponente im Begriff der Utopie: So untersucht Reinhart Koselleck die Entwicklung der literarischen Utopie und beschreibt, wie seit dem 18. Jahrhundert die vormals gängigen Darstellungen einer räumlich entfernten Gegenwelt von Konstruktionen einer alternativen Zukunft abgelöst werden.14 Eine begriffliche Verschiebung von einem räumlichen zu einem zeitlichen Phänomen sieht Jean Starobinski ebenfalls im 18. Jahrhundert für die Nostalgie gegeben.15 Diese Entwicklung führt für Utopie wie für Nostalgie schließlich zu einer Verschränkung der beiden Dimensionen, die den als utopisch bzw. nostalgisch dargestellten Raum mit einer starken temporalen Prägung versieht und damit als Chronotopos ausweist. Der Bezug zur Gegenwart bleibt dabei von essentieller Bedeutung. In Bezug auf Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts stellt sich die Frage, welche Mängel in der dargestellten sozialistischen und postsozialistischen Gegenwart sowohl die utopischen Zukunftsentwürfe als auch die nostalgischen Rückwendungen motivieren. Hier schließt der Begriff der Ideologie an. Karl Mannheim entwirft sein Utopie-Konzept in Abgrenzung zur Ideologie. Ein Zusammenhang zwischen beiden Begriffen in Eugen Ruges Text ist bereits deutlich geworden, wenn in Wilhelms Worten die kommunistische Utopie als Zielpunkt sozialistischer Ideologie charakterisiert wird. Im Folgenden wird davon ausgegangen, 12 Bernhard Spies 1992: »Der Anteil der sozialistischen Utopie an der Beendigung der DDR-Literatur. Am Beispiel Christoph Heins.« In: The Germanic Review 3, Vol. 67. S. 112-118. URL: http://search.proquest.com/docview/1290314378/fulltextPDF?acc ountid=11531. Letzter Zugriff am 06.04.2016. Hier S. 118, Anm. 3, Herv. i.O. 13 KARL MANNHEIM 61978: Ideologie und Utopie. Frankfurt am Main, S. 169, Herv. i.O. 14 Vgl. REINHART KOSELLECK 1982: »Die Verzeitlichung der Utopie.« In: WILHELM VOßKAMP (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart. S. 1-14. 15 Vgl. STAROBINSKI 1966, S. 94.

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dass ideologische Vorstellungen die Wahrnehmung von Bedürfnissen bzw. Mängeln der Gegenwart steuern und so dazu beitragen, dass nostalgische und utopische Entwürfe überhaupt erst entstehen. Die Forschung gesteht selbstkritisch ihre Ohnmacht gegenüber der Vielfalt verschiedener Ideologiebegriffe ein und spricht sich gegen eine allgemeingültige Begriffsbestimmung aus.16 Peter Tepe schlägt eine Unterscheidung von mindestens drei Kategorien vor: »Die erkenntniskritische Ideologieforschung befasst sich mit den Formen verzerrten Denkens mit dem Ziel, diese so weit wie möglich zu überwinden; die weltanschauungsanalytische Ideologieforschung untersucht Ideen- und Wertsysteme, während die programmanalytische Ideologieforschung soziopolitische Programme thematisiert.«17

Aus dieser Beobachtung leitet Tepe die Notwendigkeit für mindestens drei Ideologiebegriffe ab: Ideologie im negativen Sinne als »durch bestimmte Wünsche, Bedürfnisse, Interessen« geleitetes »verzerrtes, illusionäres Denken«, im neutralen oder positiven Sinne als »Ideen- und Wertsystem bzw. Weltanschauung« oder als »soziopolitisches Programm«.18 Wenn eine Auseinandersetzung mit Ideologie Aufschluss über die Funktion nostalgischer Vergangenheits- und utopischer Zukunftsentwürfe bei Eugen Ruge geben soll, sind der zweite und der dritte Ideologiebegriff von Relevanz: Ideologie als Weltanschauung im Hinblick auf die Konstruktion »besserer Welten« im Allgemeinen, Ideologie als soziopolitisches Programm in Bezug auf Sozialismus und seine politische Theorie im Besonderen. Beide Ideologieformen sind nicht immer klar voneinander zu trennen, weil sie sich gegenseitig bedingen.19 So gibt es zwischen ihnen auch im Roman Wechselwirkungen. Eine explizite Verbindung von Nostalgie, Utopie und Ideologie findet sich schließlich bei Susan Stewart. Sie ergänzt in ihrem Werk On Longing den Schulterschluss von Nostalgie und Utopie um eine ideologische Dimension: »Nostalgia, like any form of narrative, is always ideological: the past it seeks has never existed except as narrative, and hence, always absent, that past continually threatens to reproduce itself as a felt lack. Hostile to history and its invisible origins, and yet longing for an impossibly pure context of lived experience at a place of origin, nostalgia wears a dis16 TERRY EAGLETON 1991: Ideology. An Introduction. London/New York. S. 1 sowie KLAUS-GERD GIESEN (Hrsg.) 2004: Ideologien in der Weltpolitik. Wiesbaden. S. 10. 17 PETER TEPE 2012: Ideologie. Berlin et.al. (ebook). S. 17. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd., S. 44-48.

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tinctly Utopian face, a face that turns towards a future-past, a past which has only ideological reality. This point of desire which the nostalgia seeks is in fact the absence that is the very generating mechanism of desire. As we shall see in our discussion of the souvenir, the realization of re-union imagined by the nostalgic is a narrative Utopia that works only by virtue of its partiality, its lack of fixity and closure: nostalgia is the desire for desire.«20

Stewart begreift Nostalgie als ein ideologisches Phänomen, und zwar auf Grund ihrer narrativen Gestalt, die einem Gegenstand Form gibt, der nicht existiert. Ihr Verständnis von Ideologie entspricht der ersten Definition nach Tepe: Sie legt ein bedürfnisorientiertes und illusionäres Denken zugrunde, infolgedessen sie nicht nur den Ideologiebegriff, sondern auch Nostalgie an die Verzerrung und Verfälschung von historischen Fakten bindet und somit pejorativ gebraucht.21 Grundsätzlich ist ihr Nostalgiekonzept deshalb nicht dem vorliegenden Begriff zu vereinbaren, der von wahrheitsgemäßen, wenn auch selektiven Darstellungen ausgeht. Wenn Stewarts Analyse des nostalgischen Narrativs deswegen auch anfechtbar ist, so sind ihre Beobachtungen im Hinblick auf die Genese, die Funktion und die mögliche Instrumentalisierung nostalgischer Vergangenheitskonstruktionen dennoch von Interesse: Erstens geht auch Stewart von einem gegenwärtig empfundenen Mangel (»felt lack«) als Grundlage von Nostalgie aus. Dieser Mangel besteht in einer Vorstellung von der Vergangenheit an sich, die gleichzeitig als ideologisch kodierter Entwurf einer potenziellen Zukunft utopische Züge trägt. Bis hierhin kann das Ideologische bei Stewart durchaus als Weltanschauung (im Sinne des zweiten Ideologiebegriffs nach Tepe) verstanden werden, die nicht zwangsläufig verfälschendem Denken verfallen muss. Zweitens ergänzt Stewarts Theorie die Nostalgiedebatte um einen interessanten Gedanken: In der Nostalgie verschmelzen ihr zufolge Vergangenheitsentwürfe und Zukunftsbilder vor dem Hintergrund ideologisch geprägter Wunschvor20 STEWART 1993, S. 23. 21 Den oben genannten drei grundlegenden Ideologiebegriffen fügt Tepe noch zwei optionale bei, an deren ersten diese Überlegung anschließen. Hier bezeichnet Ideologie ein »definitiv falsches Bewusstsein weltanschaulicher oder soziopolitischer Art« (TEPE

2012, S. 22, Herv. i.O.). Damit wird auf Karl Marxʼ Ideologieverständnis rekur-

riert. Der letzte mögliche Ideologiebegriff Tepes, dem es um Vermittlung von Ideologien im Sinne von Weltanschauungen bzw. politischen Programmen geht (ebd., S. 29), definiert bereits nicht mehr Ideologien selbst, sondern eine Handlungskonsequenz. Diese zwei Definitionsoptionen markiert Tepe als fakultativ, während er die genannten ersten drei Möglichkeiten als notwendige Grundlage der Theoriebildung begreift.

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stellungen zu einer Einheit, deren andauernde Reproduktion dem Nostalgiker den Mangel der Gegenwart kontinuierlich vor Augen führt. Nostalgie bestimmt sich deshalb durch ein Paradoxon, in dem sie sich danach sehnt, die Leerstelle zu füllen, die sie selbst immer wieder generiert. Stewart bezeichnet diesen Mechanismus als das Verlangen nach dem Verlangen (»desire for desire«). Notwendiger Bestandteil der Nostalgie wie auch der Utopie ist demnach nicht nur der ideologisch kodierte Mangel in der Gegenwart, sondern auch die Unmöglichkeit seiner Beseitigung. Stewarts Theorie verdeutlicht den Einfluss nostalgischer Vergangenheitsentwürfe auf die Zukunft und die Möglichkeit, nostalgische Bilder für ideologisch determinierte utopische Zukunftsvorstellungen zu benutzen. Indem sie außerdem Nostalgie als ein »Verlangen nach dem Verlangen« bezeichnet, stellt sie die Möglichkeit in den Raum, dass die Konstruktion nostalgischer (und utopischer) Alternativen zur Gegenwart eine selbstreferentielle Komponente beinhaltet. Nostalgie strebt nicht nach einer Erfüllung ihrer Sehnsucht, sondern nach der Sehnsucht selbst, nicht danach, den Mangel der Gegenwart zu beheben, sondern ihn sicht- und fühlbar zu machen. In der Nostalgie steckt dann aber gleichzeitig ein Verlangen nach Ideologie, nach einer richtungsweisenden Weltanschauung bzw. einem soziopolitischen Programm, das bestimmte Mängel der Gegenwart überhaupt erst aufdeckt und damit eine Orientierungsmöglichkeit bietet. Im Gespräch mit Hans-Jost Weyandt konstatiert Eugen Ruge, dass die Freiheit als Ideologie des Westens die staatspolitische Doktrin des Sozialismus abgelöst hat: »Wir sollten nicht denken, wir lebten heute frei von Ideologien. Unsere Ideologie heißt Freiheit. […] Was ich sagen will: Es gibt keine ideologiefreien Räume, auch im Westen nicht.«22 Freiheit als alternative Ideologie zur sozialistischen Doktrin ist im Roman in der Figur des Alexander verankert. Ruges Aussage geht jedoch über konkrete Wertesysteme oder Programmatiken weit hinaus: Ideologie ist ihm zufolge eine gesellschaftliche Grundkonstante,23 die eine Bewertung und damit auch eine Kritik der Gegenwart möglich macht und die sowohl als Weltanschauung wie auch als soziopolitisches Programm nostalgische und utopische Alternativen zur Gegenwart inspirieren kann. Umgekehrt lassen 22 HANS-JOST WEYANDT 2011: »Die DDR war nie schön für mich.« Interview mit Eugen Ruge. In: Spiegel Online am 10.10.2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/litera tur/buchpreis-kandidat-ruge-die-ddr-war-nie-schoen-fuer-mich-a-790861.html. Letzter Zugriff am 26.06.2015. 23 Vgl. auch TEPE 2012, S. 26: »[M]an kann als Mensch nicht keine weltanschaulichen Überzeugungen haben« (Herv. i.O.) sowie ebd., S. 27: »Man kann von einem soziopolitischen Programm zu einem anderen übergehen, aber nicht aus solchen Auffassungen generell aussteigen«.

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nostalgische und utopische Narrative in In Zeiten des abnehmenden Lichts Rückschlüsse auf Ideologien des Sozialismus wie auch des Postsozialismus zu.

