Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte [Reprint 2021 ed.] 9783112479469, 9783112479452


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German Pages 366 [365] Year 1989

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Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte [Reprint 2021 ed.]
 9783112479469, 9783112479452

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Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte

Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte Herausgegeben von Helmut Bleiber und Walter Schmidt

Akademie-Verlag Berlin 1988

ISBN 3-05-000609-9

Erschienen im Akademie-Verlag Berlin DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202 • 100/46/88 Printed in the German Democratic Republic GesamtKerstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Ralf Michaelis LSV 0265 Bestellnummer: 7548639 (9100) 0003500

Inhalt

Vorwort Manfred

9 Kossok

Der Begriff des Jakobinismus — Wesen und Erscheinungsformen .

11

Gerhard Steiner Der Jakobiner im geistlichen Gewand — Philipp Joseph Brunners Kampf gegen den klerikalen Feudalismus

25

Conrad Grau J. R. Forster (1729—17S8) und G. Förster (1754—1794). Ihre Wahl zu Mitgliedern der Preußischen Akademie der Wissenschaften

49

Georg Knepler Mozart in Mainz Walter

Markov

Forschungsprobleme der Französischen Revolution aus Anlaß des Todes von Albert Soboul Hans-Jürgen

86

Klemer

Zur Theorie/Praxis-Relation in Kants Rechtsphilosophie Joachim

78

Treder

Kants „Streit der Fakultäten" und die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaften Hermann

60

91

Herrmann

Philosophie der Universalgeschichte und die Entdeckung der Geschichtstriade im Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt 1784—1884

99

Helmut Bock Rheinpreußische Arbeiterunruhen. Von den Anfangen der Bewußtwerdung des Widerspruchs zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen 120 Waltraud Seidel- Höppner Arbeiter und Intellektuelle in der „Archäologie proletarischer Kopfarbeit" Walter

135

Schmidt

Marx' und Engels' historischer Revolutionsvergleich zwischen 1789 und 1848 im Revolutionsjahr 1848/49

156

6

Inhalt

Helmut Bleiber Nationalbewußtsein und bürgerlicher Fortschritt. Zur Herausbildung von deutschem Nationalbewußtsein in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung (1789—1871) 170 Ernst Engelberg Sozialisten und Demokraten am Vorabend des Krieges von 1866

187

Walter Dietze Purpurmäntel und dunkle Kutten. Über ein unerkanntes Lenau-Zitat bei Marx

199

Peter H. Feist Die bildende Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die „soziale Frage" Helga

208

Nussbaum

Inwiefern wurde der deutsche Bauer manipuliert? Zu einigen objektiven Voraussetzungen möglicher oder unmöglicher Bündnispolitik vor dem ersten Weltkrieg 214 Annelies

Laschitza

Rosa Luxemburgs Verständnis und Kampf für Demokratie

227

Wolfgang Rüge Zur Dialektik von Friedensstreben und Fortschritt vor und während der Novemberrevolution Jürgen

237

Kuczynski

Die Haltung der Intelligenz zu Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der Weimarer Republik

. 249

Eberhard Brüning Antifaschistische deutsche Exilliteratur in der historischen und kulturellen Situation in den USA 1933— 1945 252 Karl Obermann Jugend- und Studentenbewegung im antifaschistischen Kampf 1933—1945 Werner

263

Mittenzwei

Brecht in den Salons von Hollywood — Gespräche deutscher Emigranten während der Kriegsjahre . . . 276 Kurt Pätzold Die Ermordung des Berliner Zoologen Walther Arndt im Jahre 1944 und die vergeblichen Versuche zur Rettung seines Lebens 287 Kurt Gossweiler Der 20. Juli und die Faschismustheorie

296

Eberhard Poppe Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der ersten Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik . . . . . ' . . . . 312 Werner Bahner Sprache und Geschichtswissenschaft

319

Inhalt

7

Helmut Meier Antifaschistisches Bewußtsein heute — Anforderungen an die geschichtsideologische Arbeit

329

Bibliographie Heinrich Scheel

339

Autorenverzeichnis

-

363

Heinrich Scheel

Vorwort

Das vorgelegte Sammelwerk verdankt seine Entstehung dem 70. Geburtstag Heinrich Scheels am 11. Dezember 1985. Es will einen herausragenden Repräsentanten der DDR-Geschichtswissenschaft ehren und zugleich eine Leitlinie im Geschichtsverständnis des ersten sozialistischen deutschen Staates aufzeigen. Heinrich Scheel — Kommunist, antifaschistischer Widerstandskämpfer, Jakobinismusforscher von internationalem Rang — verkörpert selbst die unaufhebbare dialektische Einheit von Demokratismus, Antifaschismus und Sozialismus in Geschichte und Gegenwart unseres Volkes. Im Thema der Festschrift verbinden sich Grundzüge in Leben und Werk des Jubilars mit Konturen des sozialistischen Geschichtsbildes in unserem Land und mit besonderen Forschungsleistungen der DDR-Geschichtswissenschaft zur Entwicklung eines stets auf den gesellschaftlichen Fortschritt orientierten Erbe- und Traditionsverständnisses, wie- es dem Sozialismus auf deutschem Boden hier und heute wesenseigen ist. Der weiteren Erschließung des reichen, an deutsche Jakobiner und deutsche Klassik geknüpften demokratischen und humanistischen Erbes, um dessen Bewahrung sich Heinrich Scheel in besonderer Weise verdient gemacht hat, ist der erste Abschnitt der Sammelschrift gewidmet. Wie die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung und ihre führenden Repräsentanten von Marx und Engels bis Rosa Luxemburg dieses Erbe aufgriffen, den Demokratismus des fortschrittlichen Bürgertums in Beziehung setzten zu den weitreichenden Zielen des um seine Emanzipation kämpfenden Proletariats und um ein Bündnis mit allen Demokraten, suchen die Beiträge eines zweiten Teils der Schrift an bestimmten Wendepunkten der deutschen Geschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schärfer auszuleuchten. Die Beziehungen von Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt in den Kämpfen unserer Epoche und die großen Traditionen des antifaschistischen Kampfes, die Heinrich Scheel durch seinen persönlichen Einsatz selbst mitgeschaffen hat, bilden einen dritten Schwerpunkt. In einem abschließenden Teil wird der Verbindung von Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik nachgegangen und antifaschistisches Bewußtsein als tragendes Element unseres Geschichtsdenkens und als stete Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Arbeit nahegebracht. Der Sammelband, eine Würdigung Heinrich Scheels durch Kampfgefährten in der Wissenschaft wie im politischen Leben, durch Schüler, Freunde und Genossen, an der Historiker, Musikwissenschaftler, Kunsthistoriker, Juristen und Sprachwissenschaftler teilhaben, will Leistungen der Geschichtswissenschaft und interdisziplinärer wissenschaftsgeschichtlicher Forschungen vorstellen. Die wissenschaftlich-technische Betreuung des Bandes lag in den Händen von Gisela Schmidt. Die Herausgeber

MANFRED KOSSOK

Der Begriff des Jakobinismus — Wesen und Erscheinungsformen

Ein altdeutsches Sprichwort s^gt: „Wenn es dem Esel zu wohl ist, dann geht er auf das Eis tanzen."' In solcher Situation befindet sich ein Historiker, der das Wagnis unternimmt, sich an der historischen Positionsbestimmung des Jakobinismus zu versuchen. Dabei sind verschiedene Betrachtungsweisen und -ebenen möglich. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Mir geht es nicht darum, ein neues Licht auf die Rolle des Jakobinismus in der Großen Revolution zu werfen, sondern einige Fragen aus der Sicht der vergleichenden Revolutionsforschung aufzuwerfen, dabei bewußt den engeren Aktionsradius des klassischen Jakobinismus überschreitend. Die Situation ist kurios genug : Obwohl die Große Revolution fast 200 Jahre zurückliegt, bewegt sie die historisch engagierten Gemüter, als sei sie ein Ereignis des Hier und Heute. Das mag für eine Zeit, die selbst von revolutionären Umwälzungen verschiedenster Natur geprägt wird, keineswegs verwunderlich erscheinen. Gerade der 200. Jahrestag, (W seine Schatten schon vorauswirft, läßt neue Höhepunkte in der Debatte um 1789 urc1 vor allem 1793 erwarten. François Furets apodiktische These, die Revolution sei „beendet", also könne man sine ira et studio das Urteil fallen, stößt ins Leere. Seinem „Penser la Révolution" stellte Albert Soboul ein nicht minder programmatisches „II faut la comprendre" entgegen. Um eben dieses „faire la comprendre" rankt sich stets erneut der Streit der Meinungen. Jede Klasse und jede Generation hat den Versuch unternommen, die Große Revolution auf eigene — beileibe nicht immer neue — Weise zu verstehen, so stets die epoche- und zäsursetzende Wirkung dieser Leitrevolution der Neuzeit bestätigend, unabhängig davon, ob die Historiker der verschiedenen Richtungen dies wahrhaben wollten oder nicht, die Revolution als „Notwendigkeit" oder als „Zufall" begreifen. Auf diese Weise ist die historische Erkenntnis Schritt um Schritt vorangebracht worden, wie umgekehrt neue Probleme auftauchten, die der Lösung harren. Vieles, scheinbar schon gewußt, sah und sieht sich wieder in Frage gestellt, will auf andere Weise durchdacht sein. Letztlich gibt es wohl kein Problemfeld der Großen Revolution und ihrer Weltwirkung, das als abgeklärt bezeichnet werden dürfte : Die Rolle des Adels, der Charakter der Bourgeoisie, der Platz der Agrarbewegung und Agrarrevolution, die Funktion der Volksbewegung, ja selbst der historische Ort von 1789 und sein Wesen als bürgerliche Revolution — man denke nur an die bewußt provozierende Fragestellung in Nouvelle Critique vom April 1973: „La Révolution française a-t-elle eu lieu?" — standen und stehen im Disput der Schulen unterschiedlicher Provenienz. Am deutlichsten bleibt aber die Position des Historikers an seiner Stellung zum Jakobinismus abzulesen. Die „Jakobinerfrage" erweist sich als die eigentliche Streitfrage. Das Urteil über den Jakobinismus bildet das letztlich entscheidende Kriterium der anhaltenden und sich mit dem Blick auf 1989 akzentuierenden Auseinandersetzung. Auch das bekannte

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Manfred Kossok

Bamberger Kolloquium von 1979 unter dem Titel „Die Französische Revolution — zufalliges oder notwendiges Ereignis?" hat diesem Umstand Tribut gezollt. Ohne die Vielfalt der Meinungsnuancen zu ignorieren, stehen grundsätzlich zur Debatte : die marxistische, in der Traditionslinie der „klassischen Historiographie" (A. Soboul) stehende Auffassung, die im Jakobinismus den Höhe- und Wendepunkt, gleichsam die Peripetie, und die Vollendung der Revolution (im engeren Sinne des Begriffs) sieht, andererseits der zunehmend vom historischen Revisionismus geprägte Standpunkt, demzufolge der Jakobinismus à outrance die historische Schuld dafür trage, die Revolution fehlgeleitet und damit in die Entgleisung (dérapage nach F. Furet und Denis Richet) geführt zu haben. Im (zustimmenden) Urteil von E. Schmitt stellt sich die jakobinische Phase nicht als Höhepunkt der Revolution, sondern als deren Unterbrechung dar, „ein überflüssiges, für die Entwicklung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts so gut wie folgenloses Zwischenspiel". Warum dann der ganze Aufwand nach fast 200 Jahren? Von diesen beiden Positionen differiert die ultralinke Interpretation insofern, als der Robespierrismus — so bei Daniel Guérin — bereits in den Dunstkreis der bourgeoisen Konterrevolution eingeordnet wird. Unter dem Betriff „historischer Revisionismus" werden jene Bemühungen verstanden, die auf eine Relativierung oder sogar Negierung der Epochen wende von 1789 abzielen, wobei es sich keineswegs um eine „Schule" oder „Richtung", sondern eher um das facettenreiche („pluralistische") Zusammenspiel vpn neokonservativen, neoliberalen und „linken" Meinungen handelt (die überdies in der Regel nicht durch empirische Forschungen gedeckt sind). Aus der Tatsache, daß die marxistische Historiographie im Jakobinismus den Höhepunkt der Revolution sieht, die These abzuleiten, sie stelle lediglich die Fortsetzung der jakobinischen Version der Revolution dar, ist allerdings ein Fehlschluß. Abgesehen vom theoretischmethodologischen und praktisch unterschiedlichen Revolutionsverständnis des materialistischen Historismus, ignoriert diese Behauptung auch die intensive innermarxistische Debatte um Charakter und Funktion des Jakobinismus (Zacher, Manfred, Dalin, Plimak, Revunenkov, Soboul, Mazauric, Markov u. a.). Im neuzeitlichen Revolutionszyklus, der zur Ablösung der feudalständischen durch die bürgerliche — im juristischen Selbstverständnis egalitäre — Ordnung führte, nimmt die Große Revolution eine zentrale, im Doppelsinn des Begriffs maßgebende, d. h. maßstabsetzende, Rolle ein. Unser Revolutionsverständnis ist ohne 1789 undenkbar. Die Französische Revolution gilt als die klassische aller bürgerlichen Revolutionen, die einen immerhin 400jährigen Entwicklungs- und Reifezyklus durchlaufen haben. Als „Grande Révolution" empfanden sie schon die vom Fortschrittsglauben der Aufklärung erfüllten Zeitgenossen, z. B. Mirabeau. Diesen Rang hat die Historiographie der nachfolgenden Generationen, insbesondere der Restaurationszeit, systematisch gefestigt. Genauso alt ist aber auch der Versuch, diese Klassizität zu bezweifeln, angefangen bei der Verschwörerthese Barruels und den herausfordernden „Reflections" von Edmund Burke. Gegenwärtig unternehmen vor allem — wie schon angedeutet — die Vertreter des historischen Revisionismus den Versuch einer grundsätzlichen Um- und Neuinterpretation der Ereignisse ab 1789. Mit Entschiedenheit hält dagegen die marxistische Historiographie, wofür A. Sobouls Werk die Maßstäbe gesetzt hat, an der Klassizität der Ereignisse von 1789 bis 1794/95 (oder auch bis 1799 und 1815, je nach Periodisierungsansatz) fest, ohne aber deshalb von einer „Modellrevolution" im Sinne der soziologischen Konstruktionen von Crane Brinton und Bryan Edwards zu sprechen. Noch immer gilt das Wort Sobouls, es gebe keine Modelle, sondern nur Wege der Revolutionen. Hier wäre aus komparativer Sicht zu ergänzen, daß es der Historiker auch

Der Begriff des Jakobinismus

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mit verschiedenen Typen von Revolutionen (innerhalb der Grundkategorie „Bürgerliche Revolution") zu tun hat. Wiederholt hat Walter Markov darauf verwiesen, daß die Französische Revolution, ungeachtet ihrer Schlüsselposition im neuzeitlichen Revolutionszyklus, durchaus ihre nationalen Besonderheiten, Verwerfungen und Inkonsequenzen aufwies, die nicht auf die Gesamtheit der bürgerlichen Revolutionen übertragbar sind. Inzwischen hat A. V. Ado durch detaillierte Forschung die übersteigerten Deutungen des Radikalismus der französischen Bauernbewegung in die realen Dimensionen zurückgeführt. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Soboul, was ihn sogar die Frage einer „révolution agraire inachevée" aufwerfen ließ. Summa summarum erhebt sich die Frage nach der Einmaligkeit und Eigenheit der historischen Konstellation, in der sich die Große Revolution entfalten konnte, denn zur Klassizität gehört bekanntlich auch das Kriterium der Unwiederholbarkeit, womit zugleich diê Möglichkeiten und Grenzen eines Vergleichs mit vorangegangenen, zeitlich parallelen und nachfolgenden revolutionären Prozessen markiert sind. Zu den wesentlichen Aspekten, aus denen sich der klassische Charakter der Revolution ableiten läßt, gehört der Jakobinismus. In der „Jakobinerfrage" sieht W. Markov den „Prüfstein der Historiker". Das historische Urteil über den Jakobinismus kompliziert sich dadurch, daß zwei historische Dimensionen ineinandergreifen: der „eigentliche", d. h. klassische französische Jakobinismus, den wir auch als „Jakobinismus im engeren Sinne" bezeichnen können, und jene radikalen Bewegungen außerhalb Frankreichs, die bereits aus zeitgenössischer Sicht als jakobinisch bezeichnet wurden. Die zahlreichen Untersuchungen über Jakobiner in Deutschland, Polen, Ungarn, dem übrigen Habsburgerreich, Italien, Belgien, England, Nord- und Südamerika sind Beleg für die universalhistorische Dimension des Problems, sind aber auch dazu angetan, seinen Kern aufzuweichen. Soweit das möglich ist, gilt es für den Historiker, exakt zwischen dem Jakobinismus „intra muros" und den Jakobinern „extra muros" zu unterscheiden. Schon eine Differenzierung zwischen Jakobinismus als einem praktizierten und ideologisch fundierten System politischer Machtausübung und jenen Jakobinern, die ein solches Stadium nicht oder nur im Ansatz erreichten, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Die allgemeine Jakobinismusdebatte, für die überdies eine auffallige, aber sich nicht unbedingt berührende Parallelität von literaturwissenschaftlicher und historischer Forschung kennzeichnend ist, leidet, soweit die Frage nach der universalhistorischen Dimension gestellt ist, an der Tendenz, den Jakobinismus einem diffusen Radikalismus- oder Demokratiebegriff zu integrieren. Damit geht der Blick für die historische Spezifik des Jakobinismus verloren. Obwohl auch die Historiographie davon ebenfalls nicht ganz unberührt ist, speisen sich m. E. die begrifflich-methodischen Mißverständnisse vor allem aus der Literaturgeschichte, die bereits mit dem Phänomen eines Präjakobinismus hantiert (E. Rosenstrauch-Königsberg), ohne daß der Bezug auf den eigentlichen oder engeren Jakobinismus hinreichend deutlich würde. Das dringende Erfordernis einer interdisziplinären Verständigung ist unabweisbar. Es sollte, um Verzeichnungen und Fehlinterpretationen zu verhindern, mit Aufmerksamkeit dem Doppelplädoyer von A. Soboul und W. Markov für eine möglichst enge Fassung des Begriffs Jakobinismus Folge geleistet werden. In Anlehnung an J. Jaurès sprach Soboul von der Existenz eines „antifeudalen Blockes". Die Frage, wie eine derartige Verbindung von führender Bourgeoisie (und/oder deren führenden Exponenten) mit Klassen und Schichten zustande kommt, die am Ende den Preis der Revolution zahlen, hat'bereits Marx und Engels beschäftigt. Sie umschrieben zu einer Zeit, da sie die bürgerliche Revolution noch als „politische Emanzipation" und die proletarische als „menschliche Emanzipation" kennzeichneten, die angedeutete Problemlage als

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Manfred Kossok

„heroische Illusion". Unter „Illusion" verstanden sie keinen persönlichen Irrtum, sondern eine weltgeschichtliche, damit geschichtsprägende Täuschung, deren Wesen in der zeitweiligen Kongruenz von (gesamtnationaler) „Idee" und (klassenspezifischem) „Interesse" bestand. In diese Dialektik gilt es den Jakobinismus einzuordnen, der sich als die höchste und konsequenteste Ausprägung der heroischen Illusion in der Epoche der bürgerlichen Revolutionen kennzeichnen läßt. Die Bourgeoisie wiederum begriff — wesentliches Element der Illusion — ihre eigene Emanzipation als allgemein-menschliche (staatlich gefaßt in der Republik der Menschenrechte), eine Illusion, die ihre Fundierung bereits in und mit der Aufklärung gefunden hat. Für Deutschland ist eine solche Tendenz am deutlichsten im Revolutionsverständnis von Kant (W. Berthold) ablesbar. Erst im Verlaufe der Revolution traten die Eigeninteressen immer deutlicher hervor, was eine entsprechende Differenzierung im revolutionären Lager zur Folge haben mußte. So betrachtet ist der Begriff „télescopage", des „Sich-ineinander-Schiebens" mehrerer Revolutionen, bei Furet nicht ganz aus der Luft gegriffen, womit allerdings dem einheitlichen Begriff „Bürgerliche Revolution" die Berechtigung entzogen werden soll. Am Ende der Revolution, d. h. mit ihrer Institutionalisierung, treten „Idee" und „Interesse" in offenen Gegensatz zueinander: der Citoyen entpuppt sich als Bourgeois „sans phrase". Als erster hat diesen Widerspruch, von Robespierre und Jacques Roux unterschiedlich reflektiert, Babeuf klar zum Ausdruck gebracht und daraus die Notwendigkeit einer neuen Revolution — sie sollte „die letzte" sein — abgeleitet. Das Verhältnis von Bourgeoisie und Volksbewegung gestaltete sich in der Großen Revolution sehr vielgestaltig. An Vereinfachung bei der Darstellung dieses' Verhältnisses hat es auch in der marxistischen Historiographie nicht gefehlt. Sobouls Werk über die Sansculotten darf als der wegweisende Durchbruch für ein schöpferisches Verständnis dieser Frage angesehen werden; sein Einfluß auf ein differenziertes Urteil, wie z. B. in den Jakobinismusstudien von A. Z. Manfred, ist unabweisbar. Der von Soboul apostrophierte „revolutionäre Block", dessen Kitt in der antiabsolutistischen (beileibe nicht durchgehend antifeudalen) Interessenlage aller in der Revolution engagierten Kräfte bestand, kam durchaus nicht im Selbstlauf zustande, war nicht „plötzlich da", wie er ebensowenig als freiwilliges Angebot der Bourgeoisie an die „Massen" zu verstehen ist. In groben Zügen ist das Verhältnis von Revolutionsführung und Volksbewegung auf folgende Rhythmik reduzierbar: Die Forderungen der Volksbewegung, insbesondere der von einem hohen Maß an Spontaneität gekennzeichneten Agrarbewegung, konnten in der 1. Phase letztlich nur gegen den hinhaltenden Widerstand der herrschenden Feuillants durchgesetzt werden. Während die berühmte „Nacht der Entsagung" und die unmittelbar folgenden Dekrete eine physiokratisch inspirierte konservativ-reformerische Ablösung des Feudalsystems in die Wege leiten wollten, erzwang die „Grande Peur" dementgegen die Öffnung des revolutionär-demokratischen („französischen") Weges, der den weiteren Verlauf der Ereignisse bestimmte. Mit dieser entscheidenden Weichenstellung hatten die Jakobiner, da als „Partei" noch gar nicht existent, nichts zu tun. Begann hier die von Furet beklagte „dérapage"? Fest steht vielmehr, daß seitdem jede an der Macht befindliche Gruppe — die Jakobiner nicht ausgenommen — den von der Volksbewegung geschaffenen Realitäten hinterherhinkte, was selbst bei der Agrargesetzgebung vom Juni/Juli 1793 der Fall war, die zumeist post festum billigte, was sich die Bauern bereits genommen hatten. Das Bündnis von Revolutionsführung und Volksbewegung erreichte die größte Intensität

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in der 3., der jakobinischen Phase; zugleich wurde aber auch der Zenit überschritten, ohne daß damit eine Rechtfertigung für die negativen Schlußfolgerungen im Sinne von Guérin gegeben wäre. Aus der Nähe betrachtet, scheint das Verhältnis von Hegemonie und Volksbewegung, von Klassencharakter und Massenbasis der Revolution in einer Formel faßbar : bei Beginn der Revolution bestand ein einheitlicher Block unterschiedlicher Triebkräfte, der dann im Verlauf und vor allem gegen Ende der Revolution rissig geworden und schließlich der Auflösung verfallen sei. Eher treffe dagegen das Bild einer EntwicklungsinWe zu. Die — wie schon von George Lefebvre (für die Bauern) genau beobachtet — relativ autonomen Interessen der sozial-politischen Hauptkomponenten (bourgeois-liberale, kleinbürgerlich-demokratische, bäuerlich-agrarische und städtisch-plebejische) verschmelzen erst mit dem Gang der Ereignisse zum revolutionären Block, erreichen ihre stärkste Kohäsion und treten schließlich in die auflösende Krise ein. Die zentrale Scharnierfunktion in dieser Triade kommt ohne Zweifel den Jakobinern um Robespierre zu. Aus dem genannten Doppelplädoyer Soboul—Markov resultiert die Notwendigkeit, den Jakobinismus im „engeren Sinne" mit gebotener Deutlichkeit abzuheben. Auf diese Weise wird auch der strukturelle und funktionale (im besten Sinne des Begriffs historische) Unterschied zwischen dem klassischen Jakobinismus und den analogen jakobinischen Aktivitäten „extra muros" besser faßbar. Ein solches Von-einander-Abheben anstelle überhöhter Gleichsetzungen scheint schon deshalb um so dringender, da inzwischen fast jedes Land Europas für den Jakobinismus reklamiert wird und das Problem auch für außereuropäische Regionen in die Debatte eingebracht worden ist. Es geht nicht zuletzt um die Frage, wo Jakobinismus Realität reflektiert und in welchen Fällen der Historiker sich dieses Begriffs in mehr bild- oder gleichnishafter Form bedient. Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Frage, wann die Jakobiner zu Jakobinern (im revolutionshistorischen Sinn) geworden sind. An Periodisierungsversuchen hat es seit Jules Michelet nicht gefehlt. Wie immer die Vorgeschichte der „robespierristischen Linie" (Jean Poperen) gedeutet wird, für die Wirkung des Jakobinismüs im klassischen Begriffssinne gewinnt die Zeit seit der 2. Spaltung des Klubs, d. h. nach dem Auszug der Girondisten, tragenden Stellenwert. Es ist jener Jakobinismus, der personifiziert in Robespierre — ohne daß, wie Markov herausgearbeitet hat, Robespierristen und Jakobiner unbedingt als dekkungsgleich anzusehen sind — den Träger der 3. Revolutionsphase abgegeben hat. Der klassische Jakobinismus und seine' Funktion sind durch eine doppelte Dimension bestimmt. Jakobinismus an der Macht manifestiert zunächst die radikalste Wachablösung innerhalb der bürgerlichen Revolutionshegemonie — insofern bewegte sich die Revolution weiter in aufsteigender Linie, ihren Zenit erreichend und zugleich überschreitend. Im Jakobinismus tangierte die Revolution aber auch ihre bürgerlichen Grenzwerte, das klassenspezifische Non plus ultra; diese Grenze zu übertreten, dazu waren die Jakobiner weder objektiv in der Lage noch subjektiv gewillt. Obwohl sie die Möglichkeiten der Revolution bis zur letzten Konsequenz ausschritten, verließen sie zu keinem Zeitpunkt den bürgerlichen Klassenboden. Von einer Volksherrschaft unter dem Jakobinismus zu sprechen oder ihn damit zu identifizieren (wie z. B. bei Manfred herauszulesen), überfordert den Charakter der Epoche, ungeachtet des hohen Stellenwertes, den die Begriffe „Nation", „Peuple" und „Souverainité" und „Volonté générale" im zeitgenössischen Selbstverständnis besaßen. All das war Bestandteil der heroischen Illusion. Der historische Ort des Jakobinerstaates und damit des Jakobinismus ist von Walter Markov in seinem bekannten Essay von 1955 unter dem Titel „Grenzen des Jakobinerstaates" in den wesentlichen Koordinaten ausgelotet worden; dem kann und soll hier nichts hin-

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Manfred Kossok

zugefügt werden. Damit wurde indes kein Schlußpunkt unter die „ewige" Jakobinerdebatte gesetzt, eher der Boden für eine Versachlichung der Streitfragen gewonnen. In diesem Sinne steckte Cl. Mazauric das Programm für weiterreichende Forschungen ab, sekundiert von Claudine Wolikow, „que les jacobins enfin méritent une histoire scientifique et pas la seule polémique"; auch eine Forderung, die leichter formuliert denn realisiert ist, wie z. B. selbst das teilweise heftige innermarxistische Echo auf die Jakobinismusthesen von Revunenkov bewies. Hierin liegt die eigentliche Crux, da die Mehrzahl der Äußerungen eher an Glaubensbekenntnisse denn an sachbezogene Urteile gemahnt. Aus der Fülle der Probleme, die für eine kontroverse Debatte auf die Liste der Desiderata zu setzen wären, seien hier summarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die folgenden erwähnt : Woraus erklärt sich die revolutionäre Potenz gerade des Kleinbürgertums als des sozialen Rückgrates des Jakobinismus? Die noch ungebrochene Verwurzelung in der einfachen Warenproduktion brachte das Kleinbürgertum in einen Doppelkonflikt gegen das Ancien régime und den auf Konzentration von Reichtum und Produktion orientierten Laissez-faire-laissez-aller-Charakter der neuen Gesellschaft. Daraus — wie durch Volker Hunecke geschehen — auf eine antikapitalistische Funktion oder Substanz des Jakobinismus zu schließen, übersieht das Wesen dieses Konfliktes. Bewußt bildlich gemeint, hat A. V. Ado von der Antinomie zwischen Capitalisme paysan (denkbar wäre auch : jacobin) und Capitalisme bourgeois gesprochen. Die Frage lautete nicht : Kapitalismus ja oder nein?, in dieser Hinsicht hatte das eindeutig bürgerliche Eigentumskonzept der Jakobiner klare Verhältnisse geschaffen, vielmehr ging es um dessen, von den Notwendigkeiten der Revolution diktierte politische und soziale Einbindung — wenn man so will, den Primat der Politik über die Ökonomie unter den Bedingungen einer historischen Ausnahmesituation. Daran mußten die Jakobiner auf die Dauer scheitern, und das in dem Maße, wie sich die Ausnahmebedingungen der Revolution abzubauen begannen: „La révolution est glacée" (St. Just). Selbst für die Ventöse-Dekrete, deren Realisierung etwa 300000 „verdächtige" Besitzer getroffen hätte, gilt ungeachtet ihres sozialen Radikalismus, daß sich die „Umverteilung" innerhalb bürgerlicher Eigentumsnormen bewegte und keineswegs das siöh etablierende System des Kapitalismus sprengte. Es ist deshalb kein Zufall, daß das jakobinische Revolutionspotential dann im Zenit steht, als die Krise der spätfeudalen Ordnung voll ausgeprägt, der Grundantagonismus der Zukunft (Kapital vs. Arbeit), den selbst die noch auf die Polarität von „reich" und „arm" fixierten Enragés um Jacques Roux und deren hébertistische Diadochen nicht zu artikulieren vermögen, erst im Entstehen begriffen ist. Als sich das Kleinbürgertum damit konfrontiert sieht, wird es — allen jakobinischen Totenbeschwörungen zum Trotz — auf konservative Weise darauf reagieren: Frankreich 1848! Es sei hier nochmals hervorgehoben: Auch in ihren radikalsten Ausprägungen wurzelte die Politik des Jakobinismus in der bürgerlichen Grundsubstanz der Revolution ; zugleich ermöglichte seine politisch-soziale Transmissionsfahigkeit die Integration der Massen in den revolutionären Prozeß auf eine Weise, die das Optimum an Demokratismus (auch gegen den bourgeoisen Liberalismus) unter den Bedingungen der Epoche verkörperte. Was folglich — von Mazauric angemerkt — die „eigentlichen" Jakobiner von den Girondisten trennte, war weniger die soziale Abkunft, sondern die Fähigkeit, sich stärker mit den Forderungen der Volksmassen zu identifizieren. Dabei blieb die Grenzlinie eindeutig : Direkte Demokratie verstieß gegen die Union sacrée aller Patrioten; Enragés und Hébertisten haben dafür schwer gebüßt. Trotzdem scheint mir der Schluß irrig, „daß aber auch in den Augen der Jakobiner das Volk weiterhin nur Objekt der Geschichte blieb und nie zu deren Subjekt

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wurde" (Tadeusz Namowicz). Eine solche Formel ist nicht geeignet, den spezifischen Charakter von Revolutionsführung und Massenbasis in der 3. Phase zu erhellen. Inwieweit „eine verbale Nobilitierung des Volkes" für Vertreter des außerfranzösischen Jakobinismus nachweisbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Wenn nach einer Metapher des jungen Marx der ganze Terrorismus (Robespierres) nichts anderes verkörperte als die „plebejische Manier", also die Form, das Instrumentarium, mit den Feinden der Bourgeoisie fertig zu werden, d. h. die Diktatur, wenn schon nicht der, dann aber doch (letztlich) für die „eigentliche" Bourgeoisie, so sind Größe, Möglichkeiten und Grenze des Jakobinismus, aber auch dessen Bruchstelle zur Volksbewegung, klar angezeigt. Jakobinismus und Volksbewegung lassen sich nicht auf denselben Nenner reduzieren. Bliebe weiter darüber nachzudenken, daß ebensowenig eine Deckungsgleichheit zwischen Jakobinismus und Kleinbürgertum (weder qualitativ noch quantitativ) besteht; es ist etwa das Verhältnis von Kern und Masse (was bekanntlich auch für die anderen Klassenkomponenten der Revolution gilt). „Radikalste bourgeoise Fraktion" — dieser Begriff bestimmt folglich den funktionalen (nicht den sozialen) Ort des kleinbürgerlichen Klassenelements im Hegemoniespektrum der Revolution. Hierin liegt m. E. auch die Erklärung für die relative Autonomie der jakobinischen Staatsgewalt (während der Terreur) gegenüber dem „Durchschnitts"bourgeois und seinen Profitinteressen. Trotzdem blieb das Ganze „Macht auf Zeit" unter den Bedingungen einer unwiederholbaren — auch deshalb klassischen — Ausnahmesituation. Das Schicksal des außerfranzösischen Jakobinismus bestätigte, daß nicht nur keine Bedingungen für eine „Wiederholbarkeit" von 1793 bestanden, sondern in der Folge unter dem Einfluß der Doppelrevolution (politisch-soziale Umwälzung in Frankreich, ökonomisch-technologische in England) andere Alternativen der bürgerlichen Umwälzung bei zunehmendem Primat des reformerischen Weges wirksam wurden. Dabei handelt es sich zunächst um die Aufgabe, mögliche gemeinsame Merkmale jenes „anderen" Jakobinertums zu erfassen. Dagegen scheint für eine ebenso dringliche Differenzierung innerhalb des außerfranzösischen Jakobinismus verschiedenster nationaler Couleur und Provenienz — aus der Sicht der komparativen Methode wäre von Typologie oder Typisierung zu sprechen — der erreichte Forschungs- und Erkenntnisstand noch nicht reif zu sein. Wenn Markov schon für die klassische Revolution feststellte, daß „der Begriff ,des' Jakobinismus abstrakter, synthetischer Natur ist", um wieviel brüchiger stellt sich dann der Boden für Verallgemeinerungen um die Jakobiner extra muros heraus. Hier sehe ich den Hauptgrund für die erforderliche Kritik an leichtfertigen, dieser oder jener Mode folgenden und damit letztlich inflationistischen Verwendungen des Jakobinismusbegriffs. Soweit überhaupt von einem Konsensus zwischen den Historikern die Rede sein kann, besteht der allgemeinste Nenner für die historische Einordnung des Jakobinismus extra muros in seiner Funktion als radikale Linke im Gesamtgefüge der antifeudalen Opposition, ohne daß daraus aber schon verbindliche Schlußfolgerungen für ebensolche Gemeinsamkeiten im sozialen Ursprung, in den theoretischen Voraussetzungen, der Programmatik und des realen Einflusses gezogen werden dürften. Ein besonderes Verdienst von Heinrich Scheel ist darin zu sehen, mit der Totalvision des deutschen Jakobinismus zugleich dessen politische Gravitationszentren herausgearbeitet und dokumentarisch analysiert zu haben. Vor allem der Rückgriff auf die Quellen war entscheidend, um die authentisch jakobinischen Aspirationen gegen einen zu diffusen Radikalismusbegriff abzugrenzen. Erwähnt werden muß auch Scheels Leistung, den deutschen Jakobinismus aus der Enge literatur- und ideengeschicht2

Demokratie, Sozialismus

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licher Interpretation herausgeführt zu haben, weil er nicht zuletzt die Kompliziertheit des realen Forschungsprozesses und die ihm innewohnende Gefahr, gewissen Tendenzen einer (positiven wie negativen) Etikettierung nachzugeben, erkannte. Ausgehend von Lenin, der die historische Wirkung des klassischen Jakobinismus an seine Fähigkeit, Jakobinismus „mit dem Volk" zu sein, band, betont Scheel, daß es sich beim Jakobinismus extra muros — von zählbaren Ausnahmen abgesehen — um Jakobiner „ohne Volk" gehandelt habe, was nicht pejorativ gemeint ist, sondern deren Tragik andeuten soll. Für die meisten von ihnen war jene Ferne vom Volk kennzeichnend, die Lenin auch für die russischen Adelsrevolutionäre des 19. Jh. beklagte. Mir scheint es inzwischen — auch mit Blick auf die radikalen Strömungen innerhalb der spanisch-amerikanischen Unabhängigkeitsrevolution von 1810 — denkbar, die von Scheel gesetzte Antinomie um eine dritte Koordinate zu erweitern: den Jakobinismus „für das Volk", soweit der Versuch unternommen wurde, eine dem Jakobinismus adäquate Politik zu realisieren, ohne daß die historischen Voraussetzungen — objektive wie subjektive — für eine Mobilisierung der Volksmassen in „französischen Dimensionen" gegeben waren. In diese Kategorie gehört z. B. das schon von Carlyle als faszinierend und für eine Aufnahme in seine Heldengalerie für würdig befundene Beispiel des Dr. Francia in Paraguay. Wenn die Definition des klassischen Jakobinismus noch in der Schwebe ist, sollten uns Unschärfen hinsichtlich des außerfranzösischen Jakobinismus noch weniger wundern, nicht ohne deshalb kritisch, mit dem Ziel einer künftigen Klärung, vermerkt zu werden. Mit dem Risiko einer gewissen Vergröberung im Interpretationsraster sind die Eigenheiten des Jakobinismus extra muros (damit aber auch Unterschiede zum klassischen Jakobinismus) auf folgende Weise faßbar: 1. Das qualitativ anders gelagerte Raum-Zeit- und Bedingungsgefüge, in dessen Rahmen, sich der außerfranzösische Jakobinismus entfaltete. Von besonderem Gewicht für eine Faktorenanalyse dürfte das Objekt-Subjekt-Verhältnis sein, die — gemessen an Frankreich — ungenügende Reife der objektiven, will besagen der allgemeingesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Revolution; die gegebene Unreife mußte folglich in einem disproportionalen Verhältnis durch subjektive Faktoren (im weitesten Sinne des Begriffs) ergänzt, gegebenenfalls sogar kompensiert werden: Idee und Wirklichkeit standen in offener Diskrepanz zueinander. Die heroische Illusion war nicht Reflex einer gegebenen Situation, sondern trat an deren Stelle. Gegen die Tendenz, den Jakobinismus extra muros historisch zu überfragen, hat Scheel begründet den Einwand gesetzt, daß „die kleine Schar jakobinischer Avantgardisten . . . unmöglich das leisten konnte, was das Bürgertum als Klasse versäumte". Die Konstellation erwies sich in doppelter Hinsicht als negativ: Die jakobinischen Elemente waren nicht nur Jakobiner ohne Volk, ihnen fehlte auch das adäquate Klassenhinterland, sie waren folglich auch Jakobiner „ohne Klasse". Antonio Gramsci hat die Ursachen für die Schwäche und Fehlentwicklung des italienischen Risorgimento in der Nichtexistenz einer „historischen", d. h. im bürgerlichen Sinne hegemoniefahigen, Klasse gesehen. Was Gramsci für den demokratischen Flügel des Risorgimento in Rechnung stellte, das trifft in übertragenem Sinne für alle Jakobiner extra muros zu, deren soziale Basis so extrem heterogen war, daß dadurch jede erfolgreiche, wenn auch stets transitorische Vorhutfunktion im Sinne einer um die Macht ringenden Bourgeoisie a priori blockiert wurde. Außerhalb der Rheinzone trifft jene Kräftekonstellation zu, die B. Lesnodorski für Polen beschrieben hat: „Die polnischen Jakobiner . . . nahmen vom Standpunkt ihrer politischen und sozialen Vorstellungen keine Zwischenposition zwischen den radikalen Sansculotten

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und der Bourgeoisie ein, wie in Frankreich, sondern eher zwischen der Kleinbourgeoisie der Städte und dem Adel." Was K. Benda für die historische Perspektivlosigkeit des „Jakobinismus" („dits j a c o b i n s ' " ) in den habsburgischen Ländern feststellt, hat in gewisser Hinsicht generelle Bedeutung: „1. Da die Bourgeoisie schwach war, wurden die revolutionären Bewegungen von Intellektuellen, teils adligen Ursprungs, geleitet. 2. Die Revolutionäre hatten keinerlei bedeutende Verbihdungen mit der Bauernschaft. 3. Folglich wurden die Organisationen, die keine Unterstützung der Massen hatten, überall durch die herrschenden Klassen unterdrückt." Jakobinismus entsteht nicht als heroischer Willensakt, vielmehr erwächst" er in seiner klassischen Form aus einem komplizierten Differenzierungsprozeß der zu ungeteilter Revolutionsführung fähigen Bourgeoisie. Die von Frankreich als Leitrevolution der neuen Epoche ausgehende Modellwirkung, in bestimmten Fällen durch die französische Präsenz geschaffenen „Umweltbedingungen" (Rheingebiet; die Giacobini Norditaliens) reichten auf die Dauer nicht aus, um die Schwäche der eigenen (inneren) Voraussetzungen, d. h. deren Primat für das Schicksal der Revolution, in ihrer Totalität auszugleichen. Für einen sinnvollen historischen Vergleich erwächst daraus die Konsequenz, die Elle nicht (allein) dahin gehend anzulegen, was der jeweilige Jakobinismus (realiter: die jeweiligen Jakobiner, da — wie schon angedeutet — von Jakobinismus außerhalb Frankreichs nicht die Rede sein kann) im Verhältnis zum französischen Vorbild vollbringen konnte (oder nicht), sondern bis zu welchem Grade die historischen Möglichkeiten zur Lösung der spezifischen gesellschaftlichen Widersprüche ausgeschöpft wurden. Für die historisch-kritische Analyse ist folglich ein doppeltes Bezugssystem gültig: Der durchaus legitime Vergleich mit Frankreich, gebrochen durch die vor Ort gegebenen, letztlich bestimmenden Voraussetzungen. 2. Von kardinaler Bedeutung ist weiterhin die unterschiedliche historische Funktion des außerfranzösischen Jakobinismus. Für Frankreich bedeutet Jakobinismus letztlich Jakobinismus „an der Macht", Resultat der Revolutionsentwicklung in aufsteigender Linie. Während also die Jakobiner um Robespierre die Große Revolution auf den Höhepunkt führten und damit die anstehenden historischen Entscheidungen (Krieg, Konterrevolution, Agrarfrage) bis zur letztdenkbaren Konsequenz ausfochten, die Revolution so zur „Vollendung" führend, stand vor dem Jakobinismus extra muros die Aufgabe, durch seinen Radikalismus überhaupt erst den Weg für eine mögliche Revolution freizukämpfen, d. h. an sie Aerarczuführen, geschweige denn sie schon auf den Zenit zu bringen. Diese in ihren Folgewirkungen bislang nicht durchdachte Umkehrung in Funktion und historischer Stellung verdeutlicht hinreichend die inkommensurablen Entwicklungsbedingungen von tendenziell gleichgelagerten Bewegungen. Das unauflösbare historische Paradoxon bestand darin, die Revolution dort beginnen zu wollen, wo die französischen Jakobiner sie beendet hatten. Zugespitzt formuliert: Um die Republik zu wollen (und zu errichten!), mußte man in Frankreich kein Jakobiner „im eigentlichen Sinne" sein, außerhalb Frankreichs war dies die Voraussetzung dafür. 3. Über die genannten Besonderheiten im Verhältnis von Jakobinismus-Klasse-Massenbasis verdienen auch Unterschiede in der nationalen Funktion Hervorhebung. Der französische Jakobinismus konstituierte sich — unabhängig von der Rolle der Hauptstadt Paris als „Herz der Revolution" — in nationalem Maßstabe; das gilt für seine Hegemoniefunktion als Träger einer autoritär-revolutionären Staatsgewalt wie auch für den Charakter als Organisation, gestützt auf ein Netz von regionalen und lokalen Tochtergesellschaften, von denen 2*

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die Mehrheit im Moment der 2. Spaltung die „robespierristische Linie" verfocht. Von einer nationalen Dimension kann bei den außerfranzösischen Bewegungen nicht die Rede sein, da sie in der Regel — soweit es sich nicht überhaupt nur um enge Zirkel handelte — im besten Falle lokale und regionale Erscheinungen darstellten, die nicht selten in den Gegensatz zur eigenen feudalen „Nation" (wie z. B. G. Forster und Mainzer Klubisten) treten mußten. 4. Obwohl sich Frankreich in einer historischen Übergangsphase befand, die, ungeachtet der ausgeprägten Polarität, von einer labilen Klassenstruktur gekennzeichnet war, wies der Jakobinismus eine auffallend homogene Klassenbasis auf, dessen Kernelement als kleinbürgerlich-intellektuell bezeichnet werden kann. Unscharf wurden dagegen die Klassengrenzen im Bereich der den Jakobinismus abstützenden Teile der Sansculotterie, die nach „rechts" in den kleinbürgerlich-handwerklich-kommerziellen Sektor (mit tendenziellem oder erträumtem Anschluß an die Bourgeoisie) und nach „links" in die plebejisch-vorproletarischen Schichten hineinragten. Wie wenig opportun es ist, die damaligen Strukturen und Schichtungen nach modernen Klassenkategorien zu ordnen, dazu hat Soboul das Erforderliche gesagt. Für den Jakobinismus extra muros ist nun nicht nur eine soziale Heterogenität höchsten Ausmaßes festzustellen, sondern auch eine beträchtliche „vor"bürgerliche Substanz. Diese Substanz konnte unterschiedlicher Natur sein : Sie reichte von der josephinischen Reformbürokratie bis zu jenen Teilen des liberalen Adels, die wie z. B. im Falle Ungarns noch 1848 den linken Flügel um Kossuth in der Führung der Revolution stellen werden. Vor allem in dem Maße, wie der Historiker sein Spektrum in Richtung Ost- und Südosteuropa ausweitet, tritt der vorbürgerliche Ansatz der nicht aus eigener Definition, sondern in den Akten der Verfolgungsbehörden als jakobinisch diagnostizierten Bewegungen um so deutlicher hervor. In der vergleichenden Revolutionsanalyse findet für diese Konstellation der Begriff der sozialen Hegemoniesubstitution Verwendung. Bei der Untersuchung des Jakobinismus extra muros kann von der genannten Tatsache, daß sich die Mehrheit dieser Jakobiner so selbst nicht bezeichnete, sondern erst von obrigkeitswegen dieses Prädikat erhielt, nicht ganz abstrahiert werden. Dafür sei ein in jeder Hinsicht besonders extrem abgelegenes Beispiel genannt. Der Bericht über die Niederschlagung der von Miguel Hidalgo y Costilla geleiteten Revolution in Mexiko von 1810/11 trägt den Titel: Prisiòn del Cura Hidalgo con toda la Plana mayor de sus Sansculots en Acatita de Baxân del Reino de Nueva Espana (Gefangennahme des Geistlichen Hidalgo mit dem Stab seiner Sansculotten . . .). Und um das Bild noch weiter zu komplizieren : Wie steht es um die Einordnung des iberischen, vor allem des spanischen Kryptojakobinismus? Wie ein Leuchtturm aus dem noch nicht durch intensivere Forschung zerteilten Dunkel ragt die Figur José Marchenas hervor, der sich mit einer Jubelode auf Rousseau („Rousseau, ewiger Ruhm unseres Zeitalters und Beispiel kommender Jahrhunderte") im Gepäck vor den Häschern der Inquisition zum Jakobinerklub von Bayonne rettete: „Ich komme aus dem Land der Sklaverei, dem Land des religiösen und bürgerlichen Despotismus . . . Ich komme zum Land der Freiheit . . . Oh ! Messieurs, oh ! mes frères . . . Ich komme, um mich Ihnen zu weihen." Picornell, republikanischer Verschwörer, wurde nach Venezuela verbannt und beeinflußte dort die Programmatik der Verschwörung von Guai und Espana, die Wort für Wort die Verfassung von 1793 übernahm und nicht nur in Robespierre, sondern auch in den Sansculotten (Descamisados) ihr Leitbild sah. Nach einem zeitgenössischen Zeugnis hätten sich selbst die Huren nur noch „für die Revolution, den Konvent, die Nationalversammlung, die Freiheit und Gleichheit" und für „die Neuigkeiten von Robespierre interessiert". Diese

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Stimmungen, Bewegungen und Aktivitäten lassen sich weder den mit der gemäßigten Aufklärung verheirateten Afrancesados zuschlagen, noch wäre es rechtens, sie nur als Auftaktskapitel des anämischen Liberalismus des 19. Jh. zu werten. Hier tut eine selbständige historische Einordnung not, die es noch zu leisten gilt. Es ergeben sich folglich zumindest drei partiell, aber nicht unbedingt, deckungsgleiche Bewertungskriterien: die Eigendefinition der Jakobiner, die Denunziation als Jakobiner seitens der Behörden und schließlich die Einordnung im Ergebnis der historischen Analyse. 5. Nicht zuletzt wäre auch über die zeitliche Einordnung des Jakobinismus extra muros nachzudenken. Die gewiß entscheidende Frage nach dem Verhältnis zur Großen Revolution und folglich zum klassischen Jakobinismus verdeckt nicht selten den Blick für das Problem der Kontinuität und Diskontinuität zu den nachfolgenden revolutionären Bewegungen. Um 1800 verlieren sich die letzten bedeutenden Spuren jakobinischer Aktivitäten außerhalb Frankreichs; eine dem französischen Beispiel vergleichbare jakobinische Traditionslinie, die bekanntlich bis zur Commune von 1871 nachwirkte, verblieb nicht, wenn auch die Erinnerung keineswegs ausgelöscht war. Ein kompliziertes Geflecht von Ursachen (beginnend mit der antijakobinischen Wende in Frankreich, über die gnadenlose Verfolgung — Jakobinerprozesse' — bis zu einer subtil gesteuerten geistigen Konterrevolution, wovon z. B. in England der 1797 aus der Taufe gehobene ,Anti-Jacobin' zeugte, und die eigene Auszehrung) entzog dem Jakobinismus extra muros den Boden. Die nachfolgende Revolutionswelle setzte ab 1815, ausgelöst durch die ersten spanischen Pronunciamientos (1814/15), ein und richtete sich gegen das Restaurationsregime der Heiligen Allianz. Die Analogie dieser revolutionären Bewegungen und Revolutionen (insbesondere ab 1820) zum vorangegangenen Jakobinismus bestand nicht in einer ideologisch-programmatischen Affinität (quasi in Form eines „Spät"jakobinismus als Kontrapunkt zum sogenannten ,,Prä"jakobinismus), sondern in den im wesentlichen unveränderten Aktionsbedingungen. Das Problem der Hegemoniesubstitution, verbunden mit einer wenig entwickelten Massenbasis, stellte sich auch für diese Bewegungen. Sie füllten das existierende Vakuum nicht primär ideologisch, sondern institutionell. Zum Träger dieser institutionellen Hegemoniesubstitution wurde die Armee, die sich in den 20er Jahren vor allem an der Peripherie des europäischen Revolutionszyklus (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Rußland) als „Instrument der revolutionären Initiative" (Marx) erwies. Der Typ der liberal-bürgerlichen Militärrevolution beherrschte bis 1830 das Feld. Dann setzten die Ereignisse von 1830 in Frankreich und ihre gesamteuropäischen Folgen eine neue qualitative Zäsur im europäischen Revolutionszyklus. Zwar sah Marx mit 1830 „die Lebensgeschichte der französischen Revolution, die von 1789 her datiert", als „noch nicht beendigt" an. Trotzdem verdient festgehalten zu werden, daß mit 1830 die bürgerliche Revolution aus dem Bannkreis und dem Schlagschatten von 1789 und 1793 heraustritt und eine neue Qualität gewinnt, die nicht zuletzt durch das sich abzeichnende Gewicht der proletarischen Komponente gezeichnet ist und zunehmend die Fähigkeit ausprägt, das jakobinische Erbe (in hegelianischem Sinne) aufzuheben.

Literaturhinweise A. V. Ado, Krest'janskoje divizenie vo vremja francuzskoj burzuaznoj revoljucii konca XVIII veka, Moskau 1971.

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Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. von M. Kossok, Berlin 1979. Vgl. die Aufsätze zu II: Die Große Revolution der Franzosen, S. 527 ff. Bibliographie. Ders., Revolution im Zeugenstand 1789—1799, 2 Bde., Leipzig 1982. Robespierre 1758—1794, hrsg. von W. Markov, Berlin 1958. Vgl. die Beiträge von W. Markov, L. Jacob, R. Ch. Cobb, A. Soboul, G. Rudé, K. D. Tennesson, S. Bernstein, B. Lesnodorski, K. Mejdfickâ, K . Benda, L. Stern, H. Voegt, M. Buhr, A. Cornu. R. R. Palmer charakterisierte den Band als „Aufmarsch der marxistischen Linken". Jakobiner und Sansculotten. Beiträge zur Geschichte der französischen Revolutionsregierung, hrsg. von W. Markov, Berlin 1956. Vgl. die Beiträge von A. Soboul, M. Vendre, R. Ch. Cobb. Claude Mazauric, Sur la Révolution Française. Contributions à l'histoire de la révolution bourgeoise, Paris 1970. Ders., Quelques voies nouvelles pour l'histoire politique de la Révolution Française, in: Ann. Hist. de la Rev. Franç., Nr. 219, Paris 1975. Ders., Jacobinisme et Révolution. Autor du bicentenaire de „Quatrevingt-neuf', Paris 1984 ( = coll. „Problème — histoire"). Kvéta Mejdfickâ, Cechy a francouzskà revoluce, Prag 1959. Mezvuzovskaja konferencija po istorii jakobinskoj diktaturij. Tezisi dokladov, Odessa 1958. E. G. Plimak, Revoljucionnyi process i revoljucionnoe soznanie, Moskau 1983. Robespierre. Textes choisis, 3 Bde. Préface et notes Jean Poperen, Paris 1974 ( = Le classiques du peuple). Hernâni Resende, Sur le concept d'égaliterisme agraire dans la Révolution française, in : Les Cahiers du Centre d'Etudes et des Recherches Marxistes, Paris, Nr. 124, 1976. V. G. Revunenkov, Parizkie sankjuloty epochi Velikoj Francuzskoj Revoljucii, Leningrad 1971. Ders., Oierki no istorii Velikoj Francuzskoj Revoljucii. Padenie Monarchii 1789—1792, Moskau 1982. Ders., Oôerki po istorii Velikoj Francuzskoj Revoljucii. Jakobinskaja respublika i ee krusenije, Leningrad 1983. Helmut Reinalter, Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Eine Einführung, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1981. Mit umfangreicher Auswahlbibliographie. Ders., Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte des Jakobinertums und der frühdemokratischen Bestrebungen in der Habsburgermonarchie, Wien-Köln-Graz 1980. Jakobiner in Mitteleuropa, hrsg. u. eingel. von H. Reinalter, Innsbruck 1977. Vgl. insbesondere die Beiträge von H. Scheel, W. Grab, Cl. Träger, E. Wangermann, H. Reinalter, K. Benda, W. Markov, A. Körner, E. Rosenstrauch-Königsberg, D. Silagi. Jean Sarrailh, L'Espagne éclairée de la seconde moité du X V I I I e siècle, Paris 19642 ( = Témoins de l'Espagne. Série Historique, 1). Die Mainzer Republik. Bd. I. Protokolle des Jakobinerklubs, hrsg. von Heinrich Scheel, Berlin 1975 ( = Akademie der Wissenschaften der D D R . Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, Bd. 42). Die Mainzer Republik. Bd. II. Protokolle des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents mit Quellen zu seiner Vorgeschichte, hrsg., eingel., komment. und bearb. von Heinrich Scheel, Berlin 1981 ( = Ebenda) Bd. 43). Zur Bibliographie von H. Scheel vgl. die Angaben bei Wilharm, Bd. 2, S. 241—243. Die Französische Revolution, hrsg. von E. Schmitt, Köln 1976. Die darin enthaltenen Aufsätze reflektieren den im wesentlichen noch gültigen Stand der Polemik. Die Französische Revolution — zufälliges oder notwendiges Ereignis? Akten des internationalen Symposiums an der Universität Bamberg vom 4. bis 7. Juni 1979, hrsg. von E. Schmitt und R. Reichardt, T. 1—3, München/Wien 1983 ( = Ancien Régime und Aufklärung, hrsg. von R. Reichardt und E. Schmitt, Bd. 9/1 —3). Für die Problematik des Aufsatzes von Relevanz siehe Beiträge von G. Lemarchand, G. Rudé, G. V. Taylor, N. Hampson, A. Soboul, R. Foster, Cl. Mazauric.

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Maximilian Robespierre, Habt Ihr eine Revolution ohne Revolution gewollt? Reden, ausgew., komment. u. hrsg. von K. Schnelle, Leipzig o. J. [1958], Albert Soboul, Die Sektionen von Paris, bearb. u. hrsg. von W. Markov, Berlin 1962. Ders., Die klassische Geschichtsschreibung der Französischen Revolution, in: Zu Rolle und Formen der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus, hrsg. u. eingel. von M. Kossok, Berlin 1976.

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Manfred Kossok

Jean René Suratteau, La Révolution française. Certitudes et controverses, Paris 1973 ( = Dossier Clio). Jacob Leib Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln-Opladen 1961. Claus Träger, Die französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, Leipzig 1975. Maurice Vovelle, Idéologies et Mentalités: une clarification nécessaire, in: Europa. Revue d'Etudes Interdisciplinaires, Bd. 4, Nr. 1. Ders., Héroisation et Révolution: la fabrication des héros sous la Révolution française, in: Le Mythe du Héros. Actes du Colloque interdisciplinaire. Centre Aixois de Recherches Anglaises, Aix en-Provence 1982. Ders., Formes de politisation de la société rurale en Provence sous la Révolution Française: Entre jacobinisme et contre-révolution au village, in: Annales de Bretagne et des pays de l'ouest, Bd. 89, Jg. 1982, Nr. 2. Ernst Wangermann, From Joseph II. to the Jacobin Trials, London 1959; ders., Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien—Frankfurt—Zürich 1966. Heinz Wilharm, Politik und Geschichte. Jakobinismusforschung in Deutschland, Bd. 1 : DDR. Bd. 2: Bundesrepublik, Frankfurt a. M./Bern/New York 1984 ( = Europäische Hochschulschriften, R. III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 212). Eduard Winter, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740—1848, Berlin 1968.

GERHARD STEINER

Der Jakobiner im geistlichen Gewand — Philipp Joseph Brunners Kampf gegen den klerikalen Feudalismus

Vier Monate, bevor der Kurfürst von Mainz im Jahre 1792-vor dem vordringenden französischen Revolutionsheer aus seiner Residenz floh, forderte er den Fürstbischof von Speyer auf, den Pfarrer Joseph Brunner zu Tiefenbach wegen eines „von ihm an den Mainzer geistlichen Professor Norbert Nimis übersandten Planes zu einer geheimen Verschwörung genau zu vernehmen".1 Zahlreiche der deutschen katholischen Geistlichen, die sich während der Französischen Revolution in die Front der politischen Kämpfer für bürgerliche Freiheiten, für Gleichheit und Brüderlichkeit einreihten, erhielten noch keine deutlichen Konturen in unserem von dieser Zeit entworfenen Geschichtsbild. Es gab Vorkämpfer und Gefolgsleute unter den Männern, die den feudalen Absolutismus, den klerikalen Feudalismus mit seiner staatlichpolitischen und geistlichen Machtentfaltung als den stärksten und im Volk einflußreichsten Verbündeten des morschen feudalen Systems bekämpften. Wer war Brunner und inwiefern ist er eine repräsentative Erscheinung im Kreise dieser Kampfgenossen der deutschen Jakobiner? Ich habe bereits in meinem Buch über das „Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater" im Zusammenhang mit dem Kaplan August Bohl auf Brunner hingewiesen2, nunmehr soll er im Mittelpunkt einer ausführlicheren, auf weiteren Aktenfunden und Recherchen beruhenden Betrachtung stehen, die freilich keineswegs eine vollständige Monographie sein kann.

1. Herkunft, Bildungsgang und erste Kontroversen mit der kirchlichen Reaktion Religiöse Toleranz, die Grundlage eines politisch sich ausprägenden Humanismus und Demokratismus, war Philipp Joseph Brunner in die Wiege gelegt worden. Am 6. oder 7. Mai 1759 erblickte er in der rechtsrheinischen Festungsstadt Philippsburg als ältestes von elf bis 1776 geborenen Kindern des Garnisonschulmeisters Johann Michael Brunner das Licht 1 2

Franz Xaver Remling, Geschichte der Bischöfe zu Speyer, Bd. 2, Mainz 1854, S. 766. Stuttgart, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1973, S. 17—26. Einige kurze Lexikonartikel über Brunner in: Meusel, Gelehrtes Teutschland, 1. Bd., S. 470, 9. Bd., S. 157; Neuer Nekrolog der Deutschen, 7. Jg. 1829, 2. T., Ilmenau 1831, S. 974ff.; Badische Biographien, hrsg. von Friedrich von Weeck, 1. T., Heidelberg 1875, S. 136f.; und die 17 Zeilen in der ADB, III, S. 447, von Friedrich von Weeck sagen nichts über politische Engagements.

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der Welt.J Seine Mutter Maria Barbara Francisca, genannt Renata, war eine Jüdin, die — vermutlich kurz vor ihrer Eheschließung — zum katholischen Glauben übergetreten war. Seine Eltern gehörten mithin zu dem damals gewiß nicht großen Kreis der Menschen, die sich über Vorurteile und Diskriminierung hinwegsetzten wie später der Sohn, dessen Herkunft in zweifacher Beziehung seine freiheitlichgeistige und freisinnigreligiöse Entwicklung erklärt: In seinem unermüdlichen Kampf für die Koexistenz der Religionen, der zugleich eine Abwehr inhumaner Herabwürdigung und ein Einsatz für die Gleichberechtigung der Juden war, haben ihm gewiß stets Mutter und Vater vor Augen gestanden. In Erinnerung waren noch die grausamen Verfolgungen der Hugenotten im benachbarten Frankreich durch die katholische Kirche, und erst sieben Jahre vor Brunners Geburt war dort das System der Ketzerverfolgungen mit der gewaltsamen „Bekehrung" der Reformierten wieder aufgefrischt worden. Zudem lebten in der Reichsfestung mit einer Belegung von rund 10000 Mann drei Bekenntnisse zusammen: Es gab einen evangelischen Feldprediger, einen katholischen Garnisonpater und zeitweise einen Popen für die Griechisch-Orthodoxen des Slavonierbataillons. Die wechselnde Besatzung spiegelte die nationale Buntheit des Reiches wider. Das waren Jugendeindrücke Brunners, vor allem aber lernte er unsägliche Armut und entsetzlichen Hunger kennen, hervorgerufen insbesondere durch die drei Jahre hintereinander verheerenden Überschwemmungen des Stadtgebietes durch den Rhein, die der Neun- bis Elfjährige erlebte. 1770 kam es soweit, daß die Armen Philippburgs, wie es beschönigend heißt, „lamentierten" 4 . Glied dieser Armen war die kinderreiche Familie des Schulmeisters, so daß Brunners Herkunft als plebejisch zu bezeichnen ist. Nach schulischer Vorbereitung in seinem Heimatort besuchte Brunner 1775/76 das Domgymnasium zu Speyer5 und studierte von 1777 an, als Sohn ganz armer Eltern von kirchlichen Stellen unterstützt, in Heidelberg katholische Theologie. Wie politische Zielsetzungen und gesellschaftliche Bedürfnisse immer wieder in religiösem Gewände auftraten, so entstanden auch des jungen Brunners Konflikte mit der überlieferten und herrschenden Geisteswelt und der feudalen Gesellschaft zunächst im Bereich der katholischen Kirche, entsprechend dem Anspruch des Sturm und Drang, den Menschen aus feudaler und klerikaler Unterdrückung und Knebelung zu befreien. Es ist seinem späteren Gegner, dem Benediktinerpater Meinrad Widmann, Glauben zu schenken, wenn er behauptet, daß sich der junge Theologe auf dem Heidelberger Seminar eifrig in Voltaires religionswidrige Schriften vertiefte und im Kreis mutwilliger Studiengenossen die im traditionellen Geist lehrenden Geistlichen und deren Predigten, die der jungen Generation Beispiele sein sollten, „durchgehechelt" und der Lächerlichkeit preisgegeben habe. 6 Hier erwies sich bereits Brunners kritisches, an den Aufklärern geschultes Denkvermögen, hier wirkte er offenbar schon als ein Aufrührer gegen Tradition und Orthodoxie und als Rädelsführer. Dreiundzwanzigjährig verbreitete er seine anstößigen Vorstellungen in einem kurzen 3

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Taufregister der Kirche zu Philippsburg vom 7. Mai 1759 und Liber parochalis praesidii, Jg. 1758, 17. August: „Copulatus est Joannes Michael Brunner Ludimagister praesidialis ex Wisenthai oriundus cum honesta virgine Maria Barbara Francisca dicta Renata ex Judaismo ad veram nostram fidem conversa praemissis praemittendis in facie Ecclesiae coram testibus." Auskunft des kath. Pfarranites Philippsburg (Baden). H. Nopp, Geschichte der Stadt und ehemaligen Reichsfestung Philippsburg, Philippsburg 1881, S. 553. Beigabe zum Jahresbericht 1956/57 des staatlichen Gymnasiums Speyer. Meinrad Widmann, Noch einmal: Der Zölibat ist nicht aufgehoben, [Augsburg] 1791, S. 99.

Der Jakobiner im geistlichen Gewand

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System der Dogmatik, betitelt „Primae notiones theologicae, una cum positionibus dogmaticis in systemate exhibitae" (Heidelberg 1782).

2. Entwicklung zum konsequenten Feind des geistlichen Feudalismus Als Novize tat Brunner einen bedeutsamen Schritt, der seine Wende von der nur kirchlichgeistlichen Opposition zur gesellschaftlich-politischen Aktivität dokumentiert. Er trat in den von der katholischen Kirche heftig bekämpften Geheimbund der Illuminaten ein. Ihn warb der evangelische Heidelberger Kirchenrat Johann Friedrich Mieg, der als Propagandist und Ordens-Inspektor für den Bund wirkte.7 Brunner erhielt den Ordensnamen Picus mirandulanus. Mieg schreibt in seinem Tätigkeitsbericht vom September 1782: „Picus mirandulanus, Noviz, sehr dem Orden ergeben; hat am 10. September seine primas notiones theologicas trotz der exjesuitischen Gegenbemühungen zu ihrem größten Verdruß verteidigt und seine Gegner beschämt. Er bittet den Orden in seinem Q[uibus] Lficet], sich dahin zu verwenden, daß die von den Kaiserlichen verlassene Reichsfestung Philippsburg nicht in die Hände des bigotten und eifrigen F[ürst-] B[ischofs] von Sfpeyer], der sie suche, gerate, sondern lieber in die Hände des F . . . von A . .., der auch darnach streben soll." Wer mit diesem gemeint ist, kann nicht festgestellt werden. Der Streit um die Festung zwischen dem Reich und dem Fürstbischof, der sie schleifen lassen und die Einkünfte aus dem Gelände an sich reißen wollte, zog sich hin, bis ihn der Krieg gegen Frankreich erledigte. Mieg war allerdings ein Mann, der Vertrauen erweckte. Wilhelm von Humboldt charakterisiert ihn in einem Brief an Georg Forster: „Mieg hat einen sehr vorteilhaften Eindruck auf mich gemacht. Er scheint so offen und gerade, sein Verstand so hell und durchdringend, und dabei hat er soviel Eifer für Freiheit und Rechte der Menschheit. Selbst in seiner Art, sich auszudrücken, liegt eine gewisse Einfalt und Kraft." 8 Der politisch-progressive Illuminatenbund war einer der freimaurerischen Orden, die die katholische Kirche an sich schon als ihren Feind ansah. 1738 und 1751 hatten Papstbullen die Freimaurerei verdammt. Andererseits waren hohe katholische Würdenträger, die sich den Ideen der Aufklärung nicht verschließen konnten, Mitglieder des Freimaurerbundes, z. B. Karl Theodor Anton Maria Reichsfreiherr von Dalberg, damals Statthalter zu Erfurt, der auch, vermutlich durch Brunner geworben, Illuminat wurde, Stuhlmeister und Namenstifter war der Erfurter Loge „Karl zu den drei Rädern", Franz Ludwig Freiherr von Erthal, Fürstbischof in Würzburg und Bamberg, und Urban Hauer, Abt des Benediktinerklosters Melk. Der fanatischste Feind der Freimaurer war damals der Jesuit Ignaz F. Frank, der Beichtvater des bayrischen Kurfürsten. Von der Kanzel herab kündigte Frank dem verhaßten Gegner „förmlich den schrecklichsten Krieg an; mit dem Entschluß, ihn solange fortzusetzen, bis er diese seine Feindin gänzlich vernichtet hätte". „Diese verfluchten Judasbrüder" würden „das wahre Reich des Antichrist" errichten wollen.9 Brunner verstärkte mit seinem Eintritt in den bürgerlichfreiheitlich geleiteten Orden der Illuminaten die schon beträchtliche Zahl seiner Feinde. 7

8

9

Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten, Stuttgart/Bad Cannstatt 1975, S. 62, die folgende Anführung S. 359 f. Georg Försters Werke, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 18, Briefe an Forster, Berlin 1982, S. 350. Journal von und für Deutschland, Juni 1784, S. 633—635.

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Gerhard Steiner

Am 3. Dezember 1783 bekam er die Priesterweihe. Die Stelle eines Repetenten am Konvikt zu Heidelberg, die er bald darauf erhielt, kam sicher seinen Neigungen entgegen, zumal sie ihm Gelegenheit zu weiterer kritischer Auseinandersetzung mit dem Überkommenen bot. Er hielt Vorlesungen über Philosophie und Naturrecht in deutscher Sprache. Der dem Orden „sehr ergebene" Illuminât scheute den offenen Angriff nicht und rief die Jesuiten auf den Plan: Wie sie seine „Primae notiones" verurteilten, fochten sie auch die Vorlesungen des jungen Dozenten heftig an. Zur Strafe wurde er von 1785 an in entlegene und beschwerliche Landpfarren versetzt. Er kam als Pfarrvikar nach Ersingen, wurde dann Kaplan in Odenheim, schließlich 1787 Pfarrer in Tiefenbach und Eichelberg (bei Bruchsal). Man konnte ihm Beförderung nicht versagen, erwartete wohl, daß er sich in Kleinarbeit aufreibe ; aber er beugte sich nicht, ließ sich auch nicht durch den schlechten Zustand von Kirche und Pfarrhaus zu Tiefenbach beeindrucken. Bei geringer Bezahlung und knapper Pfründe, dem Volk nahestehend und an dessen Lage anteilnehmend, gehörte er zu der von Friedrich Engels gekennzeichneten „plebejischen Fraktion der Geistlichkeit". 10 Bereits 1785 hatte er in Karlsruhe zwei Reden zum Druck gegeben, die weitere Angriffe auf den orthodoxen Katholizismus und die Grundsätze des klerikalen Feudalismus enthielten und illuminatischen Geist atmeten. Die eine, in Karlsruhe gehalten, sprach sich „Über den falschen und wahren Begriff des christlichen Gebets" aus, die andere brachte schon im Titel ihr herausforderndes Programm zum Ausdruck : „Der wahre Heilige, und die rechte Art, einen Heiligen Vernunft- und Religionsmäßig zu ehren" und war nach dem Untertitel am „Gedächtnißtag des H. Abts Benedict den 5ten Ostermond 1785 in der hochadeligen Abtey Frauenalb gehalten von Joseph Brunner — Weltgeistlichen des bischöflichenspeierischen Kirchsprengeis". 11 Er trat in ihr für die Gleichstellung der Menschen aller Glaubensrichtungen ein, da die Verdammung des Andersgläubigen durch den Katholizismus dem Grundsatz der Gleichheit widerspricht. Nun schlug der Feind zu. Brunner wurde in eine Untersuchung gezogen, das heißt, er kam in Beugehaft. Man kerkerte ihn in ein Zimmer ein, in das besonders gefährliche Häftlinge deshalb kamen, weil es am besten verschlossen werden und die Berührung mit anderen Insassen verhindern konnte. Vermutlich mußte er ebenso wie sein später dort einsitzender Freund August Jakob Bohl zu seiner „Besserung" Exerzitien durchführen und erhielt zur Unterstreichung seiner Verwerflichkeit jeden dritten Tag nur Wasser und Brot nebst einer Suppe. Der Unbotmäßige sollte seinen Kampf gegen kirchliche Traditionen, die er als Mißbräuche ansah, und seine undogmatische Einstellung aufgeben. Der Prozeß gegen ihn endete allerdings mit seiner Rehabilitierung. Diese kam einesteils durch seine ausgezeichnete Fähigkeit, sich zu verteidigen, zustande, andererseits half ihm der nicht unbeträchtliche Ruf, den er durch die Kraft seiner Ideen und durch seine untadelige, den Bauern helfend zugewandte Amtsführung erworben hatte. Auch standen bereits einflußreiche Fürspreccher an seiner Seite. Im Jahre 1789 litt Brunner an einer fast tödlichen Krankheit, und ein Freund verbrannte auf des Kranken Bitte dessen ganzes Archiv, das Papiere enthielt, die er später sehr vermißte, wohl geheime Illuminatendokumente. Wiederum waren es zwei Reden Brunners, in deren Beurteilung sich seine Freunde und Feinde scharf schieden. Es handelte sich um Predigt jn, durch die der Pfarrer seine Bauern 10 11

MEW, Bd. 7, Berlin 1976, S. 335. Diese Rede wurde nachgedruckt in: Journal von und für Deutschland, Jg. 1785, 11. Stück.

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nach einer Feuersbrunst aufzurichten suchte, 1787 zu Tiefenbach, 1790 zu Eichelberg; der Erlös aus der Veröffentlichung sollte den Geschädigten zugute kommen. In Rezensionen der beiden 1790 in Mannheim gedruckten Ansprachen lobt man Brunners Vorgehen, und in einem Schreiben der Reichsritterschaft Odenheim vom 22. Mai 1790 wird ihm „zu erkennen gegeben", daß das Ritterstift „sowohl die ihm zugeeignete Predigt über den letzten Brand zu Eichelberg, als jene über die unglückliche Feuerbrunst zu Tiefenbach vor einigen Jahren mit besonderer Zufriedenheit anerkenne und vorzüglich jenen tätigen Eifer belobe, mit welchem derselbe den abgebrannten dürftigen Untertanen einen so namhaften Geldbeitrag durch die uneigennützigste Verwendung des aus den verkauften Predigten gelösten Geldes verschafft hat". Es wird betont, daß „besagter Pfarrer Brunner auch in allen übrigen, einen rechtschaffenen Geistlichen auszeichnenden Eigenschaften den ganzen Beifall des Reichsritterstiftes, als der Ortsherrschaft, verdienet". 12 Für diese Einschätzung spielte es eine Rolle, daß die Territorien der Reichsritterschaft keinem Fürsten, sondern unmittelbar Kaiser und Reich unterstanden. Auf Brunners Seite trat auch der Kanonikus des Ritterstifts Odenheim und Domherr zu Speyer und Hildesheim, Josef Sigmund von Beroldingen, der Brunners, letzte Rede auf eigene Kosten drucken ließ. Diese Hilfeleistung Beroldingens, eines Dichters und Komponisten, dessen Charakter Goethe hoch schätzte, wiegt um so schwerer, als dieser kein Anhänger des Rationalismus und der Französischen Revolution war. Die Orthodoxie jedoch konnte mit dem theologischen Inhalt dieser Predigten nicht zufrieden sein. In ihnen wurde nicht der strafende Gott, sondern allein der „allergütigste Menschenvater" den Bauern vor Augen gestellt. Der Pfarrer ermahnte die „Großen der Erde", „den geringsten Untertanen als ihren — Bruder" anzusehen, und die Untertanen, „der rechtmäßigen Obrigkeit den Gehorsam" nicht zu versagen. Sicher beziehen sich solche Erörterungen auf ein Ereignis, das kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution, nämlich im Herbst 1789, in Brunners Wirkungsort Tiefenbach stattfand: Ein Aufstand des Volkes, der sich gegen den volksfeindlichen Aktuarius Wahl richtete, in drei Angriffswellen vollzog und seinen Höhepunkt in der Erstürmung des Rathauses durch die Gemeinde hatte. 13 Brunners Begriff der „rechtmäßigen" Obrigkeit enthält eine Reservatio mentalis: Ein Regime, welches das Volk knechtet, ist nach seinem Verständnis nicht rechtmäßig. Er reagiert mit diesen Gedanken auf den „Deutschen politischen Volcks-Catechismus. Pflichten der Unterthanen gegen ihren Landesherrn zum Gebrauch der Trivialschulen im Hochstift Speier" (1785)14 des Fürstbischofs von Speyer August Graf von Limburg-Stirum. Brunner eilte damit dem aufklärerisch-rebellierenden evangelischen Publizisten August Ludwig Schlözer voraus, der in seinen „Staatsanzeigen" den Katechismus einer ätzenden Kritik unterziehen wird. In ihnen wird gesagt, es würde in diesem Buch der Satz gelehrt, „daß Untertanen wie Sklaven oder Neger sich von ihren Fürsten, wenn diese auch böse, das ist, wenn sie Dummköpfe oder Schurken oder beides zugleich sind, behandeln lassen müssen". Und Brunner empfiehlt in seiner Predigt gewissermaßen Schlözers Rezept: „Der größte Monarch sowie der kleinste Herr muß sich gefallen lassen, unter welcher Kategorie seine Untertanen sich ihn denken." Sein „ketzerisches" Leitbild sah Brunner in dem aufklärerischen Weihbischof von Speyer, Johann Andreas Seelmann. Die Beziehung zu ihm weist auf einen Kreis oppositioneller 12 13

14

Oberdeutsche Literaturzeitung (OLZ) vom 22. 5. 1790. Das in Speyer verlegte Drama „Die Rebellion" stellt diese Ereignisse sehr ähnlich dar, siehe Gerhard Steiner, Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater, Stuttgart 1973, S. 6—12 und 139—196 (Text). Abgedruckt in: Neues patriotisches Archiv für Deutschland, 1. Bd., Mannheim und Leipzig 1792, S. 322 bis 370.

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Gerhard Steiner

Geistlicher hin, die sich dem absolutistischen, aufklärungsfeindlichen Regime des Fürstbischofs von Speyer widersetzten. Seelmann, der seinen Herrn zunächst zu vernünftigerem Handeln veranlaßt hatte, war bei diesem bald durch seinen konsequenten Kampf für Aufklärung und gegen die Jesuiten unbeliebt geworden und so weit gegangen, den wegen seines „Neuen Versuchs über die Weissagung des Emmanuel" (Koblenz 1778) hart verfolgten Mainzer Theologieprofessors Johann Lorenz Isenbiel zu verteidigen. Diesem war vom Mainzer Kurfürsten zunächst wegen seiner unorthodoxen Thesen über das Matthäus-Evangelium die Professur entzogen und dann befohlen worden, Theologie von neuem zu studieren, da es ihm an Kenntnissen mangele. Nach Erscheinen der genannten Schrift war Isenbiel eingekerkert worden; und nur durch eine Unterwerfungserklärung hatte er erreichen können, ein Kanonikat zu erhalten. Auch sein Freund Seelmann hatte für seinen Beistand büßen müssen: Der Fürstbischof von Speyer verklagte ihn bei Papst Pius VI., der über Isenbiels sehr abscheuliches, falsche, verwegene, verderbliche, die Ketzerei begünstigende und ketzerische Sätze enthaltendes Buch empört war. Daß Brunner dieser verpönten Gemeinschaft zugerechnet wurde — und auch zuzurechnen war —, beweist die Tatsache, daß man ihn für denjenigen hielt, der nach Seelmanns Tod 1789 eine Schrift mit dem Titel „Die Leiden des Weihbischofs Seelmann" vorbereitete. Der Fürstbischof forderte deshalb die Auslieferung der Briefschaften des verstorbenen Weihbischofs, fand aber in diesen keine Handhabe gegen Brunner.

3. Ein progressiver politischer Freundeskreis Es ist folgerichtig, daß sich Brunner bei der ständig nachdrücklicheren Verlagerung der zunächst kirchlich-religiösen Opposition auf das gesellschaftlich-politische Gebiet immer zielsicherer mit einem jakobinistischen Freundeskreis umgab. Insbesondere das Verbot des Illuminatenordens im Jahre 1785 motivierte Brunner, der die progressiven Inhalte des Ordens weiter vertrat, zu engerem Zusammenschluß mit politisch und kirchenreformatorisch Gleichstrebenden. Brunners wichtigster Gesinnungsgenosse und Freund war der ehemalige Franziskaner Eulogius Schneider, der spätere Straßburger Jakobiner. Die Gemeinsamkeit der Ansichten dokumentierte Schneider bereits in seinen 12 Seiten langen, am 20. Oktober 1789 geschriebenen „Empfindungen an meinem dreiundreißigsten Geburtstage, an meinen Freund Brunner". 15 Der Poet schildert seine Jugend und beschreibt, wie er als Mönch, auf „die heilige Insel der Bonzen" kam, die nicht pflügen und keltern, und „dennoch schäumet berauschender Wein auf ihren Pokalen, / dennoch mästen sie sich mit Kälbern und belgischen Fischen, / welche für Sündenerlaß der Aberglauben herbeiführt. / Fremde sind ihnen die Musen; und wenn zuweilen ein Jüngling / heimlich sie ehrt, so schlagen sie ihm den Altar zu Trümmern, / werfen ins Feuer die Harf und töten im Herzen des Sängers / jedes Gefühl des Schönen und jeden Funken von Freiheit". Zum Schluß freut sich der Poet auf Phöbus Apollo am Ufer des Rheins, das heißt auf seine Professur der schönen Wissenschaften in Bonn, wohin Schneider nach seinem Übertritt in den Weltpriesterstand berufen worden war: „Gib mir Flügel, o Freund! zu fliegen zum Haine der Musen!", ruft er Brunner zu. Nachdem Schneider auf seiner Reise nach Bonn den Tiefenbacher Pfarrer besucht und die Freundschaft vertieft hatte, gab er dieser in seiner aggressiven Bonner Antrittsrede 15

Gedichte von Eulogius Schneider, Frankfurt a. M. 1790, S. 120—126.

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„Über den gegenwärtigen Zustand und die Hindernisse der schönen Literatur im katholischen Deutschlande" 1 6 öffentlich Ausdruck. Er bedauert, daß die Aufklärung weit mehr die schönen Wissenschaften der Protestanten als die der Katholiken befruchtet hat, und sieht auch das „Fach der geistlichen Beredsamkeit" noch wenig in den katholischen Staaten bearbeitet: „Entfernet Brunner, Wiser und die wirklichen Hofprediger zu Stuttgart aus unserem Mittel und wählet dann die Volksredner, die wir Männern wie Mosheim, Jerusalem, Spalding und Zollikofer 17 an die Seite stellen dürften!" Schneider muß von Brunner sehr beeindruckt worden sein, daß er ihn in einem Atemzuge mit dem Wiener Verehrer Klopstocks und Josephs II., Siegfried Wiser a S. Margaretha, und Hofpredigern vom Range eines Benedikt Maria Werkmeister nennt und ihn in einer Wirksamkeit sehen möchte, wie sie die vier bekannten aufklärerischen evangelischen Theologen ausüben. Es ist anzunehmen, daß Brunner diese Männer seinem Freunde als seine Vorbilder und Geistesverwandte genannt hat, die nach katholischer Ansicht Ketzer sind. Am 22. April wurde Schneider wegen der gleichen kirchenpolitischen Einstellung, die Brunner besaß, vor eine Untersuchungskommission geladen, die von Köln nach Bonn gekommen war, um ihn wegen seiner Äußerungen über Heiligen- und Reliquienverehrung, den Zölibat und das'Abendmahl zu verhören. Seine geschickte Verteidigung bewirkte jedoch, daß Kölns Kommissäre vor den versammelten Häuptern der Universität förmlich Abbitte tun mußten. 1 8 Als Schneider im selben Jahre in das revolutionäre Frankreich, nach Straßburg, übersiedelte, bewarb sich 1791 Brunner als Nachfolger auf dessen Lehrstuhl. M a n wollte aber offenbar keinen von der gleichen Gesinnung wie Schneider in Bonn. Der 14 Jahre ältere Werkmeister war nicht nur Vorbild, sondern auch ein intimer Freund und Mitarbeiter Brunners. Der ehemalige Benediktiner, Professor des Kirchenrechts, seit 1784 Hofprediger in Stuttgart, war gleichfalls ein unermüdlicher Kämpfer gegen Aberglauben und Scholastik, ein Illuminât und Freund der ehemaligen Priester und späteren Mainzer Jakobiner Felix Anton Blau und Anton Joseph Dorsch. Er hatte 1784 „Wesentliches über die christliche Toleranz" veröffentlicht, bereits 1789 die uneingeschränkte Gewalt des Staats gegenüber der Kirche vertreten, setzte sich für die französische Zivilkonstitution, für Ehescheidung und Wiederverheiratung, für die Laisierung der Geistlichen ein und wandte sich gegen die kirchliche Unfehlbarkeit. Brunner half ihm 1789 bei der Herausgabe der Schrift „Über den neuen katholischen Katechismus" (Frankfurt a. M.). Von der katholischen Historiographie erhält Werkmeister die schlechteste Zensur als einer, „dessen nichtkatholische Gesinnung ganz offensichtlich war. Schon längst mit der Kirche zerfallen, warf er sich zum Beschützer aller unkirchlichen und ungläubigen Neuerungen auf und trat grundsätzlich jeder Entfaltung des katholischen Lebens entgegen." 1 9 Weiter heißt es, von denselben Anschauungen und Bestrebungen sei Brunner erfüllt gewesen. Als Werkmeister 1794 pensioniert wurde und in Landpfarreien tätig war, versuchte Brunner 1804, ihm die einflußreichere Stellung als Dechant des Kollegialstiftes in Rastatt zu verschaffen. Werkmeister

16 17

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19

Ebenda, S. 168-192. Johann Lorenz von Mosheim, Göttingen; Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Wolfenbüttel; Johann Joachim Spalding, Berlin; Georg Joachim Zollikofer, Leipzig. Das Protokoll des Verhörs in : Eulogius Schneiders Leben und Schicksale im Vaterlande, Frankfurt a. M. 1792, S. 4 5 - 5 8 . Heinrich Brück, Geschichte der katholischen Kirche im 19. Jh., 1. Bd., Mainz 1902, S. 136. — Ein um sachliche Beurteilung bemühtes Bild Werkmeisters gibt August Hagen, Die kirchliche Aufklärung in der Diözese Rothenburg, Stuttgart 1953, S. 9—212.

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wurde jedoch 1807 wieder nach Stuttgart geholt, in den katholischen geistlichen Rat, als Fachmann für das Schulwesen. Zu Brunners Freundeskreis gehörte ferner Johann Michael Feder, der an der Universität Würzburg wirkte. Seine aufklärerischen Ideen bekundete er sowohl durch seine Übersetzungen patristischer Schriften und die in Verbindung mit Schneider veröffentlichten „Johannes Chrysostomos Reden über das Matthäus- und Johannesevangelium" 20 als auch durch seine Redaktion der „Würzburger gelehrten Anzeigen" von 1780 bis 1792 und durch das „Magazin zur Beförderung des Schulwesens im katholischen Deutschland". 21 Unter den der Französischen Revolution zugeneigten katholischen Geistlichen zeigte sich eine immer stärkere Tendenz zur schulpolitischen und pädagogischen Aktion. Die heranwachsende Generation sollte zu vernunftsgemäßem Denken und zur Ablehnung aller geistlich-feudalen Macht herangebildet werden. Auch Brunner wird 1803 den „Entwurf einer Dorfschule" 22 vorlegen. Im Herbst 1790 traf sich Brunner im adeligen Frauenstift Frauenalb bei Karlsruhe zu einer Konspiration mit Schneider, Werkmeister und Feder. 23 In diesem Zusammenhang werden weitere Männer genannt, die zu Brunners Freundeskreis gehörten 24 : Die Salzburger Professoren Jakob Danzer (Moral- und Pastoraltheologie) und Augustin Schelle (Natur- und Völkerrecht, praktische Philosophie, Universalhistorie und orientalische Sprachen) sowie der Illuminat und Freiburger Gymnasialprofessor und Universitätsbibliothekar Kaspar Ruef. Als Verhandlungsthema gibt der feindliche Widmann an: „,. . . nichts ist in der Welt, das sie nicht in ihren satanischen Freimaurer- und Illuminatenkluben anwenden, die Mönche und Exjesuiten herunterzusetzen." 25 Des weiteren weist er auf die konspirierende revolutionäre Gesinnung und ihre nicht geringe Anhängerschaft unter den katholischen Geistlichen hin: Es sei „dieser große Haufen schwarzgallichter Leute, die zur Fahne der Rücksichtslosigkeit und Freiheit geschworen haben und in einem stolzen Ton sich Aufklärer oder Illuminaten nennen". Als Vermittler unter Gesinnungsfreunden war Brunner gesucht; er war eine Schlüsselfigur der progressiven Geistlichkeit. Durch ihn ließ zum Beispiel der Heidelberger Philosophieprofessor Johann Koch, der zum Ärger des rechtgläubigen Katholizismus die Philosophie Kants lehrte, einen jungen Mann an Blau empfehlen. Ein Freund sowohl Schneiders als auch Brunners war der Pfarrer von Odenheim und Doktor des Kirchenrechts Johann Baptist Breunig, ein Mitschüler Brunners am Domgymnasium in Speyer. Brunner gab in seiner aufklärerischen und immer wieder von der Orthodoxie hart angegriffenen Predigtsammlung „Christliche Reden" 26 eine Leichenrede Breunigs, dessen Verteidigung „febronianischer" Thesen Anstoß erregt hatte 27 , heraus und trat in den Anmerkungen dazu für Toleranz gegenüber den Protestanten ein. Das reaktionäre „Religionsjournal" fand durch Brunners Noten die Sammlung „verunstaltet . . ., weil mit 20

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21 22 23 24 25 26 27

6 Bde., Augsburg 1786/88. 3 Bde., Würzburg 1791/97. In Bamberg. Heinsius Bücherlexikon, Bd. 1, Sp. 447. Hagen, Die kirchliche Aufklärung, S. 61; Widmann, Noch einmal: Der Zölibat, S. 7. Widman, Noch einmal: Der Zölibat, S. 13 und 61. Ebenda, S. 12; die folgende Anführung S. 59. 5. Bändchen, 1787. Josef Gass, Straßburger Theologen im Aufklärungszeitalter, Straßburg 1917, S. 122. — Febronius nannte sich der Weihbischof von Trier, Johann Nikolaus von Hontheim, der die päpstlichen Eingriffe in die Rechte der übrigen Kirchenbeamten und der Landesregenten abgelehnt hatte.

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dem Geiste der Aufklärung kein Seelsorger Wunder tun wird, und weil man bei dermaligen Zeiten die traurigen Folgen solcher Aufklärung in den großen Revolutionen der Reiche und Provinzen vor Augen hat". 28 Eine sehr frühe Freundschaft verband Brunner mit dem damaligen Mainzer Theologieprofessor Blau, einem aufgeklärten, humanistischen Kirchenkritiker. Es gibt einen Brief, den dieser dem „teuersten Freund" am 3. Juli 1789 über Werkmeisters von ihm gebilligten Angriff auf die Ohrenbeichte schrieb. Der Ausbruch der Französischen Revolution stärkte Brunner und seinen Freunden den Rücken. In dem Dekret vom 2./4. November 1789 war das gesamte Kirchengut als Nationaleigentum erklärt, am 12. Februar 1790 die Zivilkonstitution für den Klerus festgelegt worden : Darin sah man den Beginn der erstrebten Einschränkung der Macht des Papstes und seiner Statthalter zugunsten eines bürgerlichen Staates. Das Erringen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit setzte Toleranz gegenüber den Angehörigen aller Glaubensrichtungen voraus, als Grundlage für umfassende, über den Katholizismus hinausgehende Programme und Aktionen. Gewagt und seiner Zeit vorauseilend war es jedoch, als Brunner 1791 „Gebete und Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten und Pflichten der Religion" in Salzburg veröffentlichte : ein für alle Konfessionen bestimmtes Gebetbuch. Der Autor sah sich genötigt, das ökumenische Buch nur für Katholiken einzurichten und 1796 in Heilbronn unter dem Titel „Gebetbuch für aufgeklärte katholische Christen" herauszugeben, das im folgenden Jahre auch in Wien erschien. Unter starker Mitwirkung Werkmeisters veröffentlichte Brunner 1802, ebenfalls in Heilbronn, ein „Neues Gebetbuch für aufgeklärte katholische Christen", und Werkmeister wiederum schrieb angesichts der Angriffe auf dieses Buch eine „Verteidigung des von Herrn Pfarrer Brunner herausgegebenen neuen Gebetbuchs für aufgeklärte katholische Christen" (Frankfurt und Leipzig).

4. Die Rezension als Waffe Von 1790 an suchte Brunner seinen Ideen durch eine reiche journalistische Tätigkeit Wirkung zu verleihen. Er lieferte dem „Archiv für das katholische Kirchen- und Schulwesen" Beiträge, Feders „Wirtsburger gelehrten Anzeigen", den „Annalen der neuesten Theologischen Literatur und Kirchengeschichte" zu Rintelen, dem von Werkmeister und ihm herausgegebenen, nach kurzem Bestehen unterdrückten „Journal für katholische Theologie", Werkmeisters „Jahresschrift für Theologie und Kirchenrecht der Katholiken" — das waren alles in Brunners Sinn entschieden für religiöse Aufklärung und dem Volke dienlichere Lebensverhältnisse kämpfende Periodica —, vor allem aber der „Oberdeutschen Literaturzeitung" (OLZ). Es soll hier nur etwas über seine Mitarbeit an der OLZ, deren Erscheinungsorte Salzburg und München waren, gesagt werden. Dieses Journal war 1788 von dem Dramatiker und Publizisten Lorenz Hübner gegründet worden, der beabsichtigte, einen Kreis antifeudaler Mitarbeiter um sich zu scharen. Brunner tadelte zunächst die mangelnde Angriffslust und Entschiedenheit der Zeitschrift und wechselte darüber mehrere Briefe mit Hübner, bis dieser ihm im Juli 1789 versicherte, daß sich die Zeitschrift gegen die Maximen der geistlichen Obrigkeit durchsetzen werde. Die OLZ entwickelte sich nunmehr unter 28

Beilagen zum Religionsjournal, Bd. VI, S. 430, zit. nach Gass, S. 123.

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Brunners Mithilfe zu einem weithin beachteten Bollwerk der Freisinnigkeit und des gesellschaftlichen Fortschritts. Das war in Salzburg nicht ohne kämpferischen Einsatz möglich. Die zwiespältige Situation in diesem Erzbistum erweist die Laufbahn Danzers. Nach seinem Studium im Benediktinerstift Isny hatte er als glühender Verehrer der Politik Josephs II. das 1783 erschienene Werk „Josephs des Großen Toleranz, ein theologisches Fragment" verfaßt und war 1784 an der Benediktineruniversität Salzburg als Professor der Moral- und Pastoraltheologie angestellt worden. Als er aber wegen seiner unorthodoxen Aufsätze und vor allem wegen seines Buches „Anleitung zur christlichen Moral" 2 9 unter den Beschuß der Gegner jeglicher Aufklärung kam, suchte ihn der Erzbischof von Salzburg zu halten. Hieronymus Graf Colloredo, der 1772 zum Erzbischof von Salzburg gewählte Anhänger Josephs II., war um Toleranz, kirchliche Reformen und ökumenische Entwicklung bemüht, so daß die OLZ mit ihren progressiven Zielen in Salzburg gedeihen konnte. Aber er hatte trotz seiner Machtfülle als Primas von Deutschland und Oberhaupt von sieben Bistümern nicht die Kraft oder den entschiedenen Willen, sich gegen reaktionäre Äbte durchzusetzen. Als die Äbte von Klöstern, die in Salzburg ihre Bildungsstätte hatten, strengste Maßnahmen gegen Danzer forderten, enthob der Erzbischof ihn 1792 seines Amtes. Der Reaktion war die OLZ verhaßt. Sie zu halten und zu lesen wurde am 20. Dezember 1791 den Geistlichen durch den Fürstbischof von Freising und Regensburg, Joseph Konrad, verboten; er soll durch den Kurfürsten von Pfalz-Bayern dazu veranlaßt worden sein. Das meldet die OLZ 1792 in ihrer Nummer 2. Obwohl Brunners Rezensionen für dessen politische und kulturelle Ansichten, seine umfassende Bildung und sein Urteilsvermögen sehr aufschlußreich sind, kann hier nicht im einzelnen auf sie eingegangen werden. Allein aus dem Jahrgang 1790 sind mir 26 zum Teil sehr ausführliche Buchbesprechungen Brunners bekannt. 3 0 Seine Rezensionen sind kämpferisch, treten für radikales Vernunftdenken ein und bemühen sich um Verständnis für die Ideen der Französischen Revolution. Gleich in seiner ersten 1790er Rezension vom 2. Januar hebt er die Kritik hervor, die der Autor an der natur- und gesellschaftsfeindlichen Klostererziehung der Mädchen übt: „Der Mensch, zum gesellschaftlichen Leben geschaffen, soll von Menschen den Wert des gesellschaftlichen Lebens kennenlernen." Im Kloster werden „die Kinder von Irrtum zu Irrtum, von Vorurteil zu Vorurteil geführt". In einer acht Spalten langen Beurteilung des „Systems der Landwirtschaftlichen Polizey" geht Brunner mit dem Autor Johann Philipp Frank hart ins Gericht. Den biographischen Anhang zu den „Neuen Briefen Papst Clemens XIV." verurteilt Brunner, weil er eine Lobpreisung der Jesuiten enthält. Ihm gefallt hingegen der freimütige bürgerlich-demokratische Geist der verschiedenen Bände der „Annalen der brittischen Geschichte" des Johann Wilhelm von Archenholtz mit den Kunst- und Literaturberichten Georg Forsters. Im Januar 1793 schreibt Brunner am Ende einer solchen Besprechung: „Möchte ein Mann, der Geist, Kraft und Unterstützung hätte, auch über unser deutsches Vaterland ein ähnliches vollständiges Werk . . . deutsche Annalen liefern! Aber dürfte wohl ein Deutscher von Deutschland so freimütig reden als der Brite und der Deutsche von England spricht?" In acht Spalten beweist Brunner „die große Nutzbarkeit" des „Handbuchs der Moral für den Bürgerstand", das der revolutionäre Demokrat Carl Friedrich Bahrdt verfaßte. Der Rezensent schlägt sogar vor, das Buch des protestantischen Mannes, der vom Reichshofrat als unfähig zur Ausübung eines geistlichen Amtes gebrandmarkt worden war und wegen 29

3 Bde., Salzburg 1787—91.

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Er zeichnet mit B-r, r-B, J. B, B. P., auch J. B. P. z. T.

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Majestätsbeleidigung und staatsgefahrlicher Geheimbündelei eine Festungshaft in Magdeburg verbüßt, von amtswegen weithin im Bürgertum zu verbreiten: „Für den Zivilmagistrat in Städten und Märkten aber wäre das so eine recht eigene herrliche Sache, wenn er eine hinlängliche Anzahl von Exemplaren anschaffte und unentgeltlich unter seine minder vermöglichen Mitbürger verteilte!" Diese dringende Empfehlung des Buches ist ostentativ. Brunner verbindet mit der Würdigung des Werkes den Wunsch: „Möchte doch auch dem Manne, der sich durch eine so gemeinnützige Schrift um den Staat verdient gemacht hat, bald wieder seine bürgerliche Freiheit zuteil werden!!!" Brunners warmes Engagement läßt vermuten, daß er Bahrdt persönlich kannte, als dieser bei dem Fürsten von Leiningen in Dürkheim und Heidesheim tätig war. Die Schrift „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn" geißelt Brunner am 19. Januar 1791 als ein „Produkt pöbelhafter Rache", ohne Witz und Geist gegen „würdige Männer" gerichtet. Eulogius Schneiders „Elegie an den sterbenden Kaiser Joseph II." ist für Brunner ein „meisterhaftes Gedicht": „Ich halte es für ein allerliebstes Miniaturgemälde des unsterblichen Joseph II., woran man nicht einen falschen Pinselstrich entdecken wird." Den humanistischen Veröffentlichungen des oft angegriffenen freisinnigen Erlanger Theologen Wilhelm Friedrich Hufnagel „Für Christentum, Aufklärung und Menschenwohl" wünscht Brunner eine Fortsetzung. Wie mit den ökumenischen und allen Bereichen der religiösen Literatur befaßt sich der eifrige Rezensent mit Belletristik, mit dramaturgischen Berichten, mit philosophischen und länderkundlichen Schriften. Er zeigt auf allen diesen Gebieten Sachverstand und umfassende Literaturkenntnis und weiß Fehler und Irrtümer zu berichtigen. Die lobende Rezension des Buches „Klugheit vereint mit Tugend, oder die Politik des Weisen für gute Menschen" des Münchener Illuminaten Karl von Eckartshausen enthält den Satz: „Keiner entehret die Menschheit so abscheulich als der falsche Politiker", d. h. der Reaktionär. Die „Freundschaftlichen Briefe" eines ungenannten Geistlichen in Bayern sind Brunner ein Beweis, daß es unter den niedrigen Pfarrern in Bayern „würdige Männer gebe, die ebenso vorurteilsfrei und hell denken, als warm empfinden". Am Schluß der Rezension prangert Brunner den Verdruß an, den der Autor und der Münchener Verleger Strobl wegen dieser Publikation erdulden müssen: „. . . gewisse lange Schwarzröcke sollen ganz inquisitorisch zu Werke gehen." Brunner kleidet seine Ironie in die Hoffnung, die Obrigkeit werde Schriften dieser Art unter die Landgeistlichen verteilen anstatt sie zu konfiszieren. Immer wieder wollte Brunner den armen Pfarrern und der armen Bevölkerung zu Literatur verhelfen, die als Gegenpropaganda gegen die benutzten Andachts- und Erbauungsbücher und Heiligen- und Legendengeschichten wirken konnten. Ende Dezember 1790 befaßte sich Brunner mit einer — wegen Krankheit nichtgehaltenen — ganz von Josephinischem Geist erfüllten Predigt des Augsburger Pfarrers Mathias Jakob Steiner über Leopold II.: Er empfiehlt allen katholischen Predigern die Reden „dieses aufgeklärten und toleranten protestantischen Geistlichen, der als Gelehrter längst bekannt ist und die Achtung aller Katholiken und Nichtkatholiken, die ihn kennen, besitzt". Brunners Rezensionen der folgenden Jahre sind, ermutigt durch die revolutionären Vorgänge in Frankreich, noch kühner und verdeutlichen noch kräftiger seine Bewußtseinshaltung. In seiner 1791 erschienenen Kritik 31 des „Bischöflichen Unterrichts Sr. hochfürstlichen Durchl. und Eminenz des Hrn. Cardinais von Rohan, Fürsten und Bischofs zu Straßburg", die am 28. Dezember 1790 veröffentlicht worden war, klagt Brunner Rohan an, er predige das Feuer des Religionskrieges gegen die Nationalversammlung. „Aber dem 31

3*

1. T., Sp. 584ff.

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Himmel sei's gedankt! Die Nacht ist vergangen, der Tag ist angebrochen." Louis René Édouard, Prinz von Rohan-Guémenée, der „Held" der bekannten Halsbandgeschichte, hatte zwar als Mitglied der Generalstände 1789 den konstitutionellen Eid geleistet, nun aber erklärt, daß es gegen sein Gewissen sei, die Zivilkonstitution des Klerus in seinem Sprengel einzuführen. Brunner hält ihm entgegen, jeder müsse „eingestehen, daß die neue Zivileinrichtung der Geistlichkeit dem katholischen Glaubenssysteme nicht im mindesten entgegenläuft, sondern vielmehr mit der ersten Verfassung der christlichen Kirche sehr schön übereinstimme". Ganz in Brunners Geist ist auch die mit „S" gezeichnete Rezension des Dramas „Die Rebellion" in der OLZ 32 verfaßt. Der Autor findet den geschilderten Aufstand berechtigt angesichts der „greulichen Mißhandlungen des ohnehin so sehr belasteten Volkes" und sieht das Schauspiel in seinem Zusammenhang mit den französischen Ereignissen: „Freilich hat die wohltätige Revolution in Frankreich auch den übrigen Nationen Mut eingeflößt, über unmenschliche Bedrückungen laut zu klagen (was sie vielleicht ohne dieses mächtige Beispiel noch lange nicht gewagt hätten) und von ihren Beherrschern wenigstens Gerechtigkeit zu fordern. Aber bedenket man, wie viele schreiende Grausamkeiten noch bis auf den heutigen Tag nicht sowohl unmittelbar von den Fürsten als von ihren untergeordneten Staatsbeamten, vom Größten bis zum Kleinsten, in manchen Gegenden ungescheut und ungeahndet verübet werden, so ist es in der Tat zu bewundern, daß wir nicht schon weit gräßlichere Szenen des Aufruhrs erlebt haben. Nein, der deutsche Bürger ist nicht zur Empörung geneigt; er verdient vorzüglich den Namen des gutmütigen und gehorsamen Untertans. Nur der höchste Grad von Tyrannei kann ihn trotzig machen." Die pointierten und brisanten Rezensionen riefen im Zusammenhang mit Brunners eigenen Schriften Feinde und Freunde auf den Plan. Von jenen wird noch die Rede sein, diesen aber hat Brunner zu verdanken, was die OLZ am 2. März 1792 mitteilte : „Hr. Pfarrer Brunner aus Tiefenbach hat im verflossenen Jahre den doppelten Ruf, zuerst als HerzoglichWirtembergischer Hofprediger nach Stuttgart und dann als Generalvikar Professor der Pastoraltheologie und Regent des bischöflichen Seminariums nach Straßburg, erhalten: aber beide [wurden] von ihm abgelehnt." Der ehrenvoll Berufene hatte andere Ziele im Auge, die noch deutlich werden sollen. 5. Gehässige Angriffe wegen eines Dramas Ein Freund Brunners, der schon genannte Kaplan Bohl in Hambach, hatte 1790 anonym eine Komödie „Der Zölibat ist aufgehoben" veröffentlicht.33 Ein Vorbild für die Hauptgestalt des Stückes, den Pfarrer Volksstern, war sicher Brunner. Volksstern kämpft nicht nur für die Priesterehe, sondern für die Entwicklung des Bürgtertums und der Bauernschaft im Sinne der Ideen der Sansculotten. Das Stück, das Sakrilege der katholischen Kirche angreift, wurde Brunner zugeschrieben, der es, wie bekannt wurde, seinem Nachbarn Breunig mit Begeisterungsausbrüchen vorgelesen hatte. So sahen Brunners Feinde einen neuen Anlaß, gegen ihn vorzugehen. Sie offenbarten dabei ihre Geistlosigkeit, ihre finsteren politischen Absichten und ihren Antisemitismus. Als schlimmster Gegner erwies sich dabei der bereits erwähnte Widmann, Benediktinerpater vom Reichsstift Elchingen, der in zwei 32 33

OLZ, 4. 2. 1791. Das Drama erschien 1791 anonym bei Philipp Wilhelm Hauth in Speyer. Über Bohl und seine Dramen siehe Steiner, Jakobinerschauspiel, S. 12—27.

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zweibändigen Schriften gegen die Aufklärer gewütet 34 , Brunner vermutlich schon länger im Visier hatte und nun den ganzen Kübel seines publizistischen Schmutzes über ihn als einen „vom Judengeschlecht abstammenden Garnisonsschulmeisters-Sohn" 35 ausgoß. Widmann erhielt seine Informationen von dem Geistlichen Placidius Schmitt und verfaßte eine Schmähschrift in der Form eines Dramas mit dem Titel „Noch einmal: Der Zölibat ist nicht aufgehoben. Ein historisches Trauerspiel in 5 Aufzügen", Freystadt im Veritheimischen [d. i. Augsburg] 1791. Da Bohl 1791 ein zweites brisantes Stück, das Trauerspiel „Die Mönche in Niederland und Kaiser Joseph II.", hatte drucken lassen, als dessen Autor man auch Brunner ansah, verketzerte Widmann diesen als den Verfasser der „Schandpiecen", als einen, der „gräßliche Verwirrung, greuliche Verwüstung und unersetzliche Ärgernisse" verursacht. Seine Helden „fegten" die Kirche, „bis keine Spur des echten Katholizismus mehr übrig" ist. Zu diesem Zwecke verbreitete er „boshaft erdichtete Lügen". Die, wie Brunner, aufklärerischen, den Zölibat ablehnenden Gegner nennt Widmann ,weibersüchtige Wollüstlinge", „sinnliche und tierische Menschen". Brunner besprach Böhls Zölibatstück am 14. Juli 1790 in der OLZ außerordentlich positiv. Er war mit dem eine wichtige Position der katholischen Kirche, die Priesterehe, eindrucksvoll angreifenden Inhalt des Lustspiels voll einverstanden, hatte nur einige formale und sprachliche Einwände, bestätigte aber dem „ungenannten" Verfasser, daß er die „Eigenschaften eines guten Volksschriftstellers . . . in nicht geringem Maße" besitze. Nach Erscheinen der Rezension berichtete die OLZ, daß das Lustspiel in Speyer verboten worden sei. Widmann läßt in seinem Gegendrama die Hauptgestalt, in der die Leser Brunner erkennen sollen, als orthodoxes Happy-End von allem „Wahn der vorgespiegelten Aufklärung" abrücken und seinen Freund bedrängen, alle „verfluchten und giftatmenden Bücher" aus seiner Bibliothek auszuscheiden und nur noch kirchengetreue Literatur anzuschaffen. Worin sieht Widmann ein besonders gefahrliches Gift? Er erkannte in allen Äußerungen Brunners und in den diesem zugeschriebenen Stücken die revolutionsfreundliche Einstellung. Sei es doch der „Hauptgrundzweck" der Illuminaten, „dem Pöbel Freiheit vorzuspiegeln und es von dem Joche der Obrigkeiten loszuwinden". Das bedeutet, auf der Seite der Französischen Revolution zu stehen: „Lernet aus dem tobenden Gemälde Frankreich, was die Freiheit ist. — Schauet in den Spiegel der Wahrheit, ihr werdet Greuel sehen". Der Fürst soll den Verfasser des „Zölibats" als „Luntenschwinger des Aufruhrs" zur schärfsten Strafe lebenslänglich ins Gefängnis stecken. Im nächsten Jahre veröffentlichte Widmann die über 10 Bogen starke Streitschrift „Der nach Gebühr gezüchtigte P. Meinrad Widmann zu Elchingen. Mit Erlaubnis der Demoiselle Preßfreyheit" (Frankfurt und Leipzig 1792). In ihr setzte er die gehässigen Angriffe gegen Brunner und dessen Freunde fort, seine Invektiven durch neue, geschickt mit Tatsachen vermischte Verdächtigungen und Beschimpfungen ergänzend. Widmann spottet: „Mit dem heiligen Öle, welches bei der Weihe des Hrn. Pfarrers B. verschwendet wurde, hätte man besser einen Salat gemacht." Der Pamphletist wettert gegen das Prinzip der in Frankreich eingeführten Gleichheit. Eine Bruderschaft, sagt er, wie man sie auch bei den glaubensindifferenten Freimaurern und Illuminaten finde, „die unter Personen von verschiedenen Ständen eingegangen wird, hat kein Verhältnis zu der Verschiedenheit der hierarchischen 34

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Wer sind die Aufklärer?, 2 Bde., Augsburg 1787; Freimüthige Anmerkungen zu der Frage: Wer sind die Aufklärer?, 2 Bde., Augsburg 1789. Widmann, Noch einmal: Der Zölibat, S. 91.

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Ordnung, welche Gott zur guten Leitung der Welt eingesetzt hat; und daher folgt unnachlässig der Umsturz des weltlichen und geistlichen Systems". Die Jakobiner im Talar standen nicht nur den weltlichen Feinden gegenüber, sondern auch der zunehmend größeren und gefahrlicheren Masse der geistlichen Gegner. Aber sie hatten auch, wie wir schon sahen, eine Phalanx von Freunden errichtet. Einer von ihnen brachte am 17. Dezember 1792 in der OLZ eine lange, mit M unterzeichnete, vernichtende Kritik der neuen „Schandschrift" Widmanns. „Alles, was die Wut der Mönche seit einiger Zeit gegen den würdigen Hrn. Pfarrer Brunner an Verläumdungen ausgeheckt hat, ist hier mit dem kleinlichen Fleiße eines beleidigten elenden Skriblers gesammelt."

6. Der verschwörerische Plan Die politische Einstellung und neue Aktivität des Exilluminaten Brunner offenbart am deutlichsten ein von ihm am 9. Juni 1792 an den Mainzer Theologen und seit 1790 Weltpriester Norbert Nimis gerichteter Brief.36 Dies Dokument ist so bemerkenswert, daß es in extenso gebracht werden soll, zumal es in dieser Form noch nicht veröffentlicht wurde 3 7 : „Schätzbarster Freund! Wie doch immer das Gute in der Welt dem Übel die Waagschale hält! Fast im nämlichen Augenblicke, da ich in meiner Nachbarschaft einen Freund verlor, der die Wahrheit verriet und zur Partei der Despoten hinübertrat — reichen Sie mir, biederer Mann, die Hand, die ich mit Freuden ergreife und nie — nie wieder entlassen werde. Auch ich war schon lange ein stiller Verehrer Ihres Mutes und Ihrer großen Verdienste um die kathol. Literatur, und oft schon stieg der Wunsch in meine Seele, eines näheren freundschaftlichen Umganges von Ihnen gewürdigt zu werden. Unserem vortrefflichen Blau bin ich nun neue Verbindlichkeit schuldig, da ich durch ihn einen neuen teueren Freund gewonnen habe. Den 3. B[and] Ihres 2. H[and]buches habe ich erhalten; ich danke Ihnen recht sehr für das angenehme Geschenk. Sobald ich nur eine Muße habe, werde ich die Rezenfsion] nach Wirzb[urg] besorgen. Was Sie mir von der Verketzerung Ihres unschuldigen Buches melden, ist doch in der Tat ganz entsetzlich arg. 38 Sie müssen, wenn es Ihre Verhältnisse erlauben, diese Dinge durchaus publik werden lassen. Ach! Sie werden sehen, mein Freund, wir haben einen gefahrlichen Kampf für die gute Sache zu kämpfen. Ein Teil unserer Kraftsmänner ist ausgewandert, ein anderer wird aus dem Wirkungskreise gedrungen (Danzers Entfernung hat mich äußerst bestürzt), und der dritte muß sich zurückziehen, um nicht unglücklich gemacht zu werden. Das Jesuiten- und Mönchenvolk erficht ja einen Sieg nach dem andern. Und wenn nun erst die franz. Konstitution] in Trümmern gehen und Deutschland von Kriegsheeren überschwemmt werden sollte? Vielleicht tat es noch nie so not, den Ver-

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Bayerisches Staatsarchiv Würzburg, MRA Klubisten, Nr. 9/239, Bl. 229—231. Es handelt sich um eine amtlich beglaubigte und mit dem Original verglichene Abschrift. In heutiger Orthographie und Interpunktion unter Beibehaltung des Lautstandes. Der Brief ist in der Akte nicht in Absätze unterteilt, nur drei Wörter sind hervorgehoben. Van Dülmen veröffentlichte S. 413—416 einen großen Teil des Briefes, jedoch nicht nach dem Abschrift-Original, von dem zahlreiche Textstellen abweichen. Auch der Abdruck in der „Eudämonia" (4. Bd., S. 292ff.) entspricht nicht in allem der Handschrift. Gemeint ist das Religionshandbuch mit der Hl. Schrift des neuen Testaments, 3 Bde., Mainz 1789/92. Es wurde von der Regierung den Pfarrern empfohlen, der 3. Band aber vom Generalvikariat wegen einer Reihe „anstößiger" Stellen beanstandet.

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Wüstungen der Obskuranten einen starken Damm entgegenzustellen, als grade izt, und daher wird mir die Ausführung des Plans, wovon Ihnen Schw. 39 einigen Aufschluß erteilt hat, täglich wichtiger. Vielleicht ist es nur Enthusiasmfus] für die Sache der Wahrheit, däß ich so großen Wert auf diesen Plan lege und ihn sogar für das einzige Mittel in den dermaligen Umständen halte, den Strom der Barbarei, wenn es noch möglich ist, in seinem raschen Laufe zu hemmen. Ich will Ihnen indessen meine Gedanken etwas näher entwickeln. — Ich sehe zum Voraus, daß Sie mit mir einig sind, der Illuminatism[us] (gereinigt von seinen schädlichen Auswüchsen und dem Bedürfnisse unserer Zeit angepaßt) werde den Machinationen des Despotismus] der Jesuiten und Konsorten den kräftigsten Widerstand leisten und das Wachstum des Lichts am sichersten und geschwindesten befördern. — Nun entsteht aber gleich die Hauptfrage: Wie ist die Verbindung wackerer Männer und die Organisation dieser Aufklärungs-Anstalt zu bewirken, ohne daß je etwas davon entdeckt und je ein Mitglied irgendeiner Gefahr ausgesetzt werde? — Sicher ist es, daß die zu große Anzahl von Verbündeten und die schlechte Auswahl bei dem I[lluminaten] 0[rden] seine so geschwinde und so unglückliche Auflösung verursacht hat. In die neue Verbindung dürften also nur ganz vortreffliche, ganz zuverlässige Männer gezogen werden. In Mainz z. B. wären Bl[au] und Sie hinreichend, der ganzen Masse die Direktion zu geben und alle brauchbaren Leute gehörig zu lenken, ohne daß sie eben förmlich mit dem ganzen Plane vertraut gemacht werden müßten. Doch, es ist noch zu frühe, in das Detail einzugehen. Dies ist leicht, wenn einmal die Hauptpunkte im reinen sind. Das Ganze muß aber eine Hülle haben, unter der es verborgen wirkt, und ebendiese Hülle ist die große Maschine, die durch wenige Hände in Bewegung gesetzt und als Werkzeug zur Erreichung des allgemeinen Zweckes gebraucht werden soll. Nach langem Spekulieren fand ich hierzu kein vehiculum tauglicher als die Errichtung einer allgemeinen Akademie der Wissenschaften im kathol. Deutschlande, bei deren Organisation ich nur einstweilen folgendes bemerke: a) U m dies Institut annehmlich zu machen, müßte man sagen, die vielen und ärgerlichen Streitigkeiten, wodurch in unseren Tagen sich so viele kathol. Gelehrte entzweien, zum größten Nachteile der Religion u[nd] der Wissenschaften, und besonders die Wut, mit der die Jesuiten und Mönche mit der anderen Hälfte unserer Geistlichkeit und Literatoren beständig einander in den Haaren lägen, könnte nicht besser gedämpft und getilgt werden als durch ein solches Band eines Instituts, dem jeder Mann von Verdiensten, er gehöre zu welcher Partei er wolle, einverleibt werden könne und wodurch notwendigerweise ein gewisser Einigkeitssinn, ein Esprit de Corps gestiftet werden würde, der auch den Protestanten mehr Respekt gegen die kathol. Gelehrten einflößen müßte usw. b) wären besonders alle gelehrten Jesuiten, z. B. Sattler, Sailer, Mutschelle pp. zu engagieren,"weil dadurch aller Verdacht verschwände, als wenn eine heimliche Absicht verborgen läge. Das nämliche gilt auch von gelehrten orthodoxen Mönchen, z. B. einem Gerbert, Schwarzhueber 40 p. Würde über heimlichen Jesuitism[us] oder über größere Ausbreitung des Katholizismus geschrien, desto besser. Dadurch würde aller Verdacht einer geheimen Verbindung nur umsomehr beseitigt. Man könnte sogar diesen blinden Lärm[en] selbst schlagen helfen. Auch dürften anfangs nur wenige von unsern braven Gelehrten in die

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Vermutlich der Wormser Kapitular, späterer Mainzer Konventsdeputierter und Mitglied der 2. Allgemeinen Administration Goswin Schweikard (geb. 1743). Über ihn siehe Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 2, Berlin 1981. Benedikt Sattler, Theologieprofessor in Ingolstadt; Johann Michael Sailer, Professor, später Bischof in Regensburg; Sebastian Mutschelle, Professor für Moral in München; Martin Gerbert, Benediktinerabt in St. Blasien; Simpert Schwarzhuber, Theologe in Salzburg.

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Akademie aufgenommen werden, um auch dadurch alle Suspizion zu vermeiden, c) Müßte die Ankündigung und erste Einrichtung der Akademie nicht durch einen ex nostris, sondern womöglich durch einen Jesuiten geschehen, um den Äußerungen Lit. a) mehr Glauben zu verschaffen. Sailer wäre, meines Dünkens, der rechte Mann dazu, da er sowohl bei seinen Ordensbrüdern als auch bei dem übrigen kathol. Publikum in gutem Rufe stehet. Ich glaube aber nicht, daß man ihm etwas von dem eigentlichen Zwecke der Akademie anvertrauen darf. Sie werden ihn besser kennen, d) Um ja der Koalition das Gehörige der Publizität recht sichtbar auf die Stirne zu drücken und den Verdacht eines versteckten Geheimnisses ganz wegzuräumen, wird es gut sein, wenn sich die Akademisten durch eine Medaille öffentlich auszeichnen und ankündigen, worauf allenfalls zu lesen wäre: Religioni et Scientiis. Von der Art, diese Ehrenzeichen zu erteilen, und was dahin einschlägt, rede ich hier noch nicht. Das ist eine Kleinigkeit, über die man bald einig sein kann. Ich bemerke nur noch, daß dies Sternchen und das schöne Band, an dem es prangt, gewiß viele nach der Aufnahme in die Akademie lüstern machen wird, die vielleicht ohne dasselbe nicht einträten. Man könnte dabei den Gedanken äußern, daß es billig sei, unsern Gelehrten ein solches öffentliches Zeichen der Achtung zu errichten, um dadurch den Stolz der Adeligen, die sich meistens auf so ein Kreuzchen außerordentlich viel zugute tun, in etwas zu demütigen p. e) Wünschte ich, daß wir irgendeinen großen Fürsten zum Mäzenas der Akademie haben könnten, der sie autorisierte und in seinen besonderen Schutz nähme. Sie wissen, wie dies Vorurteil auf den großen Haufen wirket. Jedoch dürfte der Fürst keinen großen Einfluß auf das Innere der Akademie erhalten. Seine Rechte müßten nur Ehrenrechte sein, und ihm könnte allenfalls, wie dem akademischen Senate, überlassen werden, auch Ehrenmitglieder zu ernennen, wozu man besonders die Großen auswählen müßte. Wenn Dalberg 41 einmal an die Regierung kömmt, so taugte freilich kein Fürst besser für uns als er. Man würde ihm vielleicht unsern Plan vorlegen und das Zentrum der Akademie nach Mainz verlegen dürfen. — Lieber! Sie werden sich nun schon einige Vorstellung von meinem Projekte machen können. Überlegen Sie nun mit Freund Bl[au] alles reichlich, teilen Sie mir ihre Bedenklichkeiten oder Ihre bessern Ideen mit und fangen Sie bald an, Hand an das große, aber wie mir scheint, doch auszuführende Werk zu legen. Wreden 42 zu Bonn weiß davon. Ich sprach diesen Winter mündlich mit ihm. Er hat den Plan mit ganzer Seele umfaßt und will aus allen Kräften mitarbeiten. Schicken Sie ihm aber doch diesen Brief und sagen Sie ihm, was Sie mit Sailer vorhaben. Er stehet auch in einiger Verbindung mit demselben und mit Ungelter 43 in ganz genauer. Blfau] soll an Werkmeister diesfalls schreiben. Wreden und Werkmeister müssen wir durchaus haben. O Mann Gottes! wenn wir glücklich sind, wenn wir das Gebäude in die Höhe und unter das Dach bringen — dann will ich mich gerne von den Jesuiten und Mönchen sieden und braten lassen!!! Ist die Sache einmal im Gange, dann wird freilich eine mündliche Unterredung über manche Punkte notwendig werden. Vielleicht gelingt es mir, auf die Kaiserkrönung nach Frankfurt zu kommen. Herr von Wessenberg44 nimmt mich vielleicht mit. Wie freue ich mich da auf die Umarmung meiner teuern Freunde Blau und Nimis!

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Karl Theodor, Reichsfreiherr von Dalberg, noch Statthalter zu Erfurt, war 1787 Koadjutor des Kurfürstentums Mainz geworden. Karl Joseph von Wreden, damals Vorleser des Kurfürsten Max Franz von Köln, war ein Freund des Illuminaten Friedrich Münter und wohl selbst Illuminat, wandte sich aber 1793 von den „Neufranken" und den Mainzer Jakobinern ab. Johann Nepomuk von Ungelter, Weihbischof von Augsburg. Gemeint ist Ignaz Heinrich Karl Freiherr von Wessenberg, Generalvikar in Konstanz.

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Wenn Sie mir wieder schreiben, so belieben Sie die Briefe p[er] Umschlag an Herrn Hofkammerrat von Vogel zu Hilsbach bei Sinsheim45 zu schicken. Da ist alles sicher. Weniger bedeutende Schreiben aber lassen Sie nur grade über Bruchsal an mich laufen. Ich erhalte sie von da geschwinder. Grüßen Sie Bl[au] recht herzlich. Er soll dort den Druck der beiden Abhandlungen urgieren. Die juristische käme izt grade recht, da die Kaiserwahl herannaht. Leben Sie wohl, Bester! geliebt und hochgeschätzt von Ihrem warmen Freunde Br." In diesem Brief zeigt sich Brunner als rühriger Mittelpunkt und Stimulator eines oppositionellen Kreises. Dem verbotenen Illuminatenorden will er auf der Grundlage der akuten politischen Situation eine neue Zielrichtung und Organisation, seiner Arbeit eine neue Qualität geben. In einem weiteren Brief an Nimis vom 29. August 179246 schilderte Brunner,wie er bespitzelt und schikaniert wurde: Da der Franziskanermönch Placidius Schmitt einem Verbot des Vikariats zufolge nicht mehr in Brunners Pfarrei kommen darf, „so haben ihn seine Obern mir dem Vikariate zu Trotz auf ein pfalzisches Ort, das nur eine halbe Stunde von hier liegt und in die Wormser Diözese gehört, als Kaplan gesetzt, wo er nun desto wütender auf mich hereinwirkt. Das bewußte Pasquill hat er bereits unter meine Bauern zu verbreiten gewußt, und ich muß gewärtig sein, daß er meine Leute ganz gegen mich empört. Er predigt beständig von den benachbarten Ketzereien etc." Mit dem Pasquill ist Widmanns Schrift „Der nach Gebühr gezüchtigte . . ." gemeint. Durch denselben Brief erfahren wir, daß ein weiterer Gesinnungsgenosse schikaniert wurde: „Wreden hat mir heute geschrieben. Er kam krank von Frankfurt nach Bonn, und noch ist er nicht hergestellt! Mir scheint er auch an der Seele krank sein, nach dem Tone seines Briefes zu urteilen. Sollten ihn vielleicht die Kölner Domherren im Ernste kränken können? — Der Kurfürst wird doch hoffentlich diesen Biedermann nicht auch noch aufopfern!" Alle diese Verfolgungen und Angriffe schüchterten Brunner nicht ein, sondern steigerten seine Aktivität. 1793 wandte er sich in einer Rezension gegen eine antirevolutionäre Schrift, die den Freiheitsbaum und die Priester, die auf die Konstitution geschworen haben, herabwürdigt. Der Nimis anvertraute Illuminatenplan Brunners fiel trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in die Hände des Mainzer Kurfürsten, der — wie eingangs berichtet wurde — den Fürstbischof von Speyer auf Brunner hetzte. Jener hatte aber zunächst gleichfalls nichts anderes im Sinn, als vor dem französischen Revolutionsheer zu fliehen, und erst nach seiner Rückkehr am 20. April 1793 und der Fortführung seines absolutistischen Regimes nahm er die Verfolgung Brunners auf, sandte seine Schergen in dessen Wohnung, die, als Brunner abwesend war, Zimmer, Schränke, Kisten und Kasten gewaltsam aufbrachen und sämtliche Papiere mitnahmen. Man fand an Brunner gerichtete konspirative und „ketzerische" Briefe. Brunner kam mit Bohl und anderen nach Bruchsal in Gewahrsam. Um diese Zeit, im Frühjahr 1794, säumte Brunner nicht länger, sich gegen die unaufhörlichen Angriffe der Reaktion zu verteidigen. Er publizierte in der OLZ eine „Öffentliche Aufforderung" 47 . „Um der Verleumdungslust 45

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Johann Franz Nikolaus von Vogel, kurfürstl. Hofkammerrat, Fiskal und Amtskeller zu Hilsbach über Sinsheim (Eisenz). Brunner soll Vogels Frau Unterricht in der Kantschen Philosophie erteilt haben. Im Aktenstück von Fußnote 36. OLZ vom 11.4. 1794, Sp. 719—724, unterzeichnet von Brunner am 22. 3. 1794.

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völlig das Maul zu stopfen", ermahnte er die Verfasser der gegen ihn gerichteten Broschüren öffentlich, „sich zu nennen" und seinen Vorgesetzten die Beweise der gegen ihn „zusammengelogenen Anschuldigungen vorzulegen". Doch war dieser Aufruf — soweit er Widmann persönlich anging — wirkungslos: Der Senior des Kapitels des Reichsstifts Eldingen war am 13. Januar gestorben. Im Bruchsaler Priesterseminar wurde Brunner im Mai 1794 zum ersten Male verhört, bald aber unter der Bedingung wieder freigelassen, auf jede Anforderung sofort wieder zum Verhör zu erscheinen. Er tat dies auch wiederholt, allerdings in Begleitung eines Advokaten. Der Fürstenbischof von Speyer sandte dem Mainzer Kurfürsten Auszüge aus den Schreiben von Gärtier, Brunner und Bohl, die „den Sozianismum deutlich ausdrücken", und bat um einen Rat, wie man die Geistlichen behandeln solle, „die in Brunners Verbindung stehen und so gefahrliche Grundsätze hegen, sowie auch jene, die wegen Anhänglichkeit an die französische Raserei eingegangen sind". 48 Besonderen Anstoß erregte unverständlicherweise ein Brief des Prädikators und Kapitulars des Ritterstiftes zu Bruchsal Adam Gärtier. Brunner stand in loser Verbindung mit dem 27 Jahre Älteren, der auf die Zusendung eines religionskritischen Buches von Blau und Dorsch über die Beichte geantwortet hatte. Sein Brief erregte völlig zu Unrecht des Fürstbischofs schlimmen Verdacht an der Rechtgläubigkeit Gärtiers. Dieser mußte Verhöre und Untersuchungen über sich ergehen lassen, es wurde ein Fakultätsgutachten gegen ihn ins Feld geführt, und schließlich wurde er beim Papst verklagt. Seiner Empörung darüber gab Brunner Ausdruck, als ihm alle Akten vorlagen.

7. Neue Verbindung mit den Mainzer Jakobinern Während um die Mitte der'neunziger Jahre zahlreiche Revolutionsfreunde resignierten oder gar die Fahne verließen, gab Brunner seinen optimistischen Glauben an gesellschaftliche Veränderungen nicht auf. Dafür gibt es einen eindrucksvollen Beweis. Aus dem verschollenen, von den Mainzer Jakobinern Nimis, Blau 49 und Johann Georg Wilhelm Böhmer in Paris herausgegebenen Tageblatt „Der Pariser Zuschauer" druckte die antirevolutionäre, zu Recht von Goethe in den „Xenien" mit nächtlich heulenden Hunden verglichene Zeitschrift „Eudämonia" einen Brief ab, den Brunner am 1. November 1796 an die Mainzer Jakobiner in Paris gerichtet hatte. Das Pariser Blatt, behauptet die „Eudämonia", sei von der französischen Regierung in mehreren Tausend Exemplaren durch die Samdre- und Maasarmee in Deutschland verbreitet worden. Die „Eudämonia", die u. a. Knigge, Mendelssohn, Lessing, Rebmann, Forster, Wieland und Fichte aufs Korn nahm, wählte Brunner 1796/97 zur Hauptzielscheibe ihrer boshaften Angriffe, die sie fünfmal gegen ihn vortrug. Dabei kam auch der Antisemitismus des reaktionären Organs zum Ausdruck. Brunner wurde als antimoralischer „National-Wechseljude" bezeichnet und sollte so diffamiert werden: „Ob es gegründet ist, daß er wirklich von seinen Großeltern her jüdischer Abkunft sei und die Physiognomie dieser Nation sich auch dergestalt frappant auf ihn fortgepflanzet habe, daß man im J. 1789, als er seine Mitkonsorten in Straßburg besuchte, am Tore den Judenzoll

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Badisches Generallandesarchiv Karlruhe, Abt. 61/11 249, S. 95f., vom 11. 4. 1794. Nimis (1754—1811) und Blau (1754—1798) waren in den Mainzer Jakobinerklub eingetreten und hatten die katholische Kirche verlassen.

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von ihm gefordert, und daß er sich also schon von dieser Seite zum National-Wechseljuden nicht uneben schicken würde, mögen andere genauer untersuchen." 5 0 Der Nachdruck des Briefes trägt die Überschrift „Fortdauernde Hoffnungen, Aussichten und respektive Winke zu einer Revolution in Deutschland" mit dem Untertitel: „Ein Ermunterungs-Schreiben der verbündeten deutschen Erleuchteten an ihre hohen Obern in Paris". Umfangreiche gehässige Fußnoten sollen alle wesentlichen Punkte dieses Briefes ad absurdum führen. „Ungeachtet der Greul", schrieb Brunner, „welche in Deutschland verübt wurden, ohngeachtet die Bauern in Masse gegen die Franken aufgestanden sind, so glüht dennoch das Revolutionsfeuer allenthalben unter der Asche. In jeder Hauptstadt und auf jeder Universität gibt es Volksgesellschaften, welche sich am Keime der Revolution wärmen. Man würde schon kreischende Folgen davon wahrgenommen haben, wenn man auf Hülfe von Frankreich, wenigstens auf eine sichere Neutralität, zählen könnte. Der Kern der Nation ist beinahe durchaus für die Freiheit gestimmt. Man arbeitet in der Stille, um das drückende Joch der Sklaverei vom Nacken des Volks abzuwälzen. — In Bruchsal empfing man die Franken als Brüder, segnete sie als die Erretter Deutschlands, und als die fürchterlichen Kontributionen aufgelegt wurden, wies sie das Volk an die herrschaftlichen Vorräte von Geld, Früchten, Wein und Viehe. Die schlangenartige Regierung hatte aber bald den General Scherb auf ihre Seite gebracht. Das Volk sollte schwitzen, damit ihm der Freiheitskützel benommen würde. Allein es stand in Masse gegen die Exekution auf und wollte seine Regierung, welche die Franken geblendet hatte, zur Strafe ziehen. — Die Franken aber betrachteten das Volk als ihre eigenen Feinde; das Resultat war, daß sich dasselbe an den Kommandanten von Philippsburg wand, um Schutz gegen die ungeheuren Bedrückungen zu finden. Dieser berüchtigte Kommandant ließ gleich alle Häuser der Bürger vom Boden hinwegreißen, welche sich nicht an die Aufrührer anschließen wollten. Der Volksaufstand war also organisiert, und die Regierung hatte ihren Zweck erreicht. Der Name der Franken war Fluch bei dem Volke, die herrschaftlichen Geld-, Früchte- und Weinvorräte blieben unverletzt, und den zur Revolution gereiften Landleuten wurde die Zuchtrute gezeigt, woferne sie die Ketten der Sklaverei zerbrechen würden. Scherbs Betragen soll schon auf die republikanische Waagschale der Gerechtigkeit gelegt worden sein. Wohl! das gibt uns einen herrlichen Begriff von der Gerechtigkeitspflege in eurem Freistaate. Indessen seid versichert, Republikaner, daß euch das Volk nicht hasset* vielweniger der Freiheit abgeneigt ist. Wir durchschauen wohl die Höllen-Pläne, die den Völkern Ekel wider die Revolution einflößen sollten. Die Deutschen ziehen ihre ganze Macht gegen Kehl hin. Die Pfälzer sind bei den Österreichern verhaßt, aber auch besonders für die Freiheit gestimmt. — Die Schwaben, welche zuviel Anhänglichkeit für die Franken bezeugt haben, werden auf die schimpflichste Weise mißhandelt. Die Patrioten zu Ulm will der Kaiser seine Rache besonders fühlen lassen. Gerne mögten die deutschen Fürsten die eisernen Jahrhunderte der Barbarei, der Dummheit und des Aberglaubens wieder hereinführen; alle in biederer Wahrheit verfaßte Schriften und Blätter sind verboten; sogar der Salzburger allgemeinen Literatur-Zeitung 51 , welche soviel Gutes gewirkt hatte, steht eine allgemeine

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Eudämonia, oder deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, Bd. 3 (1796), S. 5 0 3 - 5 1 3 . Die OLZ vermied bereits seit 1795 alle heftigen Auseinandersetzungen, es machte sich eine zunehmende bürgerliche Lethargie bemerkbar, mit Ablehnung des Jakobinismus.

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Reformation bevor. Es wird aber den Despoten nicht gelingen, den anbrechenden Tag aufzuhalten. - ! ! ! - " Der Brief dokumentiert die ungebrochene revolutionäre Gesinnung Brunners und seine Parteinahme für das Volk, aber auch seine kritische Haltung zu dem Vorgehen der Führer der französischen Truppen in Deutschland und zu der jakobinerfeindlichen Einstellung der gegen Ende 1794 eingesetzten französischen Zentralverwaltung für die Länder zwischen Maas und Rhein. Die zwiespältige Haltung der französischen Besatzung ist erkennbar: Sie brachte durch die Revolution erkämpfte bürgerliche Rechte nach Deutschland, zeigte sich aber bald als Eroberer, der sich anschickte, die ökonomischen Interessen der Großbourgeoisie im besetzten Land zu vertreten. Die historische Situation wird durch Brunner richtig beschrieben. Auch Nopp, wahrlich kein Revolutionsfreund, führt an, daß der Unmut der Brurheiner Bevölkerung von dem kaiserlichen Festungskommandanten Oberst Skal „eifrig geschürt" wurde und einer seiner Offiziere den im Kampf gegen die Republikaner Säumigen drohte, daß sie „als Feinde des Vaterlandes betrachtet und ihre Wohnungen den Flammen preisgegeben werden sollten". 52

8. Bis zum Tode unablässige Kämpfe gegen die Reaktion Da Brunner sich eine politische Umgestaltung nicht ohne sekundierende Veränderungen im kirchlichen Bereich vorstellen konnte, religiöse Aufklärung und gesellschaftlichen Fortschritt als ein Ganzes ansah, legte er, gleichfalls im Jahre 1796, „Freimüthige Gedanken über die Priesterehe als die Grundlage einer höchstnotwendigen Reformation der katholischen Geistlichkeit" der Öffentlichkeit vor (Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1797)53. In dieser Schrift nimmt er Stellung zu der neusten fürstbischöflichen Konsistorialverordnung wider die unenthaltsamen Kleriker des Regensburger Kirchensprengels und erklärt sich unumwunden für die Aufhebung des Zölibats. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es Brunner vergönnt, in amtlichen Funktionen seinen Vorstellungen, soweit es die Realitäten zuließen, Geltung zu verschaffen. Er gab seinen Kampf gegen kirchliche Reaktion, gegen jeglichen Obskurantismus und für eine gesellschaftsfördernde Hebung des Bewußtseins und des Bildungsstandes der unteren Volksschichten sowie für nationalkirchliche Bestrebungen, die zur Erringung der Einheit Deutschlands beitragen sollten, bis zu seinem Tode nicht auf. Er blieb ein Anwalt desVolkes. Im Jahre 1800 wurden seine Bemühungen anerkannt. Er wurde vom Markgrafen von Baden zum Scholasten, Studiensubdirektor und Professor des Kirchenrechts, der Moralund Pastoraltheologie ernannt, konnte aber aus gesundheitlichen Gründen diesem Ruf nicht folgen. Die Fakultät zu Heidelberg ernannte ihn einstimmig zum Doktor der Theologie.

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Nopp, Geschichte der Stadt Philippsburg, S. 636—639. In mehreren Lexiken steht statt „Priester-Ehe" fälschlich Priesterweihe. Die wichtige letzte Lebensperiode, über die reiches Brief- und Archivmaterial vorliegt, kann hier nur kursorisch behandelt werden. Joseph Berger hat im Freiburger Diözese-Archiv (92. Bd., Freiburg 1972) die politische Tätigkeit Brunners nicht erwähnt. Er sucht den Charakter Brunners herabzusetzen, vor allem indem ihm seine Einkünfte vorgerechnet werden und ihm die Schuld an einer Vernachlässigung seiner Pfarrstellen durch die von ihm eingesetzten Pfarrverweser aufgeladen wird.

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Die Angriffe gegen Gärtier waren nach acht Jahren noch nicht verstummt. Da kam Brunner dem Bedrängten zu Hilfe und veröffentlichte die 198 Seiten starke antifeudalistische Schrift „Die letzte aktenmäßige Verketzerungsgeschichte unter der Regierung des Herrn Fürstbischoffes von Speier August Grafen von Limburg-Stirum. Von einem Mitgliede des B... Vikariates, Germanien Linz 1802". Darin legt er die Akten vor, kommentiert sie und stellt die Ketzermacherei „solch blödsinniger Inquisitoren und Doktores" bloß. Er betont aber, daß seine Freundschaft zu Gärtier keine „gänzliche Harmonie in Grundsätzen" voraussetze. Als das Stifttum Bruchsal zum Herzogtum Baden gekommen war, wurde Brunner 1803 dort, gefördert von Herzog Karl Friedrich, Kirchen- und Schulrat, unter vorläufiger Beibehaltung seiner Tiefenbacher Pfarrei. Es wird hervorgehoben, daß er für die Einrichtung einer Mädchenschule sorgte und den Anstoß für die Förderung des Unterrichts im Französischen gab. 54 Nach dem Eintritt des 1806 großherzoglich erweiterten Badener Landes in den Rheinbund avancierte Brunner 1807 zum geistlichen Rat in der Regierung des Mittelrheins und der General-Studienkommission in Karlsruhe. Dieser Aufstieg gefiel Wilderich, dem Bischof zu Speyer, nicht: Er bezichtigte Brunner im September 1808 eines „ärgerlichen, verantwortungslosen, schändlichen Lebens". Das Justizministerium sah aber keinen Grund, gegen den Verleumdeten einzuschreiten.55 Nach Auflösung der Studienkommission 1809 in seine Pfarre zurückversetzt, wurde Brunner 1813 als Mitglied der katholischen Kirchensektion ins badische Innenministerium berufen und 1815 zum Ministerialrat befördert. Unentwegt kämpfte er für die Erneuerung des badischen Kirchen- und Schulwesens. Sein evangelisches Pendant war in der obersten Kirchen- und Schulbehörde der humanistische Polytheist Johann Peter Hebel, der es einmal als recht bezeichnete, daß Mendelssohn „hochgeachtet und geliebt ist", „denn man muß des Bartes willen den Kopf nicht verachten". 56 Schon 1802 war Brunner von Hebel als „der ehrenvoll bekannte katholische Schriftsteller und Homiletiker" bezeichnet worden. Nun hatten beide freundschaftlichen Umgang miteinander. Im Mai 1815 tat Hebel zugunsten Brunners dem evangelischen Kirchenrat Johann Ludwig Ewald „einen Schabernack" an, indem er den Beweis lieferte, daß nicht die katholische Religion allein sich als alleinseligmachend ausgibt. Die kirchlichen Angelegenheiten der durch die Säkularisierung zu Baden gekommenen Diözesen Mainz, Worms, Speyer, Straßburg, Basel und Konstanz wurden weitestgehend von der Regierung in Karlsruhe geleitet, und deren „Ratgeber aus dem geistlichen Stande . . . gehörten wie z. B. Brunner ... der extrem josephinischen Richtung an, in deren Sinne sie auch arbeiteten". 57 Seine von diesem Geist geprägten religiösen Ansichten bezeugen u. a. „Neue Beiträge zur Homiletik" (2 Bde., 1803/04), in die er ein „Andenken an Werkmeister" des radikalen Kirchenoppositionellen Wilhelm Mercy aufnahm, die Schrift,,Der betrachtende Christ in einsamen Stunden der Andacht" (Heilbronn 1804) und drei Schuleröffnungsreden. Neben seinem Regierungsamt hatte Brunner Pfarreien auf dem Lande inne, war von 1814 an Dekan in Karlsruhe und ließ nicht nach, als Politiker und Schriftsteller temperamentvoll für einen aufgeklärten, stark reformierten, die Errungenschaften der Französischen Revo-

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Nopp, Geschichte der Stadt Philippsburg, S. 763. Badisches Generallandesarchiv, Abt. 206, Nr. 1165. Johann Peter Hebel, Gesammelte Werke in 2 Bden., Bd. 1, Berlin 1958, S. 405. — Die folgende Anführung aus: Derselbe, Briefe, Karlruhe 1957, 1. Bd., S. 125, 2. Bd., S. 594. Heinrich Brück, Die oberrheinische Kirchenprovinz, Mainz 1868, S. 5.

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lution verwertenden Katholizismus zu wirken, unausgesetzt von der Orthodoxie angegriffen. Daß er „krassesten Indifferentismus" zur Schau trage, war noch der geringste Vorwurf. Es war selbstverständlich, daß er sich 1814 gegen die Wiederzulassung der Jesuiten wandte mit der Schrift „Werden die Jesuiten auch in Deutschland wieder aufkommen?". Mit wahrem Feuereifer setzte er sich für Männer ein, die wegen ihrer progressiven Gesinnung vom Obskurantismus geschmäht und von Rom drangsaliert wurden. Als von Wessenberg, ein Freund Dalbergs, als Generalvikar von Konstanz wegen seiner kirchlichen Reformen mit dem Papst in Konflikt geraten war und weder als Koadjutor noch als Bistumsverweser von Rom bestätigt wurde — man forderte die Wahl eines in besserem Rufe stehenden Subjektes —, stellte sich Brunner mit dem Großherzog Karl Ludwig Friedrich von Baden auf die Seite des Geächteten und veröffentlichte zwei Apologien: „Zeichen der Zeit oder Aufschlüsse über den neuesten Mystizismus" und „Sendschreiben an einen Freund über den vorgeblichen Hirtenbrief eines deutschen Bischofs, die Beibehaltung der lateinischen Sprache in der Liturgie betreffend". Auch Hebel, nunmehr als Prälat auf der höchsten Stufe der evangelischen Landeskirche, war ein Freund Wessenbergs; im Juli 1819 überreichte Brunner dem Prälaten Wessenbergs Buch „Johannes". Heftigen Anstoß bei aufklärungsfeindlichen Katholiken erregte vor allem eine unter Wessenbergs Verantwortung im Konstanzer Pastoralarchiv erschienene positive Rezension eines von dem evangelischen Theologen H. E. G. Paulus, Professor in Heidelberg, übersetzten Buches des Schotten Alexander Geddes, das man als eine Polemik gegen den römischen Stuhl ansah. Als der dadurch aufgebrachte Gärtier, den Brunner gegen die Reaktion verteidigt hatte, eine umfangreiche handschriftliche Anzeige gegen Wessenberg vorbrachte und diesen als Gesinnungsgenossen der Deisten Werkmeister, Blau und Brunner kennzeichnete, bildete sich unter Brunners Führung eine Gegenfront. 5 8 Mit seiner Beihilfe erschien 1816 in Karlsruhe zunächst Werkmeisters bemerkenswerter „Entwurf einer neuen Verfassung der deutschen katholischen Kirche in dem deutschen Staatenbunde". Darin heißt es:,, Die Kirche soll ihrer schimpflichen Fessel eines Kultus im fremder Sprache, eines Zölibates, der sie zu Fremdlingen im Staate macht, entladen werden. Die Laien sollen nicht mehr unter dem despotischen römischen Ehegesetze seufzen, die Priester sollen Lehrer des Evangeliums, in Glaube und Moral, nicht der dogmatisierenden Scholastik oder der andächtelnden Mystik werden." Während Mendelssohn die Forderung nach radikaler Trennung der Kirche vom Staat erhoben hatte, stand für die Katholiken um Brunner zunächst die Loslösung von der Hierarchie der Kurie im Vordergrund. Gegen päpstliche Macht und Einflüsse sahen sie ihre Bestrebungen durch den wiederholt erfahrenen Schutz eines religiöstoleranten staatlichen Regimes wie das Badens gesichert. Gärtier schwärzte über das Bruchsaler Vikariat Brunner bei Dalberg, dem zuständigen Bischof, an, aber dieser nahm den Angegriffenen in Schutz. In einem weiteren Brief schrieb Gärtier, möglicherweise als Anspielung auf Brunners Geburt: Der gelehrte Jude Moses Mendelssohn „hätte die Brunnersche Vorrede zu seinen Predigten von Wort zu Wort nachbeten und dem öffentlichen Druck übergeben können und wäre nach wie vor ein Jude gewesen". 59

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Eine neuere Darstellung der Vorgänge von streng katholischer Seite bringt Anton Weiterer, Johann Adam Gärtier, Predigerund Kanonikus an der Stiftskirche in Bruchsal, in: Der Katholik, Bd. 21/22, Mainz 1918; die folgende Anführung S. 109. Ebenda, S. 113.

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Als Gärtier seine geharnischte Anzeige 1818 gedruckt erscheinen ließ, gab als erste Gegenschrift Brunner in Heidelberg eine „Aufklärung auf die aus dem Dunkel hervorgetretene Denuntiationsschrift des Geh. Rats Gärtier zu Bruchsal gegen den Herrn Koadjutor Freiherrn von Wessenberg" heraus. Darin geht der Autor scharf mit dem Abgefallenen zu Gericht und schont auch die „Lärmbläser von der Obskurantenzunft" nicht, die gegen die Vertreter der Kantschen Philosophie ein „Zettergeschrei" erhoben haben. Gärtier sei nun schon der dritte aus der Rheingegend, der „die inquisitorische Sturmglocke anzieht". 6 0 Wessenbergs Freundschaftsverhältnis „zu Werkmeister, Brunner und anderen Hauptvertretern der freien Richtung" 6 1 schädigte allerdings des Suspekten Stellung bei der Kurie. Die Angriffe gegen Brunner und Werkmeister konzentrierten sich auf das auflagenreiche „Neue Gebetbuch". Für den rechtgläubigen Kirchenhistoriker Brück enthält es „nur formal-süßliche Phrasen ohne dogmatischen Gehalt und ohne religiöse Salbung". 6 2 Auf eine zustimmende Rezension der „Aufklärung" aus Paulus' Feder hin 63 erschien 1818 in Karlsruhe eine zweite anonyme Gegenschrift mit dokumentarischen Beilagen, sicher wieder aus Brunners Werkstatt. 64 Hier wird der Gärtier der früheren Jahre dem heutigen irrenden Ritter und Windmühlenkämpfer gegenübergestellt. Im Jahre 1821 sah sich Brunner gezwungen, eine „Vertheidigung der Badischen katholischen Schulbibel" in Mannheim zu veröffentlichen. Wenn ein Feind kirchlicher Mißbräuche in einen mystizistischen Protestantismus abglitt, wandte sich Brunner gegen diesen. Das zeigen seine Stellungnahmen gegen den damals Aufsehen erregenden ursprünglich katholischen Pfarrer und Wessenbergschüler Alois Heuhöfer, der Pietist wurde. Drei Schriften war Brunner dieser Fall wert, unter ihnen die „Über Pietisten und Proselitenmacher" (1823). Es ist kein Wunder, daß Brunner noch weit über seinen Tod hinaus aufs heftigste als „Staatskirchler", „falscher Reformer", „Schänder des Priestergewandes" usw. verdammt wurde. 65 Man nahm ihm z. B. eine Predigt übel, in der er die Eheschließung eines lutherischen Diakons mit einer Katholikin als hocherfreulich bezeichnet hatte. 66 Aber man tat ihm auch die Ehre an, festzustellen, daß er im Verein mit bekannten Oppositionellen schulbildend gewirkt habe: „Die Schüler eines Werkmeister, Brunner, Wessenberg u . a . wollten die Kirche umgestalten, sie dem Zeitgeiste anpassen . . ," 6 7 Der Exilluminat Brunner fand eine Stütze bei den Freimaurern, denen auch Werkmeister und andere Mitkämpfer angehörten, und intensivierte, noch unter dem Einfluß der einst progressiven Strömungen in der Freimaurerei, seine Tätigkeit in diesem Orden: 1806 wurde er in Heidelberg in die Freimaurerei aufgenommen, wurde 1808 der „Wiederhersteller" der

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Hagen, Die kirchliche Aufklärung, S. 4; die beiden anderen: Kanonikus K. M. Eduard Fabritius (schrieb: Über Gebet, Gebetbücher und die Notwendigkeit einer geschärften Staats- und Kirchenpolizey, o. O. 1803) und der geistl. Rat und Exjesuit Fidel Deubel. Der kath. Kirchenrechtslehrer Johann Friedrich von Schulte, in: ADB, Bd. 42, S. 147. Brück, Geschichte der kath. Kirche, 1. Bd., S. 467. Das Gebetbuch erschien 1819 in 11. Aufl. und 1809 auch in Wien (Heinsius Bücherlexikon, Bd. 2, Sp. 447), wurde auch ins Französische übersetzt (Kayser Bücherlexikon, 1. T., S. 370). Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Jg. 1818, S. 575. Die römische Kurie und die Jesuiten. Von Geh. Rat und Prädikator Gärtier zu Bruchsal nebst Bemerkungen über dessen Denunziationsschrift gegen den konstanzischen Bistumsverweser Freiherrn von Wessenberg. Brück, Kirchenprovinz, S. 224. Ignaz von Longer, Beiträge zur Geschichte der oberrheinischen Kirchenprovinz, Tübingen 1863, S. 271 f. Brück, Kirchenprovinz, S. 224.

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Loge „Zur Einigkeit" in Frankfurt a. M., 1809 als deren 2. Redner und Almosenpfleger im Meistergrad geführt. 68 Nach dreijährigem Ruhestand starb er am 6. November 1829 in Karlsruhe. In seinem 1827 geschriebenen Testament hatte er bestimmt, daß eine beträchtliche Summe seines Nachlasses zu gleichen Teilen der israelischen, protestantischen und katholischen Schule zu Karlsruhe zukommen solle.69 So setzte er sich ein Denkmal im humanistischen Geist Lessings.

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Zentrales Staatsarchiv, Merseburg, Allgemeine Mitteilungen und Mitgliederverzeichnisse anderer Logen, 1808-1809, Sign. 5.2., F 17, Nr. 556. Badisches Generallandesarchiv Karlruhe, Abt. 206, Nr. 1099.

CONRAD G R A U

J. R. Forster (1729—1798) und G. Forster (1754—1794). Ihre Wahl zu Mitgliedern der Preußischen Akademie der Wissenschaften

Seit jenen Herbsttagen 1786, an denen Johann Reinhold und Georg Forster als Auswärtige Mitglieder in die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin aufgenommen wurden, sind 200 Jahre verflossen. Beider Namen sind untrennbar mit der zweiten Weltreise von James Cook in den Jahren 1772 bis 1775 verbunden. Johann Reinhold Forster war seit 1780'fast 20 Jahre hindurch Professor der Naturwissenschaften an der preußischen Universität in Halle an der Saale, die in der Wissenschaftsgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat. Der Naturforscher und Schriftsteller Georg Forster, der hervorragendste deutsche Jakobiner, verkörpert als Repräsentant der ersten Republik auf deutschem Boden revolutionäre Traditionen der deutschen Geschichte. 1 Diese Mainzer Republik ist seit Jahrzehnten der bevorzugte Forschungsgegenstand des Jubilars und Ordentlichen Mitglieds der Akademie der Wissenschaften der D D R , Heinrich Scheel. Beide Jubiläen erscheinen mir geeigneter Anlaß, die Forster-Rezeption der Berliner Akademie als Bestandteil ihrer Geschichte ins Blickfeld zu rücken. Der Tod des preußischen Königs am 17. August 1786 veränderte die Stellung der Berliner Akademie. Am 6. Januar 1764 hatte Friedrich II. persönlich deren Leitung übernommen. Er bestimmte und ernannte seit diesem Zeitpunkt die Akademiemitglieder. Damit war die von ihm selbst getroffene Festlegung im „Règlement de l'Académie" vom 10. Mai 1746 über die Wahlen faktisch außer Kraft gesetzt: „Tous les académiciens, tant honoraires qu'ordinaires et étrangers, seront élus à la pluralité des voix de tous les académiciens présents . . ." 2 In diesem Statut, das bei den Ordentlichen Mitgliedern („ordinaires") zwischen den „vétérans", den 12 „pensionaires" und den ebenfalls 12 „associés" unterschied, hatte sich der König lediglich die Auswahl der „pensionaires" vorbehalten. Er wollte sie unter jeweils drei Vorschlägen der. Akademie treffen, wobei zwei der Benannten bereits Akademiemitglieder sein sollten. Über die Auswärtigen Mitglieder, die nach dem Règlement ebenfalls gewählt werden mußten, hieß es im Statut: „Les académiciens étrangers seront pris indistinctement dans toutes les nations, pourvu qu'ils soient d'un mérite connu." 3 Angesichts der feudalabsolutistischen Verhältnisse in Preußen und des persönlichen Engagements Friedrichs II. in Fragen der Wissenschaft bestand natürlich während seiner 1

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Vgl. Heinrich Scheel, Forschungen zum deutschen Jakobinismus. Eine Zwischenbilanz, in: ZfG, Jg. 31, 1983, H. 4, S. 3 1 3 - 3 2 4 . Adolf Harnack, Geschichte der K. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, Bd. 1, S. 300. Ebenda. Demokratie, Sozialismus

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gesamten Regierungszeit keine Identität zwischen den Worten des Statuts und den Realitäten der Mitgliederwahlen. Immerhin wurden aber im Jahresdurchschnitt von 1744 bis 1763 jeweils zehn Ordentliche und Auswärtige Mitglieder gewählt, während es von 1764 bis 1786 nur zwei waren. Beim Tode des Königs hatte die Akademie 18 Ordentliche Mitglieder gegenüber 35 im Jahre 1750 und noch 27 im Jahre 1776. Insgesamt wurden von 1744 bis zum August 1786 — also von der Vereinigung der Société littéraire mit der alten Sozietät der Wissenschaften zur „Académie Royale" bis zum Tode des Königs — 59 Ordentliche Mitglieder in die Akademie aufgenommen, davon 38 bis 1760 und 21 von 1764 bis 1783.4 Von 1744 bis 1785 kamen 196 Auswärtige Mitglieder in die Akademie, von denen sieben zuvor Ordentliche Mitglieder gewesen waren und diesen Status durch ihren Weggang aus Berlin verloren. Auch bei diesen 196 Wahlén ist das Jahr 1764 ein gravierender Einschnitt gewesen. 165 in die Akademie gewählten Auswärtigen Mitgliedern von 1744 bis 1760 stehen nur 31 gegenüber, die von 1764 bis 1785 aufgenommen wurden. Die einschneidenden Veränderungen in der Akademie begannen bereits am 25. August 1786 mit der Ernennung von Ewald Friedrich Graf von Hertzberg zum Kurator. Dieser war nach seiner Ausbildung an der Universität Halle 1745 in den preußischen Staatsdienst eingetreten und betätigte sich zugleich als Historiker. Von 1763 bis 1791 wirkte er als preußischer Außenminister. Bereits 1752 war er Ehrenmitglied der Akademie geworden. Er legte ihr wiederholt wissenschaftliche Abhandlungen vor, gehörte ihr also schon vor 1786 keineswegs nur formal an, und galt als einer der gebildetsten Staatsmänner seiner Zeit. Hertzberg war von 1786 bis in die beginnenden neunziger Jahre die Schlüsselgestalt der Akademie. Sein Gesamtverhalten und insbesondere seine Wahlpolitik in der Akademie erweisen ihn als einen Vertreter der herrschenden Feudalklasse, der konstitutionell-monarchische Verhältnisse anstrebte und die Notwendigkeit von Reformen begriff. Während er sich jedoch im engeren politischen Bereich wesentlich auf theoretische Erwägungen beschränkte, die auch in seinen Akademievorträgen ihren Niederschlag fanden, suchte er durch seine Wahlpolitik vor allem Vertreter-der bürgerlichen Intelligenz an die Akademie zu binden, wobei er in Reaktion auf die am französischen Vorbild orientierte friderizianische „Académie" in der Sprachenfrage und bei der Auswahl der Akademiemitglieder das deutsche Element zu stärken suchte. 5 Unter Hertzberg als Kurator wurden bis zum Ausbruch der Französischen Revolution, also in drei Jahren, 19 Ordentliche Mitglieder zugewählt, davon allein 14 im Jahre 1786. Zu ihnen gehörten als besonders wichtige der Astronom Johann Eiert Bode (1786), der Arzt und Wissenschaftshistoriker Johann Karl Wilhelm Moehsen (1786)6 und der Chemiker Martin Heinrich Klaproth (1788). Die Zahl der Auswärtigen Mitglieder erhöhte sich in demselben Zeitraum um 31 — eben4

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Biographische Angaben hier und weiterhin nach : Die Mitglieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1700—1950. Im Auftrage der Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin bearb. v. E. Amburger, Berlin 1950; Werner Hartkopf, Die Akademie der Wissenschaften der D D R . Ein Beitrag zu ihrer Geschichte. Biographischer Index, Berlin 1983. Vgl.-über Hertzberg, der eingehendere Untersuchungen verdiente: Liane Zeil, Schlözer und die Berliner Akademie der Wissenschaften, in: ZfG, Jg. 33, 1985, H. 7, S. 609fT. ; Hans-Heinrich Müller, Akademie und Wirtschaft im 18. Jh., Berlin 1975, S. 1 1 5 - 1 2 5 ; Deutsche Geschichte, Bd. 3, Berlin 1983, S. 513; Bibliographie Hertzbergs bei Harnack, a. a. O., Bd. 3, S. 128 f., sowie Johann Georg Meusel, Lexikon der . . . verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 5, Leipzig 1805, S. 423—431. Vgl. Conrad Grau, Der Arzt J. K. W. Moehsen (1722—1795) und die Anfänge der brandenburgischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Frankfurter Beiträge zur Geschichte, Heft 13, 1984, S. 14—28.

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soviele wie in den 20 Jahren von 1764 bis 1785 —, wobei das Jahr 1786 mit 13 Wahlen ebenfalls hervorsticht. (1787 folgten sieben und 1788 noch einmal acht Zuwahlen.) 1786 schlug Hertzberg beispielsweise den Philosophen Immanuel Kant in Königsberg, den Altphilologen Christian Gottlob Heyne in Göttingen, den Naturwissenschaftler Ignaz Born in Wien, die Physiker Charles Bonnet in Genf und Alessandro Volta in Pavia, den Mathematiker MarieJean-Antoine Marquis de Condorcet in Paris sowie den Schriftsteller Christoph Martin Wieland in Weimar als Auswärtige Mitglieder vor. Ebenfalls auf Hertzbergs Veranlassung wurden am 16. November und am 7. Dezember 1786 „les deux Professeurs Forster de Halle et de Vilna commes grands Botanistes et géographes" 7 als Auswärtige Mitglieder in die Akademie in Berlin aufgenommen. Das — inhaltlich nicht bekannte — Dankschreiben J. R. Forsters für seine Wahl wurde am 7. Dezember, am Wahltag seines Sohnes, in der Akademie bekanntgegeben. 8 Georg Forsters Dankbrief lag der Akademie am 18. Januar 1787 vor. 9 Es handelt sich hier um den einmaligen Fall, daß Vater und Sohn nahezu gleichzeitig durch die Wahl zu Akademiemitgliedern geehrt wurden. Über die Wahlen von J. R. und G. Forster wurde unter Hinweis auf ihre wissenschaftlichen Verdienste in der Presse informiert, wie es in der Regel geschah. 10 Georg Forster hatte der Zuwahl etwas nachgeholfen, indem er sich entschlossen hatte, dem neuen Kurator „zu seiner neuen Ehre zu gratulieren, und den Wunsch zu äußern, ihm als einem Beschützer der Wissenschaften bekannt zu werden". 11 Weg und Werk beider Forster bis zu diesem Zeitpunkt bestimmten jedoch letztlich die Entscheidung der Akademie entsprechend dem Vorschlag Hertzbergs. Der aus Dirschau bei Danzig stammende Johann Reinhold Forster erhielt seine Ausbildung von 1745 bis 1748 am berühmten Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin und von 1748 bis 1751 an der Universität Halle, wo er Theologie studierte. Als Naturwissenschaftler war er Autodidakt — ebenso wie sein Sohn Georg, der nur wenige Monate eine Schule und niemals eine Universität besucht hat. J. R. Forster war von 1753 bis 1764 Pastor in Nassenhuben bei Danzig, wo auch Georg geboren wurde. Da das Nassenhubener Pfarrhaus im Dorf Hochzeit stand, hat Georg Forster denselben Geburtsort wie der Mitbegründer und spätere Vizepräsident der Berliner Akademie Daniel Ernst Jablonski. Im März 1765 folgte J. R. Forster dem Ruf, im Auftrage der russischen Regierung die Kolonien deutscher Siedler an der Wolga zu untersuchen. Sein erst elfjähriger Sohn begleitete ihn. Dieser Rußlandaufenthalt, der zugleich zu naturwissenschaftlich-geographischen Forschungen benutzt wurde, endete im August 1766. Er war trotz seiner geringen Dauer eine wichtige Lebensetappe, die den Gesichtskreis der Reisenden geweitet und Grundlagen für spätere Rußlandkontakte geschaffen hat. 12

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Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR (im folg.: AAW Berlin), I—III—4, fol. 41. Zur Literatur vgl. Horst Fiedler, Georg-Forster-Bibliographie 1767 bis 1970, Berlin 1971. AAW Berlin, I—IV—33, fol. 9 vers. Ebenda, fol. 12. Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, 141. Stück, 25. 11. 1786; 147. Stück, 9. 12. 1786. G. Forster an S. T. Sömmering, Wilna, 28. 12. 1786, in : Georg Forsters Werke, Bd. 14, Berlin 1978, S. 613. Vgl. dazu Gerhard Steiner, Johann Reinhold Forsters und Georg Forsters Beziehungen zu Rußland, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh., Bd. 2, Berlin 1968, S. 245— 311, 4 3 0 - 4 5 0 (Anm.); R. P. Bartlett, J. R. Forster's Stay in Russia 1765—1766: Diplomatie and officiai Accounts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Jg. 23, 1975, S. 489-495.

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Forster und sein Sohn kehrten nicht in die Heimat zurück, sondern gingen von Rußland direkt nach England, wohin die Familie folgte. Deren schwierige materielle Situation in diesem Land wendete sich, als J. R. Forster die Einladung erhielt, James Cook 1772 auf dessen zweiter Weltreise zu begleiten. Er nahm wieder seinen inzwischen fast 18jährigen Sohn Georg mit. Diese Reise, die bis 1775 dauerte, begründete den Weltruhm der beiden Gelehrten, auch wenn sie nach der Rückkehr erneut in Not gerieten. Auseinandersetzungen J. R. Forsters mit der britischen Admiralität, nicht zuletzt bedingt durch seinen schwierigen Charakter, ließen ihn auf die wissenschaftliche Auswertung der beachtlichen Forschungsergebnisse in einer eigenen Reisebeschreibung verzichten. So wurde Georg Forster derjenige, der die interessierte Öffentlichkeit Europas zuerst informierte. Seine zweibändige Darstellung „Voyage round the world" erschien 1777 und von 1778 bis 1780 in deutscher Übersetzung. Inhalt und Darstellungsform machten den jungen Wissenschaftler mit einem Schlag zu einer bekannten Persönlichkeit. Doch die Existenzsorgen der Familie Forster konnten auch dadurch nicht beseitigt werden. Im Jahre 1778 begab sich Georg Forster nach Deutschland, wo ihm, wie im Jahr zuvor bei seinem Besuch in Frankreich, überall der Ruhm des Weltreisenden vorauseilte. Der 24jährige konnte eine Stellung als Professor der Naturgeschichte am Carolinum in Kassel erhalten und wirkte dort bis 1784. Verhandlungen in Berlin führten schließlich zur Berufung J. R. Forsters durch den Kurator der preußischen Universitäten, Karl Abraham Freiherr von Zedlitz, nach Halle, wo dieser dann seit 1780 bis an sein Lebensende tätig war. Georg Forster folgte 1784 einem Ruf an die Universität Wilna. J. R. Forster war bereits vor seiner Weltumsegelung Mitglied der Royal Society in London geworden; 1780 ernannte ihn die Akademie in Petersburg zum Ehrenmitglied, nachdem ihn schon 1776 die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen zum Auswärtigen und die Académie des Sciences in Paris zum Correspondant gewählt hatten. G. Forster wurde in insgesamt 13 gelehrte Gesellschaften aufgenommen, darunter in die Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin (1776), die Royal Society in London (1777), die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen (1777) und die Leopoldina (1780). 13 Die Berliner Akademie wählte somit als eine der letzten Vater und Sohn 1786 auf Vorschlag von Hertzberg, der eine wichtige Rolle im letzten Lebensjahrfünft Georg Forsters spielte. Die ursprünglich auf acht Jahre berechnete Tätigkeit Georg Forsters in Wilna fand 1787 ihr Ende, als ihm die russische Regierung die wissenschaftliche Leitung einer Weltumsegelung anbot. Vereinbarungen waren bereits getroffen, Forster befand sich in Deutschland auf dem Wege nach England, um die Reise personell und ausrüstungsmäßig vorzubereiten, als der 1787 ausbrechende Krieg zwischen Rußland und der Türkei alle weiteren Planungen zunichte machte. Georg Forster stand erneut vor dem Nichts. Anfang 1788 war er in Berlin, wo er am 31. Januar auch an einer Akademiesitzung teilnahm 14 , mit Hertzberg zusammentraf und mit ihm über eine Anstellung an der Akademie beriet. 15 Schließlich fand Forster noch in 13

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Die Berufungsurkunden sind gedruckt in: Georg Forsters Werke, Bd. 13, Berlin 1978, S. 937—945; zur Frage der Akademie-Beziehungen von J. R. Forster vgl. auch dessen Biographie von Michael Hoare, The Tactless Philosopher, Johann Reinhold Forster, Melbourne (1976), besonders S. 250ff. Vgl. AAW Berlin, I - I V - 3 3 , fol. 41. Vgl: Georg Forsters Werke, Bd. 15, Berlin 1981, S. 101, 109. „Der Minister Hertzberg hat mir wiederholt versprochen, er wolle an mich denken, wenn etwas bei der Akademie vorfiele." Förster an Sömmering, Berlin, 16. 3. 1788, in: Ebenda, S. 132.

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demselben Jahr eine Tätigkeit als Bibliothekar an der Universität in Mainz. Von hier aus unternahm er im Frühjahr 1790 seine berühmte Reise mit Alexander von Humboldt, die er in den „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790" beschrieben hat. Das Werk fand größtes Interesse und rückte den Verfasser in die Reihe der großen deutschen Prosaisten. Die Ausarbeitung beschäftigte ihn neben vielen anderen wissenschaftlichen Arbeiten bis in das Frühjahr 1792, obwohl beide Bände — den geplanten dritten konnte er nicht mehr vollenden — mit der Jahreszahl 1791 in der Vossischen Buchhandlung in Berlin erschienen sind. Der Verleger Christian Friedrich Voß war von 1790 bis 1793 der wichtigste Briefpartner in Berlin. Die erhalten gebliebenen 111 Briefe Forsters an Voß 16 aus den genannten Jahren, vor allem die von 1791/92, die die überwiegende Mehrzahl bilden, erweisen die angestrengte wissenschaftliche Arbeit des Mainzer Bibliothekars als Autor und Übersetzer, sie vertiefen unser Wissen über die politische Entwicklung des Demokraten Forster, und sie ermöglichen im Zusammenhang mit anderen Quellen die Rekonstruktion der im November 1792 gescheiterten Wahl Georg Forsters zum Ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die mit einer Berufung als Professor an die Militärakademie gekoppelt war. In einem Brief vom 17. November 1792 wurde Hertzberg als Kurator der Akademie offiziell informiert: „Seine Königl. Majestät haben in Erfahrung gebracht, daß verschiedene Personen hierselbst über die jetzigen politischen Angelegenheiten sehr unanständige Reden führen, sich auch sogar nicht entblöden, Meinungen und Grundsätze über die Verfassung dieses Staats auszubreiten, die derselben gar nicht angemessen sind und üble Folgen zu leicht nach sich ziehen können." Namentlich wurde „als ein solcher zu dreister Beurtheiler" — ob zu Recht oder zu Unrecht, ist bis heute nicht endgültig geklärt — das seit 1772 Ordentliche Akademiemitglied Jean-Alexis Borelly genannt. Es sei daher angewiesen worden, daß er „arretirt, über die Gräntze gebracht und ihm dabei angedeutet werde, sich dahin zu begeben, wo seine Grundsätze etwa Beifall finden mögten, die in dem hiesigen Staate nicht gelitten würden". 17 Hier liegt der Ausgangspunkt für den bekannten, aber zusammenhängend unter akademiegeschichtlichem Aspekt noch nicht dargestellten Versuch Hertzbergs, Forster zu diesem Zeitpunkt für Berlin zu gewinnen. Dieser Schritt wird erst verständlich, wenn man das Umfeld genauer betrachtet. Hertzberg selbst, der seit Sommer 1791 nicht mehr Minister, sondern nur noch Kurator der Akademie war, hatte der Reaktion durchaus Anlaß gegeben, ihn als Anhänger der Französischen Revolution zu verdächtigen. Am 6. Oktober 1791 hatte er anläßlich des Geburtstages Friedrich Wilhelms II. und des fünften Jahrestages seiner Regierung in der Akademie eine Rede „sur les révolutions des états, externes, internes, et religieuses" gehalten, in der er die Französische Revolution als die „außerordentlichste" der Geschichte bezeichnete. Der Göttinger Professor A. L. Schlözer, den Hertzberg als Mitglied der Berliner Akademie vorzuschlagen beabsichtigte, „fand so viel ausnehmend wichtiges darin", daß er 1792 Auszüge aus dieser Rede in seinen „Staatsanzeigen" veröffentlichte. Bekannt ist auch, daß Hertzberg den 1792 bereits fertiggestellten dritten Band seines „Recueil des déductions, manifestes, déclarations, traités et autres actes et écrits" über die außenpolitischen Beziehungen Preu16

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Georg Forsters Briefe an Christian Friedrich Voß, hrsg. von P. Zincke, Dortmund 1915 (im folg.: Briefe an Voß). Für die Briefe bis 1791 wurde benutzt: Georg Forsters Werke, Bd. 16, Berlin 1980. AAW Berlin, I—III—4, fol. 303.

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ßens seit 1756 auf Befehl des Königs nicht erscheinen lassen durfte. Die ersten beiden Bände waren 1789 und 1790 publiziert worden, der dritte folgte erst 1795.18 Dieser „Recueil" spielt eine Rolle in den Beziehungen, die zwischen Hertzberg und Georg Forster bereits bestanden und die seit 1791 vor allem durch den Verleger C. F. Voß in Berlin vermittelt wurden. Für ihn arbeitete Forster an einem Werk, das in dessen Briefen meist als „Kalender" erscheint und das 1793 unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Jahre 1790 in historischen Gemälden und Bildnissen von D. Chodowiecki, D. Berger, Cl. Kohl, G. F. Boldt und J. S. Ringk" von Voß publiziert wurde. Bereits im April 1791 hatte sich Forster entschlossen, in diesem Werk auch Hertzberg zu behandeln. 19 Bis zum September 1792 hat Forster an dieser Biographie des ehemaligen preußischen Ministers, gekoppelt mit der des englischen Premierministers William Pitt d. J., gearbeitet, die er gewissermaßen als einen ersten Schritt betrachtete. Voß sollte, wie Forster ihm am 28. Juli 1792 schrieb, Hertzberg mitteilen, „daß ich nicht abgeneigt sei, einmal ex professo die Geschichte seines politischen Lebenslaufs zu schreiben, wenn ich die erforderlichen Hülfsmittel hätte. Bezeugen Sie ihm auch, daß ich für seine Verdienste die höchste Veneration hätte, und schlechterdings nicht glauben könne, daß er in den Augen des Publikums das geringste durch seine Entlassung verloren habe." 20 Und noch Ende September schrieb er an Voß : „Wenn meine Skizze ihm gefällt, so veranlaßt sie ihn vielleicht zu Mittheilungen für eine vollständige Biographie." 21 Forster würdigte die Politik Hertzbergs als die eines „großen Staatsmannes", „eines tief blickenden und die Verhältnisse Europens ganz umfassenden Ministers", der in der Geschichte Europas seit dem Hubertusburger Frieden von 1763 eine entscheidende Rolle gespielt hätte, ohne „der Pflege der Wissenschaften zu entsagen". 22 Für seine Darstellung, die Hertzberg voll akzeptierte 23 , die aber dessen Leistung sicher überschätzte, benutzte Forster beispielsweise den genannten „Recueil", und zwar auch den unveröffentlichten dritten Band. „Sobald ich von den Blättern, die der Graf v. Hertzberg zurückverlangt, Gebrauch gemacht habe, sollen Sie solche wiederbekommen, nebst der bewußten Vorrede zu seinem 3ten Band", schrieb Forster an Voß am 28. Juli 1792.24 Seinen Verleger hatte der Autor am 9. Juni gebeten: „Können Sie mir nicht ein ganz dürres Skelet von Hertzbergs bisherigen Lebenslauf schicken?" 25 Er dachte dabei auch an das 1790/91 erschienene Buch des Akademiemitglieds Giacomo Maria Carlo Denina „La Prusse littéraire sous Frédéric II, ou histoire abrégée de la plupart des auteurs, des académiciens et des artistes. . . par ordre alphabétique". 18

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Vgl. Zeil, a. a. O., S. 612f., 615. Wie an Schlözer, so schrieb Hertzberg auch an Forster, daß „mir aber der König auf das schärfste verboten hat", vom 3. Band etwas mitzuteilen. Hertzberg an Förster, Berlin, 28. 8. 1792, in: Georg Forsters Werke, Bd. 18, Berlin 1982, S. 557; vgl. auch ebenda, S. 575—577 (Hertzberg an Forster, Berlin, 13. 11. 1792). Georg Försters Werke, Bd. 16, S. 261. Briefe an Voß, S. 164. Ebenda, S. 171. Georg Forster, Erinnerungen . . . , in: Georg Forsters Werke, Bd. 8, Berlin 1974, S. 348f. Hertzberg an Forster, Berlin, 13. 11. 1792: „Sie haben den Sinn meiner Ministerialgrundsätze zu meiner Verwunderung vollkommen getroffen." (Georg Forsters Werke, Bd. 18, S. 575). Briefe an Voß, S. 164. Es muß offenbleiben, ob Voß in diesem Falle ohne Vorwissen Hertzbergs gehandelt hat, der Forster in seinem Brief vom 28. 8. 1792 auf den 3. Band des „Recueil" hinwies und es für vorteilhaft hielt, „wenn ich Ihnen solchen ohne Gefahr des Abdrucks auf einige Tage communiciren könnte" (Georg Forsters Werke, Bd. 18, S. 557). Briefe an Voß, S. 157.

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Am 19. September 1792 hat Forster die letzten Ausarbeitungen für die „Erinnerungen" an Voß gesandt, darunter den Abschnitt über Hertzberg, worüber er hinzufügte: „Des H. Grafen von Herzberg Excellenz äußern die Idee das, was Ihn hier betrift vor dem Druck lesen zu können. Allein ich gestehe Ihnen, daß ich das nicht zu gestatten wünsche. Ich habe den Artikel aus ungeheuchelter Achtung für ihn so vorteilhaft eingerichtet, daß Er ihn eigentlich aus Politik nicht vor geschehenem Abdruck sehen darf. Zumal — was könnte es auch jetzt helfen ? — Aendern kann Er doch nichts daran, weder als Zusatz, oder Weglaßung — denn mein Artikel würde durch beides gelähmt. Er muß also bleiben, wie er ist. Ein anderes wäre es, wenn ich in Berlin wäre, und die Animadversiones des Herrn Grafen, in meiner Sprache hinein corrigiren könnte." 26 Voß hat sich offensichtlich an diesen Wunsch seines Autors nicht gehalten, wie man aus einer Äußerung Hertzbergs in einem Brief an Schlözer vom 17. Oktober 1792 entnehmen muß und wie Hertzberg in seinem Brief an Forster selbst vom 13. November bestätigt, in dem Forster als „ein Mitglied unserer Akademie" bezeichnet wird.27 Sollte die auf die Redaktion bezügliche Floskel Forsters — „. . . wenn ich in Berlin w ä r e . . . " — vielleicht ältere Überlegungen gefördert haben, Forster nun doch nach Berlin zu ziehen? Am 21. Oktober 1792 informierte Forster seinen Buchhändler Voß über die Besetzung von Mainz. „Ich gestehe Ihnen gern, daß ich nur von Politikern wie Herzberg und [Christian Wilhelm] Dohm Maaßregeln von der Größe, Kühnheit und Weisheit erwarte, welche jetzt im Stande sind, die preußische Monarchie aufrecht zu erhalten . . . Mainz wird jezt ein wichtiges politisches Centrum werden . . ," 28 In diesem Brief meldet Forster zugleich den Wunsch nach einem Darlehen von 1500 Talern an, das „Sie mir von irgend jemand in Berlin oder wo es sei. . . auf ein paar Jahre, zu sechs — oder seys auch acht pro Cent jährlich— verschaffen könnten". Als Ursachen seiner Schulden nannte er seinen Gehaltsausfall, seine „Kränklichkeit des vorigen Winters und einige unangenehme Familienauftritte". 29 Die dringende Bitte um ein Darlehen wiederholte Forster am 1. November 30 , um dann am 10. für dessen Bewilligung zu danken, wobei er außer Voß noch die Berliner Kaufleute Friedländer und Wlömer als Gläubiger nannte. 31 Ergänzend ist mitzuteilen,daß auch Hertzberg an dem Vorschuß beteiligt war.32 Als Bedingung für die Annahme nannte Forster, „daß das Darlehn mich nicht im geringsten zu irgendeiner Verantwortlichkeit für meine politischen Schritten und Grundsätze verbindet". 33 Bekanntlich war er am 5. November 1792 nach gründlichen Überlegungen in den Jakobinerklub in Mainz, die „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit", eingetreten und hatte dort am 15. November seine erste aufrüttelnde Rede „Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken" gehalten. Seine Kritik an dem Feldzug der feudalen Reaktion gegen Frankreich verband er mit Hoff-

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Ebenda, S. 172 f. Zeil, a. a. O., S. 616; Georg Forsters Werke, Bd. 18, S. 576. Hertzbergs Hinweis auf Forsters Akademiemitgliedschaft bezieht sich hier auf die Wahl von 1786, nicht auf den erst am 18. 11. 1792 gestellten Wahlantrag, wie es im Kommentar der neuesten Ausgabe dargestellt wird (Ebenda, S. 808). Briefe an Voß, S. 179. Ebenda, S. 180 f. Ebenda, S. 188. Ebenda, S. 196f. Ebenda, S. XIV; Hertzberg an Forster, Berlin, 13. 11. 1792: „Ich habe dem Herrn Voß zu zwei Aktien beigetragen." (Georg Forsters Werke, Bd. 18, S. 576). Briefe an Voß, S. 196.

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nungen auf Hertzberg, der allerdings aus seiner Stellung „von Geistersehern und windigen Hofschranzen verdrängt" worden wäre. 34 Um so mehr mußte Forster eine Äußerung von Voß erschrecken, die er in einem Brief an diesen vom 21. November 1792 zitiert. Voß hatte ihm — wahrscheinlich am 13. oder 14. — geschrieben : „. . . stimme in des Grafen Wunsch ein : daß Sie ein guter Preuße bleiben mögen ! Das müßen Sie auch, werter Freund, weil ich sonst offenbar in Gefahr käme, durch die so angenehme Geschäftsverbindung mit Ihnen Verdruß zu erfahren." 3 5 Voß bezieht sich hier auf den Brief Hertzbergs an Forster vom 13. November, in dem die .Worte stehen: „Ich hoffe, daß EW. Wohlgeboh. immer ein ächter Deutscher und auch ein guter Preuße bleiben werden." 36 Da die Briefe zwischen Mainz und Berlin in der Regel eine Woche unterwegs waren, kann es sich bei diesem „Wunsch" von Voß und Hertzberg nicht um die Antwort auf die Bedingungen handeln, die Forster am 10. November für die Annahme des Darlehens gestellt hatte, denn die Briefe haben sich zweifellos gekreuzt. Hinter dem „Wunsch" von Voß und Hertzberg konnte sich also nur die Absicht verbergen, das sich abzeichnende Engagement Forsters, seinen Übergang von der ideologischen Verteidigung der Revolution zu deren praktischer Durchführung, nach Möglichkeit noch im letzten Moment von Berlin aus gegenrevolutionär zu beeinflussen. Für diese These und zugleich für den persönlichen Mut Hertzbergs spricht, daß er dem König am 18. November 1792, unmittelbar nach der Streichung der Mitgliedschaft des „Jakobiners" Borelly, ausgerechnet Georg Forster als Professor an der Militärakademie und ajs Ordentliches Mitglied der Akademie vorschlug: „II y a à Mayence un Professeur Forster, fils du célébré Professeur Reinhold Forster à Halle, qui a fait avec le père le tour du monde et qui ayant perdu sa place et des apointemens à Mayence par la révolution, qui y est arrivé, viendroit volontiers ici. C'est un homme qui excelle dans la belle-litérature, dans les langues, dans la Physique et l'histoire naturelle et qui s'est acquis une grande réputation par la déscription de ses voyages autour du monde, les fameuses vues du Rhin et des PaisBas et autres ouvrages classiques et fait beaucoup gagner à nos libraires par ses écrits, qui sont dévorés par le public. — J'ose proposer à V. Mté d'agréer : 1. que ce Forster soit appellé ici pour être Professeur de l'Académie militaire en Belles-Lettres et en histoire avec la pension de Borelli et que je puisse y ajouter une pension de 200 écus comme membre de l'Académie des Sciences, qu'il est déjà et pour laquelle il seroit d'autant plus nécessaire et utile, que nous n'y avons aucun sujet distingue pour l'histoire naturelle et que le Sieur Forster pourroit y rendre des services importans, par les connoissances qu'il a acquises par ses voyages autour du monde. Il seroit aussi sûrement plus utile et plus sur dans l'Académie militaire, qu'aucun François et autre étranger." 3 7

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Zit. nach Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1, Protokolle des Jakobinerklubs, Berlin 1975, S. 224. Briefe an Voß, S. 198. Georg Forsters Werke, Bd. 18, S. 576. ,AAW Berlin, I—III—4, fol. 304—304 vers. (Konzept). Der Punkt 2 dieses Schreibens betraf den Mathematiker Abel Burja, der Professor an der Militärakademie und seit 1789 Ordentliches Akademiemitglied war. Die Wichtigkeit dieses Dokuments für die Geschichte der Akademie rechtfertigt den erneuten Abdruck, obwohl die Ausfertigung bereits gedruckt ist als Beilage zu Hermann Oncken, Deutsche und rheinische Probleme im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, 1937, S. 103f., vgl. auch Gerhard Steiner,

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Dieses Vorhaben spiegelte seine durchaus detaillierte Kenntnis der Situation Forsters in Mainz wider und barg die Gefahr in sich, Hertzbergs Stellung weiter zu schwächen. Es wurde gewagt, um Forster, der sich durch sein Bleiben in Mainz nach der Eroberung bereits entschieden hatte, im letzten Moment doch noch seiner revolutionären Wirksamkeit'zu entziehen. Es konnte nicht gelingen, obwohl es zweifellos — abgestimmt oder nur übereinstimmend — im Interesse vieler derjenigen Intellektuellen lag, die mit Forster bis zu diesem Zeitpunkt in mancher Hinsicht ideologisch k o n f o r m gegangen waren. Die unlängst erneut aufgeworfenen Fragen, ob sich Hertzberg vielleicht für Forsters Beitrag über ihn in den „Erinnerungen" „erkenntlich zeigen" wollte und ob er die Absicht hatte, ihn „nach Berlin zu holen" 3 8 , lassen sich also eindeutig beantworten. Es handelte sich um eine gezielte Aktion mit politischem Hintergrund. Die direkte A b f u h r erhielt Hertzberg vom König am 5. Dezember 1792: „Je suis surpris, que Vous me proposés un révolutionnaire." 3 9 Die indirekte A b f u h r durch Forster selbst dürfte Hertzberg schon Ende November 1792 bekannt geworden sein. Am 21. November nannte Forster in seinem Brief an Voß dessen und Hertzbergs „Wunsch", er sollte „ein Preuße bleiben . . . eine Zumuthung, die mit meinen Grundsätzen und meiner in so vielen Schriften (freilich des Despotismus wegen behutsam) geäußerten Freiheitsliebe ganz unverträglich ist". 4 0 Weiter lesen wir: „Heißt: ,ein guter Preuße seyn', wenn man in Mainz unter fränkischer Herrschaft steht, soviel als, allen Preußen gutes, einen baldigen Frieden, eine Erholung von allen Uebeln des Krieges wünschen, so bin ich ein guter Preuße, wie ich ein guter Türke, Ruße, Chineser, Marokkaner, pp. bin. Heißt es aber, daß ich in Mainz meine allgemein bekannten Grundsätze verläugnen, mich nicht freuen soll, d a ß es eine freie Verfaßung erhält; aufgefordert wie ich bin, nicht dazu mitzuwirken-; in einer Gährung, in einer Krise, wo man durchaus sich entscheiden muß, entweder ganz unentschieden bleiben oder das Mainzer Volk durch mein Beispiel zu überreden suchen, es thue beßer, die alten Greuel beizubehalten, als mit den Franken frei zu werden ; heißt also : ein guter Preuße seyn, Grundsätze annehmen, die nie die meinigen waren, und nicht das Wohl der Einwohner Preußens sondern das Intereße des preußischen Hofes, des Kabinets, der Geisterseher und allenfalls des Königs, — hier in Mainz im Auge behalten, so verlangt man etwas, wofür ich verdiente, an den nächsten Laternenpfahl geknüpft zu werden. Es giebt keine Verbindlichkeit, die ich mir denken kann (ich spreche hier sehr ernsthaft vor Gott) welche mich bewegen könnte, an meinen hiesigen Mitbürgern zum Verräther zu werden. Die Mainzer Emigranten, vom Kurfürsten an, kommen gegen das Wohl des ganzen Landes in keinen Betracht — und übrigens ist der allgemeine Wille schon entschieden und jeder Versuch, die ganze Gegend von Speyer bis Bingen von der Freiheit abzubringen, k o m m t zu spät. Das sind die Folgen des rasenden Kriegs, den Ihr König unternommen hat." 4 1 Unter diesen Voraussetzungen, die an Klarheit nichts zu wünschen übriglassen, hat

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Jacobiner und Societät der Wissenschaften, in : Filolôgiai Közlöny, IV, 1958, S. 692, der in Weiterführung der Überlegungen Onckens auf die „Erinnerungen" verweist, aber m. E. die wahre Absicht Hertzbergs nicht trifft, wenn er vermutet: „. . . und Hertzberg versprach sich wohl von Forsters Tätigkeit in Berlin einen Rückhalt und eine Förderung seiner schriftstellerischen Pläne und damit eine Stützung seiner stark erschütterten Stellung." Zeil, a. a. O., S. 616. AAW Berlin, I—III—4, fol. 305. Briefe an Voß, S. 199. Ebenda, S. 199f.