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IN I N

Z EITEN DES

ABNEHMENDEN

L ICHTS

Ideologien bringen im Rahmen einer Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen im Roman utopische Zukunfts- und nostalgische Vergangenheitsentwürfe hervor. Am Beispiel von Konfigurationen der Sowjetunion durch Nadjeshda Iwanowna und Wilhelm zeigt sich, inwiefern nostalgische und utopische Perspektiven sich gegenseitig beinhalten. Es wird außerdem deutlich, wie beide Blickwinkel zudem durch den traumatischen Aspekt der Vergangenheit aus Sicht von Irina und Kurt gebrochen werden. Der Generationenkonflikt zwischen Kurt und Alexander birgt eine weitere Perspektive auf das begriffliche Spannungsfeld. In ihm tragen Vater und Sohn stellvertretend einen ideologischen Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus aus, der sich durch die jeweiligen systemtypischen utopischen Zukunftsentwürfe bestimmt, schließlich aber in einer nostalgischen Rückwendung aufgelöst wird. Schließlich sind auch die exotisierenden Mexikonarrative im Roman zu betrachten, die als nostalgische Erinnerungen von Charlotte und als utopische Zukunftsträume von Alexander nebeneinander stehen. Ein Fernseher, der Russisch spricht Die Sowjetunion ist bereits eingangs als Projektionsfläche für sowohl nostalgische Vergangenheitsentwürfe als auch utopistische Zukunftsvorstellungen im Roman vorgestellt worden. Sie tritt außerdem als negativ konnotierter Gegenentwurf zur DDR auf: So gilt sie als Ort des Lagers für Kurt und als Ort des Kriegs für Irina. Die Sowjetunion ist im kulturellen Gedächtnis Ostmitteleuropas nicht selten als imperialer Souverän und als Feindbild verankert, und zwar nicht erst seit 1989/90.24 Der gleiche Gegenstand wird somit im Text sowohl als nostalgischer, als utopischer und als traumatischer Erinnerungsort narrativiert.

24 Man denke an Milan Kunderas harsche Abgrenzung der Tschechoslowakei und weiterer mitteleuropäischer Staaten von Sowjet-Russland in MILAN KUNDERA 1984: »Un occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas«. Aus dem Französischen von Cornelia Falter. In: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 7, Jg. 2. S. 43-52, hier z.B. S. 46: »Und in der Tat konnte für Mitteleuropa und seine Leidenschaft für Vielfältigkeit nichts fremder sein als das einförmige, auf Verbreitung dieser Einför-

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Alle drei Perspektiven sind in der folgenden Szene angelegt, die sich Weihnachten 1976 abspielt. Irinas Mutter Nadjeshda Iwanowna ist kürzlich aus der Sowjetunion in die DDR übergesiedelt. » – Schönes Zimmer, sagte Nadjeshda Iwanowna, alles gut. Nur den Fernseher hätten wir lieber in Moskau kaufen sollen. – Aber Mama, mischte Irina sich ein, ich habe dir doch einen Fernseher gekauft! Du hast doch einen Fernseher! – Ja, sagte Nadjeshda Iwanowna. Aber es wär doch besser gewesen, wir hätten ihn in Moskau gekauft. – Ein Unsinn, sagte Irina. Als ob wir nicht schon genug Gepäck gehabt hätten! Und überhaupt, der Fernseher, den ich dir gekauft habe, ist doch viel besser als alles, was wir in Moskau gekriegt hätten. – Ja, aber hätten wir ihn in Moskau gekauft, sagte Nadjeshda Iwanowna, hätte er Russisch gesprochen. Alle lachten, Wilhelm sogar zweimal: einmal, als alle lachten, und einmal, als Sascha ihm den Dialog übersetzte. Dann sagte er: – Aber grundsätzlich gibt es auch in der Sowjetunion sehr gute Fernseher.« (In Zeiten 260f.)

Nadjeshda Iwanowna konfiguriert die Sowjetunion als den Ort der vertrauten Sprache und Kultur und damit als Gegenstand nostalgischer Sehnsucht. Irina widerspricht dem entschieden; auf Grund ihrer eigenen traumatischen Erfahrungen wehrt sie sich gegen die positive Bewertung der Sowjetunion durch ihre Mutter. Wilhelms Kommentar schließlich beweist bedingungslose Loyalität gegenüber dem ›Bruderstaat‹ und seiner Fortschrittsideologie. Alle drei Reaktionen auf die Sowjetunion sind symptomatisch für die jeweiligen Figuren. Nadeshda Iwanownas nostalgische Erinnerungen an ihr Heimatdorf Slawa sind Gegenstand des Kapitels, in dem ihre Perspektive auf den 1. Oktober 1989 wiedergegeben wird. Sie sind durch Elemente des einfachen, idyllischen Landlebens geprägt. Auch sprachlich ist die Nostalgie in diesem Kapitel stark verankert: Alle einprägsamen Erfahrungen in der DDR werden durch den wiederkehrenden Zusatz »Das glaubte ihr keiner in Slawa« (In Zeiten 140, 141, 143, 144, 148) versehen, so dass der Bezug zur sowjetischen Heimat stets präsent bleibt. Slawa wird konstruiert als ein Ur-Ort, an dem alles einer einleuchtenden Ordmigkeit bedachte zentralistische Rußland, das alle Nationen seines Imperiums (Ukrainer, Belorussen, Armenier, Letten, Litauer usw.) mit unerbittlicher Entschlossenheit in ein einziges russisches Volk verwandelte (oder wie man heute im Zeitalter allgemeiner Mystifikation der Sprache lieber sagt: in ein einziges sowjetisches Volk)«.

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nung folgt, während nachfolgende Lebensentwürfe im Vergleich verwirrend oder sogar moralisch verwerflich sind, etwa: »[…] das glaubte ihr keiner in Slawa: Die Frau fuhr Auto, und der Mann ging zu Fuß […]« (In Zeiten 148).25 Unterdessen ist Slawa in den Worten Nadjeshda Iwanownas ein weitgehend entpolitisierter Ort, der vorrangig in individuellen und privaten Erinnerungen in Erscheinung tritt. Allerdings wird Slawa auch mit dem Begriff des Fortschritts konnotiert. Im Gespräch mit Kurt berichtet Nadjeshda Iwanowna von der Modernisierung Sibiriens durch die Sowjets nach der Oktoberrevolution26: »In Slawa reißen sie Kirchen ab, hieß es. Da machen sie elektrischen Strom. Damit wollte sie nix zu tun haben, meine Mutter. Die war ja gegen den Fortschritt. Dass sie Kirchen abgerissen haben, das war eine Schande. Aber elektrischer Strom, warum nicht?« (In Zeiten 150)

Nadjeshda Iwanowna entwirft Slawa also nicht nur als Ort des mythischen Ursprungs, sondern auch als Ort des Fortschritts. So laufen hier nostalgische und utopische Elemente zusammen. Dabei zeichnet sich bereits ein Generationenkonflikt zwischen Nadjeshda Iwanowna und ihrer Mutter Marfa ab, der sich in ihrem Verhältnis zu Irina spiegelt: In beiden Fällen verachtet die Tochter ihre Mutter als rückschrittlich und weltfremd. Darin modelliert sich auch das Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Wilhelms Perspektive in der Auseinandersetzung um Nadjeshda Iwanownas Fernseher ist die des überzeugten sozialistischen Ideologen. Er verteidigt die Leistungen der Sowjetunion in beinahe floskelhafter Manier. Für ihn ist sie derjenige Ort, der der Verwirklichung der kommunistischen Utopie am nächsten ist. Die uneingeschränkte und unkritische Akzeptanz der offiziellen ideologischen Programmatik des Sozialismus kommt außer durch Wilhelm im Roman kaum 25 Wie im einführenden Zitat deutlich geworden ist, nimmt auch Alexander eine nostalgische Perspektive auf Slawa ein, allerdings nur als kleiner Junge. Seine Wahrnehmung reduziert sich auf das dörfliche Miteinander und den offen emotionalen Umgang der Menschen miteinander: »Anderntags kamen alte Frauen mit Kopftüchern. Sie sangen bis in die Nacht. Zuerst lustige Lieder. Dabei klatschten sie in die Hände, manche tanzten sogar. Dann sangen sie traurige Lieder. Dann weinten sie. Zum Schluss umarmten sich alle und wischten sich die Tränen aus dem Gesicht. – Schade, sagte Alexander, dass wir zu Hause nicht auch alle in einem Zimmer wohnen.« (In Zeiten 92) Für den erwachsenen Alexander spielt die Sowjetunion als Referenzraum keine Rolle mehr. 26 Zu den historischen Hintergründen vgl. EVA-MARIA STOLBERG 2009: Sibirien: Russlands »Wilder Osten«. Mythos und Realität im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart.

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zum Tragen. Nur vereinzelt wird sie subtil in die Romanhandlung eingeflochten und mit den privaten Perspektiven und inneren Konflikten der Figuren kontrastiert.27 Wilhelms Apologie der Sowjetunion dagegen radikalisiert sich am Schluss des Romans bis hin zu einer quasi-nostalgischen Verteidigung des Stalinismus: » – Die wussten schon, warum. – Warum was, fragte Charlotte. – Warum sie solche Leute weggesperrt haben, sagte Wilhelm und fügte nach einer Pause hinzu: Solche wie deine Söhne.« (In Zeiten 403, Herv. i.O.)

Dieser Kommentar trägt entscheidend dazu bei, dass Charlotte Wilhelm schließlich vergiftet. Als stereotyper Funktionär scheitert Wilhelm damit im Roman an seiner Ideologie. Gleichzeitig entwickelt sich das utopische Potenzial der Sowjetunion im Roman insofern weiter, als dass sie am Tag von Wilhelms Tod auch als Ort der politischen Umwälzung und der Demokratisierung auftritt: »Auf Korbatschow, sagte Bunke. Auf die Berestroika in der DDR!« (In Zeiten 335) Bunke ist einer der geladenen Funktionäre auf Wilhelms 90. Geburtstag, ausgerechnet ein hoher Beamter der Staatssicherheit. Die Sowjetunion ist hier weiterhin der Vorbildstaat, dessen Beispiel die ideologische Linie vorgibt. Natürlich illustrieren die Ereignisse dieses Tages auch die Bigotterie der politischen Elite der DDR und ironisieren die politischen Ereignisse nicht zuletzt durch Bunkes Verwendung des sächsischen Dialekts. Die Gegenüberstellung von Nadjeshda Iwanownas verträumten Erinnerungen an Slawa mit den politischen Floskeln Wilhelms und Bunkes demonstriert, dass der Roman sich von politischer Ereignisgeschichte abkehrt und stattdessen die Vielfalt individueller Positionen gegenüber dem Leben in der DDR in den Blick nimmt, deren Unvereinbarkeit er zelebriert. Es entsteht kein kohärenter Gegenstand in den verschiedenen Konfigurationen der Sowjetunion. Stattdessen werden unterschiedliche Kritikpunkte an der Gegenwart deutlich. Grotesk ist deswegen die Beobachtung, dass sowohl die nostalgische Erinnerung Nadjeshda Iwanownas an die dörfliche Idylle in Slawa als auch Wilhelms Rechtfertigung des Stalinismus als notwendige Entwicklungsstufe auf dem Weg zur kommunistischen Utopie auf dem gleichen Mangel in der Gegenwart beruhen: Beide sind

27 Etwa im Kapitel »1961« bei der Beschreibung von Charlottes Arbeitsplatz: »Die Wandzeitung kündete vom neuesten Triumph der sowjetischen Technik und Wissenschaft: Vorgestern war ein Sowjetbürger namens Juri Gagarin als erster Mensch in den Weltraum geflogen« (In Zeiten 117).

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mit den Komplikationen und Relativierungen der Gegenwart überfordert und träumen von einer Gesellschaft mit klaren Regeln. Die nostalgisch-utopische Perspektive auf die Sowjetunion als den »besseren Ort« wird durch Irinas Reaktion auf Nadjeshda Iwanownas Wunsch nach einem russischen Fernseher gebrochen. Dieselbe steht im Zeichen der erst wenige Seiten zuvor geschilderten Eindrücke von Irinas letztem Besuch in Slawa: »Im März hatte man Petja Schyschkin beraubt, ihren letzten entfernten Verwandten: Nachts, bei sechsundvierzig Grad Kälte, hatte man ihn ausgezogen bis auf die Unterhose, und Petja, natürlich betrunken, hatte vergeblich an den umstehenden Häusern geklopft und war auf dem Weg nach Hause erfroren. Das war Slawa. Das war ihre Heimat. Und es kam ihr […] wie ein böser Traum vor, dass sie tatsächlich einmal verblendet genug gewesen war, möglichst bald für diese Heimat sterben zu wollen: Für die Heimat, für Stalin! Hurra!« (In Zeiten 250, Herv. i.O.)