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Forster die Annahme des Darlehens schließlich akzeptiert, zumal die Summe bereits überwiesen war und er das Geld in der Tat dringend brauchte. 42 Gegenüber dem König verteidigte Hertzberg am 11. Dezember 1792 seinen Vorschlag für Forster vom 18. November mit der unrichtigen Behauptung, er hätte ihn „proposé dans un tems, ou la ville de Mayence n'étoit pas encore prise par les François, et où je ne pouvois pas savoir, que le S r Forster se déclarerait pour la Révolution Française". 43 Diese Einstellung, die letztlich ein Zurückzieher war und die aus der insgesamt widersprüchlichen Haltung Hertzbergs sowie aus seiner offiziellen Position als Kurator der Akademie resultierte, unterscheidet sich doch sehr von der der Göttinger Akademiemitglieder. Die dortige Regierung wollte Anfang 1793 den in Frankreich weilenden Georg Forster, dem wie anderen während des Reichskrieges auf der Grundlage eines Reichstagsbeschlusses vom Dezember 1792 eine Strafe wegen Eintritts in feindliche Dienste drohte, als Mitglied aus der wissenschaftlichen Gesellschaft ausschließen lassen. Vor eine solche Entscheidung war man in Berlin nicht gestellt, da die beabsichtigte Wahl bereits im Vorfeld zu Fall gebracht worden war und die Mitglieder sich also nicht äußern konnten. In Göttingen dagegen regte der Akademiesekretär Christian Gottlob Heyne am 27. April 1793 eine Antwort an, die bei aller eindeutigen Ablehnung des Ansinnens zugleich die Zwiespältigkeit deutscher Intellektueller in ihrer Stellung zu Wissenschaft und Politik widerspiegelte und der die Mitglieder zustimmten. Darin heißt es : „Aber der Schritt, daß die Societät darauf antragen soll, scheint mir unter aller Würde der Societät zu seyn ; so etwas muß man Höflingen und Speichelleckern zumuthen, aber keinem Corpus von Gelehrten, und keinen Societätsgliedern, die für sich stehen und fallen müssen. Prostituiren würden wir uns vor der Welt, und uns einer Denkungsart schuldig und verdächtig machen, deren, hoffe ich, keiner unter uns fähig ist. — Die Societät ist eine gelehrte Gesellschaft, kein politisches Corpus, auch kein Club. Was mit den Mitgliedern in politischen Verbindungen und Verhältnissen vorgehet, geht die Societät nichts an ; denn diese Verhältnisse haben keine Beziehung auf das wissenschaftliche. Auch die Ehre der Societät tasten sie nicht an ; so wenig als das Sittliche der Mitglieder, so lange es keine bürgerliche Infamie nach sich zieht. Man kann aber Democrat u. Aristocrat, Bürger u. Sklav seyn: und bleibt doch ein bürgerlich ehrlicher Mann." Wenn schon, dann solle den Streichungsbefehl die Regierung geben. 44 Seine Stellung zu Hertzberg, den er offenbar überschätzte, hat Forster in dem mehrfach herangezogenen Brief an Voß vom 21. November 1792, in dem er zugleich über seinen Eintritt in die „Verwaltung des hiesigen Landes von Speier bis Bingen" berichtet, noch einmal ausführlich dargelegt. Er verwahrt sich gegen dessen „Wunsch, daß ich ein guter Preuße bleiben möchte", der „schwerlich eine andere Bedeutung haben kann, als die, die mich sowohl wegen meiner bekannten Grundsätze als meiner jetzigen Verbindlichkeiten nicht ziemt in Ausübung zu bringen, nämlich einer Anhänglichkeit an das politische System eines Hofes, mit dem ich nie in Verbindung gestanden habe und dem ich keine Verbindlichkeit schuldig bin. Ich freue mich, wenn ich bedenke, daß mein jetziges Betragen zweideutig hätte scheinen müßen, wenn voriges Frühjahr auf meine so sehr gemäßigte Bitte, welche Ihr Herr Vater zu besorgen übernahm, die geringste Bewilligung von Unterstützung erfolgt wäre." Forster 42 43

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Vgl. ebenda, S. 198, 207. AAW Berlin, I—III—4, fol. 306 (Konzept); Harnack, a. a. O., Bd. 2, S. 326f. (Ausfertigung); vgl. auch Oncken, a. a. O., S. 102f.; Steiner, Jacobiner, S. 692f. Zit. nach Steiner, Jacobiner, S. 688; Ulrich Joost, Die Respublica litteraria, der gelehrte Zunftzwang und ein Beispiel wahrer Liberalität, in: Göttinger Jahrbuch 1979, Folge 27, S. 159—175.

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würdigte in Hertzberg „den rechtschaffenen Mann und den Freund der Wißenschaften, denn in dieser doppelten Rücksicht habe auch ich nur Unterstützung verdienen können und wollen". Forster hoffte in bezug auf Hertzberg: „. . . wenn er es näher in Betrachtung wird gezogen haben, wird es ihm selbst einleuchten, daß politische Grundsätze und Glaubensbekenntniße auf die persönliche Rechtschafenheit, den Charakter und die Tugend eines Mannes nur insofern Beziehung haben, als er sich selbst getreu bleibt oder nicht. Was ich über ihn in den Erinnerungen geschrieben habe, ist aus wahrer Überzeugung gefloßen." 4 5 Was die „voriges Frühjahr" von Forster geäußerte „sehr gemäßigte Bitte" betrifft, so ging es ihm dabei um eine Unterstützung des preußischen Königs für die Edition seiner Pflanzenbeschreibungen von seiner Weltreise mit Cook. Die Bemühungen verliefen ergebnislos. Ebensowenig wurde damals sein Hinweis auf die noch ungedruckten „Beschreibungen von Thieren", die J. R. Forster besaß, aufgegriffen. 46 ' In dieser Frage hat erst viele Jahrzehnte später das Berliner Akademiemitglied Hinrich Lichtenstein die Initiative ergriffen, der in einem Gutachten vom 10. Dezember 1838 die Edition der vier Manuskriptbände der Forsterschen Tierbeschreibungen — „ein wichtiger Schatz" — anregte. „Forsters Beschreibungen sind in den meisten Fällen schärfer und vollständiger als die modernen und eine sehr große Zahl seiner Arten sind noch von niemand wiedergesehn", konnte Lichtenstein mehr als 60 Jahre nach Abschluß der Weltreise schreiben. 47 Die Edition wurde von Lichtenstein auf Kosten und im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorbereitet und erschien 1844 4 8 Es mußten noch mehr als 100 Jahre vergehen, bevor die Akademie in Berlin 1958 auf Initiative von Gerhard Steiner mit der Herausgabe der Werke Georg Forsters begann. Die Forsterrezeption der Akademie der Wissenschaften der D D R umgreift mit den Arbeiten ihpes Mitglieds Heinrich Scheel über die Mainzer Republik aber auch das politische Wirken Georg Forsters, des bedeutenden Wissenschaftlers und hervorragenden Revolutionärs, der einen Ehrenplatz unter den Mitgliedern dieser Akademie einnimmt.

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Briefe an Voß, S. 201—205. Vgl. ebenda, S. 107f., 110, 112-115, 123-126. AAW Berlin, II-VII—65, fol. 50; vgl. auch II—V—111, fol. 34ff.; II—XVII-24, fol. 137ff. Ebenda, II—VII—65, fol. 57—65. Das Werk erschien unter dem Titel: Descriptiones animalium quae in itinere ad maris australis terras per annos 1772, 1773 et 1774 suscepto collegit, observavit et delineavit Joannes Reinoldus Forster. Nunc demum editae auctoritate et impensis Academiae litterarum Regiae Berolinae curante Henrico Lichtenstein, Berolini 1844, XIII, 424 S.

GEORG KNEPLER

Mozart in Mainz*

Die Stadt Mainz spielte in Mozarts Leben keine geringe Rolle. Jahre hindurch mühte sich Vater Leopold, ein Engagement Wolfgangs am Mainzer kurfürstlichen Hof zustande zu bringen, und dieser selbst schrieb — allerdings vielleicht nur, um seine damalige Liebe zu beeindrucken — von guter Aussicht auf eine solche Stelle (29. Juli 1778), was freilich alles zu nichts führte. Im späteren Leben jedoch hatte Mozart in Mainz eine Gemeinde von Freunden und Bewunderern, und das stand im Zusammenhang mit der bürgerlichen Revolte gegen die Adelsherrschaft, wie wir sehen werden. Der Mainzer Verleger Schott brachte schon 1782 Sonaten Mozarts, schon 1785 den Klavierauszug seiner Entführung auf den Markt, das Theater spielte seit den 80er Jahren mehrere Mozartopern, und im Jahre 1790 fügte es ein chronologisch-topologisches Zusammentreffen — wie ich es zunächst etwas unbestimmt sagen will —, daß Mainz einen Augenblick lang für Mozart einzigartige Bedeutung annahm. In Mainz aufgehalten hat sich Mozart in seinem kurzen Leben nur zweimal. Er war 7 1/2 Jahre alt, als die Familie Mozart, Vater, Mutter, Schwester Nannerl und Wolfgang, auf ihrer großen, dreieinhalb Jahre in Anspruch nehmenden Reise im August 1763 etwa 3 Wochen lang in Mainz Quartier nahm, Wolfgang mit seiner Schwester vier oder fünf Konzerte in Frankfurt und zwei in Mainz gab. Übrigens hatte Mainz damals schon eine Freimaurerloge. Fast Mozarts ganzes Leben verstrich, ehe er im Oktober 1790 zu fünftägigem Aufenthalt wieder nach Mainz kommen sollte, der Stadt, in der seit 1788 Georg Forster lebte und in der er bloß 15 Monate nach Mozarts Tod mit Gleichgesinnten die erste bürgerlich-demokratische Republik auf deutschem Boden gründen sollte, die sich vom 18. bis zum 31. März 1793 am Leben hielt. Wir haben keine Belege dafür, daß Mozart und Georg Forster einander je begegneten, obwohl 1790 dazu ebenso Gelegenheit und eine Begegnung ebenso wahrscheinlich war, wie sechs Jahre zuvor.

Mozart und Georg Forster, Wien 1784 Damals hielt sich Forster nämlich auf dem Weg nach Polen sieben Wochen lang, von Ende Juli bis Mitte September 1784, in Wien auf, wohin Mozart dreieinhalb Jahre zuvor gezogen * In Klammern stehende Daten beziehen sich auf Mozarts Briefe, eingeklammerte Zahlen auf die Seite des jeweils zitierten Werkes. K V = Ludwig von Kochel, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke Wolfgang Amadeus Mozarts, Leipzig 6 1969.

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war. In jedem Wortsinn nahe waren Forster und Mozart einander in jenen Wiener Sommerund Herbstwochen des Jahres 1784. Obwohl damals erst 30 Jahre alt, bloß 14 Monate älter als Mozart, war Georg Forster, ein Mann mit genialen Zügen, bereits hochangesehen als gelehrter und erfahrener Naturforscher, als Publizist und Zeichner und als Autor einer Darstellung von Kapitän Cooks zweiter Weltumseglung 1772—75, an der er mit seinem Vater teilgenommen hatte. Er lernte Dutzende von Männern und Frauen kennen, dem Adel, dem gebildeten Bürgertum, auch der Theaterwelt angehörend, aufklärerisch gesinnt zum großen Teil und freimaurerisch organisiert; sogar von Kaiser Joseph II., dem er seine CookMonographie gewidmet hatte, wurde er in Audienz empfangen. Wie klein und geschlossen diese Kreise waren, geht aus einem Vergleich von Forsters Wiener Tagebuch, das er minutiös führte und das Dutzende von Namen enthält, mit einer Subskriptionsliste zu drei Konzerten Mozarts hervor, die dieser einige Monate zuvor hatte zirkulieren lassen. Von den 176 in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien lebenden, hochgestellten Personen, die sich in Mozarts Liste eingetragen hatten, lernte Forster bestimmt 26, vermutlich aber 33 oder 34 — unvollständige Angaben und ungenaue Schreibweise der Namen lassen in manchen Fällen eindeutige Entscheidungen nicht zu —, also zwischen 15 und 20 Prozent dieser Konzertgäste kennen. Wie Forster damals dachte und fühlte, geht unter anderem aus einer TagebuchPassage hervor, die er „Samstag, 31. Julius (1784)" in Wien niederschrieb. Er war in einer „Frei Maurer Gesellschaft" gewesen, hatte dort mehrere Gesinnungsgenossen getroffen. Forsters Kommentar: „. . . eine Gesellschaft von 17 munteren, freundschaftlichen und unter einander durch Liebe und Freundschaft verbundenen Leuten, die den Samen der Aufklärung auszustreuen, Toleranz zu predigen, den Vorurtheilen Stirne zu bieten, und über alles freymüthig zu sprechen und zu denken gewohnt sind." Und dann folgen enthusiastische Worte über Ignaz von Born, einen angesehenen Geologen und Mineralogen, dessen Namenstag der Anlaß der Zusammenkunft war. Obwohl damals erst 42 Jahre alt und nur um 12 Jahre älter als Forster und kaum viel älter als die anderen, nannte Forster ihn „Vater unter lauter liebenden und geliebten Kindern". In diese Runde hätte Mozart gut gepaßt, und diesem Bunde sollte er auch bald angehören: am 14. Dezember 1784 wurde Mozart in die Loge „Zur Wohltätigkeit" aufgenommen, drei Monate nach Forsters Aufnahme. Aber Forster war schon einen Monat zuvor in eine andere, weit vornehmere Loge, in die „Zur wahren Eintracht" aufgenommen worden. Ihr „Meister vom Stuhl" war niemand anderer als wiederum Born. Ihn, von dem man wohl zu Recht sagte, er sei das Vorbild für Mozart-Schikaneders Sarastro der Zauberflöte geworden, kannten die Mozarts schon seit ihren Salzburger Tagen Daß Born nicht Gelegenheit nahm — er sah Forster fast täglich; Forsters Wiener Tagebuch enthält Borns Namen mehr als achtzigmal — zu sagen: „Höre er, Bruder Forster, er muß Mozart kennenlernen!", dürfte seine Erklärung darin finden, daß man Mozart damals, obwohl auch seine Entführung, seit Juli 1782 auf dem Repertoire des Burgtheaters, sehr erfolgreich war, vor allem als Klaviervirtuosen kannte. Was für eine Art von Musik Mozart zu komponieren sich anschickte, konnte Born damals ebensowenig wissen wie die anderen Gesinnungsgenossen. Und so kam es wahrscheinlich, daß Forster, der sich durchaus auch für Musik interessierte, Mozart nicht kennengelernt hat, obwohl die beiden vermutlich mehr als einmal unter einem Dach waren; bestimmt am 23. August, als beide im Burgtheater die erste Aufführung von Paisiellos II re Teodoro besuchten. — Mit Forsters Abreise aus Wien trennten sich die Lebenswege der beiden Männer, um erst sechs Jahre später in Mainz, und das nur auf wenige Tage, einander wieder näherzukommen. Gegenstand der vorliegenden Studie soll die Untersuchung sein, ob die beiden während Mozarts Mainzer Aufenthalt einander geistig noch so nahe waren wie in Wien. Welthistorische

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Ereignisse waren zwischen 1784 und 1790 eingetreten. Wie Forster auf sie reagierte, ist durch seine Schriften und seine führende Rolle in der Mainzer Republik bezeugt. Mozarts Reaktion liegt nicht auf der Hand. Da muß die Primär-, aber auch die Sekundärliteratur konsultiert werden.

1. Zur Quellenerschließung und Rezeptionsgeschichte Beider Männer gesammelte Werke sind in vorzüglichen Ausgaben zugänglich. Die Gesamtausgabe von Mozarts Kompositionen, vorbildlich redigiert und mit ihren geradezu unentbehrlichen Vorworten und kritischen Berichten, ist mit etwa 90 Bänden nahezu abgeschlossen (1955 ff.). Schon 1961 hatte Otto Erich Deutsch Mozart, ßie Dokumente seines Lebens herausgebracht; seit 1975 gibt es die voll erschlossene und kommentierte Ausgabe der Briefe und Aufzeichnungen, auch ein wichtiger Bildband (Deutsch 1962) liegt vor. Ebenso günstig steht es mit der Erschließung der Schriften, Tagebücher und Briefe Forsters, seit die (in der D D R 1958 begonnene, heute beinahe abgeschlossene) 20bändige Gesamtausgabe existiert; seit Forsters Wirken bei der Vorbereitung und Durchführung der Mainzer Republik belegt ist durch zwei monumentale kommentierte Dokumentarbände, vorgelegt von dem Mann, dem diese Zeilen gewidmet sind (Scheel 1975, 1981), und damit dem „beklagenswertefn], aber nicht beklagte[n]" „elenden Zustand" der Quellenerschließung — geschuldet einer in der BRD beheimateten „besonders penetrant reaktionären Grundhaltung" zur Mainzer Republik (Scheel 1975, 9 und 10) — ein Ende gesetzt ist; seit, neben anderen, die wissenschaftlich gearbeitete Biographie Forsters von Gerhard Steiner (1977) vorliegt.' Forsters Lebensweg von einem der Aufklärung sich verpflichtet fühlenden Naturforscher zum Revolutionär ist mit allen Zweifeln, Rückschlägen und Umwegen deutlich zu verfolgen. — Kompliziert steht es mit der Sekundärliteratur zu und um Mozart. Schon 1970 waren mehr als 6500 Schriften belegt (Angermüller/Schneider 1976), und die Flut ist seither nicht abgeflaut. Man kann nicht sagen, daß durch diese Berge von Wissen und Darstellungen, Problemerörterungen und Deutungen der Weg der Erkenntnis immer näher an den großen Mann herangeführt hätte. Zwar sind manche der Sorgen, die Mozart-Kenner mit der älteren Mozartliteratur hatten, ausgeräumt; niemand wird heute mehr Mozart als geistreich galanten, verspielt graziösen Rokokomusiker hinstellen (wie manche ältere Biographen und das Wiener Mozart-Denkmal es taten) oder nach dem Klischee des ewig lächelnden Sonnenjünglings. Zwar stehen ernst zu nehmende Mozart-Biographien und -Monographien zur Verfügung, sorgfältig gearbeitet und aufschlußreich in verschiedener Hinsicht, wenn auch fast jede in anderer und keine in jeder. Dem steht entgegen, daß die lrühbürgerliche Weltsicht, eine peinliche Erinnerung an Jugendsünden, vom historisch perspektivlosen bürgerlichen Denken von heute als überholt hingestellt wird. Ohne Verständnis jedoch für die Potenzen, Hoffnungen, Utopien der Aufklärung bleibt Mozart ein Rätsel. Geht man der Geschichte dieses Unverständnisses nach, führt die Spur auch zu sonst hoch zu schätzenden Werken der Mozartliteratur wie Aberts W. A. Mozart (1919—21). In einem Kapitel dieses Werkes (II, 1—36), das der Autor Mozarts Persönlichkeit nennt, verstrickt er sich bei der Stützung der These, daß wir Mozarts Persönlichkeit durchaus verkennen, „wenn wir ihre treibende Grundkraft anderswo suchen als im künstlerischen Schöpfertrieb" (II, 2), in ausweglose — und durchaus überflüssige — Widersprüche. Dieser Schöpfertrieb bedürfe nach Abert „keiner Anregung von außen" (ebenda), was angesichts der Begierde,

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mit der Mozart jeden Anstoß von außen aufnahm — wie auch von Abert selbst wiederholt klug dargestellt —, eine unglückliche Formulierung ist, um es gelinde zu sagen. Nicht gelinde will ich Aberts Wagnis zurückweisen, den für Mozart grundlegenden Gedanken, daß es nicht auf Rang und Stand, sondern auf Herz und Verstand ankomme, daß Menschen prinzipiell gleich sind, mit der wegwerfenden Bemerkung abzutun, es handle sich da um gelegentliche „demokratische Ergüsse, wie sie das damalige Bürgertum gerne im Munde führte" (II, 13)! Als ob er merkt, daß er sich auf schwankendem Boden bewegt, sucht Abert seine Auffassungen mit Hilfe des verunglückten Versuchs zu stützen, Vater Leopolds Vorliebe für „Politik" — die in Aberts Darstellung so ziemlich mit dem zusammenfallt, was man „Berechnung" nennt — zu unterscheiden von Mozarts Haltung, der die Menschen unpolitisch so nähme, wie sie eben seien; „er untersucht sie vor allem nicht auf Gut und Böse". Ist es möglich, daß Abert nicht bemerkt hat, daß zum Beispiel Mozarts Opernfiguren eben doch auf Gut und Böse hin „untersucht" und musikalisch entsprechend behandelt worden sind? Man wird doch wohl auch sagen müssen, daß Mozart den Grafen Arco, der ihn die Treppe hinunterwarf, oder den Erzbischof von Salzburg, den er „bis zur raserey" haßte (12. Mai 1781), nach moralischen und politischen Gesichtspunkten und aus guten Gründen für schlecht befunden habe. Aber Mozart sei nun einmal nach Abert „nie ein Politiker gewesen", was sich schon aus der bezeichnenden Tatsache ablesen lasse, „daß das bedeutendste politische Ereignis, das er erlebt hat, die französische Revolution, in seinen Briefen überhaupt mit keinem Worte erwähnt wird!" (II, 12). Diese Feststellung, obwohl sie zutrifft, beweist nicht, was sie beweisen soll. Auch über die Freimaurerei', deren Bedeutung für Mozart Abert selbst herausarbeitet, steht — buchstäblich — nicht ein einziges Wort in den Briefen, und Mozart hätte drei- bis viermal mehr Zeit gehabt, auf sie brieflich zu reagieren, als auf die Französische Revolution. Die Mozarts, die, wenn es um heikle Dinge ging in ihrer Korrespondenz, jahrelang eine Geheimschrift verwendeten, sich darüber Sorgen machten, daß ihre Briefe in unbefugte Hände kommen könnten oder gekommen waren, wußten genau, was sie der Post anvertrauen konnten, was nicht. Das hätte Mozart gerade noch gefehlt, sich in einem unverschlüsselten Brief interessiert an der Französischen Revolution zu zeigen, womöglich noch mit ihr sympathisierend! — Nein, Aberts Darstellung von Mozarts Persönlichkeit ist eine Apologie; sie nimmt Mozart vor dem Verdacht in Schutz, er habe sich auf weltanschauliche, wohl gar politische Fragen eingelassen. Verständlich wird Aberts Haltung erst, wenn man sie aus der gefährdeten Ideologie des Bürgertums aus der Zeit vor, während und nach dem ersten Weltkrieg begreift, dem außerdem die Angst vor der Revolution in Rußland und ihren möglichen Folgen in den Knochen stak. Was zu Aberts Zeiten als Tugend galt, nämlich „sich nicht für Politik zu interessieren" und auf solche Weise bestehende Klassenverhältnisse zu stützen, vermeinte er in Mozarts Haltung zu entdecken. Aber Tugenden dieser Art waren nicht die Mozarts. Daß Wolfgang Hildesheimer, in seinem Mozart (1977) die überfallige Zertrümmerung mancher Legenden und Klischees elegant durchführt, nimmt man mit Amüsement zur Kenntnis und mit Beschämung (daß sie nämlich nicht innerhalb der Zunft erfolgte, zu der man gehört). Aber leider werden von ihm zwei der hartnäckigsten und am tiefsten in die spätbürgerliche Ideologie verstrickten Legenden nicht nur unbeschädigt gelassen, sondern bekräftigt. Sie schlagen sich bei Hildesheimer in zwei prominent herausgestellten Formulierungen nieder. Die eine, allgemeiner Natur, lautet, Musik lasse „keine außermusikalische Begrifflichkeit zu" (17). Das gehört zum stehenden Repertoire der bürgerlichen Musikwissenschaft und scheint in einer Phase, in der die poststrukturelle Literaturtheorie sogar dem literarischen Text die Fähigkeit adäquater Repräsentation der Realität prinzipiell

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abzusprechen sucht, noch plausibler, wird aber dadurch nicht richtiger. N u r mit größten Schwierigkeiten, auf die Hildesheimer sich gar nicht einläßt, ließe sich bestreiten, daß Musik ein Zeichensystem ist. Und ein Zeichensystem ohne Begrifflichkeit hat noch keiner entdeckt; es kommt nur darauf an, den Typus seiner Begrifflichkeit und die Spezifik seiner Codierungsweise zu erschließen. Die andere Formulierung Hildesheimers lautet: „Mozarts Reaktionen auf seine Lebensumstände und Seelenzustände, wie sie sich uns dokumentarisch darbieten, werden durch sein Werk nicht beleuchtet" (8). D a r a n ist richtig, daß traditionelle Methoden in der Tat die Zusammenhänge zwischen Lebensurnständen, Seelenzuständen und Werk nicht oder kaum herauszuarbeiten verstanden haben. Hildesheimer aber, den Geniebegriff mystifizierend, macht aus den Begrenzungen traditioneller Methoden prinzipielle Schranken der Erkenntnis. Zu den schlimmen Folgen derartiger Verfahren gehört es, daß Vorstellungen von der Losgelöstheit des Genies von der Gesellschaft Breitenwirkung gewinnen. Einig sind sich die meisten Darstellungen Mozarts, die gelehrten und die unwissenden, geschriebene und in Stein gehauene, literarische, theatralische und filmische, in einem: G a n z in der Musik lebend, sei Mozart jenen Ereignissen gegenüber, die Georg Forster zum Revolutionär machten, gleichgültig gewesen. M a n nehme den 1984 herausgekommenen Film Amadeus. Hervorragende H a n d h a b u n g filmischer Möglichkeiten und glänzende schauspielerische Leistungen machen seinen Publikumserfolg verständlich. D a ß aber in diesem Film das späte 18. Jahrhundert zwar in prächtigen Kostümen, Interieurs, Ball- und Theaterszenen lebendig wird, daß aber auch nicht mit einem Wort oder einem noch so kurzen Filmbild die christlichfreimaurerischen Lebensmaximen zum Sprechen kommen, die Mozart bewegten; daß jener Amadeus, der sich da — in an sich grandioser Leistung — auf der Leinwand bewegt, weder Christ noch Freimaurer sein kann; daß die sorgsame Aussparung des Aufklärungskomplexes ein Ziel hat, nämlich die Verantwortungslosigkeit des Künstlers gegenüber der Gesellschaft zu verklären; daß es sich also, rundheraus gesagt, um eine virtuose Verfälschung der Figur Mozart handelt, das merken nur wenige. Aber es gibt durchaus Ansätze zu tieferem Verständnis. In der deutschsprachigen Literatur kaum zur Kenntnis genommen worden ist die kluge, kenntnis- und ideenreiche Monographie Wolf gang Amadeus Mozart von Jean und Brigitte Massin (1959, französisch). In der B R D ist beispielsweise kürzlich eine verständnisvolle, aufschlußreiche Arbeit von Wolfgang Ruf zum Figaro (1977) erschienen; in der D D R die knappe Biographie von Fritz Hennenberg (1970), die Studie über die Figaro-Cavatine von Harry Goldschmidt (1973), der Zauberßöte-Auisa.tz von Friedrich Dieckmann (1981). — Neuerdings ist von unerwarteter Seite, von einem Physiker (Born 1985), die Notwendigkeit polemisch scharf herausgearbeitet worden, Mozart und seine Musik aus der bis in Einzelheiten hinein rekonstruierbaren historischen Situation zu begreifen, in der er wirkte. (Borns Versuch, Mozarts Musiksprache verständlich zu machen, ist leider trotz mancher treffender Hinweise unzulänglich, worauf hier nicht eingegangen werden kann.) Born hebt auch einen Satz aus einem Brief Mozarts hervor, in dem er sagt, er sei weder Poet noch Maler noch Tänzer und könne sich also in deren Medien nicht ausdrücken; „ich kan es aber durch töne; ich bin ein Musikus". Das (bislang kaum beachtete) Entscheidende an dem Satz ist, wie Born mit vollem Recht unterstreicht, daß Mozart dasjenige, was er nur durch Töne ausdrücken kann, präzise benennt — und zwar weder in den Gedankenbahnen seiner Zeit, die etwas von „ N a t u r nachahmung", „Affect" oder „Gemütsbewegung" hätten erwarten lassen, noch in denen seiner Deuter von heute, sondern — als „meine gesinnungen und gedanken" (7. November 1777)! Noch könnte man, will man unbedingt traditionelle Vorstellungen retten, „Ged a n k e n " interpretieren als „musikalische G e d a n k e n " , nicht aber das vorangestellte „Ge-

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sinnungen" als „musikalische Gesinnungen". Mozart spricht hier von seinen Überzeugungen, seinem in Musik umgesetzten Weltbild; wir werden das im Sinn behalten.

2., Einiges über Motivation Mozarts Leben fallt in die Zeit der größten produktionstechnischen, sozialen, politischen und gedanklichen Umwälzung, die die Menschheit bislang erlebt hatte. Ein Teilprozeß dieser Umwälzung war es, daß das Bürgertum in Europa und in Amerika dem Adel seine Hegemonie erfolgreich streitig machte. Diese Situation und diese Prozesse hat Mozart mit der ihm eigenen hypernervösen intuitiven Reaktionsfähigkeit erfaßt. Mit welchem Grad von Einsicht und Bewußtheit er es tat, läßt sich angesichts des Standes der Psychologie, deren Forschungsergebnisse und Termini nicht präzise genug sind, uns verstehen zu lassen, was genau unter „Einsicht", was vor allem unter „Bewußtheit" jeweils gemeint ist, nicht entscheiden. Offenbar gibt es verschiedene Grade von Bewußtheit; gesellschaftlich determinierte Haltungen und Handlungen sind nicht notwendigerweise von verbalisierbaren Einsichten begleitet. (Vergleiche dazu Pfeiffer.) In Mozarts Kopf ging unaufhörlich Musik um, tagaus, tagein, während er sprach, aß, reiste, Billard spielte und vermutlich auch während er schlief. Nie hätte er sonst sein Riesenceuvre geschaffen. Und dieses „Umgehen" von Musik in seinem Kopf (übrigens eine Art von Mozartscher Vokabel) muß man sich gleichsam als handwerklichen Prozeß denken, in dem das Erfinden, Ausprobieren, Umkehren, Weiterentwickeln, Kombinieren von Motiven und Themen, das Ausdenken von Harmonien, Tonarten, Instrumentalfarben — alles dies in Wechselwirkung — vor sich ging, eine unaufhörliche Tätigkeit. Einer weitgehend akzeptierten Vorstellung zufolge habe diese Tätigkeit Mozarts Kopf und Nervensystem zur Exklusion von allem andern beschäftigt. Auf solche Weise geht geistige Produktion, auch geringere als Mozarts Komponieren, nicht vor sich. Ohne Motivation gibt es nicht einmal die elementarste Hirntätigkeit. Physiologisch gesehen hat man sich Motivation nicht etwa als zusätzliche Belastung des sowieso schon (etwa mit Komponieren) überbeschäftigten Hirns vorzustellen, sondern als unerläßliche Voraussetzung jeder Hirntätigkeit, bestehend aus hochkomplexen Schaltungen einer Vielzahl verschiedener Hirn- und Nervenzentren. „Motivationsmechanismen . . . sind nicht von Prozessen der Sensorik, Motorik, der Aufmerksamkeit und Aktivierung, des Lernens und der Emotionen" trennbar. (Birbaumer 1975, 196). Diese Motivationen muß man sich als Aktivierungsprozesse denken, die, von der Psychologie noch längst nicht voll verstanden, auf mehreren Ebenen des Bewußtseins vor sich gehen. Natürlich bilden auch Notwendigkeiten, wie die, Geld zu verdienen, einen Kompositionsauftrag zu erfüllen, für eine übermorgen stattfindende Akademie etwas Spielbares herzustellen, Motivationen. Aber die allein sind hier nicht gemeint. Gemeint sind vor allem die tiefersitzenden ethischen Motivationen. (Über den Zusammenhang von Motivation und Ethik siehe John Erpenbeck 1984, besonders 303 ff.) — Wenn es jemanden gab, der Mozart als musikalisches Genie ebenbürtig war, wenn es jemand gab, der ihn, trotz der 24 Jahre, die sie altersmäßig trennten, verstand, so war es Joseph Haydn. Und Haydn schrieb, im Januar 1792 aus London, als Mozart gestorben war, an einen Freimaurer, den sie beide kannten: „Ich war über seinen Tod eine geraume Zeit ganz außer mir und konnte es nicht glauben, daß die Vorsicht so schnell einen unersetzlichen Mann in die andere Welt fordern sollte. Nur allein bedaure ich, daß er nicht zuvor die noch dunklen Engländer darin hat überzeugen können, wovon ich denselben täglich predige. . . " Da weder 5

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Haydn noch Mozart in Worten zu predigen pflegten, wird hier etwas von den Motivationen des Musizierens der beiden greifbar oder — in Mozarts Worten — von ihren in Tönen ausgedrückten Gesinnungen und Gedanken.

3. Der lesende Mozart Nicht nur Abert und die Filmleute, die den Amadeus machten, auch die meisten seiner Biographen halten einen sich durch Lektüre informierenden Mozart für unvorstellbar. Auch Hildesheimer meint, daß das Zeitgeschehen, „soweit wir feststellen können, die Ebene seines Bewußtseins niemals erreicht" habe (23) und daß man sich Mozart als Leser, es sei denn Theaterstücke lesenden, kaum vorstellen könne (203). Aber alles das ist unfundiert, wie sich leicht nachweisen läßt. Zunächst haben wir Constanzes Zeugnis, «daß Mozart „gern las" (was fond of reading), und daß sie selbst, Constanze, damals 66jährig, neun Bände eines seiner Lieblingsautoren in ihrem Besitz habe und oft darin lese. Die Auskunft wurde Mary Novello erteilt, die 1829 auf der Suche nach Mozart-Erinnerungen mit ihrem Mann, dem Londoner Musiker und Verleger Vincent Novello, auf den Kontinent gekommen war. Mary Novellos Kommentar zur Auskunft über dieses Werk: „. . . aber da es in den österreichischen Landen verbotene Frucht ist, nannte sie den Titel nicht — ich habe den Verdacht, es war eines der französischen revolutionären Werke" (Novello 1829, 95). Unbegründet war dieser Verdacht nicht. Mary Novello wußte, daß Mozart wenigstens ein Stück eines französischen vorrevolutionären Autors sehr genau gekannt hatte; sie hätte auch in dem 41 Posten umfassenden Verzeichnis von Mozarts Büchern, das nach seinem Tod angefertigt wurde, weitere Anhaltspunkte für die Richtung, in der seine Leseinteressen lagen, finden können, obwohl mindestens ein Titel aus Mozarts Bibliothek in diesem Verzeichnis fehlte, eben die neun Bände in Constanzes Besitz! Rund die Hälfte der genannten Bücher sind Sammlungen von Gedichten, Theaterstücken, Anekdoten; nur zwei Bücher, sieht man von mehreren Bänden von Cramers Magazin der Musik ab, haben Musik zum Thema. Unter den andern befinden sich ein Geschichtswerk, eines über Philosophie, drei über naturwissenschaftliche Gegenstände, ein Buch über Charakter und Handlungen Josephs II., die hinterlassenen Werke Friedrichs II. Fünf Aufklärer sind vertreten (unter ihnen zwei Juden): Moses Mendelssohn, Alois Blumauer, Joseph von Sonnenfels, Salomon Geßner und Adolph Freiherr von Knigge. Wir haben keinen Grund anzunehmen, Mozart habe alle diese Bücher ungelesen gelassen — „da ziehe ich . . . ein buch aus meiner tasche und lese" (20. Dezember 1777), so pflegte er es schon in Salzburg zu tun, wie wir von ihm selbst wissen. Auch gab es in den Freimaurerlogen gute Bibliotheken. Aber selbst die verbreitete Meinung, Zeitungen habe er nicht gelesen, Tagesereignisse hätten ihn nicht interessiert, wird von Mozart selbst falsifiziert: „In Zeitungen habe ich aber nichts davon gelesen", schrieb er am 20. Juli 1778 dem Vater, nämlich über eine ihn beunruhigende Nachricht, derzufolge der Kaiser im Bayrischen Erbfolgekrieg in Lebensgefahr geraten sei. Und gleich wenige Zeilen später heißt es: „. . .in Zeitungen s t e h t . . . " und nun wieder eine Nachricht, die ihm nahegeht. Eingeleitet wird die 20 Zeilen umfassende Passage des Briefes mit den Worten: „Nun, was hören sie vom krieg? — ich war 3 täge her so niedergeschlagen, und so traurig — es geht mich zwar nichts an, allein ich bin zu empfindsam, ich interessiere mich gleich für etwas —". Die Stelle steht nicht isoliert. Die sehr genau lesenden Massins haben auf diese und andere Briefstellen hingewiesen. Schon Monate zuvor, am 7. Februar 1778, schrieb Mozart für seinen Vater acht Vierzeiler eines Spottgedichtes auf den Krieg ab, und als er während eines spanisch-eng-

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lischen Konfliktes über Gibraltar die (nicht vollendete) Kantate KV 386 d schrieb, beschränkte er sich nicht auf das kompositorische Interesse, sondern nahm Partei; er sei „Erz-Engelländer", teilte er dem Vater (19. Oktober 1782) mit, und „Mozarts lebenslange Vorliebe für die Engländer [war] . . . wie bei allen fortschrittlichen Zeitgenossen, politisch motiviert" (Born, 38). Im damaligen England — wo sogar die Mädchen, Blondchen in der Entführung zufolge, „zur Freiheit geboren" sind — hatten Bürger mehr Rechte errungen als sonstwo in der Welt.

4. Mozart und die Freimaurer „Der Gedanke an sein Maurertum durchdringt. . . sein ganzes Schaffen; viele seiner Werke, nicht bloß die ,Zauberflöte', sind maurerisch, ohne daß es-der Uneingeweihte ahnt." Diese Worte Alfred Einsteins (121) können als unbestritten gelten. In neuerer Zeit hat Katherine Thomson mit reichem Material diesen Zusammenhang belegt. So faszinierend es ist, dem nachzugehen, auch den Querverbindungen und Konflikten Freimaurermusiken — Kirchenmusiken, was uns hier beschäftigen soll, ist Mozarts soziale Position innerhalb der Freimaurerei. Es sagt nichts Eindeutiges über einen aus, daß er zu Mozarts und Forsters Zeiten Freimaurer war. Die Freimaurerei der Revolutionszeit ist (in Worten von Wolfgang Heise, 57) „sehr differenziert zu bewerten. In ihr organisierten sich heterogene Klassenkräfte. Deren Spektrum reicht vom Adelsklub über die Bildungsvereinigung des aufgeklärten Absolutismus — aus Reformadel, Hofbeamter und so weiter — bis hin zur Vereinigung von Avantgardekräften des Bürgertums, vor allem seiner Intelligenz zum Zwecke der gegenseitigen Solidarität, Geselligkeit, Bildung und Politik." Was Mozart zum Freimaurer machte, scheint vor allem sein Wunsch nach einer Art von Aktualisierung des christlichen Ideals von der Gleichheit aller gewesen zu sein. Damit aber, obwohl zu den Zielvorstellungen der Freimaurer gehörend, war es in der Praxis auch der Freimaurer nicht weit her. Ein jüngerer Zeitgenosse Mozarts, Ignaz von Seyfried (1776—1841), Komponist und Dirigent, vielleicht Mozarts Klavierschüler, schrieb einen Bericht, der zwar, aus dem Rückblick von 50 Jahren geschrieben, Ungenauigkeiten enthält, dem man aber doch entnehmen kann, daß (auch sonst oft beschriebene) Unterschiede bestanden zwischen nicht-vornehmen Logen, deren eine bezeichnet wird als „eine sogenannte Winkel- oder Freß-Loge, woselbst man sich in den wöchentlichen Abendzusammenkünften mit Spiel, Musik und den vielen Freuden einer wohlbesetzten Tafel" beschäftigt habe, auf der einen Seite und der „hochberühmten Born'schen" Loge auf der anderen, „welche Wiens erste Dignitäten und die Elite der damaligen literarischen Kaste" zu Mitgliedern hatte (Seyfried 471). Aber gerade Born kehrte 1786 der Loge und dem Freimaurerwesen den Rücken, und sein Rücktritt wird ähnliche Gründe gehabt haben wie der eines anderen Freimaurers in Hamburg, nämlich Lessings. Dieser war 1771, 42jährig, in eine Hamburger Loge eingetreten und war von dem, was er dort erlebte, bald darauf enttäuscht. In den späten 70er Jahren schrieb er Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer, in denen er Unterscheidung zwischen dem Drum und Dran und den Zielen wahrer Freimaurer trifft. „Ernst" spielt seinem Gesprächspartner vor, was Freimaurer an Ablehnungsgründen vorzubringen pflegen, wenn beispielsweise ein Jude, oder wenn ein Schuster — „wäre es auch ein Jakob Böhme und Hans Sachs" — um Aufnahme ansuchen; ein drittes Beispiel Emsts trifft genau Mozarts Situation: „. . . laß einen treuen, erfahrnen, versuchten Dienstboten kommen und sich melden — ,Ja', heißt es, dergleichen Leute frei5*

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lieh, die sich die Farbe zu ihrem Rocke nicht selbst wählen — Wir sind unter uns so gute Gesellschaft'." Auch Mozart, keine vier Jahre, bevor er in eine Loge aufgenommen wurde, durfte sich die Farbe zu seinem Rock nicht selbst wählen. „Ich wüste nicht daß ich kammerdiener wäre . . . ich hätte sollen alle Morgen so ein Paar stunden in der ante Camera verschlenndern", so Mozart (12. Mai 1781) an den Vater. Es wäre der Mühe wert, im Detail zu zeigen, daß die vornehmen Herrschaften unter den Wiener Freimaurern, Großgrundbesitzer, Industrielle, Bankiers, Mozart nicht als ihresgleichen behandelt haben, der gleichwohl seiner Maxime, ein „wahrer Bruder" zu sein, treu blieb.

5. Mozarts Wiener Lebensumstände Von den äußeren Lebensverhältnissen her gesehen präsentieren sich die (rund 11) letzten Lebensjahre, die Jahre, die Mozart in Wien lebte, als ein etwa die Hälfte dieser Zeit dauernder blendender Aufstieg, gefolgt von einem lebensbedrohenden Niedergang. Seit sich Mozart 1781, also 25jährig, nach kühnem und stürmischem Bruch mit seinem und seines Vaters Brotherrn, dem Erzbischof von Salzburg, in Wien als ein von seiner frei disponiblen Arbeit lebender Virtuose, Komponist und Klavierlehrer niedergelassen hatte, gab ihm sein Erfolg zunächst recht. Fünf Programmpunkte entwickelte er seinem Vater gleich in den ersten Monaten des Wiener Aufenthaltes (23. Januar 1782): eine feste höfische Anstellung; am besten beim Kaiser selbst; Klavierschüler; jährlich ein Opernaüftrag; jährlich ein öffentliches Konzert; schließlich auf Subskription gedruckte Kompositionen. Nicht alle Programmpunkte konnten erfüllt werden. Die feste Anstellung will und will nicht werden, auch nicht außerhalb Wiens; alles, was Mozart hierin erreichte, war, und auch das erst im Dezember 1787, eine Anstellung als „Kammermusikus" des Kaisers, was ihm 800 Gulden jährlich eintrug, einen Bruchteil dessen, was sein Vorgänger Gluck erhalten hatte, was die Hofkapellmeister Bonno und (nach ihm) Salieri erhielten oder was Primadonnen und Kastraten einzunehmen pflegten. An Opernaufträgen erhielt Mozart vom Hof in Wien nur vier in elf Jahren, und die Drucklegung der Kompositionen trug nicht viel ein. Besser ließ sich der Klavierunterricht an, freilich ein unsicheres und in den letzten Lebensjahren auch karger werdendes Brot und eine ihm nicht liebe Beschäftigung. Was Konzerte anging, war Mozart in den Jahren 1784 und 1785 außerordentlich erfolgreich. Je 20 Konzerte lassen sich nachweisen; es mögen mehr gewesen sein. Allein im März 1784 war Mozart 18mal in Adels- und Bürgerhäusern zu hören. Die Mozart-Literatur hat die Misere, die Mozart seit 1786/87 befiel, mit der Oberflächlichkeit und Wankelmütigkeit der Wiener, auch der Freimaurer, mit Intrigen italienischer Musiker, mit dem Unverständnis des Kaiserhauses zu erklären gesucht; man braucht die Wirksamkeit aller dieser Faktoren nicht in Abrede zu stellen. Aber der tiefste Grund für die Wende in Mozarts Wiener Schicksalen war politisch. „Der ,Figaro'", schreibt mit Recht Hildesheimer, „wurde zum Anfang seines Verderbs" (132). (Die Premiere der Hochzeit des Figaro fand am 1. Mai 1786 statt.) Daß ein Bedienter als Sieger gegen einen Herrscher hervorgehe — „das mochte die Wiener Aristokratie nicht" (ebenda). Auch Wolfgang Ruf (1977, 135 ff.) kommt zu ähnlichen Resultaten und sogar der konservative und sorgfaltig urteilende Paumgartner. Unübersehbar, daß die Zahl der Subskribenten für Akademien und Notendrucke, der Einladungen zu Privatkonzerten und der Schüler katastrophal abnahm. Die prächtige, mitten in der Stadt bloß wenige Schritte vom Stephansdom gelegene Wohnung, die in der Schulerstraße, müssen die Mozarts nach etwa 2 1/2 Jahren im April 1787 gegen

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eine in der Vorstadt Landstraße vertauschen, obwohl der Standortwechsel zumindest für die finanziell unentbehrlichen Klavierstunden ganz ungünstig war. Der Grund für die Übersiedlung — „das mag ich wohl errathen", schrieb Vater Mozart (11. Mai 1787): die Miete verschlang einen zu großen Teil des schwindenden Einkommens. Zwischen Sommer 1789 und der Abreise nach Frankfurt am 23. September 1790 richtete Mozart 12 Briefe an seinen Freund, den Tuchfabrikanten und Freimaurer Michael Puchberg, die sich wie Bettelbriefe lesen, obwohl Mozart keine Geldgeschenke erbat. Puchberg half zwar, aber fast regelmäßig mit kleineren als den erbetenen Beträgen, die er mit Zinsen zurückzuerhalten dachte und die ihm auch, nach Mozarts Tod, Constanze erstattete. So weit her mit der maurerischen Brüderlichkeit war es auch hier nicht. Ein Gesuch um Aufnahme in die Tonkünstler-Societät, schon im Februar 1785 gestellt und im März wiederholt, blieb unbeantwortet, mag sein deshalb, weil Mozart es unterlassen hatte, seinen Taufschein beizulegen. Ein Gesuch, nach Josephs Tod an das kaiserliche Haus gerichtet, ihn zum zweiten Hofkapellmeister und zum Klavierlehrer der kaiserlichen Familie zu machen, war gleichfalls erfolglos. Lediglich ein Gesuch, als unbezahlter Domkapellmeister-Assistent an der Stephanskirche wirken zu dürfen, wurde Mozart am,5. Mai 1791, genau sieben Monate bevor er starb, positiv beantwortet. — Diese Fülle von Enttäuschungen und Erniedrigungen läßt sich nicht, wie Born (115 f.) es versucht, mit dem Türkenfeldzug von 1788 erklären. Abgesehen davon, daß sie zum Teil vor 1788, zum Teil nachher lagen, fanden 1788 die von Mozarts „Gönnern" frequentierten Konzerte bei van Swieten statt, bei denen er zwar mitwirken konnte, aber nur als Bearbeiter Händelscher Werke und (vermutlich) als Dirigent. Immerhin brachte Mozart auch noch 1790 das Geld auf, einen Kuraufenthalt Constanzes in Baden zu bestreiten und einen Wagen anzuschaffen, in dem er mit seinem Schwager, dem Geiger Holzer, und einem Diener nach Frankfurt reiste, hoffend, anläßlich der Krönung Leopolds II. am 9. Oktober 1790 zu konzertieren. Aber im offiziellen Festprogramm, zu dessen Ausführung 24 Musiker aus Wien nach Frankfurt gebracht wurden und in dem Musik von nicht weniger als 8 Komponisten gespielt wurde, war Mozart nicht vertreten. Salieri war im Gefolge des Kaisers nach Frankfurt gekommen, Mozart um teures eigenes Geld. Seine Akademie fand zu einem ungünstigen Zeitpunkt statt, die meisten Gäste waren bereits abgereist, und so war es zwar „von Seiten der Ehre herrlich, aber in Betreff des Geldes mager" (15. Oktober 1790). In seinen Briefen, in Constanzes Mitteilungen nach Mozarts Tod und in der unter Constanzes Augen entstandenen und von ihr herausgegebenen Mozart-Biographie ihres zweiten Mannes, Georg Nikolaus von Nissen, ist immer wieder von Intrigen, Neidern und Feinden die Rede, von denen Mozart sich umgeben wußte. Und man vergesse nicht, daß er in seinen letzten Lebenswochen davon überzeugt war, man habe ihm nach dem Leben getrachtet, „gewiss, man hat mir Gift gegeben! Ich kann mich von diesem Gedanken nicht loswinden." Das hat nach Constanzes Zeugnis in Nissens Biographie (563) Mozart, an einem schönen Herbsttag des Jahres 1791 mit ihr auf einer Bank im Prater sitzend, gesagt. (Constanze und Nikolaus Nissen hielten den Verdacht für unbegründet; man sollte darin, meine ich, auch heute nicht allzu sicher sein; es braucht ja nicht Salieri der Giftmischer gewesen zu sein.) Aber nicht, ob Mozarts Verdacht zu Recht bestand oder nicht, daß er ihn hegte, muß uns beschäftigen. Die objektive Existenz einer feindlichen Wiener Umwelt zu dieser Zeit bestätigt die Nissen-Biographie ausdrücklich. Über Mozarts Rückkehr nach Wien im Sommer 1789 beispielsweise heißt es bei Nissen (536): „Er wußte, daß ihn hier Neid, Kabale mancherley Art, Unterdrückung, Verkennung und Armuth erwarten würden." Mit Intriganten und Neidern hätte Mozart schon fertig werden können — „wo habe ich sie . . . nicht gehabt?", schrieb er schon am 1. Mai 1778 —, nicht aber mit der Armut. Schuld an Mozarts

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Wiener Elend war, daß Hof, Adel, Klerus und Industrielle ihn fallenließen. Daß ihm sein „Schicksal . . . leider, aber nur in Wien . . . widrig" war, wie er, zwei Tage ehe in Paris die Bastille gestürmt wurde, schrieb (12. Juli 1780), bedarf einer Ergänzung: Seine Freunde außerhalb Wiens kamen vorwiegend, aus dem Bürgertum und der Intelligenz.

6. Werk und Welt Der Wiener Katastrophe standen wachsende Anerkennung in Prag, Frankfurt, Mainz, London und anderswo gegenüber und eine stupende Steigerung der Kreativität, besonders im letzten Lebensjahr, in dem Gipfelwerke entstanden. Die Zauberflöte, Titus, das Requiem, das Klarinettenkonzert, das letzte Klavierkonzert und das letzte Streichquintett, das Ave, verum corpus, dazu zwei Freimaurerkantaten, eine der hintergründigsten von Mozarts Stücken für eine Orgelwalze und eine ganze Reihe anderer Kompositionen, darunter mehr als drei Dutzend Tänze. In bezug auf die Schaffenskraft ist das Wort von der .„Unergründlichkeit" in der Tat am Platz; das Werk selbst hingegen ist bereit, vorurteilsloser Betrachtung seine Geheimnisse preiszugeben. Ein Vertiefungsprozeß der kompositorischen Verfahrensweisen von den Jugendwerken zu denen des Wiener Jahrzehnts hin, alle Gattungen erfassend und die Grenzen vokal — instrumental nicht achtend, ist festzustellen. Harry Goldschmidt hat vielfach gezeigt, welche Rolle Modelle aus (vokaler) Kirchenmusik in Instrumentalwerken, auch Mozarts, gespielt haben, wie die Worte von Vokalkompositionen deren Ritornelle bestimmen (1966, 1986), und er hat es wahrscheinlich gemacht (1985), daß eine ganze Gruppe von Werken der ersten Hälfte der 80er Jahre, Kammermusik, Klavierkonzerte, gedanklich, strukturell und manchmal auch prosodisch, mit Stücken aus der Entführung zusammenhängen. Daß das Streichquartett in D (KV 499) ein F/garo-Quartett ist, habe ich (1976) gezeigt, und ähnlicher Zusammenhänge gibt es die Fülle. Die Mozartforschung wird sich dieses Tatbestandes annehmen müssen. Auch ist noch nicht annähernd erschöpfend ausgearbeitet worden, wie in Mozarts Werk persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Einsichten einander durchdringen. Die Unbeständigkeit, Fragwürdigkeit, Doppelbödigkeit menschlicher Beziehungen zum Beispiel — zutiefst gesellschaftlich bedingt — hat Mozart Zeit seines reifen Lebens beschäftigt. Wenn er in seiner drittletzten Oper Cosifan tutte, 1790, von Eifersucht musiziert und von den die vier Hauptpersonen „zutiefst irritierenden und verstörenden", „geheimsten, aber vielleicht eigentlichen" Wünschen und Möglichkeiten ihrer eigenen Seele (Gerhartz 1984, 13), so steht Mozart als Mitwisser und Verstehender hinter ihnen. Wenn im Don Giovanni, 1787, ein adliger Übeltäter bestraft wird, was ganz im Einklang steht mit Mozarts politischer Konzeption, so schwingt doch auch Verständnis für die überschäumende Sinnlichkeit des Bestraften mit; Mozart war da kein Außenseiter. Ferner will beachtet und untersucht werden, daß Mozart bestimmte kompositorische Verfahrensweisen in seinem Riesenwerk nur je ein Mal anwandte; neue Einsichten bedurften jeweils neuer musikalischer Darstellungsmittel. Diese Entwicklungsprozesse, die alle nicht auf dem „rein musikalischen" Lieblingsweg der bürgerlichen Musikwissenschaft zustande gekommen sind, lassen sich verständlicherweise im Rahmen einer knappen Studie nicht einmal andeutungsweise darstellen. Wohl aber will ich zwei, drei Beispiele geben, die auf dem hier verfolgten Gedanken weg liegen. Im Frühling 1786 griff Mozart nach Beaumarchais' Figaros Hochzeit, einem Stück, das im zeitgenössischen Frankreich revolutionierend gewirkt hatte und wirkte und in Österreich auf der Bühne verboten war. Und es war seine Wahl. (In einem klugen französischen

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Fernseh-Spielfilm um Mozart lassen die Autoren da Ponte auf Mozarts Vorschlag, aus Beaumarchais' Stück eine Oper zu machen, antworten: „Mozart, er hat den Verstand verloren!") Umgekehrt — die Wahl besage wenig oder nichts — kann man, verschiedentlich nuanciert und getönt, in Mozartbiographien lesen, bei der Umwandlung von Beaumarchais' Stück in ein Libretto habe da Ponte es verharmlost und entpolitisiert. Aber abgesehen davon, daß die Wahl selbst Zeugniskraft hat — sie galt ja dem nichtpurgierten Original (vielleicht lernte er es durch Schitzaneder kennen) —, stimmt die tradierte Meinung nicht, das Libretto habe die Brisanz des Stückes verloren. Diese Brisanz liegt nämlich nicht allein in scharfen Sentenzen und Dialogen, deren einige in der Tat in die Oper nicht übernommen wurden; sie liegt in der Art, in der die Figurenkonstellation gehandhabt ist. Bei einem eingehenden Vergleich zwischen Stück und Libretto kam Wolfang Ruf zu dem Ergebnis, daß die „Polarisierung zwischen den Klassen" bei da Ponte sogar noch „schärfer akzentuiert" ist als bei Beaumarchais (90) und daß „wenigstens bei einem Großteil des Librettos von einer substantiellen Umformung des tendenziösen Grundgehalts des Originals nicht gesprochen werden kann" (84). Das zeigt vor allem die Musik. Mindestens zwei Erst- und Einmaligkeiten stehen in der Figaro-Partitur. Die eine: Die Peripetie des Stückes, jene Szene im Finale des zweiten Aktes (Nr. 16.3), in der der Graf seine erste Niederlage hinnehmen muß, ist kompositorisch so angelegt, daß Musik die wechselvolle, komplizierte Handlung in Form und Technik eines voll ausgeführten Sinfoniesatzes darstellt und kommentiert! Das hatte es nie zuvor gegeben. Noch wichtiger-die andere Erstmaligkeit: Mozarts „Compositionswissenschaft", die Haydn an ihm rühmte (16. Februar 1785) und die unter anderem darin bestand, daß er „so ziemlich . . . alle art und styl von Compositions annehmen und nachahmen" konnte, wie er selbst es formulierte (7. Februar 1778), wird im Figaro darangesetzt, Figuren, die aus unterschiedlichen Klassen (öder sozialem Milieu) kommen, unterschiedliche musikalische Behandlung zuteil werden zu lassen: den gräflichen Kreaturen hat Mozart Operabuffa-, dem Grafen quasi Opera-seria-Stil, dem Cherubino einen leicht ironisierten gefühlshaft-ariosen Liedstil zugeteilt; für Figaro und Susanna aber — zu denen, was ihrer Herkunft nach seine Richtigkeit hat, auch die Gräfin gehört —, für diejenigen also, die ihren „reichthum . . . im k ö p f haben, die „niedrig, arm und schlecht sind" (7. Februar 1778), hat Mozart — wie anders könnte er seine Parteinahme formulieren als musikalisch? — eine herb-anmutige Musik geschrieben, die „höher", reicher und komplexer ist als die des Vornehmen und die in kein überkommenes Schema paßt. Der Figaro markiert den Schritt von der Verbrüderungsideologie der Freimaurer zur Klassenkonfrontation der vorrevolutionären Phase. „Zwei Jahre nach dem Bastille-Sturm und dem siegreichen Aufstand der belgischen Stände gegen die Diktatur Josephs II., ein Jahr nach dem Tod dieses despotischen Freiheitsbringers und dem Regierungsantritt seines Bruders Leopold, mitten in der von Adel und Klerus erzwungenen teilweisen Aufhebung der Josefinischen Reformen" (Dieckmann, 93), schrieb Mozart die Zauberflöte, die am 30. September 1791 auf die Bühne eines Wiener Vorstadttheaters kam. Zeitgenossen verstanden oder ahnten, daß hier Aktuelles im Spiel war. Noch Franz Schuberts Freund Leopold von Sonnleithner, der von seinem Vater Ignaz (geb. 1770) sagen konnte (Deutsch 1966, 393), er sei „mit Mozart, Haydn und Beethoven befreundet" gewesen, sah das Werk als eines von „Freunden des Fortschritts" mit der Absicht verfaßt, „eine Demonstration zugunsten ihrer Partei und des dieselbe leitenden Freimaurer-Ordens zu machen", „die Gegner aber dem Mißtrauen und der Verachtung" preiszugeben (Sonnleithner, 112; siehe zu diesem Komplex Dieckmann). Dieses Wunderwerks Erst- und Einmaligkeit besteht in dem Geniestreich, die makellos gewahrte musikalische Atmosphäre

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der Wiener Volks- und Zauberkomödie zu amalgamieren mit den höchstentwickelten Formen und Techniken: Fuge, Choralvariation, Sonatenhauptsatz. Von Mozarts eigener Lebenssphäre her gesehen markiert das Werk den Übergang von den vornehmen Freimaurern zu denen der Theaterwelt (Schikaneder); soziologisch gesehen vom aristokratisch-großbürgerlichen Publikum zum plebejischen; politisch gesehen von der noch friedlichen Klassenkonfrontation des Figaro zur bewehrten (unter anderem mit Posaunen): Die Aufklärer sind Kämpfer geworden.

7. Mozart und Forster, Mainz 1790 Rund acht Monate, ehe er mit der Komposition der Zauberflöte begann, kam Mozart am 16. Oktober 1790 mit dem Marktschiff aus Frankfurt (auf dem gleichen Wege, auf dem er es 27 Jahre zuvor verlassen hatte) nach Mainz. Seine Reisebegleiter waren der 20jährige Heinrich Anton Hoffmann, den Mozart „in Krans Weinstube in Frankfurt bereits kennen gelernt hat, und der ein glühender Verehrer Mozarts war" (Gottron 1952, 43), und sein um ein Jahr älterer Bruder Philipp Carl. Die Brüder waren Jus- und Philosophiestudenten an der Mainzer Universität gewesen und machten, als ihr wohlhabender Vater 1789 starb, aus ihrer Musikliebhaberei einen Beruf; Heinrich Anton war 1790 Geiger an der Hofkapelle geworden (und in dieser Eigenschaft kam er mit der Mainzer Hofkapelle zur Krönung nach Frankfurt, wo er vermutlich auch an Mozarts Akademie teilnahm; er war oder wurde später Freimaurer und komponierte Freimaurergesänge). Philipp Carl war Pianist, beide musizierten mit Mozart im Mainzer elterlichen Haus; möglich, daß sie auch bei Mozarts Konzert am Hof mitwirkten, das am 20. Oktober stattfand und, wie so oft, finanziell „mager" (23. Oktober 1790) ausfiel. Öfter als sonstwo, mit Ausnahme von Wien, kamen Mozarts Opern auf die Mainzer Bühne: schon 1783 Entführung, 1789 gleich drei: Giardiniera, Giovanni und Figaro und 1791 — wovon man Mozart wohl Mitteilung gemacht haben wird — Cosi, alle in deutscher Sprache. Diese auffallig intensive Mozartpflege stand im Zusammenhang mit den Bemühungen Mainzer Bürger und Theaterleute, dem Theater, obwohl es natürlich ein Hoftheater war, durch Spielplangestaltung und andere Maßnahmen den Charakter eines bürgerlichen Nationaltheaters zu geben, wie Gerhard Steiner (1973, 34 ff.) eindringlich beschreibt. Iffland pries die dabei schnell erzielten Erfolge, die er vor allem dem in Mainz „so lebendig erwachten Kunstsinn" zuschrieb (37). Dem Bericht eines Theaterbesuchers vom Sommer 1791, bloß Monate nach Mozarts Mainzer Aufenthalt geschrieben, ist zu entnehmen, daß „die entfernteste Anspielung, die im Schauspiel auf den Adel vorkommt, . . . von dem Parterre und selbst den letzten Plätzen mit einem Beifall ausgezeichnet [wird], der die Gesichter in den Logen nicht selten mit Blässe und Röte überzieht". Wir wissen nicht, ob Mozart das Mainzer Theater besucht hat und, wenn ja, ob er Die Sonnenjungfer gesehen hat; zumindest ein zauberflötischer Satz daraus hätte ihm bestimmt gefallen: der Oberpriester spricht die Worte: „Glaube mir, Sohn, wenige Menschen stehen an ihrem Platze, und am wenigsten dann, wenn die Geburt ihn anweist." Alle Hände, „die nicht dem Adel und seinen Dienern gehörten", seien nach diesem Satz in Bewegung gewesen, entnimmt man dem zitierten Bericht (38). Im Ensemble dieses Theaters hatte Mozart „begeisterte Freunde" (Gottron 1952, 37); zumindest zwei von den Sängerinnen, sie waren auch in Mozartrollen aufgetreten, schätzte er außerordentlich. Und der Mainzer Theaterdichter, der den Giovanni ins Deutsche übersetzt hatte, Heinrich Schmieder mit Namen, war, wie aus seinem Verhalten nach der Mainzer Revolution hervorgeht, ein Sympathisant der demokratischen Verände-

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rungen. Er gehörte zu den wenigen Theaterleuten, die nach der Revolution in Mainz verblieben ; in einem Schreiben an den damals für das Theater Verantwortlichen schrieb er, er und andere hätten es auf sich genommen, „von der Bühne herab durch anschauliche Darstellungen großer Handlungen [der Nation] Geist zur Freiheit noch mehr anzufeuern und statt des hier abgegangenen kurfürstlichen Theaters ihr ein National-Bürgertheater zu verschaffen" (Steiner 1973, 51). Gewohnt hat Mozart im (nachmaligen) „Arnsberger H o f , Schustergasse 45, das damals zwar „Caffé Noble" hieß, aber dennoch ein bescheidenes Quartier war, das er aber „wohl mit Bedacht gewählt [hatte], denn ihm gegenüber stand d a s . . .,Kasino zum Gutenberg'. . ., worin auch die Räume der Lesegesellschaft sich befanden, die der Reiseführer von Krebel / den Mozart in seiner Bibliothek hatte / als die besteingerichteten in Deutschland nennt. ,Ihre Versammlungszimmer stehen von 9 Uhr früh bis 10 Uhr abends offen. Fremde können durch Mitglieder eingeführt werden.' Das mußte Mozart natürlich sehr angenehm sein . . ." (Gottron 1952, 47). Wir können annehmen, daß der Komponist des Figaro, der sich schon angesichts des Krieges 1778, dessen Ländertausch- und Grenzkonflikte ihn nun wirklich nichts angingen, als „zu empfindsam" bezeichnete, um sich nicht für ihn zu interessieren (siehe S. 66), gegenüber den Anfangen der Französischen Revolution, die mit dem Widerstand gegen Adelsprivilegien begann und mit dem Druck auf den König, die Zähmung des Adels zu seiner Sache zu machen, nicht gleichgültiger war als die meisten seiner denkenden Zeitgenossen. In der Lesegesellschaft lagen Zeitungen, auch solche aus Frankreich, aus, auch Magazine, „Museen" und ähnliches; auch „Tee, Schocolade, Kaffe, Mandelmilch, Limonade und Punsch" (Prüsener, 207) wurden gereicht. Politisch interessierte Männer (keine Frauen), in ihrer sozialen Zusammensetzung ähnlich der der Wiener Freimaurerlogen, frequentierten die Lesegesellschaft. In Wien hingegen hatte man sich zwar über die Anfange der Revolution in den zahlreichen Zeitungen, die unter Joseph II. zugelassen worden waren, informieren können — mehr als dem Kaiser und seinen Ministern lieb war —, nicht aber über deren weiteren Verlauf und schon gar nicht über Erhebungen der Bauern in Gegenden des Deutschen Reiches, in Ungarn und Böhmen, seit der Polizeiminister am 23. Januar 1790 ein Circulare erließ, das alle Zeitungen im Land strikter Zensur unterwarf (Wangermann, 48 f.). Nun aber befand sich Mozart außerhalb der Reichweite der Wiener Zensur. In Mainz war Mozart Frankreich — und interessanten Zeitungen — näher, als er es seit dem Ausbruch der Französischen Revolution gewesen war. (Diese beiden Faktoren konstituieren das „chronologisch-topologische Zusammentreffen", von dem eingangs die Rede war.) Mozart war mit keinem größeren Kompositionsauftrag beschäftigt; Gottron meint (52), er könnte das auf der Reise begonnene Stück für eine Orgelwalze (KV 594) zu Ende gebracht haben, was ihn nicht sehr aufgehalten haben wird; auch die eine oder andere Kirchenorgel könnte er gespielt haben. An Konzerten, die in der Familie Hoffmann mitgerechnet, gab es nur zwei oder drei. Ich komme zu dem Schluß, daß Mozart die Räume der Mainzer Lesegesellschaft aufgesucht hat. Eingeführt könnte ihn der Intendant des Hoftheaters Friedrich Carl von Dalberg haben, der schon 1781 Mitglied der Lesegesellschaft war, wenn Mozart, als ein bei Hofe verkehrender Musiker, einer Einführung überhaupt bedurfte. Georg Forster wird Mozart in der Lesegesellschaft kaum getroffen haben; den dort verkehrenden Herrschaften war Forster politisch entwachsen; er mied sie. Hingegen pflegte er in einem kleinen Kreis von Freunden „fast täglich eine Abendstunde an seinem Teetisch" zuzubringen; ferner trafen sich in seinem Haus Besucher „jeder Nation, deren kein Gebildeter nach Mainz kam, ohne Forster aufzusuchen" (Forster, Briefwechsel I, 66). So verwunderlich es ist, es sieht so aus, als hätten Mozart und Forster einander auch diesmal verfehlt.

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Forster muß den in Mainz hochberühmten Mann zumindest dem Namen nach gekannt haben, außerdem könnten Doris Stock (1760—1832), die erst im April 1789 in Dresden eine sehr charakteristische Zeichnung Mozarts angefertigt hatte, und ihr Verlobter, der Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber (1764—1804), der als Legationsrat in Mainz lebte und ein enger Freund Forsters war, eine Verbindung zustande gebracht haben. (Die durch Huber ausgelöste Ehekrise der Forster führte erst Jahre später zum Bruch.) Wie auch immer, wir können leicht rekonstruieren, daß Mozart und Forster einander auch diesmal gut verstanden hätten, wären sie zusammengekommen. Forster war erst vor wenigen Wochen von einer großen Reise nach Mainz zurückgekehrt, die ihn in tief aufgewühlte Regionen Europas gebracht hatte; er war gerade mit der Niederschrift seiner Eindrücke beschäftigt. Verglichen mit Wiener Freimaurertagen waren seine Ansichten konkreter und radikaler geworden, aber immer noch meinte er, daß ein Fürst, solange er nur der weiseste und beste Mann im Staate sei, dem Fortschritt dienen könne. Das war auch Mozarts Meinung. Daß Adel und Klerus nicht bloß den Josephinischen Reformen, sondern auch den Josephinern feindlich gesinnt waren, war Forsters wie Mozarts Erfahrung dieser Jahre. Mozart hatte zwar nicht, wie Forster, das Land der ersten siegreichen (kurzlebigen) bürgerlichen Revolution Europas, die Republik der Vereinigten Niederlande, besucht, aber auch er hatte die umwälzenden Veränderungen (verhältnismäßig) radikaler Reformen erlebt: in Böhmen, wo die Teilaufhebung der schlimmsten Adelsprivilegien durch Joseph befreiende Wirkung hatte. Mehrere von Mozarts Prager Freunden waren Tschechen, Bürger, Josephiner. Dem Satz Forsters, Kunst sei „Spur der lebendigwirkenden, umformenden Menschheit", hätte Mozart, mit der Erinnerung an die liebevolle Zuneigung und den stürmischen Erfolg, der in Prag dem Komponisten des Figaro und des Don Giovanni zuteil geworden war, gut zustimmen können. Auffallig auch ein anderer Gleichklang. In der Zauberflöte (Nr. 8, Takt 44ff.) steht das Signum „Klugheit, und Arbeit, und Künste" für den „Sitz der Götter", den Tamino in Sarastros Tempelbezirk vermutet; es dürfte das erste Mal sein, daß das Wort „Arbeit" in Mozarts Vokalwerk Eingang gefunden hat. Und auch die gleich anschließenden Worte (Takt 51 ff.): Wo Tätigkeit thronet und Müßiggang weicht, Erhält seine Herrschaft das Laster nicht leicht, höre man nicht als schiere Märchenpoesie. Auf seiner Reise, schreibt Forster in mehrfachen Formulierungen, habe er gefunden, daß „Fleiß", daß „Arbeitsamkeit" „ auf dem Boden der wahren, nicht der eingebildeten Freiheit" gedeiht. Gewiß, Forsters Blickwinkel, Interessengebiete und Ergebnisse sind in mancher Hinsicht andere als die Mozarts. Er mißt die Aufstände und Revolutionen, die in einigen der besuchten Länder stattgefunden hatten, an den Erfahrungen der Französischen Revolution; er versteht, daß die Verfassung eines Landes der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung entsprechen und sie fördern muß; er destilliert aus seinen Erlebnissen seine wahrscheinlich wichtigste Schrift, die zweibändigen (auf drei Bände geplanten) Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790; Mozart Die Zauberflöte. Aber ob nun Mozart wirklich an Forsters Tisch saß und ihn von seinen Ansichten reden hörte, oder ob er von anderen Mainzer Freunden, etwa den Brüdern Hoffmann oder dem G/ovanm'-Übersetzer Schmieder, ähnliche Gedanken zu hören bekam, Gedanken, die auch ihn beschäftigten — wie schnell in der Atmosphäre der bürgerlichen Revolutionen neue Gedanken entstanden und reiften, wie Gesinnungen zu Aktionen wurden und Aktionen Gesinnungen präzisieren halfen, wie gesetzmäßig die Abwendung aufge-

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klärter Bürger von allem Konservativen war und wie einig schließlich in G r u n d f r a g e n bei aller Verschiedenheit des Zugangs fortschrittlich gesinnte Naturforscher, Philosophen, Schriftsteller, Politiker, Theaterleute und Musici waren, das kann man an Mozarts letzten zwei Lebensjahren studieren. An Umgang mit Gleichgesinnten, Bürgern, an Bewunderung und Freundschaft von ihrer Seite, an interessanter Lektüre und bewegenden Neuigkeiten fehlte es Mözart in Mainz gewiß nicht. Wir haben es von ihm selbst, was ihm auf dieser seiner Reise „herrlich anschlägt", es sind drei-Dinge: „Unterhaltung, Motion und Luftveränder u n g " — wir dürfen mit Sicherheit hinzufügen: verglichen mit der Wiener Stickluft. U n d damit komme ich zu einer Briefstelle, deren Interpretation durch die Massins (530) ich mich anschließe. Der Brief kommt aus München, ist Anfang November 1790 nach Wien gerichtet und schlägt Constanze vor, die gleiche „ T o u r " im nächsten Jahr gemeinsam zu machen, sie könne dabei „ein anderes B a d " besuchen. Aber gerade das hätte sie nicht k ö n n e n ; Mozarts „ T o u r e n " sahen immer nur wenige Tage Aufenthalt an jedem von mehreren Orten vor, ein „ B a d " verlangte längeren Aufenthalt an einem. Das wußte Mozart natürlich genau, erst einige Wochen zuvor hatte er Puchberg geschrieben, Constanze werde „60mal baden müssen" (12. Juni 1790). Was da in dem Brief aus München geschrieben steht, ist, wörtlich genommen, ungereimtes Zeug. Liest man die Briefstelle hingegen so, daß sie zwar wirklich den Plan mitteilt, die Reise im nächsten Jahr mit Constanze — ohne Bad — zu wiederholen, sonst aber eine in echt Mozartscher Weise verschlüsselte Zusammenfassung der Erlebnisse im Rheinland enthält, nehmen die Worte ihren metaphorischen Sinn a n : [München, vor dem 4. November 1790] Liebstes, bestes Herzensweibchen! . . . ich freue mich auf Dich, denn ich habe viel mit dir zu sprechen, ich habe im Sinne zu Ende künftigen Sommers diese tour mit dir, meine liebe zu machen, damit du ein anderes Bad besuchest, dabey wird dir auch die Unterhaltung, Motion und Luftveränderung gut thun, so wie es mir herrlich anschlägt, da freue ich micht recht darauf und alles freuet sich.

8. Ausklang in F-Dur Offenbleiben muß die Frage, wie eine Untersuchung „ M o z a r t und Forster, 1793" ausgefallen wäre, wie Mozart, hätte er sie erlebt, auf die G r ü n d u n g des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents, der Mainzer Republik, reagiert hätte. Sein feinnerviges Eingehen auf die politische Situation der Jahre 1784 bis 1791 legt eine vorsichtige Antwort nahe. Es ist wahr, was Mozart vor allem in Musik umsetzte, waren Visionen, die die bürgerliche Revolution transzendierten, nicht, wie sie zu erreichen war. Aber allzu sicher sollte man nicht sein, d a ß Mozart stehengeblieben wäre, wo er politisch stand, als er die Zauberflöte schrieb. In seiner letzten, am 15. November 1791 vollendeten Komposition, der Kleinen Freimaurerkantate (KV 623), der letzten auch, die er dirigierte, gibt es ein Duett voller Anklänge an die kurz zuvor vollendete Zauberflöte, schön wie das ganze Werkchen und ergreifend, auch wenn man nicht wüßte, daß sein Komponist keine drei Wochen, nachdem er es zum ersten Mal aufführte, tot war. In ihm stehen die W o r t e :

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Und auch der schon angefangen, Fange heute wieder an!

Literaturverzeichnis (Auswahl) Hermann Abert, W. A. Mozart, 2 Bde., Leipzig 1919—21. Angermüller/Schneider, Mozart-Bibliographie bis 1970 (Mozart-Jahrbuch 1975), Kassel 1976. Niels Birbaumer, Physiologische Psychologie, Berlin (West) 1975. Gunthard Born, Mozarts Musiksprache, München 1985. Otto Erich Deutsch, Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Leipzig 1961. Ders., Mozart und seine Welt in zeitgenössischen Bildern, Leipzig 1962. Friedrich Dieckmann, Aspekte der Zauberflöte, in: Oper heute, 4, Berlin 1981. Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter, sein Werk, Stockholm 1947. John Erpenbeck, Motivation, Berlin 1984. Georg Forster, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Berlin 1958 ff. Leo Karl Gerhartz, Mozarts Cosi fan tutte (rororo opernbuch 7823). Harry Goldschmidt, Uber die Einheit der vokalen und instrumentalen Sphäre, in : Bericht über den Musikwissenschaftlichen Kongreß, Leipzig 1966, S. 139ff. Ders., Beethoven-Studien III, 1986 (im Druck). Ders., 1985 Mitteilungen an den Autor. Adam Gottron, Mozart und Mainz, Baden-Baden und Mainz 1952. Ders., Mainzer Musikgeschichte von 1500 bis 1800 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 18), Mainz 1959. Wolfgang Heise, „Ernst und Falk", in: Realistik und Utopie, Berlin 1982. Fritz Hennenberg, Wolfgang Amadeus Mozart, Leipzig 1970. Wolfgang Hildesheimer, Mozart, Frankfurt/M. 1977. Georg Knepler, Ein Instrumentalthema Mozarts, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 18 (1976), S. 163ff. Gotthold Ephraim Lessing, Emst und Falk, 1778/79.

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Forschungsprobleme der Französischen Revolution aus Anlaß des Todes von Albert Soboul*

Es mag ungewöhnlich scheinen, im Rahmen dieses Kolloquiums eines Historikers aus Frankreich zu gedenken. Fern sei uns der Gedanke, auf diese Weise den Mann und sein Werk annektieren zu wollen. Jedoch war Albert Soboul für uns kein Fremdling, auch kein gelegentlicher Zaungast. Er war unser Weg- und Streitgefährte, seit er im Jahre 1954 zum ersten Mal unsere Republik und Leipzig im besonderen besuchte : ein verläßlicher Freund, auf den man immer — ich betone immer, — zählen durfte. Seit der Gründung unserer Forschungsgruppe zur Vergleichenden Revolutionsgeschichte, die seiner eigenen Blickrichtung voll entsprach, betrachtete er sich als ihr aktiver, sogar vertraglich gebundener Partner. Die Begegnung des Kommunisten Albert Soboul — für seine Vertrauten Marius — mit den Historikern der D D R war indessen von weit vielfaltigerer Natur. Oft hat er in unserer Republik geweilt, und viele von Ihnen kannten ihn. Wir saßen mit ihm im Vorstand der Robespierre-Gesellschaft und im Comité directeur der Annales historiques de la Révolution française, bei Treffen von Historikern Frankreichs und der D D R , in der Internationalen Kommission des Welthistorikerverbandes für Geschichte der Französischen Revolution. Wir schlugen uns viribus unitis auf vielen.Kongressen unter allen Breitengraden. Er öffnete uns in Paris manche Türen und vor allem jene zu den Archiven — schon zu einer Zeit, als das gar nicht so einfach war, weil die geforderten Papierchen nicht zur Stelle waren oder nicht stimmten . . . Wir brachten seine, er unsere Arbeiten heraus. Ein gutes halbes Dutzend Bücher machten wir zusammen in grenzüberschreitender Gemeinschaftsarbeit avant la lettre. Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin wählte ihn zu ihrem Korrespondierenden Mitglied, und die Karl-Marx-Universität Leipzig verlieh ihm — wie übrigens auch die Lomonossow-Universität zu Moskau — den hochverdienten doctor honoris causa. Sein vorzeitiger Tod trifft uns daher hart. Man sagt, keiner sei unersetzbar. Das ist in einem umfassenderen Sinne ja wohl auch wahr, und unsere Generation weiß natürlich, daß sie in diesen Jahren bon gré mal gré auf Abruf steht. Das kann indessen über die Schwere des Verlustes nicht hinwegtäuschen ; eines Verlustes, der in der Geschichtsschreibung über die Große Revolution der Franzosen einen Leerraum schafft, der sich so bald adäquat nicht füllen wird. Wir empfinden ihn um so schmerzlicher, als die marxistischen Historiker der Welt nun ohne den von Albert Soboul erhofften Beistand zur Vorbereitung des nahenden Gedenkjahres 1989 schreiten müssen. Albert Soboul hat sich in der Historiographie der Französischen Revolution einen unver* Vortrag, gehalten auf dem VII. gemeinsamen Kolloquium von Historikern der Republik Frankreich und der D D R im Oktober 1983 in Paris (leicht gekürzt), veröffentlicht in: ZfG, 1984, H. 6, S. 483—489.

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wechselbaren Platz erobert. Nicht von heute auf morgen. Er hat — und wie! — um ihn ringen müssen, ehe er — anerkannt von Freund wie Feind — seine Autorität als Forscher am Hebelpunkt Paris durchsetzte. An der Sorbonne besetzte Albert Soboul als erster Kommunist den traditionsreichen und in der Welt einzigartigen Lehrstuhl für Geschichte der Französischen Revolution. Sein großes Samstag-Seminar wurde zur fruchtbarsten internationalen Pflanzstätte der Revolutionsforschung. Auch Gegner mußten widerwillig anerkennen, daß sie „Schule" machte und ihre Wellen an die Ufer aller fünf bewohnten Kontinente schlugen. Der Nachruf eines seiner Genossen hat darauf hingewiesen, daß Marius den Weg zur Partei der Arbeiterklasse gefunden hat, indem er mit cartesianischer clarté politische Schlußfolgerungen aus gewonnenen Einsichten in die Revolutionsgeschichte zog. Sie führten ihn von der Parteinahme für die Große unter den bürgerlichen Revolutionen zum Anschluß an die Große Sozialistische Oktoberrevolution, von der Option für das historische Jakobinertum zum militant des Kemmunismus unserer Tage. Und das blieb bei ihm — im Unterschied zu mancher Wetterfahne auch in seinem Lande — weder Lippenbekenntnis noch Strohfeuer. Er hat die Phalanx, in die er sich vor einem Halbjahrhundert einreihte, trotz mancher Tribulationen nie wieder verlassen. Sobouls Stärke lag in der vollständigen inneren und äußeren Konzentration auf die Französische Revolution. Bewußt und betont hat er sein Œuvre in jejie historiographische Traditionskette eingebunden, die er die „klassische" nannte, und der von ihm als „revisionistisch" gekennzeichneten entgegengestellt. Man könnte sie auch als die aufsteigendprogressive bezeichnen : von Michelet über Aulard, Jaurès, Mathiez zu Lefebvre und schließlich eben zu Soboul. So gesehen, war er kein Bilderstürmer, sondern fühlte sich als legitimer und legitimierter Erbe und Fortsetzer eines Prozesses auf höherer Ebene. Sein spezifisches Anliegen jedoch, von dem er sich kein Jota abhandeln ließ, war und blieb die „révolution d'en bas". Er forderte, um sie wirklich zu verstehen und nicht nur über sie zu sinnieren, die Revolution von unten zu sehen, d. h. von ihrer bäuerlichen und sansculottischen Massenbasis her, die den Gegenstand seiner zahlreichen Untersuchungen bildete und immer neue Sichten erschloß. Zwei Vorwürfe hat er sich dadurch eingehandelt: den eines Entjakobinisierers und umgekehrt den eines Neojakobiners. Da sie sich diametral widersprechen, könnte man meinen, daß sie sich wechselseitig aufheben, und versucht sein, sie deshalb als gegenstandslos abzutun. Das möchte ich aber nicht, weil es beide Erscheinungen als solche ja tatsächlich gibt. Soboul hat hingegen stets um eine ausgewogene Berücksichtigung der unterschiedlichen und im Stellenwert periodisch wechselnden Revolutionsfaktoren gerungen. Er hat zur relativen Eigenständigkeit der dynamischen Hauptkräfte, der Bauernerhebung auf dem Lande und der städtischen Volksbewegung, sowohl neues Material als auch neue Argumente eingespeist. Nie hat er jedoch die Einheit der Revolution, ihre übergreifende antifoudale Totalität, in Frage stellen lassen. Gegen ihre modische Aufspaltung in diverse Teilrevolutiönchen oder gar ihr angebliches Abgleiten von den leuchtenden Gipfeln einer aufgeklärten „interklassistischen" Elite in die plumpen Hände von überkandidelten Kleinbürgern, Furets „dérapage", setzte er sich auf der ganzen Linie mit Erfolg zur Wehr. Soboul bestand darauf, die Revolution so zu zeichnen, wie sie war, und nicht, wie sie eventuell nach unserem oder nach welchem Geschmack immer hätte sein sollen. Um die Terreur machte er keinen Bogen, moralisierte aber nicht über sie. Er zeigte ihren historischen Ort, ihre Komponenten, ihre innere Logik in der belagerten Festung Frankreich wie auch

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deren Überschreitungen am Material auf : So machte er das Fehlerhafte des Prairialgesetzes transparent. Mit anderen Worten: Er-begriff die Revolution in ihrer Größe wie in ihren Grenzen als den unzweideutigen Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, der Klassenkonfrontation beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im Weltmaßstab, als spezifisch französischen Beitrag hierzu. Die Vorstellung ihres ein für allemal oder auch nur innerhalb der Kategorie „bürgerliche Revolution" gültigen Modellcharakters lehnte er indessen in zunehmender Schärfe als inadmissiblen Gallozentrismus ab. Endlich möge nicht unerwähnt bleiben, daß Soboul auch um die Form der Darstellung gerungen hat. Für ein neuerliches opus magnum über den Gesamtkomplex hielt er die Zeit — wahrscheinlich zu Recht — noch nicht für reif. Er hat statt dessen eine Neuausgabe von Jaurès besorgt, an der eT als einer der ersten die Technik der kritischen Weiterführung eines „Klassikers" durch ausgiebige Kommentierung, inhaltliche und bibliographische Weiterführung, durch Sachkorrekturen und Annotierungen bei voller Respektierung des Originaltextes erprobte. Zusätzlich aber legte er den bekannten Précis vor, seinen Leitfaden zur Französischen Revolution, in dem sich seine lange Lehrerfahrung auch propädeutisch niederschlug und Übersetzungen in gut zwei Dutzend Sprachen veranlaßte (Neubearbeitung unter dem Titel La Révolution française, mit einem Vorwort von Claude Mazauric und einer Bibliographie der Arbeiten Sobouls von Françoise Brunei, Paris 1983). Das Erscheinen seines — -nach meinem Urteil — schönsten Buches hat er nicht mehr erleben dürfen: Der*zweite Band von La Civilisation et la Révolution française, der als Problemgeschichte angelegt ist, erschien 1982 bei Arthaud postum. Aus ihm tritt uns noch einmal der ganze Marius entgegen, wie er leibte und lebte: der umfassende Kenner und Interpret der Großen Revolution seines Volkes, auf die er allezeit stolz war, und der unbezähmbare Polemiker, der Leugnern, Entstellern und Entgleisern die — in diesem Genre ansonsten unter Akademikern eher „unübliche" — Antwort nicht'schuldig blieb: Abschiedswort und Vermächtnis zugleich. Ein Kämpfer ist von uns gegangen ; der Kampfplatz bleibt. Verlaufen seine Abgrenzungen auch nicht starr, so hat sich in den letzten Jahren das Gesamtbild der Revolution doch ein wenig verschoben. Ich stecke — im groben — das Gelände ab. Man wird den Einfluß, den die offen konterrevolutionäre, die royalistische und royalistisch-klerikale Literatur nach wie vor auf breite Leserschichten in Frankreich ausübt, nicht unterschätzen. Die beaux quartiers haben sich mit der Revolution, deren Virulenz unter anderen Vorzeichen sie fürchten, nie ganz ausgesöhnt. Autoren wie Aubry und Gaxotte erleben noch heutigentags fortgesetzt Neuauflagen, und ein ganzer Schweif von kleineren Geistern betreibt bis in die wirkungsvolle Bildröhre eine entsprechende Popularisierung der Goldenen Legende, Hand in Hand mit einer anhaltenden Verketzerung der „totalitären" Jakobinerdiktatur. Bei Lieschen Müller kommt das an. Wissenschaftlich so recht ernst genommen wird dieses Lager (eventuell mit Ausnahme des Stilkünstlers de Castries) indessen von niemandem, und man kann es ihm' getrost überlassen, sich auf unterer Ebene alle paar Jahre den Kopf darüber zu zerbrechen, ob Ludwig XVII. seinen offiziellen Tod 1795 überlebt hat oder nicht. De facto sanft entschlafen ist die bei uns lange Zeit in ihrer Gewichtung überbewertete sogenannte Theorie der „Atlantischen Revolution", die in Wahrheit in Frankreich (im Unterschied zu den USA) nie recht Fuß gefaßt hat. Ihr eigentlicher Vater, der Amerikaner Richard R. Palmer, hat selber seine diesbezüglichen Ambitionen erheblich zurückgeschraubt

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und den plakativen Begriff sogar fallenlassen (wenngleich nicht alle damit verbundenen Hintergedanken). Jacques Godechot, 1955 sein französischer Partner, hat ihn für ein letztliches Mißverständnis erklärt. Ich erwähne das auch nur, weil er soeben noch in der überarbeiteten Neuauflage seiner „Grande Nation" (Paris 1983) ausführlich und sichtlich ein wenig geniert darauf zu sprechen gekommen ist, um einen „Schlußpunkt" hinter diese, wie er sagt, „Scheindebatte" zu setzen. Denn daß zwischen 1775 und 1824 in Sachen Revolution zu beiden Seiten des Atlantiks allerhand los gewesen ist, hat ja begreiflicherweise kein vernünftiger Mensch je bestritten. In die Offensive gegangen sind hingegen die von Soboul unter der Hausmarke „Revisionisten" Zusammengefaßten. Man führt sie bisweilen auf den Einfluß der bekannten AnnalesSchule zurück: Luden Febvre, Fernand Braudel, Pierre Chaunu, mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung: eine Schule, die auf neopositivistische Strukturanalyse eingeschworen ist. Sicher spielte sie bei der Herausbildung der Gruppierung eine bedeutsame Rolle. Ich würde aber behaupten, daß in ihr eine Vielzahl von — hier mehr, dort weniger von Marxtöterei lebenden — Strömungen zusammengeflossen ist, deren politisch-ideologisches Hinterland nicht allein ein rechter Neoliberalismus bildet. Inspiriert wurde eine „Revision" der traditionell-progressiven („klassischen") Linie ja schon in den fünfziger Jahren durch den Tory Cobban, dem sich später mirabile dictu der „Edelanarchist" Richard Cobb mehr und mehr angenähert hat. Beeindruckt und ermutigt zeigten sich die Revisionisten insbesondere von der amerikanischen bürgerlichen Soziologie, deren Spuren bei Taylor, Elisabeth Eisenstein und anderen deutlich nachzuweisen sind. In Frankreich zählen heute Bergeron, Füret, Leroy-Ladurie und Richet zu ihren Hauptvertretern. Sie haben auch im Ausland lautstarke Resonanz gefunden. In Materie und Methode des Streites sind sie bewandert — einige dank ihrer FKP-Vergangenheit — und stellen unter den zu knackenden Nüssen sicher die härtesten dar. Die im Pariser Mai 1968 kulminierende gauchistische Flut hat sich inzwischen wieder einigermaßen verlaufen. Sieht man von einigen Exzessen der Frühzeit ab, unter denen auch Albert Soboul zu leiden hatte, hat sie zu einigen Punkten die Diskussion durchaus befruchtet. Man sollte sie deshalb m. E. nicht nur schelten. In der wiederverlebendigten und aktualisierten Revolutionsdebatte (insonderheit der Wegeproblematik) erschlossen sich neue oder vertieften sich alte Fragestellungen um den Charakter des Übergangs, von Übergängen bzw. Übergangsperioden überhaupt, ihren prozessualen Modus, die Dialektik von Masse/Klasse/Führung u. a. m. Es traten — mit positiven wie negativen Vorzeichen — Symbiosen intra et extra muros auf. Ein äußeres Anzeichen dafür: Soboul erschien nun auch bei Maspero. Ich spreche hier wohlgemerkt nicht von den Abfallprodukten bewährter Unkrautzüchter der Preisklasse Guerin und Co., sondern von anregenden Motiven bei Revolutionshistorikern gleich Balibar, Bianchi, Hartig, Gauthier, Wolikoff, den „Hobsbawmianern" von Past and Present. Den Nachweis ihres Könnens auf fachlichem Gebiet zu erbringen, hat sich diese „neue Linke" anheischig gemacht und erste Proben davon auch schon geliefert. Summa summarum wird es die marxistische Revolutionsgeschichtsschreibung kurzund mittelfristig — den Internationalen Historikerkongreß 1985 und den Bicentenaire vor Augen — gar nicht leicht haben. Soboul hinterläßt keinen echten Nachfolger. Gewiß, tüchtige Arbeiter sind unter seinen Freunden und Schülern vorhanden, jedoch keiner, der schon ein gleiches Prestige in die Waagschale werfen könnte. Es trifft sich unglücklich, daß die Dinge außerhalb Frankreichs zum Teil ähnlich liegen: Die Alten treten ab, ehe die Jüngeren voll Tritt gefaßt haben. Manfred und Takahashi sind verstorben, Dalin und Veber 6

Demokratie, Sozialismus

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über achtzig, Rude und ich Emeriti, Ado laboriert am Herzinfarkt. Man möchte den Nachrückenden zurufen : Beeilt euch ! Nach dem — nennen Sie es Kaderspiegel —, der Problemspiegel! Sicher ist die Französische Revolution arg ausgeschrieben. Wer in ihr zum Jubeljahr etwas Neues aufzureißen beabsichtigt, muß wissen, daß er in Verlegenheit geraten kann wie der Hase mit dem Igel. Die Aussicht auf eine veritable Neuentdeckung ist gering. Dennoch bleibt eine ganze Menge offen. Ich würde sogar postulieren, daß eine genuin marxistische Durchdringung des Stoffberges bisher nur punktuell erfolgt ist. Noch so schöne Prinzipienerklärungen auf der Makrolinie allein helfen da nicht viel. Um manche Konkreta haben wir bisher sogar eher einen großen Bogen gemacht und sie neidlos bürgerlicher Routine überlassen. Ich nenne als Beispiel das weite Feld der Geschichte und Rolle der offenen wie der verdeckten Konterrevolution; den Stellenwert der Freimaurerei in der Vorbereitungsphase der Revolution ; das Problem von Krieg und Frieden ; die Frauenbewegung, die Jugendfrage, die Kulturrevolution. Es gibt kein zufriedenstellendes Buch über den Sturz der Gironde und keines über den Neunten Thermidor. Immer noch nicht ausgeleuchtet ist das Directoire: Die Revolutionshistoriker mögen es nicht mehr, und die Napoleonschreiber noch nicht. Auch die Lebensläufe der Linken sind keineswegs alle hinreichend erschlossen. Es fehlen — unter anderen — Chalier, Lacombe, Leclerc, Léon, Momoro, Varlet, die Arbeiterdeputierten Armonville und Noël Pointe. Natürlich läßt sich das meiste davon nur in Frankreich machen — leider, möchte ich hinzufügen. Sonst säßen wir vielleicht schon mittendrin — es ist nicht der gute Wille, der fehlt. Die Kardinalfrage, um die gestritten wird, betrifft jedoch nach wie vor den objektiven Charakter der Revolution, révolution bourgeoise à soutien populaire nach Sobouls Definition. Die Titel der beiden kontroversen Bücher von Furet und Soboul bringen das einprägsam zum Ausdruck: Penser la révolution oder Comprendre la révolution. Im Kern geht es um die Zurückweisung des revisionistischen Angriffs, der den Klasseninhalt der Revolution aufs Korn nimmt und jeden unmittelbaren Nexus zwischen sozioökonomisch bedingtem Formationswechsel und politischem „Umsturz" leugnet. Ein notwendiger Zusammenhang bestehe nur in der Einbildung nachträglicher Interpreten. Das wird in einem ganzen Bündel von Varianten vorgetragen. Sie alle aber laufen im Endeffekt darauf hinaus, unter Berufung auf Tocqueville die historische Diskontinuität des revolutionären Bruchs herunterzuspielen, hingegen die Kontinuität einer evolutionären „Modernisierung" (was immer das ist) von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft'hochzuziehen — eine Entwicklung, die bereits im Ancien régime längst eingesetzt habe und durch die Konvulsionen der Revolution zwar teilweise hektisch beschleunigt, andererseits aber auch durcheinandergebracht worden sei. Kurz: die Konflikte, die (z. T. infolge Fehlverhaltens der alten Eliten) zur Revolution geführt hätten und dann in dieser zugunsten neuer Eliten ausgefochten worden seien, hätten reineweg nichts mit der Forcierung eines Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zu tun, folglich auch nichts mit einer Konfrontation von Klassen, die so, wie von Marx verstanden, noch inexistent gewesen seien. Feudalität sei 1789 nur noch äußere Hülle gewesen. Bürgerliche, gar bürgerlich-demokratische Revolutionen seien daher künstliche, nichts besagende Konstruktionen, auf die man besser verzichte. Cobban und Palmer warnten geradezu vor ihrem Gebrauch, denn reiche man den Marxisten den kleinen Finger der begrifflichen Konzession, verhaspele man sich in den Schlingen ihrer teuflischen Dialektik. Wer A sage, müsse dann auch B sagen.