Die Sowjetunion ist in Irinas Erfahrung ein grausamer Ort und mit emotional positiv konnotierten Vorstellungen einer nostalgischen oder utopischen besseren Welt nicht zu vereinbaren. Der damit verbundene ideologische Personenkult um Stalin wird von Irina im Nachhinein als Verblendung bezeichnet. Wie bereits in Uwe Tellkamps Der Turm treten auch hier das Nostalgische und das Traumatische gleichzeitig auf, kommentieren und relativieren sich gegenseitig. Irinas traumatische Erfahrungen in Russland ziehen überdies eine dezidiert antinostalgische Haltung gegenüber ihrem Herkunftsland nach sich: »Gegen jede Art russischer Folklore war sie geradezu allergisch, und auch sonst, hatte Kurt festgestellt, gab es im Land der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eigentlich nur Mist […].« (In Zeiten 165) Irina, die grundsätzlich dem Sammeln von Memorabilia und Souvenirs durchaus nicht abgeneigt ist, verweigert sich der positiven Bewertung alles Sowjetischen. Kurt geht damit d’accord, obgleich er sich der ideologischen Relevanz der Sowjetunion nicht gänzlich zu entziehen vermag, was sich in seinem Verweis auf die Oktoberrevolution niederschlägt. Hier deutet sich sein gespaltenes Verhältnis zum Sozialismus bereits an, das nicht zuletzt in der Diskrepanz zwischen der marxistisch-leninistischen politischen Theorie und seinen konkreten Lagererfahrungen begründet liegt. 80 Millionen – 2 Milliarden Der zentrale Generationenkonflikt des Romans zeigt sich vor allem als ideologische Auseinandersetzungen zwischen Kurt und Alexander. Während der über-

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zeugte Kommunist Kurt zwar durchaus zu einem kritischen Blick auf die DDR imstande ist und daran leidet, dass er sich nicht dementsprechend konstruktiv äußern darf, ist er trotzdem mit Alexanders radikaler Ablehnung sozialistischer Ideale überfordert. Kurt fühlt sich der Umsetzung einer kommunistischen Utopie in der DDR verpflichtet, während Alexander für seine Hoffnungen und Wünsche nur anderswo die Möglichkeit zur Verwirklichung sieht und letztendlich nur wenige Wochen vor dem Mauerfall in die Bundesrepublik flüchtet. Beide verbindet die Unzufriedenheit mit der Gegenwart, auch wenn unterschiedliche Zukunftsvisionen sie antreiben. Nostalgie spielt dagegen erst in der Rückschau auf das geteilte Deutschland eine Rolle. Dort hebt sich der Generationenkonflikt schließlich auf. Für Kurt ist die Sowjetunion wie für Irina ein traumatischer Raum. Seine Erinnerungen an die Lagerhaft, zu der er 1941 wegen ablehnender Äußerungen über Stalins Außenpolitik, namentlich über den Hitler-Stalin-Pakt verurteilt worden war, begründen eine kritische Perspektive auf den sowjetischen Sozialismus. Dass er gleichzeitig überzeugter Kommunist mit einem marxistischleninistischen Weltbild bleibt, hat zur Folge, dass er die stalinistische Sowjetunion entschieden von der DDR der 1960er Jahre abgrenzt. In der DDR sind für ihn politische Theorie und Realpolitik, sozialistische Ideologie und Realsozialismus noch vereinbar, während die Sowjetunion durch die traumatische Lagererfahrung kontaminiert ist. Damit zeigt der Roman nicht zuletzt auf, dass es ›den einen‹ Sozialismus nicht gibt und auch in der öffentlichen Erinnerungsdebatte differenziert mit dem Begriff umgegangen werden muss. Im Kapitel »1966« wird Kurts Perspektive auf seine Vergangenheit als Strafgefangener im Gulag und seine Verbannung nach Sibirien, aber auch auf seine Arbeit als Historiker an der Akademie der Wissenschaften zum Thema. Kurt muss an einem Parteiausschlussverfahren gegen einen Kollegen teilnehmen, der einem Historiker aus Westdeutschland gegenüber Kritik an der bedingungslosen Verteidigung der Einheitsfrontpolitik der KPD in den 1920er Jahren durch die DDR-Geschichtswissenschaft geäußert hat.28 Auf dem Nachhauseweg durch den Wald am gleichen Abend wird er Zeuge einer pikanten Szene, die ihn zu Reflexionen über die Erlebnisse des Tages bewegt: »Weder gab es hier Arbeitslager noch Braunbären, stattdessen standen blaue Trabbis im Wald, in denen Leute fickten. Wenn das kein Fortschritt ist, dachte Kurt. Und war es nicht 28 Später, im Rahmen seiner Sicht auf die Ereignisse des 1. Oktober 1989, erfährt der Leser aus Kurts Gedanken, dass er selbst der Einheitsfrontpolitik eine Rolle im Rahmen der Entwicklung des Faschismus in der Weimarer Republik zuschreibt (In Zeiten 341) und sich so im Nachhinein auf die Seite des besagten Kollegen stellt.

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auch ein Fortschritt, wenn man Leute – anstatt sie zu erschießen – aus der Partei ausschloss? Was erwartete er? Hatte er vergessen, wie mühsam die Geschichte sich vorwärtsbewegte? Auch die Französische Revolution hatte unendliche Wirrnis nach sich gezogen. Köpfe waren gerollt. Ein selbstgekrönter Revolutionsgeneral hatte ganz Europa mit Krieg überzogen. Jahrzehnte hatte diese – bürgerliche – Revolution gebraucht, um bei ihren Zielen anzukommen. Warum sollte es der sozialistischen Revolution anders ergehen? Man hatte Chruschtschow abgelöst. Irgendwann kam ein neuer Chruschtschow. Irgendwann kam ein Sozialismus, der diesen Namen verdiente – wenn auch vielleicht nicht mehr in seiner Lebenszeit […].« (In Zeiten 184, Herv. i.O.)

Kurts Auseinandersetzung mit dem System der DDR orientiert sich an der Maxime des Fortschritts und damit an der marxistischen Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus, der seit 1955 als einzig zulässige Grundlage der Geschichtswissenschaft in der DDR etabliert war.29 Das zeigt die Rückbesinnung auf die Französische Revolution ebenso wie der hoffnungsvolle Verweis auf eine Zukunft, in der ein ›wahrer‹ Sozialismus anbrechen wird: Kurt denkt in historischen Phasen, die in sozialen Umwälzungen kulminieren und deren finales Ziel die klassenlose Gesellschaft ist – der »Sozialismus, der diesen Namen verdient«. Diese Utopie ist Resultat einer ideologischen Programmatik. Sie entsteht als Antwort auf das Bedürfnis, Klassenunterschiede zu nivellieren und Gleichheit zu etablieren. Die DDR wird von Kurt hier als eine Weiterentwicklung der stalinistischen Sowjetunion im historischen Phasenmodell gedacht, weil die sozialistischen Ideale hier angemessener umgesetzt werden. Im Laufe der Zeit wird Kurt jedoch schließlich klar, dass die DDR ebenso wenig mit seiner Vorstellung vom Sozialismus zu tun hat wie die stalinistische Sowjetunion. Am 90. Geburtstag seines Stiefvaters, als Wilhelm spontan das »Lied der Partei« anstimmt, begreift er die DDR schließlich als ebenso »verbrecherisch« (In Zeiten 343) wie die Sowjetunion.30 Damit setzt für ihn eine weltanschauliche Orientierungslosigkeit ein. 29 Vgl. HORST HAUN 1996: Der Geschichtsbeschluß der SED 1955. Programmdokument für die »volle Durchsetzung des Marxismus Leninismus« in der DDRGeschichtswissenschaft. Dresden. Für einen Überblick über die damit verbundene marxistische Geschichtsphilosophie vgl. MARCO IORIO 2015: »Geschichtsphilosophie.« In: MICHAEL QUANTE/DAVID P. SCHWEIKARD (Hrsg.): Marx-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (ebook). S. 208-218. 30 »Im Grunde, dachte er, war es die kürzeste Formel für das gesamte Elend. Im Grunde genommen, dachte er, war es die Rechtfertigung allen Unrechts, das im Namen der ›Sache‹ begangen worden war, die Verhöhnung von Millionen Unschuldigen, auf deren Knochen dieser sogenannte Sozialismus errichtet worden war: die berühmte Parteihymne, die irgendein Waschlappen von Dichter (war es Becher oder war es

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Kurts Sohn Alexander rebelliert schon als Teenager gegen seinen Vater und dessen Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft. Sein Bild vom Westen fungiert als Gegenstück zu Kurts utopischer Vorstellung vom demokratischen Sozialismus. Während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee etwa macht sich Alexander folgende Gedanken: »Alexander […] musste auf einmal an Mick Jagger denken; fragte sich, was wohl jetzt, während er hier stand, auf diesem Übungsgelände, das Katzenkopf hieß, und auf die roten Ohren seines Vordermanns starrte, ein Mensch wie Mick Jagger tat. Undeutlich erinnerte er sich an ein Foto aus irgendeiner Westzeitschrift: Mick Jagger in seinem Schlafzimmer, in einem flauschigen Pullover und Leggins, ein bisschen weiblich, verschlafen, offenbar war er gerade aufgestanden, vielleicht, so stellte sich Alexander vor, würde er im nächsten Augenblick in eine sonnige, große Küche gehen, sich einen Kaffee brühen, falls das nicht jemand schon für ihn gemacht hatte, würde ein frisches Käsebrötchen oder Weintrauben essen (oder wer weiß, was die da drüben aßen) und würde dann […] ein bisschen auf der Gitarre klimpern und ein paar Einfälle notieren, oder sich in einer bizarren Limousine zum Studio kutschieren lassen, um einen neuen Song aufzunehmen, den er dann auf der nächsten Tournee der Weltöffentlichkeit präsentierte, einer Tournee, bei der er, Alexander, nicht dabei sein würde […].« (In Zeiten 211, Herv. i.O.)

Alexanders Vorstellung vom nicht-sozialistischen Ausland bestimmt sich durch ein aus Westzeitschriften medial vermitteltes Bild. Es ist definiert durch Popkultur, insbesondere Musik, durch Konsum und materiellen Wohlstand: Wohlschmeckende Lebensmittel, individuelle Kleidung, eine große Küche und ein eindrucksvolles Auto sind Attribute von Belang. Zuletzt thematisiert Alexander den Zugang zu dieser Welt, von der er abgeschnitten ist. Die Mängel der Gegenwart liegen für ihn einerseits in materiellem Besitz, zweitens betreffen sie Freiheiten. Der Schritt zu einer kapitalistischen Ideologie des Konsums ist nicht weit, auch wenn Alexander selbst es nicht so formuliert. Aus unterschiedlichen Werten, denen in der Gegenwart der DDR nicht entsprochen wird, namentlich einer ›echten‹ sozialistischen Gleichheit für Kurt und verschiedenen Freiheiten für Alexander, konstruieren beide konträre ideologisch-utopische Gesellschaftsentwürfe. Entsprechend kommen Kurt und Alexander im Roman fast ausschließlich im Streit ins Gespräch. Vor der ›Wende‹ ist es Alexander, der die Weltanschauung seines Vaters angreift, während Kurt seine Kritik am System mit sich selbst ausmachen muss. Später ändert sich das GeFürnberg?) sich zu dichten nicht entblödet hatte: Die Partei, die Partei, die hat immer recht…« (In Zeiten 343, Herv. i.O.). Wilhelm singt den Refrain des Lieds noch mit dem im Jahr 1959 offiziell getilgten Verweis auf Stalin (In Zeiten 208).

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füge der Vater-Sohn-Beziehung. Das Kapitel »1991« gibt ein politisches Streitgespräch der beiden wieder. Alexander ist nun ebenfalls mit einem (wirtschafts-)politischen Vokabular für seine Weltanschauung ausgestattet. Seine freiheitliche Utopie hat sich nominell erfüllt, Kurts ist dagegen gescheitert. Die Rollenverteilung hat sich deshalb verkehrt: Während sich Kurt trotz seines kritischen Blicks auf den Sozialismus zuvor gezwungen sieht, gegenüber Alexander die DDR zu verteidigen, ist im wiedervereinigten Deutschland Alexander der Advocatus Diaboli, der den Kapitalismus rechtfertigt: » – Aha, sagte Kurt, darf man jetzt also nicht mehr über Alternativen zum Kapitalismus nachdenken! Wunderbar, das ist also eure Demokratie … – Na, Gott sei Dank, dass du in deinem Scheißsozialismus über Alternativen nachdenken durftest.« (In Zeiten 367)

Hier ist das Nachdenken über Alternativen als ein »Verlangen nach dem Verlangen« im Sinne Stewarts zu verstehen, das Kurts ideologische Orientierungslosigkeit zum Ausdruck bringt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden Kurt und Alexander immer unsachlicher. Ideologische Konzepte von Gleichheit (für Kurt) und Freiheit (für Alexander), wie sie zu DDR-Zeiten die Gegenwartskritik bestimmt haben, sind nicht mehr zu erkennen. » – Der Kapitalismus mordet, schrie Kurt. Der Kapitalismus vergiftet! Der Kapitalismus frisst diese Erde auf … […] – Achtzig Millionen Tote, schrie Sascha. Achtzig Millionen! […] – Zwei Milliarden, schrie Kurt.« (In Zeiten 369, Herv. i.O.)