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Man findet, wie Sie sehen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, in beweglichen Mischungen und Dosierungen mit Ausnahme der historischen Objektivität so ungefähr alles beisammen: Elitedenken, Betriebspannenlogik, Marxfälschung, Revolutionsfurcht älteren und jüngeren Datums, nicht selten kaschiert durch einen Berg von Statistiken. Es würde zu weit führen, zu ihrer refutatio eine Vorlesung hier anzuschließen. Es genüge ihr Aufweis. Was indessen nicht heißen soll, daß keine Aufgaben auf uns zukommen. Im Gegenteil. Mir will scheinen, daß wir in der Auseinandersetzung unsere methodologische Überlegenheit oft noch ungenügend einsetzen. Nicht nur, um grassierende Irrtümer als gute Onkel zu berichtigen. Es dürfte auch an der Zeit sein, die gegenwärtige restaurative Geschichtsschreibung der BRD in diesem Zusammenhang schärfer zu beleuchten : mit jener herzerfrischenden Streitlust, von der Heinrich Scheel in Heft 4/83 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft wieder ein Paradestück geliefert hat. Auf unserem Sektor hat die BRD viele Jahre vorzugsweise durch praktische Abwesenheit in Klios höheren Rängen geglänzt, was lange Kommentare erübrigte. Seit sie jedoch aus dem Schmollwinkel heraustrat und wieder gehäufte Lebenszeichen von sich gibt (wenngleich als wesentlich eklektisch angerührten Brei aus anderorten schon Herausdestilliertem), wäre vornehme Zurückhaltung gewiß fehl am Platz. Daneben stehen allerdings echte Sachfragen an, die auch uns bewegen — jene, die wir selbst aufwerfen, unter uns wägen und noch eingehender Prüfung unterziehen müssen. So haben wir immer noch Schwierigkeiten mit einer einheitlichen Periodisierung, wobei wir wohl darin übereinstimmen, daß es um mehr als Zahlenspielerei geht: Setzen wir den Schlußpunkt 1794, 1795, 1797 oder 1799? Ordnen wir also die Periode des Rücklaufs und Rückstaus — Thermidorianerherrschaft und Directoire — ein, oder behandeln wir die Wegstrecke vom 9. Thermidor zum 18. Brumaire als revolutionshistorische Kategorie sui generis? Fassen wir Jakobinertum im engeren oder im weiteren, Manfredschen Sinn? Wie stehen wir zur sozialen Affinität von Gironde und Montagne einerseits und zu ihrer politischen Diskrepanz andererseits? Bescheiden wir uns, die Cordeliers weiterhin als quantité négligeable zu behandeln, oder machen wir umgekehrt aus dem großen X des „Hébertismus" mit Soboul ein mouvement cordelierl Ist Mazaurics Kennzeichnung der Vendée als „tiefere Wahrheit der bürgerlichen Revolution" ausbaufähig? Und überhaupt: Fehlt nicht bis heute die Sozialgeschichte der einzelnen Klassen und Klassenschichten in der Revolution, angefangen mit der Bourgeoisie selber und herunter bis zum embryonalen Proletariat? Welches sind die komplexen Ursachen für die vielbeklagte relative Schwäche des französischen Industriekapitalismus nach einer so „vorbildlichen" bürgerlichen Revolution? Führen sie uns auf die Wegeproblematik zurück? Der Katalog ließe sich mit Nutzen erweitern : so auf Gebiete, auf denen die komparative Methode, die wir bisher erst einmal mit dem großen Pinsel handhaben, fruchtbare Aufschlüsse verheißt; auf Komponenten, Programme, Kampfmethoden, auf Spontanität und Strategie von Klassenbündnissen, auf die ganz ungenügend beachteten Relationen von innerem und äußerem Faktor, die Nichtaustauschbarkeit bestimmter revolutionärer Persönlichkeiten, auf Ein- und Nachwirkung der Revolution auf Europa und darüber hinaus auf die Welt, auf Deckungsgleiches und scharf Kontrastierendes. Wir zitieren mit Ausdauer Lenin, wo er sagt, daß das ganze 19. Jahrhundert in der Nachfolge der Revolution steht, die man zu Recht die Große nennt. Aber wo, von wem wurde das wirklich gezeigt? Die Frage möge überleiten zum Schlußteil meiner Ausführungen, den ich als Kurzinformation über den Stand der Vorbereitung zum Bicentenaire in Frankreich aufzufassen bitte. Eigentlich stehen zwei Jubiläen ins Haus, deren Vergleich allein schon einen Versuch 6*

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Jierausfordern könnte : 300 Jahre Glorious Revolution in England, 200 seit dem Bastillesturm : sicherlich nicht nur zweierlei Temperament beim unsanften Umgang mit unterdrückenden Klassen. Die Engländer haben 1788 das erste Saeculum ihres „historischen Kompromisses" vernehmlich laut gefeiert. Sie erregten damals einiges Aufsehen auch in Frankreich, wo sich zur gleichen Zeit sein revolutionärer Knoten schürzte. Die Anstrengung des britischen Langzeitgedächtnisses präsentierte sich folglich gleichsam als Beitrag zu einer Debatte über Nutzen und Nachteil einer sozusagen „kontrollierten" Revolution. Zwar ist die feine englische Art immer für eine Überraschung (à la Falkland . . .) gut. Daß aber die Insulaner ihre gewitzte Erfahrung mit Klassenkompromissen auch 1988 aufwendig hochjubeln sollten, dünkt mich dennoch wenig wahrscheinlich. In Frankreich liegt der Fall anders. Obwohl das (erste) Septennat Mitterands ein Jahr davor ausläuft, hat sich die Regierung für eine würdige Revolutionsfeier gewissermaßen vorengagiert; vielleicht inter alia in Erinnerung an 1889 und die Geburt der Zweiten Internationale. Das ist natürlich für jeden, der am 14. Juli 1989 wenigstens im Geiste auf der Place de la Bastille mitdemonstrieren will, gut zu wissen. Frankreichs Historiker werden also mit Rückendeckung ans Werk gehen können. Es wurde eine offizielle Kömmission berufen, deren Leitung Michel Vovelle, zuletzt Professor an der Université de Provence in Aix, übertragen ist. Er hat bereits ausgedehnte Reisen unternommen, um sich über Absichten und Arbeiten im Ausland umzutun, die seine Kommission interessieren könnten. Er war auch in Berlin und Leipzig, um eine möglichst frühzeitige Koordination und Kooperation in die Wege zu leiten. Die französische Kommission kann als internationaler Bezugspunkt gelten, an dem die Fäden zusammenlaufen werden. Als Partner denkt sie sich entsprechende nationale Kommissionen oder Komitees in den^einzelnen Ländern. In mehreren, so in der UdSSR, sind solche bereits gegründet worden, in anderen befinden sie sich in Vorbereitung. In unserer Republik hat der Präsident der Akademie der Wissenschaften zu Berlin zehn ihrer Ordentlichen Mitglieder in ein Vorbereitungskomitee berufen. Seine Arbeit kann sich auf das Interdisziplinäre Zentrum für Vergleichende Revolutionsforschung an der Karl-MarxUniversität Leipzig (IZR) stützen. Das Wie bedarf noch konzeptioneller Festlegungen. Davor bzw. dabei wird es indessen einiges zu beachten geben : 1. Die Pariser Kommission ist eine staatliche Einrichtung. Die Regierung ist in ihr personell vertreten und stützt sich auch auf eigene Fachberater, darunter insbesondere auf den sozialistischen Historiker und Schriftsteller Claude Manceron, einen Freund des Präsidenten. Es fragt sich, inwieweit Kommissionen des Auslandes in ihrer weiteren Ausgestaltung diesem Muster folgen werden oder nicht. 2. Vovelles Kommission ist zwar ein autorisiertes und mit Mitteln ausgestattetes, jedoch nicht, das einzige bei der Vorbereitung zu berücksichtigende Gremium. Der Welthistorikerverband (CISH) verfügt seinerseits über eine Internationale Kommission für Geschichte der Französischen Revolution. Ihre Kompetenz erstreckt sich auf die Fachforschung. Sie wird und will 1989 nicht zu den Eigen Veranstaltern zählen, wohl aber für das Profil der Revolutionshistorie auf internationalen Kongressen verantwortlich zeichnen; also zunächst 1985 und dann 1990 für die Nachbilanzierung. Zu Sobouls Nachfolger als Generalsekretär haben wir unlängst in Rom Jean-René Suratteau (Dijon) gewählt. Als Mitglieder hinzugewählt wurden die Professoren Zhang Zhilian (Peking) und Vovelle. Auch diese Kommission verdient, zumal sie von uns mitgeschaffen wurde und mitgetragen wird, m. E. Unterstützung bei ihren Vorhaben. 3. Die v o n M a t h i e z 1908 gegründete Société

des Etudes robespierristes,

bei u n s a m be-

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kanntesten durch ihre Zeitschrift Annales historiques de la Révolution française (A. H. R. F.), ist eine sozusagen private, wiewohl von Amts wegen in ihrer „wissenschaftlichen Nützlichkeit" bestätigte Gelehrte Gesellschaft. Auch in ihr mußte Generalsekretär Soboul durch Suratteau ersetzt werden. Da sie weitaus älter ist als die beiden erstgenannten Gremien, besitzt sie an den Revolutionshistorikern in aller Welt ein festes Hinterland. Sie ist außerdem die einzige, die über ein eigenes Publikationsorgan verfügt und auch uns ihre Spalten zur Verfügung stellt. Die Nachfolge Sobouls auf dem Lehrstuhl, mit dem das Pariser Institut für Geschichte der Französischen Revolution verbunden ist, hat Michel Vovelle angetreten. Von Bedeutung war er als bisher selbstverständlicher Anlaufplatz der Freunde beim Freund. Wir sind sicher, daß es so bleibt. 4. und letztens : Daß die wissenschaftlichen Vorbereitungen auf den Bicentenaire in Frankreich beträchtlich sind, ganz besonders auf der regionalen Ebene von Provinz und Departement, geht aus einem Informationsmaterial hervor, das Vovelle herausgab und dankenswerterweise zur Verfügung stellte. Es verrät unter anderem auch, daß man gerade von der Beteiligung der DDR-Historiker viel — vielleicht übertrieben viel — erwartet, unsere verfügbaren Kapazitäten und biologischen Reserven überschätzend. Wir müssen und wollen uns bemühen, nicht allzusehr zu enttäuschen. Andererseits gilt es, kühlen Kopf zu behalten für das Machbare. Darüber zu referieren, ist glücklicherweise nicht mehr meine Aufgabe.

HANS-JÜRGEN TREDER

Kants „Streit der Fakultäten" und die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaften

Johann Gottfried Herder griff in seiner „Meta-Kritik" der „Kritik der Vernunft", seinen Lehrer Immanuel Kant insbesondere wegen dessen Schrift „Der Streit der Fakultäten" an. — Die persönliche Animosität, die der spätere Herder gegenüber seinem alten Lehrer und Förderer Kant hatte und die durch Kants zurückhaltende und kritische Rezensionen von Herders „Philosophie der Geschichte der Menschheit" hervorgerufen war, sollte man dabei vergessen. Die Art, wie Herder über Kant sprach, war natürlich ein Ausdruck seiner Verärgerung. Aber die Problemstellungen Herders und seine Einwände gegen Kants Werk über den „Streit der Fakultäten" sind auch noch heute aktuell. Herder vertrat gegenüber Kant die Position eines Praktikers, der der Ansicht war, daß die Wissenschaften vor allem die Aufgabe haben sollten — mit den Worten von Bertold Brecht zu sprechen —, „die Mühsal des menschlichen Lebens zu erleichtern". Kants Auffassung war hingegen, daß die erste Aufgabe der Wissenschaft die „uninteressierte Erforschung" der Wahrheit sei. David Hilbert stellte sich in seiner Königsberger Rede 1930 auf Kants Position und polemisierte mit den scharfen Worten von H. Poincaré gegen Leo Tolstoi, der es abgelehnt hatte, daß „Wissenschaft um der Wissenschaft wegen betrieben wird". 1 ' Nach 1900 repräsentierten die auch international führenden Göttinger Mathematiker, die beiden Geheimräte Felix Klein (1849—1925) und David Hilbert (1862—1943) diese Gegensätze. Sie waren beide an den naturwissenschaftlichen Konsequenzen der Mathematik hoch interessiert. Klein war ein Promotor der „Angewandten Mathematik" und erfand zugunsten dieser Anwendungen sogar einen Unterschied zwischen einer anwendbaren „Approximations-Mathematik" und der reinen „Präzisions-Mathematik" (siehe R. Rompe und H.-J. Treder, „Einheit der exakten Wissenschaften"). Hilbert hingegen setzte die Einheit von Mathematik und Physik von vornherein voraus, reduzierte deswegen aber auch die „Theoretische Physik" auf eine „Mathematische Physik", stand aber den Bemühungen der Physiker selbst um die Physik sehr skeptisch gegenüber. In einer Diskussion mit Albert Einstein sagte Hilbert einmal : „Die Physik ist zu schwierig für die Physiker." Und in einer Diskussion im Göttinger Mathematik-Seminar bemerkte er gegenüber Ludwig Prandtl und Theodor von Karman, daß „die Experimente die Physik verderben".

Felix Klein hatte einen engen Kontakt der Göttinger Mathematiker mit der Technischen Hochschule Hannover hergestellt und jedes Jahr Mitarbeiter und Studenten der Technischen Hochschule zu einem FerienKursus nach Göttingen eingeladen. Als er einmal erkrankte, bat er den jüngeren Hilbert, den Kursus zu leiten, und bat ihn gleichzeitig, daß er dabei die Gegensätze zwischen der Mathematik und den technischen Disziplinen nicht zu stark betonen sollte. Hilbert sagte das zu und eröffnete dementsprechend das Seminar mit der Bemerkung, daß ihn der Kollege Klein gebeten hätte, nicht die Gegensätze zwischen Mathematik und Technik zu betonen. Hilbert führte

Kants „Streit der Fakultäten"

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Auch Max Planck rezipierte Kants Ansicht und sagte, daß die Wissenschaft den großen Nutzen, den sie für das Leben der Menschen leistet, erst genau dann bringen kann und wird, wenn sie sich in ihren primären Fragestellungen auf keinen Nutzen orientiert. Da Kant in seinem „Streit der Fakultäten" gerade glaubte, dies bewiesen zu haben, wäre die Polemik von Herder — und überhaupt alle rein pragmatischen Auffassungen der Wissenschaft — abwegig. Das Kriterium von Marx in seinen „Feuerbach-Thesen" war, daß es die Aufgabe der Philosophie sei, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern. Dies kann die Wissenschaft aber nur dann erfüllen, wenn sie die Welt zunächst interpretiert, und zwar soweit es möglich ist ohne jede anthropomorphe Zielstellung. In seiner Schrift ging Kant davon aus, daß es zu seiner Zeit an den Universitäten 4 Fakultäten gab: die drei sogenannten oberen Fakultäten, die die Theologie, Jurisprudenz und Medizin vertraten, und eine „untere allgemeine (artistische) Fakultät". Kant war Professor an dieser allgemeinen Fakultät und besaß deswegen auch keinen Doktor-Titel, sondern nur den des Magister Artium (M. A.). Im hohen Mittelalter gab es nur eine untere und eine Fakultät bis zur Erreichung des Magistergrades, die Studien aller logischen, humanen und quasi-naturwissenschaftlichen Fächer umfaßten (soweit sie zu ihrer Zeit lehrbar waren oder gelehrt wurden). Hier wurden Vorbereitungen für das Studium der Theologie, als der für die Gesellschaft bedeutendsten Wissenschaft, getroffen. Promovieren konnte man bloß zum Doctor Divinitatis (D. D.). Im späteren Mittelalter wurde der Nutzen von zwei weiteren Wissenschaften akzeptiert. Zunächst an der Universität von Salerno konnte man statt des Doctor Theologiae auch den Doctor Medicinae erwerben. Wiederum gab die artistische Fakultät die allgemeine wissenschaftliche Vorbereitung für das Medizin-Studium. Dies hat sich im Sprachgebrauch bis heute fortgepflanzt. Das erste größere Examen der zukünftigen Mediziner ist das „Physicum", in dem sie ihre naturwissenschaftliche Allgemeinbildung nachweisen, um hinterher die höheren klinischen Fächer zu studieren. Im 13. Jahrhundert begann in Italien die Rezeption des römischen Rechtes mit der Erschließung der Justitianischen Codices. Diese Arbeit führte (zuerst wohl an der Universität von Bologna) zu der Gründung einer weiteren „oberen" Fakultät, der Juristischen. Wenn jemand einen vollständigen akademischen Abschluß dadurch haben wollte, daß . er einen Doktor-Grad erwarb, brauchte er nun nicht mehr unbedingt den Doctor Theologiae zu erwirken, sondern er konnte auch mit dem medizinischen oder juristischen abschließen. Noch im 19. Jahrhundert haben die alten englischen Universitäten (Cambridge und Oxford) diese Tradition durchgehalten. Copernicus war ein Doctor juris canonici. Der Astronom Friedrich Wilhelm Herschel wurde um 1800 ebenfalls noch zum Doktor der Rechte promoviert, und denselben Doktor-Grad erhielt um 1870 Charles Darwin, nachdem er in der Jugend seine akademische Ausbildung mit dem theologischen Bakkalaureat abgeschlossen hatte. Die von Kant in seinem „Streit der Fakultäten" herausgearbeitete und von Herder scharf kritisierte Auffassung war nun, daß die „oberen Fakultäten" eben deswegen „obere" Fakultäten sind, weil sie der Gesellschaft und Praxis notwendige Anwendungen der Wissenschaften vermitteln. Nach Kants Auffassung war die Zielstellung der „oberen Fakultäten" Ausbildung im Rahmen der Notwendigkeiten der „bürgerlichen Gesellschaften". Die Basis für dann aus: „Ich versichere Ihnen, es gibt keine irgendwie gearteten Widersprüche zwischen Mathematik und Technik, und ich kann sogar beweisen, daß es diese nicht geben kann, denn Mathematik und Technik haben gar nichts miteinander zu tun.

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die reale oder imaginäre Nützlichkeit ist nach Kant aber immer die interessenlose Erforschung der Gesetze der Natur und Gesellschaft, und er war der Ansicht, daß der Wahrheitsgehalt, den die Angehörigen der allgemeinen Fakultät zu vermitteln haben, sowohl — im Idealfall der reinen Vernunft — von den gesellschaftlichen Umständen, unter denen die Wissenschaft betrieben wird, als auch von den anthropomorphen oder auch anthropophilen, aber immer pragmatischen Zielstellungen der Anwendung und Anwendbarkeit der Forschungsergebnisse der Grundlagenwissenschaften unabhängig sein sollte. Im 19. Jahrhundert (in Preußen seit Wilhelm von Humboldts Hochschulreform, 1812) wurde die „Allgemeine Facultät" nunmehr als „Philosophische Facultät" bezeichhet und ihre Gleichberechtigung mit den bisherigen oberen Fakultäten anerkannt. Neben die bisherigen Doktor-Titel trat nun auch der eines „Doctor Philosophiae". In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden diese philosophischen Fakultäten im allgemeinen in zwei Fakultäten aufgegliedert: erstens in eine „Philosophisch-historische Fakultät", die für die Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften zuständig war, und zweitens in eine „Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät". Gleichzeitig entstanden seit Ende des 19. Jahrhunderts aber auch neue „obere Fakultäten", die weitere angewandte Disziplinen vertreten und deren Grundlagenstudium durch die philosophischen bzw. die mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultäten bereitgestellt wird. Die frühesten solcher oberen Fakultäten waren beispielsweise eine „Landwirtschaftliche Fakultät" oder auch eine „Technologische Fakultät". Im allgemeinen wurden jedoch für die neuen angewandten Fächer auch neue Hochschulen (Landwirtschaftliche Hochschulen, Technische Hochschulen bzw. später auch Technische Universitäten) gegründet. In den Technischen Hochschulen wurden nun nach dem Vorbild der Vor-Humboldtschen Universitäten wieder „Allgemeine Fakultäten" eingerichtet, die in der Regel den Studenten bis zum „Vor-Diplom-Examen" das mathematisch-naturwissenschaftliche Grundwissen — durch die Fachdisziplinen Mathematik, Physik und Chemie — und darüber hinaus auch bestimmte gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenfacher vermittelten. Aber auch die „Allgemeinen Fakultäten" an den Technischen Hochschulen vertraten alsbald zu Recht den Standpunkt, daß die von ihnen gelehrten Fachdisziplinen in Forschung und Lehre gleichberechtigt sind mit den oberen Fakultäten; denn an den Technischea Hochschulen konnte man nach 1900 zum „Doktor der Naturwissenschaften" promovieren. Andererseits führen auch die an den Universitäten bestehenden Nachfolge-Fakultäten aller „Allgemeinen Fakultäten" die Mehrzahl ihrer Studenten zu einer angewandten wissenschaftlichen Tätigkeit, so daß Kants Unterscheidung, die auch Wilhelm von Humboldts Konzeption zugrunde lag, in der Zielstellung von Lehre und Forschung nicht mehr zutreffend ist. Trotzdem ist in allen Fragen der Hochschul-Entwicklung immer wieder an Kants, Humboldts und Plancks Auffassungen zu erinnern. Die naturwissenschaftlichen — und wie ich glaube auch die gesellschaftswissenschaftlichen — Grunddisziplinen werden im Lehr- und Forschungsbetrieb der Universitäten und Hochschulen ihren Verpflichtungen für die spätere praktische Anwendung dann am besten nachkommen, wenn die Ausbildung in diesen Fächern gemäß Kant und M. Planck möglichst ohne jede pragmatische Zielstellung erfolgt. Das Grundwissen ist niemals überholt, sondern es wird durch den Fortschritt der Wissenschaften ständig vertieft und erweitert. Je schneller sich aber Wissenschaft und Technik entwickeln, um so schneller veraltert der aktuelle Stand der Praxis. Für mein spezielles Fach, die Physik, heißt dies insbesondere: Es zeigt sich, daß Institute mit einer weitgehenden

Kants „Streit der Fakultäten"

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Spezialisierung häufig nach einigen Jahrfünften am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sind, weil ihre Aufgabenstellung viel zu speziell war. Ein großes Institut in Moskau, eines der besten und berühmtesten der Welt, heißt ganz einfach „Institut für Probleme der Physik", ein anderes heißt „Institut für Mathematische Probleme". Das sind Institute, wo große Gelehrte jeweils die Aufgaben in Angriff nehmen können, die ihnen gestellt werden oder die sie sich selbst stellen. Die erfolgreichsten Einrichtungen sind diejenigen, die die gesamte Disziplin abdecken. Das gilt insbesondere für die Lehre; denn die ist die Darstellung der Disziplin als Einheit. Es ist leider nicht möglich, experimentelle und theoretische Physik in der Lehre gemeinsam zu vertreten. In der Regel ist es so, daß drei Gebiete der Physik vertreten werden müssen: theoretische, experimentelle und technische Physik. Daneben ist natürlich erforderlich, an den Hochschulen und Universitäten auch Vorlesungen über spezielle Gebiete durchzuführen, um den wissenschaftlichen Nachwuchs in diese Gebiete einzuführen. Diese Spezialvorlesungen kann jeder halten, der sich in das betreffende Gebiet eingearbeitet hat. Die „großen Vorlesungen" aber sollten von erfahrenen Forschern gehalten werden, die das darstellen, was wichtig, und das auslassen, was unwichtig ist. In den „großen Vorlesungen" wird die Einheit der Disziplinen demonstriert. Es ist natürlich durchaus wichtig, daß man an den Hochschulen Spezialvorlesungen hält oder über spezielle „Bindestrich-Wissenschaften" vorträgt. Diese Vorlesungen sollten aber erst dann gehalten werden, wenn das Grundwissen der großen Disziplinen gelehrt worden ist. Alle modernen Gebiete, alle modischen Disziplinen werden nach einigen Jahren wieder unmodern. Hingegen entwickeln sich die Grundlagen der Wissenschaft ständig weiter, sie veraltern nicht. Was von Planck und Helmholtz an Grundsätzlichem in ihren Vorlesungen dargelegt wurde, ist heute noch genauso wahr und aktuell wie damals. Bei der Herausbildung von Teilgebieten gibt es zwei Tendenzen. Einmal entstehen neue Gebiete durch die Unterteilung eines Wissensgebietes. Hier besteht die Gefahr, daß die abgespaltenen neuen Gebiete in wenigen Jahrfünften, in der Regel sogar in nur 10 Jahren, nicht mehr modern sind. Ein weiteres Problem der großen Disziplinen ist das der die Forschung bestimmenden Aufgabenstellungen: Es gibt unendlich viele Probleme, aber viele müssen z. Z. nicht unbedingt bearbeitet werden. Deshalb ist ihre Wichtung die erste Voraussetzung für den Erfolg der Arbeit. Es gibt absolut irrelevante Probleme, und es ist ein Merkmal der Qualität verschiedener Institutionen bzw. des einzelnen Forschers zu erkennen, welche Aufgabenstellungen relevant und welche irrelevant sind. Es gibt Probleme, die schon einmal relevant waren, dann irrelevant wurden, oder die irrelevant sind, weil man sie z. Z. nicht bearbeiten kann, die aber in neuen Perspektiven Bedeutung gewinnen können. Es gibt drei Arten von Aufgabenstellungen: 1. diejenigen, mit denen sich die Wissenschaft allgemein, die Naturwissenschaft aber im besonderen befaßt. Das sind die gesellschaftlich notwendigen Aufgaben, die aus der Praxis kommen, also der Industrie und der Ökonomie. Jedoch muß hierbei nicht unbedingt eine Aufgabenstellung explizit formuliert sein, sondern es kann sich um eine implizite Notwendigkeit handeln. Also nicht nur Anfragen, die aus der Notwendigkeit, aus der Situation heraus gestellt werden, ergeben neue Aufgaben. Siemens hat z. B. mit seinem dynamoelektrischen Prinzip einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllt, den er sich aber als Wissenschaftler selbst gestellt hatte (sogar in seinem eigenen Geschäft). Er hat eine technische Notwendigkeit befriedigt; ebenso war es bei Marconi und oft auch bei Edison.

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Hans-Jürgen Treder

2. kennen wir Aufgaben, die eine Wissenschaft einer anderen stellt. Ebenfalls kann es hier so sein, daß sich eine Wissenschaft selbst Aufgaben für eine andere stellt. Das war zum Beispiel bei der Entwicklung der Biophysik durch Bohr, Schrödinger bis zu Delbrück der Fall. Hier gab es Fragen, die sich die Physiker in bezug auf die Biologie stellten, wodurch eine zeitweilig neue Disziplin, die Biophysik, begründet wurde. In der Regel ist es natürlich so, daß sich die Biologen, Chemiker, Physiker usw. gegenseitig Aufgaben stellen. 3. gibt es Fragen, die sich das Fach selbst stellt. (Die Grenzen zwischen den drei Kategorien sind natürlich fließend.) Sie erwachsen aus der inneren Problematik des entsprechenden Faches. Hierbei ist es oft so, daß eine Teildisziplin auf die Erfahrungen, Methoden oder Probleme einer anderen desselben Faches zurückgreifen kann. Große Fortschritte der Festkörperphysik z. B. beruhen auf der Quantenphysik, die ihrerseits Wurzeln in der Thermodynamik, der Atom- und Molekularphysik hat. Die größten Fortschritte der Rechentechnik kommen aus der Hochenergiephysik. Umgekehrt ist natürlich auch die Hochenergiephysik von der Rechentechnik befruchtet worden. Die prinzipiellen Fortschritte der Physik der Kernfusionen ergeben sich aus Erkenntnissen der Plasmaphysik, und umgekehrt haben die Aufgabenstellungen der Kernfusionsphysik wichtige neue Probleme und Methoden in die Plasmaphysik hineingetragen. Für diese Entwicklungen war die Einheit der Disziplinen ausschlaggebend. Es gibt eine große Wahrheit: Die Einheit der Disziplinen garantiert deren Leben, deren Leistungsfähigkeit und deren Möglichkeit, tatsächlich auf alle Aufgaben, die an sie gestellt und die von ihr selbst gestellt werden, sachgemäß zu reagieren. Die zweite große Wahrheit ist: Es ist durchaus möglich und methodisch oft sogar notwendig, zu bestimmten Zeiten Unterdisziplinen oder Zwischendisziplinen konzeptionell zu begründen, um bei einem bestimmten Problem weiterzukommen. Aber diese Unterdisziplinen und Zwischendisziplinen werden immer wieder von den großen Disziplinen resorbiert. Das erfolgt des öfteren nach sehr kurzer Zeit; manchmal aber, wie bei der physikalischen Chemie, erst nach hundert Jahren. Deshalb ist für das Hochschulwesen auch jene Wahrheit wichtig: In der Lehre muß die Einheit der Disziplinen repräsentiert werden. Es muß darüber nachgedacht werden, ob es nicht zweckmäßig ist, statt irgendwelcher Bindestrich- oder Teildisziplinen zunächst die großen Disziplinen der Naturwissenschaften (und der Gesellschaftswissenschaften natürlich auch) vorzutragen und alle „Zwischenwissenschaften" dem eigenen Erleben des sich in der Praxis weiterentwickelnden Wissenschaftlers zu überlassen. Was an Spezialkenntnissen nötig ist, muß sich jeder gemäß den Anforderungen seiner Arbeit selbst aneignen; und das kann er, wenn er die Grundlagen inhaltlich und methodisch beherrscht, möglichst umfassend und möglichst ohne schon vorher zu kalkulieren, was er später damit machen will. Wenn ein angehender Wissenschaftler das Grundsätzliche gelernt hat und dazu noch Interesse und Begeisterung mitbringt, kann er sich speziellen Gebieten zuwenden. Man kann Wissenschaft nur betreiben, indem man Spezialprobleme untersucht. Allgemeine Wissenschaftsprobleme an und für sich gibt es nicht. Jeder allgemeine Fortschritt ist immer das Ergebnis einer Untersuchung an konkreten Objekten. Jedes Spezialproblem und jede spezielle Methode eines Faches müssen daher immer von den Fachwissenschaftlern bearbeitet werden.

HERMANN KLENNER

Zur Theorie/Praxis-Relation in Kants Rechtsphilosophie

Auch unter Marxisten wird „Freiheit" gelegentlich als Einsicht in die Notwendigkeit definiert. Als ob Freiheit sich mit bloßem Einsehen begnügen dürfte und nicht auch in einem Tun sich zu verwirklichen hätte. Alles wissen, aber nichts können. Über die Handlungen anderer zu meditieren — darin war Deutschland groß! Tatenarm und gedankenvoll. Theorie der Freiheit ohne deren Praxis . . . Zu denjenigen, die im letzten Jahrzehnt des IB. Jahrhunderts, freilich: unter dem Dauereindruck der großen "Revolution der Franzosen, einer „Harmonie zwischen Theorie und Praxis" auch in Deutschland die intellektuelle Grundlage zu erarbeiten begannen, gehörte als bedeutendster Denker Immanuel Kant. 1 In unseren spruchreichen und tatleeren Zeiten2 — und das geschrieben, wenn auch im fernen Königsberg, so eben doch während Mainzer Republik und Jakobinerdiktatur! — unternahm es Kant, der Schulmann, gegenüber dem Geschäfts-, dem Staats- und dem Weltmann, also in dreigeteilter Argumentation, das der Philosophie untergeschobene skandalon bloßzulegen, laut dem das, was in ihr richtig sein mag, doch für die Praxis ungültig sei: wer in Weisheitsdünkel mit Maulwurfsaugen (11/129) der Vernunft zumutete, sich durch Erfahrung reformieren zu lassen, zog den Zorn desjenigen auf sich, für den es höchstens zu wenig Theorie auf der Welt gab und in ihr jedenfalls zu wenig theoriegemäße Praxis! Es war diese, das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Moral, im Staatsrecht und im 1

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Vgl. Heinrich Scheel, Süddeutsche Jakobiner [1962], Berlin 1980, S. 699f.; ders.. Die Französische Revolution und der Beginn der bürgerlichen Umwälzung, in: Walter Schmidt (u. a.), Deutsche Geschichte, Bd. 4, Berlin 1984, S. 26, 60. — Nachfolgenden Versuch über Theorie und Praxis des Widerstandsrechts einem Praktiker und Theoretiker eben dieses Rechts widmen zu dürfen, bereitet eine Genugtuung von nicht geringem Ausmaß. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 22, Berlin 1793, S. 201—284, hier S. 206. Nachfolgend wird Kant, soweit nichts anderes vermerkt, nach der von Weischedel bei Suhrkamp herausgegebenen Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1968, (Band/Seite) zitiert. Vgl. auch Kant, Rechtslehre, Berlin 1988, eine mit Anmerkungen, Bibliographie und Register versehene Edition aller seiner rechtsphilosophisch bedeutsamen Schriften. — Auf folgende marxistische Interpretationsliteratur zu Kant sei vorab verwiesen: V. F. Asmus, Immanuel Kant, Moskau 1973, russ.; Manfred Buhr, Immanuel Kant, Leipzig 1981; Manfred Buhr/T. I. Oiserman (ed.), Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution, Berlin 1976; A. M. Deborin, Sozialpolitische Studien, Bd. 2, Moskau 1967, russ., S. 212—245: Kant; Arsenij Gulyga, Immanuel Kant, Frankfurt a. M. 1985; Hermann Ley (ed.), Zum Kant-Verständnis unserer Zeit, Berlin 1975; T. I. Oiserman (ed.), Die Philosophie Kants und die Gegenwart, Moskau 1974, russ.; Martina Thom, Das Problem der Geschichte und die Rousseau-Rezeption bei Kant, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 19, Berlin 1979, S. 179—216.

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Völkerrecht untersuchende, offen gegen Christian Garve (1742—1798), Thomas Hobbes (1588—1679) und Moses Mendelssohn (1729—1786) gerichtete und unter preußischen Zensurbedingungen publizierte Abhandlung Kants, die einen schier nicht enden wollenden Meinungsstreit aufflammen ließ, an dessen Pro und Contra sich außer dem replizierenden Garve unter anderem auch Johann Adam Bergk (1769—1834), Johann Benjamin Erhard (1766-1827), Anselm Feuerbach (1775-1833), Johann Gottlieb Fichte (1762—1814), Friedrich Gentz (1764—1832), Carl Ludwig von Haller (1768—1854), August Hennings (1746-1826), Ludwig Julius Hoepfner (1743 -1797), Ludwig Heinrich Jakob (1759—1827), Justus Moser (1720—1794), Friedrich Nicolai (1733—1811), August Wilhelm Rehberg (1756-1836), Karl Leonhard Reinhold (1758-1823), Johann Heinrich Tieftrunk (1759 bis 1837) beteiligten. Debattiert wurde freilich die Theorie/Praxis-Relation nur vereinzelt als Abstraktum, sondern entsprechend dem auf den Nägeln brennenden Gesellschaftsbedürfnis in ihrer Konkretion, nämlich: a) ob die Anklage berechtigt ist, daß Aufklärung die Ursache von Staatsrevolutionen sei?, und b) ob es, und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen, für die Untertanen ein Recht zur Revolution gebe, eine Pflicht zu ihr gar? Obschon infolge seiner bekannt gewordenen Lebensgewohnheiten kaum anzunehmen ist, daß Kant den von ihm ausgelösten Meinungsstreit auch pünktlich verfolgt hat, so hat er, Klassiker schon zu Lebzeiten, in seinen weiteren Verlauf doch dadurch eingegriffen, daß er genau die zwei genannten Probleme in seinem Zum ewigen Frieden (11/234), in seiner Rechtslehre (8/439 ff.) und in seinem Streit der Fakultäten (ll/358ff.) erneut erörtert hat. Nimmt man dann noch die beiden einschlägigen, seiner Kritik der Urteilskraft und seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft offensichtlich von ihm nachträglich eingefügten Anmerkungen hinzu (10/323; 8/862) und übersieht nicht, daß sein Handschriftlicher Nachlaß ebenso wie Nachschriften seiner Vorlesungen längst erschlossen sind3, dann verfügt man über ein reichhaltiges, zwischen 1790 und 1798 zu einem erheblichen Teil auch publiziertes Gedankenmaterial Kants zur Theorie/Praxis- und zur Revolution/ReformRelation im allgemeinen, zur Revolution eines geistreichen Volkes (11/358) im besonderen. Dieses Gedankenmaterial ist aus objektiven Ursachen und subjektiven Gründen bis in die Jetztzeit präsent geblieben! Kants Antwort auf die Frage, ob es einen rechtmäßigen Widerstand des Volkes gegen das Staatsoberhaupt gebe, ob Aufruhr und Aufstand, Rebellion und Revolution unter jeder Voraussetzung todeswürdiger Hochverrat seien, ob die erforderlichen Veränderungen von Staatsverfassungen, ob der gesetzmäßige Fortschritt des Men: schengeschlechts zum Besseren ausschließlich durch Reform erfolgen müsse, werden in der Literatur als aktuell empfunden, sie werden nach wie vor widerlegt oder erneut begründet. 4 3

Die politisch, juristisch und historisch relevanten Partien des Nachlasses und der Nachschriften seiner Vorlesungen sind zugänglich in der Akademie-Ausgabe: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Berlin 1900 bis 1983, besonders Bde. 19, 21, 23, 27. * Vgl. aus der neueren Literatur Zwi Batscha, Studien zur politischen Theorie des deutschen Frühliberalismus, Frankfurt/M. 1981, S. 43—63: Bürgerliche Republik und bürgerliche Revolution bei Kant; Lewis W: Beck, Essays on Kant and Hume, New Häven 1978, S. 171 —178: Kant and the Rightof Revolution; Iring Fetcher, Kant und die Französische Revolution, in: E. Gervesheimer (ed.), Immanuel Kant 1724/1974, Bonn 1975, S. 27—43; Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963; Arthur Kaufmann (ed.), Widerstandsrecht, Darmstadt 1972; Hermann Klenner, Recht ohne Revolution. Zur Rechtslehre der reinen Vernunft, in: Neue Justiz, Jg. 28, Berlin 1974, S. 224—229; Hans S. Reiss, Kant and the Right of Rebellion, in: Journal of the History of Ideas, Bd. 17, Philadelphia 1956, S. 179; Dieter Scheffel, Kants kritische Verwerfung

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Er selbst, ein Denker der Vergangenheit, wird zu einem Denker der Gegenwart, zu einem unserer Zeitgenossen gemacht, zu einem unserer Vordenker im Doppelsinn des Wortes: man berät sich mit seinen Texten noch immer. Waren die Männer des 20. Juli 1944 legitimiert?, ist der Nato-Vertrag berechtigt?, ist ziviler Ungehorsam gegen Aufrüstungspolitik erlaubt? — Fragen dieser Art werden nach dem M a ß normativer Texte des Neuen Testaments, der UN-Menschenrechtskataloge, der Verfassungen, der Strafgesetzbücher und des Philosophen Kant beantwortet ! Letzteres dürfte mit der Klassizität des Königsbergers nicht ausreichend erklärbar sein; es muß auch mit der Interpretationsbreite zusammenhängen, die seinen gelehrten Schriften, gelegentlich sogar zu Polit-Pamphleten umfunktioniert, einfach deshalb zugebilligt wird, weil es bisher nicht gelungen ist, sie konsensfahig auf Eindeutiges zu reduzieren. So bleiben denn am Ende sich arg widersprechende Gesamturteile über Kant als politisch-juristischen Denker im Räume : Seine Staatstheorie widerspiegele preußische Staatspraxis, werden wir einerseits belehrt 5 und, so ziemlich entgegengesetzt, er sei ein höchst listiger bürgerlicher Reformist gewesen. 6 Einerseits wird ihm bescheinigt, daß er in der französischen Revolution das als erreicht oder als wenigstens angestrebt empfunden habe, worauf seine eigene Theorie hinauslaufe 7 , andererseits wird ihm nicht mal zahnloser Liberalismus zugestanden. 8 Einerseits meint man, er betrachte durch den Jakobinerterror zwar die Revolution, nicht aber deren Prinzipien als kompromittiert 9 , andererseits wird behauptet, indem er die Gewalt zur Basis des Rechts gemacht habe, habe er zwar nicht die Legitimation einer Rechtsordnung, wohl aber deren Selbstlegitimation ermöglicht. 10 Einerseits wird seinem Reformismus bescheinigt, ihm hafte das Stigma einer historischen Überholtheit vor allem unter demokratietheoretischen Aspekten an 1 1 , andererseits wird sein Konzept als das einer kleinbürgerlich-egalitären Gesellschaft von Kleinwarenproduzenten qualifiziert. 12 Das Einerseits-Andererseits könnte fortgesetzt werden ; es endete im Keinerseits. Hier mag es genügen, in der Form einiger Zwar/Aber-Thesen dem Argumentationsziel entgegenzusteuern : Zwar beansprucht Kant auch für seine Sozialtheorie, ein System reiner, von allen Anschauungsbedingungen unabhängiger Erkenntnisse und Vernunftbegriffe geliefert zu haben, praktisch aber hat er ein antifeudales Gesellschaftsmodell konstruiert, in dem Adel und Leibeigenschaft, Fideikommiß und Majorat, Absolutismus und Klerikalismus als historisch überflüssige und unrechtmäßige Institutionen markiert sind (8/449, 472, 495). Zwar hat Kant eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen konzipiert, welche machen, daß die Freiheiten aller miteinander bestehen können, aber

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des Revolutionsrechts, in: R. Brandt (ed.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin (West) 1982, S. 178 bis 217; Robert Spaemann, Kants Kritik des Widerstandsrechts, in: Z. Batscha (ed.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 347—358; Georges Vlachos, La pensée politique de Kant, Paris 1962, S. 515—525: Révolution et légitimité. So Johannes Müller, Kantisches Staatsdenken und der preußische Staat, Kitzingen 1954, S. 1. So Iring Fetcher, Herrschaft und Emanzipation, München 1976, S. 176. So Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin (West) 1974, S. 261. So Nicoiao Merker, An den Ursprüngen der deutschen Ideologie, Berlin 1984, S. 38. So Hermann Lübbe, Philosophie nach der Aufklärung, Düsseldorf 1980, S. 243. So Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt/M. 1981, S. 75. So Hajo Schmidt, Durch Reform zu Republik und Frieden? Zur politischen Philosophie Kants, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 71, Stuttgart 1985, S. 311. So Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Kant, Stuttgart 1973, S. 82.

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herausgekommen ist kein allgemeinmenschliches, sondern ein sehr spezielles, ein bürgerliches Programm nämlich, mit viel Privateigentum, Laissez-faire und politischer Rechtlosigkeit für Arbeiter und Frauen (8/433; 11/145 ff.). Zwar befinde sich — nach Kants Meinung: ein allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz — das Menschengeschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren, aber dieser Fortschritt könne nicht von unten hinauf, vom Volk, sondern nur von oben herab, vom Souverän, erwartet werden, statt zu revolutionieren, müsse der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformieren (11/362, 367 f.). Zwar sei die Idee einer dem natürlichen Recht aller entsprechenden Staatsverfassung, daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden zugleich auch, vereinigt, die Gesetzgebenden sein sollen, kein Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung, vorläufig aber seien die Monarchen, wenn sie schon autokratisch herrschten, wenigstens verpflichtet, republikanisch zu regieren, d. h. das Volk nach dem Geist der Freiheitsgesetze gemäßen Prinzipien zu behandeln (11/364). Zwar habe das Staatsoberhaupt kein Recht, Despot zu sein, d. h. das Volk nach seinen Begriffen glücklich zu machen (er müsse vielmehr seine Gesetze so geben, als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können), das Volk aber habe kein Recht, Rebell zu sein, d. h. den allgemeinmenschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit sich nicht nehmen zu lassen (11/159). Zwar habe das Volk unverlierbare Rechte gegen das Staatsoberhaupt, aber diese Rechte könnten keine Zwangsrechte sein, gegen die Gewalt des Staatsoberhaupts sei keine Gegengewalt der Untertanen, kein Widerstand, keine Widersetzlichkeit, keine Aufwiegelung, kein Aufstand, keine Rebellion und keine Revolution erlaubt (11/156). Zwar sei es süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft entsprechen, vermessen aber sei es, die vorzuschlagen, und strafbar gar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln (11/366). • Zwar habe das Volk kein Widerstandsrecht, aber ein Widerspruchsrecht habe es: die Freiheit der Feder. Das einzige Palladium der Volksrechte, in liberaler Denkungsart auszuüben, könne nicht aufgegeben werden, wie das Murren der Untertanen nicht der Jakobinerei und Rottierung verdächtigt werden dürfe, zumal nicht in einem Lande, das vom Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt liege (11/161, 359). Zwar seien im allgemeinen Revolutionen unrechtmäßig, aber die entsprechenden Vorkommnisse in England und Frankreich seien im strengen Wortsinn keine Revolutionen: sie seien durch Fehltritte der Urteilskraft des jeweiligen Staatsoberhaupts eingeleitet worden, die wegen großer Staatsschulden ihre Herrschergewalt auf das Volk übertragen hätten, dessen gesetzgebenden Willen das Mein und Dein jedes Untertans unterworfen worden sei (8/465). Zwar gebe es kein Recht auf Revolution, aber gegen eine gelungene Revolution gebe es auch kein Recht auf Gegenrevolution, der Wiedererlangungsaufruhr eines früheren Staatsoberhaupts sei unrechtmäßig (8/442; 11/246). Zwar gebe es kein Recht auf Revolution, wenn aber etwa in einem anderen Land eine Revolution stattgefunden habe, solle sie nicht als Vorwand einer noch größeren Unterdrückung benutzt, sondern als Ruf der Natur verstanden werden, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Staatsverfassung durch gründliche Reform zustande zu bringen (11/234). Das voranstehende elffache Zwar/Aber dürfte deutlich machen, daß es mit einem einfachen Abtun von Kants Illegalitätserklärung jeglicher Revolution als spießbürgerliche Zipfelmützigkeit, die Ohnmacht des deutschen Bürgertums, die Misere einer zersplitterten

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Nation verinnerlichend, nicht getan ist. Übrigens, selten genug bemerkt, tritt uns in seinem Werk eine aufsteigende Begeisterungslinie zur Sache der französischen Revolution entgegen: nicht 1789, sondern 1798 publizierte er seine weitestgehende Zustimmung. K a n t : Die französische Revolution möge gelingen oder scheitern, sie möge mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, so fände diese Revolution doch in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die. nahe an Enthusiasmus grenze und deren Ursache in einer moralischen Anlage des Menschengeschlechts liege (11/358). Auch wenn Kant kein Jakobiner, nicht einmal ein Demokrat, kein Fichte und kein Forster war: immerhin hat Ernst Gottlob Morgenbesser (1755—1824), in Kants Umfeld lebend und von seihen Gedanken inspiriert, aber sie bis ins Utopischsozialistische radikalisierend, eine in Kants Lieblingsverlag anonym erscheinende und jedenfalls: die linkeste Kritik an Preußens Allgemeinem Landrecht geliefert. 13 Immerhin haben zumindest Felix Anton Blau (1754-1798), Georg Wilhelm Böhmer (1761-1839) und Anton Joseph Dorsch (1758 bis 1819) auch mit Kant im Kopf Revolutionspraxis in Mainz betrieben; 14 Immerhin hat Johann Benjamin Erhard (1766—1827), von dem doch eher gefühlskargen Kant als derjenige bezeichnet, den er sich unter allen, die unsere Gegend je besuchten, am liebsten zum täglichen Umgang wünschte15, ungeschminkte Revolutionstheorie geschrieben, in einem Kernsatz von seinem als Lehrer und Autorität anerkannten Kant zustimmend zitiert 16 ! Die Beispiele könnten vermehrt werden, an die bereits anfangs genannten Bergk, Feuerbach und Jakob sei wenigstens erinnert. Sie belegen sowohl die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten wie die Größe des Anregungsfeldes, ohne deren gebührende Berücksichtigung weder eine angemessene Einschätzung von Kants Sözialphilosophie noch von deren Wirkungsgeschichte erreicht werden kann. Daß bei der Analyse dieser Wirkungsgeschichte, zumal unter der Last eines Neokantianismus, der mit dem Ruf „Zurück zu K a n t ! " tatsächlich an Kant vorbei und hinter ihn zurück philosophierte, weitgehend die „linken"

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Vgl. [E. E. G. Morgenbesser], Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche enthalten in Anmerkungen zum allgemeinen Landrechte und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten, bey Friedrich Nicolovius, Königsberg 1800. — Zu Morgenbesser vgl. Uwe-Jens Heuer, Allgemeines Landrecht und Klassenkampf, Berlin 1960, S. 259—270; Wolfgang Schild, Die der Natur des Menschen einzig angemessene Republik des Ernst Gottlob Morgenbesser, in: Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 424 bis 456. Vgl. Heinrich Scheel (ed.), Die Mainzer Republik, 2 Bde., Berlin 1981/84, passim. Vgl. Immanuel Kant, Briefwechsel, Hamburg 1986 (Brief Kants an Erhard vom 21. Dezember 1792. Erhard hatte am 6. Februar 1791 einen strafrechtlich-rechtsphilosophischen Thesenkatalog an Kant geschickt). Vgl. Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution, Jena und Leipzig 1795. Kant zitiert in 11/360 abgekürzt und ungenau, aber zustimmend den auf S. 189 von Erhards Abhandlung stehenden Satz: „Glücklich ist der Staat, wo die Vornehmen bei gleichem Fortschritt der Aufklärung mit dem Volk beständig so gerecht sind, um das Volk im Verhältnis seiner Aufklärung, die sie selbst befördern, zu behandeln. In einem solchen Staate geschieht das, was in anderen durch Revolutionen geschiehet, durch eine von der Weisheit bewirkte Evolution." H. Haasis hat in München 1970 Erhards Schrift neu aufgelegt, von der zentrale Passagen auch zugänglich sind in Claus Träger (ed.), Die französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, Leipzig 1975, S. 1001 — 1011. Zu Erhard vgl. Zwi Batscha, Studien zur politischen Theorie des deutschen Frühliberalismus, Frankfurt/M. 1981, S. 66—90: Johann Benjamin Erhards politische Theorie.

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Deutungen und Anregungen ausgespart blieben, ist eine Feststellung, die zu einem kleinen Forschungsprogramm motivieren möchte. Da das biblische An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Matthäus 7,16) auch von ideologiehistorischer Relevanz ist, würden sich übrigens dabei zusätzliche Argumente bei der Zurückweisung des bis zum heutigen Tag nicht verstummenden Fehlurteils einstellen, daß Kants Imperative inhaltsleere Formalismen enthielten, mit denen man gleicherweise absoluten Egoismus wie absoluten Altruismus eben deswegen rechtfertigen könne, weil aus ihnen keine materiale Norm, eben schlechterdings nichts folge. 17 Es hieße jedoch die eigentliche Bedeutung Kantischer Sozialphilosophie ziemlich mißzuverstehen, wenn man sie nach dem Maße von Pamphletliteratur mißt. Kant war kein situativer Denker, kein Aphoristiker, er war Systematiker, ein Durchdenker par excellence, ein Weltanschauungsphilosoph im nichtpleonastischen Sinn des Wortes. Wer in seinen Schlußfolgerungen progressiver war damals, war es deswegen noch nicht in seinen Denkvoraussetzungen. Der karge Fortschrittsweg menschlicher Erkenntnis verläuft ungleichmäßig, was die verwendeten Methoden und die erzielten Ergebnisse anlangt. Wertete man etwa den literarischen Widerhall aus, den Kants eingangs erwähnte Theorie/Praxis-Abhandlung hervorrief, hätte man sich vor Fehlurteilen in Gestalt vorschneller Verallgemeinerungen zu hüten: Wenn etwa der orthodoxe Kantianer Ludwig Heinrich Jakob, KärrnerModell für Schillers bekanntes Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung/ Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tunis, seinem Herrn und Meister zu widersprechen sich aufschwingt und dessen Leugnung eines Rechtes auf Widerstand mit den Beispielen ad absurdum zu führen gedenkt, das dürfe doch nicht für ein Staatsoberhaupt gelten, welches allen Bürgern verordne, zwey Gran Arsenik zu schlucken, oder allen Ehemännern, ihre Frauen umzubringen 19 , dann rennt er nicht nur bei Kant offene Türen ein, sondern kommt auch in der prinzipiellen Betrachtung des Theorie/Praxis-Verhältnisses nicht einen Fußbreit weiter. Nicht weniger schlimm steht es auch um des so wohlmeinenden Christian Garve und der seinerzeit nicht weniger Kant zugetanen Friedrich Gentz und August Wilhelm Rehberg Einwände gegen des Königsbergers Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift. 20 Garves pragmatische Position — Revolutionen seien wie Duelle gefahrliche Glücksspiele, ihr 17

Vgl. die Zurückweisung dieses Formalismus-Vorwurfs bei Heinz Wagner, Die politische Pandektistik,

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Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1980, S. 292; Johann Wolfgang Goethe, Poetische Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 2, Berlin 1966, S. 437. So Ludwig Heinrich Jakob, Antimachiavell oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams. Auf Veranlassung zweyer Aufsätze in der Berliner Monatsschrift (Sept. und Dec. 1793) von den Herren Kant und Gentz, Halle 1794, S. 19.

Berlin (West) 1985, S. 83.

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Zum Folgenden vgl. Christian Garve, Über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams und den Unterschied von Theorie und Praxis, in Beziehung auf zwei Aufsätze in der Berlinischen Monatsschrift [1800]; Friedrich Gentz, Nachtrag zu dem Räsonnement des Herrn Professor Kant über das Verhältnis der Theorie zur Praxis [1793]; August Wilhelm Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis [1794], Alle drei Abhandlungen sind von D. Henrich in Frankfurt am Main 1967 unter dem Titel Kant/Gentz/Rehberg, Über Theorie und Praxis, herausgegeben worden; die im Text angezogenen Gedanken finden sich S. 149 (Garve), 97 (Gentz), 127 (Rehberg). Vgl. auch die Erörterung des Meinungsstreits zwischen den Genannten bei Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim 1972, S. 78—102, wobei freilich der transzendentalphilosophischen Position Kants nicht auf den Grund gegangen wird.

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Ausgang ungewiß und daher zu vermeiden — war dem philosophischen Ansatz Kants, dessen transzendental begründeter Verhaltenskodex doch im bewußten Gegensatz zu jedem transzendent begründeten oder einfach empirisch gegebenen konstruiert und ein qualitativer Erkenntnisfortschritt war, einfach nicht gewachsen. Gleiches trifft auf Rehberg zu, der. in völliger Verkennung des produktiven Gedankenansatzes der klassischbürgerlichen Philosophie Deutschlands meint, auf Prinzipien a priori beruhende Systeme einer bürgerlichen Gesellschaft paßten höchstens für eine Republik von Göttern. U n d wenn G e n t z die von K a n t so prinzipiell wie nur möglich gezogene Unterscheidung zwischen einer väterlichen und einer vaterländischen Regierung verwischen möchte, indem er die beiden für vereinbar erklärt, d a n n negiert er gerade das Stück K a n t , das mit G e o r g Forsters (und Wilhelm von Humboldts) Staatskonzeption in Übereinstimmung steht 2 1 : K a n t hatte n ä m lich, sich damit in Gegensatz zu der in Preußen von Staats wegen verkündeten und praktizierten patriarchalischen Auffassung stellend, d a ß es zu den Pflichten des Souveräns gehöre, sein Volk glücklich zu machen, genau diese A m t s a n m a ß u n g zum allerschlimmsten Despotismus erklärt: Untertanen als unmündige Kinder zu behandeln, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, und daher genötigt sind, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und seiner Gütigkeit zu erwarten (11 146; 8 435). Auch wenn also die politischen Fronten einigermaßen klar sind, auf deren einer Seite Kant mit seiner starrköpfigen Weigerung steht, sich von Empirikern in seine A-prioriPrinzipien pfuschen zu lassen (11/159), und mit seiner Z u r ü c k w e i s u n g ^ limine jener pöbelhaften Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung ohne Existenzrecht (3/323 f.), und auf deren anderer Seite etwa Justus Moser mit den ach so plausiblen Argumenten des gesunden Menschenverstandes — aus wirklichen Begebenheiten schließe sich oft richtiger als aus gar zu hohen Vordersätzen u n d : der Empiriker habe das im Griffe, womit sich der Theoretiker im Kopfe quält22 — Leibeigenschaft und Erbadel legitimiert, so soll nicht etwa geleugnet werden, d a ß K a n t s Theorie/Praxis- und Revolution/Reform-Position letztlich in Aporien mündet. So großartig seine allgemeine Fortschrittskonzeption ist und seine die Gesellschaftsantagonismen als Fortschrittsvehikel begreifende A u f f a s s u n g (11/37), so zukunftsträchtig und handlungsmobilisierend seine Einsicht auch ist, d a ß wir letztlich nur das verstehen, was wir selbst machen können (Brief vom 1. Juli 1794 an J a c o b Beck), d a ß also, wer die Welt erkennen will, sie selbst gestalten muß, so lähmend war schließlich sein ignoramus, was das Wie des Fortschritts anlangt in Krisensituationen, d a die Herren dieser Erde ihre M a c h t ausschließlich dazu ausnutzen, alle Wege nach vorn abzublocken. K a n t hat diese Ausweglosigkeit aus dem Gehäuse seines intellektuellen Systems auch gespürt. In einer von der bisherigen K a n t - F o r s c h u n g buchstäblich links liegengelassenen Nachlaßnotiz, einer Vor-

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Vgl. Georg Forster, Werke in vier Bänden (ed. G. Seiner), Bd. 3, Leipzig 1971, S. 695—725: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit (erstmals 1794, postum, veröffentlicht, geschrieben aber im Herbst 1793, also zu der Zeit, als in der Berlinischen Monatsschrift der einschlägige Meinungsstreit ausgetragen wurde, als dessen radikalste Variante Forsters Gedanken gelten können); Wilhelm Humboldt, Individuum und Staatsgewalt, Leipzig 1985. Vgl. Justus Moser, Anwalt des Vaterlands (ed. F. Berger), Leipzig 1978, S. 467—481: Über Theorie und Praxis (erklärtermaßen und ausschließlich gegen Kant gerichtet, der mit einem kleinen, aber scharfen Pamphlet replizierte: Kant, Über die Buchmacherei, Königsberg 1798, abgedruckt in der Akademie-Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, Bd. 8, Berlin 1969, S. 431—438). Demokratie, Sozialismus

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arbeit zu seiner Theorie/Praxis-Abhandlung, beantwortet er seine eigene Frage, ob wohl der Untertan eine den Freiheitsprinzipien widersprechende Staatsverfassung umstoßen könne, mit einem Nein\, fügt dann aber hinzu: Aber auf die Art kann es niemals besser werden und jene Sätze gelten in der Theorie, aber nicht in der Praxis.23 Damit widerspricht er der Zentralthese seiner eigenen Theorie/Praxis-Abhandlung, wonach das, was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, auch für die Praxis gelte (11/172)! Gewiß liegt das Versagen Kants, das (subjektive) Ordnungsreglement der Gesellschaft nicht mit ihrem (objektiven) Fortschrittsprozeß in Übereinstimmung bringen, ein Recht auf Revolution zwar geschichts-, aber nicht rechtsphilosophisch legitimieren zu können, zunächst daran, daß er seine Rechtsphilosophie nicht in seine Geschichtsphilosophie zu integrieren vermochte. Ein systematischer Zusammenhang zwischen Recht und Geschichte findet sich bei Kant nicht. Das war bei Herder, erst recht bei Hegel schon anders. Letzterer hatte daher keine Schwierigkeiten, Revolutionen zu legitimieren. Hundertjähriges Recht gehe mit Recht zugrunde, wenn die Basis seiner Existenz wegfallt, heißt es bei ihm, und: das Recht des Weltgeistes gehe über alle besonderen Berechtigungen, j a : Revolution macht sich in der Geschichte immerfort, und: es wird immer revolutioniert24 Obschon Kants Philosophie gewiß nicht zu jenen zählt, die alles lassen, wie es ist, so ist ihr doch die so ersehnte Harmonisierung von Theorie und Praxis so wenig in Gedanken geglückt wie unserem Bürgertum in Taten. D a ß die dafür tiefere Ursache gesellschaftlicher Natur und den deutschen Zuständen zuzuschreiben ist, hat in einer seiner genialen Gedankenblitze der junge Marx mit seinem Satz Kants Philosophie ist die deutsche Theorie der französischen Revolution25 ausgedrückt. Tatenarm, doch gedankenvoll. Freiheit in der Einbildung. Denken über eine fremde Wirklichkeit. Großartig Kants Versuch, die bürgerliche Gesellschaft von ihrem feudalen Vorgänger mittels einer sozialphilosophischen Kopernikanischen revolutio total abzukoppeln. Freilich m u ß letztlich jedes Unternehmen scheitern, eine Privateigentümergesellschaft auf den Begriff reiner Gedanken zu bringen und sie dadurch allgemeinmenschlich zu legitimieren. Die Verallgemeinerungsfähigkeit menschlichen Denkens setzt sich dann in Widerspruch zur Verallgemeinerungsunfahigkeit menschlicher Interessen. Kants Aporien sind so gnoseologische Konsequenzen von ontologischen Antagonismen. Erst als deren Überwindungsmöglichkeiten heranreiften, war es Revolutionären in Theorie und Praxis möglich, die Theorie/Praxis-Relation auf eine Weise zu konzipieren, die uns bis heute als Herausforderung ohnegleichen im Denken und im Handeln vereint.

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Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 500. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, [1821], Berlin 1981, S. 526; ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Bd. 1, Stuttgart 1973, S. 197 f. Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. 1/1, Berlin 1975, S. 194.

JOACHIM HERRMANN

Philosophie der Universalgeschichte und die Entdeckung der Geschichtstriade im Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt 1784—1884

Zwei große Entwürfe der Universalgeschichte erlangten in den Klassenauseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten des 18. bzw. des 19. Jh. in Deutschland und darüber hinaus unmittelbare Wirkung. Beide drücken zugleich das Voranschreiten historischen Denkens und geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis im Vorfeld und in Vorbereitung von Revolutionen aus. Es handelt sich um das geschichtsphilosophische Werk von Johann Gottfried Herder, insbesondere um dessen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", erschienen seit 17841, und um Friedrich Engels' „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", erschienen 18842. Seit Herders Werk hat die Universalgeschichte zunehmend Bedeutung für die weltanschauliche Bildung gewonnen. Menschheitsgeschichtliche Entwicklungsperspektiven, aber auch konkrete und programmatische Ziele im Klassenkampf wurden aus der Universalgeschichte begründet. Sie erleichterte das Verständnis und das Engagement für fortschreitende revolutionäre Veränderungen in der Welt. Ziele und Qualitäten der beiden genannten Werke sind selbstverständlich grundverschieden; vergleichbar jedoch ist deren Rolle im Ringen um den gesellschaftlichen Fortschritt. Herder ging es um die bürgerliche Gesellschaft im Kampf gegen die feudale Reaktion. Die Universalgeschichte richtete sich gegen die überlebte Gesellschaft und zielte auf die mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundenen Ideale. Engels verfaßte den „Ursprung" in erster Linie, um im Proletariat die weltanschauliche Gewißheit von der Gesetzmäßigkeit des zukünftigen revolutionären Sieges zu stärken und zugleich wesentliche historische Traditionen und Erscheinungen, mit denen sich die revolutionäre Arbeiterbewegung insbesondere auch in Deutschland auseinanderzusetzen hatte, zu analysieren und Wege und Methoden zu deren Umwandlung bzw. Aufhebung zu weisen. Herder schrieb in den Jahren vor der Französischen Revolution in einem unter Leibeigenschaft, Absolutismus, nationaler Unterdrückung ächzenden Europa. Hier war „in den despotischen Staaten von alter Einrichtung" eine „Stockung ihrer Säfte" des Lebens eingetreten. Das würde für diese Staaten bedeuten, daß sie, „falls sie nicht schnell aufgerieben werden, bei lebendem Leibe ihres langsamen Todes sterben". 3 Die gesellschaftlichen Kämpfe 1

R. Günther!A. A. Volgina/S. Seifert, Herder-Bibliographie, hg. von den Nationalen Forschungs- u n d Gedenkstätten Weimar und der Allunionsbibliothek f ü r ausländische Literatur in Moskau, Berlin/Weimar 1978, S. 113.

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Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: M E W , Bd. 21, S. 25— 173; Joachim Herrmann, Historischer Materialismus und Menschheitsgeschichte. Zur Entstehung und Wirkung von Friedrich Engels' „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", in: MarxEngels-Jahrbuch 7, 1984, S. 9—53, mit Lit.

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Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herders Sämmtliche

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und geistigen Auseinandersetzungen um die Veränderung dieser Verhältnisse griffen in einem bis dahin nicht gekannten Maße auf die Geschichte bzw. die Geschichtsphilosophie zurück. Die Geschichte wurde als gesellschaftlich durchlebte Praxi- begriffen, deren Zusammenhänge, Regeln und Traditionen mit Naturgesetzlichkeit ii die Gegenwart und Zukunft wirkten. Das Bild von der ziehenden Kette der Weltepochei wie Herder schrieb 4 , von der Universalgeschichte, „dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen" 5 , wurde vermittelt. Die Akteure der Zeit sahen sich in dieser Kette der Menschheitsgeschichte in Schuld und Pflicht genommen, um den menschlichen Fortschritt voranzubringen, wie Schiller es in seiner Jenaer Antrittsvorlesung ausdrückte. Triebkräfte und Grundlagen der Geschichte standen zur Debatte, der Stellenwert der Revolutionen war zu bestimmen, ferner das Verhältnis von Nationalgeschichte und Universalgeschichte, wollte man mit katholischem Universalismus, Herrschefapologie und Dynastencharisma, mit den ganzen Widerwärtigkeiten der morschen, aber in Deutschland und im größten Teil Europas noch herrschenden feudalen Welt fertig werden. Dazu kam eine mächtige Ausweitung der Menschheitsgeschichte, zu der in wachsendem Umfang historische Fakten aus anderen Erdteilen eingebracht wurden. Hintergrund historischen Selbstverständnisses in dieser Vielfalt von Einzelfragen konnte nur die universalhistorische Verallgemeinerung bisheriger Geschichte sein. Die Geschichtsphilosophie nahm sich dieser an und arbeitete an den Grundlagen universalhistorischer Erkenntnisse und an universalhistorischen Darstellungen. Die großartigste universalgeschichtliche Leistung dieser Art brachten 1784 die „Ideen" von Johann Gottfried Herder. Dieser Entwurf fußte in einem breiten geistigen Umfeld und in ausgedehnten eigenen Erfahrungen, gesammelt zwischen Petersburg und Paris. Herder blickte in die Zukunft und schrieb sein Werk unter dem Druck der Fragen und Probleme seiner Epoche; er wollte, um geistiges Terrain zu gewinnen, die Vergangenheit „bewältigen" und den Anachronismus der feudalabsolutistischen Verhältnisse seiner Zeit und den Weg über diese hinaus unter universalgeschichtlichen Maßstäben begründen. So ließe sich wohl das Grundanliegen Herders in knappen Worten bestimmen. Eine stabile und traditionsreiche Klassengesellschaft alten Typs, mit der es Herder zu tun hatte, war die nunmehr zerfallende mittelalterliche europäische Feudalgesellschaft. Sie war von christlichem Universalismus umgeben, der verschiedene Nuancen aufweisen konnte, im großen und ganzen jedoch der Lehre Augustins über die Rolle von Staat und Kirche, über das Verhältnis von Weltstaat und Gottesstaat, von Herrschaft und Knechtschaft folgte. Kirchenvater Augustin hatte in der Untergangsepoche des römischen Weltreiches sein Konzept vom Gottesstaat mit dem Wechsel der Weltreiche verbunden, von Babylon über Persien, Griechenland und Rom. Das Heilige Römische Reich war im frühen Mittelalter in die Folge getreten und wahrte diesen Universalismus. Dieses Reich war zur Zeit Herders in großen Teilen Europas gesellschaftliche Gegenwart. Eine Voraussetzung für die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse durch das Bürgertum war daher in Deutschland

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Werke,hg. vonB. Suphan, Berlin 1877ff.;Bd. 13, 14, Berlin 1887, 1909;hierBd. 14,S. 94 (zitiert in folgendem als SW), Schreibweise und Interpunktion nach „Herders Werke in fünf Bänden", Bd. 4, Weimar 1963, S. 283 f. (zitiert im folgenden als AW). Herder, SW 17, S. 318. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, Jena 1790, zit. nach Reprint: Reden und Schriften, hg. von Friedrich Schneider, H. 1: Die Jenaer Antrittsvorlesung von Friedrich Schiller, Jena 1953, S. 42.

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ein neues Verständnis von und ein neues Verhältnis zu der religionsgefaßten Geschichte bzw. zu entsprechenden Gesellschaftsmodellen. Es ging um die Überwindung des Universalismus des christlichen Feudalzeitalters. Seit der Renaissance wurde daran gearbeitet. Der naheliegende Weg führte über die Negierung des mittelalterlichen Universalismus zurück in die vorchristliche Antike der Polisgesellschaft. Giordano Bruno hatte das folgendermaßen ausgedrückt. „Ja, es sind abgehauene Wurzeln, die von neuem ausschlagen, alte Sachen, die wiederkehren, verkannte Wahrheiten, die sich wieder in Geltung bringen, es ist neues Licht, das nach langer Nacht am Horizont unserer Erkenntnis wieder aufgeht und sich allmählich der Mittagshöhe nähert." 6 Universalgeschichtliche Sicht wurde um so dringender, je undurchsichtiger, komplizierter die Fronten der geistigen Auseinandersetzung verliefen und je mehr Menschen davon erreicht wurden. Es ist daher gewiß kein Zufall, daß gerade unter den Verhältnissen im Heiligen Römischen Reich die Frage nach einer modern-bürgerlichen Universalgeschichte aufgeworfen wurde. Vor Herder hatten sich im 18. Jh. nur wenige Gelehrte damit befaßt. Im großen und ganzen war die Lage trostlos. 7 G. W. Leibriiz schrieb zwar über Grunderwartungen an die Geschichte: „Dreierlei erwarten wir von der Geschichte: Erstens das Vergnügen an den historischen Tatsachen, sodann jedoch vor allem nützliche Lehren für das Leben und schließlich die Herleitung der Ursprünge des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen, denn alles läßt sich am besten von seinen Ursachen her erkennen." 8 Sodann bewegte er sich jedoch zwischen biblischer Geschichte und weifischem Königshaus, ohne die Geschichte als Universalgeschichte zu begreifen. 9 Johann Gottfried Winckelmann und andere begannen in dieser Zeit die „abgehauenen Wurzeln" bei den Griechen zu suchen und deren „Ausschlagen" zu bewirken, unter „Einpfropfung" der Ideen der eigenen Zeit. Subjektiv, gleichsam sklavisch, völlig fixiert auf die scheinbar unversehrte alte Kunstwelt der Griechen, schränkte Winckelmann zugleich den aus dem Rückgriff entstehenden universalgeschichtlichen Ansatz gegen das christlichfeudale Geschichtsbild ein. Er fand in Herder bereits 1777 einen trefflichen Rezipienten und Kritiker: „Wo bist du hin, Kindheit der alten W e l t . . . Wo bist du, geliebtes Griechenland, voll schöner Götter- und Jugendgestalten, voll Wahrheit im Truge und Trug voll süßer Wahrheit? Deine Zeit ist dahin . . . Das Rad der Zeiten, auf das wir geflochten sind, drehet sich gewaltsam und wie im zerstörenden, reißenden Strudel . . ." 1 0 Hatte Winckelmann die Frage nach dem „Vorher" im Hinblick auf das noch lastende Mittelalter auf dem Felde der Kunst gestellt, wenn auch einseitig, so doch nicht ohne breitere Wirkung, so brachte Pufendorf das historische Denken voran, indem er die Anregungen des französischen Naturrechtlers Bodin aufgriff, der nach den Ursachen geschichtlicher Bewegung und nach den Anfangen sozialer Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft gefragt hatte. Wie später Rousseau hatte er diese im Privateigentum an Grund und Boden, also in der Existenzgrundlage feudaler Ausbeutung und Gesellschaftsorganisajion gefunden. Pufendorf 6

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Giordano Bruno, Del'infinito, universo et mondi, zitiert nach: Gesammelte Werke, Bd. 3: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten, dt. Übersetzung und hg. v o n L . Kuhlenbeck, Jena 1904, S. 138 (Fünfter Dialog). A. V. Gulyga, J. G. Herder, Leipzig 1978, S. 45. Übersetzt nach Gothofredi Guilelmi Leibnilii Opera omnia, ed. L. Dutens, Bd. IV/2, Genevae 1768, S. 53. Vgl. u. a. Günter Scheel, Leibniz als Historiker des Weifenhauses, in: Leibniz. Sein Leben — sein Wirken — seine Welt, hg. von W. Totok und C. Haase, Hannover 1966, S. 227—276; Werner Conze, Leibniz als Historiker. Leibniz zu seinem 300. Geburtstag, 1646—1946. Lfg. 6, Berlin (W) 1951. Herder, AW 5, S. 2 5 1 - 2 5 4 ; SW 8, S. 4 8 1 - 4 8 3 .

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sah in der eigenen menschlichen Arbeit die angemessene ethische Grundlage menschlicher Gesellschaftsverhältnisse und in den Veränderungen der u. a. geographisch geprägten Lebensbedingungen eine wesentliche Ursache geschichtlicher Veränderungen. Diese Auffassung von den Voraussetzungen mittelalterlicher Feudalverhältnisse und der diesen gegenüber durchzusetzenden neuen Eigentumsverhältnisse hat J. G. Herder aufgenommen. Zusammen mit der Naturrechtskonzeption bildete diese historische Erkenntnis eine Grundlage seiner Auffassung von der Geschichte und von der zukünftigen Gesellschaft. 11 Zur Zeit von Herder entwickelte — nur am Rande kann darauf verwiesen werden — der Pfarrerssohn aus Franken August Ludwig Schlözer seit 1772 seine „Vorstellung einer Universalhistorie". 12 Der „Fortgang des menschlichen Geistes von Entdeckung zu Entdeckung, von Erfindung zu Erfindung bis zur jetzigen Kultur" galt ihm als wesentlicher Inhalt der Universalgeschichte. 13 Die „Universalgeschichte" lag gleichsam in der Zeit, und Friedrich Schiller widmete wenige Wochen vor der Französischen Revolution am 26. Mai 1789 diesem Thema seine Antrittsrede: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" 14 Obschon jüngeren Datums als die „Ideen" Herders, sei zunächst knapp auf das Konzept Schillers eingegangen. 15 Die Theorie der Universalgeschichte, synonym auch Weltgeschichte, die Schiller entwickelte, brachte einige bedeutsame Erkenntnisse, wies jedoch deutliche Grenzen auf. Universalgeschichte, führte Schiller aus, ist „eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts. . „ d i e wie Ursache und Wirkung in einander greifen". 16 „Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben." Der Universalhistoriker verfolgt diese Kette rückwärts „von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen", um dann „auf dem gemachten Weg umzukehren, und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter herunter zu steigen. Dies ist die Weltgeschichte, die wir haben . . ," 1 7 Dann kommt „ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüths, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereignisse des entferntesten Alterthums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von aussen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren." 18 Aus der Fähigkeit des Geistes, Ursache und Wirkung zu erkennen, „wird er geneigt. . ., Mittel und Absicht zu 11

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Hermann Klenner, Herder und das historische Denken in der Rechtswissenschaft, in: Johann Gottfried Herder, Sitzungsberichte der AdW der D D R 8 G/1978, Berlin 1978, S. 40. August Ludwig Schlözer, Vorstellung einer Universalhistorie, 2 Bde., Göttingen 1772f.; 2 1775; ergänzt durch die Vorstellung der Universalhistorie, mit Anhang: Ideal der Weltgeschichte, 3 1785—1789. Günter Mühlpfordt, Völkergeschichte statt Fürstenhistorie — Schlözer als Begründer der kritisch-ethnischen Geschichtsforschung, in: Jahrbuch für Geschichte 25, 1982, S. 23—72; bes. S. 34. Schiller, vgl. Anm. 5. Ebenda S. 6. Ebenda S. 30. Ebenda S. 32 f. Ebenda S. 35.

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verbinden, . . . er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal, und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser grosse Schauplatz ihm darbietet." 1 9 Von dieser subjektiven Art der Annäherung an die Geschichte ausgehend stellte Schiller Fragen wie z. B.: „Was erhielt in Italien und Teutschland so viele Thronen, und ließ in Frankreich alle, bis auf Einen, verschwinden ? — Die Universalgeschichte lößt diese Frage." 2 0 „Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit" sind das „reiche Vermächtniß" der universalgeschichtlichen Kette, in der Schiller sich sah und in der er dieses Vermächtnis für die folgende Generation zu mehren die Pflicht und Schuld erkannte. 2 1 Dieses Konzept enthielt also keine methodischen Grundlagen für die objektive Erkenntnis historischer Zusammenhänge; Ansätze dazu, wie sie sich bei Pufendorf fanden, spielten keine Rolle. Geschichtsepochen zu erkennen und zu beschreiben wie Herder (s. u.) unternahm Schiller auch in der Theorie nicht. 22 Damit jedoch konnte er auch das Problem der Revolution, deren objektive Notwendigkeit in der Universalgeschichte, nicht aus historischer Erkenntnis heraus analysieren, ja nicht einmal als solches erkennen. Eine gültige Aussage, von der später auch Marx und Engels bzw. die materialistische Geschichtsforschung ausgingen, brachte Schiller in das Konzept der Universalgeschichte ein: das Verständnis von den in der Welt nebeneinander auf verschiedenen Entwicklungsstufen lebenden Völkern und Menschengruppen als Ergebnis der ungleichen Entwicklung im universalgeschichtlichen Nacheinander, so daß sich aus den Daseinsbedingungen zeitgenössischer „Wilder" Analogieschlüsse auf die Lebensbedingungen entfernter Vorfahren der Völker auch in Europa ergeben, „um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen, und den verlohrnen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen". 23 Schiller hielt seine Vorlesung, nachdem Herders „-Ideen" erschienen waren. Es war jedoch — im Unterschied zu Herder — abstrakte philosophisch-idealistische Universalität, der Schiller literarischen Ausdruck verlieh. Ganz anders Herder, dessen „Ideen" ein abstraktes Konzept in konkreter Geschichtsdarstellung vortrugen und so diese unmittelbar in die geistigen Auseinandersetzungen einbrachten. Herder war in ostpreußischen Landstrichen aufgewachsen, in denen die Feudalgesellschaft in Despotie und Leibeigenschafts-Sklaverei verfallen war. Handel und Gewerbe hatten einen schweren Stand, und geistlicher Despotismus hielt Aufklärung und aufklärende Gedanken nieder. Gerade noch war Herder der Requirierung, die langjährigen sklavischen Militärdienst gebracht hätte, entgangen. Der Eindruck war so nachhaltig, daß Herder nie wieder nach Preußen zurückkehrte. 24 Der weitere Weg führte ihn nach Riga in Rußland mit dem relativ freien Klima der Patrizierherrschaft unter Kuratel des Zarenreiches, wie solches in den Städten am Baltischen Meer möglich war. Als er von dort 1769 nach Westeuropa aufbrach, fand er sich mit den absolutistischen Staatsordnungen und duodezfürstlichen Verzweigungen des spätfeudalen Deutschlands konfrontiert. 19 20 21 22

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Ebenda S. 36 f. Ebenda S. 25. Ebenda S. 42. Ernst Engelberg, Friedrich Schiller als Historiker, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. von J. Streisand, Berlin 1969, S. 24 u. a. Schiller, wie Anm. 5, S. 16. Rudolf Haym, Herder, Bd. 1, Berlin 1958.

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Die geistige Opposition jener Zeit suchte auch dort ihre Vorlagen und Modelle in der Geschichte. Das feudale Mittelalter galt ihr fast durchweg als großer Kulturbruch und Verirrung. Die hehren Gefilde griechischer und römischer Geschichte zogen vor allem in ihren Bann. Johann Winckelmann war — wie bereits bemerkt — Vorreiter antiker Kunstentdeckung und Kulturschwärmerei. Andre, darunter Friedrich Gottlieb Klopstock, suchten in bardigen Oden altgermanischen Einheitsgeist, altgermanische, vorfeudale Waldursprünglichkeit zu beschwören und damit die finsteren Schatten des Mittelalters zu bekämpfen. Auch an Apologeten der absoluten Fürsten fehlte es nicht, die aus denselben Quellen schöpften. So hielt 1782 E. F. von Hertzberg, Mitglied der Berliner Akademie, ebendort eine Rede „Von der Überlegenheit der Deutschen gegen die Römer und dem Ursprung der meisten Nationen, welche die verschiedenen Reiche Europens jetzt bewohnen, aus den Preußischen Staaten". Germanen, dem preußischen Staatsgebiet entsprungen, hätten überall in Europa herrschende Klassen, Königreiche, geschaffen, die, „nach der gegenwärtigen allgemeinen Verfassung von Europa zu urteilen, vermutlich so lange als die Welten selbst bestehen werden". 25 Herder lehnte solche Geschichtsapologetik ebenso ab wie leichtfertige Geschichtsschwärmerei. In seinem „Denkmal Johann Winckelmanns", im Jahre 1777, auf das bereits hingewiesen wurde, hatte er zugleich seine Position zur Geschichte und Kunst der Antike bestimmt. 26 Für ihn war, bei aller Achtung vor dem Engagement Winckelmanns, dessen Verklärung der Antike keine Grundlage universalgeschichtlicher Betrachtungen und Darstellungen. Herder ging es um eine objektive Bewertung der Geschichte und ihrer Leistungen, um Triebkräfte und Zusammenhänge, nicht um einfache Analogie oder willkürliche Aktualisierung des Vergangenen. ^ In der Vorrede zu den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" heißt es: „Schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der Wissenschaften noch in alle dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entziehet, kam mir oft der Gedanke ein, ob denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe, nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der Menschheit im Ganzen und Großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte." 27 Er ging aus von der Frage „dieser Gott sollte . . . hier keinen Plan haben?" 2 8 Und er fand Naturgesetz in der Geschichte, er fand Zugang „zur natürlich fortschreitenden Geschichte des Menschengeschlechts als zur Naturgeschichte der Erde". 2 9 „Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff, im Größesten sowohl als im Kleinsten auf einerlei Gesetze gegründet." 30 Damit schied Gott als Verursacher historischer Bewegung aus der Geschichtskonzeption Herders aus: „Die Gottheit hatte ihnen (den Menschen) in nichts die Hände gebunden als durch das, was sie waren, durch Zeit, Ort und die ihnen einwohnenden Kräfte . . .; den Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Prinzipium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an 25

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Ewald Friedrich v. Hertzberg, Drey Abhandlungen. 1) Von der Überlegenheit der Deutschen gegen die Römer und dem Ursprung der meisten Nationen, welche die verschiedenen Reiche Europens jetzt bewohnen, aus den Preussischen Staaten, Berlin und Leipzig 1782, S. 36f. Herder, AW 5, S. 251 f.; SW 8, S. 481 f. Ebenda, AW 4, S. 8; SW 13, S. 7. Ebenda, AW 4, S. 9; SW 13, S. 7. Ebenda, AW 4, S. 37; SW 13, S. 37. Ebenda, AW 4, S. 16; SW 13, S. 16.

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in Bewegung . . . Wir sehen also auch, daß sich die Natur zu Errichtung dieses Gesetzes einen so weiten Raum erkor, als ihr der Wohnplatz unsres Geschlechts vergönnte; sie organisierte den Menschen so vielfach, als auf unsrer Erde ein Menschengeschlecht sich organisieren konnte." 3 1 Naturgeschichtliche Determiniertheit in unmittelbarem Sinne von geographisch-klimatischer und naturkräftiger Umweltwirkung auf die Geschichte der Menschheit wie auch Determiniertheit in übertragenem Sinne von gesetzmäßiger Entwicklung bildeten für Herder Axiome historischer Forschung und Philosophie. 32 Solche Einsichten führten ihn bis zur Diskussion der Verbindung des Menschen mit dem Tierreich. 33 Eine vergleichbare Methode und Konzeption zur Bewertung der Geschichte und ihrer Leistungen gab es zuvor in Deutschland nicht. Herder war der erste, der die Geschichte als einen einheitlichen, universalgeschichtlichen Prozeß außerhalb der biblischen Geschichte und auf der Grundlage von materialistischen Ansätzen sah. Die Geschichte bewegt sich selbst, als Einheit von Universalgeschichte und Nationalgeschichte, von naturgeschichtlichem Zwang und freier Entscheidung, von Aufblühen und Verblühen der Völker und Nationen, in stetem Fortschreiten des Ganzen. Herder hat dabei offensichtlich unter starkem Einfluß Spinozas gestanden. 34 Aber gerade in seiner Geschichtsphilosophie ist vorwiegend Eigenständigkeit zu erkennen. Einige Stellen, die unter dem Gesichtspunkt einer Spinoza-Abhängigkeit interpretationsfahig sind, lassen sich gewiß anführen. 3 5 Wesentlicher erscheinen jedoch die positiven Aussagen, das Ringen um historisch-theoretische Begriffe und Erklärungen, ohne die Hinzuziehung eines immanenten Geistes oder mechanischer Determiniertheit. Selbst direkte Polemik gegen die Annahme einer „qualitas occulta" in gesellschaftlichen Erscheinungen findet sich. 36 Die Existenz von „Keimen", in denen die Ausprägung von Menschen, Ereignissen und historischen Abläufen präformiert sei, lehnte er ausdrücklich ab. Andererseits steht außer Zweifel, daß Herder weltanschaulich eine Gottesvorstellung hatte, die er jedoch als Abstraktum, als Natur, als Geist dachte. Gott konnte nicht mehr als ein erster Anstoßer gewesen sein. 37 Die aufsteigende Linie der Geschichte, von der Herder ausging, war ein mächtiger Stimulus für die Beurteilung seiner Gegenwart und der zukünftigen Entwicklung. Diese geschichtsphilosophische Auffassung war aus den Studien weltweiten Materials gewonnen. Sie enthielt jedoch zugleich idealistisch-theologische als auch teleologische Züge, insofern Herder der 31

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Ebenda, AW 4, S. 346; SW 14, S. 210f.; vgl. auch Walter Dietze, Johann Gottfried Herders historische Stellung in der Geschichte deutscher Literatur und Philosophie, in: Johann Gottfried Herder, wie Anm. 11, S. 5 f., 9. Herder, AW 4, S. 34, 37; SW 13, S. 34f., 37f. u. a. „Sobald der Mensch also seinen Verstand in der leichtesten Anregung brauchen lernte, d. i., sobald er die Welt anders als ein Tier ansah . . ." ist eine der evolutionistischen Fragestellungen Herders — vgl. AW 4, S. 113; SW 13, S. 162; „Schon als Tier hat der Mensch Sprache" (AW 2, S. 79; SW 5, S. 5). Haym, wie Anm. 24, Bd. 1, S. 669, 708; Bd. 2, S. 302 u. a. Dieter Dünger in seiner Rezension zu Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1967, S. 223 f., spricht von Pantheismus und spontanem Materialismus.; Jänos Rathmann, Herders Methode in seiner Geschichtsphilosophie, in: Ebenda, 1974, S. 342, hebt' hervor: „Obwohl der Einfluß der pantheistischen Seite in Spinozas Philosophie auf Herder nicht zu unterschätzen ist . . . , wirkte Spinozas Dialektik mindestens ebenso tief auf Herders Denken, der ja für die Dialektik aufgeschlossen war." Herder, AW 2, S. 97; SW 5, S. 26. Dietze, wie Anm. 31, S. 9.