Die Debatte ist nunmehr reduziert auf die Geschädigten des jeweiligen Systems und nicht mehr über die positiven Leistungen oder auch nur die gegenwärtigen Leerstellen definiert.31 Im Aufrechnen von Opfern ist jeder Anspruch verschwunden, sich um eine bessere Gesellschaft zu bemühen. Alexander und Kurt halten zwar an ihren alten Idealen fest, aber die Vorstellung, dass die Utopie richtungsweisend für die Gestaltung der Gegenwart im Hinblick auf eine bessere Zukunft sein kann, hat keinen Bestand mehr. Zehn Jahre später, im Jahr 2001, sind die Perspektiven nochmals verändert. Die gesamte ideologische Debatte zwischen Alexander und Kurt hat bis hierher 31 Mit den »zwei Milliarden« bezieht sich Kurt auf die Anzahl der Menschen, die im Kapitalismus hungern, vgl. In Zeiten 367.

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anti-nostalgisch funktioniert, sie ist ausschließlich zukunftsorientiert. Es ist jedoch die Rückschau auf die DDR mit einer Dekade Abstand, die den Roman eröffnet und von vornherein eine Relativierung aller ideologischen Richtwerte der DDR-Zeit vornimmt. Das erste Kapitel beschreibt Alexanders letzten Besuch bei seinem Vater in Neuendorf bei Berlin vor seiner Abreise nach Mexiko. Die DDR ist Vergangenheit, die Bundesrepublik hat sich verändert, Neuendorf scheint weder der einen noch der anderen Sphäre unzweifelhaft anzugehören. Trotzdem gibt es noch die stereotypen Zuschreibungen des Westlichen und des Östlichen. Auf der Autobahn etwa nimmt Alexander zur Kenntnis: »Die Autos kamen ihm sauberer vor. Sauberer? Irgendwie bunter. Idiotischer.« (In Zeiten 7) Der implizite Vergleich mit einem unbestimmten ›Früher‹, das nur in der DDR liegen kann, beinhaltet bereits eine Kritik am Kapitalismus. Die neue Gegenwart, die Realität, die Alexander zu DDR-Zeiten als utopisches Ideal erschien, hat neue Mängel hervorgebracht. Alexanders Besuch in Neuendorf selbst ist geprägt von der Überzeugung, dass er den Ort seiner Kindheit danach niemals wiedersehen wird. Es handelt sich deshalb um eine nostalgische Reise in die Vergangenheit: »Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links – hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren Rückübertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde.« (In Zeiten 7f.)

In Neuendorf scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Alexander betritt mit dem Besuch dort nicht nur einen Raum, sondern einen wortwörtlichen Zeitraum, Neuendorf wie zur Zeit der DDR, einen nostalgischen Chronotopos. Die asyndetische Aufzählung bildhafter Eindrücke legt die nostalgische Qualität unmittelbar offen. Kurt leidet inzwischen an Demenz und hat nicht nur seine politischen Überzeugungen, sondern auch alles andere vergessen, was sein Leben zuvor ausgemacht hat. Die sozialistische Ideologie und ihre utopischen Gesellschaftsentwürfe sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Während Kurt zu Mittag isst, unterhalten sich Vater und Sohn nunmehr friedlich miteinander. Auf Alexanders Fragen antwortet Kurt aber nur noch mit »Ja«, weil er keine anderen Wörter mehr kann:

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»Erstaunlicherweise hatte [Kurt] jetzt die Gabel wieder in der Hand – sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl. – Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war? – Ja, sagte Kurt. – Das hast du also bemerkt. Wie lange denn. Eine Woche oder ein Jahr? – Ja, sagte Kurt. Oder sagte er: Jahr? – Ein Jahr also, fragte Alexander. – Ja, sagte Kurt. Alexander lachte.« (In Zeiten 12f.)

Diese Szene, die die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen Vater und Sohn für den gesamten Roman vorweg nimmt, spiegelt sich später im Kapitel »1966«, in dem sich Kurt beim Mittagessen über Alexanders Begeisterung für die so genannten Gammler32 entsetzt, nachdem er ein entsprechendes Symbol in Kreuzform bei ihm gefunden hat: » – Ich habe dir immer erlaubt, sagte Kurt, deine Musik zu hören – oder nicht? Sascha stocherte im Rotkohl. – Oder nicht, wiederholte Kurt. – Ja, sagte Sascha. – Aber wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn sie so was verbieten. Trägst du das Ding etwa auch in der Schule? Sascha stocherte im Rotkohl. – Ich frage dich: Trägst du das Kreuz auch in der Schule? – Ja, sagte Sascha. Kurt merkte, wie der Ärger erneut in ihm aufstieg.« (In Zeiten 175)

Die Umkehrung der Rollen, die sich später im Roman auch im politischen Streitgespräch zeigen wird, wird in diesen beiden Szenen kunstvoll inszeniert. 32 Im September 1966 war eine Titelgeschichte des westdeutschen Magazins Der Spiegel den Gammlern gewidmet: O.A. 1966: »Gammler – Schalom aleichem (siehe Titelbild).« In: Der Spiegel 39 vom 19.09.1966. URL: http://www.spiegel.de/spiegel /print/d-46414560.html. Letzter Zugriff am 28.07.2016. Es handelte sich dabei um eine Bewegung von jungen Menschen, die sich freiwillig für ein Leben ohne Erwerbstätigkeit auf der Straße entscheiden. Die Vorstellung von einem solchen Leben ist ebenfalls von einer Ideologie der Freiheit, etwa einer Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen, bestimmt.

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Alexander und Kurt tauschen die Plätze als diejenige Figur, die das Fleisch und die Beilagen, spezifisch den Rotkohl jeweils getrennt voneinander verzehrt und nur »Ja« auf die Fragen des Gesprächspartners antwortet, der seinerseits verzweifelt um eine Reaktion ringt. Die parallele Form des Gesprächs straft den Gesprächsgehalt als nichtig ab. Die jeweiligen Überzeugungen sind im Grunde irrelevant. Im Jahr 2001 geht es denn auch nicht mehr um einen ideologischen Kampf der Weltanschauungen, sondern nur noch um Banalitäten, die Kurts Geistesgegenwart auf die Probe stellen. Für Alexander stellt sich an dieser Stelle eine groteske Nostalgie ein, in der er sich seinen alten Vater selbst um den Preis des Streits zurückwünscht. Nostalgische Erinnerungen kommentieren die ideologischen Konflikte der Vergangenheit relativierend. Das Kapitel ist außerdem durchzogen von verschiedenen Formulierungen, die Alexanders Reflexion über Vergänglichkeit subtil in die Handlung einflechten. Beim Blick auf das wissenschaftliche Werk seines Vaters im Bücherregal sinniert er: »[…] und nun war alles, alles MAKULATUR.« (In Zeiten 21, Herv. i.O.) Diese Formulierungen inszenieren Alexanders Hilflosigkeit im Angesicht sowohl seiner Vergangenheit, die ihm unbrauchbar erscheint, wie auch einer Zukunft, die er vermutlich nicht mehr erleben wird. Durch diese Perspektivlosigkeit wird auch die Gegenwart nutzlos. Dabei ist insbesondere der Verweis auf die geschichtswissenschaftlichen Studien seines Vaters durchaus ideologisch konnotiert, indem er auf den alten Konflikt zwischen Alexander und seinem Vater, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen der Flucht in den Westen und der Ergebenheit in den historischen Materialismus verweist. Auch dieser Streit ist nunmehr überholt wie die Werke von Kurt. Gleichzeitig ist der Konflikt in Alexanders nostalgischen Gedankenstrom eingebettet, der sich als Reflexion über Vergänglichkeit durch das ganze Kapitel zieht. Darin bezieht sich Alexander nostalgisch auf die Einrichtung seines Elternhauses mit ihren Möbel- und Erinnerungsstücken (In Zeiten 17-19), auf bestimmte Gewohnheiten seiner Eltern (In Zeiten 20f. und 23f.), zuletzt auch auf die Nachbarschaft mit ihren Häusern, Bewohnern und Läden: »Hier, auf dem glatten Asphalt, waren sie früher Rollschuh gelaufen und hatten mit Kreide auf die Straße gemalt. Dort war der Fleischer gewesen, wo Irina blindlings die schon im Hinterzimmer gepackten Pakete gekauft hatte. Dort die ›Volksbuchhandlung‹, jetzt Reisebüro. Und dort der Konsum, Betonung auf der ersten Silbe (und tatsächlich hatte es mit Konsum wenig zu tun), wo es vor sehr langer Zeit – Alexander konnte sich gerade noch daran erinnern – Milch auf Marken gegeben hatte.« (In Zeiten 31)

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In diesen Entwurf einer vergangenen Zeit fügt sich die Reflexion über Kurts geschichtswissenschaftliches Werk so nahtlos ein, dass es gleichsam auch als Gegenstand nostalgischer Erinnerungen zu begreifen ist. Alexanders Nostalgie ist hier im Angesicht einer sinnentleerten Gegenwart ebenfalls ein Verlangen nach dem Verlangen – eine Sehnsucht nach einem Werteuniversum, das noch Utopien hervorbringen kann. Die Utopie wird zum Gegenstand der Nostalgie: nicht jedoch die konkrete sozialistische Utopie, sondern vielmehr der emotionale Gehalt einer nicht näher bestimmbaren Utopie; das Gefühl, an eine Zukunft glauben zu können. Die Königin der Nacht blühen sehen Eine Verschränkung von Nostalgie und Utopie im Roman geschieht schließlich noch in Bezug auf Mexiko, das eine Erzählklammer im Text bildet, da die frühesten Ereignisse des Romans mit Charlottes und Wilhelms Exilerfahrung unmittelbar vor der Rückkehr in die DDR im Jahr 1952 dort spielen und die letzten im Jahr 2001 mit Alexanders Reise ebenfalls. Das mittelamerikanische Land wird sowohl von Alexander als auch von Charlotte exotisiert und dabei auf unterschiedliche Weise zu einem Projektionsraum, der für Charlotte als nostalgisches Ideal verbleibt, während Alexander sich bei seiner Reise mit der Realität der Gegenwart konfrontiert sieht. Es illustriert damit das Scheitern der Utopie gegenüber dem Fortbestand der Nostalgie. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die frühe Theorie des literarischen Exotismus einige Parallelen zu den formulierten Bezügen zwischen Nostalgie und Utopie aufweist. Wolfgang Reif entwickelt Überlegungen hierzu vor allem auf Grundlage von Friedrich Brie und charakterisiert den Exotisten als jemanden, dessen »negativer Realitätsbezug […] sich in der Projektion eines Bildes der Gegenwart nieder[schlägt], das von einer bis zu leidenschaftlichem Haß gesteigerten Ablehnung bestimmt ist.«33 Auch der Exotismus beruft sich folglich auf einen empfundenen Mangel in der Gegenwart, auf Grund dessen andere zeitliche Ebenen zu Projektionsräumen werden. Reif selbst formuliert die Parallele zur (Staats-)Utopie, die eine Gegenüberstellung der Gegenwart mit einem »Wunschbild«, wie er es bezeichnet, herausfordert, und geht dabei auch auf die Bedeutung der Nostalgie ein: 33 WOLFGANG REIF 1975: Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart. S. 13. Der Gegenstand des Exotismus weist außerdem ebenso eine raumzeitliche Verflechtung auf wie die Referenzpunkte von Nostalgie und Utopie, da räumliche und zeitliche Entfernung ihn bestimmen, vgl. ebd., S. 14.

226 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »Von einer utopischen Haltung kann man in beiden Fällen [im (staats-)utopischen und im exotischen Roman, Anm. d.Verf.] sprechen. Während es sich aber bei der Staatsutopie um eine gedankliche Konstruktion handelt, die dazu dienen soll, Möglichkeiten künftigen Zusammenlebens experimentell vorwegzunehmen, ist die exotistische ›Utopie‹ vor allem durch ein der ›Nostalgie‹ vergleichbares emotionales Moment bestimmt. Sie vermag keine sozial verbindlichen Möglichkeiten aufzuweisen. Sie ist immer regressiv.«34

Die emotionale Komponente spielt für den Exotismus demnach gleichfalls eine Rolle, so dass exotistische Narrative sowohl utopische als auch nostalgische Züge in sich vereinen. Diese Erkenntnisse geben den exotischen Elementen im Mexikobild in Eugen Ruges Roman im Folgenden einen wichtigen Kontext. In den durch Charlotte fokalisierten Kapiteln gibt es Darstellungen zweier dominanter Erinnerungsräume: Berlin, in dem sie ihre unglückliche Kindheit verbrachte, und das mexikanische Exil, in dem sie glücklich war. Dieser Kontrast ist für die Struktur von Charlottes persönlicher Erinnerungslandschaft nicht zu verachten. Bezugnahmen auf Spaziergänge im Tierpark und den Personenkult um Wilhelm II. fungieren nicht nur als Kontrastmoment eines unterkühlten, disziplinierten Deutschlands, in dem man ein »kratzendes Wollkleid« tragen musste, wenn man dem Kaiser seine Aufwartung machte (In Zeiten 117), gegenüber dem warmen, exotischen Mexiko und seinen »helle[n], luftige[n] Sommersachen« (In Zeiten 44). Während Alexander und Kurt den Konflikt zwischen den marktwirtschaftlich-kapitalistischen Demokratien des Westens und dem Sozialismus des Ostblocks ausfechten, ist Charlottes Referenzpunkt für den diachronen Vergleich mit dem Sozialismus die konstitutionelle Monarchie der Kaiserzeit. Dabei liegt ihr Trauma weniger in den politischen Verhältnissen als darin, dass sie neben dem von der Mutter heißgeliebten großen Bruder trotz aller Leistungen niemals hat bestehen können. »In der Kommunistischen Partei hatte sie zum ersten Mal Respekt und Anerkennung erfahren« (In Zeiten 46), so erinnert sie sich selbst. So ist Mexiko für Charlotte eine Schwellenstation zwischen der traumatischen Kindheit im kaiserzeitlichen Berlin und der Rückkehr in den fiktiven Berliner Vorort Neuendorf in der DDR. Obwohl sie sich die Rückkehr nach Deutschland selbst wünscht, ahnt sie doch bereits vor der Abreise 1952 in einer Art Nostalgie nach der Gegenwart das nostalgische Potential der Jahre in Mexiko voraus: »[J]edes Buch, dessen Mitnahme sie erwog, jede Muschel, jedes Figürchen, das sie vorsichtig in Zeitungspapier wickelte oder wegzuwerfen sich entschloss – alles war mit Erinnerungen an ein Stück Leben verbunden, das nun zu Ende ging.« (In Zeiten 43f.) Die Mitbringsel aus Mexiko tauchen später bei 34 Ebd., S. 15.

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Beschreibungen der Villa, in der Charlotte und Wilhelm in Neuendorf wohnen, immer wieder als dekorative Erinnerungsstücke auf – obwohl »Brauchbarkeit« zunächst das entscheidende Kriterium sein soll, nach dem Dinge in das neue Leben integriert werden oder nicht. Zurück in Deutschland haben die Mitbringsel jedoch ausschließlich noch die Funktion nostalgischer Souvenirs. 35 Im Kapitel »1959« wird durch Alexanders Augen beschrieben, wie Charlotte ihre Mexikoerfahrung im Wintergarten wieder aufbaut: »Im Wintergarten war es warm und feucht. Es roch süßlich-salzig, fast wie im Zoo. Der Zimmerspringbrunnen brummte leise. Zwischen Kakteen und Gummibäumen standen und lagen Dinge herum, die Omi aus Mexiko mitgebracht hatte: Korallen, Muscheln, Dinge aus echtem Silber, die Haut einer Klapperschlange, die Wilhelm eigenhändig mit der Machete erschlagen hatte; an der Wand hing die Säge eines leibhaftigen Sägefischs, fast zwei Meter lang und unwirklich wie das Horn eines Einhorns; das Beste aber war das ausgestopfte Haifischbaby, dessen raue Haut Alexander zum Schaudern brachte.« (In Zeiten 85)

Indem Charlotte nicht nur versucht, im Wintergarten das mexikanische Klima abzubilden, sondern durch eine Sammlung materieller Erinnerungsstücke ein stereotypes Mexiko rekonstruiert, vollzieht sie Nostalgie performativ.36 Sie trotzt damit der Unerreichbarkeit des nostalgischen Sehnsuchtsortes und eignet ihn sich in einer kreativ-spielerischen Neuschöpfung an. Außerhalb von Charlottes Sammlung im Wintergarten sticht die Kakteenpflanze Königin der Nacht beispielhaft als Motiv und materieller Träger der nostalgischen Erinnerung an Mexiko hervor. Die Pflanze, die jedes Jahr für nur eine Nacht im Sommer zur Blüte kommt, tritt im Kapitel »1952«, das in Mexiko spielt, zum ersten Mal auf: »Seit langem züchtete [Charlotte] auf der Dachterrasse eine Königin der Nacht. Sie hatte sie vor Jahren gekauft, in der zwiespältigen Hoffnung, dass sie nie sehen würde, wie sie blühte.« (In Zeiten 38f.) Charlotte hofft zu diesem Zeitpunkt auf eine Zukunft in Deutschland. Triebfeder ihrer Hoffnung ist der Wunsch nach Anerkennung, und dessen Erfüllung wähnt sie in der sozialistischen DDR, also in einer unbestimmten, abwesenden, utopischen Zukunft. Noch vor Ort schlägt Charlottes Einstellung zu der Kaktuspflanze allerdings um: »Charlotte […] glaubte plötzlich, dass sie in der Lage sei, den ganzen Dreck hinzuschmeißen. Stattdessen: einmal im Leben die Königin der Nacht blühen sehen.« (In Zeiten 40, Herv. i.O.) Die Blüte der Königin der Nacht wird 35 Zur nostalgischen Dimension von Souvenirs vgl. BOYM 2001, S. 327-336 (»Immigrant Souvenirs«) sowie STEWART 1993, S. 132-150 (»The Souvenir«). 36 Vgl. zu materiellen Aspekten der Nostalgie sowie zur Performativität von Nostalgie durch Sammeln und Horten S. 86-91.

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zur Metapher für Charlottes Zukunft: Sie nicht zu sehen bedeutet ein Leben in Deutschland, sie zu sehen bedeutet ein Leben in Mexiko. Nach der Übersiedlung in die DDR wird sie weiter von der Vorstellung von der Königin der Nacht verfolgt. Auch ihre Träume im Wintergarten im Jahr 1961 erzählen davon: »Die Königin der Nacht fiel ihr ein. Die sie zum Blumenhändler zurückgebracht hatte, ohne sie blühen zu sehen. Übrigens: In Mexiko hatte sie nie Asthma gehabt.« (In Zeiten 138)

Neun Jahre nach der Rückkehr in die DDR ist die Blüte der Königin der Nacht zu einem unerreichbaren Ideal geworden, das zwischen nostalgischer Sehnsucht und utopistischer Hoffnung oszilliert. Die Kaktusblüte synthetisiert damit gleichsam zukunfts- und vergangenheitsorientierte Sehnsüchte nach einem besseren Leben, denn Charlottes Traum von der Anerkennung hat sich in der DDR nicht erfüllt.37 Charlotte leidet an der Gegenwart, weil sie sich nicht geachtet fühlt – sowohl im Kaiserreich als auch in Mexiko und in der DDR bleibt diese Empfindung konstant. Während sie sich aber im Exil noch auf einen utopischen Traum von einem besseren Leben in der DDR verlegt, zieht sie sich später in die sehnsüchtige Nostalgie nach Mexiko zurück. An Wilhelms 90. Geburtstag kommt ihr nochmals der Gedanke: »Einmal noch nach Mexiko … Ein einziges Mal die Königin der Nacht blühen sehn …« (In Zeiten 395) Es gibt für Charlotte keine Zukunftsvision mehr – nur noch die nostalgische Projektion von Glück auf die Vergangenheit. Mexiko ist auch für Alexander ein Bezugsraum; der durch ihn fokalisierte Erzählstrang im Jahr 2001 spielt hauptsächlich dort. Dieser Teil des Romans weist sich schon in seiner narrativen Zeitstruktur als Reflexion über Erinnerung und Zukunftsvisionen aus: So sind die ersten mit der Jahreszahl »2001« betitelten Kapitel bis zu Alexanders Abflug nach Mexiko im Präteritum erzählt, der Großteil des Besuchs in Mexiko im Präsens, und das letzte Kapitel, das auch den Schluss des Romans bildet, im Futur. Wie verhält sich dieser erzähltheoretische Kunstgriff zu Konstruktionen von nostalgischen Vergangenheits- und utopischen Zukunftsentwürfen? Der nostalgische Charakter von Alexanders Besuch bei Kurt in Neuendorf, im Rahmen dessen sich Alexander an zahlreiche Details seiner Kindheit und Jugend in der DDR erinnert und »die Zeit stillzustehen« scheint (In Zeiten 8), ist bereits deutlich geworden. Die im Präsens und Futur 37 Sinnbildlich steht dafür im Kapitel »1961« eine von ihr verfasste Rezension für das Neue Deutschland, die Wilhelm nicht einmal zur Kenntnis nimmt und die von Kurt scharf angegriffen wird.

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verfassten Passagen über seine Reise nach Mexiko setzen die aufgeworfenen Fragen nach Vergänglichkeit in Bezug zu Gegenwart und Zukunft. Die Sätze, die Alexanders Aufenthalt in Mexiko und damit das präsentische Erzählen einleiten, lauten: »Mexiko, Flughafen. Warmluftgebläse. Beiläufig beim Betreten der Stadt (des Landes, des Kontinents) die Feststellung, dass es nicht so riecht wie der Nitratdünger im Wintergarten seiner Großmutter.« (In Zeiten 99)

Alexanders Vorstellung von Mexiko speist sich offensichtlich aus Charlottes nostalgischen Rekonstruktionen. Er reist mit bestimmten Erwartungen nach Mexiko, für die er zu diesem Zeitpunkt jedoch keine klaren Worte hat. Eine nostalgische Suche nach Spuren der Exilvergangenheit seiner Großeltern wird erst unmittelbar nach seiner Ankunft in Mexiko Stadt als Motiv für die Reise evident: Alexander bittet eine Gruppe Mariachi in der Stadt, ihm Jorge Negretes Schlager »Mexico querido y lindo«38 zu spielen, den Charlotte auf einer Schellackplatte besaß, die ihm beim Ausräumen des großelterlichen Hauses in den frühen 1990er Jahren zerbrochen ist. Der Auftritt rührt ihn zu Tränen; der emotionale Gehalt seiner Erinnerung ist hier übermächtig. Alexander sucht am Folgetag das Haus auf, in dem Charlotte und Wilhelm in den 1940er Jahren gewohnt haben: »Nummer 56A: ein kaum vier Meter breites, zweistöckiges Haus, er erkennt die Zinnen der Nachgartenbrüstung, von dort oben hat seine Großmutter heruntergeschaut, aber auf dem Foto, obwohl es schwarzweiß war, hat das alles irgendwie grün ausgesehen. Irgendwie tropisch und großzügig.« (In Zeiten 108)

Wie bereits bei der Ankunft am Flughafen hält die Gegenwart den zuvor entworfenen Vorstellungen nicht stand. Während jedoch der erste Vergleich noch neutral ausfällt, zeigt sich hier Alexanders deutliche Enttäuschung, die auf eine idyllische und möglicherweise sogar paradiesische und exotische Vorstellung von Mexiko hinweist. Auf dem Rückweg zu seinem Hotel wird Alexander ausgeraubt, und daraufhin stellt er sich der Diskrepanz zwischen seiner Erwartung und der Realität: »Was hat er sich vorgestellt, um Himmels willen? Hat er wirklich geglaubt, jemand habe auf ihn gewartet? Hat er wirklich geglaubt, Mexiko würde ihn mit offenen Armen auf38 »Jorge Negrete – Mexico lindo y querido.« In: YouTube am 05.01.2009. URL: https:// www.youtube.com/watch?v=1jd_kdq2jlI. Letzter Zugriff am 01.08.2016.