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geschichtlichen Entfaltung das Ziel „Humanität" unterstellte. Zwiespältig aber auch hier, denn die Verwirklichung der Humanität galt ihm als konkreter gesellschaftlicher Prozeß, verbunden mit gesellschaftlichem Fortschreiten, nicht zuletzt dank der Entwicklung der materiellen Basis der Gesellschaft. 38 So werden im ersten Teil der Humanitätsbriefe (geschrieben 1793) offensichtlich nicht zufallig solche Fragen wie die der Naturauseinandersetzung und Naturaneignung durch Tätigkeit, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das Problem der sozialen Kontinuität behandelt. Erst in These 23 wird von „Verstand und Güte", den beiden Polen, „um deren Achse sich die Kugel der Humanität bewegt", gesprochen. 39 Offenbar gab es in den Schaffensperioden von Herder ein Schwanken zwischen Versuchen zur materialistischen Erklärung historischer Vorgänge und dem Hervortreten von Überlegungen darüber, wie sich geistig-göttliche Prinzipien verwirklicht haben könnten. Wesentlich und dominierend für die Geschichtsauffassung Herders in den „Ideen" jedoch ist der Anflug spontanen Materialismus und dialektischer Interpretation, insofern Herder keine vom Schöpfer präjudizierte Entwicklung als Prinzip setzte, sondern den Fortgang der Geschichte aus den in Natur und Gesellschaft waltenden Gesetzmäßigkeiten, darunter den Auseinandersetzungen in der Gesellschaft, erklärte. In einigen Passagen hob er die Veränderungen des Verstandes in Abhängigkeit von der materiellen Basis der Geschichte hervor, ohne freilich das Wesen dieser Beziehungen methodisch erfassen zu können. 40 Die Philosophie seiner Zeit kritisierte er, weil sie vom Leben gelöst sei, während in alter Zeit „der philosophische Geist nie für sich allein bestand, von Geschäften ausging und zu Geschäften eilte . . ." Heute hingegen, so setzte er fort, seien die Verhältnisse ganz anders: „Ein Geschäft auf der Welt, wollt ihrs übel besorgt haben, so gebts dem Philosophen." 41 Ein gravierender konzeptioneller Unterschied zu Schillers „Universalgeschichte" ist damit deutlich ausgesprochen. Vor allem aber ist die von Herder gewonnene Erkenntnis über die souveräne Rolle des Menschen in der Gesellschaft und in der Geschichte ein zum Handeln drängender Stimulus.. Für die Praxis wog es zunächst gering, daß er die letzten Kräfte nicht erkannte, die die Geschichte bewegen: die gesellschaftliche Produktion, die Entwicklung der Produktivkräfte als Basis gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der Natur und zugleich Grundlage für die Gestaltung der Gesellschaftsverhältnisse selbst. Auf Teilaspekte ist er jedoch auch hier gestoßen: auf die Rolle der Arbeit bei der Auseinandersetzung mit der Natur, in der Entwicklung der Völker 42 und als Basis des Lebens. „Allenthalben sehen wir also das große Gesetz der Menschennatur, daß, wo sich Tätigkeit und Ruhe, Geselligkeit und Entfernurfg, freiwillige Betriebsamkeit und Genuß derselben auf eine schöne Weise gatten, auch ein Kreislauf befördert werde, der dem Geschlecht selbst sowohl als allen ihm nahenden Geschlechtern hold ist. Nichts ist der menschlichen Gesundheit schädlicher als Stockung ihrer Säfte, in den despotischen Staaten von alter Einrichtung ist diese Stockung unvermeidlich, daher sie meistens auch, falls sie nicht schnell aufgerieben werden, bei lebendem Leibe ihres langsamen Todes sterben . . ," 4 3 Dieser Gedanke zieht sich durch das Werk Herders 38 39 40

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Herder, AW 5, S. 93ff.; SW 17, S. 115ff. Ebenda, AW 5, S. 98; SW 17, S. 120. Ebenda, AW 1, S. 144; SW 4, S. 410f.; AW 2, S. 79ff.; SW 5, S. 5ff.; AW 2, S. 327; SW 5, S. 530f.; AW 4, S. 360ff.; SW 14, S. 225ff.; AW 5, S. 93ff.; SW 17, S. 115ff. Ebenda, AW 2, S. 332; SW 5, S. 535 f. Ebenda, AW 4, S. 89, 227; SW 13, S. 137, 335; Hände als Werkzeuge und großes Hilfsmittel der Vernunft; Ideen, die aus der Arbeit entstehen: AW 5, S. 95; SW 17, S. 117. Ebenda, AW 4, S. 283f.; SW 14, S. 94.

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und kehrt bei der Analyse verschiedener historischer Perioden wieder. 44 „Weder Krieger noch Mönche nähren ein Land." Bischöfe und Edle machten das Volk leibeigen. „So sehet man, daß damit dem Staat seine lebendigste Triebfeder, der Fleiß der Menschen, ihr wirksamer freier Erfindungsgeist auf lange geraubt war." 4 5 Wahrhaftig eine selten klare Erfassung des dialektischen Verhältnisses zwischen den Ausbeuterordnungen und ihrer Wirkung auf die Entwicklung der Produktivkräfte. Zugleich gab es für Herder keinen Menschen an sich, sondern nur in der menschlichen Gesellschaft, „ohne die kein Mensch aufwachsen, keine Mehrheit von Menschen sein könnte. Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren." 4 6 Die Humanität ist nach Herder Ziel der Geschichte und des Menschen. Sie war einerseits zwar ein abstraktes Ziel, zugleich aber auch eines, das sich im Geschichtsprozeß, im Fortschreiten der Geschichte, deren Grundlagen sich nach Naturgesetzen — von denen auf einige hingewiesen wurde — vollziehen, verwirklicht. Die Ausbildung der Humanität erfolgt in der Auseinandersetzung von Individuum und Gesellschaft mit Natur und Gesellschaft. 47 Auf diese Weise gelang es Herder in Ansätzen, Beziehungen zwischen ökonomischer Basis, Gesellschaft und Individuum im Geschichtsprozeß und die Wechselbeziehungen zwischen diesen Polen der Gesellschaft zu formulieren. In diese Beziehungen spielte kein Gott oder Weltgeist oder irgendeine andre gesetzte Größe hinein, sondern sie bestanden aus sich selbst und infolge des allgemeinen Zusammenhanges mit der Natur. So vollzog Herder realiter eine Entleerung der Geschichte von Gott und Religion. Die Religion, auch wenn sie vielfach einbezogen wird, war für ihn nicht absolute Größe der Geschichte, sondern eine historische Erscheinung, deren Institution und Inhalte wechseln und die sich schließlich mit fortschreitender Geschichte selbst aufheben wird. Sie wird Philosophie. So sei offenbar, daß auch im Christentum früher oder später alles absterben müsse oder absterben werde, was sich von dessen humanistischem Gehalt ausschließe. 48 Ein Hauptglied der christlichen Religion, der Jenseitsglaube, wird ausdrücklich aus der Geschichte hinausgeworfen. 49 Eben aus dieser Sicht der Dinge jedoch ergab sich für Herder kein Widerspruch aus seiner praktischen Tätigkeit als Pfarrer und seiner streckenweise materialistischen Konzeption vom Geschichtsprozeß. Das eine schloß das andre nicht aus, und für seine Zeit war er der Überzeugung, daß die Religion ein Mittel zur menschlichen Vervollkommnung sei. Bekanntlich hat F. Engels in ähnlicher Weise die Rolle der Religion im Hinblick auf die Einbeziehung großer Menschenmassen in den Klassenkampf zur Überwindung des Feudalismus beurteilt. 50 Die Einsicht Herders in die Geschichte führte ihn zu bemerkenswerten Erkenntnissen und Prognosen. Die erste Prognose betraf seine geschichtsphilosophische Methode selbst: „In den meisten Stücken zeigt mein Buch, daß man anjetzt noch keine Philosophie der mensch44 45 46 47

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Ebenda, SW 14, S. 422, 394. Ebenda S. 394. Ebenda, AW 4, S. 111; SW 13, S. 159. Ebenda, AW 4, S. 147;SW 13,S. 196. Auf die u. a. darin liegende dialektische Denkweise verwies Wolfgang Heise, Der Entwicklungsgedanke als geschichtsphilosophische Pragmatik. Zur Gemeinsamkeit von Herder und Goethe in der frühen Weimarer Zeit, in: Goethe-Jahrbuch 93, 1976, S. 116—138, 128. Herder, SW 14, S. 316; Dietze, wie Anm. 31, S. 9. Herder, AW 5, S. 99; SW 17, S. 120. Engels über die drei großen Entscheidungsschlachten des Bürgertums gegen den Feudalismus (Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"), in: MEW, Bd. 22, S. 299 ff.

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liehen Geschichte schreiben könne, daß man sie aber vielleicht am Ende unsres Jahrhunderts oder Jahrtausends schreiben werde." 51 Die zweite Prognose betraf den Gang der geschichtlichen Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft. „Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit" 5 2 , sie sei eine „natürlich fortschreitende Geschichte des Menschengeschlechts als zur Naturgeschichte der Erde" gehörend. 53 Unter diesem Gesichtspunkt verfolgte er den Gang der Universalgeschichte von den Anfangen der Menschheit über die Epoche der orientalischen Völker, der Griechen und der Römer. Besondere Bedeutung maß er der Überwindung Roms durch die Barbaren und der Herausbildung der europäischen Völker des frühen Mittelalters zu. Es lag in seinem epochalen Entwicklungskonzept, daß er die Gegensätzlichkeit dieser Umbruchsepoche erkannte und darstellte. Die Ausweitung feudalstaatlicher Macht, geistiger und religiöser Despotie und kirchlicher Hierarchie schlug die Völker Europas in ihren Bann und bestimmte fortan die Geschichte. Herder konstatierte diesen Sachverhalt, ohne jedoch zugleich die positiven Leistungen zu verkennen, die die neue feudale Gesellschaft brachte. Dieses tiefe Verständnis für den dialektischen Charakter der Geschichte wird besonders bei der Beurteilung Karls des Großen und der päpstlichen Hierarchie deutlich. 54 Die fortschreitende Geschichte verlief also nicht geradlinig, wie Herder mehrfach und in verschiedenem Zusammenhang betonte, sondern im Kampf der Gegensätze. Das hatte Folgen für die Revolutionsauffassung Herders. Er schrieb: „Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr, es ist unserm Geschlecht so nötig wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde . . ," 5 5 Nach Ausbruch der französischen Revolution war er überzeugt, daß die Revolution zur Schaffung der Republik fortschreiten müsse, nicht zur „gemäßigten Monarchie", d. h. zur konstitutionellen Monarchie, „denn nur Despotismus oder gemeines Wesen sind die beiden Endpunkte, die Pole, um welche sich die Kugel drehet". 5 6 Damit begründete Herder aus der Geschichte selbst die Dialektik von Evolution und Revolution als Grundbedingung historischen Fortschritts — eine Erkenntnis, die erst von Karl Marx und Friedrich Engels auf neuer Grundlage weitergeführt wurde. 57 Schließlich konnte Herder auch die historischen Voraussetzungen und Grundlagen der Entstehung und Entwicklung der Völker tiefgründiger erfassen. Im wesentlichen lag seiner Konzeption die Beobachtung zugrunde, daß sich jedes Volk unter spezifischen geographischen, klimatischen und historisch-traditionellen Bedingungen als relativ stabile Gemeinschaft mit entsprechendem Nationalcharakter ausbilde, der auf die Verwirklichung der 51 52 53 54

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Herder, AW 4, S. 12; SW 13, S. 10. Ebenda, AW 4, S. 333; SW 14, S. 145. Ebenda, AW 4, S. 37; SW 13, S. 37. Joachim Hertmann, Die Bedeutung Herders für die Wissenschaft von der Frühgeschichte der Menschheit und für die Herausbildung von Forschungsrichtungen, in; Johann Gottfried Herder, wie Anm. 11, S. 26. 28. Zum Mittelalterbild Herders vgl. Heinz Stolpe, Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter, Bferlin 1955. Die an sich verdienstvolle Arbeit berücksichtigt in zu geringem Maße, daß das Mittelalterbild Herders Bestandteil seines Gesamtkonzepts von der Geschichte ist. Herder, AW 4, S. 244; SW 13, S. 353; vgl. auch Heinrich Scheel, Herders Stellung zur politischen Grundfrage seiner Zeit, in: Johann Gottfried Herder, wie Anm. 11, S. 15—22. Herder, AW 5, S. 195; SW 18, S. 317. Vgl. dazu, ohne jedoch auf Herder einzugehen, Manfred Kossok, Karl Marx und der Begriff der Weltgeschichte, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , 4 G, Berlin 1984, bes. S. 23—25.

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Geschichte — Humanitas — und auf das konkrete Verhalten der Völker in der Geschichte einwirke. Herder trug die Fakten zusammen, die ethnische Eigenarten ausbildeten. Er erklärte damit den National- oder Volkscharakter historisch, nicht philosophisch-idealistisch, wie später Hegel und vor ihm Kant. Für Herder war er Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Entwicklung und Auseinandersetzung mit der Natur und daher wandelbar. Hegel erklärte ihn später als konkrete Äußerung des Weltgeistes. 58 Herder schrieb 'den historischen Existenz- und Entwicklungsformen der Gesellschaft, von ihm als Nationen oder Völker bezeichnet, eine relative historische Stabilität (aber eben nicht absolute!) zu. In den Völkern verwirklichte sich Geschichte und Humanität; bei ihnen lag gewissermaßen die Verantwortung vor der Geschichte, und er gestand diesen nicht nur den Kampf gegen nationale Unterdrückung zu, sondern verlangte ihn geradezu als historische Bewegungsform. 59 Es bedarf nicht besonderer Vorstellungskraft, daß die Ideen vom Recht der Völker auf Selbstbestimmung zu einer geistigen Sprengkraft innerhalb der spätfeudalen Staaten- und Völkergefangnisse werden mußten, zumal der andre Grundsatz hinzutrat: „so ist auch dem Staat keine andre als die Naturordnung die beste, daß nämlich auch in ihm jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte"; „. . . der natürlichste Staat ist also auch ein Volk mit einem Nationalcharakter". 6 0 Solche Ideen konnten neben andren zur Grundlage nationaler Geschichtsforschung werden — im unterdrückten Polen, bei Tschechen und Slowaken, Ungarn, Serben und im zaristischen Rußland. 6 1 Aus der universalgeschichtlichen Einheit der Geschichte, die sich über Völker und Nationen verwirklichte, ergab sich für Herder zwangsläufig die Möglichkeit und die Notwendigkeit, den historischen Fortschritt, den einzelne Völker erreichten, in andere Völker zu tragen, ihn zu übernehmen. 62 Darin lag naturgesetzlich eine aktive Beziehungsgeschichte zu den Völkern mit den progressivsten historischen Entwicklungen begründet, darunter später vor allem auch zum revolutionären Frankreich. Es rückte an die erste Stelle des Fortschritts und versetzte andere Völker — auch das deutsche — in den universalgeschichtlichen Zwang: „Sie müssen mit jenen fort." 6 3 Das eigene Verhältnis Herders zur Französischen Revolution, die Annäherung Forsters an die Französische Revolution und sein Handeln, um mit dieser auch bei den Deutschen voranzukommen, waren damit universalgeschichtliches Gebot; es schloß einander nicht aus, deutscher Patriot zu sein und vehement für die Durchsetzung des sozialen Fortschritts gegen die deutsche Despotie auf seiten des revolutionären Frankreichs zu kämpfen. Es wäre einer speziellen Untersuchung wert, wie tief und wie weitläufig diese universalgeschichtliche Begründung, Herders von Forster und anderen Vorkämpfern des bürgerlichen Fortschritts in den folgenden Jahren aufgenommen worden ist. Aus Herders humanistischer Einsicht in die Rolle der Völker als historisch bedingte Existenz- und Entwicklungsformen der Gesellschaft resultierte seine Aufmerksamkeit auch 58

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bdn., Bd. 11. Stuttgart 1949, 4. Teil: Die germanische Welt, S. 437ff. Herder, AW 4, S. 267; SW 13, S. 382. Ebenda, AW 4, S. 269 f.; SW 13, S. 384 f. Herrmann, wie Anm. 54; Eduard Winter, Herder und die Donaumonarchie, in: Johann Gottfried Herder, wie Anm. 11, S. 59—63. Herder, SW 17, S. 318. Ebenda. Zum Verständnis Herders von Nationalgeschichte zu Universalgeschichte als einem dialektischen Verhältnis vgl. auch Klenner, wie Anm. 11, S. 41.

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für die unterdrückten Völker Europas ohne selbständige staatliche Verfassung, darunter vor allem auch eine Anzahl slawischer Völker. Der tiefsichtigen Analyse und Bestimmung dieser Völker lag letztlich die Überzeugung von der bedeutenden Rolle der Volksmassen zugrunde. Kunst- und Gewerbefleiß waren für Herder ein Fortschrittshebel der Geschichte, in dem sich zugleich die Persönlichkeit entfaltete. In anderem Zusammenhang gibt er deutlich zu erkennen, daß es ihm wünschenswert und nachahmenswert erscheint, „Ideen unter das Volk zu bringen und sich durch die Stimme der Nation zu belehren". 64 Die Untersuchung über die Entstehung der Feudalgesellschaft spielte, wie bereits erwähnt, für Herder eine große Rolle. Es lag im Wesen seiner Geschichtsphilosophie, nach der Triebkraft zu forschen, die auf deren Überwindung hinwirkte. Diese Kraft fand er im Bürgertum der Städte. Sie wuchs heraus aus dem Schoß der Feudalgesellschaft, brachte „Handelsgeist" hervor und schuf „einen neuen Geist der Zeit", der den Umbruch, die Revolution, vorbereitete, die ihn nicht schreckte. In das universalgeschichtliche Bild ordnete Herder folgerichtig auch die Aufklärung ein: „nie Zweck, sondern immer Mittel. . . Wird sie jenes, so ists Zeichen, daß sie aufgehört hat, dieses zu sein." 65 Die Ideen der Aufklärung, der Humanität und Vernunft waren damit keine abstrakten, sich selbst verwirklichenden Ideen. Bereits in seiner Studie in Bückeburg 1773 („Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit") zog er ein Fazit seiner damaligen Geschichtsstudien: „Zuerst muß ich zum überhohen Ruhm des menschlichen Verstandes sagen, daß immer weniger er, wenn ich so sagen darf, als ein blindes Schicksal, was die Dinge warf und lenkte, an dieser allgemeinen Weltveränderung würkte. Entweder warens so große, gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die über alle menschliche Kräfte und Aussichten gingen, denen sich die Menschen meistens widersetzten, wo niemand die Folge als überlegten Plan träumte, oder es waren kleine Zufalle, mehr Funde als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte — oder gar nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgriff, Handwerk, das die Welt änderte. Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, wenn das ist, wo bleibt eure Abgötterei gegen den menschlichen Geist?" 6 6 Diese Einsichten führten Herder zu neuen Analysen und Gedanken, so z. B. auch im Hinblick auf das zukünftige Verhältnis der Völker und Nationen, von denen er voraussagte, daß „endlich gemeinschaftliche Produktion mehrerer Völker" entstehen würde. 67 Seine Erkenntnisse über die soziale Rolle der Revolutionen ließ ihn die Intervention der alten Mächte Europas gegen das revolutionäre Frankreich voraussehen 68 , und er verurteilte sie im vorab. Selbst das Problem, das aus der kapitalistischen Weltgeschichte und dem Verhältnis Kolonien — Mutterland erwachsen könne, blieb ihm nicht verborgen. So brachte Herders universalgeschichtliche Konzeption einen bedeutenden Fortschritt des historischen Denkens und für die Wirksamkeit von geschichtlicher Überzeugung. Wird versucht, den Fortschritt seiner Erkenntnisse zu überblicken, so treten vor allem folgende neue Einsichten hervor: 1. Die Menschheitsgeschichte ist eine Einheit. Sie verwirklicht sich aus sich selbst heraus. Das theologische Prinzip hat höchstens insofern darin einen Platz, als es den Menschen 6i 65 66 67 68

Herder, AW 5, S. 279; SW 17, S. 9 (über Benjamin Franklin). Vgl. dazu auch Stolpe, wie Anm. 54, S. 430f. Herder, AW 1, S. 145f.; SW 4, S. 412. Ebenda, AW 2, S. 327; SW 5, S. 530f. Ebenda, AW 5, S. 97; SW 17, S. 118. Ebenda, AW 5, S. 196; SW 18, S. 318.

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befähigt, überhaupt zu agieren. Das historische Handeln selbst folgt naturgeschichtlichen Zusammenhängen. Die geschichtliche Entwicklung verläuft aufsteigend und widersprüchlich, ausgehend vom Naturzustand der Menschen über verschiedene historische Epochen. Diese bringen Fortschritt in bezug auf Humanität, Freiheit und Zivilisation; zugleich entsteht jedoch Despotismus, der die „Stockung der Säfte" bewirkt. Wird diese nicht beseitigt — u. a. durch Revolutionen —, so tritt Fäulnis und Untergang ein. Aus der Einheit der Menschheitsgeschichte folgt deren Universalität, die sich in der Geschichte von Völkern und Nationen, in nationaler Geschichte verwirklicht. Daraus entsteht das Recht der Völker und Nationen zur Teilnahme am universalgeschichtlichen Fortschritt, was zugleich Zwang bei Strafe der Unterdrückung und des Untergangs ist. Über die Universalgeschichte gelangen Herder die Erklärung des dialektischen Verhältnisses von National- und Menschheitsgeschichte und die Bestimmung der Stellung unterdrückter Völker in der Geschichte. Völker und Nationen sind keine ewigen, sondern historische Größen, um deren Existenz gerungen wird. Sie sind nicht homogen bzw. monolithisch, sondern in soziale Gruppen getrennt, die unterschiedlichen Interessen nachgehen können. Am Beispiel frühmittelalterlicher Geschichte entwickelt Herder die daraus resultierende Möglichkeit zweier Kulturen. 6 9 Damit ist die Entdeckung der Volksmassen in der Geschichte als objektiver, geschichtsgestaltender Kraft verbunden, die in „ruhigem Fleiß" ihre Gegenden gestalten oder im „hitzigen Aufbegehren" den Unterdrückern zu schaffen machen. 7 0 Über die Triebkräfte der Geschichte finden sich mannigfache Andeutungen, jedoch keine ausgearbeiteten Vorstellungen. Tätigkeit, Erfindungen, Entdeckungen, Naturauseinandersetzung — alles das bringt die Geschichte voran. Das Bürgertum der Städte entstand daraus, seine Städte wurden „gleichsam stehende Heerlager der Kultur, Werkstätten des Fleißes und der Anfang einer bessern Staatshaushaltung . . . In Italien entstanden Republiken . . ," 71

6. Herder setzt dem Geschichtsprozeß kein abschließendes Ziel; die Beseitigung der despotisch verursachten „Stockung" des Lebens, wenn nicht anders, so in der Revolution, war das Nahziel, darin eingeschlossen die Beseitigung von Leibeigenschaft und menschlicher Knechtung, die Errichtung einer vernünftigen Staatsordnung — der Republik. Die Erlangung allgemeiner Humanität war großes Ziel, die Wiedererweckung der Völker, frei von Unterdrückung, gehörte zu diesen Zielen, ebenso wie die Teilnahme der Volksmassen an der Gestaltung der Vernunft, d. h. des gesellschaftlichen Lebens. Aber diese Ziele verwirklichen sich im Selbstverständnis Herders nicht aufgrund immanenter Kräfte und Prinzipien, sondern im Kampf. Wer den Kampf scheute, blieb unterdrückt, ging unter. Herders Geschichtskonzeption enthält also ohne Zweifel Ansätze materialistischen Geschichtsverständnisses. Von den Zeitgenossen wurde das wohl nur begrenzt erfaßt. Diese Frage ist jedoch weiterer Untersuchung wert. So hob Kant in seiner Rezension zu Herders „Ideen" im Jahre 1793 vor allem Aussagen hervor, die sich in die Nähe des Piatonismus 69

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„Es ist ein Unterschied zwischen Kultur der Gelehrten und Kultur des Volkes. Der Gelehrte muß Wissenschaften wissen, deren Ausübung ihm zum Nutzen des Staates befohlen ist; er bewahrt solche auf, und vertraut sie denen, die zu seinem Stande gehören, nicht dem Volke" usw. — vgl. ebenda, SW 14, S. 34. Ebenda, A W 4, S. 392ff.; SW 14, S. 279f. Ebenda, A W 4, S. 458f.; SW 14, S. 486f.

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stellen lassen. Kant meinte sogar, Herder habe ein „unsichtbares Reich der Schöpfung" angenommen, „welches die belebende Kraft enthalte, die alles organisiert". Auf der anderen Seite kritisierte er die von Herder vertretene Auffassung von der „Stufenleiter der Organisation" des Lebens, d. h. der Evolution, ebenso wie den Begriff „organische Kraft", die solche Ideen ganz außerhalb der beobachtenden Naturlehre legen. Sie gehörten zur „spekulativen Philosophie", und man hoffe, daß Herder künftig „seinem lebhaften Genie einigen Zwang auflege". 72 Im selben Jahr 1784 hatte Kant geschrieben, man könne „die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann". 7 3 Die „Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat", sah Kant als Mittel, um zu erkennen und zu ordnen, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben". Er stellte diesen Standpunkt zur Geschichte bewußt der „Bearbeitung der eigentlichen, bloß empirisch abgefaßten Historie" entgegen. 74 Das Anliegen Herders, aus der realen Geschichte Grundzüge der Universalgeschichte zu erarbeiten, nahm Kant nicht auf. Es lag seit der Renaissance nahe, die Universalgeschichte als Triade aufzufassen: Im Mittelpunkt stand die Zeit des christlichen Universalismus, mit dem man sich auseinanderzusetzen hatte, um eine neue bürgerliche Welt zu schaffen. Vor der Zeit des christlichen Universalismus lag die verklärte Antike, deren „Renaissance" man anstrebte oder zu der man „zurückkehren" und die man „wiederbeleben" wollte. Solche Vorstellungen hatten Winckelmann geleitet. Rousseau hatte den sozialökonomischen Aspekt des Eigentums in die Triade-Vorstellung in seinem zweiten Discours, in der „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" bereits im Jahre 1753 eingebracht. 75 Von der urtümlichen Gleichheit verlief die Geschichte über die Perioden der Ungleichheit, um erneut in Gleichheit umzuschlagen — Rousseau dachte u. a. an eine autarke , Bauerndemokratie. 76 Diese Konzeption war Protest gegen die aufkommende bürgerlichkapitalistische Gesellschaft. Herder folgte solchen Vorstellungen nicht. Er lehnte die AntikeSchwärmerei ebenso ab wie die Konzeption der Rückkehr zu universalgeschichtlich vergangenen Verhältnissen. Für ihn war die Geschichte eine Stufenleiter der Organisation des Lebens, von der Tierheit über Steinheit zur Metallheit 77 , eine aufsteigende Kette, Evolution über Epochen, nicht Kreislauf und Rückkehr. „Wir schwimmen weiter, nie aber kehrt der Strom zu seiner Quelle zurück . . .", schrieb er über den Fluß der Geschichte. 78 Das „Rad der sich wandelnden Zeiten" gehört zwar ebenfalls zum bildhaften Repertoire Herderscher Rhetorik, aber das ist Symbol der Vorwärts-, der Aufwärtsbewegung, nicht der Wiederkehr.

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Immanuel Kant, Rezensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785). Wieder abgedruckt in: Ausgewählte kleine Schriften, Leipzig 1949, S. 39—61, hier S. 50. Ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), ebenda S. 23—38, 34. Ebenda S. 38. Jean Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen, hg. von K. Weigand, Hamburg 1955, S. 115 bis 117, 125 ff. Werner Bahner, Einleitung zu J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1981, S. 24, 32. Herder, AW 4, S. 237; SW 13, S. 346. Ebenda, A W 4, S. 372; SW 14, S. 238.

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Auch für Herder gab es eine Triade der Geschichte: Von der voragrarischen, auf Gleichheit beruhenden Geschichte der Menschheit über die agrarische Geschichte, in der der Mensch dem Boden gehört und despotisch verwaltet und geknechtet wird, zur bürgerlichen Gesellschaft, die von Gewerbe- und Handelsfleiß, Freiheit, Humanität und Republik geprägt werde. 79 Seine Grundvorstellung geht also vom Fortschreiten der Geschichte in drei Stufen aus; jede ist von unterschiedlichen, aufeinanderfolgenden Wirtschaftsweisen mit entsprechenden sozialen Einrichtungen gekennzeichnet. Herder hat mit seiner universalgeschichtlichen Konzeption die Geister seiner Zeit bewegt, daran ist kein Zweifel. Im Kampf um Demokratie und Fortschritt in deutschen Landen und darüber hinaus gebührt ihm in der Übergangsepoche zum bürgerlichen Zeitalter ein erstrangiger Platz. Auffassungen von der Geschichte als Epochenfolge in naturgeschichtlich sich vollziehender Kette, verwirklicht in der Einheit von nationaler und universaler Geschichte; von der sozialen, politischen und kulturellen Mehrschichtigkeit des Volkes oder der Nation; von der Rolle von Revolutionen in der Geschichte als Entwicklungsprinzip — solche Erkenntnisse sind nicht wieder verlorengegangen. Sie wurden seit Herder Bestandteil universalgeschichtlichen Geschichtsverständnisses. Eine zusammenfassende, allerdings sehr knappe Bewertung der Geschichtskonzeption Herders gab Franz Mehring reichlich hundert Jahre nach dessen Tod. Er kam zu der Auffassung, daß man Johann Gottfried Herder mit Fug und Recht zu den Vorläufern des historischen Materialismus zählen dürfe. 80 Hegel, der Herder gründlich gelesen hatte, blieb äußerlich bei der Epochengliederung der Weltgeschichte. Diese verlief danach vom „Kindesalter" im Orient über das „Jünglingsalter" in Griechenland, über „das römische Reich, die saure Arbeit des Mannesalters der Geschichte", auf „das germanische Reich, das vierte Element der Weltgeschichte", zu. 81 Das Problem der inneren historischen Triebkräfte, das Verhältnis von Nationalem zu Universalem, von Volksmassen und Individuum bestand für Hegel nicht. „Denn die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des, Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt. Diese Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister . . ." usw. 82 Und Hegel schloß seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte mit dem Bekenntnis: „Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichte — dies ist die wahre Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist." 8 3 Das Ziel der Geschichte, das Werden des Geistes, sieht Hegel in der aufgeklärten Monarchie seiner Zeit erreicht. Von dem revolutionären Geist, dem Herder in der Universalgeschichte nachspürte, von den Triebkräften der Geschichte, die er ansatzweise in den tätigen Menschen, Volksmassen und Völkern fand, hat Hegel nichts angenommen. 79 80

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Ebenda, AW 4, S. 210; SW 13, S. 317f. Franz Mehring, Herders Werke, 24. 3. 1911, in: Aufsätze zur deutschen Literatur von Klopstock bis Weerth, Gesammelte Schriften, Bd. 10, Berlin 1961, S. 26ff., 39. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, zitiert nach: Sämtliche Werke, Bd. 11, wie Anm. 58, S. 155f. Ebenda S. 88. Ebenda S. 569. Demokratie, Sozialismus

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Herrscher, Heerführer und Herren, die Herder als „geschichtslose Würger" galten, sah er als „Geschäftsführer des Weltgeistes". Erblickte Herder das Ziel der Universalgeschichte in der Verwurzelung der Humanität in der Republik des Volkes, so lag das Ziel der Weltgeschichte für Hegel darin, daß sich der Weltgeist verwirklicht; „am Ende gelangt er zum vollen Bewußtsein" in der Monarchie, die darin zugleich ihre weltgeschichtliche, göttliche Rechtfertigung finden sollte, gegenüber der von Herder angestrebten, von Hegel ausdrücklich abgelehnten Staatsform der Republik. 84 Die Universalgeschichtsschreibung Herders, die auf das Auffinden von Grundzusammenhängen in der Geschichte selbst aus war und die die fortschreitende Bewegung seiner Gegenwart zum Ziel hatte, wurde von Hegel nicht nur nicht fortgeführt, sondern im Wesen ebenso wie im Wollen in das Gegenteil verkehrt. Auf den Widerspruch zwischen dialektischer Methode Hegels und dem dogmatischen Inhalt des Hegelsehen Systems, auf den hier nur andeutungsweise eingegangen wurde, hat Friedrich Engels nachdrücklich hingewiesen: „damit wird die revolutionäre Seite", so schrieb er in bezug auf das universalgeschichtliche Konzept Hegels, „erstickt unter der überwuchernden konservativen". 85 Auch in der Geschichtsschreibung selbst wurden die Ansätze von Herder nicht fortgesetzt. F. C. Schlosser, der in den Jahren vor 1848 die erste große „Weltgeschichte" 86 konzipierte und den realen Geschichtsprozeß in einzelnen Regionen und Epochen darzustellen versuchte oder darstellen ließ, sah die „Universalgeschichte" als „Abriß der Weltgeschichte" und behandelte die „Völker in Reihenfolge hergebrachter Meinung", ohne universalgeschichtliches Konzept oder Anliegen. Von Babylon ging es nach Assur und Ägypten. In Babylon wurde die Verfassung ausgeprägt, „welche seitdem in der westlichen Hälfte Asiens herrschend geblieben ist, d. h., die einer rein despotischen Regierung" usw. Bereits im ersten Band (S. 149) kam Schlosser auf die Griechen. Die Präsentation der Fülle historischer Fakten bei Schlosser, von denen bekanntlich auch Marx profitierte, ging mit dem Verlust an universalgeschichtlicher Konzeption und historischem Geist im Herderschen Sinne einher. So blieb Herders universalgeschichtliches Konzept Höhepunkt bürgerlichen Geschichtsdenkens und bürgerlichen historischen Selbstverständnisses in der Epoche der bürgerlichen Revolution. Seine universalgeschichtliche Auffassung ist — wie Mehring bereits betonte — als Vorläufer des historischen Materialismus zu verstehen und wurde durch diesen aufgehoben. Die Wege, auf denen Herders Gedanken zu Marx und Engels gelangten und im Marxismus Aufhebung und Fortführung fanden, sind offensichtlich verschlungen. Kant und Hegel hatten daran wohl Anteil wie die Geistesgeschichte des Zeitalters schlechthin. Marx und Engels haben Herders Werke gekannt, ohne sich ausdrücklich bzw. ausführlicher damit auseinanderzusetzen.87 Angenommen wird, daß Teile von Herders weltgeschichtlichen 84 85

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Ebenda S. 78, 89. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888), in: MEW, Bd. 21, S. 268. F. C. Schlossers Weltgeschichte für das deutsche Volk. Unter Mitwirkung des Verfassers bearbeitet von Dr. G. L. Kriegk, erster Band, Frankfurt a. M. 1844, Vorwort. Karl Marx hat die Kritik von Kant an Herder (oben Anm. 72) gelesen — M E G A IV/1 (bis 1842), Berlin 1976, S. 284. Marx besaß frühzeitig Herders Werk. Am 27. 2. 1861 heißt es im Brief an Engels: „Die Kölner haben schön mit meiner Bibliothek gewirtschaftet. Den ganzen Fourier gestohlen, ditto Goethe, ditto Herder" (MEW, Bd. 30, S. 160). Bereits 1842 bezieht sich Marx auf Herder (MEW, Bd. 1, S. 78).

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Vorstellungen als Vorläufer der „asiatischen Produktionsweise" von Marx angesehen werden können. 88 Die Grundfragen der Universalgeschichte stellten sich für Marx und Engels unter völlig anderen Bedingungen des Klassenkampfes und mit gänzlich anderen Zielen als für Herder. Ersten Ideenskizzen zur Geschichte, die in manchen Termini an Herder, stärker an Hegel, angelehnt sein können, folgte vor allem nach Entdeckung der Grundlagen des geschichtlichen Zusammenhanges und der Triebkräfte der Geschichte die universalgeschichtliche Einordnung des proletarischen Klassenkampfes und seines Ziels — des Sozialismus/Kom• munismus im Kommunistischen Manifest. Die Herausarbeitung von Gesellschaftsformationen als jeweilige Grundlage historischer Epochen vollzogen Marx und Engels seit der „Deutschen Ideologie" und dem Kommunistischen Manifest. In ausgereifter Form, nach ausgiebigem Studium veröffentlichte Karl Marx 1859 die klassischen Sätze über die universalgeschichtlichen Zusammenhänge und Formationen der Geschichte im „Vorwort" des •Werkes „Zur Kritik der politischen Ökonomie". Damit war eine neue Qualität historischmaterialistischer Erkenntnis der Geschichte und der historischen Gesetzmäßigkeiten erreicht. Die Grundzusammenhänge und Triebkräfte der Universalgeschichte, die Marx und Engels herausgearbeitet und deren Wirksamkeit sie in der Ausprägung ökonomischer Gesellschaftsformationen erkannt hatten, geben die Gewißheit vom revolutionären Fortschreiten der Geschichte durch den Kampf der Arbeiterklasse über den Kapitalismus zum Kommunismus. 89 Eine Grundfrage, auf die die historischen Untersuchungen von Marx und Engels gerichtet waren, betraf die Herausbildung des Privateigentums und dessen Geschichte. In dieser Hinsicht fand sich bereits im Gemeinschaftswerk „Die deutsche Ideologie" die Dreiteilung der Geschichte in eine solche, die Privateigentum noch nicht kannte, in eine auf Privateigentum begründete und in die auf Gemeineigentum zu begründende kommunistische Gesellschaft. 90 Die Undeutlichkeit der ersten Epoche und wohl auch das nachwirkende Urteil Hegels veranlaßten Marx jedoch, noch im Jahre 1857 im Entwurf der Einleitung „Zur Kritik der politischen Ökonomie" festzustellen: „Bloße Jäger- und Fischervölker liegen außer dem Punkt, wo die wirkliche Entwicklung beginnt." 91 1846 hatte er in einem Brief an P. W. Annenkow geschrieben: „So findet sich denn auch die Sklaverei, da sie eine ökonomische Kategorie ist, seit Anbeginn der Welt bei allen Völkern." 92 Und dementsprechend hieß es im Kommunistischen Manifest: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." 93 Noch 1876, in Vorbereitung seiner Auseinandersetzung mit Dühring, notierte Friedrich Engels: „Wir haben also die Trivialität, daß, sowie die Menschen sich über die rohesten Zustände erhoben, überall Staaten existiert haben . . . Nun ist aber Staat und Gewalt grade 88

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Walter Rüben, Herder und Marx über die Indoeuropäer, in: Johann Gottfried Herder, wie Anm. 11, S. 130. Vgl. Formationstheorie und Geschichte. Studien zur historischen Untersuchung von Gesellschaftsformationen im Werk von Marx, Engels und Lenin, hg. von E. Engelberg und W. Küttler, Berlin 1978; weitere, speziell universalgeschichtliche Aspekte werden untersucht von Kossok, Karl Marx und der Begriff der Weltgeschichte wie Anm. 57. Karl MarxjFriedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/1846), in: MEW, Bd. 3, S. 22—25. MEW, Bd. 13, S. 637. MEW, Bd. 27, S. 458; MEGA 2 III/2, S. 76. MEW, Bd. 4, S. 462.

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das allen bisherigen Gesellschaftsformen Gemeinsame."94 Ohne in Einzelheiten diese Aspekte der universalgeschichtlichen Auffassung von Marx und Engels verfolgen zu können, ist offensichtlich, daß Vorstellungen über eine Geschichtstriade vor den 70er Jahren des 19. Jh. keine besondere Rolle spielten. Marx und Engels kannten natürlich aus Rousseau und Herder die Fragestellung, fanden jedoch keinen oder nur ungewissen quellengestützten Zugang zu den ältesten Geschichtsperioden. Eine grundlegende Veränderung trat in den 70er Jahren ein. Einerseits stellte der Kampf der Arbeiterklasse neue Fragen an die Geschichte und die geistige Auseinandersetzung. Zugleich hatten die Ausarbeitung der naturgeschichtlichen Evolutionstheorie durch Charles Darwin und die Fortschritte der ethnographischen Forschung auf evolutionsgeschichtlichen Grundlagen, in erster Linie durch Lewis H. Morgan, neue Einzelergebnisse zu den Anfangen menschlicher Geschichte und zu deren Frühzeit erbracht. Marx selbst trug sich mit der Absicht, diese entsprechend den Anforderungen des proletarischen Klassenkampfes zusammenfassend und theoretisch aufzuarbeiten. Ausführliche Exzerpte aus dem 1877 erschienenen Buch von L. H. Morgan „Ancient Society" und aus M. M. Kowalewsky u. a. Schriften bereiteten diese Absicht vor. 95 Der Tod von Marx 1883 übergab die Forderung der Zeit nach diesem Werk an Friedrich Engels. Dieser nahm das Vermächtnis auf und erfüllte es in seinem Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" bereits ein Jahr später. 96 Das Ergebnis der Erkenntnisse der 70er Jahre und deren Rezeption und theoretische Erarbeitung im Zusammenhang mit den Fragen und Aufgaben des proletarischen Klassenkampfes war die Entdeckung der Geschichtstriade durch K. Marx 1881 und F. Engels 1884 unabhängig voneinander, jedoch auf der gleichen methodischen Grundlage und mit den gleichen inhaltlichen Aussagen (Abb. 1). Die wesentliche Ergänzung bzw. Vervollständigung, die der historische Materialismus dadurch erfuhr, bestand in der Ausarbeitung der Grundlagen, Triebkräfte und Funktionsweisen vorklassengesellschaftlicher Gesellschaftsformationen, der auf Gemeineigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln beruhenden urkommunistischen Formationen und der daraus entsprungenen historischen Tradition. Die Ansätze bürgerlicher Denker, Utopisten und Philosophen, von Rousseau über Herder zu Morgan, die Menschheitsgeschichte als Triade von der ursprünglichen Gleichheit über soziale Ungleichheit, Knechtschaft, Staat, Despotismus und Krieg zu neuen gesellschaftlichen Formen zu begreifen, in denen sich der Mensch innerhalb einer von Ausbeutung, Knechtschaft und Krieg freien Gesellschaft entfalten könne, erhielt damit eine wissenschaftliche Grundlage. Diese bestand in folgendem: 1. Entdeckungen und Erkenntnisse von Evolutionsforschung, Ethnographie und Archäologie wiesen nach, daß sich die Menschheit vor den auf Privateis cntum beruhenden Ausbeuterordnungen über Jahrhunderttausende auf der Grund'age des Urkommunismus entwickelt und entfaltet hatte. Dem Urkommunismus als Gesellschaftsform kam also in 94

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Inge Werchan, Auf den Lesespuren von Friedrich Engels in Eugen Dührings Buch „Konsens der Nationalund Sozialökonomie", 2. Aufl. 1876, in: Beitrage zur Marx-Engels-Forschung 11, Berlin 1982, S. 177f. Karl Marx, Die ethnographischen Exzerpthefte, hg. von L. Krader, Frankfurt (Main) 1976; Karl Marx über Formen vorkapitalistischer Produktion. Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums 1879-80, hg. von H.-P. Harstick, Frankfurt/New York 1977. Herrmann, wie Anm. 2. Vgl. auch mehrere Beiträge in dem Sammelband Grundprobleme vorkapitalistischer Gesellschaftsentwicklung — 100 Jahre nach Erscheinen des Werkes von F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, hg. von J. Herrmann und J. Köhn, Berlin 1988.

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der Menschheitsgeschichte eine überragende Rolle zu. Diese universalgeschichtliche Erkenntnis wurde damit zu einem überzeugenden historischen Argument gegen eine Vielzahl von bürgerlichen Verleumdungen des wissenschaftlichen Kommunismus, wonach eine kommunistische, auf Gemeineigentum beruhende Gesellschaft aus historischen Gründen unmöglich sei. 2. Historisch-gesetzmäßig bildeten sich in der Epoche der militärischen Demokratie die Grundlagen der Klassengesellschaften heraus, die auf Privateigentum, Ausbeutung, Unterdrückung beruhten. Diese machten verschiedene Formwandlungen oder Epochen entsprechend der Höherentwicklung der Produktivkräfte durch — asiatische, antike, mittelalterlich-feudale und modern-bürgerliche Produktionsweisen oder Gesellschaftsformationen lassen sich unterscheiden; wesentliche Grundlagen überhaupt — Privateigentum, "Ausbeutung und Staatsapparat der ausbeutenden und herrschenden Klassen — blieben über diese Epochen jedoch bestehen. 3. Historisch-gesetzmäßig entstanden in der letzten Epoche, in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Voraussetzungen in der Produktivkraft und in der Klasse des Proletariats, um eine neue Epoche der Universalgeschichte einzuleiten, die erneut auf Gemeineigentum, jedoch auf unendlich höherer Stufenleiter, begründete Epoche des Kommunismus. Der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats und die proletarische Revolution bilden dafür die Voraussetzung. Karl Marx bezeichnete diese großen Epochen der Universalgeschichte — die Großformationen — als primäre oder archaische Formation, der die sekundäre, auf Privateigentum beruhende Großformation folgte; diese würde vom Kommunismus als „höhere Form des kollektiven Eigentums und der Produktion" abgelöst. Friedrich Engels sprach von der auf Geschlechtsverbänden beruhenden Gesellschaft, dem Urkommunismus, aus dem die auf Privateigentum und Ausbeutung beruhende Klassengesellschaft oder Zivilisation hervorging. Die auf Gemeineigentum beruhende Gesellschaft des Sozialismus/Kommunismus erschien als gesetzmäßige Folge und reales Ziel des Klassenkampfes. Die Entwürfe von Antwortbriefen an Vera Sassulitsch, die Karl Marx 1881 anfertigte und in denen er die universalhistorische Konzeption der Geschichtstriade darlegte, sind seinerzeit nicht abgeschickt oder bekannt geworden. Auch F. Engels war nicht darauf gestoßen.97 Die zusammenfassende Veröffentlichung der in Jahrzehnten gemeinsamen Schaffens erarbeiteten Erkenntnisse zur Universalgeschichte lag daher bei Friedrich Engels. Das geschah 1884 mit dem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats". Hatte Herder das universalhistorische Konzept für die Selbstverständigung des Bürgertums im Kampf gegen feudale Unterdrückung und Despotie, zur Bewertung der bürgerlichen Umwälzung, eingeschlossen die bürgerliche Revolution, ausgearbeitet, so entwickelte Friedrich Engels zusammenhängend die universalgeschichtliche Konzeption der Arbeiterklasse und der proletarischen Revolution. Hatte Herder aus dem Gang der Universalgeschichte die Gewißheit gezogen, daß feudale Ausbeutung, despotische Staaten und geistige Unterdrückung historische Dimensionen seien, die zu überwinden wären, so fand 97

Marx, Entwürfe einer Antwort auf denBrief von V. I. Sassulitsch, in: MEW, Bd. 19, S. 384—406. Dazu auch Joachim Herrmann, Die Theorie der ökonomischen Gesellschaftsformationen bei Karl Marx und in Friedrich Engels' Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 25, 1984, S. 209—211.

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Engels die gesetzmäßigen Zusammenhänge, auf die Ausbeutung, Ausbeuterstaat, bürgerliche Familie usw. letztendlich zurückzuführen waren. Er legte zugleich dar, unter welchen Bedingungen sie zu überwinden wären. Fortan gehörten die universalgeschichtliche Konzeption von Engels, die Entdeckung der Geschichtstriade und die entsprechenden Folgerungen zum Bestandteil des Marxismus und zur Grundlage des Marxismus-Leninismus.98 Die welthistorische Rolle der Arbeiterklasse hatte damit zugleich eine aus der gesamten Menschheitsgeschichte, aus der Universalgeschichte hergeleitete überzeugende Begründung erfahren. Die Erkenntnisse von Engels wurden daher rasch aufgenommen und weit verbreitet." Die Ergebnisse von F. Engels zur Universalgeschichte sind, so darf man heute feststellen, zum Gemeingut der Arbeiterklasse geworden und werden zum Gemeingut der fortschreitenden Menschheit. 100

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W. I. Lenin, Über den Staat, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, S. 463, bezeichnete den „Ursprung" als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus". B. G. Tarlakovskij, Iz istorii sozdanija i publikacii raboty ¿ngel'sa „Proischoidenie sem'i, öastnoj sobstvennosti i gosudarstva", in: Iz istorii Marksizma, Moskau 1961, S. 375, vgl. auch Anm. 96. Vgl. dazu auch die Ergebnisse der Internationalen Tagung in Dresden 1984 — Sammelband, wie Anm. 96.

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Rheinpreußische Arbeiterunruhen. Von den Anfangen der Bewußtwerdung des Widerspruchs zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen

Wer wüßte nichts vom Schlesischen Weberaufstand des Jahres 1844! — In einer Zeit, in der die deutschen Staaten einer bürgerlich-demokratischen Nationalrevolution zutrieben, wurden viele Zeitgenossen durch noch andere Entwicklungstendenzen und Ereignisse aufgeschreckt, erschüttert, zu veränderten Haltungen bewegt. Die Rebellion der hungernden Weber gegen ihre wuchernden Kaufleute und Verleger ätzte den Eindruck eines neuartigen Problems in das gesellschaftliche Bewußtsein: des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Dieser Arbeiteraufstand und sein polyphoner Widerhall, mit dem man in ganz Deutschland reagierte, wiesen über den historischen Augenblick hinaus. Die preußische Soldateska, die eigens zum Schutze der kapitalistischen Ausbeuter in die Weberdörfer einrückte, statuierte gegen Proletarier erstmals ein mörderisches Exempel: sie schoß die Empörer zusammen oder sperrte sie hinter Schloß und Riegel. Adel und Bourgeoisie, die beiden Eigentümerklassen in Preußen, machten sodann den landesweiten Versuch, die frühproletarische Explosivkraft durch die Gründung von „Vereinen zum Wohle der arbeitenden Klassen" zu entschärfen. Der Dichter Heinrich Heine, der die „Messer- und Gabelfrage", die Lösung des Arbeiterelends, zum Gradmesser des Fortschritts der bürgerlichen Gesellschaft erhob, schrieb das revolutionärste seiner Zeitgedichte: „. . . Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht — Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch, Wir weben, wir weben!" Über die fortschrittsgläubigen Illusionen dieses bürgerlich-revolutionären Demokratismus hinwegschreitend, vollzogen Marx und Engels gerade jetzt den weltgeschichtlichen Ideologiewandel, indem sie die Herausbildung des Wissenschaftlichen Kommunismus begannen. Die Erfahrungen und die Folgen des historischen Jahres 1844 blieben von einschneidender, weit in die Zukunft gerichteter Bedeutung. Dennoch stellt sich die Frage: Ob nicht dem allseits bekannten und stets zitierten Aufstand der schlesischen Heimarbeiter schon früher und anderswo Arbeiterrebellionen, vielleicht sogar von Fabrikproletariern, vorausgingen? Und weiter: Ob nicht derart frühe proletarische Klassenkämpfe bewirkten, daß die öffentliche Bewußtwerdung des Widerspruchs zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen schon rund zwei Jahrzehnte vor dem schlesischen Aufstand und der Revolution von 1848 eingeleitet wurde? Die Frage nach der Frühzeit der deutschen Fabrikarbeiter zu stellen, heißt, ihren einstigen

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Charakter gemäß den Anfangen der Industrialisierung zu berücksichtigen. So sei erinnert, daß das Wort „Fabrik" im zeitgenössischen Sprachgebrauch eine jede Werkstatt oder Anstalt bezeichnete, worin Waren im Ganzen fabriziert, ihre einzelnen Teile aber gesondert voneinander erarbeitet wurden, sei es durch Menschenhand oder Maschinen. 1 In Übereinstimmung damit meinte auch der damals geltende Begriff des „Fabrikarbeiters" den Proletarier in diesen kombiniert produzierenden Werkstätten. Denn es ist leicht einzusehen, daß die Industrielle Revolution die maschinelle Warenfertigung nicht sofort als reife Frucht hervorbringen konnte, sondern auf organisatorisch-technische Übergänge zwischen Handund Maschinenarbeit angewiesen war. Selbst in den industriellen Etablissements des fortgeschrittensten deutschen Gewerbegebietes, des linksrheinischen Preußens2, finden wir daher vor etwa 150 Jahren noch immer handwerkliche und maschinelle Arbeit unter ein und demselben Dach. Gerade hier, in diesen Ländschaften und diesen Produktionsstätten, verzeichnen die regionalgeschichtlichen Überlieferungen drei frühproletarische Klassenkampfaktionen, die auf unsere Fragestellung eine Antwort geben 3 — und es verdienen, in der deutschen Nationalgeschichte und der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bewahrt zu bleiben. 1

Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon in zwölf Bänden), Bd. 4, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1834, S. 6 f. Der definitorische Text lautet: „Fabrik nennt man jede Werkstatt oder Anstalt, wo Waaren im Ganzen verfertigt werden. Das Eigenthümliche der Fabrik besteht darin, daß in derselben die einzelnen Theile der zu fertigenden Sachen voneinander abgesondert gearbeitet werden, geschehe dies nun durch Menschenhand oder Maschinen; die Manufactur unterscheidet sich, wie dies schon der Name anzeigt, von der Fabrik dadurch, daß in derselben blos durch Menschenhände gearbeitet wird . . . Der Besitzer einer solchen Anstalt heißt Fabrikherr oder Fabrikant, die Arbeiter in derselben Fabrikarbeiter oder Manufacturisten, und Das, was gearbeitet wird, das Fabrikat."

2

Über die wirtschaftlichen Voraussetzungen der rheinpreußischen Gebiete vgl. Max Barkhausen : Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im westdeutschen und im nord- und südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 45, 1958, S. 168 ff. — Über die Industrialisierung im interessierenden Zeitraum: Gerhard Adelmann (Hg.): Der gewerblich-industrielle Zustand der Rheinprovinz im Jahre 1836. Amtliche Übersichten, Bonn 1967; Helmut Hahn/Wolfgang Zorn (Hg.): Historische Wirtschaftskarte der Rheinlande um 1820 (Rheinisches Archiv, Bd. 87), Bonn 1973; F. Restorff: Topographisch-statistische Beschreibung der königlich-preußischen Rheinprovinzen, Berlin-Stettin 1830; Alphorn Thun: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Teil 1 : Die linksrheinische Textilindustrie (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. II/2), Leipzig 1879; Wolf gang Zorn \ Die wirtschaftliche Struktur der Rheinprovinz um 1820, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 54, 1967, S. 289ff., 477ff. ; derselbe: Preußischer Staat und rheinische Wirtschaft (1818—1830), in: Festschrift für Franz Petri, hg. v. G. Droege u. a., Bonn 1970, S. 252ff.

3

Im Gegensatz zu jenen Auffassungen, die die soziale Frage der Fabrikarbeiter unter dem weitgreifenden Aspekt des „Pauperismus" der Zeit von 1820 bis zur Mitte des 19. Jh. thematisieren, sei das Fabrikproletariat als eine besondere Schicht betont. Während sich im „Pauperismus" der soziale Gegensatz zwischen den von Adel und Bourgeoisie verkörperten Eigentümerklassen und den aus der feudalen Ständegesellschaft entwurzelten arbeitenden Klassen als ein zeitgenössischer Widerspruch im „weiten Sinne" offenbarte, zeigten sich in den frühen Auseinandersetzungen zwischen Fabrikanten und Fabrikarbeitern bereits spezifische Ausdrucksweisen des Widerspruchs zwischen der Industriebourgeoisie und dem in der entstehenden großen Industrie tätigen Proletariat. Über die Besitzlosen oder „Paupers" vgl. Werner Conze : Vom „Pöbel" zum „Proletariat". Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 41, 1954, S. 333ff.; derselbe: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, in: Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1970 (2. Aufl.), insbes. S. 248ff.; Carl Jantke/Dietrich Hilger (Hg.): Die

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Das erste dieser Ereignisse war der Eupener Maschinensturm vom 10. April 1821.4 Die reichlich 9000 Einwohner zählende Stadt, damals unweit der niederländischen Grenze gelegen, war im Jahr des Geschehens bereits ein Industrieort, wo nach einem landrätlichen Bericht zwei Drittel der Bevölkerung als Fabrikarbeiter in wenigen großen Textilbetrieben ihren Lebensunterhalt suchten, von denen aber infolge schwieriger Wirtschaftslage nicht alle eine Arbeit finden konnten. 5 Dort nun wollten die Tuchfabrikanten Gebrüder Stollé, die 700 bis 800 Lohnarbeiter beschäftigten und in dem Ruf standen, die Krisis auf dem Arbeitsmarkt durch allerhand Lohnschneidereien auszunutzen 6 , eine moderne französische Schermaschine aufstellen lassen. Sie sollte die Arbeit von 14 Handscherern einsparen.7 Die Scherer aber protestierten, erwirkten die Solidarität ihrer betrieblichen Arbeitsgenossen, die wiederum die Arbeiter anderer Fabriken zur Hilfe riefen. Am fraglichen Morgen standen etwa 3000 Menschen vor dem Grundstück der Tuchfabrikanten; 200 bis 300 drängten gewaltsam in den Hof, zerschlugen die dort noch in Kisten verpackten Maschinenteile und warfen ihre Trümmer in einen nahen Bach. Da die Ortsbehörde etliche Verhaftungen vornehmen ließ, versammelten sich am folgenden Tage abermals einige Tausend Arbeiter, bedrohten weitere Fabrikanten und forderten die Freilassung der Gefangenen. Sie zerstreuten sich erst infolge der Ermahnungen des preußischen Landrates, daß gewaltsame Selbsthilfe gesetzwidrig sei, sie aber ihre Beschwerden der königlichen Behörde ordnungsgemäß vortragen könnten, damit ihnen ein gerechtes Urteil gesprochen werde. Es ist das Schicksal der Volksmassen, deren „historische Rolle" von uns so oft und mit Recht beschworen wird, daß sie in der Geschichtsschreibung jahrtausendelang anonym bleiben. Weil die Quellen über ihre persönlichen Empfindungen und Gedanken kaum Zeugnis geben, ist auch der Historiker zu mehr oder weniger abstrakten Mitteilungen verurteilt. Unserer Aufgabe aber, nach Anfängen der Bewußtwerdung des Widerspruchs zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen in Deutschland zu fragen, kommen diesmal genauere Informationen gelegen. Der „Bericht über den zu Eupen vorgefallenen Aufstand unter den Fabrikarbeitern", den der örtlich zuständige Landrat v. Scheibler am 13. April 1821

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Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, München-Freiburg 1965. — Über Fabrikarbeiter vgl. Wolfram Fischer: Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in : Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 224ff.; Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 1, Berlin 1961, sowie Bd. 8/1960, Bd. 18/1963, Bd. 19/1968, Bd. 20/1969; Hartmut Zwahr (Hg.) : Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Berlin 1981. Vgl. Dieter Dowe: Aktion und Organisation. Arbeiterbewegung, sozialistische und kommunistische Bewegung in der preußischen Rheinprovinz 1820—1852 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der FriedrichEbert-Stiftung, Bd. 78), Hannover 1970, S. 26 f.; Martin Henkelt Rolf Taubert : Maschinenstürmer. Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen Fortschritts, Frankfurt a. M. 1979, S. 63ff. Siehe unten Anm. 8. Die Gebr. Stollé entlohnten ihre Arbeiter wiederholt mit Kolonialwaren und Tuchen ; überdies berechneten sie den Arbeitslohn in preußischem und französischem Geld nach einem überhöhten Wechselkurs. Es handelte sich um die neuerfundene Schermaschine Tondeuse hélicoide transversale im Werte von über 5000 Francs. Sie sollte von einem französischen Spezialisten aufgestellt werden. — In einem amtlichen Bericht des Eupener Landrats vom 7. April 1836 wird die Firma Joh. Christ. Stollé aufgeführt: „518 beschäftigte Arbeiter, Tuchfabrik mit Spinnerei von 6 Assortimenten, Färberei, 1 Dampfmaschine von 12 Pferden Kraft." Gerhard Adelmann (Hg.): Der gewerblich-industrielle Zustand der Rheinprovinz, S. 138.

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verfaßte, sagt über die Beweggründe der Empörer: „Die Arbeiter der Gebrüder Stolle, und andere mit ihnen, befürchteten, daß wenn diese Maschine aufgesetzt würde, deren bald noch mehrere folgten und sie dadurch bei dem ohnehin nicht guten Gange der Tuch- und Casimir-Fabriken außer Brod gesetzt werden würden." 8 Am zweiten Aufruhrtage eilte auch der königlich-preußische Regierungsrat v. Goerschen im Auftrage der Aachener Bezirksregierung nach Eupen, wo er im Rahmen seiner Berichtspflicht nicht nur die Vertreter der Ortsbehörde nach den Vorfällen, sondern auch die Arbeiter nach ihren Motiven befragte. So finden wir denn in seinem amtlichen Rapport ebenfalls aufschlußreiche Angaben über das Bewußtsein der rebellierenden Proletarier: „Die Scheerer beabsichtigen . . . sich wegen Untersuchung ihrer Beschwerden, an Eine Königl. Hochlöbl. Regierung selbst zu wenden. Nach den geschehenen Äußerungen glauben die Tumultuanten sogar durch eigenmächtige Zertrümmerung der Scheer Maschine kein großes Unrecht gethan zu haben, da sie außerdem keine Excesse begangen hätten und auch bey dem Herausholen der Kisten aus dem Hause des Hr. Stolle . . . nicht das Mindeste weiter entwendet worden sey . . . Lediglich die Furcht, theilweise brodlos zu werden, oder sich mit einem noch geringem Arbeitslohn als ihnen namentlich von Hr. Stolle so wie auch wohl hin und wieder von andern Fabrik Inhabern gewährt worden seyn mag, künftig begnügen zu müssen, scheint ihren Entschluß wegen Zertrümmerung jener Maschine b e w i r k t . . . zu haben . . . Die Fabrikarbeiter fangen überhaupt an sich freymüthig zu äußern, daß sie es doch eigentlich wären, die den Wohlstand der Fabrikherren größtentheils herbeyführten, keineswegs aber dafür eine zweckmäßige Behandlung und angemessenen Lohn erhielten — sie glaubten allerdings auf beides Anspruch machen zu können." 9 Es ist klar ersichtlich, daß hier keine zünftlerisch denkenden Handwerker in Aktion getreten waren, die neue Produktionsformen etwa vom Standpunkte feudaler Gewerbevorschriften und erteilter Privilegien bekämpften. Hier hatten freie Lohnarbeiter eine Auskunft über ihre Motive gegeben, die wohl wußten, daß sie das Eigentumsrecht der Fabrikherren verletzten; sie sahen dieses aber für „kein großes Unrecht" an, weil sie nicht als Diebe gehandelt hatten und überdies selbst oft genug um ihren gerechten Lohn geprellt worden waren. Die betroffenen Handscherer und die große Masse derer, die sich mit ihnen solidarisierten, begriffen, daß die Fabrikanten mit Hilfe neuer Maschinen die Arbeitsplätze wegrationalisieren, die verbleibenden Arbeiter mit weiteren Lohnsenkungen beschweren und den Profit, der ihnen freilich nur als „Wohlstand" und „Reichtum" ersichtlich war, steigern wollten. So wagten sie den Maschinensturm gegen die Unternehmer Stolle als einen Präzedenzfall sozialer Empörung. Sie ließen sich zwar durch spontanen Massenzorn hinreißen, glaubten hernach aber auch, sich vor königlich-preußischen Untersuchungsinstanzen mit Argumenten einigermaßen rechtfertigen zu können. Denn das Elend, das die Scherer und ihre Familieji heute mit Entlassung oder Lohnkürzung bedrohte, konnte morgen schon das Los vieler anderer sein! Diesen Sozialrebellen widerstanden kapitalistische Unternehmer und preußische Staatsbeamte, deren Denken und Tun uns gleichfalls Auskünfte über den frühen Grad des Bewußtseins vom Widerspruch zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen erteilt. Für die 8

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Königl. Landrat v. Scheibler: Bericht über den zu Eupen vorgefallenen Aufstand unter den Fabrikarbeitern. Eupen, 13. April 1821 (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierungsbezirk Aachen, Akte 231, Bl. 34fT.), in: Martin Henkelt Rolf Taubert: Maschinenstürmer, S. 67. Königl. Regierungsrat v. Goerschen, Aachen, 13. April 1821 (Düsseldorfer Akte 231, Bl. 24ff.), in: Ebenda, S. 78.

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Bourgeoisie zeugt schlicht und einfach die Tatsache, daß ausnahmslos alle Fabrikanten mit je zwei ihrer vertrautesten Mitarbeiter dem Alarmruf des Landrats folgten, um als „Bürgermiliz" schleunigst unter Waffen zu treten. 10 Gemeinsam mit Gendarmerie verhafteten sie 28 der unbewaffneten „Aufrührer". Mit offenbaren Gewissensbissen handelten hingegen noch die Beamten des „halbfeudalen halbbürokratischen monarchischen Regimes". 11 Der Landrat v. Scheibler war gehalten, den Landfrieden zu bewahren und gegen Ruhestörer vorzugehen. Er formierte also die polizeilichen und bürgerlichen Schutzkräfte, befahl die Verhaftungen, beschwichtigte die Arbeiter, ließ „ R u h e " und „Ordnung" wiederherstellen. Doch er hegte moralische Bedenken gegen den Wirtschaftsliberalismus, der durch die Stein-Hardenbergschen Reformen vor einem runden Jahrzehnt auch in Preußen rechtsgültig geworden war 12 und nunmehr von den Unternehmern auf Kosten der Arbeiter praktiziert wurde. Die Skrupel dieses Mannes widerspiegeln sich in seinem amtlichen Bericht: „Zu wünschen wäre es, daß, in der hiesigen Gegend und vielleicht auch in andern Fabrikgegenden, keine Maschinen mehr eingeführt würden, wodurch viele Menschen-Hände entbehrlich werden; weil die Population täglich zunimmt 1 3 und der Absatz der Fabrikate dagegen nicht überall in solchem Verhältnis steigen kann, daß dadurch alle Hände beschäftigt würden." Er fügte jedoch resignierend hinzu: „Indessen kenne ich kein Gesetz, wonach die Einführung irgend einer zu einer erlaubten Fabrike dienenden Maschine verboten werden könnte." 1 4 Der humane Konservatismus, der bei einem beamteten Ordnungshüter freilich beständig in Widerstreit mit dessen Diensteifer geriet, hinterließ seine Spur auch in den Berichten des Regierungsrats v. Goerschen. Dieser hatte den Auftrag, das Ansehen der Bezirksregierung gegenüber der Regierung ganz Preußens zu wahren, indem die Arbeiterempörung gedämpft und ein Einsatz von Militär, der doch die Schwäche der Zivilbehörden offenbart hätte, möglichst vermieden wurde. Aber vor Ort angelangt, formulierte er die gewünschte Ablehnung eines Truppenaufmarsches nicht ohne Mitgefühl für die Arbeiter: „. . . Es ist nicht gut die Gemüter die ohnehin bey den jetzigen Zeit-Umständen 1 5 aufgeregt sind zu reizen und 10

Bereits vor der Arbeiterempörung hatte in Eupen eine Bürgermiliz bestanden. Weil aber in ihr auch Arbeiter rekrutiert waren, deren „Pflichttreue" nunmehr von der Obrigkeit und den Fabrikanten angezweifelt wurde, reorganisierte man die Miliz auf obengenannte Weise.

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D a sich Preußen im gesamtgesellschaftlichen Qualitätswandel der bürgerlichen Umwälzung befand, benutzen wir hier den von Marx und Engels verwendeten Begriff. Karl Marx!Friedrich

Engels: Revolution

und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd. 8, S. 14. 12

Bereits unter der französisch-napoleonischen Herrschaft war im Linksrheinischen ein bürgerlich-liberales Gewerberecht gesetzlich geworden. Seine Grundprinzipien wurden seit 1814/15 auch durch das reformierte Preußen legalisiert. Vgl. Barbara

Vogel (Hg.): Preußische Reformen 1807—1820 (Neue wissenschaftliche

Bibliothek 96, Geschichte), Königstein/Ts. 1980. 13

Während der Zeit von 1816 bis 1865 vermehrte sich die Bevölkerung in ganz Preußen von 10400000 auf 19445000 (Zuwachsrate 87 Prozent) und in der Rheinprovinz von 1871000 auf 3379000 (Zuwachsrate 81 Prozent). Über den Zusammenhang dieses explosivartigen Wachstums mit der vom Feudalismus befreiten, neueji „Bevölkerungsweise" vgl. Thomas Nipperdey\

Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt

und starker Staat, München 1983, S. 102ff. 14

Zit. nach Mprtin Henkel/Rolf

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Die Statistik der Realeinkommen deutscher Arbeiter bezeichnet in den Jahren 1820 bis 1822 einen deutlichen

Taubert : Maschinenstürmer, S. 67.

Anstieg der Lebenshaltungskosten und einen gleichzeitigen Lohnabfall. Index der Lebenshaltungskosten (1913 = 100): 1820 -

42, 1821 -

46, 1822 -

48. Index der Realeinkommen (1913 = 100): 1820 -

1821 — 59, 1822 — 56. Danach erfolgte eine Verbesserung bis 1826. Vgl. Thomas Nipperdey: Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 , S. 225.

64,

Deutsche

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würde den ärmern Einwohnern hierdurch eine neue Last erwachsen, die Lage derselben ist bey der (ein Wort unleserlich) der Fabriken ohnehin sehr drückend. . ." 16 Über das Problem der Einführung neuer Maschinen heißt es in seinem abschließenden Bericht: „. . . Wahr bleibt es aber, daß vielen Fabrikarbeitern ein unangenehmes Loos beschieden ist. In wie fern es bey der großen Zahl von brodlosen Arbeitern bey dem Sterben der Fabriken, räthlich sein dürfte, die Einführung von neuen, Arbeiter ersparenden Maschinen, zu erschweren — laße ich dahin gestellt seyn — gut möchte es aber immer seyn — der Einführung wenigstens keinen Vorschub zu geben . . ."17 Diese reichlich gewundenen Bedenken enden immerhin mit dem Ratschlag, man solle den bereits bekannt gewordenen Absichten weiterer Fabrikbesitzer, neue Schermaschinen einzuführen, mit einiger Vorsicht begegnen. Was der Aachener Bezirksregierung jedoch am Herzen lag, war weniger die soziale Sicherung der Proletarier als die politische Ruhe ihres Territoriums. Deshalb ließ sie am 13. April 1821 eine von ihr selbst verfaßte Nachricht in die „Stadt Aachener Zeitung" einrücken, die das Vorgefallene im zweckoptimistischen Tone anzeigte und nach eigenem Eingeständnis peinlich vermied, „dergl. Vorfalle zum Nachtheil des preuss. Gouvernements in den grellsten

16

17

Königl. Regierungsrat v. Goerschen, Eupen, 12. April 1821 (Düsseldorfer Akte 231, Bl. 18), zit. nach Martin Henkel/Rolf Taubert : Maschinenstürmer, S. 71 f. Uber die Lage der rheinpreußischen Fabriken vgl. unten die Argumentation des Hauptverteidigers vor dem Kölner Geschworenengericht von 1831. Derselbe, Aachen, 13. April 1821 (Düsseldorfer Akte 231, Bl. 26), ebenda, S. 78. — Gegen derartige Bedenken von Angehörigen der Staatsbürokratie propagierten die ökonomischen Theoretiker des Liberalismus, daß die Einführung der Maschinen trotz zeitweiliger Verelendung der Arbeiter notwendig und aussichtsreich sei. Im „Conversations-Lexikon" des Leipziger Brockhaus-Verlages von 1820 heißt es unter dem Stichwort „Maschinen in Fabriken": „Die Brotlosigkeit ganzer Classen von Staatsbürgern, welche die Einführung von Fabrikmaschinen hin und wieder veranlaßt, hat in unsern Tagen, besonders beim großen Haufen, Vorurtheile . . . erweckt . . ." (Hier folgt eine stichhaltige Beurteilung der Überlegenheit von Maschinenarbeit gegenüber der Handarbeit. Hundert Personen in der Maschinenspinnerei z. B. lieferten mehr und bessere Ware als 3000 der geübtesten Handspinner.) „Es ist zwar unläugbar, daß durch deren Einführung viele mit der industriellen Production beschäftigte Arbeiter brotlos werden und bei ermangelnder Gelegenheit zu anderweitem Verdienst in Verlegenheit gerathen müssen, aber dies Uebel kann nur vorübergehend seyn und wird durch die Vortheile, welche daraus der Nation erwachsen, weit überwogen; denn die vermittelst der Maschinen hervorgebrachten niedrigem Preise der Waaren haben gewöhnlich auf den stärkern Verbrauch derselben einen so wichtigen Einfluß, daß binnen kurzem nicht blos die anfangs außer Brot gesetzten, sondern noch viele andere, eben durch dieselben Verdienst erhalten . . . Eine Regierung, welche aus Besorgniß der Brotlosigkeit eines Theils ihrer Unterthanen der Einführung von Fabrikmaschinen Hindernisse in den Weg legen oder dieselben gar verbieten wollte, würde nicht allein ihren Zweck gänzlich verfehlen, sondern sogar das Uebel noch ärger machen; denn eine solche Maaßregel könnte doch auf keinen Fall den Gebrauch der Maschinen im Auslande verhindern, die ausländischen Waaren würden daher bald vermöge ihres niedrigen Preises und besserer Güte die vaterländischen vom Markte verdrängen, und weil alsdann selbst die Arbeiter wegfallen würden, die außerdem bei den Maschinen wären angestellt worden, so müßten dadurch noch weit mehr Unterthanen außer Brot kommen. Einer weisen und thätigen Regierung kann es übrigens nicht an Mitteln fehlen, die Uebel, welche bei der Einführung von Maschinen anfangs ganz unvermeidlich sind, gleich im Keime zu ersticken. Da die bisherige Beschäftigung der hierdurch außer Brot gesetzten Staatsbürger größten Theils in Handarbeit bestanden, so bietet sich der Staatsverwaltung immer ein weites Feld zur Benutzung ihrer productiven Kräfte dar; denn wo wäre das Land zu finden, in dem nicht noch heute, das Gemeinwohl befördernde, Anstalten, z. B. Canäle, Chausseen etc. zu errichten wären? ..." Supplemente zum Conversations-Lexikon für die Besitzer der ersten, zweiten, dritten und vierten Auflage. Enthaltend die wichtigsten neuen Artikel und Verbesserungen der fünften Auflage, Leipzig: F. A. Brockhaus, 1820, S. 45f.

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Farben zu schildern".18 Der Text lautet daher: „Eupen, den 12. April 1821. Die in diesen Tagen durch einige müßige Fabrik-Arbeiter, bei Gelegenheit der beabsichtigten Aufstellung einer Scheer-Maschine neuer Art, im hiesigen Orte momentan veranlaßten Unruhen, sind bereits wieder beigelegt, so daß die öffentliche Ruhe völlig wieder hergestellt ist. Solches ist sowohl der umsichtigen Einwirkung der amtlichen Behörde, als der Thätigkeit der BürgerMilitz und der Gendarmerie zu verdanken. Die Anstifter und Theilnehmer an den Unruhen, sind bereits arretirt und den Gerichten übergeben worden, so daß Sicherheit, Ruhe und Ordnung überall vorhanden ist." 19 Wie abwiegelnd auch immer diese Sätze formuliert waren — sie gaben dennoch der Öffentlichkeit eine Nachricht von der geschehenen sozialen Empörung. Diese mußte nach der besonderen rheinpreußischen Strafprozeßordnung sogar vor den Schranken eines Geschworenengerichtes verhandelt werden, das am 9. Februar 1822 seine Urteile fällte: Es verurteilte einen Tuchscherer zu fünf Jahren Zwangsarbeit und 53 Talern Geldstrafe, vier weitere Tuchscherer und eine Fabrikarbeiterin zu fünfjährigen Zuchthausstrafen.20 Soweit wir wissen, vergingen im Linksrheinischen sieben Jahre, bis ein zweites Ereignis des frühproletarischen Klassenkampfes die Zeitgenossen wiederum aufhorchen ließ: die Krefelder Seidenweberunruhen am 4. und 5. November 1828.21 Diese Stadt war ein Textilzentrum, das 1804 noch 8 000 Einwohner gezählt hatte, sich aber bis zur Jahrhundertmitte um das Fünffache vermehrte22 — wir möchten daher für die Zeit der Vorfälle etwa 20000 Menschen, überwiegend Lohnarbeiter, vermuten. Angesichts einer scharfen Konkurrenz der Lyoner und Züricher Seidenindustrie23 beschlossen 14 bis 15 Krefelder Fabrikanten, 18

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Diese Version vertrat der Aachener Regierungsrat v. Rappard, der den Zeitungsbericht selbst formulierte. Vgl. Martin Henkel/Rolf Tauber f . Maschinenstürmer, S. 74. Faksimile, ebenda. Urteilsauszug (Düsseldorfer Akte 231), mitgeteilt von Dieter Dowe: Aktion und Organisation, S. 26, Anm. 20. Vgl. ebenda, S. 33 ff.; Heinrich Rösen: Der Aufstand der Krefelder Seidenfabrikarbeiter 1828 und die Bildung einer „Sicherheitswache". Eine Dokumentation, in: Die Heimat, Jg. 36, 1965, S. 32ff. Die Bevölkerungsstatistik deutscher Städte verzeichnet für Krefeld nach der Volkszählung von 1804 rund 8000 und nach der Zählung von 1852 rund 40000 Einwohner (durchschnittlicher Jahreszuwachs: 3,4 Prozent). Vgl. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800—1866, S. 113. Sonstige regionalgeschichtliche Angaben bei Johann Georg v. Viebahn (Hg.) : Statistik und Topographie des Regierungsbezirks Düsseldorf. Unter Genehmigung des Königl. Statistischen Bureaus, Tl. 1: Die Natur-, Landes- und Volkskunde, Tl. 2: Die statistische Wirtschafts- und Entfernungs-Tabelle und das alphabetische Ortsnamensverzeichnis, 2 Bde., Düsseldorf 1836. Eine Mehrheit der Krefelder Seidenfabrikanten beantragte beim preußischen Handelsministerium eine Erhöhung der Einfuhrzölle für ausländische Seidenerzeugnisse. Sie begründete ihre schwierige Konkurrenzlage mit der Verschiedenheit der Wirtschaftsstrukturen. Die Lyoner Fabrikanten seien tatsächlich nur Kommissionäre, die ihre Bestellungen an Inhaber von Werkstätten (Meister) abgäben und sich um die Entlohnung der Seidenweber nicht zu kümmern brauchten, weil letztere von ihren Meistern gemäß dem fluktuierenden Warenabsatz entlohnt würden. Ähnlich würden die italienischen Fabrikanten, besonders in Turin, verfahren. Obwohl in den Züricher Fabriken das Meistersystem nicht bestehe, werde dort nur die Hälfte der Krefelder Löhne gezahlt. In Krefeld dagegen beschäftige jeder Fabrikant seine eigenen Arbeiter, die, nach Meistern und Gesellen abgestuft, einen festen Lohn erhielten und bislang von der wechselnden Wirtschaftslage nicht abhängig seien. Heinrich Rösen: Der Aufstand, S. 39f. — In der amtlichen Übersicht des Kreises Krefeld vom 24. März 1836 werden allein für die Stadt Krefeld 39 Seidenfabriken mit 10000 beschäftigten Arbeitern und 4900 spezialisierten Webstühlen genannt. Der Geldwert der jährlichen Produktion wird mit 3658880 Reichstalern angegeben. Gerhard Adelmann (Hg.): Der gewerblichindustrielle Zustand der Rheinprovinz, S. 74f.

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gemeinsam und gleichzeitig mindere Lohnsätze einzuführen: Die Weber glatter Seidentuche sollten im Durchschnitt nur noch 85 Prozent ihres Lohnes erhalten, und damit sie nicht Zuflucht zu Kündigungen und Arbeitsplatzwechseln nehmen konnten, sollten die neuen Tarife an ein und demselben Tage im ganzen Krefelder Gebiet für gültig erklärt werden. Die Weber reagierten auf die Unternehmerabsicht mit der Einberufung einer Versammlung, die aber von den Behörden aufgrund des geltenden Koalitionsverbotes verhindert wurde. Als nun am 4. November die Lohnlisten von den Fabrikanten ausgehängt wurden, rotteten sich einige hundert Proletarier zusammen und verübteil zwei Abende lang gewaltsame Überfalle auf die Kontore und Häuser der verbündeten Lohnherren. Die Kapitalisten und ihr Anhang bewaffneten sich wiederum mit behördlicher Erlaubnis. Sie unterdrückten, vereint mit Polizei und einem aus der Provinzhauptstadt herbeikommandierten Kavalleriekommando, die empörten Arbeiter, stellten erneut deren „Rädelsführer" vor Gericht und verblieben drei Monate lang als „Sicherheitswache" unter Waffen — zum Schutze des „Eigentums" und der öffentlichen „Ordnung". Diesmal stand die Staatsbürokratie den liberalistischen Unternehmerinteressen sichtlich näher. Die zuständige Provinzialregierung in Düsseldorf, die unter dem Druck der Unruhen eine Anhörung der Arbeiter zugesagt hatte, empfing deren Sprecher nicht. Sie könne, so argumentierte sie in einem Bericht, die Fabrikanten weder zur Zahlung höherer Löhne noch zur Fertigung unrentabler Produkte zwingen.24 Die Proletarier dagegen blieben auf das Faktum verwiesen, daß es den Webern in Elberfeld und Mühlheim am Rhein doch noch weit schlechter ergehe. Das dritte namhafte Ereignis war die Arbeiterrebellion am 30. August 1830 in Aachen, der rund 40000 Einwohner zàhlènden Grenzstadt und Bezirksmetropole 25 , wo die preußische Verwaltung im Jahre darauf 29,8 Prozent Fabrikarbeiter in der Stadt und 13,3 Prozent in den umliegenden Dörfern zählte 26 . Weil wir über die Vorfälle im einzelnen schon an anderer Stelle ausführlich berichtet haben 27 , muß hier eine aspektbetonte Zusammenfassung genügen ; sie verdeutlicht immerhin, wie schnell sich die Klassenkampfsituationen in den rheinpreußischen Gebieten binnen weniger Jahre verschärften. Die Aachener Empörer waren maschinell produzierende Textilarbeiter, denen einige Fabrikanten den Lohn durch Strafgelder willkürlich gekürzt hatten, außerdem Handwerker und Tagelöhner, die sich durch die überlegene Konkurrenz der Fabrikindustrie in ihrer 24 25

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Schreiben der Provinzialregierung Düsseldorf vom 15. Dezember 1828, mitgeteilt in: Ebenda, S. 39 f., 52. Von 1800 bis 1852 wuchs die Einwohnerschaft Aachens von 27000 auf 53000 (durchschnittlicher Jahreszuwachs 1,5 Prozent). Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800—1866, S. 113. Mitgeteilt bei Eberhard Kliewer: Die Julirevolution und das Rheinland, Phil. Diss. Köln 1963, S. 65, Anm. 2. Vgl. die sehr detaillierte „Industrielle Statistik" des Stadtkreises Aachen vom 1. August 1836, die allein schon 10024 Einwohner zählt, welche in den Tuch- und Kasimir-Fabriken ihren Lebensunterhalt finden. Die Jahresproduktion nur dieses Zweiges wird mit 3 Mill. Reichstalern angegeben. Gerhard Adelmann (Hg.): Der-gewerblich-industrielle Zustand der Rheinprovinz, S. 92ff. Helmut Bock : Die Illusion der Freiheit. Deutsche Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Julirevolution 1830 bis 1831, Berlin 1980, S. 54ff. ; derselbe: Maschinenstürmer in Aachen. Sozialrebellion gegen die Industriebourgeoisie, in: Unzeit des Biedermeiers. Historische Miniaturen zum Deutschen Vormärz 1830 bis 1848, Leipzig-Jena-Berlin 1985, S. 22ff. (Köln 1986, S. 22ff ). Vgl. auch Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln über die Theilnehmer an dem am 30. August 1830 in Aachen stattgehabten Aufruhr, enthaltend den Anklageakt, das Zeugenverhör, die Rechtfertigung der Angeklagten, die Vertheidigung, das Resumé und das Urtheil; nebst Schlußbemerkungen von J. Venedey, Köln 1831 ; anonym: Die Aachener Aufrührer, ihre Verbrechen und deren Bestrafung, Köln 1831 ; Dieter Dowe : Aktion und Organisation, S. 28 ff.

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sozialen Existenz bedroht sahen. 28 Der längst schwelende Unmut dieser Werktätigen radikalisierte sich unter dem äußeren Einfluß der Pariser und Brüsseler Revolutionen vom Juli und August 1830.29 Einen ganz unmittelbaren Anstoß von außen gaben jedoch die proletarischen Unruhen im jenseits der Grenze liegenden Textilzentrum Verviers, wo belgische Arbeiter die Fabriken und Häuser kapitalistischer Unternehmer demolierten. Von allen diesen Vorgängen unterrichtet und angeheizt, rotteten sich die Aachener am besagten 30. August mit der Absicht eines Maschinensturms zusammen. „Das Maschinenwesen trage dazu bei, daß die Fabrikarbeiter nichts verdienten, und dasselbe wirke ebenso schädlich auf die Professionisten; es wäre am besten, die Maschinen zu zerstören!" soll der wortführende Tuchweber in die Menge gerufen haben. 30 So zogen diese Sozialrebellen gegen die ökonomisch und produktionstechnisch fortgeschrittensten Kapitalisten. Sie verjagten dabei die Polizei und ein Militärkommando, unternahmen unter dem Symbol einer roten Fahne zwei Angriffe auf das Stadtgefangnis, um die Gefangenen zu befreien, und zerstörten das Haus der in Frankreich, Holland, Belgien und Preußen weithin bekannten Unternehmerfamilie Cockerill 31 , die ihnen geradezu als Personifikation des Maschinenbaus, der existenzbedrohenden Industrialisierung und des daraus wuchernden Reichtums erschien. Hundert und mehr Menschen wüteten in dem großen Gebäude, 3000 bis 4000 Tatzeugen standen auf der Straße. Die proletarischen Empörer, die hierdurch selbst einmal ein Exempel statuieren wollten, suchten mit der Vernichtung von Cockerills Eigentum überhaupt alle ausbeutenden, Reichtum ansammelnden Fabrikanten und Kaufleute zu bestrafen. Die bewußtseinsmäßige Verfassung der Arbeiter findet sich in cfen Akten des Kölner Geschworenengerichts konkret und ausführlich belegt. Als die Menge einen der Fabrikanten wegen der Lohnabzüge beschimpfte, fragte dieser den ihm fremden Beschwerdeführer: Wie er sich denn über Abzüge bei ihm beklagen könne? Darauf erwiderte der Texiiiarbeiter: „Wenn ich nicht bei Euch arbeite, arbeite ich bei einem anderen!. . . Wenn Ihr es nicht seid,

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Die Statistik der Realeinkommen deutscher Arbeiter verzeichnet für die Jahre um 1830 wiederum einen deutlichen Anstieg der Lebenshaltungskosten bei gleichzeitigem Lohnabfall. Index der Lebenshaltungskosten (1913 = 100): 1827 - 40, 1828 — 49, 1829 - 46, 1830 - 51, 1831 — 50, 1832 — 50. Index der Realeinkommen (1913 = 100): 1827 - 65, 1828 - 53, 1829 - 59, 1830 - 53, 1831 - 54, 1832 - 54. Danach erfolgten geringe Verbesserungen bis 1841/42. Thomas Nipperdey. Deutsche Geschichte 1800 bis 1866, S. 225.

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Über die allgemeinen Wirkungen der Julirevolution vgl. Manfred Kossok/Werner Loch (Hg.): Die französische Julirevolution von 1830 und Europa, Berlin 1985. Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln, S. 163. Die Familie Cockerill war eine international bekannte Maschinenbauer- und Fabrikantendynastie von modernem industriekapitalistischem Typ. Ihr Begründer William Cockerill (geb. 1757) aus dem englischen Haslington, Grafschaft Lancashire, verließ seine Heimat 1797, gründete bereits ein Jahr später in Verviers, dann in Lüttich eine eigene Fabrik für Dampf- und Textilmaschinen und galt zur Zeit Napoleons als „Lieferant der Textilmaschinen des Kaiserreiches", der eine große Zahl von Arbeitern beschäftigte. Er führte 1807 auch in Aachen die ersten Spinnmaschinen englischer Bauart und 1812 die moderne Webmaschine ein. Die davon ausgehende Industrielle Revolution brachte in der Aachener Tuchindustrie binnen kurzer Zeit 93 Tuch- und Kasimirfabriken mit 1358 Webstühlen hervor, viele aus den Werkstätten Cockerills. Seine Söhne gründeten 1817 in Schloß Seraing eine Maschinenbaufabrik mit Puddel- und Kokshochofen, durch deren Produktion die Aachener Tuchindustrie weiterhin mechanisiert wurde. Charles-James Cockerill (geb. 1787 in Haslington) wohnte seit 1825 in Aachen, bei ihm auch sein Vater. Vgl. Clemens Bruckner: Zur Wirtschaftsgeschichte des Regierungsbezirks Aachen (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 16), Köln 1967, S. 158 ff.

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so ist es ein anderer, genug, ich kann nicht mehr leben !"32 Die Antwort war Ausdruck einer frühproletarischen Bewußtheit, die in diesem Fabrikanten nicht die einzelne Person, sondern den Vertreter einer ganzen Klasse beurteilte. „Die Fabrikanten machen es zu arg, die Abzüge sind zu groß — aber es muß anders werden, es muß einmal alles drunter und drüber gehen!" sagte dieser Mann wenig später, im Augenblick der Einholung von Gewehren und unter der roten Fahne. 33 Seine Gefährten schimpften auf die hohen Brotpreise, die Schlacht- und Mahlsteuern, die eleganten Kutschen, die die Unternehmer von den Lohnabzügen angeschafft hätten, die Maschinen, die den Arbeitslohn, der früher höher gewesen sei, herunterdrückten. „Freiheit! Gleichheit!" lautete der Ruf, sobald seitens der Fabrikanten die ersten Schüsse fielen und der Fahnenträger tot zusammenbrach. Die „arme Klasse", erklärte ein Weißwäscher, werde von den „Reichen" unterdrückt und verdiene nicht so viel, um das tägliche Brot anschaffen zu können; wenn er hundert Gewehre hätte, so verdiene jeder „Reiche" damit erschossen zu werden. 34 Das war nicht einfach eine Auflehnung gegen einzelne Unternehmer, sondern eine spontane, aber geistig wache Rebellion gegen das Unternehmertum. Die Lohnarbeiter, die im System der kapitalistischen Ausbeutung dem Konkurrenzkampf ihrer Fabrikanten und Manufakturisten, Kaufleute und Handwerksmeister unterworfen waren, erblickten vor allem in der profitheckenden Nutzung der Maschinen die Ursache ihrer gesteigerten Arbeitslast und Lohneinbuße, ihrer drohenden Arbeitslosigkeit und Verelendung. Sie glaubten daher, sich durch den Maschinensturm von unerträglichen Bedingungen der Arbeit und der Konkurrenz befreien zu können. Auf diese Weise wehrten sie sich freilich gegen den produktionstechnischen Fortschritt — ein Widerstand, der ihnen bei oberflächlicher Betrachtung den Vorwurf „reaktionären" Verhaltens einbrachte. Tatsächlich aber war der Kampf gegen die Maschinen, richtiger: die Hersteller und Eigentümer dieser modernen Produktionsmittel, ein unreifer Ausdruck der Auflehnung gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen des sich ausbreitenden Industriekapitalismus. Dessen maschinelle Produktionsmittel brachten den Proletariern keine Erleichterung der Arbeit, sondern einen härteren Konkurrenzkampf und einen höheren Grad der Ausbeutung. Dieser frühproletarische Klassenkampf, der in Gestalt der Aachener Arbeiterrebellion die gesamten Volkbewegungen einleitete, die 1830/31 in Deutschland unter dem Einfluß der französischen Julirevolution stattfanden 35 , wurde nunmehr zur unabdingbaren Begleiterscheinung aller revolutionär-demokratischen Aktivitäten. Das hatte zur Voraussetzung, daß sich der noch bestehende gesellschaftliche Hauptwiderspruch zwischen Feudalismus und Kapitalismus zusehends mit dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit vermischte. Es war eine neue, verwickelte Widerspruchsdialektik, für die die klassenmäßigen Kombattanten und die beobachtenden Zeitgenossen nach Bezeichnungen suchten, die nicht mehr den traditionellen Gegensatz zwischen dem Adel einerseits, dem Bürgertum und den Volksmassen andererseits meinten. Die verbalen Antinomien hießen vielmehr „Reiche" und „Arme", „Reichthum" und „Armuth" — sie Wurden nicht nur in den Tageskämpfen 32 33 34 35

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Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln, S. 5f., 9, 54, 187. Ebenda, S. 64. Ebenda, S. 14. Helmut Bock : Die deutschen Klassenkämpfe 1830/31 unter dem Einfluß der französischen Julirevolution, in: Die französische Julirevolution von 1830 und Europa, S. 183ff.; derselbe: Die Klassenkämpfe unter dem Einfluß der französischen Julirevolution und die Weiterführung der bürgerlichen Umwälzung (1830 bis 1832), in: Deutsche Geschichte, Bd. 4: Die bürgerliche Umwälzung von 1789'bis 1871, Berlin 1984, S. 182ff. (Köln 1984, S. 182ff.). Demokratie, Sozialismus

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von rebellierenden Arbeitern und aufschreckenden Eigentümern, sondern ebenso in der revolutionär-demokratischen Literatur von linken Intellektuellen wie Ludwig Börne, Heinrich Heine, Georg Büchner artikuliert. 36 Der Gegensatz zwischen „Reichen" und „Armen" war die zeitweilige, noch unbeholfene Formel jenes Widerspruchs, der schließlich im Vorfeld der 48er Revolution von den Kommunisten als Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat bewußt erfaßt und beurteilt werden sollte. Bekanntlich verhielten sich die Aachener Fabrikanten schon im Sommer 1830 ganz gemäß diesem antagonistischen Widerspruch. Weil die regionale Regierungsbehörde, durch die westeuropäischen Revolutionen gewarnt, den Einsatz bewaffneter Organe diesmal aus Furcht vor revolutionären Folgen ablehnte, schritt die Bourgeoisie auf eigene Faust zur Bewaffnung und „Selbstverteidigung". Sie besetzte die Militärkaserne, bemächtigte sich der dort befindlichen Gewehre und schoß rücksichtslos auf die aufrührerischen Arbeiter und in die Zuschauermenge, so daß mindestens zehn Menschen getötet und 40 verletzt wurden. Ein bis dahin noch nie geschehener Vorgang! Diese Bürgerkriegstruppe führte also den bewaffneten Klassenkampf gegen das Proletariat eigenhändig; sie forderte auf diese Weise auch die preußische Staatsbürokratie in die Pflicht, die öffentliche Sicherheit und das gesetzlich garantierte „Eigentum" zu schützen. Tatsächlich genehmigte jetzt die Aachener Obrigkeit eine schleunige Aufstellung von „Bürgerkompanien" in der Stärke von 1200 Mann 3 7 , die auf das proletarische „Gesindel" und „Lumpenpack" ihre Jagd machten. Nachdem die Arbeiterrebellion durch die Aachener Zeitung und weitere deutsche Presseorgane bekannt gemacht wurde 38 , fand die Bürgerbewaffnung in vielen Orten der Rheinprovinz und Westfalens eine sofortige Nachahmung. Am 4. September 1830 rückten 2000 Mann der Infanterie, Kavallerie und Artillerie in die Stadt Aachen ein, und die preußische Staatsregierung schickte überdies drei Armeekorps in Stärke von 45000 Mann ins Rheinland 39 , um den Brandsatz des Aufruhrs, der da von Belgien her über die Grenze flog, mit der gewappneten Faust des Militarismus zu ersticken. Jedoch in denselben Wochen brachen in Berlin und Schlesien weitere Unruhen der arbeitenden Klassen aus. 40 Da verfügte das preußische Innenministerium am 4. Oktober für sämtliche Städte der Monarchie, in denen keine militärischen Garnisonen bestanden, sogar eine Sondererlaubnis zur Bewaffnung der Bourgeoisie: „. . . So sind zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe und zum Schutze des Eigentums städtische Sicherheitsvereine aus zuverlässigen, wohlgesinnten und wehrhaften Ortseinwohnern zu bilden . . ." Die vom „täglichen Erwerb lebende Volksklasse" hingegen wurde davon nachdrücklich ausgeschlossen. 41 36

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Vgl. Hartwig Brandt (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1814—1840 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 3), Darmstadt 1979, S. 254ff. Eberhard Kliewer: Die Julirevolution und das Rheinland, S. 29. Die „Stadt Aachener Zeitung" veröffentlichte einen ausführlichen Bericht am 1. September 1830. Diesen übernahm beispielsweise die in Berlin erscheinende „Vossische Zeitung" am 7. September und füllte damit die erste Seite; sie hatte bereits in einer vorangegangenen Ausgabe den Aufruf des Aachener Bürgermeisters zur Bürgerbewaffnung gegen proletarische „Meuterer" publiziert. Eberhard Kliewer: Die Julirevolution und das Rheinland, S. 49. — König Friedrich Wilhelm III. belobigte zugleich die Aachener Bourgeoisie, indem er den Oberpräsidenten der Rheinprovinz anwies, „der Bürgerschaft Meine besondere Zufriedenheit zu erkennen zu geben" (Staatsarchiv Koblenz 403/2438, zit. nach Dieter Dowe: Aktion und Organisation, S. 29, Anm. 51). Helmut Bock : Die Illusion der Freiheit, S. 169 ff. Zentrales Staatsarchiv, Hist. Abt. II, Merseburg, Rep. 77, Tit. 506, Nr. 2, Vol. 1.