230 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS nehmen wie einen alten Bekannten? Hat er wirklich gehofft, dieses Land würde ihn – ja, was eigentlich: heilen?« (In Zeiten 111)

Die Reise nach Mexiko zeigt sich damit als Alexanders letzter verzweifelter Versuch, eine nostalgisch-utopische Wunschvorstellung in die Wirklichkeit zu überführen, nachdem das demokratisch-kapitalistische System sich nicht als der perfekte Ort herausgestellt hat, zu dem Alexander es in langen Jahren der Rebellion gegen den Sozialismus der DDR stilisiert hat. Während Charlottes nostalgische Rekonstruktion von Mexiko aber Bestand hat, weil sie sich nicht mit der Wirklichkeit messen muss, geraten Alexanders exotisch-utopische Vorstellungen durch die Konfrontation mit der Realität erneut an ihre Grenzen. Die Verzweiflung über diesen Tatbestand äußert sich eindrucksvoll in einem Fiebertraum, den Alexander in Veracruz hat, der Hafenstadt, in der die Schiffe mit Flüchtlingen aus Europa im Zweiten Weltkrieg anlegten. Mit dieser Station folgt Alexander ein letztes Mal der Spur seiner Familiengeschichte, hier holt ihn jedoch auch seine tödliche Krankheit ein. Im Delirium träumt er: » […] [E]r rennt durch die Wüste, die Luft brennt ihm im Hals, er rennt, sein Herz schlägt in einer unglaublichen Frequenz, es zittert mehr, als es schlägt, es geht steil bergauf, immer bergauf, ohne dass ein Gipfel zu sehen wäre, die Wüste ist schief, stellt Alexander fest, bis zum Horizont geht es immer bergauf, es ist unmöglich, den Anstieg zu schaffen bei der Hitze, mit dem Herzfehler in der Brust, er weiß es, er müsste anhalten, aber die Landschaft hinter ihm bricht ab, fällt stückweise in den Abgrund, oder besser gesagt: in den Himmel hinein, der überall ist, oben und unten, und durch diesen allgegenwärtigen Himmel hindurch erstreckt sich als kaum meterdicke, brüchige Kruste – die Welt: verblüffende Erkenntnis. Dann sind seine Eltern neben ihm, […] sie laufen, klettern, kriechen die dünne, schräg in den allgegenwärtigen Himmel ragende Kruste hinauf, rutschen ab, fallen, rappeln sich wieder hoch und ziehen ihn, den Herzkranken, hinter sich her, drängen ihn zur Eile, gefasst zwar, aber unnachgiebig […], ermahnen ihn weiterzugehen, sich nicht andauernd umzudrehen, dorthin, wo Stück um Stück abbricht, sondern nach vorn zu schauen, nach oben, wo, ganz in der Höhe, am Ende der Welt, eine kleine Gruppe federgeschmückter Indios eine neue Welt herbeizutanzen versucht [.]« (In Zeiten 318f.)

Der symbolische Gehalt dieser Szene ist reichhaltig, hier verschmilzt Alexanders Angst vor seinem frühen Krebstod mit seiner Familiengeschichte und der aztekischen Mythologie. Die Vision ist jedoch in erster Linie eine Abrechnung sowohl mit nostalgischer Rückwärtsgewandtheit als auch mit einem blinden Streben nach Zukunftsutopien. Bedrohungen kommen hier sowohl von dem, was hinter Alexander liegt, als auch von dem, was vor ihm liegt. Eine Rückkehr ist unmög-

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lich, weil die Vergangenheit metaphorisch abbricht, die Zukunft dagegen ist unerreichbar. Die Gegenwart ist der ständigen Bedrohung von beiden Seiten ausgesetzt. Bezeichnend ist auch die Anwesenheit von Kurt und Irina, die sich nicht nach der hinter ihnen liegenden Vergangenheit orientieren, sondern nur nach der utopischen Zukunft, wozu sie auch Alexander anspornen. Im Bild der tanzenden Azteken ist bei aller Aussichtslosigkeit der Lage das anhaltende Streben nach einer »neue[n] Welt« symbolisiert, die jedoch selbst nicht in Erscheinung tritt, sondern noch immer lediglich heraufbeschworen wird. Kurt und Irina streben im Bild nicht danach, den utopischen Zustand zu erreichen, sondern die Jagd danach erscheint als Selbstzweck. Sie exemplifizieren dadurch das Verlangen nach dem Verlangen. In dieser dichten Traumvorstellung kommen Nostalgie- und Utopiekritik ebenso zum Ausdruck wie das Paradox einer Ideologiekritik bei gleichzeitiger Sehnsucht nach einer ideologischen Orientierung in einer bedrohlichen Gegenwart. In den unterschiedlichen ideologisch bedingten Utopien und Nostalgien, die in Eugen Ruges Roman vorkommen, tritt die Kritik an der jeweiligen Gegenwart deutlich zutage. Ideologische Utopien scheitern im Roman an der Realität und bringen dadurch nostalgische Narrative erst hervor. Darüber hinaus zeigt sich in der Nostalgie verschiedentlich die Sehnsucht nach einem ideologischen Kompass, der eine Orientierung bieten und neue Utopien schaffen kann. Wenn Nostalgie in ihrem Verhältnis zur Utopie bestimmt wird und die motivischen Überschneidungen der beiden Phänomene in den Blick genommen werden, so wird deutlich, dass Nostalgie bei weitem nicht nur die Vergangenheit beleuchtet, sondern Aussagen über die Gegenwart und die Zukunft des Nostalgikers zu treffen imstande ist. In diesem Kontext wird die Gegenwart als mangelhaft und bisweilen sogar bedrohlich wahrgenommen. In Abhängigkeit von den empfundenen Unzulänglichkeiten – Komplexität für Nadjeshda Iwanowna und Wilhelm, Ungleichheit für Kurt, Unfreiheit für Alexander, Missachtung für Charlotte – modellieren die Figuren ihre alternativen nostalgischen oder auch utopischen Vorstellungswelten, die durchaus unterschiedlich ausfallen, selbst wenn sie sich auf die gleichen Projektionsräume beziehen. Im Hinblick auf diese nostalgischen und utopischen Konstrukte ist ihre jeweilige Unerreichbarkeit ein gemeinsames Strukturmoment, allerdings ist diese in Bezug auf nostalgische Vergangenheitsentwürfe absolut, wohingegen die Utopie die Möglichkeit einer Realisierung mit einschließt. Das bedeutet zwar, dass der nostalgischen Erinnerung im Hinblick auf ihren Wirklichkeitsbezug auch Hoffnungslosigkeit immanent ist, gleichzeitig bleibt sie als Projektions-

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raum verlässlich, weil sie nicht radikal scheitern kann wie die verwirklichte Utopie. Schließlich sind die verschiedenen Vorstellungen von einer besseren Alternative zur Gegenwart – sei es eine idyllische oder eine kommunistische Sowjetunion, ein kapitalistischer Westen oder ein exotisches Mexiko – auch Ausdruck der Sehnsucht nach einer ideologischen Orientierung in einer als fremd und bedrohlich empfundenen Gegenwart. Neben den besprochenen Beispielen zeigt sich dies zuletzt auch am Beispiel von Alexanders Sohn Markus: Er wächst in einer Welt auf, in der sich die Jugendträume seines Vaters von Freiheit und Wohlstand erfüllt haben, ist jedoch selbst von einer tiefen Unzufriedenheit gezeichnet, weil seine Gegenwart neue Mängel hervorbringt, wie etwa die Unmöglichkeit den Wunschberuf zu erlernen. Gleichzeitig hat Markus keine Träume mehr. Ihm fehlt ein weltanschaulicher Rahmen, auf dessen Grundlage er sich eine bessere Gesellschaft entwerfen kann. Die Ironie dieses Tatbestands zeigt sich eindrücklich in der Umkehrung der Raumkonnotation: Während Markus zu DDR-Zeiten im verschlafenen Ostberliner Vorort Großkrienitz lebt und von der Westberliner Gropiusstadt träumt, stellt sich nach der ›Wende‹ die Hochhaussiedlung als sozialer Brennpunkt und der Vorort als wohlhabende Wohngegend heraus (In Zeiten 372). Der Roman dekonstruiert damit Ideologien als unbeständig und wandelbar, zeigt jedoch gleichzeitig ihre grundsätzliche gesellschaftliche Funktion auf und führt vor, wie stark das Individuum in ideologischen Konstrukten verfangen ist.

Schluss: »In den Musennestern« Dresden… in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern UWE TELLKAMP, DER TURM

Ist Nostalgie als ›süße Krankheit Gestern‹ zu kategorisieren, als Parasit im gesunden Erinnerungskörper? Mitnichten. In der Vielfalt ihrer Funktionen, Implikationen und Verweisstrukturen hat sich Nostalgie als ein gewinnbringender Aspekt literarischer Erinnerungsarbeit herausgestellt. Dabei bilden ihre sprachlichen Ausdrucksformen sowie ihre Verbindungen zu Raumatmosphären, materieller Kultur und Sinneswahrnehmung ein fruchtbares Untersuchungsfeld für die literaturwissenschaftliche Forschung. Nostalgie wohnt folglich tatsächlich in den Musennestern. Ihr Beitrag zur Erinnerung ist aber nicht parasitär, sondern symbiotisch: Der wassergraue Spiegel in Niklas’ Musikzimmer im Turmviertel, Ulas Posener Semmeln in der Milchbar Bambino, Halinas Fotoalbum auf dem Sandberg und Charlottes Souvenirs aus Mexiko verraten gerade durch ihre nostalgischen Konnotationen etwas über die Vergangenheit – mehr sogar denn als bloße Erinnerungsträger. Die zentralen Begriffe Trauma, Identität, Ironie und Utopie treten dabei in allen vier Werken auf und sind nicht etwa nur als romanspezifische Erscheinungen zu begreifen. Inwiefern sie jeweils sie jeweils für alle Texte zur Geltung kommen können, sei nachfolgend anstelle einer bloßen Zusammenfassung angerissen. Im Rahmen der Überlegungen zu Uwe Tellkamps Der Turm hat sich herausgestellt, dass nostalgisch wirkende Leerstellen auch auf traumatische Verdrängungen verweisen können, so dass die Möglichkeit einer tiefgreifenden ästhetischen Verflechtung nostalgischer und traumatischer Perspektiven deutlich geworden ist. Auch in Iwasióws Roman weisen Leerstellen auf Traumata hin, insbesondere auf das deutsche Täter- und das jüdische Opfertrauma und die Kon-

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frontation beider in der Beziehung von Ula und Stefan. Bei Bator ist Halinas Sicht auf die ›Verlorenen Gebiete‹ als Gegenstück zu Władeks nostalgischer Perspektive als Folge einer traumatischen Erfahrung konzipiert. Ruge nimmt mit Kurts Lebensgeschichte die traumatische Lagererfahrung in der stalinistischen Sowjetunion in seinen Text auf. Überall zeigt sich das Trauma als eine komplementäre Perspektive auf einen andernorts im Text nostalgisch konfigurierten Gegenstand – Vorkriegsdresden, Vorkriegspommern, die ›Verlorenen Gebiete‹ und die Sowjetunion –, so dass die Angemessenheit historischer Meistererzählungen radikal in Frage gestellt wird. Die Analyse von Inga Iwasióws Bambino hat offen gelegt, dass nostalgische Narrative grundsätzlich zur Identitätsbildung beitragen. In beiden polnischen Romanen werden transkulturelle Fragestellungen zwischen dem Polnischen, dem Deutschen, dem Jüdischen und dem Sowjetischen, hier speziell dem Ukrainischen in Bambino und dem Belarussischen in Sandberg, aufgeworfen und so Herkunfts- mit Zuschreibungsidentitäten kontrastiert. In Bambino funktioniert Nostalgiekritik im Hinblick darauf als Kritik am Konzept der Herkunftsidentität und propagiert postkoloniale Identitäten jenseits von genealogischen Konzepten. Auch in Sandberg kann Władeks Scheitern an seiner eigenen Nostalgie durchaus in diesem Sinne gelesen werden. Die deutschen Romane schreiben sich dagegen in diesen Diskurs nicht ein. Hier liegen die Objekte der Identifikation in Ideologemen wie dem Bürgertum oder dem Sozialismus. Identitätskonflikte münden als ideologische Konflikte in einer weltanschaulichen Orientierungslosigkeit wie im Fall Christian Hoffmanns bei Tellkamp oder Kurt Umnitzers bei Ruge. Joanna Bators Sandberg demonstriert Ironie als Dimension von Nostalgie wie auch als mögliche Strategie im Umgang mit nostalgischen Narrativen. Dabei stellt die Ironisierung nostalgischer Erzählungen nicht nur eine Nostalgiekritik vor, sondern der ironische Umgang mit etablierten polnischen Erinnerungsorten bildet auch erneut einen Angriff auf gängige Meistererzählungen und die Möglichkeiten kohärenter Geschichtsschreibung an sich. Insbesondere der ironische Umgang mit systembezogenen Aspekten des real existierenden Sozialismus findet sich in allen vier Romanen und sorgt für eine komische Brechung nostalgischer Vergangenheitsbilder. Bei Tellkamp trägt etwa der Besuch einer Behörde absurde Züge, bei der die Schätzung einer Geige ordnungsgemäß erfolgt, jedoch für die Untersuchung des zugehörigen Geigenbogens ein neuer Termin vereinbart werden muss. Bei Ruge singen an Wilhelms 90. Geburtstag die Parteioffiziellen mit der Urgroßmutter Nadjeshda Iwanowna das Lied vom Zicklein, missverstehen jedoch den Text: Die Zeile »wot kak«, die im Russischen »Hört nur!« bedeutet, wird stattdessen als »Wodka« intoniert. In Iwasióws Roman ist Janeks verzweifelter Versuch, sich den Kollegen bei der Staatssicherheit vor allem

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durch Alkoholgenuss anzubiedern, ebenfalls ironisch inszeniert. Durch diese Szenen entsteht in den Romanen eine Distanz zum Politischen und eine Hinwendung zu subjektiven und individuellen Perspektiven. In Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts manifestiert sich auf vielschichtige Weise Ideologiekritik. Dabei werden im Spannungsfeld von Utopie und Nostalgie sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus dekonstruiert. Utopische Komplementärvorstellungen von einer besseren Welt nach dem Muster nostalgischer Konstruktionen der Vergangenheit kommen bei Tellkamp in der Sphäre des Bürgertums und bei Bator im bei Bolesław Leśmian geborgten Begriff »Wolkenfern« (»Chmurdalia«) zum Ausdruck. Beide Topoi bedienen sich, parallel zur Mexiko-Thematik bei Ruge, exotistischer Motive. Iwasiów schließt die ambivalente Sehnsucht nach einer besseren Welt in die DoppelgängerMetaphorik ein, die eine nostalgische Rückwärtsgewandtheit und utopische Hoffnungen auf die Zukunft synthetisiert. In allen Texten zeigt sich die Sehnsucht nach einer besseren Alternative letztlich als Gegenwartskritik, die sich aus gesellschaftlichen Umständen und ideologischen Zwängen ergibt. Neben der Systematik des erweiterten begrifflichen Feldes von Nostalgie lassen sich auch einige zentrale Erkenntnisbereiche der Arbeit ableiten, die über die Grenzen der Romane hinaus den Nostalgiebegriff selbst zu schärfen vermögen. So ist schon zu Beginn der Arbeit die Relevanz des Sprechers im nostalgischen Narrativ thematisiert worden. Weil die Nostalgie das Subjektive, Emotionale zelebriert, ist sie ohne das fühlende Individuum nicht denkbar. Nostalgische Charaktere lassen sich dabei in verschiedene Kategorien einteilen: Den prototypischen Nostalgikern Niklas Tietze, Marysia, Władek Chmura oder Nadjeshda Iwanowna stehen dabei die selbsterkorenen Nostalgiekritiker Meno Rohde, Ula, Halina Chmura oder Irina Umnitzer entgegen. Bei diesen zwei Standpunkten handelt es sich jedoch nur um die Extreme auf einer breit aufgefächerten Skala von Möglichkeiten. Perspektiven anderer Figuren beinhalten Nostalgie subtil, gleichsam unbewusst. Dabei ist zwischen der Figurenperspektive und der Erzählstimme, die ihrerseits nostalgische Positionen der Charaktere in den Romanen kommentiert, natürlich stets zu unterscheiden. Wird der Blick auf den Nostalgiker gelenkt, so zeigt sich die Bedeutung des Individuums für das nostalgische Narrativ. Nostalgie lässt damit, entgegen landläufiger diesbezüglicher Vorwürfe, gerade keine Simplifizierungen und Verallgemeinerungen zu. Sie ist stattdessen an eine jeweilige spezifische Weltsicht gebunden. Die Vorstellung, dass in der Nostalgie verschiedene Perspektiven integrativ in einem übergreifenden Narrativ gebündelt, angeglichen, nivelliert und bis zur Verfälschung vereinfacht werden, wird dem Phänomen nicht gerecht. Stattdessen ist es das enorme Gewicht der Einzelstimme, das die Nostalgie ausmacht.

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Gleichzeitig werden die subjektiven Perspektiven der Nostalgiker in den vorliegenden Romanen durchaus in öffentliche Erinnerungsdiskurse eingeschrieben und damit kontrastiert. Nostalgie gibt damit auch Aufschluss über das Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerung und über das Spannungsverhältnis zwischen dem Rückzug ins Private und der Öffentlichkeit. Ansatzpunkt einer jeden Debatte muss sein, auf welcher Seite dieser Dichotomie die Nostalgie jeweils steht, denn ihre Instrumentalisierung durch ein Kollektiv kann sie aus der Bindung an das Individuum entheben. Im Rahmen anschließender Forschung ließe sich die Kategorisierung nostalgischer Subjekte in Nostalgiker und Nostalgiekritiker noch verfeinern und erweitern. In diesem Zusammenhang könnte auch weiter auf die materielle Kultur, insbesondere auf Dinge als Akteure eingegangen werden. Im Hinblick auf den Nostalgiker, der Nostalgie performativ vollzieht – etwa durch Sammeln und Horten – stellt sich die Frage, ob es weitere (Kultur-)Techniken gibt, die als Basis für ein »doing nostalgia« gelten könnten. Eine Möglichkeit liegt im Rezitieren, das auch den Anschluss an die Frage nach intertextuellen Potenzialen der Nostalgie liefert. Zu denken ist hier etwa an eine Szene aus Tellkamps Der Turm, in der verschiedene Protagonisten spontan Lyrik von Osip Mandel’štam und Sergej Esenin aufsagen. Es hat sich in den Untersuchungen die These bestätigt, dass nostalgische Narrative dem Erinnerungsdiskurs komplementäre Sichtweisen zu den gängigen historischen Meistererzählungen hinzufügen; dass Nostalgie folglich in der Lage ist, Tabus in der öffentlichen Erinnerungsdebatte aufzubrechen. Die Sehnsucht nach dem ›Alten Dresden‹ in Der Turm, welche die Vergangenheit des bürgerlichen Dresdens entgegen der offiziellen Parteidoktrin als Teil der Stadtgeschichte anerkennt ist ein Beispiel dafür. Bei Iwasiów führen nostalgische Diskurse über das deutsche Stettin und die vormals polnischen Ostgebiete in der Ukraine die vom volksrepublikanischen Regime weitgehend verdrängte Minderheitengeschichte in den Diskurs ein. Bator lässt in ähnlicher Manier Verweise auf eine jüdische Geschichte Polens in ihren Roman einfließen. In Zeiten des abnehmenden Lichts bildet im Eingangskapitel eine nostalgische Perspektive gegenüber der DDR selbst ab. Darüber hinaus verhandeln nostalgische Narrative aber auch Fragen nach der Kontinuität und der Kohärenz von Geschichte an sich. Es geht den Autoren dabei weniger darum, Wissen um historische Ereignisse oder Entwicklungen zu vermitteln. Vielmehr sind alle vier Romane so konstruiert, dass eine gewisse historische Vorbildung das Verständnis erleichtert. Die Texte widmen sich nämlich geschichtsphilosophischen Fragestellungen, die sich in der historischen Anthropologie verorten lassen. Wie kann das Individuum in einem bestimmten politi-

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schen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System existieren? Wie verhält sich der Außenseiter zur Mehrheit? Wie positioniert sich der Einzelne im Angesicht der politischen Macht? Im Hinblick auf den Sozialismus, der die private Sphäre nicht anerkennen will, sind diese Fragen von besonderer Relevanz. Nostalgie ist dann auch ein Ausdruck der Rebellion, weil sie sich nicht in eine Meistererzählung fügt. Jenseits der Nostalgie könnte hier das Verhältnis von literarischer Minderheitengeschichtsschreibung zur Affirmation und Perpetuierung von Meistererzählungen in der Literatur den Gegenstand einer interessanten Anschlussforschung bilden. Der Beitrag von Nostalgie zu öffentlichen Erinnerungsdiskursen ist mithin deutlich geworden. Es ist jedoch zu beachten, dass die Analysen von einer Marginalisierung nostalgischer Perspektive ausgehen, die in den erinnerungspolitischen Diskursen über die sozialistische Vergangenheit in Deutschland und Polen gang und gäbe ist. Wenn Nostalgie zur Mehrheitsmeinung wird, erfüllt sie andere Funktionen und Ziele. Ihre Instrumentalisierung zu identitätsbildenden Zwecken hat dann auch eine (zumeist nationalistische) Kehrseite. Dies ist zu beobachten im Hinblick auf den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa, in diesem Kontext insbesondere der Alternative für Deutschland und der Prawo i Sprawiedliwość [kurz PiS, dt. Recht und Gerechtigkeit]. Während die Bewertung der sozialistischen Vergangenheit auch für diese Parteien negativ ausfällt, so streben sie doch verschiedentlich an, nostalgische Perspektiven auf andere historische Ereignisse für ein Erstarken nationaler Werte zu instrumentalisieren. Dabei fordern sie ganz konkret auch eine Revision gängiger Geschichtsbilder ein. Man muss sich an dieser Stelle die Frage stellen, ob Nostalgie auch Grenzen kennen muss und ob Tabus, die sie zu brechen im Stande ist, mitunter einfach nicht gebrochen werden sollten. Die Stigmatisierung von Nostalgie gegenüber der DDR beispielsweise wird ja in aller Regel deswegen mit großer Vehemenz vertreten, weil das Unrecht des SED-Regimes nicht in den Hintergrund geraten soll. Mit noch größeren Widerständen wäre entsprechend einer positiven Bewertung des Nationalsozialismus zu begegnen. Zu groß ist die Gefahr, dass menschenverachtende Ideologien eine nostalgische Umdeutung der Geschichte dazu nutzen wollen, Diskriminierung politisch wieder salonfähig zu machen. In der Literatur jedoch ist Nostalgie nicht einmal in diesem Kontext kategorisch und eindeutig zu beurteilen, sondern zeigt sich auch hier als komplexes Phänomen. Ein bemerkenswertes Zitat findet sich an unerwarteter Stelle. Es handelt es sich um den Schluss des Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész. Der IchErzähler geht nach seiner Rückkehr aus dem Lager durch die Straßen von Budapest:

238 | NOSTALGIE UND S OZIALISMUS »Auch war es, als hätte sich um mich herum etwas verändert: Der Verkehr hatte sich beruhigt, die Schritte der Menschen waren langsamer geworden, ihre Stimmen leiser, ihre Blicke milder, und es schien, als würden sie ihre Gesichter einander zuwenden. Es war die gewisse Stunde – selbst jetzt, selbst hier erkannte ich sie –, die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, schmerzliches, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh. Alles war auf einmal wieder da, wurde lebendig und stieg in mir hoch, all die seltsamen Stimmungen, all die winzigen Erinnerungen überfielen, durchzitterten mich. Ja, in einem gewissen Sinn war das Leben dort reiner und schlichter gewesen.«1

Die Stelle weist verschiedene sprachliche Merkmale auf, die Nostalgie ausmachen – die Bildhaftigkeit, die asyndetischen Aufzählungen, die Sinnlichkeit der unwillkürlichen Erinnerung. Unvorstellbar erscheint die Möglichkeit der nostalgischen Perspektive eines Häftlings auf das Konzentrationslager, und bedrohlich die Möglichkeit, dass die Worte etwa von Holocaustleugnern für ihre Zwecke genutzt werden könnten. Eine solche Instrumentalisierung wäre jedoch nur haltbar, solange die Textstelle ohne Kontext wiedergegeben wird, denn sie steht im Zusammenhang mit den Beschreibungen der Grausamkeit des Lagers. Die ganze Groteske und Unsagbarkeit der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wird durch den eindringlichen Schluss von Kertész Roman nur umso gnadenloser aufgezeigt: »Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übel, den ›Gräueln‹: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.«2

Schonungsloser noch als am Beispiel der sozialistischen Erfahrung zeigt sich hier, dass Nostalgie nicht nur als verfälschende Konterhistorie verstanden werden darf, sondern ihr Einbezug die Vergangenheit in ihrer schlicht nicht fassbaren Komplexität anerkennt. Denn das »Glück der Konzentrationslager« ist vielleicht noch weniger zu begreifen als ihre Gräuel und führt die Unsagbarkeit vor Augen. Das Beispiel Kertész zeigt noch etwas anderes mit großer Deutlichkeit: Die literarische Aufbereitung nostalgischer Perspektiven und ihr praktisches Auftreten in Gesellschaft und Politik sind nicht miteinander zu verwechseln. Die kom1

Imre Kertész 312017: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Chris-

2

Ebd., S. 287.

tina Viragh. Reinbek bei Hamburg. S. 286.