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In eben diesen Wochen schrieb der Aachener Großkaufmann und spätere „Revolutionsminister" David Hansemann eine Denkschrift, die er im Dezember 1830 an den König von Preußen richtete. 42 Während er für seine Klasse die konstitutionelle Monarchie und für ganz Deutschland die Einheit unter der Hohenzollernkrone verlangte, denunzierte er den „Aufstand der geringeren Volksklasse" als die „erste" aller „Gefahren", die „den Staat bedrohen". 43 Wie trefflich ließ sich demgegenüber die ordnungsliebende und staatserhaltende Rolle der Bourgeoisie betonen — selbst zuungunsten des Adels, der in Preußen noch immer eine Reihe von Privilegien genoß: „Gerade der Mittelstand, weil dazu die angesehenen Kaufleute und Fabrikanten gehören, bietet dem Throne mehr Elemente der Stabilität und Ordnung dar, als der eigentliche Stand der Grundbesitzer. Der letztere läuft bei Krieg, bürgerlichen Unruhen und bei dem Wechsel der Regierung weit weniger Gefahr, als der Kaufmann und Fabrikant. Das Gewerbe der letzteren erleidet alsdann in den meisten Fällen eine sehr empfindliche und häufig lang anhaltende Störung . . Z'44 Es lag nahe, daß dieser Notenschreiber des bürgerlichen Liberalismus auch keineswegs versäumte, die in seiner Stadt erfolgte Niederschlagung der Arbeiterempörung als einen Beweis für die Loyalität und Revolutionsfeindlichkeit seiner Klasse gebührend hervorzuheben. „Die belgische Revolution hat mit nichts anderem als einem Pöbelauflauf angefangen . . . Und wer vermag die Folgen zu bestimmen, welche der Pöbelauflauf in Aachen hätte nach sich ziehen können, wenn nicht Aachens Bürger mit der Treue auch Entschlossenheit vereinigt und dem Unfug schnell Einhalt getan hätten?" 45 Im nächsten Jahr 1831 kulminierte die hier geschilderte kurze Geschichte der rheinpreußischen Arbeiterunruhen vor den Schranken des Kölner Geschworenengerichts. Dort, wo in nicht weniger als sechs langen Wochen der erste deutsche Schauprozeß der adligen und bürgerlichen Eigentümerklassen gegen das frühe Proletariat stattfand, wurden 74 der Aachener „Aufrührer" vorgeführt. 46 Der staatliche Anklagevertreter wollte der geschehenen Arbeitererhebung den Tatbestand eines „politischen Attentats" unterschieben und die Verhängung von Todesstrafen durchsetzen. Dagegen aber interpretierte der Hauptverteidiger den Tatbestand einer sozialen Empörung, die ihre Ursache in der Industrialisierung und gleichzeitigen Verelendung der arbeitenden Klasse hatte: „In Aachen wie in anderen Fabrikstädten gab es vor Einführung des Maschinenwesens eine wohlhabende Mittelklasse. Es bestanden viele Fabrikanten, welche, auf ein paar Webstühle beschränkt, Wohlstand in der eigenen Familie verbreiten und manchem Arbeiter anständiges Unterkommen ver42

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Denkschrift von D. Hansemann über Preußens Lage und Politik, Aachen 1830, 31. Dezember, in: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830—1850, gesammelt u. hg. v. Joseph Hansen, Bd. 1: 1830—1845 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. XXXVI), Essen a. d. Ruhr 1919, S. 11 ff. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 14. Die Anklageakte verzeichnet unter den aufgeführten Personen 32 Industrieproletarier (Spinner, Weber, Tuchfarber, Tuchscherer, Tuchpresser, Nadler und Spuler), 32 Handwerker (Schneider, Schuster, Schlosser, Schmiede, Maurer, Kalk- und Ziegelbrenner, Zinngießer, Uhrmacher, Korbmacher) und zehn Tagelöhner (Sackträger). Vierzig Personen waren jünger als 21 Jahre. Siehe Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln, S. 3 ff. Das jugendliche Alter der Angeklagten kann nicht überraschen, wenn man berücksichtigt, daß Fabrikproletarier zu dieser Zeit bereits seit dem Kindesalter ausgebeutet wurden und die durchschnittliche Lebenserwartung in der Rheinprovinz 29,8 Jahre betrufe. Vgl. Thomas Nipperdey. Deutsche Geschichte 1800—1866, S. 106.

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schaffen konnten. Durch die Bildung größerer Fabriken sind jene einzelnen Webstühle verschwunden. Damit und durch den Maschinenbau hat ein Teil der zahlreichen arbeitenden Klasse seine Nahrungsquelle verloren, oder ist doch auf ein sehr geringes Verdienst beschränkt worden, während die Lebensbedürfnisse selbst im Preise gestiegen sind." 4 7 Dieser h u m a n empfindende Rechtsanwalt kritisierte zudem die Produktions- und Ausbedeutungsverhältnisse in den Fabriken: „Es erregt schmerzliche Gefühle, wenn man bedenkt: daß ein M a n n in seinem rüstigen Alter die ganze Woche von morgens sechs bis abends acht U h r mit einer Stunde Unterbrechung arbeiten m u ß und dabei kaum so viel verdienen kann, um sein Leben zu fristen . . Die Fabrikherren sind deshalb nicht zu tadeln: daß sie diesen Lohn nicht erhöhen, weil die Geschäftsverhältnisse dies wahrscheinlich nicht zulassen. Wenn aber ein Fabrikherr sich einfallen läßt: diesen Lohn noch durch Abzüge zu kürzen, die er Ordnungsstrafen nennt; Wenn er auf diese Weise Vortheile sucht, und einen armen Mitmenschen beeinträchtigt, der mit saurem Schweiße sich und einer vielleicht zahlreichen Familie das trock'ne Brod verdienen muß, so ist dies eine gefühllose unmenschliche Behandlung . . ," 4 8 Die Lohnarbeiter müßten daher gegen die Willkür der Fabrikanten geschützt werden! „Ist gearbeitet worden, so hat der Arbeiter den ihm bedungenen Lohn verdient; dieser L o h n muß ihm ausbezahlt werden, und hat der Arbeiter wirklich durch seine Schuld etwas verdorben, so mag der Fabrikherr auf erlaubtem gesetzlichem Wege seine Entschädigung suchen." 4 9 Mit diesen Worten empfahl der Verteidiger dem Richter und den Geschworenen eine vertragsrechtliche Beurteilung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, die er grundsätzlich nicht in Frage stellte. Zwar verwarfen die Eigentumshüter der als liberal gefeierten rheinischen Gerichtsbarkeit den konstruierten Tatbestand des „Attentats" und das darauf gegründete Todesurteil. Doch sie gaben ihre Stimme für Strafen, die immer noch ungemein schwer waren: Denn die Mehrzahl der angeklagten Proletarier wurde exemplarisch zu Freiheitsstrafen und Zwangsarbeit zwischen lebenslänglich und zehn Jahren verurteilt. Blicken wir abschließend kurz auf die Anfange jener gesellschaftspolitischen Reflexionen, die die geschilderten Ereignisse und Probleme begleiteten, so finden wir Hegel im Wintersemester 1830/31 auf dem Berliner Katheder: bei Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte. Der M a n n , der die Französische Revolution von 1789 soeben noch mutig als einen „herrlichen Sonnenaufgang" gefeiert hatte, eine Zeit der „erhabenen R ü h r u n g " , in der es geschienen, „als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst g e k o m m e n " 5 0 — er ließ doch, sobald er auf die Julirevolution zu sprechen kam, ein unüberhörbar resignatives Moll anklingen. „Endlich nach vierzig Jahren von Kriegen und unermeßlicher Verwirrung könnte ein altes Herz sich freuen, ein Ende derselben und eine Befriedigung eintreten zu sehen." 5 1 Insofern die bürgerliche Verfassung in Frankreich wiederhergestellt worden, sei wenigstens „ein H a u p t p u n k t ausgeglichen", ein Konflikt gelöst. Doch der Liberalismus, so betonte Hegel, erzeuge neue Probleme. „Nicht zufrieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Person und des Eigentums gelten, daß eine Organisation des Staates und in ihr Kreise des bürgerlichen Lebens sind, welche selbst Geschäfte auszu47 48 49 50

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Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln, S. 158. Ebenda. Ebenda, S. 159. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke — Suhrkamp, Bd. 12), Frankfurt a. M. 1970, S. 529. Ebenda, S. 534.

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führen haben. . ., setzt der Liberalismus allem diesen das Prinzip der Atome, der Einzelwillen entgegen . . ," 52 Auf diese Weise entstehe eine permanente „Bewegung und Unruhe", eine immerfort neue „Kollision". Dieser „Klassiker" des humanistischen Denkens, der den Fortschritt zur bürgerlichen Gesellschaft gelehrt, der eben diesen Fortschritt in der Fiktion eines tätigen „Weltgeistes" idealistisch gedeutet, aber als geschichtliche Notwendigkeit politisch richtig beurteilt hatte: Warum bedrückten ihn jetzt „Bewegung und Unruhe"? Warum warnte er vor den Folgen? — Seine Antwort lag schon in den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie, die im Wintersemester 1824/25 zum letztenmal vollständig gehalten worden waren: Indem sich die bürgerliche Gesellschaft „in ungehinderter Wirksamkeit" befindet, mit „fortschreitender Bevölkerung und Industrie", „vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer . . . auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse". 53 Wohl wurzelten Hegels Gedanken über die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft vornehmlich noch in der Theorie des Engländers Adam Smith, der am Ende des Manufakturzeitalters nur die vorindustrielle Entwicklung des Kapitalismus überschaut und abstrahierend zusammengefaßt hatte. Wohl blieben ihm die wichtigsten Einsichten David Ricardos, des weiterfühenden Theoretikers der kapitalistischen Industriegesellschaft und ihrer ökonomischen Gesetze, so der Erzeugung des Werts und des Mehrwerts, verschlossen — wie denn auch zu berücksichtigen bleibt, daß selbst der reife Hegel noch immer Kind einer Zeit war, in der erst die zyklische Krise von 1825 anzeigte, daß sich der Industriekapitalismus auf eigener Grundlage zu bewegen begann. 54 Aber der Philosoph, der die Anhäufung des Reichtums und die gleichzeitig wachsende Not der an Lohnarbeit gebundenen Klasse thematisierte, verarbeitete dennoch die frühen Erfahrungen des Übergangs von der Hand- zur Maschinenarbeit. Er sah, daß „der Mensch . . . an seine Stelle die Maschine"55 setzte und bezeichnete, nach einer der überlieferten Vorlesungsnachschriften, sogar das Wesen dieses unumkehrbaren Vorganges: „Das geistige Resultat ist, daß der Mensch die Maschine, Waffen (richtiger: Wasser), Dampf, Feuer pp an seine Stelle treten lassen kann und dies nur beaufsichtigt." 56 Allerdings sah er auch, wie sehr dieses „Vervollkommnen der Arbeit" mit Negativwirkungen erkauft wurde, von denen er zwei ausdrücklich nannte. Erstens kritisierte er die Monotonie der Fabrikarbeit, die die Arbeitsteilung vergrößerte, die einzelne Arbeit vereinfachte, die mit dieser Arbeit Beschäftigten übermäßig spezialisierte, geistig verengte und extrem abhängig machte : „. . . Sie werden ganz einseitig und haben deshalb kaum einen anderen Weg ihren Unterhalt zu gewinnen, weil sie nur in diese eine Arbeit versenkt sind, nur an sie gewöhnt sind, sie werden so die allerabhängigsten Menschen, und der Geist verstumpft sich." 57 Zweitens erfüllte ihn mit Sorge, wie aus der zunehmenden Verbreitung der Maschinen nunmehr die Verelendung der Proletarier und ihre latente Bereitschaft zur 52 53

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Ebenda. Derselbe: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Nach der Ausgabe von Eduard Gans hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1981, S. 268. Hermann Lehmann: Hegels „Rechtsphilosophie" in der Geschichte der politischen Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, IV/1984, S. 175 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 233. Ebenda, S. 485. Ebenda, S. 484f.

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Helmut Bock

Empörung erwuchsen: „Die Arbeiter, besonders die Fabrikarbeiter die durch die Maschinen ihre Subsistenz verlieren, werden leicht unzufrieden . . ," 5 8 Wie sehr befremdete dies alles den philosophischen Wegbereiter der bürgerlichen Gesellschaft ! Der Liberalismus — als kapitalistische Theorie — mochte ihm jetzt als das Konzept einer anarchischen Entfesselung ökonomisch-sozialer Sprengkräfte erscheinen, wodurch sich vierzigjährige Verheißungen der Freiheit, Gleichheit und Interessenharmonie als pure Illusion erwiesen. Der Liberalismus — als kapitalistische Praxis — vermittelte ihm die Einsicht, daß sich der Gegensatz der Klassen vertiefen, die Gefahr sozialer Eruption verschärfen werde. „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende", formulierte er, mit besorgt-kritischem Blick auf England und selbst das geringer entwickelte Deutschland. 59 Eine Lösung aus der Eigenkraft der bürgerlichen Gesellschaft vermochte er nicht aufzuzeigen. „Die Frage wie der Armut zu helfen" sei, bleibe „sehr schwer zu beantworten". 6 0 Denn bei „dem Übermaße des Reichtums" sei „die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug . . ., dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern" ! ßl Nicht im materiellen Prozeß der Gesellschaft, in der Selbstbewegung des Kapitalismus der freien Konkurrenz, sondern im Staat suchte Hegel jene Kraft, die gegenüber feindlichen „Partialinteressen" ein höherwertiges „Gesamtinteresse" vertreten, Gegensätze ausgleichen, eine feste Ordnung durchsetzen, Vernunft und Gerechtigkeit verwirklichen sollte. Doch das war wiederum ein humanistischer Traum, der seine Verwirklichung nicht einmal in den Staaten der Bourgeoisie fand. Wieviel weniger im preußischen Absolutismus, dem Hegel mit der Erwartung, Preußen werde sich bald zum Verfassungsstaate erheben, seine eigene Vernunft unterstellte: In Wirklichkeit sperrte sich dieser Staat der Hohenzollern und Junker gegen die von Hegel oder auch von dem Liberalen Hansemann gewünschten politischen Veränderungen. Er verweigerte der wirtschaftenden Bourgeoisie die Staatsverfassung und das Parlament — ließ jedoch Arbeiterrebellionen künftighin zusammenschießen. In dem Dilemma, die bürgerliche Gesellschaft philosophisch herbeigeführt zu haben, aber ihre soeben zur Entfaltung kommende Lebensrealität zu negieren und statt dessen auf das Wunschbild des idealisierten Staats zurückgreifen zu wollen, offenbarten sich Krise und Ende der deutschen bürgerlich-humanistischen „Klassik". 6 2 Das war eine geistige Reflexion jener obengenannten komplizierten Widerspruchsdialektik, in der die Bourgeoisie politisch noch immer gegen den Adel stehen mußte, aber die arbeitenden Klassen sozial gegen die Bourgeoisie aufzutreten begannen. 63 So bildete die Zeit um 1830 in Deutschland die Stufe einer Entwicklung, die weniger auf die bürgerlichen Präliminarien und Ideale von 1789, mehr auf die Lyoner und schlesischen Weberaufstände, auf das soziale Problem der bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1848 verweist.

58 59 60 61 62 63

Ebenda, S. 485. Ebenda, S. 269. Ebenda, S. 506. Ebenda, S. 270. Wolfgang Heise'. Hegel und die Julirevolution, in: Unzeit des Biedermeiers, S. 56ff. Mit Rücksicht auf ein Raumlimit beschränken wir die zeitgenössische Reflexion der Arbeiterfrage in Deutschland auf Hegel, während sich jedoch die gesellschaftspolitische Diskussion zwischen 1830 und 1840 in konservativen, liberalen, revolutionär-demokratischen Auffassungen differenzierte und entwickelte.

W A L T R A U D SEIDEL-HÖPPNER

Arbeiter und Intellektuelle in der „Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

D i e jüngere Weitling-Literatur hat das Verhältnis v o n A r b e i t e r n zu Intellektuellen in der A r b e i t e r b e w e g u n g scharf ins Licht gerückt. 1 S c h ä f e r s „ A r c h ä o l o g i e proletarischer K o p f arbeit" b e m ü h t sich u m Kristallisation der B e s o n d e r h e i t e n proletarischen D e n k e n s als Subspezies „ungelehrten

Denkens".

Die Untersuchung

b e h a n d e l t Proletarisches

Den-

k e n j e d o c h nicht i m Vergleich z u m E m a n z i p a t i o n s d e n k e n des Bürgertums, a u c h nicht erstrangig als A l t e r n a t i v e z u etabliertem Bürgerlichem

D e n k e n , s o n d e r n als G e g e n s a t z

zu abstrakt g e f a ß t e m „gelehrten D e n k e n " . D i e s formalisiert v o n v o r n h e r e i n i n h a l t l i c h e G e s i c h t s p u n k t e zur Strukturproblematik. 2 W a s j e d o c h für d a s Verständnis der wirklichen G e s c h i c h t e u n d G e g e n w a r t s c h l i m m e r : die D i f f e r e n z z w i s c h e n „ u n w i s s e n s c h a f t l i c h e r W i s s e n s f o r m der ungelehrten D e n k e r " der Arbeiterklasse u n d der „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r m der T h e o r i e " der „ g r o ß e n K l a s s i k e r " erhärtet zur h e r m e t i s c h e n S c h e i d e m a u e r . 3 D e r Streit v o n 1846 in Brüssel, z w i s c h e n d e n K o m m u n i s t e n u m M a r x einerseits u n d W e i t l i n g anderer1

2

3

Kurzschlüssig, im Zusammenhang mit Weitlings Streit in Brüssel, Wolf Schäfer, Proletarisches Denken und kritische Wissenschaft, in: Entfremdete Wissenschaft, hrsg. von Gernot Böhme und Michael von Engelhardt, Frankfurt/M. 1979; geringfügig präzisiert und modifiziert derselbe, Die unvertraute Moderne. Historische Umrisse einer anderen Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 1985; in anderer Dimension bei J^thar Knatz, Utopie und Wissenschaft im frühen deutschen Sozialismus. Theoriebildung und Wissenschaftsbegriff bei Wilhelm Weitling, Frankfurt/M. 1984; grundsätzlich bei Hans Jörg Sandkühler, Geschichte, gesellschaftliche Bewegung und Erkenntnisprozeß, Frankfurt/M. 1984. Schäfer benennt im Gegensatz zu wissenschaftlicher Theoriebildung des gelehrten Denkens für seine Kategorie des proletarischen, des „ungelehrten Denkens" sechs Charakteristika: proletarisches Denken spreche 1. „von unten für unten"; es forme sich 2. als „kollektives Denken"; es äußere sich 3. in affektiven Begriffen bzw. in einer „assoziativen und emotionalen Sprache"; es sei 4. interessenbezogen; 5. nicht auf theoretisches Wissen ausgerichtet, sondern praxisbezogen; es bezöge sich 6. normativ auf das Wohl der Gesellschaft, während der gelehrte Denker sein theoretisches Wissen von oben her, individuell, wertneutral und interessenenthoben ausbilde. Vgl. Schäfer, Proletarisches Denken, S. 192ff., 197, 202ff., 207fT., 210f.; Unvertraute Moderne, S. 79 ff. Zu den einzelnen Antinomien wäre mancherlei anzumerken: Die Trennlinie zwischen oben für oben und unten für unten verläuft so einfach nicht; und kollektive Form schließt Individualität des Denkvorgangs ebensowenig aus wie die individuelle ihre Verflechtung in gesellschafts- und praxisbezogene Interessen. Die bürgerlichen Enzyklopädisten — sämtlich Gelehrte — hatten ihre Salons. Andererseits denken auch politisch organisierte Arbeiter nicht in Sprechchören! Interessen- und Praxisbezug ebenso wie Metaphorik der Sprache sind weder einem Sieyes noch einem Marx abzusprechen. Derselbe, Proletarisches Denken, S. 183f., 187f.; auch in der soeben erschienenen Neufassung heißt es: „Das gelehrte und das ungelehrte Denken schließen sich gegenseitig aus. Der Graben, der philosophische und proletarische Arbeiterbewegung trennt, ist fast unüberwindbar. Die Welt auf der jeweils anderen Seite ist nahezu unbekannt. . . eine kulturelle Grenze"; derselbe, Unvertraute Moderne, S. 80.

Waltraud Seidel-Höppner

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seits, gilt als h i s t o r i s c h e r P r ä z e d e n z f a l l für d i e U n v e r e i n b a r k e i t v o n p h i l o s o p h i s c h e r u n d proletarischer W i s s e n s f o r m u n d für d e n „ G r a b e n , der in der A r b e i t e r b e w e g u n g P h i l o s o p h e n und Arbeiter trennt".4 Im Lichte Schäfers erscheint das damalige Ringen deutscher K o m m u n i s t e n u m F r a g e n der Strategie u n d T a k t i k in der b e v o r s t e h e n d e n b ü r g e r l i c h e n R e v o l u t i o n als trivialer M a c h t k a m p f u m d e n F ü h r u n g s a n s p r u c h . 5 In s o l c h e m S p e k t r u m verlagert sich der s p ä t e s t e n s in d e n dreißiger Jahren i m d e u t s c h e n f r ü h p r o l e t a r i s c h e n D e n k e n bereits reflektierte G e g e n s a t z z w i s c h e n K a p i t a l u n d A r b e i t , z w i s c h e n B o u r g e o i s i e u n d Proletariat a u f e i n e n T e i l a s p e k t der K l a s s e n t e i l u n g : a u f d e n G e g e n s a t z z w i s c h e n geistiger u n d körperlicher A r b e i t . D a s v e r s c h i e b t die O p t i k . 6

Der

G e g e n s a t z z w i s c h e n I n t e l l i g e n z u n d P r o l e t a r i a t e r s c h e i n t als sozialer G e g e n s a t z par excellence. D i e K l u f t z w i s c h e n geistiger u n d k ö r p e r l i c h e r A r b e i t , d e r e n Ü b e r w i n d u n g v o n d e n p o l i t i s c h o r g a n i s i e r t e n A r b e i t e r n der dreißiger u n d vierziger Jahre d e s n e u n z e h n t e n Jahrh u n d e r t s p r o g r a m m a t i s c h a n g e s t r e b t u n d in ihren g e w a l t i g e n B i l d u n g s a n s t r e n g u n g e n bereits p r a k t i s c h b e g o n n e n w u r d e , gilt als u n ü b e r b r ü c k b a r . D i e s stellt — gleichgültig, o b m a n d a s will o d e r n i c h t — d i e t h e o r e t i s c h e n W e i c h e n für e i n e a n t i s c i e n t i s t i s c h e I n t e r p r e t a t i o n der H a l t u n g der s p o n t a n e n A r b e i t e r b e w e g u n g u n d suggeriert e i n e n prinzipiellen G e l e h r t e n h a ß der A r b e i t e r . S c h ä f e r will seine K o n z e p t i o n als B e r u f u n g g e g e n d e n „ P r o z e ß " v e r s t a n d e n w i s s e n , „ d e n M a r x u n d E n g e l s g e g e n d i e erste s o z i a l e u n d intellektuelle B e w e g u n g der d e u t s c h e n A r b e i t e r a n g e s t r e n g t h a b e n u n d der h e u t e n o c h in d e n A n n a l e n der S o z i a l - u n d I d e e n g e s c h i c h t e v e r h a n d e l t w i r d " . 7 Er will d a b e i d i e „ U n t e r d r ü c k u n g u n d V e r d r ä n g u n g d e s ungelehrten

4

D e n k e n s " d e n u n z i e r e n , m i t der M a r x 1846 „ d i e , U n w i s s e n h e i t ' W e i t l i n g s zur

Schäfer moniert „die Unterdrückung der proletarischen Kopfarbeit" durch „die gelehrte Entwicklung . . . der Marxschen Theorie" „als den kleinen Fehler am Anfang" und konstatiert „die Unempfanglichkeit des gelehrten Denkens für die Wissensform des ungelehrten Denkens". Für den Marx von 1846 sei, ebenso wie für Lassalle, „das Proletariat. . . köpf- und geistlos, nichts weiter als physische Kraft." Derselbe, Proletarisches Denken, S. 178, 182, 184, 187—189; vgl. derselbe, Unvertraute Moderne, S. 73 ff., 79. Na'aman sieht die Gesamtproblematik des Verhältnisses von Proletariat und Intelligenz historisch sachkundiger als Schäfer; im vorliegenden Punkte heißt es aber auch bei ihm: Marx und Engels „haben eine Tendenz bewiesen, . . . jede spontane Arbeiterbewegung zu vergewaltigen". Shlomo Na'aman, Zur Entstehung der deutschen Arbeiterbewegung. Lernprozesse und Vergesellschaftung 1830—1868, Hannover 1978, S. 26.

5

„Die informelle Diktatur der Philosophen im ,Bund der Kommunisten' und die formelle im Lassalleschen ADAV haben die Trennung von Kopf- und Handarbeit in die Arbeiterbewegung getragen." Schäfer, Proletarisches Denken, S. 188; „Die wirklichen Gründe des historischen Konflikts . . .: der Führungsanspruch der Philosophen qua Wissenschaftler in Sachen Theoriebildung sowie in Fragen der politischen Strategie, ferner die Unvereinbarkeit der philosophischen und der proletarischen Wissensform"; derselbe, Unver^ traute Moderne, S. 74; vgl. auch Na'aman, S. 25. 6 Dies passiert nicht unwillkürlich: „Der epochale Glaube an die neuzeitliche Wissenschaft und ihre Technik ist fragwürdig geworden, und er verliert seine Anhänger. [. . .] Es ist anzunehmen, daß der Kampf um die Wissenschaft gute Aussichten hat, als der zentrale Konflikt der Gegenwart Geschichte zu machen." Schäfer, Unvertraute Moderne, (Klappentext). Schäfer definiert als die „entgegengesetzten Pole der Gesellschaft" die Wissenschaftler und die Arbeiter. „In den Vereinen trafen ja nicht in erster Linie Vertreter zweier Klassen, sondern vornehmlich zweier Bildungsschichten aufeinander." Ebd., S. 78. So auch Antje Gerlach, Deutsche Literatur im Schweizer Exil. Die politische Propaganda der Vereine deutscher Flüchtlinge und Handwerksgesellen in der Schweiz von 1835 bis 1845, Frankfurt/M. 1975, S. 414. 7

Schäfer, Unvertraute Moderne, S. 260. Sein „Beweismaterial": die nach vier Jahrzehnten niedergeschriebenen Erinnerungen Annenkows! Zur Kritik seiner unkorrekten Interpretationsweise siehe die Replik Verdrängung des Anderen von Lothar Knatz, Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz, Jg. 18 (1982), H. 4, S. 4 3 7 - 4 5 1 .

„Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

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Richtschnur des deutschen Proletariats gemacht" habe. Er ist — zumindest in seiner jüngsten Arbeit — durchaus nicht mehr blind dafür, daß fües „mit dem schwierigen Bündnis zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Intelligenz in sozialen Bewegungen zu tun hat". 8 Nach dem solcherart die Schuldigen gebrandmarkt und der Rächer erstanden, der der „Tradition der Enthauptung sozialer Bewegung" endlich ein Memento zuruft 9 , könnte man das Ganze als ein Klischee, zu durchsichtigem Zwecke konstruiert, beiseite tun; um so mehr, als in jüngeren Arbeiten von Bravo, Knatz und Sandkühler der hohe Rang, den Weitling der Wissenschaft in seinem System zuspricht, erneut überzeugend nachgewiesen wurde. 10 Im übrigen hat Weitling selbst den Platz seines Werks als Desiderat der zeitgenössischen Literatur bestimmt. 11 Umstritten bleibt hingegen das Verhältnis zwischen Arbeiterbewegung und Intelligenz im allgemeinen und das Verhältnis Weitlings zu Intellektuellen im besonderen. Wenden wir uns daher zunächst in der historischen Wirklichkeit jenen Körnchen Wahrheit zu, die Trugschlüsse der Historiographie begünstigen und eine Fehlinterpretation glaubhaft machen. Tatsächlich liefern die Quellen zur frühen Arbeiterbewegung viele Hinweise auf Animosität der Arbeiter gegen die herrschende Wissenschaft und ihre Repräsentanten. Schon bei der Beratung des Statutenentwurfs des Bundes der Geächteten drängte ein Schneidergeselle auf einen Artikel, der sich gegen den Verbleib bürgerlicher Flüchtlinge wandte. 12 Weitling selbst bestätigt solche Kämpfe zwischen Intellektuellen und Arbeitern schon für Mitte der dreißiger Jahre. 1851 schreibt er: „Diese innern Kämpfe in den Vereinen und geheimen Gesellschaften zwischen den sogenannten Gelehrten und den Gegnern derselben bestehen schon seit der Betheiligung der Arbeiter an der politischen Agitation. Wir hatten schon vor 16 Jahren in Paris solche Kämpfe. Der Ehrgeiz der ,Gelehrten' untereinander, hieß es, ist an allen unsern Uneinigkeiten Schuld. Sie allein rufen stets diese innern Reibungen 8 9 10

11

12

Schäfer, Unvertraute Moderne, S. 265. Ebd., S. 72. Gian Mario Bravo, Frühe Arbeiterbewegung und Wissenschaft mit besonderer Berücksichtigung Wilhelm Weitlings, (Bremen) 1981; Lothar Knatz, Utopie und Wissenschaft; Sandkühler, Geschichte, S. 195, schreibt: „'Wissenschaft', die Frage der Wissenschaftlichkeit des Kommunismus, durchsetzt das gesamte Denken der zeitgenössischen Revolutionäre". „Es war nicht Widerwille gegen mein Handwerk, was mich veranlaßte, schriftstellerische Versuche zu machen, es war weder Ehrgeiz noch persönliches Interesse. Nein, das war es nicht! — Ich fand in der Literatur eine ungeheure Lücke noch nicht ausgefüllt, hielt die Ausfüllung derselben für das dem Wohle der Gesellschaft Allernothwendigste, und machte mich nur (sie!) an die Arbeit, weil ich sah, daß sie, so viel mir bekannt war, kein anderer deutscher Schriftsteller unternahm. Diese Thatsache steht unwiderlegbar fest, eben so meine Überzeugung, daß durch die Eigenheiten des Schneiderhandwerks meine Studien in dem Fache der Literatur, welches ich bearbeite, möglicher waren als in vielen andern Geschäftsfächern. Ich glaube, ich mußte ein Handwerker sein, um für meine Prinzipien ein Schriftsteller zu werden; auf Universitäten wäre ich dies schwerlich geworden." W[ilhelm] Weitling, Kerkerpoesien, Hamburg 1844, S. VIII f. Werner Kowalski, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin 1962, S. 58; Hans Joachim Ruckhäberle, Frühproletarische Literatur. Die Flugschriften der deutschen Handwerksgesellenvereine in Paris 1832—1839, Kronberg 1977, S. 18. Ewerbeck konstatierte 1846 u. a. als Fortschritt, daß die Pariser Gerechten „den trüben Gelehrtenhaß" ablegen. Hermann Ewerbeck an Karl Marx, 15. Mai 1846, in: BdK, Bd. 1, S. 339. August Becker wendet sich beschwörend gegen den Krieg zwischen „geistigen und leiblichen Producenten der jetzigen Gesellschaft". August Becker, Die Volksphilosophie unserer Tage (1843), in: Hans Joachim Ruckhäberle, Bildung und Organisation in den deutschen Handwerksgesellen- und Arbeitervereinen in der Schweiz, Tübingen 1983, S. 275.

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Waltraud Seidel-Höppner

hervor und suchen sie gegen einander zu benutzen. Stoßt die Gelehrten aus! Nehmt nur Arbeiter auf etc." 1 3 Vom Zorn „der politisch denkenden Arbeiter über die Gelehrten" ist auch 1849 die Rede. 14 Der junge Engels beobachtet — gleichfalls lange VOR 1846 — Mißtrauen gegen gebildete Anführer. 1 5 Ewerbeck erwähnt blutige Zusammenstöße zwischen Studenten und Handwerkern und spricht von „erbittertem H a ß " der politischen Flüchtlinge namentlich gegen Kommunisten. 1 6 Das erstere bestätigt auch der Telegraph von 1845 in einem Grundsatzartikel „Student und Knote". Er datiert „eine Veränderung in den Zuständen und gegenseitigen Verhältnissen zweier Klassen. . „ d i e lange Zeit in Deutschland sich schroff einander gegenüber standen . . . der deutsche Student und der deutsche Arbeiter", auf den Zeitpunkt der Julirevolution. 17 Das Problem spitzt sich offenbar in der deutschen Arbelierbewegung schärfer zu als in der frühen französischen, vermutlich durch die besonderen Entstehungsbedingungen der frühproletarischen Bewegung in den Auslandsverbindungen deutscher politischer Flüchtlinge. Einerseits absolvierten in Paris deutsche Frühproletarier im Deutschen Volksverein ihre ersten politischen Semester. Andererseits sorgte praktische Erfahrung der politischen Freiheiten des Juliregimes für frühe Scharfsicht der Grenzen des politischen Ideals der deutschen Liberalen und Bourgeoisrepublikaner. Gleichzeitige Berührung mit neobabouvistischen, sozialistischen und jakobinischen Bestrebungen der französischen Arbeiter beförderte, daß die frühproletarischen Mitglieder ihren intellektuellen Wortführern sehr bald eigene Vorstellungen von der Zukunft in Deutschland entgegenstellten. Von den bürgerlichen Emigranten, die in diesen deutschen Auslandsverbindungen meist erstmals mit dem proletarischen Element Tuchfühlung bekamen, tolerierten nicht alle die erwachenden Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter, am wenigsten die kommunistischen. 18 Insofern entlud sich in diesen Kämpfen, die der Form nach zwischen Arbeitern und Intellektuellen ausgetragen wurden, eine Teilfront des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie. 13 14 15 16

17 18

Republik der Arbeiter, 7. 6. 1851, S. 60, III. Weitling, Garantien, S. 288f. Friedrich Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent, in: MEW, Bd. 1, S. 484. Hermann Ewerbeck, L'Allemagne et les Allemands, Paris 1851, S. 590; Der Communist, No. 1, Nauvoo 1853; vgl. BdK, Bd. 1, S. 339. Telegraph für Deutschland, No. 59, Hamburg, April 1845, S. 233 f. Der Tischler und politische Wortführer im Bund der Geächteten, Wolfgang Strähl, schreibt 1836 von der Gütergemeinschaft ;, ,Und die Gelehrtesten können sie am wenigsten begreifen und s u c h e n . . . ihr entgegen zu arbeiten." Wolfgang Strähl, Briefe eines Schweizers aus Paris 1835—1836. Neue Dokumente zur Geschichte der frühproletarischen Kultur und Bewegung, hrsg. von Jacques Grandjonc, Waltraud SeidelHöppner und Michael Werner (in Vorbereitung), S. 276 (Ms.). Weitling berichtet, daß man anfangs über Abschaffung von .Geld und Eigentum nicht sprechen konnte, ohne sich „von der einen Seite der Verspottung und von der andern der Verfolgung auszusetzen", und daß man Druckschriften darüber „nur mit der äußersten Vorsicht" verbreitete und daß „Niemand es wagte, eine solche Schrift öffentlich sehen zu lassen", Weitling, Garantien, S. 292. Ewerbeck berichtet geradezu vom „ H a ß der anderen deutschen Flüchtlinge gegen die Kommunisten", Ewerbeck, L'Allemagne, S. 589. Nicht ohne Bitterkeit kommentiert Weitling bürgerliche Quittung für proletarische Solidarität: „Für die Kinder des einen wurde einst auch unter uns Handwerkern gesammelt, damit sie die Universitäten besuchen konnten. Was sie da profitiert, benutzen sie jetzt, um in der Presse das Kapital gegen die Sozialisten und Kommunisten zu verteidigen", Weitling, Garantien, S. 309. Es ist „heut zu Tage in der gelehrten Welt M o d e , . . . über die Kommunisten" zu schimpfen, heißt es in einem Brief aus London. Junge Generation, Februar 1842, S. 20.

„Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

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Ohnehin wurde die Arbeitsteilung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit von den frühproletarischen Wortführern — auch wenn das nicht immer in diesem Zusammenhang gesagt wurde — sehr früh als Resultat und Bestandteil der Klassenteilung begriffen, ihre Aufhebung bildungspolitisch angestrebt und in den ersten Organisationen praktisch in Angriff genommen. 19 Diese Arbeitsteilung aber reiht die Intellektuellen von vornherein unter die Privilegierten und macht den Kampf der Arbeiter gegen das Bildungsprivileg zur Teilfrage ihrer Emanzipation. Zur Kehrseite des Bemühens um Selbstvertrauen aber gehört der Abbau des Gelehrtenfetischismus in den Köpfen der Arbeiter. Strähl beklagt bereits 1835 die „unrichtigen Begriffe . . . von Gelehrten, Staatsmännern, Kriegern usw., . . . die überspannten Vorstellungen von ihrer Gelehrtheit und Stärke". Er schreibt: „Das Volk . . . hat von jeher zu wenig Zutraun in sich selbst gesetzt, und zu viel in seine Beamten und Vorsteher; es hielt sich für unwissend, diese für allwissend, sich für ungeschickt, diese zu Allem tauglich, sich für schwach und ohnmächtig, dir e für Helden und Halbgötter." 20 Nicht minder entschieden wendet sich Weitlings Zeitschrift gegen „das Vorurtheil, daß nur die höhern und begüterten Stände der Gesellschaft eine richtige Kenntniß des Staatenbaues und [von] den Mitteln diese Gebrechen abzuhelfen haben können". 21 Mit Genugtuung werden von Geächteten wie Gerechten Fortschritte in diesem Punkte vermerkt.22 Die Einsicht in die Klassenbedingtheit und Klassenfunktion des Bildungsprivilegs manifestiert sich im zeitgenössischen Sprachgebrauch der deutschen Arbeiter im Schlüsselbegriff GEISTESARISTOKRATIE, der fast immer zusammen mit Geburts- und Geldaristokratie genannt wird. 23 Genauer besehen erfassen die Arbeiter in diesem Begriff ein ziemlich breit gefächertes 19

20

21 22

23

Strähl träumt von einer Zeit, in der „Künste und Wissenschaften in größerer Anzahl ihre Wohnsitze in der Menge des Volkes etablieren" und „Künstler und Gelehrte" ihres Wissens wegen keine Privilegien mehr haben werden, Strähl, Briefe, S. 99 (Ms.). Weitling prophezeit für die dritte Generation der in Gütergemeinschaft lebenden Menschheit: „Der Handwerker und der Bauer werden zugleich Gelehrte und der Gelehrte Handwerker und Bauer sein", [Weitling,] Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte (1838), in: Kowalski, Vorgeschichte, S. 237. Vgl. auch Der Hülferuf der deutschen Jugend, Sept. 1841, S. 6; August Becker, Die Volksphilosophie (1843), a. a. O., S. 268. Das New Yorker Blatt des Bundes der Gerechten schreibt optimistisch: „Wie sollten dann nicht Künste und Wissenschaften ihren Gipfelpunkt erreichen, wenn Jedem die Mittel an die Hand gegeben wären, seine Talente weiter auszubilden, wenn Jeder Gelegenheit fände, an dem gemeinschaftlichen Ringen Theil zu nehmen!" Der Volks-Tribun, New York, Jg. 1, No. 35, 29. August 1846. „Die Wissenschaft muß aufhören, ein Privilegium zu sein", verlangt die Republik der Arbeiter, 29. November 1851, S. 258, II. Strähl, Briefe, S. 226 (Ms.); Marx wird dasselbe Phänomen als „Autoritätsaberglauben" definieren, MEW, •Bd. 34, S. 308. Hülferuf, Dezember 1841, S. 52. „Allein Gott sei Dank! wir haben andere Ansichten gewonnen; wir wissen, daß weder Seminarium noch Universität den Menschen zum Gotte oder Halbgotte zu machen im Stande ist", so Strähl, S. 226. Sieben Jahre später der gleiche erleichterte Ausruf: „Gott sei Dank! Die Zeiten sind vorüber, wo die arbeitende Klasse blos las, ohne zu denken und zu prüfen; wo sie alles Gedruckte nur darum für Wahrheit aufnahm, eben weil es gedruckt war, und wo jeder Unverstand und jede Lüge einen Glanz der Wahrheit sich erschleichen konnte, wenn sie sich auf dem Papier verkörperte", Auszug aus einem Briefe aus London, Junge Generation, Februar 1842, S. 18. Schon 1835 spricht Wolfgang Strähl von der Aristokratie der Fähigkeiten als der „allergefährlichsten Aristokratie", weil sie „Vorzugsklassen macht" und „wie alle Aristokratie zur Willkürherrschaft" führt, Strähl, Briefe, S. 279, 281 (Ms.), Drei Jahre später schreibt Schapper: „Das Beispiel der Geldaristokraten haben wir bei den republikanischen Amerikanern mit ihren Sklaven, und die Geistesaristokraten sehen wir bei unsern Gelehrten in Deutschland", Karl Schapper, Gütergemeinschaft, in: BdK, Bd. 1. S. 100; des-

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Waltraud Seidel-Höppner

u n d fein n u a n c i e r t e s S p e k t r u m . Sie v e r p ö n e n in i h m s c h o n M i t t e der dreißiger Jahre d a s elitäre s a i n t - s i m o n i s t i s c h e Ideal einer „ G e l e h r t e n - A r i s t o k r a t i e " . 2 4 W e i t l i n g b e n u t z t

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B e g r i f f „ G e l e h r t e n - u n d G e l d a r i s t o k r a t i e " a u c h a l s S y n o n y m für bürgerliche R e p u b l i k u n d k o n s t i t u t i o n e l l e M o n a r c h i e . 2 5 G e m e i n t sind ferner s c h l e c h t h i n a k a d e m i s c h e Vertreter u n d A p o l o g e t e n d e s h e r r s c h e n d e n S y s t e m s . W e i t l i n g spricht v o n M ä n n e r n „ d e r

bezahlten

W e i s h e i t " , v o n d e n „ H e r r e n d e s G e l d e s , d e s P a p i e r e s u n d der G e w a l t " , d e n e n d i e W i s s e n s c h a f t e n d a z u d i e n e n , „ I r r t h u m u n d V o r u r t h e i l u n t e r d e n M a s s e n z u v e r b r e i t e n " . 2 6 Strähl w e n d e t s i c h in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g g e g e n „ v e r k a p p t e S c h u r k e n " , „ v e r s c h m i t z t e B ö s e w i c h t e r , . . . w e l c h e die U n w i s s e n h e i t u n d L e i c h t g l ä u b i g k e i t d e s V o l k e s b e n u t z e n d , u n t e r der L a r v e e i n e s V e r t e i d i g e r s bürgerlicher F r e i h e i t z u Ä m t e r n u n d E h r e n s t e l l e n s i c h e m p o r zuschwingen suchen", sowie gegen „verlarvte Heuchler" u n d „reaktionäre M ä n n e r " an der A k a d e m i e u n d „ a u f u n s e r n A r i s t o k r a t e n - U n i v e r s i t ä t e n " , d i e die J u g e n d „ z u b l i n d e n W e r k z e u g e n " , z u „ b l i n d e m G e h o r s a m u n d zur U n t e r w e r f u n g in d i e G e w a l t einiger B e t r ü g e r " u n d „ z u m V o r t e i l e der M o n a r c h i s t e n " e r z i e h e n u n d „ g e i s t i g v e r f i n s t e r n " . 2 7 A u c h W e i t l i n g stellt b e z a h l t e n V o l k s b e t r u g in R e c h n u n g . Er spricht v o n P f a f f e n u n d G e l e h r t e n , die g l e i c h Gendarmen

u n d Bütteln gedungen sind28, v o n „literarischen

Schwindlern",

„falschen

W e i s e n , d i e d a s V o l k b e t r ü g e n " , die ihre „ W e i s h e i t , d i e sie v o n d e n h o h e n S c h u l e n m i t in d i e W e l t b r i n g e n " , z u g u n s t e n d e s „ D e s p o t i s m u s der d i c k m ä c h t i g e n a l t e n Z ö p f e " v e r b r e i t e n

gleichen weist Weitling in einem Atemzug auf „die Geldmänner und Gelehrten", Garantien, S. 272; noch 1847 heißt es anläßlich der Hungerunruhen: „Die geistige Aristokratie hat Front gemacht gegen das Proletariat", Telegraph für Deutschland, No. 89, Juni 1847, S. 356. Von einer „Aristokratie" der Gebildeten und ihren Gefahren spricht auch Richard Lahautiere, Kleiner Katechismus der Socialreform, Biel 1841, S. 16; bei Ruckhäberle, Bildung und Organisation, S. 217. 24

Strähl erscheint eine solche Fähigkeits-Aristokratie viel gefährlicher „als die bis dahin bestandene reiche und adeliche", Strähl, Briefe, S. 280 (Ms.). Schapper hält sie für „ebenso schlimm" wie erstere, Schapper, Gütergemeinschaft, BdK, Bd. 1, S. 99. Weitling wendet sich ähnlich „gegen ein glänzendes Kasernenleben unter der Vormundschaft der Gelehrten und Kapitalisten oder was immer für Bevorzugter", Junge Generation, April 1842, S. 59f.; vgl. ferner [Weitling,] Menschheit, S. 218; August Becker, Die Volksphilosophie, a. a. O., S. 275. 1846 bringt die Brüsseler Erklärung gegen Kriege auch Marx/Engels bei den Londoner Gerechten vorübergehend in den Geruch, daß sie im Sinne hätten, „eine Art Gelehrten-Aristocratie zu gründen, und das Volk von Eurem neuen Göttersitz herab zu regieren", Das Kommunistische Korrespondenzkomitee in London an Karl Marx in Brüssel, London, 6. Juni 1846, MEGA, III/2, S. 219. Das Schreiben des Kommunistischen Korrespondenzkomitees in London an das Kommunistische Korrespondenzkomitee in Brüssel vom 17. Juli 1846 kommt nochmals auf diesen Gegenstand zurück: „Der Grund, daß man noch hie und da bei den Arbeitern eine gewisse Bitterkeit gegen die Gelehrten findet, liegt, verzeiht uns das Wort, in der Arroganz der Gelehrten, welche sehr häufig da, wo sie Irrtümer finden, anstatt aufzuklären und zu heilen, gleich mit ihren Gänsekielen hineinfahren und totschlagen wollen; welche, wenn sie mit Arbeitern zusammenkommen, mit ihren gelehrten Bomben um sich fahren und sich in einen überirdischen Nimbus einhüllen; welche nicht wissen, die Freundschaft der Arbeiter zu erwerben, welche sie abstoßen, anstatt sie anzuziehen — und Ihr BRÜSSELER PROLETARIER besitzt diese verdammte Gelehrten-Arroganz noch in einem hohen Grade; das zeigt Euer Auftreten gegen Kriege; hierdurch habt Ihr wahrlich nichts Gutes gestiftet", BdK, Bd. 1, S. 380.

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Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit, Berlin 1955, S. 272. Er qualifiziert die politischen Bestrebungen der Kinkel, Struve, Haug, Ronge u. a. als die „neblige deutsche Republik der Professoren", Republik der Arbeiter, 21. 6. 1851, S. 79; vgl. auch Schapper, Gütergemeinschaft, BdK, Bd. 1, S. 99f. Hülferuf, Dezember 1841, S. 62; Junge Generation, April 1842, S. 56. Strähl, Briefe, S. 219, 218, 85, 176, 220, 273, 9 f., 15 f., 89 ff. Weitling, Garantien, S. 115f.

26 27 28

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und „schreiben, was sie nicht glauben können»". 29 Frühproletarische Kampfansagen an Akademien und Universitäten gelten füglich keineswegs der Bildungsinstitution an sich, sondern den zeitgenössischen Hochburgen der Reaktion, den Bildungsstätten konservativen Denkens und den dort entsprechend ausgebildeten Absolventen. D i e Ablehnung der Arbeiter trifft weiterhin akademisch gebildete Beamte in Gesetzgebung, Justiz, Verwaltung und Bildungswesen, in Frankreich auch Profiteure der bürgerlichen Revolution. In diesem Sinn gilt der Begriff der Geistesaristokratie als Synonym für politische Sachwältcr der herrschenden Klassen. 3 0 Als Geistesaristokraten im engeren Sinne gelten elitäre Verfechter des Bildungsmonopols, die die intellektuellen Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter ablehnen, sie bekämpfen, zumindest mit Spott quittieren und die Arbeiter zu bevormunden suchen. 3 1 Schon Wolfgang Strähl protestiert gegen die elitäre Begründung des Bildungsprivilegs und ihre Verteidiger: „Ich lasse dem Talent sein Recht, und weiß Kenntnisse zu ehren; aber daß diese himmlischen Gaben einzig und allein dem Reichen gegeben sein sollen, und daß der Baum des Verstandes nur auf fürstlichem und adelichem Boden gedeihen könne, das will mir gar nicht in den Kopf. Verstand ist das Eigentum eines jeden Menschen, er läßt sich nicht erkaufen, er ist gegeben dem Einen wie dem Andern, nur verschiedenartig erweitert und ausgebildet. Gebe man daher dem Volke die gehörige Bildung, und jeder wird fähig sein zu dem Geschäfte, was er erlernt hat, ohne daß er eine lange Reihe adelicher A h n e n oder gefüllter Geldkisten aufzuweisen hat." 3 2 Dieser frühproletarische Protest ist weder antiscientistisch formuliert noch schlechthin antiintellektualistisch gemeint. Er wendet sich nicht gegen GEiSTESaristokratie, sondern gegen GeistesARiSTOKRATiE, nicht gegen Bildung, sondern gegen das BildungsMoNOPOL. 29 30

Ebd., S. 295; Volksklänge, 1841, S. 21; Garantien, S. 98; BdK, Bd. 1, S. 131. „Diejenigen, die sagen, ,was ist, ist Recht', . . . sind gewöhnlich die Gebieter der Erdenvölker und die in ihren Schlingen gehaltenen Kreaturen, welche zweierlei Art sind, die, die gekauft und bestochen und die, die durch diese in der Gewalt gehalten werden", so Strähl, Briefe, S. 351. Schapper zählt zu den Geistesaristokraten diejenigen, die sich für prädestiniert halten, „an der Stelle der Despoten der Menschheit Gesetze zu geben und sie zu beherrschen". Er warnt: „Glaube man daher ja nicht, daß wir allein mit den Fürsten zu kämpfen hätten; nein, noch ein viel härterer Kampf wird uns mit obengenannten Geld- und Geistesaristokraten werden, um so gefahrlicher, da diese Menschen uns nicht mit den Waffen in der Hand entgegentreten, sondern durch Bestechung und List uns unsere blutig erkaufte Freiheit und unser Recht zu entreißen suchen werden", Schapper, Gütergemeinschaft, BdK, Bd. 1, S. 99 f. Weitling identifiziert die BÜRGERLICHE Revolution geradezu mit dem Sturz von Fürsten und Adel „zum Vorteil der Gelehrtenund Geldaristokratie", Weitling, Garantien, S. 289; vgl. Becker, Volksphilosophie, a. a. O., S. 276.

31

Weitling erklärt es für an der Zeit, „daß wir einmal mündig und dieser gehässigen langweiligen Vormundschaft los werden". „Genug, wir sind genöthigt für uns zu arbeiten und unsere Abendstunden, die uns nach des Tages Mühen noch frei bleiben, den geistigen Arbeiten zu weihen. Aber damit hört eure Vormundschaft auf." Hülferuf, September 1841, S. 3, 5. Ähnlich schreiben die Londoner Gerechten: „Heut zu Tage sind wir so weit gekommen, daß wir auch zu unterscheiden suchen was gut und schlecht ist, ja, wir gehen noch weiter, wenn wir nämlich sehen, daß man uns nichts Gutes auftischt, so helfen wir uns selber, schreiben selbst. Dies ist nun freilich in den Augen der Geistesmonopolisten ein Verbrechen." Junge Generation, Februar 1842, S. 18; vgl. ferner Hülferuf, November 1841, S. 37. Noch 1851 wendet sich ein Arbeiter in Weitlings Zeitschrift gegen den Monopolanspruch der „geistigen Arbeiter" auf Denkfähigkeit: „Alle Menschen haben Denkfähigkeit. . . nur haben in der alten Gesellschaft die wenigsten Muße und Gelegenheit, sie zu üben, was immer so bleiben wird, wenn dieselbe nicht umgestaltet wird von Grund aus." Republik der Arbeiter, 31. 5. 1851, S. 52.

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Strähl, Briefe, S. 226 (Ms).

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Das wird noch deutlicher in der allgemein bekundeten Ablehnung von Standesdünkel und Gelehrtenarroganz, dem „Mehr-Sein-Wollen der deutschen Gelehrten"33. Schapper schreibt: „Die Geistesaristokraten . . . glauben mit ihrem von Bücherweisheit überfüllten Gehirne besser zu sein als andere Menschen und dazu gemacht, an der Stelle der Despoten der Menschheit Gesetze zu geben und sie zu beherrschen. Sie wünschen nicht, daß das Volk sich ganz ausbilde,. . . damit sie die Klügeren bleiben und das Volk desto besser am Gängelband führen können." 34 Weitling bemüht sich um eine mehrschichtige Erklärung dieses Phänomens: „Sie sind zu stolz, sie haben kein Gefühl für den Armen und Arbeiter, sie sind zu verweichlicht und eingebildet erzogen worden, sie haben Aussichten auf einen privilegierten Stand, darum benutzen sie die Politik nicht zugunsten der Armen." 35 Ebenso verworfen werden alle Formen von Pseudoakademismus und intellektuellem Schamanentum. Gemeint sind damit bei Weitling unter der Hülle moderner Gelehrsamkeit verborgener „nackter Unverstand", auch „diejenigen, welche viele gelehrte Worte machen . . . aber doch dabei weder etwas Neues noch Nothwendiges zu sagen haben"; kalte Verachtung trifft gelehrte Schwätzer, Schönredner, politische Spiegelfechter, Renommisten und Windbeutel. 36 Gleiche Ablehnung bezeugen alle jener Mischung von politischem Karrierismus und Maulheldentum von „Wort- und Federhelden, welche das Volk durch schöne Phrasen aufregen, im Moment der Gefahr hingegen es feige im Stiche lassen". 37 Weitling warnt das arbeitende

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Junge Generation, April 1842, S. 59f. Der Telegraph thematisiert das Problem: „Der deutsche Schüler und Student gewöhnte sich) auf die nichtstudirende Klasse, besonders auf die arbeitende, mit Verachtung herabzusehen . . . betrachtete . . . sich den Göttern gleich zu wähnen. Er hielt sich für den Repräsentanten der geistigen Aristokratie der deutschen Nation, und nahm selbst das politische Bewußtsein ausschließlich für sich in Anspruch." Telegraph für Deutschland, No. 59, Hamburg, April 1845, S. 233f.; vgl. ferner BdK, Bd. 1, S. 380. Auch Ewerbeck moniert den „schmachvollen Klassendünkel, der . . . die jungen Gelehrten von dem Arbeiterstande ferngehalten" habe, L'Allemagne, S. 590; Der Communist, Nauvoo 1853, No. 1. Selbst Engels gesteht rückblickend: „. . . ich trug ihrem bornierten Gleichheitskommunismus damals noch ein gut Stück ebenso bornierten philosophischen Hochmuts entgegen." Friedrich Engels, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, MEW, Bd. 21, S. 208.

34

Schapper, Gütergemeinschaft, BdK, Bd. 1, S. 99. Schon Strähl berichtet über diesbezügliche Erfahrungen: Ist „aber jemand nicht auf Universitäten oder auf andern Schulen gewesen, und er befindet sich in Gesellschaft . . . und er untersteht sich einige Worte, die nicht gelehrt, d. h. halb französisch, lateinisch oder kauderwelsch sind, oder wenn er den Wert dieser Wörter nicht kennt, wird einem solchen gleich gesagt ,was will denn auch er, er hat ja keine Bildung, er hat keine Universitäten besucht, bleibe er stille', so fühlt derjenige gleich, daß seine Stelle bei diesen Leuten nicht i s t . . . Mir selbst sind schon sehr oft solche Fälle vorgefallen, . . . D a soll denn ein schlichter Arbeiter es wagen, von Philosophie, Politik und Religion zu sprechen." Strähl, Briefe, S. 226ff. (Ms).

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Weitling, Vorrede zur 3. Auflage der Garantien, S. 289. Derselbe, Garantien, S. 140; derselbe, Das Evangelium des armen Sünders, (Birsfeld 1846) Leipzig 1967, S. 189ff.; Junge Generation, Oktober 1842, S. 170, 174; ebd. Juni 1842, S. 91; Juli 1842, S. 125, 127. Auch Strähl wendet sich nirgendwo gegen DIE Intellektuellen schlechthin, sondern durchgängig gegen Reaktionäre, Konservative, Phrasenhelden, Schönredner, Blender, Sophisten, Karrieristen; aber auch gegen „Halbgelehrte", die sich für nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft halten, weil sie „einige Phrasen von griechischen und römischen Autoren herzustottern wissen", deren ganze wissenschaftliche Bildung sich auf blindes Auswendiglernen beschränkt, Strähl, Briefe, S. 85f., 89 ff., 65 (Ms). Korrespondenz, Junge Generation, Dezember 1842, S. 204. Schon bei Strähl heißt es: „Es giebt wirklich viele Schreier, die in ihrem Rausche alles niederreißen, zerschlagen und zernichten wollen;. . . wenn diese Elenden, wie viele glauben, Stellen und hohe Gehalte erhalten könnten und zur Herrschaft gelangten, sie dann zufriedengestellt wären." Strähl, Briefe, S. 24. Schapper schreibt: „Geistesaristokraten haben wir

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Volk geradezu, seine Interessen Leuten anzuvertrauen, „die gutbezahlte Ämter haben und nach noch höhern streben". 38 Im allgemeinen, am sorgsamsten aber von Weitling, werden von solchen Verteidigern und karrieristischen Dienern der herrschenden Klassen fein nuanciert andere Kategorien von Geistesschaffenden und akademisch gebildeten politischen Akteuren abgehoben. Das gilt bereits für politische Wirrköpfe und Indifferente. Sie werden gewöhnlich eher erstaunt als verächtlich registriert, vermutlich aufgrund des universalistischen Vernunftstandpunkts, der bei den ersten Wortführern des Proletariats anfanglich noch ganz ungebrochen waltet. Charakteristisch hierfür ist Weitlings Schlüsselerlebnis von 1830 in Leipzig. Über seine damals erworbene Erfahrung vermerkt er 1842: „Damals überzeugte ich mich das erste Mal, daß man trotz aller akademischen Weisheit, trotz allem burschikosen Straßenlärm, trotz aller Gewandtheit im Reiten, Fechten und Schießen doch im entscheidenden Augenblick ein rechter Stoffel sein kann." 3 9 Darüber hinaus berücksichtigt Weitling — hierin viel scharfsichtiger als viele seiner Mitstreiter — eine sozial bedingte Erkenntnisbarriere bei Intellektuellen, die nicht zwangsläufig auf ungenügendem Willen oder böser Absicht beruht, sondern unbewußt vom Eigennutz diktiert wird: „Man muß sich nur wundern über den ungeheuren Irrthum, in welchen oft die scheinbar gebildetsten Männer fallen können, so bald sie unter dem Einflüsse der persönlichen Interessen stehen."40 Auch Eigennutz muß seiner Meinung nach nicht zwangsläufig den Ausschlag geben, wenn das Interesse des Volkes vernachlässigt wird: „In den höhern Regionen der Gesellschaft, wo doch nur allein die Gesetze gemacht werden . . ., kennt man die Lage des Volkes kaum in der Theorie; selbst die Vollstrecker dieser Gesetze kennen sie nicht anders. Die Praktik des Volkslebens ist aus dieser höher gestellten Klasse ganz verbannt." 41 Weil nur ein Arbeiter „die Lage des Arbeiters richtig beurtheilen" könne, fordert er die Angehörigen der herrschenden Klassen zum Abonnement seines Arbeiterblatts: „Abonniert euch ihr Richter und Beamte, ihr Minister, Bettelvögte und Gensdarmen, damit euer Herz erweiche . . . auf daß ihr die Wahrheit findèt." 4 2 Auch den Gelehrten von Hambach hält er herkunftsbedingte Unkenntnis zugute, wie all jenen, die — so wie Lamennais — „trotz ihrer höheren geistigen Ausbildung" gegen das kommunistische Prinzip schreiben. Ihre „groben Fehler" erklärt er aus mangelndem „praktischen Studium der Leiden des Volks". 43 Weitling registriert, daß der Kommunismus bei Intellektuellen weniger Verständnis findet als bei Arbeitern: „die seit 18 Monaten . . . aufgetauchte Lehre der kommunistischen Freiheit. Eine Lehre, die damals unsere größten

zur Genüge kennen gelernt, als sie schrien und schrieben in Deutschland, . . . um sich einen Namen zu machen, die aber schnell schwiegen und sich als gehorsame Diener bezeugten, sobald nur einige drohende bundestagliche Ordonnanzen erschienen." Schapper, Gütergemeinschaft, S. 100. Weitling glossiert „hohle Phrasenmacherei, Sophisterei", „Pfaffen und Sophisten", die „ihrer Lehre Sinn verdrehn, grad so, wie die Christen". Weitling, Wie der Teufel sein Spiel hat, in: Bert Andréas/ Wolfgang Mönke, Neue Daten zur „Deutschen Ideologie", Archiv für Sozialgeschichte, Bd. VIII, Hannover 1968, S. 137. 38

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Weitling, Garantien, S. 74. Strähl rechnet die „größere Anzahl der Weisen" zu jenen, die „ihre Geisteskräfte darauf verwandten, um sich allein Staatsanstellungen zu sichern". Strähl, Briefe, S. 90 (Ms). Weitling, Garantien, S. 278 f. Junge Generation, Oktober 1842, S. 168. Hülferuf, September 1841, S. 4. Fünf Jahre zuvor quittiert Strähl erstaunt die Weltfremdheit volksverbundener Romantiker: „Und sogar unsere Gelehrten, die es mit dem Volke gut meinen wollten, behaupteten, der Bauer in der gröbsten Unwissenheit sei der glücklichste Mensch." Strähl, Briefe, S. 225 (Ms). Hülferuf, September 1841, S. 4f. Ebd., Dezember 1841, S. 60. ,

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Gelehrten noch nicht haben begreifen wollen, und darum auch nicht im Stande waren, sie zu widerlegen, wurde nun auf einmal einem Haufen.deutscher Arbeiter gepredigt, von welchem kaum der vierte Theil bisher des Jahres einmal ein Zeitungsblatt in die Hand genommen oder auch nur an die Politik gedacht hatte." 44 Als einer der ganz wenigen Arbeiter seiner Zeit erkennt Weitling das Dilemma der sozialen Abhängigkeit derer, die „lehren, schwatzen und schreiben" müssen, um ihre „Existenz zu sichern", und gelegentlich um des Broterwerbs willen auch „gegen ihre Überzeugung schreiben und lehren" müssen. 45 Animosität findet man in den vorliegenden Quellen, sobald man sie hinterfragt, nicht gegen DIE Gelehrten, auch nicht gegen DIE Wissenschaft, sondern gegen eine volksfeindliche, elitäre, volks- und lebensfremde Art, Wissenschaft zu betreiben und zu vermitteln. Abermals ist es Weitling, der dies deutlich unterscheidet: „Weder die Kaufleute in den Freimaurerklubs noch die Pfaffen und Professoren in den Abendschulen haben einen Teil des Proletariats aus diesem grauenhaften Zustand gerissen, sondern die Anstrengungen deutscher politischer Flüchtlinge waren e s . . ., welche der politischen selbständigen Entwicklung das Wort redeten, welche . . . durch Gründung politischer Vereine den Arbeiter an Selbständigkeit gewöhnen und ihn in seiner politischen Reife bewußt machen wollen, was die meisten gelehrten Wortmacher von damals für unerreichbar hielten."46 Von einer Ablehnung DER Wissenschaft 47 findet man keine Spur; eher eine Überschätzung 44

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Johann Caspar Bluntschli, Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren, (Zürich 1843) Glashütten im Taunus 1973, S. 26f. Weitimg, Garantien, S. 140; Hülferuf, Dezember 1841, S. 60; an anderer Stelle: „Wo Sorge und Mühe sich mit der Wissenschaft um die Zeit streiten, zieht die letztere immer den kürzeren. Wenn die Sorge dem Menschen zum Studiren und Lernen keine Ruhe läßt, wenn die Armuth ihm die Mittel dazu verweigert, und die Arbeit um das tägliche Brod dem Menschen die Zeit raubt, wie um's Himmelswillen ist es da möglich, die Menschheit geistig aufzuklären?" Junge Generation, März 1842, S. 40. Man achte auch auf die feinsinnige Nuance in der Einlassung:,,. . . aber ihr arbeitet nur immer für Andere. Ihr habt für uns nicht arbeiten wollen; oder habt ihr nicht können?" Hülferuf, September 1841, S. 4f.

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Weitling, Vorrede zur 3. Auflage der Garantien, S. 290. Weitling mahnt die Arbeiter von 1849: „Ihr seid heute in dieser Beziehung viel besser daran. Aber vergeßt nicht, daß wir diese Besserung nur der unerschütterlichen Ausdauer zu danken haben, welche einige für die Verwirklichung der Grundsätze gleicher Rechte, gleicher Pflichten und gleicher Freiheit bewiesen." Fast eineinhalb Jahrzehnte vorher erklärte Strähl mit Genugtuung, daß er eine „Menge fortgeschrittene junge Intelligenzen ... kennen gelernt, die nicht um Amtsstellen und Staatswürden trachten", Strähl, Briefe, Anhang 1, S. 31, 121 (Ms.). In einem Schreiben des Kommunistischen Korrespondenzkomitees in London an das Kommunistische Korrespondenzkomitee in Brüssel vom 17. 7. 1846 heißt es: „Was die Gelehrten und Arbeiter anbetrifft, so glaubt ja nicht, daß die deutschen Arbeiter einen Unterschied machen wollen; das sehen wir ja überall, wo nur irgendein Gelehrter zu den Arbeitern hingeht, wo er ihren Versammlungen beiwohnt, wo er sich mit ihnen in Diskussion einläßt, wo er auf eine freundschaftliche Weise ihre Irrtümer zu berichtigen sucht — überall wo dieses geschieht, wird der Gelehrte, selbst wenn er nicht Proletarier ist, als Freund und Bruder aufgenommen und betrachtet", BdK, Bd. 1, S. 379.

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Schäfer begründet seine antiscientistische Interpretation frühproletarischer Theoriebildung so: „Für das kollektive Denken von unten erbringt der wissenschaftliche Diskurs .nichts als Unsinn', vorgetragen in ,gelehrten Redensarten künstlich aus metaphysischem Hokus Pokus zusammengesetzt". Schäfer, Proletarisches Denken, S. 197. Er verallgemeinert hier unzulässigerweise eine gegen die klassische deutsche Philosophie gerichtete Passage Weitlings, in der er diese um ihrer metaphysischen Spekulationen willen „über Religion, Atheismus, Geist, Gott, Verstand, Seele'usw." der überzogenen Abstraktion, Lebensund Weltfremdheit und des Pseudoakademismus bezichtigt; vgl. Weitling, Das Evangelium des armen Sünders, Leipzig 1967, S. 189ff. Schäfer resümiert andernorts: „Jetzt sehen wir, daß es nicht nur an der

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ihres emanzipatorischen Stellenwerts, ja die Neigung — namentlich bei Vertretern des rechten Flügels der frühen Arbeiterbewegung —, die Emanzipation des arbeitenden Volkes mit dem Sieg der allgemeinen Volksbildung zu identifizieren. „Wo die Masse aufgeklärt, ist es unmöglich, daß eine weitere bevorrechtete Klasse auftreten kann", schreibt Strähl 183 5.48 Weitling will schon in der herrschenden Gesellschaft „der Wissenschaft den Zugang" zur Wahlurne und zu den Regierungsämtern erleichtert wissen 49 ; er erklärt eine „Herrschaft des Wissens" zur „Regierungsform unseres Prinzips" 50 und begreift „die Kraft des Wissens" als Triebkraft und Regulator des Fortschritts im Kommunismus. 51 Sein Gott wohnt in den Löchern der Wissenschaft. 52 Wohlbegründet findet Bravo „das Weitlingsche Denken . . . immer mit Scientismus erfüllt". 53 Wohlbegründet auch schreibt Knatz von Weitling: „Er hat den Anspruch auf eine wissenschaftliche Theorie und Weltanschauung formuliert, dieses Programm aber nur als Utopie einlösen können." 54 Gleichwohl gilt in der Fachliteratur — in der jüngeren mehr noch als in der älteren — Weitling als Musterbeispiel für Gelehrtenhaß. Gewöhnlich wird der Vorwurf ungeprüft oder zumindest nicht hinlänglich hinterfragt aus den Quellen übernommen und seither kolportiert. Schon Gutzkow unterstellt Weitling wegen seines Strebens „nach einem Nivellement der Bildung" „Haß gegen den Vorzug der Wissenschaft", den er dadurch zu befriedigen suche, daß er sich gegen die Bildung und die Wissenschaft selbst erhebt". 55 August Becker schimpft Weitling einen „Gelehrtenfresser", weil er sich der Besoldung von Vereinslehrern aus Arbeitergroschen widersetzte, und bezichtigt ihn des Proletarierhochmuts und des Gelehrtenhasses, da er sich außerstande zeigte, Herwegh — wie Becker ihm geraten — um geldliche Unterstützung für die Herausgabe seines Evangelium anzugehen.56 1846 beargwöhnten auch die Brüsseler Kommunisten die Londoner des Gelehrtenhasses. 57 Engels Teilung der Arbeit, der großen Industrie und dem Kapital lag, daß sich der Graben zwischen dem ,Mann des Wissens' und dem produktiven Arbeiter' aufgetan und vertieft hat, sondern auch an der Divergenz ihrer Wissensformen", Unvertraute Moderne, S. 102. Auch Superfin unterstellt den Babouvisten „Furcht vor der freien Entwicklung des menschlichen Intellekts" und „ein nihilistisches" und „diskriminierendes Verhältnis" zur geistigen Arbeit, Kunst und Kultur. Siehe L. G. Superfin, Die ökonomische Konzeption des Gleichheitskommunismus, in: Bürgerliche und kleinbürgerliche ökonomische Sozialismuskonzeptionen, Berlin 1976, S. 336f., 339f. Weitling forderte bereits 1838: „Bereichert euch mit Künsten und Wissenschaften, den wahren Gütern der fortschreitenden Menschheit." Weitling, Menschheit, S. 217. 48 49 50 51 52

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Strähl, Briefe, S. 102 (Ms). Weitling, Junge Generation, Juli 1842, S. 126. Ebd., Juni 1842, S. 96. Ebd., Oktober 1842, S. 165; vgl. ferner derselbe, Garantien, S. 140ff. „Der Glaube wird durch das Wissen begrenzt; er hört da auf, wo es anfangt, und fangt da an, wo es wieder aufhört. . . Ihr glaubt alle an Gott, aber was glaubt ihr, daß Gott sei? Der Inbegriff höchster Vollkommenheit, werdet ihr antworten, der Inbegriff alles dessen, was unser Gefühl ahnet und unser Verstand nicht fassen kann." Derselbe, Evangelium, S. 17. Bravo, Frühe Arbeiterbewegung, S. 11 f. Knatz, S. 215. Karl Gutzkow, Briefe aus Paris, Leipzig 1842, S. 117. August Becker, Geschichte des religiösen und atheistischen Frühsozialismus. Erstausgabe von Ernst Barmkol, Kiel 1932, S. 66, 69. An anderer Stelle heißt es: „Aber die Leidenschaft machte ihn kurz- und schiefsichtig, und der Beifall, der ihm von Berufs- und Standesgenossen gezollt wurde, machte ihn hochmütig und absprechend über Dinge, die er weder verstand noch verstehen konnte, z. B. über Kunst und Wissenschaft, ja bis zu einem gewissen Grade selbst impertinent" (S. 44). Vgl. BdK, Bd. 1, S. 379. Demokratie, Sozialismus

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knüpft noch 1881 das Phänomen „Gelehrtenhaß" an den Namen Weitling.58 Kaufhold spricht Weitling ein zünftlerisch borniertes „Mißtrauen gegen jede Tätigkeit der Intelligenz" 59 zu. Bravo kommt 1979 zu der Auffassung: Weitlings „gesamte Tätigkeit richtete sich — in der Vergangenheit war dies nicht so klar gewesen — nicht gegen die Bourgeoisie oder den Kapitalismus, sondern ausschließlich gegen die Reichen und gegen die Intellektuellen". 60 Schäfer verdichtet diese These zur Theorie einer antiscientistischen und antiintellektualistischen Grundstruktur proletarischer Theoriebildung. 61 Knatz will Weitlings Verhältnis zur Intelligenz zwar nicht auf „Gelehrtenhaß" festgeschrieben haben, gleichwohl spricht er dem Vorwurf Berechtigung zu und behandelt Weitlings Kritik bestimmter Vertreter der Intelligenz oft zu undifferenziert. 62 Zu leicht verliert sich, daß Weitling nicht DEN INTELLEKTUELLEN IM BOURGEOIS, sondern den BOURGEOIS IM INTELLEKTUELLEN ablehnt. Indessen bezeugen die Quellen, daß Weitling von Anbeginn eine feiner differenzierte Haltung zu Intellektuellen bekundet als etwa Schapper. Er bedarf der damals noch lebenden Zeugen, auf die er sich 1851 beruft, gar nicht. 63 Seine eigenen Schriften sprechen für ihn. Er würdigt die kulturpolitischen Verdienste volksverbundener Intellektueller unter den politischen Flüchtlingen, bekämpft spontan aufbrandende feindselige Stimmungen unter den Arbeitern und arbeitet vorschnellen Paulschalurteilen, die die Haltung von Intellektuellen kurzschlüssig über einen Kamm scheren, entgegen. Gleich im Leitartikel der ersten Nummer seiner Schweizer Zeitschrift schreibt er: „Abonniert euch auf unser Blatt ihr Dichter und Gelehrten, Doktoren, Professoren u. dgl., denn was wir schreiben, habt ihr uns denken helfen. Ihr seid in geistiger Arbeit unsre Lehrmeister, wir eure Lehrlinge; aber ihr arbeitet nur immer für Andere. Ihr habt für uns nicht arbeiten wollen; oder habt ihr nicht können 71'64 1845 heißt es in einer Widmung an Lorenz von Stein: „. . . wir suchen unseren Anhang nicht unter den Reichen, wohl aber unter den Gebildeten, die uns nicht entgehen werden. Wir brauchen sie nicht alle, die vorzüglichsten davon waren schon unsere Anhänger." 65 Im Fe-

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Friedrich Engels an Eduard Bernstein, 25. Oktober 1881, in: M E W , Bd. 35, S. 229.

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Bernhard Kaußiold, Einleitung zu den Garantien, 1955, S. X X X I V f . , vgl. Antje Gerlach, Deutsche Literatur, S. 188. Gian Mario Bravo, Einleitung zu: Die Republik der Arbeiter, Vaduz/Liechtenstein 1979, S. XXIII, XXX, X X V ; Sandkühler, Geschichte, S. 191, spricht von Weitlings „Absage an Bündnispolitik, an das Bündnis auch zwischen Arbeitern und Intellektuellen bürgerlicher sozialer H e r k u n f t " .

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Schäfer, Proletarisches Denken, S. 210, resümiert „die Unverträglichkeit der gelehrten und der ungelehrten Wissensform": „Wir glauben jedoch mit einiger Bestimmtheit sagen zu können, d a ß sich der gelehrte Denker im theoretischen Denken von oben ausbildet, das nicht selten sowohl individuell und domestiziert als auch wertneutral und interessenenthoben zu sein scheint, wohingegen dem ungelehrten Denker das kollektive Denken von unten entspricht, das sowohl praxis- und interessenbezogen als auch wild und normativ ist"; derselbe, Unvertraute Moderne, S. 102.

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Knatz, Utopie, S. 87 ff., 92, 97, 150; zu oft wird hier vom Verhältnis Weitlings zu DER Intelligenz gesprochen. „. . . ich allein unter den Arbeitern n a h m d a r u m gerade immer diese Gelehrten in Schutz und verhinderte Beschlüsse, welche den Ausschluß derselben bezweckten. D a f ü r habe ich hier noch Augen- und Ohrenzeugen." Er fügt hinzu: „ D e n n es giebt ja verschiedene Intelligenzen", Republik der Arbeiter, 1.6. 1851, S. 60. Weitling, Hülferuf, September 1841, S. 5; man beachte die feinsinnige Unterscheidung zwischen WOLLEN

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u n d KÖNNEN ! 65

Abdruck der Widmung an Lorenz von Stein, in: Herbert Uhl, Lorenz von Stein und Karl Marx. Zur Grundlegung von Gesellschaftsanalyse und politischer Theorie 1842—1850, Dissertation, Tübingen 1977,

„Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

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bruar 1849 erinnert Weitling an die politische Aktivität von Venedey, Mäurer und Dr. Schuster im Bund der Geächteten. 66 Desgleichen würdigt er den Beitrag der deutschen Philosophie zum Kommunismus; er erwähnt Heß, Lüning, Marx und insbesondere Engels' Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", den „Gesellschaftsspiegel", „Das westphälische Dampfboot" und den Pariser „Vorwärts". Marx' und Engels' Kritik spricht er Berechtigung nicht mehr rundweg ab: „Leider ging es, indem auch letztere mit ihrer scharfen Kritik der Sache dienten, nicht immer ohne Selbstverletzung ab." 67 Im gleichen Zusammenhang bedauert er, daß sich „die Intelligenz . . . noch nicht überall so mit den Interessen des Proletariats verbunden [hatte] als in Paris und teilweise in Wien". 68 In ebendieser für das Schicksal der deutschen Revolution so verhängnisvollen Zeit, als die Enttäuschung über das Versagen der bürgerlichen Politiker antiintellektualistische Stimmungen unter den Arbeitern belebte, ist es abermals Weitling, der sich dieser Woge entgegenstemmt und namentlich vor vulgärmaterialistischen Kurzschlüssen warnt, die den sozialen Standpunkt unmittelbar aus der sozialen Herkunft oder Stellung ableiten. In Wort und Schrift verweist er mehrfach auf Reiche, die Kraft, Vermögen und Talent in den Dienst der Befreiung der Ausgebeuteten stellten, und erklärt sie zu Verbündeten. Er nennt ausdrücklich Louis Heßberg, Armand Barbes, Etienne Cabet, Robert Owen als jenem „wissenschaftlich gebildeten Teil" der Reichen zugehörig, der „für uns sein" wird. Den französischen Arbeitern empfiehlt er Raspail; die deutschen mahnt er in einer Sentenz, die die Meinung des Weitling von 1841 korrigiert: „Thomas Morus, Owen, Babeuf, Cabet, Buonarotti (sie!), Heßberg, Barmby, Schlöffel, Gottschalk, Struve, Otterberg, Meier, Reichenbach, Everbeck, Marx, Engels, Heß, Lüning wurden nicht durch die Not zum Kommunismus getrieben. Und eine Menge Leute, die nicht durch eigenes Elend, sondern durch das Elend der Massen bewegt, für den Kommunismus wirkten, könnte ich noch nennen." 69 Es zeigt sich, daß die Forschung gut daran tut, die Vielschichtigkeit des Begriffes „Geistesaristokratie" möglichst präzise zu orten und gelegentlich auch unter Artikulationsschwierigkeiten verborgene Unterschiede in Rechnung zu stellen. Weitling pflegte, nach allem, was davon überliefert ist, einen ganz unbekümmerten Umgang mit Intellektuellen wie Marx, Bakunin, Gutzkow, Herwegh, Kriege, den Brüdern Fröbel, Schirges und vielen anderen. Charakteristisch hierfür ist die Episode seiner Begegnung mit Heine bei Campe 1844, die den Dichter, um der von Weitling bezeugten Kollegialität willen, noch viele Jahre später pikierte.70 Viele Kontaktaufnahmen mit namhaften Zeit-

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S. 224f. Auch der Tischler Joachim Friedrich Martens verlangt 1848, die Arbeiterklasse solle „sich eng an die Männer des Vaterlandes anschließen, welche durch Bildung uns vorangeeilt sind, und es wirklich gut mit der Volkssache meinen, um mit ihnen gemeinschaftlich das großangelegte Werk der Volks-Herrschaft zu vollenden", zit. bei Marsiske, Theorierezeption in der frühen deutschen Arbeiterbewegung — am Beispiel Wilhelm Weitling, 1981, S. 154 (Ms). Weitling, Vorrede zur 3. Auflage der Garantien, S. 290 f. Ebd., S. 296, 298. Ebd., S. 299 f. Ebd., S. 294, 296, 299, 366; vgl. Hülferuf, September 1841, S. 4: „Wer die Lage des Arbeiters richtig beurtheilen will, muß selber Arbeiter sein." Heine beschreibt die Szene seines „ersten und letzten Zusammentreffens mit dem damaligen Tageshelden . . . als mir im Buchladen meines Freundes Campe zu Hamburg der berühmte Schneidergesell entgegentrat und sich als einen Kollegen ankündigte, der sich zu denselben revolutionären und atheistischen Doktrinen bekenne . . . Was meinen Stolz am meisten verletzte, war der gänzliche Mangel an Respekt, den der Bursche an den Tag legte, während er mit mir sprach." Heinrich Heine, Geständnisse, in: Werke

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genossen, so die mit Marx 71 , Cabet 72 , mit Alexander von Humboldt 73 , oder seine zehnjährige Korrespondenz mit dem amerikanischen Astronomen Joseph Henri zwischen 1855 und 186674, gehen auf seine eigene Initiative zurück. Dies alles bezeugt ein gänzlich ungebrochenes Verhältnis zu Intellektuellen. Gleiches gilt für andere Vertreter der politischen Avantgarde des Frühproletariats schon in den dreißiger Jahren bei im übrigen gleicher Frontstellung gegen die Geistesaristokratie. Der zwanzigjährige Gerbergeselle Carl Wolfrum verkehrte ebenso unbekümmert bei Börne und Heine wie bei Lafayette und Garnier-Pages. 76 Der Tischler Wolfgang Strähl erklärt den Umgang „mit gelehrten und aufgeklärten Leuten für eine bessere und weit vortrefflichere Schule in den Regionen des Wissens und des Verstandes . . . als Universitäten". Er schreibt darüber hinaus: „Die wahre und reine Aufrichtigkeit des Gemüts ist heute in dem Stande der Arbeiter anzutreffen . . . dann auch bei vielen Gelehrten, die es nicht verschmähen, mit den Handwerkern Umgang zu pflegen, und die die wahre Philosophie und Moral des Lebens zu begreifen im Stande sind. — Es giebt heute Leute dieser Gattung; wie es deren in jedem Zeitalter gab,. . . der größte Teil der Gelehrten und Handwerker, in deren ZIRKEL ich mich bewege, sind tugendhafte Leute von unbeschol' tenem Lebenswandel,... bei denen kein Trug, keine Falschheit, kein Eigennutz anzutreffen ist." 77 Es ist die jahrelange politische Zusammenkunft von Handwerksgesellen und politischen Flüchtlingen in den deutschen Auslandsverbindungen der Julimonarchie, die die Standesschranken zwischen beiden Gruppen abtragen half und den zwanglosen Umgang beider miteinander begünstigte.78 Dieses Phänomen belegt exemplarisch, in welch historisch kurzer Frist Verständigungsbarrieren zwischen „gelehrtem" und „ungelehrtem Denken" überwunden werden können. Es zeigt sich insgesamt, daß die Prozesse in der historischen Wirklichkeit anders verlaufen, als die Archäologie proletarischer Kopfarbeit sie uns „rekonstruiert". 79 Gleiches gilt für das Verhältnis der politischen Wortführer des Frühproletariats zur Philosophie. „Die Auseinandersetzung von 1846 hat den Sprecher des kollektiven Autors. . . in fünf Bänden, Berlin und Weimar 1978, Bd. 5, S. 3 5 9 f . ; derselbe,

Sämtliche Werke, Düsseldorfer Aus-

gabe, Bd. 15, Hamburg 1982, S. 141 f.; vgl. Weitlings K o m m e n t a r zur Darstellung dieser Episode, Republik der Arbeiter, 4. 11. 1854, S. 356. 71

Beachte den T o n der Briefe Weitlings an Marx, Engels und Heß, M E G A , I I I / l , S. 4 4 5 , 4 6 2 f . , 485 f. „Lieben Jungens!" heißt es im letzteren v o m 22. 9. 1845, in d e m er ihnen seinen Besuch ankündigt.

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Cabet selbst erinnert in einem offenen Brief an den Besuch, den Weitling ihm in Paris vor seiner Abreise nach N e w York gemacht hatte, den Cabet auf seiner Reise von N a u v o o nach Paris in N e w York erwiderte. Cabet an Weitling, Der Communist,

N o . 1, N a u v o o , Januar 1853, S. 4, II.

73

Der Brief Weitlings ist nach Auskunft der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der A k a d e m i e der

74

Abdruck bei Knqtz,

76

Vgl. Grandjonc/Seidel-Höppner/tVerner,

77

Strähl, Briefe, S. 299, 25 (Ms).

Wissenschaften, Berlin, nicht erhalten.

78

Utopie, S. 2 4 1 - 2 5 0 . Einführung zu W o l f g a n g Strähl, S. 50 (Ms.).

„ D i e demokratischen Verbindungen faßten mehr und mehr F u ß in Deutschland und erstickten allmaehlig jenen schmachvollen Klassenduenkel, der bis dahin die junge Gelehrtenwelt v o n dem Arbeiterstande ferngehalten hatte." Ewerbeck.