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plexen Brechungen, die im Rahmen der Analyse von Nostalgie deutlich geworden sind, sind möglich kraft ihrer narrativen Form im Roman. Die spezifische Inszenierung nostalgischer Narrative ist mit den Mitteln der Literaturwissenschaft untersucht worden. Die Erforschung ihrer sprachlichen Formen, ihrer gesellschaftlichen Funktionen und ihrer Nutzbarmachung in verschiedenen politischen Situationen würde unter Zuhilfenahme anderer Materialien und in anderen Disziplinen als der Literaturwissenschaft auch andere Ergebnisse erzielen. Nichtsdestoweniger ist die Abbildung gesellschaftlich relevanter Themen in der Literatur immer auch als ein künstlerischer Kommentar gesellschaftlicher Realität zu verstehen, und ihre Analyse trägt dazu bei, neue Zugänge zur Erkenntnisgewinnung zu etablieren. Dazu gehört auch die Beobachtung, dass nostalgische Narrative nicht nur Aussagen über die Vergangenheit treffen, sondern auch die Gegenwart ihrer Entstehung und insbesondere die in dieser Gegenwart empfundenen Mängel kommentieren. So wird durch nostalgische Narrative in den polnischen Romanen Gesellschaftskritik im Hinblick auf Homophobie, Misogynie, Antisemitismus und Rassismus betrieben. Diese gesellschaftlichen Missstände setzen sich durchaus auch in die polnische Gegenwart fort, so dass ihre verschiedentliche Thematisierung nicht nur Aussagen über die Gegenwart der Figuren, sondern auch über die Entstehungszeit der Romane trifft. Die Gegenwartskritik richtet sich damit auf Problembestände, die unabhängig vom real existierenden Sozialismus gedacht werden müssen. In den deutschen Romanen wird Nostalgie dagegen weniger als Ausdruck von Gesellschafts- denn von Ideologiekritik eingesetzt. Sie betreiben eine Auseinandersetzung mit einem konkreten polithistorischen System, mit der DDR – auch wenn beide Texte letztlich die sozialistische Ideologie nicht singulär betrachten, sondern ideologisches Denken schlechthin kritisieren, etwa im Hinblick auf einen bürgerlichen Wertekosmos oder kapitalistische Systeme. Während die polnischen Romane sich dementsprechend auch in zeitgenössische Diskurse um kulturelle und gesellschaftliche Exklusion einschreiben, bleiben die deutschen Texte dem Kontext der Erinnerungsliteratur stärker verhaftet, weil sie der historischen Aufarbeitung des geteilten Deutschlands mehr Raum geben. Ob es sich bei dieser Beobachtung um einen grundsätzlichen Trend in den jeweiligen Nationalliteraturen handelt, lässt sich anhand der vorliegenden Beispiele allein nicht ausmachen. Anschließende Untersuchungen, welche die polnische Erinnerungsliteratur über die PRL auf Ideologiekritik und die deutsche über die DDR auf gesellschaftskritische Diskurse hin betrachten, wären deswegen wünschenswert. Grundlage hierfür wäre jedoch ein breiteres Textkorpus, idealerweise sogar die Erweiterung um weitere mitteleuropäische Kultur- und Sprachräume.

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Es existiert neben all diesen Aspekten noch der Fall, dass das nostalgische Gefühl den Gegenstand, auf den es sich richtet, sekundär setzt. Sprachliche Konfigurationen unterschiedlicher nostalgischer Erinnerungen überhöhen die Form und weisen dabei den Bezugspunkt als nichtig aus. Die referentielle Komponente tritt in den Hintergrund, und Nostalgie zeigt sich vorrangig als emotionales und ästhetisches Phänomen. Sie steht damit letztlich nicht immer für eine klare politische Position, sondern ist mitunter auch nur als Ausdruck der Lust am Gefühl und als künstlerische Umsetzung dieser Lust zu begreifen – etwa in den mäandernden und akribischen Beschreibungen der Jugendstilvillen bei Tellkamp oder der Plattenbaueinrichtung bei Bator. Gleichzeitig kann eine selbstreferentielle Nostalgie auch ideologische Orientierungslosigkeit und latente Identitätskonflikte anzeigen. Sie ist dann gleichsam als ein spezifischer Kommentar der Gegenwart zu lesen, der nicht etwa einen konkreten Missstand in Gesellschaft oder ideologischem System benennt, sondern sich vielmehr am romantischen Weltschmerz orientiert und damit keine Emotion, sondern eine ungerichtete Stimmung darstellt. Beispiele liefern vor allem die Figuren bei Iwasiów und Ruge, die ihre Bezugspunkte verloren haben: dort Marysia, hier Kurt und Alexander. In dieser selbstreferentiellen Form der Nostalgie liegt der Schlüssel zu der eingangs aufgeworfenen Frage, ob es eine besondere Beziehung zwischen Nostalgie und dem real existierenden Sozialismus gibt. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem Gesellschaftssysteme die Religionen als Glaubensmaxime abgelöst haben. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist auch der klassische ideologische Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus in das große Rauschen der Geschichte überführt. Bisher gibt es dafür noch keinen Ersatz, so dass sich nostalgische Referenzen auf den Sozialismus sowie auch Darstellungen nostalgischer Erinnerungen im Sozialismus nicht selten als Sehnsucht nach Idealen lesen lassen, die noch nicht erschüttert worden sind. Fassungslosigkeit im Angesicht historischer Fehler wird langsam abgelöst von einer Sehnsucht danach, überhaupt an etwas glauben zu können. Begreift sich die Gegenwart selbst als Zeit der (Griechenland-, Euro-, Flüchtlings-)Krise, so lohnt sich anschließend der Blick in weitere Literaturen der Krise, die eigene Nostalgiekonzepte ausbilden. Denkbar ist vor allem eine Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne. Bei all diesen Beobachtungen ist nicht zu vernachlässigen, dass für die weiterführende Nostalgieforschung neben der kontinuierlichen komparatistischen Erweiterung des Primärmaterials noch Abgrenzungen des Begriffs von benachbarten Konzepten ausstehen, die noch nicht in größerer Tiefe ausformuliert wurden. Dazu gehören Melancholie und Weltschmerz ebenso wie kulturspezifische Konzepte, die dem gleichen begrifflichen Feld zuzuordnen sind, wie etwa das

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portugiesische Saudade oder das bosnische Sevdah. Denkbar sind außerdem weitere Studien zu intertextuellen und intermedialen Bezügen nostalgischer Narrative bzw. zur nostalgischen Dimension von Intertextualität an sich. Dabei wäre insbesondere der bislang vernachlässigte Bereich literarischer Konfiguration von Sinneswahrnehmungen zu berücksichtigen. Es versteht sich außerdem von selbst, dass die vier Romane auch jenseits der literaturwissenschaftlichen Nostalgieforschung eine Fülle von Themen für weitere philologische und komparatistische Untersuchungen beinhalten, die in der vorliegenden Abhandlung keinen Platz gefunden haben. Es bleibt abschließend festzustellen, dass die Kritik an Nostalgie im Erinnerungsdiskurs vor allem auf einer starren und unflexiblen Konzeption des Begriffs basiert. Diese geht nicht nur davon aus, dass Nostalgie grundsätzlich idealisiert und verklärt, sondern auch davon, dass sie keine anderen Perspektiven auf die Vergangenheit neben sich duldet. Dort, wo sie jedoch als ein Teil eines wesentlich breiteren Erinnerungsdiskurses begriffen wird, kann sie denselben vielfältig bereichern. Dabei tritt sie selbst in den unterschiedlichsten Formen und Funktionen in Erscheinung, so dass sie Geschichtsbilder nicht etwa einschränkt, sondern stattdessen durchaus erweiterte Möglichkeiten der Geschichtsschreibung zur Verfügung stellt. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Bevölkerung der – literarischen, bildkünstlerischen oder musikalischen – Musennester durch die Nostalgie das Interesse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen auch im Folgenden auf sich ziehen kann.

Danksagung

Mit dem Erscheinen dieses Buches ist eine zutiefst individuelle Nostalgie auf Seiten der Verfasserin verbunden, denn mit der Drucklegung ist die aufregende Zeit der Promotion abgeschlossen. Einige Menschen haben diesen Lebensabschnitt besonders geprägt und intensiv begleitet. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Schamma Schahadat. Ohne ihre engagierte und ermutigende Betreuung und ihre konstruktive Kritik hätte ich die Arbeit nicht schreiben können. Fachlich wie auch persönlich habe ich von ihr sehr viel lernen dürfen, und ich bin froh und dankbar, durch ihre Schule gegangen zu sein. Ihretwegen begreife ich die Universität Tübingen als meine akademische Heimat. Dafür, dass ich dort in der Slavistik Wurzeln geschlagen habe, trägt Renata Makarska eine entschiedene Mitverantwortung. Ich bin auch ihr sehr dankbar, dass sie mit den Exkursionen in die Ukraine und in die Slowakei meine Begeisterung für die ostmitteleuropäischen Kulturstudien genährt hat. Allen Gesprächspartner*innen am Neuphilologikum in Tübingen – sei es in der Slavistik, der Germanistik, der Anglistik oder der Komparatistik – danke ich für die konstruktiven Anmerkungen zum Projekt. Wenige Nachwuchsforscher*innen haben das Privileg, im Rahmen ihrer Promotion auf die Ressourcen zweier Universitäten zurückgreifen zu können. Ich bin auch dem Institut für Slawistik der Humboldt Universität zu Berlin zu großem Dank verpflichtet – insbesondere Alfrun Kliems, an deren Lehrstuhl ich von 2011 bis 2016 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt sein durfte. Die Erfahrungen, die ich hier im Gespräch mit Kolleg*innen gewonnen habe, haben das Projekt nachhaltig beeinflusst und waren eine große fachliche und persönliche Bereicherung für mich. Besonders muss ich die unermüdliche Unterstützung von Zornitza Kazalarska und Matteo Colombi hervorheben, mit denen ich mir ein Büro teilen durfte. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Rolle der Studierenden, deren Fragen, Beobachtungen und Perspektiven mir geholfen haben, meinen eigenen Zugang zur Literatur stets neu zu denken und zu immer größerer

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struktureller Klarheit zu gelangen. Man lernt im akademischen Betrieb beileibe nicht nur von denen, die einem vorangegangen sind, sondern auch viel von denen, die danach kommen. Magdalena Baran-Szołtys danke ich für ihr Lektorat des Kapitels über Inga Iwasióws Bambino und für die sensible Korrektur meiner Übersetzungen aus dem Polnischen; Lena Dorn für ihr Lektorat des Kapitels zu Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts und die Hinweise zum Exotismus; Stefan Heck für die stete Hilfsbereitschaft bei spontanen Fragen zur polnischen Sprache und Mia Kumrić für die abschließende Lektüre des Manuskripts vor der Abgabe. Meine Mitstreiterinnen Núria Codina, Frauke Fitzner und Eva-Maria Manz haben mich von kulturtheoretischen Hauptseminaren im Studium über private Küchentisch-Kolloquien bis in die Verteidigung hinein begleitet und in jeder Phase für Austausch und gegenseitige Ermutigung zur Verfügung gestanden. Reflexionen über die Wechselwirkungen von wissenschaftlicher Arbeit und Persönlichkeitsbildung habe ich besonders gern und gewinnbringend mit meiner Freundin Ulrike Küchler angestellt, auf deren Rat und Beistand ich nicht hätte verzichten können. Während der Promotion haben außerdem meine Eltern Jürgen und Christiane Scheer, meine Schwestern Malaika Krohn und Martina Scheer und meine Freundin Nele Reiners unendliche Geduld mit mir bewiesen und mich immer wieder mit ermunternden Worten motiviert. Gleiches gilt für meinen Mann Jan Gronenthal, der sich den Verteidigungsvortrag in verschiedenen Stadien geduldig angehört, mich in der letzten Korrekturphase durch abschließende Lektüren unterstützt und meine Arbeit immer überzeugend gefunden hat. Dass ich diese Menschen stolz gemacht habe, ist meine größte Errungenschaft.

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Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

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Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de