L'Allemagne, S. 590; Der Communist,

N o . 1, N a u v o o , Januar 1853: D e r Tele-

graph schreibt für die Zeit nach der Julirevolution: „ D e r Arbeiter zeigte, daß er in politischen Debatten weit kerngesunderen Takt besaß, als sein Tyrann (der Student, S.-H.). So stehen sich denn jetzt Beide nicht mehr gegenüber als Feinde, sondern als Leidensgenossen." Der Telegraph für Deutschland,

N o . 59, Ham-

burg, April 1845. 79

Erklärtes Ziel dieser „Archäologie" ist die „Rekonstruktion verdrängter und unterdrückter D e n k f o r m e n " , Schäfer,

Unvertraute Moderne, S. 55. Bei Marx wurde „aus den leidenschaftlichen Gedankenblitzen von

„Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

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(d. h. Weitling;, S.-H.) z u m Gegner der deutschen , N e b e l p h i l o s o p h e n ' gemacht", schreibt Schäfer. 8 0 Zunächst stimmt: Weitling findet keinerlei Z u g a n g zu Schelling u n d Hegel. Er bezichtigt die Philosophie beider der weit- u n d lebensfremden Nebelei u n d Begriffsverwirrung. 8 1 D o c h war diese Aversion unter der damaligen demokratischen Linken keine arbeiterkommunistische Marotte. 8 2 Selbst Marx konnte mit Hegel nicht auf A n h i e b warm werden. 8 3 Sein Durchbruch z u m Materialismus u n d D e m o k r a t i s m u s führte wie derjenige Feuerbachs über den Bruch mit Hegels idealistischer Spekulation u n d mit dessen Ja zur konstitutionellen Monarchie. Engels moniert n o c h vor Weitling junghegelsche Ausdrucksweise. 8 4 Weitling jedenfalls bedurfte des Streits in Brüssel nicht, u m den Appetit auf Hegel zu verlieren. D a s geschah nach eignem Bericht 1842 in Zürich; aber nicht, weil er eine Aversion gegen Hegels „historisches und dialektisches D e n k e n u n d kritische Wissenschaftsauffassung" gehegt hätte 8 5 , sondern aus blanker U n k e n n t n i s u n d weil Bakunin sich außerstande zeigte, ihm die Kategorien des Hegeischen D e n k e n s korrekt zu definieren u n d i h m den Sinn der Hegeischen Philosophie zu erklären. 8 6 A u c h meint frühproletarisches N e i n zu

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1844 ... eine .streng wissenschaftliche Idee', der sich das .Aschenbrödel' hinfort zu unterwerfen hatte. Dadurch wurde die kulturelle Entdifferenzierung von Kopf- und Handarbeit um eine große Chance gebracht und die politische Verbindung von Intelligenz und Proletariat von Anfang an in die Irre geführt." Wegen des kompromißlosen Führungsanspruchs „des philosophischen Kommunismus, genauer, der kommunistischen Philosophen", „kam das Bündnis von Philosophie und Proletariat nicht zustande", Schäfer, Unvertraute Moderne, S. 75, 77; vgl. zu diesem Problem Sandkühler, Geschichte, S. 220 f. Schäfer, S. 216 Anm. 64. Einen solchen Konnex suggeriert schon Schlüter. Er spricht von Weitlings „Abneigung gegen die Philosophie und besonders auch gegen Hegel, als dessen Schüler ihm Karl Marx erschien", Hermann Schlüter, Die Anfange der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika, Stuttgart 1907, S. 109. 1846 schreibt Weitling: „Die deutsche Philosophie hat nichts ausgebildet als deutsche Begriffsverwirrung." Doch meint dies Urteil nur die idealistische Philosophie, und auch hier nur Schelling und Hegel und alle jene, die „über Religion, Atheismus, Geist, Gott, Verstand, Seele usw. . . . im Reiche des Übersinnlichen nach Abstraktionen fischen, deren Begriffe niemand fassen kann". Weitling findet sich in seinem Eindruck noch bestärkt durch die Erfahrung, daß niemand ihm „sagen konnte, was er (Hegel, S.-H.) wollte, obgleich die ganze deutsche Nebelphilosophie von ihm ein großes Geschrei macht", Weitling, Evangelium, S. 189 ff., 203; vgl. ferner Junge Generation, April 1842, S. 55. Der Telegraph für Deutschland, No. 49, Hamburg, März 1845, erklärt den Vorwurf für berechtigt, daß die Philosophen bisher „in der Abstraktion des Gedankens das Recht des Lebens übergangen und . . . im Wüste der Ideen sich vollkommen logisch, aber unbegreiflich für nichtphilosophische Köpfe ihres Schlages geirrt haben", und referiert anerkennend einen Vortrag von Nees von Esenbeck über „Das Verhältnis der Philosophie zu der lebendigen Entwicklung des Menschengeschlechts" als eine neue Philosophie, „die den Gedanken von seiner Spukhaftigkeit befreit und ihm den Stempel des Wirklichen aufgeprägt hat". Auch August Becker erklärt die Philosophie eines Kant, Fichte, Schelling und Hegel zu einer toten Wissenschaft. Vorwort zu Georg Kuhlmann: Die Neue Welt oder das Reich des Geistes auf Erden, bei Ruckhäberle, Bildung und Organisation, S. 378. „Ich hatte Fragmente der hegel'schen Philosophie gelesen, deren groteske Felsenmelodie mir nicht behagte." Dies schreibt Marx am 10./11. 11. 1837 seinem Vater, MEGA, III/l, S. 16. 1 845 schreibt Engels — nicht ohne Selbstkritik — gegen den „wahren Sozialismus" gewandt: „Was den Deutschen eigentümlich ist, ist nur die schlechte, abstrakte, unverständliche und schiefe Form, in der sie . . . Gedanken ausgedrückt haben", die „die Franzosen oder Engländer schon vor zehn, zwanzig, ja vierzig Jahren gesagt — und sehr gut, sehr klar, in sehr schöner Sprache gesagt hatten." Friedrich Engels, Ein Fragment Fouriers über den Handel, Einleitung und Nachwort in: MEW, Bd. 2, S. 605. Knatz, S. 211. Weitling schildert die Episode: „Wie oft wurde mir an's Herz gelegt, doch den Hegel zu studieren. Ich habe

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Hegel oder Schelling weder Ablehnung der Philosophie schlechthin n o c h der deutschen, ja nicht einmal ihrer bürgerlichen Vertreter. D e n n Weitling schätzt Feuerbach ebenso wie Bacon. 8 7 Empört weist er Heinzens Unterstellung zurück, er habe jemals Hegel, R ü g e u n d Feuerbach in einen T o p f geworfen. 8 8 A u c h die L o n d o n e r u n d Pariser Gerechten studieren Feuerbach. 8 9 Ein ähnlich differenziertes Verhältnis zur deutschen wie französischen Philosophie bekundet ein Jahrzehnt zuvor der Tischler W o l f g a n g Strähl im Bund der Geächteten. Er wendet sich gegen die Philosophie eines Kant, Hegel u n d Schelling, „die sich in tiefen Grübeleien u n d verworrenen Hirngespinsten einer nicht verständlichen Metaphysik gefallt", und fordert eine Philosophie, „die auch etwas auf das gesellschaftliche Leben Bezug hat und welche schon Herder, Schiller, Johannes v o n Müller und der große Richter" gelehrt hätten. 9 0 Fichte rühmt er u m seines M u t e s willen, mit d e m er sich zu seiner Überzeugung bekennt, u n d weil „alle seine wesentlichen Schriften . . . für die D e m o k r a t i e stimmen", auch weil „Fichtes Herz für Menschlichkeit geschlagen". 9 1 Ziehen wir in diesem Z u s a m m e n -

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das Buch sechsmal in die Hände genommen und jedesmal fielen meine Blicke auf künstliche inhaltslose Phrasen, und nie hat mir jemand sagen können, was denn der Hegel eigentlich wollte. Bakunin ... wollte mich z. B. in Zürich 1842 täglich eine Stunde über Hegel belehren. Die erste Stunde war ich gespannt, weil ich etwas erwartete, und mein Lehrer war zufrieden. In der nächsten Stunde kamen wir an das Wort GEIST. Ich wollte mich nicht darüber hinausführen lassen, ohne daß mir der Sinn dieses Wortes, hier im Buche gebraucht, gehörig definiert werde. Ich wollte erst wissen, was GEIST sei. Bakunin aber wollte, daß ich ihm einstweilen ohne diese Erklärung weiter folge. Ich versuchte es, aus purer Gefälligkeit für Bakunin, aber es ging nicht. Ich fühlte, daß mein Verstand auf diese Weise in der Irre herum geführt werde. Und das Studium der Hegeischen Philosophie hatte für mich ein Ende." Republik der Arbeiter, 10. 5. 1851, S. 28, II. „ROGER BACON, welcher die Vorurtheile der Massen bekämpfte und das Reich der Vernunft lehrte." Junge Generation, Oktober 1842, S. 164; desgleichen schätzt er „Fourier, ein Kaufmann, war unstreitig einer der größten Gelehrten seiner Zeit. Wir haben seinen Schriften viel, sehr viel Gutes zu danken; aber er hat uns zugleich mit einigen Irrtümern beschenkt." Ebd., November 1842, S. 189. „. . . ich habe mich GEGEN den Werth der Feuerbachschen Schriften ausgesprochen. Das habe ich nie, weder mündlich noch schriftlich gethan. Feuerbachs .Religion der Zukunft' und ,Wesen des Christenthums' sollten sich in jeder deutschen Familie und in jedem Verein befinden, das ist mein Urtheil über Feuerbach. Rüge und Hegel freilich befriedigen die Leute meiner Richtung nicht." Republik der Arbeiter, 10. 5. 1851, S. 28, II. „In unserer Gesellschaft diskutieren wir eifrig über Feuerbach", heißt es im Schreiben des Londoner Kommunistischen Korrespondenzkomitees an das Kommunistische Korrespondenzkomitee in Brüssel vom 17. 7. 1846, BdK, Bd. 1, S. 378. Aus Paris berichtet Marx Feuerbach am 11. 8. 1844: „Die hiesigen deutschen Handwerker, d. h. der kommunistisclie Teil derselben, mehre Hunderte, haben diesen Sommer durch zweimal die Woche Vorlesungen über Ihr .Wesen des Christentums' von ihren geheimen Vorstehern gehört und sich merkwürdig empfänglich gezeigt", in: Ludwig Feuerbach, Briefwechsel, hrsg. von Dr. Werner Schuffenhauer, Leipzig (1963), S. 187. Vgl. August Becker, Vorwort zu Kuhhnann, Die Neue Welt, a. a. O., S. 379. In der Schweiz lasen die organisierten Arbeiter Friedrich Feuerbach, Die Religion der Zukunft, Zürich/Winterthur 1843, die bereits 1844 in Lausanne eine Neuauflage erlebte. Siehe A. Favre O. J. U. Lardy, Generalbericht über die geheime deutsche Propaganda, in: Eidgenössische Monatsschrift, hrsg. von mehrern schweizerischen Schriftstellern, viertes Heft, Zürich 1846, S. 216. Der letztgenannte Titel nebst Weitlings Garantien gehörten 1845 zu denen, die in Westfalen den Bürgern im Wirtshaus laut vorgelesen wurden. Siehe Friedrich Kapp, Vom radikalen Frühsozialisten des Vormärz zum liberalen Parteipolitiker des Bismarckreiches. Briefe 1843—1884, hrsg. u. eingel. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt/ M. 1969, S. 46; vgl. über „Ludwig Feuerbach und die deutsche Arbeiterbewegung" Waltraud SeidelHöppner, in: BzG, H. 1, 1965; Joachim Höppner, in: JfG, Bd. 28, Berlin 1983. Strähl, Briefe, S. 65 (Ms). Ebd., S. 128.

„Archäologie proletarischer Kopfarbeit"

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hang Strähls differenzierte Sicht der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit in Betracht — seine Vorbehalte gegen Voltaire einerseits und seine glühende Rousseau-Verehrung andererseits —, dann kristallisiert sich hier augenscheinlich auf philosophiegeschichtlichem Terrain die Differenzierung zwischen bürgerlich-liberalem und kleinbürgerlich-demokratischem, in der Folge arbeiterkommunistischem Flügel der republikanischen Bewegung der dreißiger Jahre in der Emigration. Augenscheinlich galten den Arbeitern, die sich im linken Flügel der demokratischen Bewegung sammelten, als Kriterien einer progressiven, annehmbaren Philosophie Lebensnähe, Volksverbundenheit und Demokratismus, die sich in Allgemeinverständlichkeit bekunden. Überdies — aber das ergab sich erst allerjüngst aus unseren Studien zu den Strähl-Briefen— handelt es sich bei der schon 1835 im Bund der Geächteten akuten Aversion gegen Schelling und Hegel überhaupt nicht um eine origiijär proletarische Frontstellung. Die Argumente der Geächteten gegen einzelne Vertreter der klassischen deutschen Philosophie, denen diejenigen Weitlings aufs Haar gleichen, schöpfen aus dem bürgerlichen Reservoir des Leipziger Philosophen Wilhelm Traugott Krug (1770— 1842), des Staatstheoretikers Johannes Weitzel (1771 — 1837) und des Journalisten Eduard Kolloff sowie Ludwig Börnes in Paris. 92 In dieser Frage ergreifen die proletarischen Mitglieder des Bundes der Geächteten und der Gerechten füglich nur Partei in einer schon seit den zwanziger Jahren laufenden Auseinandersetzung. Sie unterstützen auf dem linken Flügel der bürgerlich-republikanischen Bewegung lediglich das, was ihnen im Interesse der Aufklärung der Arbeiter einleuchtet. Doch sie entlehnen den ideologischen Munitionskisten der Bourgeoisie außer Kenntnissen auch die Argumentationsweise. Die Forschung wird gut daran tun, den Naht- und Bruchstellen zwischen proletarischem und bürgerlichem Denken und der Dialektik gegenseitiger Vermittlung möglichst sorgsam nachzugehen und besser der historischen Wirklichkeit zu folgen als hausgemachten geschichtsfernen Rezepten. Jedenfalls hält die Konzeption einer autonomen Form frühproletarischer Theoriebildung der Überprüfung so wenig stand wie die These von der „Unvereinbarkeit der philosophischen und der proletarischen Wissensform" und vom vermeintlich unüberbrückbaren „Graben, der in der Arbeiterbewegung Philosophen und Arbeiter trennt". 93 Wohl erwächst frühproletarische Theorie, wie wir sie in den ersten Manifestationen der Wortführer der englischen, französischen oder deutschen Arbeiter der dreißiger und vierziger Jahre vorfinden, als erste Selbstverständigung über das eigene soziale Interesse nur im radikalen Bruch mit herrschenden Vorstellungen. Das Proletariat kann einerseits zum eignen Klassenbewußtsein nur insoweit kommen, wie es vom bürgerlichen Denken WEGkommt. Andererseits erfolgt dieser proletarische Theoriebildungsprozeß nie und nirgends in einem Vakuum, sondern inmitten des herrschenden Denkens in einem langwierigen, höchst widersprüch92

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Strähl zitiert in seinen Briefen Krugs Kritik „an der Sprache, diesem ersten und natürlichsten Organe des Denkens", die die deutsche klassische Philosophie „gleichsam wissenschaftlich notzüchtigt", und beruft sich auf Kolloffs ¿ritik an Hegel, Strähl, Briefe, S. 65, 125; siehe ferner Strähls Lesefeld, Anhang 4. Heinrich Heine, 1834 in der deutschen Linken (nach Engels) der einzige, der die Sprengkraft Hegeischen Entwicklungsdenkens erfaßte, verweist zugleich auf dessen politisch abstumpfende idealistische Kehrseite und deren Folgen: da „die deutsche Jugend, versenkt in metaphysische Abstraktionen, der nächsten Zeitinteressen vergaß und untauglich wurde für das praktische Leben: so mußten wohl die Patrioten und Freiheitsfreunde einen gerechten Unmuth gegen die Philosophie empfinden, und Einige gingen so weit, ihr, als einer müßigen, nutzlosen Luftfechterei, ganz den Stab zu brechen", Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Säkularausgabe, Bd. 8, S. 227. Schäfer, Proletarisches Denken, S. 183f., 187f.; derselbe, Unvertraute Moderne, S. 74, 80.

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liehen Prozeß. Vorherrschende bürgerliche und konservative Anschauungen werden an selber gewonnener Sozial- und Kampferfahrung gemessen, mit überlieferter plebejischer Kampferfahrung verglichen und an dabei gewonnener verallgemeinerter Einsicht gebrochen. Das Resultat bleibt zunächst und meist noch lange Zeit in vielfacher Form mit Relikten herrschender Ideologie verflochten, wobei sich nur allmählich Allgemeingültiges von Klassenspezifischem sondert und behauptet. Das frühproletarische Denken der dreißiger und vierziger Jahre bewegt sich in vieler Hinsicht durchaus in gewohnten Formen; es variiert sie, modifiziert sie, verwirft sie auch; anfänglich aber funktioniert es viele allgemein geltende Auffassungen einfach um. Die Arbeiter entnehmen der bürgerlich-liberalen und demokratischen Literatur mit positivem Wissen auch Fragestellungen, Denkansätze, Argumente, ja ganze Denkmuster, filtern sie gleichsam im eignen Klasseninteresse und stellen sie in eigene Dienste. Das geschieht bei der sogenannten linksricardianischen Ausdeutung der bürgerlichen Arbeitswerttheorie 94 , die den Anspruch des unmittelbaren Produzenten auf sein Produkt begründet. Das geschieht bei der frühproletarischen Auslegung der bürgerlichen Revolutionslosungen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das geschieht schließlich bei den mannigfachen sozialistischen und kommunistischen Bibelinterpretationen, die an der liberalen und demokratischen Bibelkritik anknüpfen konnten. Ebendieses Phänomen des Anknüpfens oder bloßen Umfunktionierens erleichtert es bürgerlicher Interpretation, ein Identitätsverhältnis des proletarischen zum bürgerlichen Denken zu implizieren oder die inhaltlichen Differenzen zu bagatellisieren.95 Dergleichen verfehlt ebenfalls die historische Wirklichkeit. Denn sobald man verbal gleichlautende Formeln hinterfragt, stößt man auf Differenzen, ja Diskrepanzen. Das gilt für die naturrechtliche Auffassung vom Eigentum wie für die Ausdeutung des Gleichheitsund Freiheitsbegriffs oder das Demokratieverständnis. Das gilt auch für das Traditionsbewußtsein. Wir finden im Erbeverständnis der Wortführer der Geächteten wie der Gerechten auffallige Ansätze einer differenzierten Sicht konservativer, liberaler, bürgerlichrepublikanischer und volksdemokratischer Strömungen. Frühproletarische Theorie der dreißiger und vierziger Jahre steckt voller Vorbehalte gegen ideologische Repräsentanten des Monarchismus, des herrschenden Klerikalismus und des Großbürgertums in Geschichte und Gegenwart; sie ist zum andern geradezu durchtränkt vom Demokratismus Rousseaus, 94

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Vgl. zu Kontinuität und Bruch Liane Jauch, Owens neue Ansätze in der politischen Ökonomie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 9/1982. „Die beginnende Arbeiterbewegung war fast ausschließlich eine Sache der Gesellen-Arbeiter, d. h. einer qualifizierten Minderheit der handarbeitenden Klasse; und diese Minderheit war in ihrem Selbstbewußtsein nicht proletarisch." Werner Conze, Der Beginn der deutschen Arbeiterbewegung, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Göttingen 1963, S. 326. Wolfgang Schieder bagatellisiert ideologische Differenzen ; er qualifiziert die Differenz zwischen Weitlings gütergemeinschaftlicher Doktrin auf der einen und August Wirths bourgeois-republikanischer Position (bei Schieder: „demokratisch-soziale") als eine „nur scheinbar prinzipielle" und verweist u. a. auf die gemeinsame religiöse Basis von politischem Radikalismus und frühem Sozialismus, Wolfgang Schieder, Anfänge'der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 310f., 240ff. Schieder stützt seine Thesen u. a. auf die gemeinsame Sympathie von Geächteten und Gerechten für den radikalen Demokratismus von Lamennais, den selbst Engels noch drei Jahre nach Lamennais' Absage an den Kommunismus „dem Kommunismus mehr oder minder zugetan" hielt (MEW, Bd. 1, S. 487), dem Weitling sogar die antikommunistischen Ausfalle nachsah, obschon er sich seine Schranken auf die Dauer nicht verhehlen konnte, vgl. Hülferuf, Dezember 1841, S. 60; Garantien, S. 291, 299.

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des Linksjakobinismus und Babouvismus, wie ihn Buonarroti überlieferte und wie ihn die Neobabouvisten mit Elementen des Saint-Simonismus und Fourierismus bereicherten. Sie formte sich nachweislich weder in blinder Abhängigkeit vom bürgerlichen Denken noch in jähem Bruch mit den herrschenden Auffassungen. 96 Doch werfen wir, um dieses Problem abzuschließen, noch einen Blick auf die andere Seite jenes Grabens, der angeblich Philosophen von der Arbeiterbewegung trennt. Von Hegels Schülern war Moses Heß einer der ersten, der Weitlings Ideen „Genialität und Originalität" zusprach und ihn 1842 in der Rheinischen Zeitung vorstellte. 97 Ein Jahr darauf empfahl Friedrich Engels den Owenisten Weitling als „Begründer des deutschen Kommunismus" und lobte Weitlings Zeitschrift: „Obwohl ausschließlich für Arbeiter und von einem Arbeiter geschrieben, ist dieses Blatt von Anfang an besser als die meisten französischen kommunistischen Publikationen gewesen, besser sogar als Vater Cabets ,Populaire'. Man merkt ihm an, daß sein Herausgeber sehr schwer gearbeitet haben muß, um sich das historische und politische Wissen anzueignen, ohne das ein Publizist nun einmal nicht auskommt und das eine mangelhafte Bildung ihm vorenthalten hatte." 9 8 Engels hält auch vierzig Jahre später, da man ihm keinen jugendlichen Überschwang mehr zuschreiben kann, an seinem ersten Urteil fest, ja er betont stärker als in jungen Jahren Weitlings theoretische Leistung: „Man hatte in Weitling einen kommunistischen Theoretiker, den man seinen damaligen französischen Konkurrenten kühn an die Seite setzen durfte." 9 9 Im Jahre 1844 erblickt Karl Marx in Weitlings genialen Schriften den Ausweis für den „Bildungsstand oder die Bildungsfähigkeit der deutschen Arbeiter im allgemeinen" und findet sie der bürgerlichen Emanzipationsliteratur überlegen: „Wo hätte die Bourgeoisie — ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet — ein ähnliches Werk wie Weitlings ,Garantien der Harmonie und Freiheit' in bezug auf die Emanzipation der Bourgeoisie — die politische Emanzipation — aufzuweisen? Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten literarischen Debüt der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien. Man muß gestehen, daß das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen Proletariats, wie das englische

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Der Tischlerarbeiter Wolfgang Strähl las und argumentierte ebenso mit den Schriften von Vertot und Chateaubriand wie mit denjenigen von Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Robespierre und Saint-Just; er berief sich auf Schiller, Herder, Jean Paul und Johannes von Müller; er verehrte Lamennais nicht weniger als Buonarroti und las Toqueville — aber keinen einzigen unkritisch und ohne jemals seinen eigenen Standpunkt zwischen Egalitarismus und Sozialismus zu verlassen. Unsere Ermittlungen aus dieser frühen Entwicklungsphase bestätigen, was Hans Jörg Sandkühler verallgemeinert: „Die existierenden Wissenschaften sind in weit bedeutenderem Maße Quellen der in der Arbeiterbewegung entwickelten politischen und ideologischen Kultur, als dies gewöhnlich gesehen wird." Sandkühler, Geschichte, S. 214.

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Rheinische Zeitung, Nr. 272, 29. 9. 1842. Heß bespricht hier Weitlings Aufsatz. Die Regierungsform unseres Prinzips aus Junge Generation, August 1842, S. 84ff., den der Telegraph für Deutschland, Hamburg, im August 1842 in den Nrn. 129—132 unter dem Titel „Die Regierungsform des communistischen Prinzips" übernommen hatte; vgl. Moses Heß, Philosophische und sozialistische Schriften, hrsg. u. eingel. von Wolfgang Mönke, Berlin 1980, S. 194.

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Friedrich Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent, The New Moral World Nr. 19, vom 4. 11. 1843, MEW, Bd. 1, S. 490. Derselbe, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (1885), in: MEW, Bd. 8, S. 581.

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Waltraud Seidel-Höppner

Proletariat sein Nationalökonom und das französische sein Politiker ist." 100 Ein hochherziges Urteil! Engels unterschreibt es ausdrücklich noch an der Neige seiner Tage. 101 Moderne Interpretation sucht den Graben zwischen gelehrtem und ungelehrtem Denken zu vertiefen. Dem Gelehrten Marx waren die Schriften des ungelehrten Weitling gut genug, um sie in seinen Studien zur Kritik der Nationalökonomie neben den Arbeiten von Heß und Engels als eine seiner Quellen anzugeben. 102 Der Philosoph Ludwig Feuerbach war nicht minder „überrascht von der Gesinnung und dem Geiste dieses Schneidergesellen"; er verglich Weitling mit dem „Troß unsrer akademischen Burschen" und wollte ihm als Erstem ein Buch widmen. 103 Engels überliefert: „Feuerbach sagte, er habe niemals soviel Freude an irgendeinem Buch gehabt wie an dem ersten Teil von Weitlings .Garantien'." Engels hält Feuerbachs Bekenntnis zum Kommunismus für die „wichtigste Tatsache", die er zu berichten habe, und äußert hoffnungsfroh: „So ist die Verbindung zwischen den deutschen Philosophen, deren hervorragendster Vertreter Feuerbach ist, und den deutschen Arbeitern, die durch Weitling vertreten werden, fast hergestellt, eine Verbindung, die von Dr. Marx vor einem Jahr vorausgesagt wurde." 104 Man mag einwenden: DAS alles war VOR dem Zerwürfnis in Brüssel! Gewiß! Doch drei Jahre darauf, im Herbst 1849, begegneten sich Marx und Weitling in London. Marx behandelte Weitling als zur „kommunistischen Parthei" gehörig, begrüßte ihn freundlich, schlug ihm mehrfach vor, an den Diskussionen des Arbeiter-Bildungs-Vereins teilzunehmen, und lud ihn in sein Haus ein. 105 Auch Engels strich kein Jota von seiner hohen Wertschätzung, ungeachtet der Differenzen, von denen die Brüsseler nicht die einzigen blieben 106 , und ungeachtet der Erinnerung, die er vom Weitling der Brüsseler Zeit bewahrte: „Später kam Weitling nach Brüssel. Aber er war nicht mehr der naive junge Schneidergeselle, der, über seine eigene Begabung erstaunt, sich klar darüber zu werden sucht, wie denn eine kommunistische Gesellschaft wohl aussehen möge. Er war der wegen seiner Überlegenheit von Neidern verfolgte große Mann, der überall Rivalen, heimliche Feinde, Fallstricke witterte;

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KarI Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen". „Vorwärts", Nr. 64, 10. August 1844, in: MEW, Bd. 1, S. 404f.; MEGA, 1/2, S. 459. Engels betont in diesem Zusammenhang abermals die „Bedeutung des Weitlingschen Kommunismus" „als erste selbständige theoretische Regung des deutschen Proletariats", vgl. Engels, a. a. O., S. 579f. Zur Weitling-Rezeption bei Marx und Engels vgl. Knatz, Utopie und Wissenschaft, S. 17ff.; Wolfgang Meiser, Utopischer Sozialismus und wissenschaftlicher Sozialismus im Verständnis von Marx und Engels, in: BzG, 6/1985. Marx schreibt: „Es versteht sich von selbst, daß ich ausser den französischen und englischen Socialisten auch deutsche socialistische Arbeiten benutzt habe. Die inhaltsvollen und originellen deutschen Arbeiten für diese Wissenschaft reduciren sich indeß — ausser Weitlings Schriften — auf die in den 21 Bogen gelieferten Aufsätze von Heß und auf Engels',Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie' in den ,deutsch-französischen Jahrbüchern'." Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Vorrede, MEGA, 1/2, S. 325; MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 468. Feuerbach, am 15. 10. 1844 an Friedrich Kapp, in: Ludwig Feuerbach, Briefwechsel, Leipzig 1963, S. 195. Friedrich Engels, Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland, The New Moral World, Nr. 37, 8. 3. 1845, in: MEW, Bd. 2, S. 515. Jakow Rokitjanski/Olga Worobjowa, Begegnungen Wilhelm Weitlings mit Karl Marx im Herbst 1849, in: Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 3, Berlin 1980, S. 313f. Siehe Gian Mario Bravo, Wilhelm Weitling. Die .Republik der Arbeiter' und die Polemik gegen Marx (1850—1855), Einleitung zu: Die Republik der Arbeiter, 1979; ferner Knatz, Utopie und Wissenschaft, S. 17ff.

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der von Land zu Land gehetzte Prophet, der ein Rezept zur Verwirklichung des Himmels auf Erden fertig in der Tasche trug und sich einbildete, jeder gehe darauf aus, es ihm zu stehlen. Er hatte sich in London schon mit den Leuten des Bundes überworfen, und auch in Brüssel, wo besonders Marx und seine Frau ihm mit fast übermenschlicher Geduld entgegenkamen, konnte er mit niemand auskommen." 107 - Historische Wahrheitsfindung kann nur gewinnen, wenn wir den tatsächlichen Widersprüchen in der wirklichen Geschichte nachgehen, anstatt Gräben in die Historiographie zu transponieren, die die proletarische Gegenkultur in ein wissenschaftsgeschichtliches Ghetto pferchen, angesichts dessen moderne Verteidiger der alten Ordnung sich nur die Hände reiben können.

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Engels, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, MEW, Bd. 8, S. 583 f.

WALTER SCHMIDT

Marx' und Engels' historischer Revolutionsvergleich zwischen 1789 und 1848 im Revolutionsjahr 1848/49*

War die Beschäftigung mit der Großen Französischen Revolution von 1789 für Marx und Engels von zentraler Bedeutung für ihren Weg vom revolutionären bürgerlichen Demokratismus zum wissenschaftlichen Kommunismus 1 , hatte ihnen die geistige Auseinandersetzung mit den revolutionären Kämpfen in Frankreich zwischen 1789 und 1795 vor allem wesentliche Erfahrungen und Erkenntnisse für die Entwicklung eines eigenen kommunistischen Revolutionskonzepts vermittelt2, so rückte mit dem Ausbruch der erwarteten europäischen Revolution im Februar 1848 der direkte Revolutionsvergleich zwischen 1789 und 1848 ganz ins Zentrum ihrer Überlegungen. „Als die Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen b e t r a f , schrieb Engels 1895, „unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen Erfahrung, namentlich derjenigen Frankreichs. Diese letztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit . 1789 beherrscht hatte, von der auch jetzt wieder das Signal zur allgemeinen Umwälzung ausgegangen war." 3 Wiewohl die Revolutionsbewegung von 1848/49 europäischen Charakter trug, galt Marx' und Engels' Hauptinteresse doch der deutschen und französischen Revolution. Das betraf auch die Revolutionskomparation mit 1789. Wenn es darum ging, 1789 und 1848 in Beziehung zu setzen, so handelte es sich vor allem um zwei Problemkomplexe. Den größten Raum nahm in Marx' und Engels' Überlegungen der Vergleich zwischen dem französischen 1789 und dem deutschen 1848 ein. In den tagtäglichen Analysen der deutschen Revolutionsentwicklung in der „Neuen Rheinischen Zeitung" diente die Große Französische Revolution geradezu als Maßstab setzendes Vorbild. Der deutschen bürgerlichen Revolution, namentlich ihrer führenden Klasse, der Bourgeoisie, wurde gleichsam der Spiegel der großen französischen Vorgängerin vor Augen gehalten. Doch wurden in den Artikeln über die

* Die Studie schließt an eine Untersuchung des Autors an über 1789 und 1848 im historischen Revolutionsvergleich bei Marx und Engels in der Zeit des Vormärz, in: 1789 und der Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts. Dem Wirken Walter Markovs gewidmet, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , 3 G/1985, Berlin 1985. Als Hilfsmittel zur Erschließung der Stellungnahmen von Marx und Engels wurde benutzt: Willi Herferth, Sachregister zu Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, 3 Teilbde., Berlin 1979. 1 2

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Vgl. Hans-Peter Jaeck, Die französische Revolution von 178? im Frühwerk von Karl Marx, Berlin 1979. Vgl. hierzu insbesondere Herwig Förder, Marx und Engels am Vorabend der Revolution. Die Ausarbeitung der politischen Richtlinien für die deutschen Kommunisten (1846—1848), Berlin 1960. Friedrich Engels, Einleitung (zu Karl Marx' „Klassenkämpfe in Frankreich 1849 bis 1850"), in: MEW, Bd. 22, S. 512.

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französische achtundvierziger Revolution, von denen zahlreiche aus der Feder Ferdinand Wolffs stammten 4 , auch die Grundakkorde eines zweiten Themas angeschlagen, das freilich erst für die nachrevolutionäre Periode bestimmend wurde: der Vergleich der beiden französischen Revolutionen von 1789 und 1848. Was den ersten Fragenkomplex angeht, so treten eine Reihe neuer Momente in Erscheinung. Neu ist in gewisser Beziehung die Analyse der für Verlauf und Ausgang einer bürgerlichen Revolution höchst wichtigen Beziehungen von Bourgeoisie und Bauernschaft. Marx und Engels hatten bereits im Vormärz erkannt, daß beide Klassen im Kampf gegen den Feudalismus aufeinander angewiesen sind.5 Die Bauernschaft braucht die Bourgeoisie als Hegemon zur Zusammenfassung und Leitung ihrer revolutionären Energien; die Bourgeoisie benötigt ihrerseits die Bauern als „Armee zum Schlagen" ihrer Schlachten. Am unterschiedlichen Verhalten der französischen Bourgeoisie 1789 und der deutschen 1848 exemplifizierten Marx und Engels nun das Gewicht der Bauernfrage und des Bündnisses von Bourgeoisie und Bauern für das Schicksal einer bürgerlichen Revolution. Marx ging davon aus, daß die französische Bourgeoisie von 1789 ihre Herrschaft gerade dadurch zu installieren und abzusichern wußte, daß sie den Bauern freie Hand bei der Zerschlagung der feudalen Verhältnisse ließ und für die Konstituierung einer freien grundbesitzenden Bauernklasse sorgte.6 Die deutsche Bourgeoisie blieb demgegenüber nicht zuletzt deshalb machtlos gegenüber dem Adel, weil sie — aus Furcht davor, auch das durch die Reformen entstandene bürgerliche Großgrundeigentum angreifen zu müssen — auf das von den alten, halbfeudalen Regierungen praktizierte reformerische Konzept der Ablösungen einschwenkte7 und so die Bauern, die allein durch die Befriedigung ihrer unmittelbaren sozialen Interessen an die Revolution zu binden waren, von der Revolution abstieß. Nicht nur für Deutschland, auch für die revolutionierten osteuropäischen Länder, namentlich für Polen, stellte die „Neue Rheinische Zeitung" „die französisch-revolutionäre Zertrümmerung der Feudalität" 8 als die optimale Variante zur Lösung der Bauernfrage auf dem Wege zum Kapitalismus heraus.

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Vgl. dazu Neue Rheinische Zeitung — Frankreich 1848/49. Artikel — Korrespondenzen — Berichte über die französische Revolution 1848/49, hrsg. und eingeleitet von W. Schmidt, Leipzig 1986. Friedrich Engels, Der Status quo in Deutschland, in: MEW, Bd. 4, S. 48, 51; ders., Die Bewegungen von 1847, in: .Ebenda, S. 499. Vgl. dazu auch Helmut Bleiber, Zwischen Reform und Revolution. Lage und Kämpfe der schlesischen Bauern und Landarbeiter im Vormärz 1840—1847, Berlin 1966, S. 192fT.; ders., Bauernbewegungen'und bäuerliche Umwälzung im Spannungsfeld zwischen Revolution und Reform in Deutschland 1848/49, in: Bauern und bürgerliche Revolution, hrsg. von M. Kossok und W. Loch, Berlin 1985, S. 199ff., insbes. S. 205; Walter Schmidt, Zur Entwicklung der Grundgedanken in der Bauernfrage bei Marx und Engels bis 1852, in: Friedrich Engels' Kampf und Vermächtnis, Berlin 1961, S. 284ff. Karl Marx, Der Gesetzentwurf über die Aufhebung der Feudallasten, in: MEW, Bd. 5, S. 282. Auf die bei Marx und Engels vorhandene positive Überhöhung der Haltung der französischen Großbourgeoisie in der Anfangsphase der französischen Revolution hat Helmut Bleiber, Bauernbewegungen und bäuerliche Umwälzung, S. 214, aufmerksam gemacht. MEW, Bd. 5, S. 281; ferner: Patows Ablösungsdenkschrift, in: Ebenda, S. 106; Friedrich Engels, Debatte über die bisherige Ablösungsgesetzgebung, in: Ebenda, S. 311 f. Karl Marx, Der Gesetzentwurf über die Aufhebung der Feudallasten, in: Ebenda, S. 278. Zur französischen Variante des revolutionären Weges der bürgerlichen Umwälzung vgl. Manfred Kossok, Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , 2 G/1981, Berlin 1981, S. 49.

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Walter Schmidt

Sie kennzeichnete dies als eine „agrarische Revolution", die „die leibeigenen oder fronpflichtigen Bauern in freie Grundbesitzer verwandelt". 9 Marx' historisch vergleichende Revolutionsbetrachtung kulminierte in seiner Artikelserie „Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution" von Dezember 1848.10 Die scharfe Abrechnung mit der aus der revolutionären Front ausgescherten preußischen (und deutschen) Bourgeoisie enthielt den ersten zusammenhängenden, geradezu klassischen Revolutionsvergleich zwischen den großen bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich einerseits und der deutschen Märzrevolution andererseits. 11 Marx warnte davor, 1789 und 1640 mit dem deutschen März zu „verwechseln". Die Unterschiede zwischen diesen Revolutionen gleichen Charakters waren zu gravierend. Aber er leitete diese Unterschiede — in ganz allgemeiner Form — aus den verschiedenen stadialen Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft ab. Er führte dabei erstmals den niederländischen Unabhängigkeitskampf als bürgerliche Revolution ein, während der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg am Vorabend der französischen Revolution ganz aus dem Spiel blieb. Wie die englische Revolution der niederländischen Befreiung von Spanien, so war die französische Revolution der englischen nicht nur der Zeit, sondern auch dem Gehalt nach um ein Jahrhundert voraus. Der jeweilige Sieg dieser Revolutionen war von vornherein nicht nur der Sieg einer Klasse, sondern stets die Durchsetzung der neuen, jeweils in einer entwickelteren Gestalt hervortretenden bürgerlichen Gesellschaft, als deren Repräsentant die Bourgeoisie aufs Kampffeld trat. Daraus erklärt sich ihr weltgeschichtlicher Rang als Revolutionen europäischen Stils". 12 Mit der jeweils nächsten bürgerlichen Revolution setzte sich bis 1789 also auch eine jeweils höhere Stufe bürgerlicher Entwicklung im weltgeschichtlichen Maßstab durch. „Die Revolution von 1648 war der Sieg des 17. Jahrhunderts über das 16. Jahrhundert, die Revolution von 1789 der Sieg des 18. Jahrhunderts über das 17. Jahrhundert. Die Revolutionen drückten mehr noch die Bedürfnisse der damaligen Welt als der Weltausschnitte aus, in denen sie vorfielen, Englands und Frankreichs." 1 3 Die deutsche Märzrevolution hingegen gehörte in Marx' Sicht schon nicht mehr wie die vorangegangenen bürgerlichen Revolutionen in die Aufstiegsphase des weltgeschichtlichen bürgerlichen Revolutionszyklus. Hinsichtlich des Entwicklungsgangs der bürgerlichen Gesellschaft schien ihm mit 1789 bereits der Gipfelpunkt erreicht. Er reflektierte damit die Tatsache, daß die französische Revolution als eigentliche Durchbruchsschlacht den Umschwung im Kräfteverhältnis zwischen Feudalismus und Kapitalismus gebracht und den Sieg der bürgerlichen Ordnung im europäischen wie im Weltmaßstab eingeleitet hatte. Auf diesem Hintergrund blieb die Revolution in Deutschland bloßer Nachvollzug, dem keinerlei Originalität anhing. Die deutsche Revolution konnte in solcher Verortung nicht mehr im Zenit weltgeschichtlicher Entwicklung stehen, sondern nur als Nachtrab gelten. Dies um so mehr, als die bürgerliche Ordnung in einer ihrer klassischen Formen, in Gestalt der konsti-

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Friedrich Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd. 5. S. 333. MEW, Bd. 6, S. 102ff. Eine revolutionstheoretische Analyse dieser Artikelserie gibt Joachim Strey, Zu Karl Marx' Verallgemeinerung der revolutionären Erfahrungen und seiner Weiterentwicklung der Strategie und Taktik der kommunistischen Vorhut während der Revolution 1848/49 in Deutschland (Analyse der Artikelserie „Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution" vom Dezember 1848), in: BzG, 1968, H. 2, S. 237 ff. MEW, Bd. 6, S. 1 0 7 - 1 0 9 . Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 107f.

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tutionellen Monarchie, durch die Pariser Februarrevolution aufgehoben worden war 14 und durch die Pariser Junischlacht schließlich auch schon als Ganzes in Frage gestellt erschien. Den geschichtlichen Stellenwert der Märzrevolution minderte in Marx' Sicht überdies die Tatsache, daß sie nicht einmal nationale Dimension besaß, sondern „provinziell-preußisch'''' neben anderen deutschen Lokalrevolutionen stand. 15 Es erschien Marx daher durchaus verfehlt, die deutsche achtundvierziger Revolution in einen weltgeschichtlichen Rang zu erheben. Er wies ihr vielmehr einen untergeordneten Platz bei der weiteren Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft auf dem europäischen Kontinent zu. Diese Standortbestimmung der deutschen Revolution von 1848/49 war jedoch in hohem Maße auch durch Marx' und Engels' Vorstellungen von einer gleichsam „verkürzten Perspektive" 16 der gesellschaftlichen Entwicklung beeinflußt. Sie waren davon überzeugt, daß die bürgerliche Gesellschaft ihren Höhepunkt überschritten habe und sich bereits in ihrer Niedergangsphase befinde. Eine wesentliche Ursache für diese Annahme lag — worauf Jürgen Kuczynski nachdrücklich aufmerksam gemacht hat 17 — darin, daß ihnen einerseits die erst auf Grund längerer Erfahrungen als „normale" Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie erkannten Überproduktionskrisen bereits als Niedergangserscheinungen und Untergangssymptome der ganzen bürgerlichen Gesellschaft galten, sie andererseits das seit 1830 namentlich in Frankreich selbständig revolutionär auftretende Proletariat aber auch bereits als stark genug erachteten, um die Existenz des Kapitalismus akut zu gefährden und seinen Sturz zu bewerkstelligen. In diesem, von Engels später deutlich benannten Irrtum 18 liegen die Grenzen der Marxschen Einordnung der deutschen Märzrevolution in den bürgerlichen Revolutionszyklus begründet. Dadurch erhielt die im Vergleich mit 1789 grundsätzlich richtige kritische Einschätzung der deutschen Revolution eine ungerechtfertigte negativ-abwertende Note. Auch hatte Marx an dieser Stelle nicht im Blick, daß die achtundvierziger Revolutionen, weil bereits im Zeichen des Industriekapitalismus stehend, gleichsam notwendige „Anpassungs"revolutionen waren und von daher sehr wohl weltgeschichtliches Gewicht erhielten.19 Das war in besonderer Weise für die deutsche Revolution in Anschlag zu bringen. Und sofern dieser Aspekt, wie im „Manifest", zur Geltung kam 20 , war er schon mit der genannten Vorstellung verbunden, daß der Kapitalismus bereits auf dem Wege des Verfalls sei und seine Beseitigung historisch auf der Tagesordnung stehe. Keine Erwähnung fand in Marx' Stellungnahme zur deutschen Revolution in dieser Zeit — was Engels später immer wieder als 14

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Ebenda, S. 108, vgl. auch Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd. 8, S. 39. MEW, Bd. 6, S. 108. Zu diesem Begriff vgl. Herwig Förder, Marx und Engels am Vorabend der Revolution, S. 278 f. Jürgen Kuczynski, Zum Briefwechsel zwischen Engels und Marx. Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 3, Berlin 1976, S. 11 f.; ders., Gesellschaften im Untergang, Berlin 1984, S. 189ff.: „Nur eine scheinbare Niedergangsperiode". Friedrich Engels, Einleitung, in: MEW, Bd. 22, S. 517. Vgl. dazu Walter Markovj Walter Schmidt! Wolfgang Küttler, Revolutionen in der Epoche des weltweiten Sieges des Kapitalismus 1789—1871, in: Revolutionen der Neuzeit 1500—1917, hrsg. von M. Kossok, Berlin 1982, S. 105f.; Ernst Engelberg, Die Einheit in der Vielfalt der Revolutionen (1789—1871) — Zur Wirkungsweise historischer Gesetze, in: Ders., Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1980, S. 387 ff. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, S. 492f.

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Walter Schmidt

entscheidend neues qualitatives Moment der achtundvierziger Revolutionen herausstellte21 — schließlich das erstmalig selbständige Eingreifen des modernen Proletariats in die bürgerliche Revolution. Alle diese Faktoren bewirkten später eine wesentlich positivere Gesamtbewertung und beträchtliche Rangerhöhung der deutschen wie europäischen achtundvierziger Revolution durch Marx und Engels. Stellte Marx die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern eine bürgerliche Revolution auch eine weltgeschichtlich neue Entwicklungsstufe der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert und realisiert, so galt ihm als zweites Grundkriterium für deren Einschätzung die Haltung der Klasse, die zur Leitung dieser bürgerlichen Gesellschaft bestimmt war: der Bourgeoisie. Hier sah er den anderen grundlegenden Unterschied zwischen 1789 und 1848. In den bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich war „die Bourgeoisie die Klasse, die sich wirklich an der Spitze der Bewegung befand". 22 Sie konnte es im 17. und 18. Jahrhundert sein, weil sie infolge unentwickelter Klassenbeziehungen noch die ganze bürgerliche Gesellschaft zu repräsentieren imstande war. In der deutschen Revolution war eben dies nicht mehr der Fall. Hier verkörperte die Bourgeoisie nicht mehr wie ihre englischen und französischen Vorgängerinnen eine neue Gesellschaft, sondern präsentierte sich die bürgerliche Gesellschaft infolge des Aufbrechens innerkapitalistischer Widersprüche bereits als historisch vergängliche, ja scheinbar sogar schon überholte Ordnung. Da die Bourgeoisie so nicht mehr für die ganze Gesellschaft zu stehen vermochte, waren auch der Realisierung ihrer Hegemonierolle in der Revolution Grenzen gesetzt. Im Zusammenhang mit der Charakterisierung der Funktion der Bourgeoisie analysierte Marx am Beispiel von 1789 bis 1794 in Frankreich auch das Beziehungsgefüge der verschiedenen Klassen und Fraktionen der zur Herrschaft strebenden bürgerlichen Gesellschaft in einer bürgerlichen Revolution. Er griff seine Aussagen aus dem Vormärz auf und führte sie weiter. Für 1789 betonte er erstmals expressis verbis die im großen und ganzen weitgehend noch ungebrochene antifeudale Einheitsfront von Bourgeoisie und Volk. Der Bourgeoisie stellte er jedoch nicht allein das Proletariat, sondern „das Proletariat und die nicht der Bourgeoisie angehörenden Fraktionen des Bürgertums"23 gegenüber, die sich indes des Unterschieds ihrer Interessen zu denen der Bourgeoisie noch nicht bewußt waren und noch keine selbständigen Klassen bildeten. Deren antibourgeoises Auftreten wertete Marx, wie schon im Vormärz 24 , als notwendige Aktion, um auf andere Weise als die Bourgeoisie, auf „plebejische Manier", rasch und entschieden mit den Feinden der Bourgeoisie fertig zu werden und ihr so den Weg zu ebnen. Das im Vormärz gewonnene Bild über die Jakobinerdiktatur erfuhr nur insofern eine Profilierung, als diese nicht mehr als Herrschaft des Proletariats erschien, sondern die Arbeiter gemeinsam mit den nichtbourgeoisen Fraktionen des Bürgertums lediglich als deren soziale Grundlage begriffen wurden. 25 21

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Friedrich Engels, An den italienischen Leser, in: MEW, Bd. 22, S. 365f.; ders., Vorwort zu K. Marx vor den Kölner Geschwornen; ders., Die Abdankung der Bourgeoisie, in: MEW, Bd. 21, S. 198ff., 383. Vgl. dazu auch Walter Schmidt, Die internationale Stellung der deutschen Revolution von 1848/49 in der Sicht von Marx und Engels, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, ZfG-Sonderheft 1965, S. 98ff. Karl Marx, Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, in: M E W , Bd. 6, S. 107. Ebenda. Vgl. Schmidt, 1789 und 1848 im historischen Revolutionsvergleich, S. 120—122. Zur Standortbestimmung des französischen Jakobinismus vgl. Walter Markov, Grenzen des Jakobinerstaates, in: Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. und eingeleitet von M. Kossok, Berlin 1982, S. 115 ff.; ders., Die Jakobinerfrage heute, in: Ebenda, S. 148ff.; Manfred Kossok, Der Begriff des Jakobinismus — Wesen und Erscheinungsformen (in diesem Band).

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An 1648 und 1789 gemessen, sah Marx die deutsche Bourgeoisie in einer grundsätzlich anderen Situation. Sie ergab sich aus dem fortgeschritteneren Stadium des Kapitalismus, daraus, daß bereits die innerkapitalistischen Widersprüche aufgebrochen waren. All das entsprach den Vormärzerkenntnissen. Weiterführend war die davon ausgehende gründlichere und auch differenziertere Charakterisierung der gesellschaftlichen Stellung und politischen Rolle der deutschen Bourgeoisie in der Revolution und — übergreifend — im bürgerlichen Umwälzungsprozeß überhaupt. Marx entwickelte die These von der sogenannten Mittelstellung 26 der Bourgeoisie zwischen Adel und Proletariat. Während die französische Bourgeoisie von 1789 noch ihre Hauptanstrengungen auf die Niederringung des Adels richtete und bei allen vermeintlichen Konflikten mit den Volksmassen nicht aus dieser antifeudalen Hauptkampflinie wich, war die preußisch-deutsche Bourgeoisie von 1848 eben schon „ebenso ausgeprägt gegen die Krone als gegen das Volk", „revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre". 2 7 Sie war nicht Hegemon aus eigener Kraft mit eigenem Willen, mit dem Volk hinter sich, sondern nur vom Volk vorangetrieben und dabei zu mehr gedrängt, als sie selbst wollte. 28 Marx' Qualifizierung der deutschen achtundvierziger Bourgeoisie war alles andere als einseitig. Sie enthielt, was von der marxistischen Geschichtsschreibung bisweilen übersehen' wurde, zwei Elemente, die auch beide gleichermaßen Beachtung verdienten. Marx benannte unmißverständlich die antirevolutionäre Grundhaltung der Bourgeoisie. Und er machte deutlich, daß die dieser Klasse stets wesenseigene Bereitschaft zu Kompromissen mit der alten Ausbeuterklasse angesichts der neuen gesellschaftlichen Grundsituation von 1848 — dem Zutagetreten offener Konflikte mit dem Proletariat und der dank weltgeschichtlichem Übergewicht der bürgerlichen Ordnung und bereits in Gang gesetzter bürgerlicher Umgestaltungen faktisch gesicherten kapitalistischen Entwicklung — zu einem direkten Zusammengehen der Bourgeoisie mit Adel und Krone gegen das revolutionäre Volk und letztlich zur Preisgabe des eigenen politischen Herrschaftsanspruchs führte. 2 9 Marx verwies nicht minder nachdrücklich aber auch auf die gleichzeitigen antifeudalen Ambitionen und Ansprüche der preußisch-deutschen Bourgeoisie, denen der nach wie vor ungelöste Widerspruch zwischen bürgerlicher Gesellschaft und halbfeudalem System zugrunde lag. Diese Potenzen kamen in der Politik der Bourgeoisie 1848/49 ebenfalls zur Geltung und boten — von Marx und Engels 1848/49 sorgfaltig beachtet 30 — wichtige Ansatzpunkte für eine von linksliberalen Bourgeoisiefraktionen getragene mögliche Linksentwicklung, auf die sie übrigens auch nach 1849 Hoffnungen setzten. Forschungen der letzten Jahre vor allem zur Politik der preußischen Camphausen-Regierung und zur Haltung 26

Die demokratische Partei, in: MEW, Bd. 5, S. 23: „. . . ist es ihnen gelungen, zwischen der demokratischen Partei und den Absolutisten eine Mittelstellung zu gewinnen, nach der einen Seite fortschreitend, nach der anderen zurückdrängend, zugleich progressiv — gegen den Absolutismus, reaktionär — gegen die Demokratie."

27

Marx, Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, S. 108f. So auch später Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd. 8, S. 40. Marx, Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, S. 110f., 114f.: „Sie ahnten nicht, daß . . . die preußische, mit der Krone ringende Bourgeoisie nur noch einen einzigen Bundesgenossen besaß — das Volk. Nicht, als wenn beide keine feindlich entgegengesetzten Interessen besäßen. Wohl aber, weil dasselbe Interesse gegen eine dritte, sie gleich niederdrückende Macht beide noch zusammenschmiedete." Ferner S. 124; ders., Die Kontrerevolution in Berlin, in: MEW, Bd. 6, S. 8f.

28 29

30

Vgl. dazu Joachim Strey/Gerhard Winkler, Marx und Engels 1848/49. Die Politik und Taktik der „Neuen Rheinischen Zeitung" während der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland, Berlin 1972.

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Demokratie, Sozialismus

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der Bourgeoisie in der Frankfurter Nationalversammlung 31 haben diese Zwiespältigkeit in der Haltung der deutschen Bourgeoisie voll bestätigt und ein facettenreicheres, jede grob negative Pauschalisierung vermeidendes Bild über die Rolle der Bourgeoisie in der deutschen Revolution zu zeichnen gestattet. Die Jakobinerfrage, die Heinrich Scheels Forschungen für die deutsche Geschichte nach der Großen Französischen Revolution weitgehend erschlossen haben 32 , blieb für Marx und Engels verständlicherweise auch im Revolutionsjahr 1848/49 ein wichtiges Thema. Ihr besonderes Interesse galt freilich nicht Forster und den deutschen Jakobinern, deren revolutionären Demokratismus sie durchaus als legitimes nationales Erbe der deutschen Kommunisten begriffen. Äußerungen über den deutschen Jakobinismus, wie wir sie — wenn auch nur vereinzelt — in Arbeiten vor und nach der Revolution immerhin finden33, fehlen in den Artikeln der „Neuen Rheinischen Zeitung" gänzlich. Ihr Blick war, wie schon im Vormärz, unmittelbar auf das Ursprungsland jakobinischen Denkens und Handelns, auf Frankreich, auf den Jakobinismus „inra muros" 3 4 gerichtet. Gegen eine undifferenzierte Verklärung oder gar schematische Übertragung jakobinischer Traditionen, wie es 1848/49 die französische kleinbürgerliche Demokratie pflegte, hatten sich Marx und Engels entschieden gewandt 35 , weil dies den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der Auflösung des 1789—1795 noch einheitlichen dritten Standes, nicht entsprach. Der Jakobinismus war in ihrer Sicht ein in die Große Französische Revolution eingebundenes historisches Phänomen, entschiedensten revolutionären Demokratismus verkörpernd, der seine geschichtsbildende Kraft aus dem Bündnis bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kräfte mit dem Volk zog. Ihre bereits im Vormärz gewonnene Auffassung über das Wesen der französischen Jakobinerherrschaft erfuhr im Revolutionsjahr kaum eine weitere Ausbildung. Nur bei der Bestimmung ihrer Funktion und ihres Standorts wurden, wie wir gesehen haben, einige präzisierende Nuancen sichtbar. Nicht in theoretischen Erörterungen lag 1848/49 das eigentlich Neue'im Verhältnis der deutschen Kommunisten zum französischen Jakobinismus von 1793/94. Zum Hauptfeld der Verarbeitung jakobinischen Erbes wurde die revolutionäre Praxis selbst. Die „Neue Rheinische Zeitung" praktizierte auf ihre Weise und mit einer qualitativ neuen, weiter31

Jürgen Hofmann, Das Ministerium Camphausen-Hansemann. Zur Politik der preußischen Bourgeoisie in der Revolution von 1848/49, Berlin 1981 ; Gunther Hildebrandt, Politik und Taktik der Gagern-Liberalen in der Frankfurter Nationalversammlung, Diss. B, Berlin 1983.

32

Heinrich Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 19712; ders., Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1965; Die Mainzer Republik. I, Protokolle des Jakobinerklubs, hrsg., eingel., komment. und bearb. von H. Scheel, Berlin 1975; Die Mainzer Republik. II, Protokolle des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents mit Quellen zu seiner Vorgeschichte, hrsg., eingel., komment. und bearb. von H. Scheel, Berlin 1981 ; ders.,' Forschungen zum deutschen Jakobinismus. Eine Zwischenbilanz, in: ZfG, 1983, H. 4, S. 313ff.

33

Ders., Das Verhältnis der Klassiker des Marxismus zu den Anfangen der bürgerlichen revolutionären Demokratie in Deutschland, in: Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789—1871, hrsg. von H. Bleiber unter Mitwirkung von G. Hildebrandt und R. Weber, Berlin 1977, S. 35 ff. Vgl. Manfred Kossok, Das Salz der Revolution — Jakobinismus in Lateinamerika. Versuch einer Positionsbestimmung, in: Universalhistorische Aspekte und Dimensionen des Jakobinismus. Dem Wirken Heinrich Scheels gewidmet, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 10 G/1976, Berlin 1976, S. 125; ders., Der Begriff des Jakobinismus — Wesen und Erscheinungsformen.

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Karl Marx, Die Pariser „Réforme" über die französischen Zustände, in: MEW, Bd. 5, S. 448 —450. .

Marx' und Engels' historischer Revolutionsvergleich

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reichenden Zielstellung die dem Jakobinismus französischer Provenienz eigene „plebejische Manier", mit den Feinden der bürgerlichen Demokratie fertig zu werden. 36 Marx und Engels waren deutlich bemüht, gestützt auf ihre Machtpositionen in der eigenen Zeitung und in der rheinischen Demokratie, bestimmte Erfahrungen jener Phase der französischen Revolution selbst in der politischen Praxis anzuwenden und analoge bzw. ähnliche Machtinstrumente zu schaffen oder auf deren Bildung hinzuarbeiten. Schon ihre Auffassung von einem durch die gewählte Konstituante verkörperten „revolutionären Provisorium" 37 , das auch in Deutschland die Teilung der Gewalten zeitweilig aufhebt, also Legislative und Exekutive an sich reißt und so diktatorisch regiert, war, wie zahlreiche direkte Berufungen bezeugen38, weitgehend von den Erfahrungen von 1789 geprägt. Wenn Engels gleich in der ersten Ausgabe ihrer Zeitung von der Frankfurter Nationalversammlung verlangte, als eine „revolutionär-aktive Versammlung" aufzutreten 39 , so schwebte ihm gerade die Rolle der französischen Nationalversammlung von 1789 vor. Marx wie Engels bezeichneten es als einen nicht wettzumachenden Nachteil der verfassunggebenden Versammlungen der deutschen Revolution, daß sie nicht auf dem „feuerspeienden Boden" revolutionärer Metropolen standen wie ihre englischen und französischen Vorläufer. 40 Erfahrungen aus der Zeit der Jakobinerherrschaft brachten die deutschen Kommunisten vor allem in der Septemberkrise 1848 zur Geltung, als sie auf einen neuen Aufschwung der Revolution setzten, der zur „zweiten Revolution", in eine revblutionär-demokratische Phase ä la 1793/94 in Frankreich hinführen sollte. In diesen Wochen beschwor die „Neue Rheinische Zeitung" die Tradition des entschiedensten revolutionären Demokratismus der Großen Französischen Revolution. Bereits unmittelbar nach Erscheinen der „Neuen Rheinischen Zeitung" hatte die Redaktion ihrer eigenen revolutionär-demokratischen Grundhaltung dadurch Ausdruck verliehen, daß sie die Verhandlungen „des französischen Nationalkonvents über Louis Capet, Exkönig von Frankreich" aus dem „Moniteur" von 1793 kommentarlos wortwörtlich abdruckte. 41 Im September 1848 nahm sie den Nachdruck der 36

1884 verglich Engels nicht zufällig die vorwärtstreibende Rolle der Kommunisten in der deutschen Revolution von 1848/49 direkt mit Marats Wirken in der Großen Französischen Revolution von 1789. Friedrich Engels, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung" 1848—1849, in: MEW, Bd. 21, S. 21: „Als ich später Bougearts Buch über Marat las, fand ich, daß wir in mehr als einer Beziehung nur das große Vorbild des echten (nicht des von den Royalisten gefälschten) ,Ami du peuple' unbewußt nachgeahmt hatten und daß der ganze Wutschrei und die ganze Geschichtsfälschung . . . nur diese Ursache haben: daß Marat den Augenblicksgötzen Lafayette, Bailly und anderen unbarmherzig den Schleier abzog und sie als schon fertige Verräter an der Revolution enthüllte; und daß er, wie wir, die Revolution nicht für abgeschlossen, sondern in Permanenz erklärt wissen wollte." Zur Rolle der Linken und äußersten Linken 1848/49 vgl. Walter Schmidt, Linke und äußerste Linke in der deutschen bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 (Zum Verhältnis von kleinbürgerlicher Demokratie, elementarer Arbeiterbewegung und kommunistischer Vorhut), in: Rolle und Formen der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus, hrsg. von M. Kossok, Berlin 1976, S. 169 ff.

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Friedrich Engels, Vereinbarungssitzung vom 4. Juli, in: MEW, Bd. 5, S. 195. Vgl. ders., Die Debatte über den Jacobyschen Antrag, in: Ebenda, S. 226—228, 230; Karl Marx, Die Krisis und die Kontrerevolution, in: Ebenda, S. 402—404. Friedrich Engels, Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt, in: Ebenda, S. 40f.; vgl. auch: Die Frankfurter Versammlung, in: Ebenda, S. 14ff. Ebenda, S. 40. Neue Rheinische Zeitung, 19., 21., 22., 26. Juni 1848.

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Parlamentsdebatten um die Verurteilung Ludwigs XVI. zum Tode wegen Vaterlandsverrats wieder auf. 4 2 In dieser Situation beriefen M a r x und Engels sich — wie später im Frühjahr 1849 beim Aufschwung der ungarischen Revolution unter Lajos Kossuth wieder 4 3 — nachdrücklich auf die revolutionsfördernden Einflüsse, die die notwendigen militärischen Abwehrkämpfe gegen die die französische Revolution tödlich bedrohende Intervention der äußeren Konterrevolution ausgeübt hatten. 4 4 Analog 1793/94 erhofften sie von einem Einmarsch zaristischer Truppen in die revolutionierten Länder Europas eine gleiche Wirkung, nämlich die Polarisierung der verschiedenen Klassen und Fraktionen, eine Radikalisierung der revolutionären Kräfte, deren Stärkung und den schließlichen Machtgewinn der revolutionären Demokratie, namentlich in Deutschland. Damals schien Marx bei Zuspitzung der Lage eine Entwicklung zu einem Konvent und Wohlfahrtsausschuß in der deutschen Revolution nicht ausgeschlossen. „ F ä h r t die Regierung fort wie bisher, so haben wir in nicht gar langer Zeit einen Konvent — nicht bloß für Preußen, sondern für ganz Deutschland —, einen Konvent, dem es obliegen wird, den Bürgerkrieg unserer zwanzig Vendéen und den unvermeidlichen russischen Krieg mit allen Mitteln zu unterdrücken." 4 5 U n d noch im Frühjahr 1849 hoffte Marx — wie aus einem Brief an Andreas Stifft zu erkennen ist — darauf, d a ß im Gefolge eines revolutionären Aufschwungs während der Reichsverfassungskampagne ein solcher Konvent in Deutschland entstehen könnte. 4 6 Den Vergleich zwischen den beiden französischen Revolutionen 1789 und 1848 beherrschte ganz die Frage nach den grundlegend verschiedenen Bedingungen, unter denen sie stattfanden, und nach den entsprechend veränderten objektiven Aufgaben und Möglichkeiten. Marx' und Engels' Artikel über Frankreich und die übrigen französischen Korrespondenzen der „Neuen Rheinischen Zeitung", von denen — wie erwähnt — die Mehrzahl aus der Feder von Ferdinand Wolff stammte 4 7 , konzentrierten sich bei diesem Revolutionsvergleich vor allem auf vier Aspekte. Erstens warnten die Kommunisten nachdrücklich vor einer Übertragung republikanischer Vorstellungen und Losungen aus der großen Revolution auf die Bewegung von 1848 4 8 Eine undifferenzierte Berufung namentlich auf die 1793er Traditionen führe in die Irre, da sich die Verhältnisse gewandelt hatten, die einstmalige antifeudale Einheit aufgelöst war. Wenn 1789 unter patriotischen Losungen bestimmte Interessengegensätze zwischen Bourgeoisie und Volk noch national übertüncht werden konnten, so war das Ausdruck einer realen Situation,

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Ebenda, 9. September 1848: „Die Verhandlungen des National-Convents über Louis Capet, Exkönig von Frankreich (Schluß von Nr. 19, 21, 22, 26)" mit dem abschließenden Auszug aus den Protokollen des Nationalkonvents vom 15., 17., 19. und 20. Januar 1793, in denen das Todesurteil für Louis Capet dekretiert wurde. Friedrich Engels, Der magyarische Kampf, in: MEW, Bd. 6, S. 165f.; ders., Die Niederlage der Piemontesen, in: Ebenda, S. 388f. Ders., Der dänisch-preußische Waffenstillstand, in: MEW, Bd. 5, S. 397; ders., Die Ratifikation des Waffenstillstands, in: Ebenda, S. 409. Marx, Die Krisis und die Kontrerevolution, in: Ebenda, S. 403. Karl Marx an Andreas Stifft, 6. Mai 1849, in: MEGA, III/3, Berlin 1981, S. 22. Vgl. Walter Schmidt, Ferdinand Wolff. Zur Biographie eines kommunistischen Journalisten an der Seite von Marx und Engels 1848/49, Sitzungsberichte der AdW der D D R , 3/G 1983, Berlin 1983. Marx, Die Pariser „Reforme" über die französischen Zustände, in: MEW, Bd. 5, S. 448—490; ferner ders., Die Junirevolution, in: Ebenda, S. 134.

Marx' und Engels' historischer Revolutionsvergleich

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in der diese Gegensätze noch unentwickelt waren. 1848 handelte es sich dabei jedoch nur um eine Ausflucht aus ganz anders gearteten gesellschaftlichen Verhältnissen. Zweitens: Das Hauptinteresse der Kommunisten als der bewußten Vorhut der Arbeiterklasse galt verständlicherweise dem gegenüber 1789 wichtigsten neuen Merkmal der französischen achtundvierziger Revolution, den Aktivitäten des sich als Klasse konstituierenden und selbständig handelnden französischen Proletariats. 49 Es prägte wie in keinem anderen revolutionierten Land Europas bereits nachdrücklich den Gang der bürgerlichen Revolution. Schon der Auftakt dieser Revolution, die Pariser Februarrevolution, in der noch eine Einheitsfront aller am Sturz der Julimonarchie interessierten Kräfte, von den Bourgeoisrepublikanern über die kleinbürgerlichen Demokraten bis zur Arbeiterklasse, zustande gekommen war, hatte deutlich werden lassen, daß das Pariser Proletariat sich nicht nur als machtvollste revolutionäre Triebkraft erwies, sondern auch schon über die Kraft verfügte, der Bourgeoisie zeitweilig essentielle Konzessionen abzuringen. Von Beginn an waren die Auseinandersetzungen zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse der Drehzapfen der ganzen Revolution. Dieser gegenüber 1789 bedeutsamsten neuen Qualität bürgerlicher Revolution widmete die „Neue Rheinische Zeitung" die größte Aufmerksamkeit. Dabei setzte die Redaktion, dem kommunistischen Revolutionskonzept folgend, in gleichsam verkürzter Perspektive der Revolutionsentwicklung auf eine mögliche Überleitung der in Gang gesetzten bürgerlichen Revolution in eine proletarisch-sozialistische Umwälzung. Namentlich die Pariser Juniinsurrektion 1848 ließ die neue Qualität der geschichtlichen Klassenkämpfe im Frankreich der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich hervortreten. Dieser Aufstand war nämlich schon auf ganz andere Weise als die Jakobinerphase in der 1789er Revolution antibürgerlich. Die Junischlacht stellte — auch objektiv — nicht mehr ein Element zur Sicherung der bürgerlichen Ordnung dar, sondern war schon ein direkter Angriff auf diese Ordnung und ihrem Wesen nach daher eine wirkliche proletarische Erhebung. 5 0 Drittens. Gleichwohl warnten Marx und Engels als nüchterne Analytiker der Revolution vor einer Überschätzung der proletarischen Komponente in der französischen Revolutionsbewegung. Der Gang der Ereignisse gab genügend Anlaß dazu. Die Arbeiterklasse konnte keine der im Februar 1848 erkämpften Errungenschaften halten. Die Junischlacht von 1848 bildete fraglos den Höhepunkt in den Klassenkämpfen in Frankreich, aber sie erlitt eine Niederlage, die die Arbeiterklasse als politischen Machtfaktor weitgehend ausschaltete. Diese proletarische Insurrektion blieb so eine höchst bedeutsame Episode, stellte aber den bürgerlichen Gesamtcharakter der französischen achtundvierziger Bewegung nicht in Frage. An ihrer Spitze blieb nach wie vor die Bourgeoisie, die das Heft zunächst auch fest in der Hand behielt. Die „Neue Rheinische Zeitung" machte daher vom ersten Tage an entschieden Front gegen die weit verbreitete Illusion, die Februarrevolution habe den Arbeitern bereits den Weg zu ihrer Befreiung geebnet. 51 In der Polemik gegen solche Vorstellungen spielte der Vergleich mit dem Verlauf der Großen Französischen Revolution eine zentrale Rolle. Namentlich Ferdinand Wolff berief 49

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Vgl. Walter Schmidt, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848/49 in der „Neuen Rheinischen Zeitung" — ein Beitrag zum Ringen der Kommunisten-um die Emanzipation der deutschen Arbeiterbewegung, in: BzG, 1968, H. 2, S. 263 ff. Nachrichten aus Paris, in: MEW, Bd. 5, S. 116; Friedrich Engels, Der 25. Juni, in: Ebenda, S. 132; Marx, Die Junirevolution, in: Ebenda, S. 133ff. Vgl. Neue Rheinische Zeitung — Frankreich 1848/49, S. 14—16.

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sich wiederholt auf die großen Unterschiede zwischen 1789 und 1848. Er stellte klar, daß die Revolution der Franzosen von 1789 eine große bürgerliche Revolution war, weil sie deren Aufgaben mit Konsequenz löste. Demgegenüber vermochte die französiche Revolution von 1848 den Erfordernissen einer sozialen Revolution des Proletariats nicht gerecht zu werden. Im Unterschied zu 1793/94, als die feudalen Eigentumsverhältnisse radikal beseitigt und die bürgerliche Ordnung installiert wurde, gelang den revolutionären Proletariern 1848 zwar eine Änderung der politischen Form der bürgerlichen Herrschaft, nicht jedoch, deren ökonomisch-soziale Grundlagen anzutasten. 52 Die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse blieben vielmehr bestehen. Damit war aber auch eine Wiederbefestigung der im Februar durchaus labilen politischen Bourgeoisherrschaft durch Zurücknahme aller dem Proletariat zunächst gemachten sozialen Zugeständnisse möglich und unvermeidlich.53 Viertens beschäftigte sich die „Neue Rheinische Zeitung" intensiv mit der verglichen mit 1789 grundlegend veränderten sozialen Stellung der nichtproletarischen werktätigen Klassen und Schichten, des städtischen Kleinbürgertums und der Bauernschaft. Nach der Februarrevolution hatten es die Bourgeoisrepublikaner in der Provisorischen Regierung vermocht, das städtische Kleinbürgertum auf ihre Seite zu ziehen, so daß die Arbeiter in der Pariser Junischlacht 1848 allein standen. Der kleinbürgerliche Eigentumssinn hatte sich als stärker erwiesen als die objektiven Gemeinsamkeiten zwischen Arbeitern und Kleinbürgern, die darauf beruhten, daß beide Klassen der Ausbeutung durch die Großbourgeoisie unterworfen waren. Als unmittelbar nach der Juniniederlage die konstituierende Nationalversammlung einen im Interesse der Handwerker und Händler liegenden Gesetzesvorschlag zum Zahlungsaufschub bei Wechselschuldbriefen und Mieten ablehnte, nahm die Redaktion diese großbourgeoise Zurückweisung kleinbürgerlicher Ansprüche zum Anlaß, das Ausbeutungsverhältnis zu erläutern, in dem auch das Kleinbürgertum zur Großbourgeoisie steht. 54 Auch begrüßte die „Neue Rheinische Zeitung" die erneute politische Annäherung von kleinbürgerlichem und proletarischem Flügel der französischen Demokratie seit Herbst 1848, der gemeinsame antibourgeoise Forderungen zugrunde lagen.55 Weit größeres Interesse brachte die Redaktion dem Verhalten der französischen Bauern-

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Ferdinand Wolff, Cassidiere, Blanc und Ledru-Rollin, NRhZ, 1. September 1848; ders., Die baumwollenen Mützen, die Rosen, die Revolution und die Rothschilde, NRhZ, 2. September 1848, in: Ebenda, S. 103—107. Ders., Blanc, Cassidiere, Ledru-Rollin vor ihren Anklägern, NRhZ, 30. August 1848, in: Ebenda, S. 101: „Das korrumpierte Frankreich war am 24. Februar politisch gestürzt; die politische Spitze der französischen Gesellschaft war umgeworfen. Die korrumpierte Gesellschaft selbst, und das in den korrumpierten gesellschaftlichen Verhältnissen Erworbene bestanden noch, aber ohne Bajonette, ohne Schutz. Der Hauch des Volkes drohte auch diese Verhältnisse ebenfalls umzublasen. Die Bourgeois zitterten . . . Sie erkannten die Republik in aller Demut an. . . . Einen Mann schlägt man tot, aber nicht eine Firma. Das sahen die französischen Demokraten zu spät ein. Indem man die Unverletzlichkeit des Eigentums proklamierte, verwechselte man das Eigentum mit den Eigentumsverhältnissen. Das Volk . . . glaubte, durch den Umsturz der politischen Verhältnisse seine sozialen Verhältnisse umgeändert zu haben. Die Aufrechterhaltung der sozialen Bourgeoisverhältnisse führte auch die alten politischen Bourgeoisverhältnisse wieder herbei, und an der Lage des Volkes hatte sich nichts geändert. Alle Kämpfe nach dem 24. Februar waren ein Ankämpfen gegen diese Verhältnisse. . . . Die Geldmänner, die Dampfmänner, die Männer des Kapitals blieben an der Herrschaft und schoben den Bourgeois-Republikaner Marast als Strohmann vor." Vgl. auch ders., Die Konstitution, NRhZ, 6. September 1848, in: Ebenda, S. 110—116. Die Nationalversammlung vom 18. und 19., NRhZ, 25. August 1848, in: Ebenda, S. 95—98. Das Bankett. — Vereinigung des Berges mit der sozialistischen Partei, NRhZ, 3. März 1849, in: Ebenda, S. 2 4 2 - 2 4 6 .

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schaft entgegen. 56 N d t h finden wir in der „Neuen Rheinischen Zeitung" selbst nicht jenen klassischen Vergleich, den Marx in seinen nachrevolutionären Schriften zwischen der ökonomisch-sozialen Lage und der politischen Haltung der französischen Bauern 1789 und 1848 anstellte. 57 Aber in seinen damals nicht veröffentlichten handschriftlichen Reisenotizen „Von Paris nach Bern" 5 8 hat Engels dennoch dieser für die Weiterentwicklung der kommunistischen Bündnispolitik höchst wichtigen Komparation wesentlich vorgearbeitet. Engels gab hier immerhin erstmals im marxistischen Denken einen historischen Abriß über die Wandlung in der Haltung der französischen Bauern zur bürgerlichen Revolution. Engels ging davon aus, daß in der „ersten französischen Revolution" die Bauern immer dann und solange revolutionär auftraten, wie ihr „handgreiflichstes Privatinteresse" befriedigt wurde, d. h. ihnen „das Eigentumsrecht auf ihre bisher in feudalen Verhältnissen bebaute Scholle" verschafft wurde. 59 Damit war eine für die Bündnispolitik wesentliche Einsicht deutlich ausgesprochen: Die Bauern lassen sich nur durch Berücksichtigung und Befriedigung ihrer unmittelbaren Interessen für die Revolution gewinnen. Die Begeisterung der-Bauern für Napoleon I., für dessen Herrschaft sie die soziale „Hauptstütze" abgaben, erklärte Engels damit, daß der französische Kaiser „die neuen Besitzverhältnisse der Bauern befestigte und in seinem Code civil sanktionierte". 60 Der Bourbonenherrschaft hingegen, die „ihre ganze revolutionäre Eroberung" bedrohte, brachte die französische Bauernschaft Haß entgegen, und sie begrüßte um so leidenschaftlicher die Julirevolution, die ihnen „die Sicherheit des Besitzes . . . wiederbrachte". 61 Seitdem, so meinte Engels, hörte die Beteiligung der Bauern an den allgemeinen Interessen des Landes auf, wiewohl sich ihre soziale Lage gerade nach 1830 rapide verschlechterte. Engels analysierte dann aber erstmals den ökonomisch-sozialen Positionswandel, den die Klasse der französischen Parzellenbauern seit der Abschüttlung des feudalen Jochs bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durchgemacht hatte. Überlegungen aus der Vormärzzeit aufgreifend 62 , wies er nach, wie die Bauern, durch die weitergreifende Parzellierung beschleunigt, verarmten und mehr und mehr unter den Druck des „großen Kapitals" gerieten. 63 Im Unterschied zum Proletariat aber vermochte die nun kapitalistisch ausgebeutete Bauernschaft aufgrund ihrer Lage als einfacher Warenproduzent diese Ausbeutung lediglich als Privatverhältnis'zwischen Bauern und Gläubiger zu begreifen und nicht als ein neues,, Klassenverhältnis zwischen der Klasse der großen Kapitalisten und der der kleinen Grundbesitzer". Da der Bauer „genau nach denselben Rechtsprinzipien ausgesogen und ruiniert [wird], unter denen allein ihm sein Besitz gesichert ist" 6 4 , vermag der Hypothekenwucher ihn nicht in die revolutionäre Bewegung zu schleudern. Wegen dieser komplizierten gesellschaft56

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Vgl. dazu Werner Loch, Bauern und bürgerlich-demokratische Revolution in Frankreich. Die französischen Bauern im Spannungsfeld von Revolution, Demokratie und politischer Reaktion zwischen 1848 und 1851/52, in: Bauern und bürgerliche Revolution, S. 189ff. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 198ff. Vgl. dazu auch Ernst Engelberg, Theorie und Praxis des Formationswechsels (1846 bis 1852), in: Formationstheorie und Geschichte, hrsg. von E. Engelberg und W. Küttler, Berlin 1978, S. 129ff. Friedrich Engels, Von Paris nach Bern, in: MEW, Bd. 5, S. 471—475. Ebenda, S. 472. Ebenda. Ebenda. Ders., Die Bewegungen von 1847, in: MEW, Bd. 4, S. 499. Ders., Von Paris nach Bern, S. 473. Ebenda.

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liehen Stellung des kleinen Grundeigentümers sah Engels wenig Chancen, den französischen Parzellenbauern überhaupt für den revolutionären Kampf zur Beseitigung der kapitalistischen Ordnung zu gewinnen. Auch eine sofortige Niederschlagung aller Hypothekarschulden erschien ihm nur als ein momentaner Aufschub. Er befürchtete sogar, daß das französische Proletariat, um seine Forderungen durchzusetzen, nicht darum herumkommen werde, „zuerst einen allgemeinen Bauernkrieg zu unterdrücken". 6 5 In diese recht düstere Perspektive waren auch die Erfahrungen eingeflossen, die sich aus dem Verhalten der französischen Bauern zwischen Februar und Dezember 1848 ableiten ließen. Die „Neue Rheinische Zeitung" hatte vom ersten Tage an über eine canv aniici > il 1789 geartete, nämlich negativ-ablehnende Stellung der Bauernschaft zur Revolution berichten müssen. Die Provisorische Regierung hatte mit der Einführung der 45-CentimesSteuer das Ihre getan, um die Bauern, statt sie an die Revolution zu binden, dieser vielmehr zu entfremden. 6 6 Das fand die harte Kritik der deutschen Kommunisten. Zwar glimmte bei ihnen kurzzeitig die Hoffnung auf, daß daraus eine Jacquerie entstehen könnte, wofür es, wie die neuere Forschung zeigt, deutliche Anzeichen gab. 67 Doch begriffen die französischen Korrespondenten, namentlich Ferdinand Wolff, bereits frühzeitig, daß die Bauernschaft letztlich zu einem Reservoir für die Konterrevolution wurde. Die Feindschaft zur Junischlacht ließ keinen Zweifel daran. Und die Auseinandersetzungen um die Präsidentenwahl wurden schon in der Weise kommentiert, daß die Bauern zur wichtigsten sozialen Stütze einer neuen bonapartistischen Diktatur werden könnten. 6 8 Das Wahlergebnis gab den Kommunisten recht. Die Bauern erhoben Napoleon auf den Schild. All diese Vorgänge resümierte Engels in seinen Betrachtungen vom Dezember 1848.69 Danach aber setzte überraschend eine gegenläufige Entwicklung ein. Auch die soziale Demagogie Napoleons vermochte die neuen objektiven Gegensätze zwischen dem großen Kapital und den kleinen Parzellenbauern nicht aufzuheben. Nach der Wahl Napoleons machte sich infolge einer Reihe bauernfeindlicher Regierungsmaßnahmen rasch eine Enttäuschung der Bauern über ihren vermeintlichen Retter breit. 70 Eine kluge Bauernpolitik der französischen Sozialdemokraten beschleunigte diesen Prozeß. Der Anschluß eines bedeutenden Teils der französischen Bauernschaft an den revolutionär-demokratischen Block von städtischem Kleinbürgertum und Proletariat zeichnete sich ab. Es wurde nun auch an der Oberfläche deutlich, daß die französischen Bauern zwar nicht mehr wie 1789 wegen ihrer Feindschaft gegen den Feudalismus, wohl aber infolge der Ausbeutung durch das Kapital erneut in eine, nun allerdings antibourgeois orientierte, revolutionäre Haltung gedrängt

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Ebenda, S. 475. Die Steuer von 45 Centimes auf dem Grundeigentum, N R h Z , 20. Juni 1848, in: Neue Rheinische Zeitung - Frankreich 1848/49, S. 65 f.

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Neue Jacquerie, N R h Z , 21. Juni 1848, in: Ebenda, S. 67. Zu den Bauernbewegungen in der französischen achtundvierziger Revolution vgl. Albert M. Soboul, La question paysanne en 1848, in: La Pensée, Nr. 18, 1948, S. 64ff., russisch: Krest'janskij vopros v 1848 godu, in: ders., Iz istorii velikoj burzuaznoj revoljucii 1789—1794 godu i revoljucii 1848 goda vo francii, Moskva 1960, S. 20ff. Ferner Peter H. Amann, Die Konturen der Revolution von 1848 im Wandel, in: Die europäischen Revolutionen von 1848, hrsg. von H. Stuke und W. Forstmann, Königstein/Ts. 1979, S. lOOff.

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Die Präsidentenwahl, NRhZ, 29. Oktober 1848; Louis Napoleon, NRhZ, 21. November 1848, in: Neue Rheinische Zeitung — Frankreich 1848/49, S. 1 2 0 - 1 2 2 , 135f. Engels, Von Paris nach Bern, S. 473 f. Vgl. Loch, Bauern und bürgerlich-demokratische Revolution in Frankreich, S. 197 f.

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Marx' und Engels' historischer Revolutionsvergleich

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wären. Die französischen Sozialdemokraten hatten einen „Rappel du Milliard" geschlagen. 71 Sie forderten, den verarmten Parzellenbauern jene Milliarde zukommen zu lassen, die die Bourbonen 1825 den zurückgekehrten adligen Emigranten als Entschädigung für ihre in der Großen Revolution konfiszierten Güter gezahlt hatten. Das stieß auf ein breites, leidenschaftliches Echo unter den Landbewohnern. Eine Bewegung erfaßte weite Teile des Landes. Die Wahlen zur Legislative am 19. Mai 1849 brachten den Sozialdemokraten rund ein Drittel aller Stimmen. Und zahlreiche ländliche Wahldistrikte hatten daran einen hohen Anteil. 72 Die „Neue Rheinische Zeitung" nahm diese sensationelle Wende in der Stellung der französischen Bauernschaft zur Revolution sofort mit Genugtuung zur Kenntnis. 73 Die Kommunisten korrigierten manchen früheren Zweifel über die revolutionäre Potenz der Bauernschaft gegen den Kapitalismus. Engels' recht absolutes Urteil vom Dezember 1848 geriet nun ins Wanken. Die revolutionäre Praxis zeigte erstmals recht überzeugend, daß die vom kapitalistischen Wucher ausgebeuteten Bauern sehr wohl auch an eine gegen die Großbourgeoisie gerichtete Revolution zu binden sind, wenn die revolutionäre Partei ihre unmittelbaren sozialen Interessen aufgreift und zu ihren eigenen Forderungen macht. Ein redaktioneller Leitartikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" wertete Mitte März 1849 die Milliardenforderung als „die erste revolutionäre Maßregel, welche die Bauern in die Revolution schleudert." 7 4 Die kommunistische Partei hatte einen wichtigen Lernprozeß durchlaufen. Die Praxis der Revolution hatte sie zu erkennen gelehrt„daß im Kampf um den Sturz des Kapitalismus die Arbeiter nicht nur der Bauern als Bündnispartner dringend bedürfen, sondern eine solche Verbindung zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft auch zu erreichen ist. So wurden bereits während der Revolution von 1848/49 Kernfragen der Politik und Taktik gründlich erörtert und in mannigfaltiger Weise schon eine Vorarbeit für jene weiterführenden Verallgemeinerungen geleistet, die Gegenstand der-theoretischen Analysen von Marx und Engels nach 1849 waren. 75 Die noch während der Revolution erfolgende erste Aufarbeitung der neuen Erfahrungen aber bediente sich jederzeit des historischen Revolutionsvergleichs, namentlich der Komparation mit der Großen Französischen Revolution.

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Vgl. Schmidt, Die Klassenkämpfe, S. 295 ff. F. V. Potjornkin/A. J. Molok (Redaktion), Revoljucii 1848—1849, Moskva 1952, Bd. II, S. 7ff.; Maurice Agulhon, 1848 ou l'apprentissage de la République. 1848—1852, Paris 1973, S. 91 ff.; Gilbert Ziebura, Frankreich 1789—1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation, Frankfurt a. M./New York 1979, S. 151 ; Amann, Die Konturen der Revolution, S. 101 f.

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Die Bauern, N R h Z , 22. Januar 1849; Leon Faucher, die Bank und die Milliarde, N R h Z , 23. Februar 1849; Die Bank Proudhons, die Milliarde und Italien, N R h Z , 31. März 1849; Propaganda auf dem Lande, N R h Z , 13. April 1849, in: Neue Rheinische Zeitung — Frankreich 1848/49, S. 197f., 237—241, 283—286, 300f. Vgl. dazu auch Walter Schmidt, Kommunisten, Arbeiterklasse und Bauern in der Revolution von 1848/49. Zur Stellung von Marx und Engels zur Bauernfrage, in: Der deutsche Bauernkrieg 1524/25. Geschichte — Traditionen — Lehren, hrsg. von G. Brendler und A. Laube, Berlin 1977, S. 358ff.

74

Die Milliarde, in: MEW, Bd. 6, S. 355. Zur Analyse des Revolutionsvergleichs 1789— 1848 in der nachrevolutionären Periode vgl. Walter Schmidt, 1789 und 1848 im historischen Revolutionsvergleich bei Marx und Engels in der Zeit der Auswertung der Revolutionserfahrungen von 1848/49, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Nr. 16, Berlin 1984, S. 93 ff.

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HELMUT BLEIBER

Nationalbewußtsein und bürgerlicher Fortschritt. Zur Herausbildung von deutschem Nationalbewußtsein in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung (1789—1871)

Die nachfolgenden Bemerkungen zur Herausbildung des deutschen Nationalbewußtseins in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung wollen die Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, das von der Geschichtsschreibung der D D R bisher nicht gründlich untersucht worden ist. Diese Enthaltsamkeit ist zu erklären und zu begreifen als eine indirekte Nachwirkung deutscher Geschichte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Insbesondere der Mißbrauch deutscher nationaler Empfindungen, Emotionen und Wünsche durch den Faschismus bewirkte unvermeidlich eine Diskreditierung von deutscher nationaler Entwicklung und deutschem nationalem Bewußtsein schlechthin. Die notwendige Abrechnung mit faschistischer Ideologie erfaßte zunächst auch historische Erscheinungen, derer sich ihre Wortführer bedient hatten. Die Arbeit „Deutsche Daseinsverfehlung" von Ernst Niekisch oder der Titel des Buches von Alexander Abusch „Der Irrweg einer Nation" 1 sind zwei Zeugnisse von vielen für den tiefen Schatten, den der Faschismus auf die ganze deutsche Geschichte zu werfen schien. Die SED hat von Beginn an neben der Abrechnung mit der Reaktion die revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes in den Mittelpunkt des Bildes von der deutschen Geschichte gerückt und sich frühzeitig gegen Auffassungen von der deutschen Geschichte als einer Kontinuität von Misere, als einer Folge von Fehlentwicklungen gewandt. 2 In Programmatik und Politik entwickelte sie neue Akzente der Verbindung von Sozialem und Nationalem. Dabei knüpfte sie an historische Lehren und Erfahrungen des antifaschistisch-antiimperialistischen nationalen Befreiungskampfes der volksdemokratischen Länder an, der dort der erfolgreichen revolutionären Umwälzung vorausgegangen war. 3 Aber weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen der Nutzung nationaler

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Emst Niekisch, Deutsche Daseinsverfehlung, Berlin 1946; Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation, Berlin 1946. Werner Berthold, Marxistisches Geschichtsbild — Volksfront und antifaschistisch-demokratische Revolution, Berlin 1970; Hans Schleier, Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der D D R . Hauptetappen, Institutionen, Forschungsschwerpunkte, in: Gesellschaftswissenschaftliche Information, Berlin (1982), GW 17, S. 3ff.; Walter Schmidt, Zur Entwicklung des Erbe- und Traditionsverständnisses in der Geschichtsschreibung der D D R , in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), Jg. 33 (1985), H. 3, S. 195ff.; ders., Zur Geschichte der DDR-Geschichtswissenschaft vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), Jg. 27 (1985), H. 5, S. 614ff. Peter Rentsch, Die Nation und das National-Spezifische in der Programmatik und Strategie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Diss. B, Leipzig 1982.

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Interessen für den Kampf um soziale Befreiung waren für die SED in vergleichbarer Weise gegeben wie für ihre Bruderparteien in den meisten volksdemokratischen Ländern. Die Spaltung Deutschlands, die Entstehung von zwei deutschen Staaten, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen ihnen schufen neue, im Vergleich zu den europäischen volksdemokratischen Ländern veränderte Bedingungen für „nationale" Politik, für die Beziehung zwischen Sozialem und Nationalem. Zweifellos erklärt sich aus diesen unterschiedlichen historischen Voraussetzungen auch das Phänomen, daß sich die Geschichtsschreibung dieser Länder viel früher, viel unbefangener und wesentlich weitergehend der breiten Aufarbeitung und umfassenden Erschließung ihrer nationalen Vergangenheit zugewandt hat als die der D D R . Es ist hier nicht der Platz, die Entwicklungsetappen der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung in der D D R und speziell ihr Verständnis nationaler Aspekte im historischen Prozeß nachzuzeichnen. Unbestreitbar aber ist, daß — aus welchen Gründen auch immer — die nationale Problematik in der deutschen Geschichte ein Forschungsdesiderat der marxistischen Geschichtswissenschaft geblieben ist. Dies festzustellen heißt nicht, vorhandene Ansätze und Ergebnisse zu übersehen. Aus philosophischer Sicht veröffentlichte Alfred Kosing eine eingehende Studie zur historischmaterialistischen Theorie der Nation. 4 Walter Schmidt analysierte die derzeit gängigen bürgerlichen Nationsauffassungen in der BRD und legte dabei gleichzeitig das Konzept der Entwicklung der bürgerlichen Nation in Deutschland und der sozialistischen Nation in der D D R dar, das der Darstellung im „Grundriß der deutschen Geschichte" und in der „Deutschen Geschichte in zwölf Bänden" zugrunde liegt. 5 Joachim Streisand äußerte sich bereits 1956 zum Problem des Nationalcharakters 6 , und Heinrich Scheel widmete sich in zwei gedruckten Vorträgen speziell der Beziehung zwischen Nation und Revolution. 7 Diese und einige weitere Arbeiten 8 erörtern und fixieren methodologische Ausgangspunkte für die Beschäftigung mit dem Thema. Sie können als Wegweiser für die Inangriffnahme größerer Arbeiten Geltung beanspruchen. Das bestehende Defizit an marxistischen Forschungen zur nationalen Problematik in der deutschen Geschichte durch empirische Untersuchungen und problematisierende Betrachtung allmählich auszugleichen, ist ein dringendes Bedürfnis sowohl der inneren Entwicklung der Disziplin und der weiteren Vertiefung unseres Geschichtsbildes als auch der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Historiographie, die zahlreiche Arbeiten zu verschiedenen Aspekten dieses Themas vorgelegt hat. Während die ältere bürgerliche Geschichtsschreibung bei der Behandlung des Themas 4 5

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Alfred Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1976. Walter Schmidt, Nation und deutsche Geschichte in der bürgerlichen Ideologie der BRD, Berlin 1980; Grundriß der deutschen Geschichte, Berlin 1979; Deutsche Geschichte, Bd. 3: Die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus von den siebziger Jahren des 15. Jh. bis 1789, Berlin 1983; Bd. 4: Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871, Berlin 1984. Joachim Streisand, Das Problem des Nationalcharakters, in: Beiträge zum neuen Geschichtsbild. Zum 60. Geburtstag von Alfred Meusel, hrsg. von Fritz Klein und Joachim Streisand, Berlin 1956, S. 27 ff. Heinrich Scheel, Deutscher Jakobinismus und deutsche Nation, Berlin 1966 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jg. 1966, Nr. 2); ders., Über das Verhältnis von Nation und Revolution, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 142 (1975), H. 19, S. 303ff. Siehe auch die Analyse der Verwendung des Volksbegriffs in seiner ethnischen Bedeutung durch Marx und Engels bei Hermann Strobach, Zum Volksbegriff bei Marx und Engels, in: Das geschichtswissenschaftliche Erbe von Karl Marx, hrsg. von Wolfgang Küttler, Berlin 1983, S. 170ff.

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Helmut Bleiber

g a n z ü b e r w i e g e n d i d e e n g e s c h i c h t l i c h e n P r o b l e m s t e l l u n g e n u n d M e t h o d e n v e r h a f t e t blieb, wird v o n V e r t r e t e r n der j ü n g e r e n u n d

flexibleren

R i c h t u n g d i e F r a g e gestellt, „ o b u n d i n w i e -

fern der m o d e r n e N a t i o n a l i s m u s a u f b e s t i m m t e W a n d l u n g s v o r g ä n g e i n n e r h a l b der G e s e l l schaft zurückgeführt werden kann".9 Entstehung und Entwicklung v o n N a t i o n e n werden in m o d e r n i s i e r u n g s t h e o r e t i s c h e r Sicht als b e s o n d e r e F o r m e n v o n G e s e l l s c h a f t s e n t w i c k l u n g v e r s t a n d e n . 1 0 E n t s p r e c h e n d e V e r s u c h e u n d e i n i g e z u m Teil d u r c h a u s b e a c h t e n s w e r t e Ergebnisse

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Ziel der f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n ist, d u r c h d i e F o r m u l i e r u n g v o n e i n i g e n T h e s e n , F r a g e n u n d A n m e r k u n g e n d i e H e r a u s b i l d u n g der d e u t s c h e n N a t i o n u n d d e s d e u t s c h e n N a t i o n a l b e w u ß t s e i n s in der Zeit der b ü r g e r l i c h e n U m w ä l z u n g als G e g e n s t a n d b e w u ß t z u m a c h e n , dessen nähere Untersuchung und Erörterung eine notwendige und lohnende A u f g a b e marxistischer G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g ist. D i e E n t s t e h u n g v o n N a t i o n e n b e g r e i f e n wir als e i n e n o b j e k t i v e n h i s t o r i s c h e n P r o z e ß , der F o l g e u n d B e s t a n d t e i l d e r H e r a u s b i l d u n g u n d D u r c h s e t z u n g der k a p i t a l i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n ist. 1 2 D i e H e r a u s b i l d u n g der d e u t s c h e n N a t i o n setzte ein, a l s s i c h k a p i t a listische P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e z u verbreiten b e g a n n e n . Sie e n t s t a n d als h i s t o r i s c h e s Er!9 10

Otto Dann (Hrsg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 9. Eine Vorreiterrolle bei der Uberwindung traditioneller Fragestellungen der älteren bürgerlichen Geschichtsschreibung spielten die Arbeiten von Karl W. Deutsch, in denen die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung von Nationen betont wurde. Siehe Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge (Mass.) 1966; ders., Nationenbildung — Nationalstaat — Integration, Düsseldorf 1972. D a ß soziale Mobilität und Kommunikation ihrerseits nur als Begleit- und Folgeerscheinungen von wirtschaftlichen Prozessen zu verstehen sind, unterstreicht Miroslav Hroch, Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen sozialgeschichtlichen Forschung, in : Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, hrsg. von Theodor Schieder unter Mitwirkung von Peter Burian, München-Wien 1971, S. 141; siehe auch ders., Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968. — Wichtige Anregungen und neue Gesichtspunkte vermittelte der bürgerlichen Geschichtsschreibung auch Robert M. Berdahl, Der deutsche Nationalismus in neuer Sicht, in : Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus, Königstein/Ts. 1978, S. 138ff. (zuerst in: The American Historical Review, Jg. 77 [1972]).

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Otto Dann, Nationalismus und sozialer Wandel in Deutschland 1806—1850, in: Ders., Nationalismus und sozialer Wandel, S. 77 ff. ; Wolfgang Zorn, Sozialgeschichtliche Probleme der nationalen-Bewegung in Deutschland, in : Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, S. 97 ff. D a ß „bisher weniger die Vorbedingungen und der Funktionswandel als vielmehr bestimmte Erscheinungsformen des Nationalismus im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben", beklagt Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktion, in: Ders., Nationalismus, S. 6. Fragestellungen und methodischer Ansatz vor allem der Arbeit von Otto Dann führen über die traditionelle Behandlung der „deutschen Frage" in der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung hinaus. Vgl. Gerhard Ritter, Großdeutsch und kleindeutsch im 19. Jahrhundert, in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit (Festschrift für Siegfried A. Kaehler), hrsg. von Walter Hubatsch, Düsseldorf 1950, S. 177 ff. ; Erich Angermann, Die deutsche Frage 1806 bis 1866, in: Reichsgründung 1870/71, hrsg. von Theodor Schieder und Ernst Deuerlein, Stuttgart 1970, S. 9ff. ; Lothar Gall, Die „deutsche Frage" im 19. Jahrhundert, in: 1871 — Fragen an die deutsche Geschichte (Katalog der historischen Ausstellungen im Reichstagsgebäude in Berlin und in der Paulskirche in Frankfurt am Main aus Anlaß der hundertsten Wiederkehr des Jahres der Reichsgründung 1871), Berlin o. J., S. 19ff. Weitere Literaturhinweise bei Heinrich August Winkler ¡Thomas Schnabel, Bibliographie zum Nationalismus, Göttingen 1979.

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Vgl. Alfred Kosing, a. a. O. ; Walter Schmidt, Nation und deutsche Geschichte in der bürgerlichen Ideo-

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gebnis wirtschaftlicher, sozialer und ideologischer Prozesse und langwieriger Klassenkämpfe zwischen Bourgeoisie und Volksmassen einerseits und dem Feudaladel andererseits. Die entscheidende Grundlage für diese Entwicklung war die Ausbildung der Warenproduktion und des Warenaustausches, besonders die Herausbildung eines nationalen Marktes. Die ökonomischen Beziehungen der kapitalistischen Warenproduktion beschleunigten die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sie schufen die Grundlagen für die Entstehung zentralisierter Klasseninteressen, sie verstärkten die Tendenz zu politischer Zentralisation, sie förderten die Angleichung und Vereinheitlichung von Sprache und Kultur. Die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie war also die bestimmende Triebkraft der Nationsentwicklung. Neben dem sozialökonomischen ist der ethnische Faktor ein gleichermaßen konstitutives Element der Nation. Ethnische Spezifika, durch die Nationen sich voneinander unterscheiden, sind die Sprache sowie charakteristische Merkmale der Kultur, der Lebensweise, der Sitten, der Gebräuche, der Traditionen, der Mentalität und der Sozialpsyche. Die ethnischen Grundlagen für die spätere Herausbildung einer deutschen Nation begannen sich mit der Entstehung der deutschen Nationalität im frühen Mittelalter herauszubilden. Die ethnischen Faktoren bilden eine notwendige Seite der Nation 1 3 , aber bestimmend für den Prozeß der Nationsentstehung, für den historischen Typ der Nation, für ihren Klassencharakter und ihre Entwicklungsrichtung sind die sozialen Faktoren. Die Herausbildung der deutschen Nation setzte um die Wende vom 15. zum 16. Jh. ein, als kapitalistische Produktionsverhältnisse zu entstehen begannen. Einen wichtigen sozialpolitischen Anstoß zur Entwicklung einer deutschen Nation gab die frühbürgerliche Revolution in Deutschland von 1517 bis 1526. Ihre Niederlage und andere Faktoren hatten einen schweren Rückschlag für die kapitalistische Entwicklung und damit auch für den Prozeß zur Ausbildung einer bürgerlichen Nation zur Folge. Im 18. Jh. nahm die Entfaltung des Manufakturkapitalismus in mehreren deutschen Territorien einen beachtlichen Aufschwung. In der Philosophie, der Literatur und der Musik der Aufklärungszeit und der Klassik erlebte die Ausprägung einer fortschrittlichen bürgerlichen Nationalkultur einen Höhepunkt. Bedeutende Anstöße erhielt die kapitalistische Entwicklung in Deutschland durch die französische bürgerliche Revolution von 1789. Bewegungen der Volksmassen, unmittelbare militärische Einwirkung Frankreichs und die Erfordernisse des antinapoleonischen Befreiungskampfes erzwangen in verschiedenen deutschen Territorien, darunter in Preußen, die Einleitung liberaler bürgerlicher Reformen und damit den Beginn der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland. Wesentlich vorangetrieben wurde die Nationsbildung in Deutschland durch die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49. Trotz ihrer Niederlage bewirkte sie, daß zahlreiche noch bestehende Fesseln für die Entwicklung des Kapitalismus fielen. Mit der Bildung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates, dem Deutschen Reich, kam 1870/71 die Konstituierung der bürgerlichen deutschen Nation zum Abschluß. Eine prägende Funktion bei der Entstehung der bürgerlichen Nation übte die Bourgeoisie

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logie der BRD; Wolfgang Brandt, Zu Fragen der Entstehung und zum Inhalt der von Karl Marx und Friedrich Engels begründeten Theorie der Nation, Diss., Jena 1973. Die Gemeinsamkeit des Ethnischen wird von einigen Autoren — so von Alfred Kosiftg und Walter Schmidt — nicht in jedem Fall als unabdingbares konstitutives Element der Nation angesehen. Siehe Grundlagen des historischen Materialismus, Berlin 1976, S. 386; Walter Schmidt, Nation und deutsche Geschichte in der bürgerlichen Ideologie der BRD, S. 39; dagegen Helmut Bleiber, Eröffnung der 5. Konferenz der Fachkommission Geschichte der slawischen Völker der Historiker-Gesellschaft der DDR, in: Letopis, Reihe B, Bd. 31/1 (1984), S. 7.

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aus. Die von der ökonomischen und sozialen Entwicklung ausgehenden nationalen Zentralisierungstendenzen mußten im Klassenkampf durchgesetzt werden. Immanenter Bestandteil der Entstehung von Nationen ist die Ausbildung und Verbreitung von nationalem Bewußtsein. Produzent, Schöpfer von nationalem Bewußtsein ist die bürgerliche Intelligenz. Unter Anknüpfung an Elemente eines Bewußtseins ethnischer Besonderheit, die sich weit in die mittelalterliche Geschichte zurückverfolgen lassen, und in Fortführung von Ansätzen zur Ausbildung nationalen Denkens im 16. Jh. (Luther, die deutschen Humanisten) und im 17. Jh. (Klagen über deutsches Elend im und nach dem 30jährigen Krieg) erlebte die zweite Hälfte des 18. Jh. einen unverkennbaren Aufschwung nationaler Reflexionen und Bestrebungen. Im Mittelpunkt stand dabei die Klage über die territoriale Zerrissenheit Deutschlands. „Wir sind ein Volk, von einem Namen und [einer] Sprache, unter einem gemeinsamen Oberhaupt, unter einerlei unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu einem gemeinschaftlichen großen Interesse der Freiheit verbunden", schrieb der Publizist Friedrich Carl von Moser in seiner 1765 veröffentlichten Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist", „und so, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Rätsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereien, . . . kraftlos durch unsere Trennung, stark genug, um uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten." 1 4 Juristen, Historiker, Philosophen trugen vor allem zur Herausbildung und Erörterung nationaler Aspekte im politischen und staatsrechtlichen Denken bei. 15 Die Schriftsteller der Aufklärung, Klassik und Romantik leisteten mit ihrer Bereicherung der deutschen Nationalliteratur einen grundlegenden Beitrag zur Herausbildung einer deutschen nationalen Kultur. Das damit verbundene spezifisch nationale Anliegen manifestierte sich sinnfällig in den mit Lessing einsetzenden Bemühungen um die Schaffung eines deutschen Nationaltheaters. Besondere Bedeutung für die Entwicklung nationalen Denkens und Empfindens erlangten Johann Gottfried Herders Ideen über die Rolle von Völkern und Nationen in der Geschichte der Menschheit. 16 Seine Betonung ethnischer Elemente, vor allem von Sprache und Volksdichtung, als der für Nationen eigentlich konstitutiven Faktoren fand — ähnlich wie bei den staatlich unselbständigen Völkern Ost- und Südosteuropas — im territorialstaatlich zersplitterten Deutschland besonders große Resonanz. Das „So weit die deutsche Zunge klingt" als Antwort auf die Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?" im Gedicht Ernst Moritz Arndts 1 7 ist dieser Idee ebenso verpflichtet wie der Artikel 1 der Statuten des Bundes der Gerechten, des Vorläufers des Bundes der Kommunisten, in dem es heißt: „Der deutsche Bund der Gerechtigkeit besteht aus Deutschen; d. h. aus Männern, die der deutschen Sprache und Sitte angehören." 1 8 Einen bedeutenden Aufschwung erfuhr die Ausbildung nationalen Bewußtseins in Deutschland unter dem Einfluß der Französischen Revolution von 1789 und ihrer Folge14 15

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Friedrich Carl Moser, Von dem deutschen Nationalgeist, Frankfurt a. M. 1765, S. 5f. Vgl. Gerhard Schilfert, Zur Problematik von Staat, Bürgertum und Nation in Deutschland in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, Jg. 11 (1963), H. 3, S. 515ff. Vgl. zuletzt Maria Wawrykowa, Johann Gottfried Herder und die polnische Idee zur Philosophie der Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Germanica Wratislaviensia, Bd. 44 (1984), S. 101 ff.; siehe auch Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Wiesbaden 1961. Ernst Moritz Arndt, Gedichte, Berlin 1865, S. 233. Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materialien, Bd. 1, Berlin 1970, S. 93.

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Wirkungen. In besonderem Maße förderte das Erlebnis der napoleonischen Fremdherrschaft und des sich gegen sie entwickelnden nationalen Befreiungskampfes die weitere theoretische Ausarbeitung von deutschem Nationalbewußtsein. 1 9 Zum Zentrum der Hoffnungen bürgerlich und national denkender Männer wurde Preußen, dessen der bürgerlichen Umwälzung Raum gebende Reformen Voraussetzungen schufen, der Fremdherrschaft Paroli zu bieten. In Berlin hielt 1807/08 der Philosoph und einstige Parteigänger der französischen Jakobiner Johann Gottlieb Fichte seine „Reden an die deutsche Nation", hier wirkten um die Erweckung und Verbreitung nationalen Bewußtseins bemühte Männer wie Schleiermacher, Arndt und Jahn. Waren die in der Diskussion um den Nationalgeist engagierten Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sozusagen noch ganz unter sich geblieben, so bewirkte die historische Situation in Gestalt der napoleonischen Fremdherrschaft, daß nationale Töne nun eine Resonanz in breiteren Kreisen des Volkes fanden. 2 0 Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte erfaßte nationales Bewußtsein beträchtliche Teile des Bürgertums und erreichte wohl auch schon bäuerliche und frühproletarische Kreise. Die hochgespannten Erwartungen bürgerlichen Fortschritts und nationaler Einheit, von denen die deutschen Patrioten zur Zeit der Befreiungskriege erfüllt waren, zerschellten zunächst am Widerstand der restaurativen Politik von Fürsten und Adel, die im Befreiungskrieg gegen Napoleon die halbinsurrektionelle Volksbewegung vorübergehend als Bündnispartner akzeptiert, aber ihren Repräsentanten niemals die Dominanz überlassen hatten. Aber das Bestreben, die feudalen Zustände zu überwinden, bürgerliche Verhältnisse zu schaffen und — als wesentliche Teilaufgabe dieser Zielstellung — einen einigen deutschen Nationalstaat zu errichten, war auf Dauer nicht mehr zu unterdrücken, weder in der politischtheoretischen Reflexion noch in der politischen Praxis. Die Burschenschaften widmeten sich dieser Aufgabe unter den Studenten der deutschen Universitäten. Indem aus den Burschenschaften mehrere Generationen führender Politiker der liberalen und demokratischen und zum Teil auch der kommunistischen Strömung hervorgingen, spielten sie — um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen — die Rolle von Kaderschulen für die politischen Bewegungen, die die bürgerliche Umwälzung voranbrachten. Turner- und Sängervereine wurden zu Pflanzschulen und Pflegestätten bürgerlichen Fortschrittsstrebens und des diesem entspringenden und untergeordneten nationalen Verlangens nach einem staatlich geeinigten Deutschland. 21 Der Preß- und Vaterlandsverein und das von ihm initiierte Hambacher Fest 1832 erreichten mit ihrem auf ein demokratisch gestaltetes Deutschland zielenden Programm breitere Kreise des Volkes in West- und Südwestdeutschland. 19

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Helmut König, Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815, Teil 1, Berlin 1972, Teil 2, Berlin 1973; vergleiche auch Carl Brinkmann, Der Nationalismus und die deutschen Universitäten im Zeitalter der deutschen Erhebung, Heidelberg 1932, sowie Mathys Jolles, Das deutsche Nationalbewußtsein im Zeitalter Napoleons, Frankfurt a. M. 1936. Wolfgang von Groote, Die Entstehung des Nationalbewußtseins in Nordwestdeutschland 1790—1830, Göttingen 1955; Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985, S. 67f. Gedanken zur Nationalerziehung aus dem Vormärz, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Helmut König, Berlin 1959; Willi Schröder, Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit, Berlin 1967; Norbert Heise, Die Turnbewegung und die Burschenschaften als Verfechter des Einheits- und Freiheitsgedankens in Deutschland 1811 — 1847, phil. Diss., Halle 1965; Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808—1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984.

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Ein neuer, bemerkenswerter Impuls für die Verbreitung nationalen Bewußtseins in Deutschland ging von der sogenannten Rheinkrise 1840 aus. 22 Die Isolierung, in die Frankreich in den internationalen Verwicklungen um die orientalische Frage geraten war, entfachte eine nationale Erregung der französischen öffentlichen Meinung, die sich lautstark in die Forderung nach der Rheingrenze steigerte. Diese wirkliche oder vermeintliche Bedrohung deutschen Territoriums erregte nun ihrerseits die öffentliche Meinung in den deutschen Staaten. Vor allem in Preußen und in den süddeutschen Staaten wurden Bürgertum und Kleinbürgertum von einer Woge der nationalen Erregung erfaßt. Zahlreiche Lieder, in denen der Rhein als deutscher Strom besungen wurde, entstanden in dieser Zeit. Eine ähnliche Reaktion löste 1846 der vom dänischen König, der gleichzeitig Herzog von Schleswig und Holstein war, in einem offenen Brief vertretene Anspruch aus, die beiden Herzogtümer in den dänischen Gesamtstaat zu integrieren. Dieser Schritt stieß auf Ablehnung und Protest bei den Wortführern der deutschen antifeudalen Oppositionsbewegung. Eine Welle nationaler Erregung durchlief die Herzogtümer und darüber hinaus ganz Deutschland, Ihr Anliegen bestand darin, für Schleswig und Holstein eine Zukunft in dem nach Einheit strebenden deutschen Vaterland zu reklamieren. Bedeutende Anstöße für die Ausbildung und Verbreitung deutschen nationalen Bewußtseins gingen von der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49 aus. Anders als 1830/31 blieb die revolutionäre Bewegung nun nicht mehr auf einige deutsche Staaten beschränkt. Erstmalig erreichte sie eine gesamtnationale Dimension. Die Revolution wurde ein nationales Ereignis. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wurde ein gesamtnationales Parlament gewählt, auf das sich die Hoffnungen auf Konstituierung eines einigen deutschen Staates richteten. Die Herstellung der staatlichen Einheit war die zentrale Forderung der bürgerlichen Revolution in Deutschland. Sie wandte sich gegen die von Fürsten und Adel getragene und verteidigte, aus dem Feudalismus stammende staatliche Zersplitterung, die längst ein Hemmschuh für die Entfaltung bürgerlicher Verhältnisse geworden war. Die erstrebte Einheit war großdeutsch, d. h. unter Einschluß Deutsch-Österreichs, gemeint. 23 Die erste der von Karl Marx und Friedrich Engels im März 1848 formulierten „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" lautet: „Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt." 2 4 Die Einheit Deutschlands — wenn auch meist mit mehr föderativem Zuschnitt — vertrat auch die kleinbürgerlich-demokratische Bewegung. Ureigenstes ökonomisches und politisches Anliegen war der bürgerliche Nationalstaat für die Bourgeoisie. Zunächst strebten auch ihre Repräsentanten eine großdeutsche Lösung an. Gebunden an ihr Konzept eines Ausgleichs mit Fürsten und Adel, zu einer revolutionären Zerschlagung Preußens und Österreichs also nicht bereit und konfrontiert mit deren strikter Ablehnung eines Aufgehens in Deutschland, mehrten sich unter ihnen die Verfechter einer auf Preußen als Vormacht orientierten, den Ausschluß Deutsch-Österreichs in Kauf nehmenden kleindeutschen Lösung der Nationalstaatsbildung. Die Schaffung eines Nationalstaates, der alle deutschen Gebiete in sich vereinte, hätte das Zusammengehen von Bourgeoisie und revolutionärer Volksbewe22

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24

Manfred Püschner, Die Haltung der antifeudalen Opposition und insbesondere ihres dernokratisch-linksliberalen Flügels zur Rheinliedbewegung in den Jahren 1840 und 1841, Diss. A, Berlin 1984. Adolf Rapp, Großdeutsch — Kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815 bis 1914, München 1922; Heidrun von Möller, Großdeutsch und kleindeutsch. Die Entstehung der Worte in den Jahren 1848—49, Berlin 1937. Karl MarxjFriedrich

Engels, Werke, Bd. 5, Berlin 1959, S. 3.

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gung erfordert, eine Möglichkeit, die die Liberalen aus Furcht vor eben dieser Volksbewegung strikt ablehnten. Hier zeigte sich historisch zum ersten Mal, was noch mehrfach evident werden sollte, nämlich daß die deutsche Bourgeoisie nationale Belange bereitwillig preisgab, sobald diese mit der Sicherung ihrer Klasseninteressen in Konflikt zu geraten schienen. Die Niederlage der Revolution schloß das Scheitern des Versuchs einer demokratischen Nationalstaatsgründung ein. Aber trotz ihrer Niederlage war die Nachwirkung der Revolution so stark, daß ihre siegreichen Gegner sich genötigt sahen, die Rolle ihrer — wie Marx sich ausdrückte — Testamentsvollstrecker zu übernehmen. Der preußische Junker Bismarck 25 entwickelte und verwirklichte das Konzept einer Revolution von oben, ein Konzept, das sich Grundforderungen der Bourgeoisie einschließlich der Schaffung eines Nationalstaates zu eigen machte. Der deutsch-dänische Krieg 1864 und der preußisch-österreichische Krieg 1866 schufen wesentliche Voraussetzungen für die Bildung eines von Preußen dominierten Nationalstaats von kleindeutschem Zuschnitt. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 setzte den Schlußpunkt dieser Entwicklung. Die Gründung des Deutschen Reiches war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Ringens um einen einheitlichen deutschen Nationalstaat. Sie markiert das Ende der Periode der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland und zugleich-den Abschluß im Konstituierungsprozeß der bürgerlichen deutschen Nation. Platzmangel verbietet es, im einzelnen der Frage nach der Haltung der verschiedenen Klassen zur und in der nationalen Bewegung in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland nachzugehen. Aufmerksam gemacht wird darum hier nur auf einige Aspekte und Probleme, deren tiefere Reflexion und empirisch-faktische Prüfung bei näherer Beschäftigung mit diesem Thema unerläßlich scheinen. Was den Adel und speziell den Hochadel in Gestalt der regierenden Fürstenhäuser betrifft, so verkörperten sie jene rückwärtsgewandten, partikularistisch anationalen und antinationalen Kräfte, die dem bürgerlichen Fortschritt und dem darin eingeschlossenen Verlangen nach einem bürgerlichen Nationalstaat zunächst rigoros und entschieden im Wege standen. Das allmähliche Hineinwachsen der alten Feudalklasse in die kapitalistische Gesellschaft, das sich im Verlauf der bürgerlichen Umwälzung vollzog, schloß jedoch ein, daß das entschiedene Nein zu bürgerlichen Nationalstaatsforderungen nach und nach aufgegeben werden mußte. An seine Stelle trat teils erzwungene Tolerierung, teils zögernde Bejahung nationalstaatlicher Bestrebungen des Bürgertums. Im Hinblick auf die Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege hat Franz Mehring von „der stierköpfigen Hartnäckigkeit" der Junker gesprochen, „womit sie jedes Interesse der Nation zertreten, sobald es ihre Klasseninteressen gefährdet". 26 Die Revolution 1848/49 brachte ihrem lernfahigen Repräsentanten Otto von Bismarck bei, daß junkerliches Klasseninteresse die Berücksichtigung bourgeoiser Grundbedürfnisse einschließlich des Verlangens nach einem Nationalstaat erforderte. Revolution von oben in den sechziger Jahren des 19. Jh. und Reichsgründung 1870/71 markieren aber zweifellos nur den Schlußpunkt eines Prozesses, dessen Ingangkommen und Verlauf näherer Aufklärung bedürfen. Die Frage nach der Entwicklung des Verhältnisses von herrschender Adelsklasse und Nation bzw. nationaler Bewegung in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung zu stellen, erfordert auch, nach dem sachlich-politischen Gehalt zu 25 26

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Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985. Franz Mehring, Jena und Tilsit. Ein Kapitel ostelbischer Junkergeschichte, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1965, S. 7. Demokratie, Sozialismus

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fragen, der nationalen Gesten adlig-fürstlicher Provenienz im Vormärz wie etwa dem Walhalla-Bau durch Ludwig I. von Bayern oder der Förderung des Kölner Dombauprojekts durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen eigen war. 27 Lassen sich nationale Äußerungen solcher und anderer Art allein auf taktische Manöver zur Täuschung der Opposition reduzieren28, oder müssen sie auch als echtes Engagement ernst genommen und gewertet werden? Ist — um eine letzte diskussionswerte Frage hierzu zu formulieren — die übliche und absolut zutreffende negative Beurteilung des Deutschen Bundes als Einrichtung der deutschen Fürsten zur gegenseitigen Versicherung des Status quo nicht durch die Bemerkung zu ergänzen, daß trotz allem allein schon seine Existenz ein Faktum war, das der nationalen Bewegung der Vormärz- und Revolutionszeit nicht nur als Zielscheibe ihrer Kritik, sondern auch als vorgegebener und akzeptierter Operationsraum, als angenommener Rahmen diente, der mit neuem Inhalt auszufüllen war? Bedurfte es zur optimalen Gewährleistung der Sicherheitsinteressen der deutschen Fürsten dieses wenn auch noch so entfernten und kümmerlichen Anklangs an einen deutschen Gesamtstaat? Wieweit ist seine Gründung als Zugeständnis an die bürgerlich-nationale Bewegung zu begreifen? Daß die ökonomischen und politischen Bedürfnisse der Bourgeoisie der eigentliche Antrieb für die Herausbildung und Entwicklung der Nation waren, wurde bereits gesagt und am Beispiel der Option für die kleindeutsche Lösung auch auf die Bereitschaft dieser Klasse verwiesen, nationale Belange und Ziele preiszugeben, wenn diese mit Grundinteressen der Sicherung von Ausbeutung und Herrschaft zu kollidieren schienen. Auf die Ambivalenz bürgerlicher nationaler Bestrebungen und bürgerlichen Nationalbewußtseins im behandelten Zeitraum, eine Ambivalenz, die jedem von einer Ausbeuterklasse getragenen Fortschritt eigen ist, wird noch einzugehen sein. Alle diese kritischen Vorbehalte dürfen aber nicht den Weg zur Einsicht versperren, daß die Bourgeoisie der eigentliche Repräsentant der dem Feudalismus'gegenüber fortschrittlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung war, und, gestützt auf die antifeudale Potenz der Volksmassen, diese und mit ihr auch den bürgerlichen deutschen Nationalstaat durchsetzte und damit eine bedeutende historische Leistung vollbrachte, die als solche auch zu würdigen ist. Näherer Untersuchung bedarf die Frage, welche Gruppen der Bourgeoisie in welchen Regionen wann und in welchem Ausmaß nationale Forderungen entwickelten, aufnahmen und unterstützten. Ähnlich sind empirische Untersuchungen zur Verbreitung von nationalem Bewußtsein in kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten und in der Arbeiterklasse erforderlich. Wo und im einzelnen warum waren bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten fürstlich-patriarchalischer Tradition und Denkweise besonders verhaftet und zunächst wenig aufgeschlossen für bürgerlich-nationales Bewußtsein? Ist andererseits nationale Programmatik, wie sie auf dem Hambacher Fest 1832 und dann vor allem in der Revolution 1848/49 von der kleinbürgerlichrdemokratischen Bewegung vertreten wurde, aus autochthon-demokratischen Quellen gespeist? Wenn ja, wo liegt die Grenzscheide zwischen kleinbürgerlich-demokratischen und bourgeois-liberalen nationalen Programmpunkten und Bewußtseinsinhalten? Gehen wir davon aus, daß Demokratismus die Ausdrucksform spezifischer Interessen der 27

28

Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 133 ff. So die Erklärung für das obrigkeitliche Einstimmen in die Rheinliedeuphorie 1840/41 durch Manfred Päschner, a. a. O.; Ulrich Schulte- Wulwer, Die bildenden Künste im Dienste der nationalen Einigung, in: Jörg Jochen Müller (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. 2. Germanistik und deutsche Nation 1806—1848. Zur Konstituierung bürgerlichen Bewußtseins, Stuttgart 1974, S. 273ff.

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werktätigen Volksmassen ist, wären nationalistische, die legitimen Interessen anderer Völker mißachtende Haltungen und Forderungen, wie sie auch bei Achtundvierzigern vor allem aus dem gemäßigten Flügel des kleinbürgerlich-demokratischen Lagers anzutreffen sind, Anlaß zur Frage, inwieweit ihre Position wirklich als demokratisch zu qualifizieren ist. Allgemeiner formuliert geht es hierbei um das bis in unsere Gegenwart höchst aktuelle Problem, aus welchen sozialen Wurzeln, auf welcher Klassengrundlage nationalistische, das heißt auf die Unterdrückung anderer Völker gerichtete Ideologie und Politik wächst. Sind sie ausschließlich an bourgeoise Klasseninteressen zu binden, oder können sie auch aus kleinbürgerlicher Interessenlage gespeist sein? Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Nationalbewußtsein und Volksmassen, also Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern, ist zu beachten, daß das Nationalbewußtsein in der behandelten Zeit zwar unzweifelhaft und eindeutig bourgeois dominiert war, aber nicht auf bourgeoise Klasseninteressen allein zu reduzieren ist. 29 Nationales Bewußtsein im Kapitalismus ist zwar vorrangig, aber nicht nur Ideologie .im Dienste der kapitalistischen Ausbeuterklasse. In ihm reflektieren sich auch nationale Belange der werktätigen Schichten wie etwa deren Interesse an der Abschüttelung von oder der Bewahrung vor Fremdherrschaft, am Recht auf die Muttersprache und auf die spezifische ethnisch-kulturelle Eigenart. Nur dieser Tatbestand erklärt auch, warum Nationalbewußtsein Massenbewjaßtsein werden konnte. Die Erkenntnis und die Berücksichtigung auch dieser Seite, dieser Mehrschichtigkeit des Inhalts von bürgerlichem Nationalbewußtsein in der frühen deutschen Arbeiterbewegung wurden durch die unbestreitbare Tatsache erschwert, daß die Verbreitung von nationalem Bewußtsein und das Wecken nationaler Emotionen auch bereits in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung das Bewußtwerden der inneren sozialen Widersprüche erschwerten. Das Rühren der nationalen Trommel eignete sich vorzüglich zum Übertönen sozialer Dissonanzen. Dieser Umstand erklärt die „antinationale" Zuspitzung etwa in den Äußerungen des utopischen Arbeiterkommunisten Wilhelm Weitling zur nationalen Euphorie in Deutschland und in Frankreich während der Rheinkrise 1840/41. Weitling wandte sich entschieden gegen die nationale antifranzösische Agitation und warnte die Arbeiter davor, sich in der Frontstellung gegen ihre eigenen Ausbeuter irritieren zu lassen. Diese, so erklärte er den Arbeitern, stünden ihnen stets „fremder als der Kosak und der Franzose" 30 gegenüber. Der in der bürgerlichen Literatur als Beleg für eine angeblich antinationale Haltung von Marx und Engels und ihrer Anhänger viel zitierte Satz aus dem Kommunistischen Manifest: „Die Arbeiter haben kein Vaterland" 31 , zielt in gleicher Weise auf die Funktion von bürgerlichem Nationalbewußtsein als Schleier, der den Arbeitern den Blick auf den Klassengegensatz zur eigenen Bourgeoisie verwehrte.32 Die aus dem Jahre 1895 stammende Denunziation der Sozialdemokraten als vaterlandslose Gesellen durch Kaiser Wilhelm II. 33 , die einer im Bürgertum allgemein verbreiteten Auffassung entsprach, zeugt von totalem Unverständnis 29 30 31 32

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12*

Der Gedanke wird auch angedeutet bei Alfred Kosing, a. a. O., S. 261, 274. Zit. nach Manfred Püschner, a. a. O., S. 166. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 479. Den Weg von der Gleichsetzung von national und bürgerlich durch Repräsentanten des Bundes der Gerechten zur Bestimmung des dialektischen Verhältnisses von Internationalismus und jeweiliger nationalet Aufgabenstellung für die Mitglieder des Bundes der Kommunisten und die Arbeiterklasse insgesamt durch Marx und Engels untersucht neuerdings Walter Schmidt, Nationales und .Internationales im Bund der Kommunisten, in: ZfG, Jg. 34 (1986), H. 3, S. 230ff. Werner Conze/Dieter Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966, S. 9.

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für die internationalistische Haltung der revolutionären Arbeiterbewegung und von dem Bestreben, sie zu diskreditieren. Den historischen Sachverhalt erfaßt sie nicht. Ihn im einzelnen darzustellen, dem durchaus spannungsreichen Verhältnis von Arbeiterbewegung und nationaler Bewegung, der Beziehung von Sozialem und Nationalem im Selbstverständnis der proletarischen Bewegung und in ihrer praktischen Politik in der bürgerlichen Umwälzung und in der folgenden Zeit nachzugehen und durch solide Forschungen weiter zu erhellen, ist eine Aufgabe, die nicht der bürgerlichen Geschichtsschreibung34 überlassen bleiben kann. Was Marx und Engels betrifft, so ist hinreichend bekannt, welchen Anteil sie an nationalen Bewegungen — etwa der Iren und der Polen — nahmen, sofern sie nicht die Geschäfte der politischen Reaktion beförderten. Daß ihre internationalistische Position sie nicht hinderte, zugleich auch als deutsche Patrioten zu empfinden und zu handeln, dafür bietet ihr Leben Belege in Hülle und Fülle. Die Beweiskette, die dazu abzurollen wäre, könnte mit dem Verweis auf ihren praktisch-politischen persönlichen Einsatz für die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts in Deutschland zum Beispiel in der Revolution 1848/49 beginnen und brauchte mit der Erinnerung an die vertraulich-spaßhafte, aber doch wohl aus tieferen Bewußtseinsquellen gespeiste Bemerkung des alten Engels aus dem Jahre 1893 noch lange nicht aufzuhören, die da lautet: „Ich werde es dem Bismarck nie verzeihen, daß er Österreich aus Deutschland ausgeschlossen hat, schon der Wienerinnen wegen." 35 Die Tatsache, daß von deutschem Boden im 20. Jh. zwei imperialistische Weltkriege ausgingen, vor allem aber das Phänomen der Naziherrschaft und der von ihr begangenen Verbrechen haben zahlreiche Historiker, Politiker und Publizisten veranlaßt, die deutsche Geschichte nach Quellen und Ursachen dieser Erscheinungen zu befragen. Dabei sind keineswegs nur vereinzelt sehr weitreichende Thesen formuliert worden, die die Ursprünge des deutschen Faschismus schon in der ältesten Geschichte entdeckt haben wollten. Da wurden Linien von Luther zu Hitler konstruiert oder sogar die germanischen Stämme wegen der Blutrünstigkeit ihrer Heldensagen in die Vorgeschichte des Faschismus gestellt. Vor allem aber diente der Konstituierungsprozeß der deutschen Nation und besonders die ihm immanente Ausbildung eines deutschen nationalen Bewußtseins in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung als Arsenal, in dem nach Beweismaterial für die These einer angeblich seit eh und je vorhandenen und direkt zum Faschismus hinführenden besonders nationalistischaggressiven Wesensart der Deutschen gesucht wurde. 36 Nun ist es tatsächlich nicht schwer, in den Schriften von Protagonisten der deutschen Nation Belege für eine vermeintliche oder wirkliche nationale Selbstüberhebung zu finden.37 34

Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat 1867—1907, Wien 1963; ders., Sozialismus und Nation, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stuttgart 1976, S. 653ff.; ders., Die sozialistische Arbeiterbewegung und die nationale Frage in der Periode der I. und II. Internationale, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus, S. 85ff.; Hans-Ulrich Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat, Würzburg 1962.

35

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd.- 39, Berlin 1968, S. 113. Auf der Auswertung vor allem von Zeitungen und Zeitschriften der ersten Nachkriegsjahre fußend Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Große"? Wagner? Nietzsche? Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945—1949, München 1983. A ira Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, Helsinki 1956; ders., Die historische Sendung der Deutschen in Leopold von Rankes Geschichts-

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Fichte zum Beispiel war zutiefst von der Idee einer besonderen kulturellen Mission der Deutschen für die Menschheit durchdrungen. In der Deutschtümelei vieler Patrioten der Befreiungskriegszeit nahm das gegen die napoleonische Fremdherrschaft gerichtete legitime nationale Anliegen teilweise skurrile Formen der Übersteigerung an. 38 Gegen Versuche, in solchen Erscheinungen den Ausdruck eines nur der deutschen Geschichte eigenen Trends zur Überbewertung des Nationalen zu sehen, spricht die Tatsache, daß Überhöhungen der Rolle der eigenen Nation keineswegs nur im deutschen bürgerlichen Nationalbewußtsein zu beobachten sind.39 Die Übersteigerung nationalen Selbstbewußtseins, die Vorstellung, eine besondere Rolle in der Menschheitsgeschichte übertragen bekommen zu haben, scheint vielmehr ein verbreitetes, dem bürgerlichen Nationsbildungsprozeß generell eigenes Phänomen zu sein. Die französische und die englische Version, die grand nation zu verkörpern bzw. God's own people zu sein, stehen — um nur auf einige außerdeutsche Beispiele zu verweisen — für diese Ansicht ebenso wie bestimmte Aspekte im russischen Panslawismus oder der polnische Messianismus. Was die Äußerung von deutschem bürgerlichem Nationalbewußtsein — und sei es auch in Form nationalistischer Übersteigerung — betrifft, so ist zu ihrer Beurteilung und Einordnung historisches Herangehen unerläßlich. Eine solche Methode erfordert, den Gegenstand aus den Bedingungen seiner Zeit heraus zu begreifen und vor allem nach seiner Funktion innerhalb dieser Bedingungen zu bewerten. Der entscheidende Aspekt, von dem aus deutsches Nationalbewußtsein in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung beurteilt werden muß, ergibt sich aus dem Charakter jener Epoche. Nationsbildung und damit Nationalbewußtsein waren Ausdrucksformen eines historisch notwendigen und progressiven Prozesses, des Aufstiegs und der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Es ergibt sich unvermeidlich ein verzerrt negatives Bild, wenn die Erscheinungsformen nationalen Denkens und Fühlens jener Jahre aus diesem Zusammenhang gelöst und ausschließlich oder vorwiegend durch die Brille der Erfahrung faschistischen Mißbrauchs betrachtet werden. Die historisch progressive Funktion der Ausbildung und Verbreitung von deutschem Nationalbewußtsein in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung betonen, heißt nicht, den ambivalenten Charakter von bürgerlichem Nationalbewußtsein zu übersehen. Er ergibt sich aus der Tatsache, daß bürgerliches Nationalbewußtsein vorrangig vom Klasseninteresse der jeweiligen nationalen Bourgeoisie bestimmt wird, einer Klasse also, deren Ausbeuterund Herrschaftsinteresse sich nicht nur gegen die Werktätigen der eigenen Nation, sondern zumindest potentiell stets auch gegen andere Nationen richtet. Schillers Vision „Alle Menschen werden Brüder", die Idee der Völkerverbrüderung, wie Aufklärung und Klassik sie vertraten, erwiesen sich in dem Maße, wie die bürgerlich-kapitalistische Ordnung gesellschaftliche Realität wurde, als humanistisch-demokratischer Anspruch, dem diese Ordnung nicht genügen konnte. An die Stelle von Weltbürgerlichkeit und Völkerverbrüderung trat betontes Nationalstaatsdenken, dem die Belange der eigenen Nation, ihre Stärke und Macht, ihre Geltung gegenüber oder vor anderen Nationen obenan standen. Als exemplarisch für dieses direkt an den ökonomischen und politischen Entfaltungsdenken, Helsinki 1968; Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist 38

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des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1961. Rolf Weber, Einleitung, in: Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen 1769—1815, hrsg. von Rolf Weber, Berlin 1985, S. 28. Beispiele dazu bei Eugen Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950.

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bedürfnissen der eigenen Bourgeoisie orientierte nationale Denken kann das Nationalstaatskonzept Friedrich Lists gelten.40 Die Sonderinteressen nationaler Minderheiten wie der Polen und der Tschechen wurden in den deutschen bürgerlichen Nationalstaatskonzepten in der Regel ignoriert. Früher einmal zum Deutschen Reich gehörende ethnisch deutsche oder verwandte Gebiete, die abgetrennt wurden oder abgefallen waren, wie etwa das Elsaß oder die Niederlande, wurden häufig als natürliche Bestandteile des erstrebten deutschen Nationalstaates angesehen, ohne die Frage nach dem Wollen der betroffenen Bewohner auch nur zu stellen.41 Alles dies sind Zeugnisse für bürgerlichen Nationalismus in der Aufstiegsphase der deutschen Bourgeoisie, eines, wenn man so will, normalen Nationalismus, der keineswegs nur der deutschen Entwicklung eigen war und der nicht vorrangig von der Funktion von bürgerlichem Nationalismus im Imperialismus her beurteilt werden darf. Wenn nach Besonderheiten der deutschen Entwicklung im 19. Jh. gefragt wird, ist, was die Ausprägung von nationalem Bewußtsein betrifft, zumindest im Vergleich zur französischen Geschichte auf die spezifischen Wirkungen hinzuweisen, die vom insgesamt reformerischen Wege der bürgerlichen Umwälzung ausgingen. Während in Frankreich Ausbildung und massenhafte Verbreitung von Nationalbewußtsein durch die Revolution von 1789—1795 geprägt wurden — was keineswegs heißt, daß französisches Nationalbewußtsein nicht die Ausbeuter- und Herrschaftsinteressen der französischen Bourgeoisie bedient hätte —, konnte in Deutschland die Revolution von 1848/49 keine ähnlich dominierende Rolle spielen. Vielmehr ist für die meisten Phasen deutscher Geschichte, von denen besondere Impulse für die Entwicklung von nationalem Bewußtsein ausgingen, das den Reformweg kennzeichnende Zusammenwirken von Bourgeoisie und Adel bei zumindest formeller Dominanz des letzteren typisch. Das gilt für 1812/13, für 1840 und für die Zeit der Einigungskriege. Besonders die Tatsache, daß der Junker Bismarck und die preußische Armee die Vollstreckerrolle bei der Schaffung des deutschen Nationalstaats übernahmen, hinterließ deutliche Zeichen im nationalen Bewußtsein der Deutschen. Sicher besteht zwischen Demokratie und bürgerlicher Nation grundsätzlich ein Spannungsverhältnis, das nur in relativ kurzen Phasen siegreicher bürgerlicher Revolutionen aufgehoben zu sein scheint. Die Spezifik der bürgerlichen Umwälzung und der Entstehung der bürgerlichen Nation in Deutschland hatte zur Folge, daß demokratische Elemente im Inhalt des deutschen Nationalbewußtseins keinen größeren Raum einnehmen konnten 42 Die preußische Prägung des bürgerlichen deutschen Nationalstaates, insbesondere die Verherrlichung und die Hypertrophierung alles Militärischen, teils ein Erbe älterer preußischer Geschichte, noch mehr Folge der Rolle dreier siegreicher Kriege in der unmittelbaren Entstehungsgeschichte des Reiches, erwiesen sich als Belastung für seine künftige Geschichte. Die Erfahrung, daß drei von Preußen bzw. unter seiner Führung gewonnene Kriege bewirkten, woran die bürgerlich-demokratische Revolution gescheitert war, verlieh auch dem nationalen Bewußtsein zahlreicher deutscher Zeitgenossen jener Ereignisse sowie kommender Generationen eine Spezifik, die im 20. Jh. von diversen imperialistischen Scharfmachern für ihre Aggressionspolitik mißbraucht werden konnte. 40 41

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Friedrich List, Das nationale System der Politischen Ökonomie, Stuttgart-Tübingen 1841. Vgl. Günter Wollstein, Das „Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977; ders., Mitteleuropa und Großdeutschland — Visionen der Revolution 1848/49. Nationale Ziele in der deutschen Revolution, in: Die deutsche Revolution von 1848/49, hrsg. von Dieter Langewiesche, Darmstadt 1983, S. 237ff. Alfred Kosing, a. a. O., S. 276f.

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Neben der häufig betonten Überbewertung alles Militärischen ist auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen, von dem belastende Fern Wirkungen für die künftige deutsche Geschichte ausgingen. Heinrich Scheel hat am Beispiel der deutschen Jakobiner darauf hingewiesen, daß der Begriff des Nationalen zunächst eindeutig antifeudalen Inhalts war und seine Verwendung einer revolutionären Absicht, nämlich „der Verbreitung bürgerlichdemokratischer und republikanischer Gesinnung" 43 Ausdruck gab, daß aber auch sehr früh Bemühungen der Reaktion einsetzten, den Begriffen Nation und Patriotismus einen anderen, ihr genehmen Sinngehalt zu geben. Die Einigung Deutschlands auf dem Wege einer Revolution von oben ermöglichte es schließlich den politischen Repräsentanten der herrschenden Ausbeuterklassen, diese als die Inkarnation nationaler Grundinteressen auszugeben. Die Okkupation des Nationalen durch den junkerlich-großbourgeoisen Ausbeuterblock, die wachsende Verbindung von national einerseits und konservativ-reaktionär andererseits erschwerten es zweifellos der Arbeiterbewegung, sich ihrerseits entschieden und überzeugend des Nationalen zu bemächtigen und sich selbst als Hauptrepräsentanten nationaler Interessen darzustellen. Trotz wichtiger" politischer und propagandistischer Schritte und Bemühungen gegen das Versailler Diktat 44 gelang es der KPD in den Jahren der Weimarer Republik nicht, in einem solchen Maße auch als Wahrerin nationaler Belange Anerkennung zu finden, wie es erforderlich gewesen wäre, um die nationale Demagogie der Nazis unwirksam zu machen. Sind also verschiedene negative, die künftige Entwicklung belastende Wirkungen der Art und Weise deutscher Nationalstaatsbildung als sicher zu konstatieren, so ist doch entschieden Einspruch zu erheben gegen eine ungerechtfertigte Überbewertung solcher Wirkungen bis hin zur Konstruktion einer direkt zum Faschismus führenden Kausalkette, wie sie von bürgerlichen Historikern häufig vorgetragen wurde. 45 Auch die bei ihren einzelnen Vertretern oft ganz unterschiedlich motivierte These, wonach der einheitliche bürgerliche deutsche Nationalstaat eine historische Fehlentwicklung gewesen sei, weil die Mehrstaatlichkeit nun einmal einen Grundzug der deutschen Geschichte darstelle, wird dem progressiven Inhalt der von der antifeudalen Oppositionsbewegung erstrebten und schließlich erzwungenen Bildung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates nicht gerecht. Die nach 1945 entstandene Situation der Spaltung Deutschlands als Anlaß zu benutzen, um den im 19. Jh. gegründeten deutschen Nationalstaat grundsätzlich in Frage zu stellen46,

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Heinrich Scheel, Über das Verhältnis von Nation und Revolution, a. a. O., S. 305. Vgl. Fritz David}Eckhard Trümpierj Walter Wimmer, Gedanken über das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, in: BzG, Jg. 5 (1963), H. 4, S. 605; Wolfgang Rüge, Das Ende von Weimar. Monopolkapital und Hitler, Berlin 1983, S. 85 ff. Zur „Theorie" vom deutschen Sonderweg siehe Konrad Irmschler, „Deutscher Sonderweg" und bürgerliche Umwälzung in Deutschland — Aspekte einer aktuellen Diskussion in der bürgerlichen Historiographie, in: Gesellschaftliche Umgestaltungen in der Geschichte. Wege und Formen, Führungs- und Triebkräfte. Diskussionsbeiträge aus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in den Arbeitskreisen des VII. Historiker-Kongresses der DDR vom 6 . - 9 . Dezember 1982 in Berlin. Thematische Information und Dokumentation der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Reihe B, H. 36, S. 107 ff. ; Walter Schmidt, Rezension zu David Blackbourn/Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt a. M./ (West-)Berlin/Wien 1980, in: ZfG, Jg. 31 (1983), H. 12, S. 115f. Siehe zum Beispiel Wolfgang Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in : Moderne deutsche Sozialgeschichte, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln 1976, S. 407.

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ist ein Verfahren, das den Blick auf die historische Realität eher trübt als erhellt. Mit Bezug auf die N a t i o n ist sehr richtig betont worden, d a ß es zu deren Wesen gehört, eine hohe Stabilität zu besitzen, und daß es außergewöhnlicher U m s t ä n d e bedarf, u m ihren historisch gewordenen Bestand in Frage zu stellen, U m s t ä n d e , die nicht allein im Innern der N a t i o n , sondern in der epochalen D i m e n s i o n und der Internationalisierung der Klassenauseinandersetzung in unserer Zeit zu suchen sind. 4 7 Nicht der Rückgriff auf die Geschichte des K a m p f e s u m Einheit und Freiheit und des Bismarckreiches im 19. Jh., sondern die Analyse der Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus im 20. Jh. erklärt vor allem die Entstehung des deutschen Faschismus und die im Ergebnis seiner Niederschlagung festgelegten konkreten Modalitäten der Teilung Deutschlands. V o n der heutigen Existenz v o n zwei — oder wie m a n c h e bürgerliche Historiker unter Einschluß Österreichs meinen: drei 4 8 — Staaten auf d e m B o d e n des historischen Deutschlands ausgehend, Partikularismus und Föderalismus zu den durch die Nationalstaatsbildung nur vorübergehend gestörten Konstanten der deutschen Geschichte zu erklären 4 9 , ist ein problematisches Verfahren, weil es — unabhängig v o n seiner M o t i v a t i o n — ein P h ä n o m e n unserer historischen Vergangenheit ins N o r m a l e u n d Positive wendet, das Jahrhunderte hindurch den gesellschaftlichen Fortschritt in Gestalt der bürgerlichen Ordnung behinderte. In der objektiven Aussage und jedenfalls bei d e m B R D - H i s t o r i k e r Michael Stürmer 5 0 47

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Günter Benserr Sozialistische Nation und nationale Politik in der Geschichte der DDR. Bemerkungen zu Forschungs- und Diskussionsfragen, in: Zur Formierung der sozialistischen deutschen Nation ( = Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Thematische Information und Dokumentation, Reihe A, H. 42), Berlin 1984, S. 31 f. Karl Dietrich Erdmann, Drei Staaten — zwei Nationen — ein Volk? Überlegungen zu einer deutschen Geschichte seit der Teilung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 36 (1985), H. 10, S. 671 ff. „Deutsche Geschichte, gesehen nicht als zwangsläufige Entwicklung zur deutschen Einheit, sondern als Entfaltung der deutschen Vielfalt, die allerdings von dem Machtstreben eines dieser Teile mit offener Gewalt in kriegerischen Unternehmungen unterbrochen worden war — eine solche Betrachtung der deutschen Geschichte läßt die Geschehnisse nach 1945, die neue Teilung Deutschlands in drei Staaten, in einem ganz anderen Lichte sehen, im Lichte einer Rückkehr zu einer unterbrochenen Entwicklung, einer Rückbesinnung auf den ursprünglichen Weg der deutschen Geschichte, einer Vielfalt der Realisierungen einer deutschen Nation." So Fritz Fellner, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Heinrich Lutz und Helmut Rumpier, Wien 1982, S. 58. Die Aufwertung deutscher Kleinund Mittelstaatlichkeit ist der Grundgedanke der Arbeit von Helmut Rumpier, Die deutsche Politik des Freiherrn von Beust 1848—1850. Zur Problematik mittelstaatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Paulskirche, Wien-Köln-Graz 1972; ders., Föderalismus als Problem der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts (1815—1871), in: Der Staat, Jg. 16 (1977), S. 215ff. Siehe auch MichaelDerndarsky, Österreich und der deutsche Bund 1815—1866, in: Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, S. 116; sowie Wolf D. Gruner, Die deutsche Frage. Ein Problem der europäischen Geschichte seit 1800, München 1985, und Heinrich Lutz, zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815—1866, Berlin (West) 1985. Michael Stürmer, Nationalstaat und Massendemokratie im Mächtesystem 1848 oder die Geburt des Dilemmas, in: Die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Josef Becker und Andreas Hillgruber, München 1983, S. 37ff. Der Verfasser ist bestrebt, die gegenwärtige Sorge um die Erhaltung des Friedens gegen die daijialige revolutionäre Demokratie zu mobilisieren, indem er darauf verweist, daß ein zerteiltes Deutschland seit dem Beginn der Neuzeit die Voraussetzung des europäischen Kräftegleichgewichts gewesen sei, und daran die Überlegung knüpft, daß eine durch eine siegreiche Revolution in der Mitte des 19. Jh. erfolgte „Nationalstaatsgründung von unten vermutlich dem europäischen Großkrieg nicht hätte ausweichen können" (S. 48).

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auch in der subjektiven Absicht richtet sich diese Aufwertung des Partikularismus gegen Anliegen und Zielstellung der gesamten antifeudalen Oppositionsbewegung in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung. An derart unhistorischen Betrachtungen hat sich die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung der DDR nie beteiligt. Festzustellen aber ist auch in manchen marxistischen Arbeiten eine Tendenz zu hyperkritischer Beurteilung der Reichsgründung, zur Negierung oder Geringschätzung der mit ihr gewonnenen neuen Möglichkeiten für den historischen Fortschritt. Für die deutsche Arbeiterklasse war die Reichsgründung keineswegs „belanglos" 51 , sondern höchst bedeutungsvoll, weil sie den nationalen Rahmen für eine beschleunigte kapitalistische Entwicklung und für ihren Kampf um Demokratie und Sozialismus schuf. Als vorausschauende Skizzierung des Schicksals des 1871 gegründeten Reiches wird öfter Wilhelm Liebknechts Stellungnahme aus dem Jahre 1872 zitiert: „Auf dem Schlachtfelde geboren, das Kind des Staatsstreichs, des Krieges und der Revolution von oben, muß es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich, von Krieg zu Krieg eilen und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen." 52 Häufig wird diese Aussage als weitsichtige Prognose des Weges Deutschlands in den ersten und zweiten Weltkrieg verstanden. Eine solche Interpretation ist insofern einseitig, als sie die von Liebknecht formulierte mögliche und von der revolutionären Sozialdemokratie erstrebte Perspektive einer siegreichen „Revolution von unten" außer acht läßt 53 und in letzter Konsequenz ebenfalls einen kausalen Zusammenhang zwischen Reichsgründung und imperialistischem Krieg nahelegt. Die Entfesselung von zwei Weltkriegen durch den deutschen Imperialismus kann aber ebensowenig ursächlich und vorrangig auf die Besonderheiten deutscher Nationalstaatsbildung und deutschen Nationalbewußtsein im 19. Jh. zurückgeführt werden wie die Tatsache, daß es 1918/19 nicht gelang, die antiimperialistisch-demokratische in eine proletarische Revolution überzuleiten. Entscheidend für die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus war nicht die Vereinbarung zwischen Bourgeoisie und Adel im 19. Jh., sondern die Tatsache des Zuspätgekommenseins bei der Aufteilung der Welt. Die Wertung negativer historischer Traditionen als bestimmender Faktor für den besonders aggressiven Charakter des deutschen Imperialismus läuft in der Konsequenz auf eine Entlastung der Monopolbourgeoisie von ihrer Verantwortung für imperialistische Kriege und Faschismus hinaus. 54 Entscheidend für das Versäumen der historischen Chance, die Novemberrevolution

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Karl Lärmer, Zur Problematik der Periodisierung der Geschichte der Produktivkräfte im 19. Jahrhundert, in: Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutschland in der Zeit der Industriellen Revolution, hrsg. von Karl Lärmer, Berlin 1979, S. 41. Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872. Neu herausgegeben von Karl-Heinz Leidigkeit, Berlin i960, S. 256f. Vgl. etwa Engels' Bemerkung aus dem Jahre 1891: „Und wir haben nicht die 1866 und 1870 gemachte Revolution von oben wieder rückgängig zu machen, sondern ihr die nötige Ergänzung und Verbesserung zu geben durch eine Bewegung von unten." Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 236. Zu den Beziehungen zwischen Ökonomie, Politik und Staat in Deutschland seit dem Ausgang des 19. Jh. siehe Helga Nußbaum!Lotte Zumpe (Hrsg.), Wirtschaft und Staat in Deutschland. Eine Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945, Bd. 1 und 2, Berlin 1978, Bd. 3, Berlin 1980; Kurt Goßweiler, Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914—1932, Berlin 1971; Willibald

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1918/19 zu einer proletarischen Revolution weiterzuführen und einen sozialistischen deutschen Nationalstaat zu errichten, in den mit großer Wahrscheinlichkeit auch das deutsche Österreich eingegangen wäre, waren vorrangig die Stärke der Arbeiteraristokratie und der Einfluß des Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Erscheinungen also, die nicht auf die Geschichte des 19. Jh. zurückgeführt werden können, sondern typische Produkte imperialistischer Entwicklung seit den 90er Jahren sind. Nicht in Besonderheiten des deutschen Nationalbewußtseins, sondern in den inneren und äußeren systemimmanenten Bedingungen des deutschen Imperialismus sind die wichtigsten Wurzeln für die bestimmenden Züge und Elemente politischen und sozialen Geschehens in Deutschland nach der Wende vom 19. zum 20. Jh. zu suchen.

Gutsche, Monopole, Staat und Expansion vor 1914. Zum Funktionsmechanismus zwischen Industriemonopolen, Großbanken und Staatsorganen in der Außenpolitik des Deutschen Reiches 1897 bis Sommer 1914, Berlin 1986; Wolfgang Rüge, a. a. O.

ERNST ENGELBERG

Sozialisten und Demokraten am Vorabend des Krieges von 1866

Im Herbst 1865 trat die „Volkskrisis", die der sozialreformerische Demokrat Friedrich Albert Lange schon vorausgesagt hatte, in ihr akutes Stadium. Sie äußerte sich als Krise nahezu aller Parteien, die nun vor neuen Entscheidungen standen: Da mußte sich die liberale Fortschrittspartei fragen, inwieweit und auf welche Weise sie ihren während des Heeres- und Verfassungskonflikts gewonnenen Anhängern eine Politik des Kompromisses mit Bismarck zumuten konnte, die nicht auf den Sturz des Konfliktministers abzielte, sondern darauf hinauslief, ihm bei der Annexion Schleswig-Holsteins und der Einigung des Zollverein-Deutschlands die Führung zu überlassen. Und sollten die Konservativen weiterhin mit Bismarck durch dick und dünn gehen, wenn dieser von den Prinzipien der legitimistisch-dynastischen Solidarität abwich und den Liberalen allzu viele national- und wirtschaftspolitische Konzessionen machte? Schließlich mußten die im lassalleanischen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) organisierten Sozialdemokraten entscheiden, ob sie ihre Politik der Annäherung an Bismarck weiter verfolgen sollten. Der Streit um diese Frage brachte den ADAV bis an den Rand der Auflösung. Von der Fortschrittspartei wandte sich damals eine beachtliche Zahl jener proletarischen Anhänger ab, die während der Streikkämpfe des Jahres 1865 viele Liberale als Interessengegner kennengelernt hatten; entweder wurden sie politisch passiv, oder sie versuchten, sich neu zu orientieren. Vertraute Bismarcks, wie der konservative Publizist und im Frühjahr 1866 zum Regierungsrat avancierte Hermann Wagener, ebenso der in Geheimdienstsachen zuständige Oberregierungsrat Zitelmann, haben einige Vorgänge in Arbeiterkreisen beobachtet und politisch zu nutzen versucht. Zitelmann erhielt im Januar 1866 einen Bericht, in dem bei Arbeitern und Handwerkern Interesselosigkeit an politischen Fragen vermerkt wurde. Die Führer der Fortschrittspartei seien darüber ganz ratlos.1 Und in einem Geheimbericht vom 1. Februar 1866 hieß es in ähnlicher Weise, daß allgemeine Vorträge über Revolutionsgeschichte die Zuhörer nicht mehr in Begeisterung bringen könnten. Der Berichterstatter kam auf den Kern der Sache, wenn er schrieb: „Es gibt jetzt in der Tat weder einen Abgeordneten noch irgendeinen Agitator, der ein bestimmtes Ziel vor Augen hätte, auf das man hinzuarbeiten habe. Hierzu kommt noch die große Uneinigkeit, die in der Opposition selbst herrscht und sich auch in der Masse der Urwähler bemerklich macht. Im allgemeinen herrscht unter diesen aber eine auffallende Ruhe, die zwar keine Gewitterschwüle, aber auch nicht recht zu erkennen, ob sie völlige Resignation oder nur augenblickliche Abspannung ist." 2 Es gab aber auch andere, 1 2

Zentrales Staatsarchiv Merseburg Rep. 92, Nachlaß Zitelmann, Mappe 78, Bl. 18, 20, 27. Ebenda, Bl. 30.

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von der Fortschrittspartei enttäuschte Arbeiter, die nicht resignierten, sondern sich radikalisierten, indem sie vom Liberalismus zur kleinbürgerlichen Demokratie übergingen, sich also der Volkspartei anschlössen. Es zeigte sich jene Labilität in der Stimmung der Massen, die sich selbst in revolutionären Zeiten dann bemerkbar macht, wenn keine zielbewußte und willensstarke Führung vorhanden ist. Das erfuhr auch ein solches Revolutionsgenie wie Lenin, der in bestimmten Phasen des Jahres 1917 das Auf und Ab in der Stimmung der Massen mit äußerster Aufmerksamkeit beobachtete und darauf politisch und organisatorisch mit Energie reagierte. 3 Wer aber sollte nun die von der Fortschrittspartei enttäuschten Arbeiter führen? Das fragten auf ihre Art auch die Geheimagenten der preußischen Regierung. Ihrer Feststellung, „daß die Arbeiter den Liberalen immer mehr aus der Hand gleiten", fügten sie hinzu: „eine geschickte konservative Agitation könnte die Arbeiter in andere Bahnen lenken". 4 Bismarck und sein damals engster sozialpolitischer Berater, Hermann Wagener, wußten natürlich, daß dieser Rat nicht realistisch war. Aus junkerlichen Besitzaristokraten wurden nun eiiimal keine Volkstribunen. Auf die bewegte Klage in einem Geheimbericht, daß es „den Konservativen überall an aufmunternden Agitatoren fehlt", schrieb Bismarck mit seinem berühmten Zimmermannsbleistift in einer Randbemerkung: „Es liegt zum Teil daran, daß die Conservativen meist Leute sind, die ihre eigenen regelmäßigen Geschäfte und deshalb wenig Zeit zu Agitationen haben, auch daran, daß sie zwar ehrbar und ruhig, aber weniger eifrig sind." 5 Von allen besitzenden Klassen waren die konservativen Junker von ihrem sozialen und seelisch-geistigen Habitus her am wenigsten geeignet, Massenagitation zu betreiben. Für dieses politische Geschäft war Bismarck bei näherem Umsehen auf die Lassalleaner und auf einige mit diesen verbundene Demokraten verwiesen. Hatte er doch schon Anfang der fünfziger Jahre erkannt, daß diejenigen, die ihren Kampf fast ausschließlich gegen die Bourgeoisie führten, zu gegebener Zeit sehr wohl seine Verbündeten werden könnten. Als er dann Anfang 1866 erfuhr, daß sich der lassalleanische „Social-Demokrat" in verzweifelten Geldschwierigkeiten befände 6 , war es bei Bismarcks politischem Stil naheliegend, sich dieses Organ durch entsprechende Geldmittel zu verpflichten. In der Tat ist es heute erwiesen, daß J. B. von Hofstetten, der Mitherausgeber und Mitbesitzer des „Social-Demokrat", am 6. April 1866 von Bismarck ein unverzinsliches Darlehen von 2500 Talern erhielt. Dies geschah in eben den Tagen, da Bismarck mit seinem Antrag im Bundestag, wonach ein deutsches Parlament auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts einberufen werden sollte, vor die deutsche und internationale Öffentlichkeit trat. Ohnehin gehörte dieses Wahlrecht von Anfang an zu den Hauptlosungen der lassalleanischen Propaganda. Der wegen Preß Vergehens und sogenannter Friedensstörung im November 1865 verurteilte Johann Baptist v. Schweitzer, der führende Kopf der Lassalleaner, konnte bereits im Gefängnis, aus dem er sehr bald entlassen wurde, seine Artikelserie verfassen, die den Leser mit äußerstem Geschick an die Bismarcksche Politik der Revolution von oben heranführte und auf diese einstimmte. 3 4 5 6

W. I. Lenin, Werke, Bd. 15, S. 298. Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 92, Nachlaß Zitelmann, Mappe 78, Bl. 9. Ebenda, Bl. 70, 71. Ebenda, Bl. 18: „Ferner erklärt von Hofstetten, daß er im vergangenen Jahre 4000 Tr. am,Social-Demokrat' zugesetzt habe und, wenn sich die Abonnentenzahl nicht vergrößert, er das Blatt Mitte dieses Jahres eingehen lassen müsse."

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Beginnend mit starken Worten über den „preußischen Absolutismus" und „die österreichische Konkordatswirtschaft", meinte der Artikelschreiber auftrumpfend: „Preußen — dieses Preußen, wie es wirklich besteht, nicht wie es in den Köpfen der Gothaer aussieht — ist das Besitztum einer Herrscherfamilie, ein dem inneren Wesen nach absolutistischer Staat." 7 Und welcher demokratisch empfindende Arbeiter war nicht beeindruckt, wenn er las: „Weder Hohenzollern, noch Habsburg! kein anderer Ruf ist möglich für einen deutschen Demokraten, wo Hohenzollern auf der einen und Habsburg mit seinen Vasallen auf der anderen Seite streitend stehen." 8 Ein anderes Mal schrieb Schweitzer nicht minder apodiktisch: „. . . das Recht der Nation ist bei keinem der streitenden Teile." 9 Hier befand sich der Schreiber in Übereinstimmung mit der progressiv handelnden Welt von damals. Auch konnte sich kein energischer Arbeiter und Handwerker innerlich auflehnen, wenn J. B. v. Schweitzer Hohn, Spott und Zorn über die liberalen Bourgeois ausgoß, die die Arbeiter ausbeuteten und in der Opposition gegen die preußische Regierung so wenig demokratische Kampfbereitschaft und taktische Phantasie zeigten. „Gleichzeitig den Kampf gegen die absoluten Regierungen Österreichs und Preußens führen, auf dem Boden des Deutschtums stehen, rücksichtslos den Dualismus bekämpfen — das vermochten jene Schwächlinge nicht, weil sie auf alles vertrauen, auf alles in der Welt, nur nicht auf die eigene Kraft und die Kraft des Volkes." 10 Das Feindbild, das der „Social-Demokrat" von der Aristokratie und Bourgeoisie zeichnete, schien zunächst mit dem übereinzustimmen, was man von einer echten Arbeiterpartei oder „sozialen Demokratie" erwartete. Dennoch war das Gleichsetzen von liberaler Bourgeoisie und preußischer Regierung auf die Ebene der „einen reaktionären Klasse" recht problematisch. Indem Schweitzer die erstere in alle Abgründe verdammte, konnte er die letztere unversehens erhöhen. Das klang schon in seinen Bemerkungen an, „daß das preußische Fortschrittlertum unfähig ist, Männern (!) gegenüber auch nur das Leiseste durchzudrücken". 11 Die liberale Bourgeoisie sei „absolut unfähig", und ihre „bodenlose Ohnmacht" läge offen zutage. 12 Die Bourgeoisie war aber nicht ohnmächtig, nicht einmal so schwach, daß Bismarck auf sie keine Rücksicht hätte nehmen müssen. Es war darum pure Großsprecherei, wenn Schweitzer wiederholt erklärte, daß Bismarcks Parlaments- und Wahlrechtsantrag mit all seinen antihabsburgischen und nationalpolitischen Zielvorstellungen „eine Konzession nicht an die liberale Bourgeoisie" 13 , sondern an den Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein gewesen sei — ausgerechnet an jenen ADAV, der gerade damals nur mit knapper Not der inneren und äußeren Auflösung entging. Gerade weil Bismarck Konzessionen an die Bourgeoisie machen mußte, brauchte er ihr gegenüber viele Gegenkräfte; deshalb tat er das Seine, um den lassalleanischen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein vor dem Untergang retten und damit zugleich ausnutzen zu können. Um jegliche antibismarckschen Bündnismöglichkeiten auszuschließen, ließ Schweitzer keine „Kompromisse mit einer sogenannten ,Volkspartei' oder andern Elementen" zu. Die „andern Elemente" waren natürlich solche Politiker wie Wilhelm Liebknecht und August 7 8 9 10 11 12 13

Jean Baptist v. Schweitzer, Politische Aufsätze und Reden, hg. v. F. Mehring, Berlin 1912, S. 125. Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 150. Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 146, Hervorhebungen von mir. Ebenda, S. 146 f. Ebenda, S. 144.

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Bebel. Den Sektenfanatismus anstachelnd, erklärte Schweitzer später unter dem Beifall der Generalversammlung des A D A V : „Die liberale Bourgeoisie ist ohnmächtig in allen ihren Schattierungen und der ganze Unterschied zwischen den Herren vom Fortschritt und denen der ,Volkspartei' besteht darin, daß bei gleicher Bedeutungslosigkeit die einen etwas lauter schreien als die anderen." 1 4 Ingrimmig dekretierte Schweitzer, daß alle Versuche, mit der liberalen Bourgeoisie gegen den Absolutismus Hand in Hand zu gehen, „einmal für allemal" verspielt seien. Dieses Abschwören aller Bündnismöglichkeiten mit dem Liberalismus und der Demokratie enthielt eine doppelte Tücke: einmal schwächte es die gemeinsame Front^gegen Bismarck, die — wie auch ihre Chancen eingeschätzt werden konnten — eben um der demokratischen Erziehung des Volkes willen unbedingt angestrebt und gestärkt werden mußte; zum anderen erleichterte es das direkte Überlaufen zu Bismarck. Wenn es nämlich damals für eine Arbeiterpartei angeblich keine Bündnismöglichkeiten gab, dann stand, wie Schweitzer meinte, allein die Frage, ob Preußen oder ob Österreich in Deutschland herrschen solle; ein Drittes sei „in Deutschland in diesem Augenblick und bis auf weiteres nicht mehr möglich". Er wiederholte es kurz danach: „Nur zwei streitende Teile von entscheidendem Gewicht sind in diesem Augenblicke in Deutschland vorhanden: Österreich und Preußen." 1 5 Wer solchermaßen die Kräfteverhältnisse bewußt vereinfachte und die demokratische Front kurzerhand negierte, der mußte notwendigerweise die weitere Frage insinuieren, wer denn von den beiden Großmächten nicht nur das kleinere Übel sei, sondern unter Umständen auch der erfolgversprechende Partner werden könnte. Am 20. Mai 1866 leitete Schweitzer in dieser Richtung eine neue Argumentation ein: „Wenn der Fortgang zum Bessern in der Weltgeschichte immer auf den guten Willen der Machthaber hätte warten sollen, er wäre nie — wenn er stets auf die selbständige Kraft des Volkes hätte warten sollen, er wäre selten weiter gediehen. Es gibt ein Drittes, das ist die klug benutzte Verlegenheit der Machthaber." 1 6 Drei Wochen später verfolgte er den gleichen Gedankengang mit noch deutlicherem Bezug auf Bismarck:,,Wie vollziehtsich der Fortgang zum Bessern in der Weltgeschichte? Selten durch ein unmittelbares Sichaufraffen der Volkskraft! Meist dadurch, daß das Volk klug und sicher die Verlegenheiten der Machthaber zu benutzen weiß.. . . Der Minister, der vorzugsweise die preußischen Geschicke lenkt, der Graf von Bismarck, hat richtig erkannt, daß er gegen den österreichischen Kaiserstaat nicht nur mit preußischen Armeen, daß er auch mit den Ideen der Zeit gegen Österreich kämpfen muß." 1 7 Schweitzer hat zwar hier einen Aspekt in der Bismarckschen Politik richtig gesehen; indem er jedoch die proletarische und kleinbürgerliche Demokratie als Bündnispartner zurückwies, schadete er ihr nicht allein in der Gegenwart, sondern schwächte auch ihr moralisch-politisches Prestige für die Zukunft. Es genügte nicht, wenn er sich um Massenversammlungen bemühte, die das allgemeine Stimmrecht von der preußischen Regierung tatsächlich verlangen sollten, und hierin mit linken Demokraten übereinstimmte. Die Lassalleaner mußten auch Antwort auf die Frage geben, ob und wie die Arbeiterklasse in dem Streit zwischen Österreich und Preußen Partei zu ergreifen habe. Zunächst antwortete Schweitzer mit einem sachten „noch nicht", um bald entschiedener zu werden: „Wenn es uns aber gelingt, die preußische Regierung weiterzutreiben auf dem Wege der Konzessionen 14 15 16 17

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S.

154. 144f. 130. 147 f.

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an lins. . ., ja dann werden wir Partei ergreifen, nicht wie Lügner und einfaltige Schwätzer sagen, gegen das Recht und die Freiheit der Nation, wohl aber gegen die österreichische Regierung und die Bundeswirtschaft; dann werden wir hoffen und wünschen, dann werden wir, soviel wir können, das Unsere tun, daß der Sieg nicht bei den Fahnen Österreichs, sondern bei den Fahnen Preußens, nicht bei den Fahnen Benedeks, sondern bei den Fahnen Bismarcks und Garibaldis sei." 18 Begann Schweitzers Orientierung auf Preußen mit scheinbar mißtrauischen Spekulationen, so endete sie mit einem Vertrauensbekenntnis; in einem Atemzuge nannte er den immer noch unpopulären Bonapartisten Bismarck mit dem populären Demokraten Garibaldi. Welche Resonanz hatte nun Schweitzer in der Arbeiterklasse? Er hielt die Generalversammlung zur Reorganisation des ADAV und dessen Einstimmung auf Bismarcks Unterstützung ausgerechnet in Leipzig ab; er ging sozusagen in die Höhle der Löwen, in die Domäne von Liebknecht und Bebel. Dennoch blieben diese in den sächsischen und thüringischen Gebieten politisch in der Vorhand, während die Lassalleaner ihre Positionen in den beiden größten Städten Deutschlands, Berlin und Hamburg, ebenso wie im Rheinland und in Westfalen wieder konsolidieren konnten. Ganz anders war die moralisch-politische Haltung in jenen Arbeiterkreisen, die unter dem Einfluß von Wilhelm Liebknecht und August Bebel standen. Zwar traten auch sie für eine Trennung der Arbeiter von der Fortschrittspartei ein; schon Mitte März beschloß der Leipziger Arbeiterbildungsverein mit großer Mehrheit, die „Berliner Volkszeitung", das leitende Organ der Fortschrittler, abzubestellen. Liebknecht warf dem „edlen Blättlein" vor, daß es „das allgemeine. Stimmrecht verleugnet, das Koalitionsrecht bekämpft, die demokratischen Gegner der Fortschrittspartei systematisch verleumdet" habe. Auch Bebel trat auf und kritisierte die Haltung der „Volkszeitung" in der Arbeiterfrage. 19 Was hier geschah, war durchaus geeignet, die Zusammenarbeit mit Lassalleanern und linken Demokraten zu erleichtern und — ausgesprochen oder unausgesprochen -— die Perspektive auf eine revolutionäre und wahrhaft unabhängige Arbeiterpartei zu eröffnen. Aber gerade weil die politisch bewußtesten Arbeiter nach Unabhängigkeit trachteten, mußten sie die Frage klären, wie sie ihr Verhältnis zu der immer noch oppositionellen Bourgeoisie gestalten sollten. Zehn Tage nach den Beschlüssen des Leipziger Arbeiterbildungsvereins beteiligte sich Bebel in Dresden an zwei großen Arbeiterversammlungen, die die Aussöhnung von Lassalleanern und linken Arbeitervereinlern anstrebten. Der große Redner war Julius Vahlteich, der bis Januar 1864 Sekretär des ADAV war und sich dann von Lassalle wegen dessen innerparteilicher Diktaturgelüste und bismarckfreundlicher Machinationen getrennt hatte. Der veröffentlichte Vahlteichsche Redetext mag nicht ganz authentisch sein; dennoch läßt er ein Urteil über die Grundlinie zu. Vahlteich meinte, die soziale Frage könne nur „durch vorhergehende Erlangung der politischen Freiheit gefördert" werden. Jetzt sei es geraten, alle Kräfte des Volkes zu sammeln, „um die Frage der politischen Freiheit zu lösen" und „die Volkskraft nicht unnötig und voreilig zu zersplittern". Die wahre Partei-Disziplin unter den Arbeitern müsse sich gerade darin zeigen, „daß man den Haß gegen die Bourgeoisie zunächst auf das richtige Maß" zurückführe. 20 Wie man auch über die Formulie-

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Ebenda, S. 155. Der Bote vom Niederrhein v. 21. 3. 1866. Ebenda, Beilage am 1. 4. 1866.

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rungen im einzelnen rechten mag, es wird deutlich, daß sich Vahlteichs Taktik von der Schweitzers grundlegend unterschied. Dreißig Jahre später wies Franz Mehring darauf hin, daß die bürgerliche Opposition gegen ein reaktionäres Regime schwächer werde, wenn sich ihr viele Arbeiter anschlössen. Die Bourgeoisie geriete dann in die Lage, das Proletariat mehr zu fürchten als den politischen Despotismus. 21 Dieser an sich richtige Aspekt im Verhältnis von Bourgeoisie und Arbeiterklasse wird jedoch falsch, sobald man ihn verabsolutiert. Dann übersieht man nämlich, daß auch Bismarck der Bourgeoisie entgegenkam, weil er ihre ökonomisch-soziale Macht und damit ihre Möglichkeit, sich unter Umständen der latenten Kraft des Volkes zu bedienen, erkannt hatte. Doch auch der Liberalismus mußte, wenn er seine Positionen gegenüber Bismarck nicht allzu sehr schwächen wollte, Rücksicht nehmen auf die Volksopposition. Sie trug dazu bei, daß die Liberalen nur zögernd und auch nicht insgesamt ins Bismarcksche Lager übergingen. Bebel und Liebknecht ließen nichts unversucht, mit den einfachen Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins die Aktionseinheit in der antibismarckschen Volksbewegung zustande zu bringen. In Sachsen vor allem erreichten die Volksversammlungen Teilnehmerzahlen, die in die Tausende gingen. Wilhelm Liebknecht hat es in jenen Wochen, wenn man von der Einseitigkeit seines Kampfes gegen das Bismarcksche Preußen absieht, ausgezeichnet verstanden, die soziale und nationalpolitische Frage, die ökonomischen Tages- und die gesamten Zukunftsinteressen des Proletariats agitatorisch miteinander zu verbinden. In einer Versammlung am 2. Juni 1866 mit etwa 2000 Arbeitern in Chemnitz verlangte er Reformen der Gewerbeordnung: Abschaffung der Kinderarbeit in Fabriken, zehnstündige Arbeitszeit, Vereinbarung der Fabrikordnungen zwischen Meistern und Arbeitern, Abschaffung der Arbeitsbücher usw. Nationalpolitisch forderte er ein Parlament, „das nicht ein Spielball dynastischer Interessen ist, sondern ein wahres Volksparlament, stark genug, den Willen des Volkes zu vollstrekken". Das Volk müsse sich organisieren, ermunterte er unablässig; „vor allem in den Händen der Arbeiter ruhen die Geschicke Deutschlands, ruht die Zukunft der Demokratie. In jeder Stadt müssen die Arbeiter sich organisieren." Sie sollten die soziale Frage nicht vernachlässigen und aufmerksam den Betrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation folgen. „Klären Sie sich auf. Organisieren Sie sich. Tun Sie Ihre Pflicht. Es gilt die Befreiung der Arbeiterklasse! Es gilt die Rettung des Vaterlandes!" 22 In jener turbulenten und schwer überschaubaren Umbruchszeit erwies sich Liebknecht als proletarischer Politiker von Format, der seine Selbständigkeit gegenüber dem radikalen Kleinbürgertum wahrte, ohne sich von ihm zu trennen. Das eine zu tun und das andere zu vermeiden war um so wichtiger, als es damals in der Tat um die Rettung des Vaterlandes ging, nicht zuletzt um die Abwehr einer möglichen Intervention Napoleons III. August Bebel wiederum hatte in Sachsen bereits eine engere Verbindung der sächsischen Arbeitervereine in einem zunächst illegal gegründeten Gauverband erreicht. Als Ausschußmitglied des Vereinstags deutscher Arbeitervereine rief er auf der Tagung in Mannheim am 10. Juni 1866 zu einem konstituierenden Parlament auf und versuchte, die Arbeiter in die. politische Bewegung hineinzuführen. Liebknecht, politischer Vertrauensmann von Karl Marx, und Bebel, damals schon auf dem Wege zum Sozialismus, beschränkten sich auf die 21 22

Die Neue Zeit, Jg. 15/2, 1897, S. 515. Deutsches Wochenblatt, Mannheim, v. 10. 6. 1866, in: Die I. Internationale in Deutschland, 1864—1872. Dokumente und Materialien, Berlin 1964, S. 122.

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revolutionär-demokratische Agitation. Aber gerade dadurch schufen sie Voraussetzungen für ihre späteren Bemühungen um die Entwicklung eines sozialistischen Bewußtseins in Arbeiterkreisen. Nicht nur in Sachsen, auch im Rheinland und in Süddeutschland gärte es mächtig. Dort verstärkte sich die Volksbewegung noch durch die Befürchtung, Bismarck könnte Napoleon linksrheinische Gebiete opfern. Oft konnte man die Bewegung der Arbeiter von der der kleinbürgerlichen Massen schwer unterscheiden. Ein Symptom der Erregung der Volksmassen war das am 7. Mai 1866 durch einen süddeutschen Studenten verübte Attentat auf Bismarck. Zur allgemeinen politischen Krise kam die Wirtschaftskrise, die sich zwar seit einiger Zeit vorbereitet hatte 23 , aber jetzt schlagartig die Arbeiter traf. 24 Ein damals bekannter Demokrat, Wilhelm Angerstein, schrieb im „Deutschen Wochenblatt", daß nach dem Attentat in Berlin eine „gewitterhafte Stimmung" herrsche, die vor allem durch den allgemeinen Notstand der Arbeiter verursacht werde. In der Tat zogen in Berlin Anfang Juni Arbeitslose an mehreren Tagen demonstrierend durch die Straßen und vor das Rathaus. Darauf bezog sich Engels, als er am 11. Juni an Marx schrieb: „In Deutschland sieht es täglich revolutionärer aus. In Berlin und Barmen ziehen die stillgesetzten Arbeiter in Haufen drohend durch die Straßen." 25 Ihre potentielle Kraft konnte jedoch durch das Fehlen einer erfahrenen und ganz Deutschland umfassenden Partei noch nicht in zielbewußte und koordinierte Aktionen umgesetzt werden. Hier drängt sich die Frage nach der Haltung von Marx und Engels im politisch und ökonomisch krisenhaften Frühjahr 1866 auf. Das Herannahen der Kriegsgefahr erfüllte beide mit großer Unruhe. Noch hatten sie nicht genügend Einblick in die militärische Stärke und Schlagkraft der beiden Hauptgegner Preußen und Österreich. Darum mußten ihre Urteile über die Kriegsdauer und den Kriegsausgang notwendigerweise unsicher sein. Am meisten befürchteten sie ein längeres Hin und Her im Kriegs verlauf, was eine ausländische Intervention, besonders von Napoleon, heraufbeschwören mußte. Es „bleibt klar", so schrieb Marx schon am 6. April 1866 an Engels, „und muß selbst den deutschen Philistern klar werden, daß ohne Revolution in Deutschland die Hunde von Hohenzollern und Habsburgern unser Land durch Bürgerkrieg (dynastischen) wieder für 50—100 Jahre rückwerfen werden." 253 Die demokratischen Aktionslosungen von 1866 — Kampf gegen die Überlassung linksrheinischer Gebiete an Napoleon, für allgemeines Wahlrecht und gleichzeitige allgemeine Volksbewaffnung — kamen der Konzeption von Marx und Engels nahe. Auch sie wünschten, den Kriegsausbruch durch eine revolutionäre Volkserhebung zu verhindern. Wenn es aber nicht gelingen sollte, den dynastischen Bürgerkrieg durch eine Revolution unmöglich zu machen, dann war es zunächst Engels' Hauptwunsch, daß zur Beschleunigung der Revolution gegen das Bismarcksche Regime „die Preußen heillose Prügel besehn mögen". 26 Das waren Erörterungen, die unter Freunden der Selbstverständigung dienten. Abwegig waren sie indessen keineswegs, davon zeugen die Befürchtungen preußischer Liberaler, die mit einer Revolution rechneten, sobald Preußen auch nur die erste Schlacht verloren hätte. Wir wissen auch, daß der österreichische Außenminister Graf Mensdorff in der Diskussion mit 23

Ernst Engelberg, Deutschland von 1849 bis 1871, 3. Aufl. Berlin 1972, S. 195. Rolf Weber, Kleinbürgerliche Demokraten in der deutschen Einheitsbewegung 1863—1866, Berlin 1962, S. 256 25 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 31, S. 226. 25a Ebenda, S. 204. 26 Engels an Marx am 2. 4. 1866, in: Ebenda, S. 200. 24

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Graf Blome, dem klerikalen Kriegstreiber, vor dem Krieg auch deswegen warnte, weil er eine Revolution hervorrufen könnte. Dies wollte Mensdorff selbst in Preußen nicht, denn die Rückwirkungen auf Mittel- und Südosteuropa wären unberechenbar gewesen. Dennoch: Während Marx und Engels im Hinblick auf den bonapartistischen Feind in Frankreich 1859 Partei für Österreich und 1870 bis zum Sturz Napoleons III. für Preußen-Deutschland ergreifen konnten, war es ihnen 1866 unmöglich, zwischen den „Hunden von Hohenzollern und Habsburgern" zu wählen. Gegenüber diesen beiden Dynastien, von denen jede ihre Suprematie über Deutschland endgültig erringen wollte, mußten stärker denn je die Selbstbestimmungskraft des deutschen Volkes und die Selbständigkeit der Arbeiterklasse betont werden. Lange Wochen hielten sich Marx und Engels in der Öffentlichkeit zurück. Angesichts der Verworrenheit in den moralisch-politischen Positionen der einander bekämpfenden oder miteinander rivalisierenden Staaten und Parteien war eine klare und sichere Parteinahme ungemein schwer. Nachdem sich das ehemalige Mitglied des Bundes der Kommunisten, Paul Stumpf, am 30. Juni 1866 von Mainz aus brieflich über Liebknechts vielfach proösterreichische Haltung beklagt 27 und Verhaltensmaßregeln für die politische Agitation erbeten hatte, schwieg sich Karl Marx aus. Engels gegenüber gestand er: „Dem Stumpf schrieb ich nicht, eben weil er ,Verhaltungs'maßregeln wollte, und meine Ansicht war, daß der am besten tue, sich gar nicht zu,verhalten', bevor die Ereignisse entschieden. Es war dies eine Ansicht, die ich ihm rather nicht schriftlich zu geben für gut hielt." 28 Schon-vorher hatte Engels gespottet: „Daß brother Liebknecht sich in eine fanatische Österreicherei hineinreiten würde, brauchte mir Stumpf nicht zu schreiben, das konnte gar nicht anders sein." 29 Gerecht war Friedrich Engels hier nicht. Was sollte „brother Liebknecht" den Arbeitern in den sächsischen Industriestädten und -Städtchen denn sagen? Schweigen konnte er nicht und auch nicht frontal gegen die vorhandene Stimmung angehen, zumal jeder wußte, daß Sachsen Aufmarschgebiet preußischer Armeen werden könnte und auch tatsächlich wurde. Die Bourgeoisie, um deren sozialökonomisches und nationales Anliegen es damals unmittelbar ging, konnte zwischen zwei Übeln, Preußen oder Österreich, wählen — zwischen Übeln insofern, als sie bei beiden auf direkte politische Machtausübung verzichten mußte. Für Franz Mehring war es in einer historischen Nachbetrachtung von 1912 ein „Gemeinplatz", „daß der Sieg Preußens 1866, wie 1870 und 1871, in der Tat das kleinere Übel gewesen ist". 30 Preußen war nun einmal das ökonomisch fortgeschrittenere und national homogenere Land. Aus einer richtigen Prämisse zog Mehring allerdings falsche Schlußfolgerungen, indem er die propreußische Taktik Schweitzers verteidigte. Vom Standpunkt der Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse hingegen mußte ihre Avantgarde die Parole der Neutralität gegenüber den beiden streitenden Hauptmächten (den beiden Übeln) ausgeben. Dazu hatte sich der Generalrat der Ersten Internationale auch letztlich durchgerungen. Er war noch kein gewähltes Organ — der erste Kongreß der Internationale sollte erst im September 1866 zusammenkommen — und auch noch lange kein politisch einheitlich 27 28 29

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Ebenda, S. 288. Marx an Engels am 27. 7. 1866, in: Ebenda, S. 242. Engels an Marx am 25. 7. 1866, in: Ebenda, S. 241; vgl. Stumpf an Engels am 15. 7. 1866, in: Ebenda, S. 652. Schweitzer, Politische Aufsätze und Reden, hg. v. Franz Mehring, Berlin 1912.

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handelndes „Korps", wie der für die Schweizer Organisationen bestimmte Sekretär Jung klagte. Dieser war dabei besonders über jene englischen Generalratsmitglieder aufgebracht, die „nicht von der Notwendigkeit einer radikalen Änderung in der Gesellschaft überzeugt sind", die sich einer internationalen Organisation „als eines durch und durch nationalen Instruments" bedienen und persönlich „lau und ohne Energie" sind, zudem als Kompromißler keine Frage eindeutig aufwerfen und beantworten können. 31 Im Generalrat mußten die Angriffe der Proudhonisten und einiger Engländer zurückgewiesen werden, die Garibaldi und Mazzini als Verbündete von Bismarck und als ebenso „schlecht" wie diesen verurteilten.32 Überhaupt tendierten einige im Generalrat vorgelegte Resolutionsentwürfe einseitig zur Stellungnahme gegen Preußen. 33 Offensichtlich hatten die jahrelangen Kämpfe im innerpreußischen Heeres- und Verfassungskonflikt und das Zusammenspiel Preußens und Rußlands während des polnischen Aufstandes eine viel stärkere Resonanz in den westeuropäischen Ländern gefunden als Österreichs schleichende Konkordatswirtschaft und Fremdherrschaft in Oberitalien. Schließlich nahm der Generalrat am 17. Juli 1866 — also erst nach der Schlacht von Königgrätz — nach einigen Präzisierungen die von dem Polen Bobczynski und dem Engländer Carter eingebrachte Resolution an. Sie erklärte den Konflikt auf dem Kontinent als einen zwischen Regierungen und riet den Arbeitern, neutral zu sein, aber sich zu organisieren und zu einigen zum Zwecke ihrer sozialen und politischen Emanzipation. Hier wurden also die Selbständigkeit der Arbeiterklasse gegenüber allen anderen Klassen und Schichten und die Bedeutung ihres eigenen sozialen Befreiungskampfes mit Nachdruck hervorgehoben. Dies alles hatte nichts zu tun mit der liberalen Losung der Neutralität der deutschen Klein- und Mittelstaaten, die auf eine faktische Parteinahme für Preußen hinauslief. Im Zusammenhang mit der Krisensituation von 1866 entstand noch ein weiteres Problem: Schon weil für Marx und Engels der internationale Hauptfeind nach wie vor der französische Bonapartismus war, mußten sie gegen die Proudhonisten auftreten, die nationale Bewegungen und Nationen für überholt hielten. 34 Ein solcher Kosmopolitismus konnte indirekt den interventionslüsternen Chauvinismus und Imperalismus des napoleonischen Frankreich ideologisch fördern. Im Generalrat der I. Internationale wies Marx, gegen seinen späteren Schwiegersohn Paul Lafargue polemisierend, der in der nationalen Frage proudhonistische Ansichten vertrat, die mehr oder weniger ausgesprochene Zumutung zurück, daß „die Geschichte in allen anderen Ländern aufhört und die ganze Welt wartet, bis die Franzosen reif sind, eine soziale Revolution zu machen". 35 Unbewußt schien Lafargue „unter Negation der Nationalitäten ihre Absorption in die französische Musternation zu verstehen". Marx ging davon aus, daß der proletarische Internationalismus sich dann politisch, ideologisch und emotional am besten entfalten könne, wenn sich die Nationen, seien es auch bürgerliche, staatlich konstituiert haben. Gerade von diesem Standpunkt aus wandte er sich im Moment des preußisch-österreichischen Krieges gegen die kosmopolitische Utopie der Proudhonisten und leistete einen beachtlichen theoretischen Beitrag zur Nationalitätenfrage. Zugleich 31 32 33 34

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Jung an Johann Philipp Becker, April 1866, Fotokopie im IML Berlin, Marx-Engels-Abteilung. The General Council of the First International 1864—1966, Minutes, Moskau o. J., S. 204. Ebenda, S. 205. Typisch dafür der „Aufruf der Pariser Studenten an die Studenten Deutschlands und Italiens", in: Der Vorbote,Jg. 1866,S. 103f.;vgl. auch Marx an Engels am 7. 6. 1866, in: MEW, Bd. 31, S. 222f. Marx an Engels am 20. 6. 1866, in: Ebenda, S. 229.

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erschien es Marx in der damaligen Krisensituation als seine politische Hauptaufgabe, den Arbeitern die Grundanliegen der Ersten Internationale zu vermitteln. Im Zeichen des proletarischen Internationalismus bekämpfte er sowohl den nationalen Nihilismus als auch den expansionistischen Chauvinismus. Bei allem Revolutionsträchtigen der objektiven Situation in Deutschland konnte selbst Bebels und Liebknechts unermüdliche Tätigkeit nicht nachholen, was von der Gesamtheit der kleinbürgerlichen Demokraten unterlassen worden war. Gewiß haben diese in wichtigen Fragen einige ihrer Irrtümer in jenen April- und Maiwochen 1866, da jede Klasse und politische Partei vor unmittelbaren Entscheidungen stand, erkannt. Gleichsam in letzter Minute versuchten sie eine gesamtdeutsche Parteiorganisation aufzubauen, um auf das werktätige Volk stärker einwirken zu können. Daran beteiligten sich selbst die erzföderalistischen Demokraten Württembergs, die vorübergehend ihre destruktive Haltung aufgaben. Es war der linke Flügel der Demokratie, der sich am stärksten den Arbeitern zuwandte; repräsentiert war er durch Männer wie F. A. Lange, Ludwig Büchner, Ludwig Eckardt, August Rockel und Wilhelm Angerstein. Letzterer formulierte pointiert die Auffassung im „Deutschen Wochenblatt", daß „bloß unter den Arbeitern . . . echte demokratische und nationale Gesinnung zu finden sei". 36 Innerhalb der kleinbürgerlichen Demokratie differierten jedoch die Ansichten vor allem in der Parlamentsfrage, bei der Stellung zu Krieg oder Frieden und der Alternative zwischen Österreich und Preußen. Die Hauptforderung der von den Demokraten beherrschten Volksversammlungen war die nach einem deutschen Parlament. Die württembergischen Demokraten wollten es auf die Mittel- und Kleinstaaten einschränken. Andere wieder erstrebten ein konstituierendes gesamtdeutsches Parlament, das sich auf ein Parlamentsheer oder die Volkswehr stützen sollte. All diese Forderungen gerieten insofern ins Illusionäre, als die Frage, auf welche Weise denn die Vertretung berufen und verwirklicht werden sollte, nirgends erörtert wurde und damit unbeantwortet blieb. Nur die linken Demokraten waren hier realistischer und zugleich offener. Ludwig Büchner äußerte sich dazu im „Deutschen Wochenblatt": „Schon der erste Schritt auf der Bahn des Krieges und des endlichen Bruchs der bisherigen Stillstandspolitik hat den einen der streitenden Teile gewiß wider Willen genötigt, eine Konzession an die Volksmeinung in Deutschland zu machen und auf Berufung eines deutschen Parlaments zu dringen. Mag die Hand, die Solches bietet, noch so unrein sein; mögen die Absichten, von denen sie geleitet wird, noch so- unlauter sein, der echte Volksmann, der nur für die Sache kämpft, wird — wenn es überhaupt so weit kommen sollte — das Dargebotene als erste Abschlagszahlung nicht zurückweisen und dasselbe äls den ersten festen Stützpunkt benützen, von dem aus er seine Stellung weiter und weiter vorschieben kann." 37 Die linken Demokraten wollten also an das Bismarcksche Angebot anknüpfen und es für die Volkssache ausnutzen. Hierin — aber nur hierin — waren sie mit den Lassalleanern einig. In den anderen beiden grundlegenden Streitfragen waren die Differenzen innerhalb der kleinbürgerlichen Demokratie so ausgeprägt, daß man drei Strömungen unterscheiden kann. Der linke Flügel wünschte den Krieg herbei, weil er angeblich die beste Gelegenheit böte, zur demokratischen Revolution zu gelangen. So viele Berührungspunkte es zwischen 36 37

Deutsches Wochenblatt vom 10. 6. 1866; vgl. Weber, S. 250. Abgedruckt in: Der Bote vom Niederrhein v. 25. 4. 1866.

Sozialisten und Demokraten 1866

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den linken Demokraten und den revolutionären Führern der Arbeiterklasse sonst gab, für die letzteren stand zunächst die Verhinderung des Krieges im Vordergrund, vor allem im Hinblick auf die Napoleonische Interventionsgefahr. Im Sinne der Kriegserwartung meinte Rockel Mitte April in der „Frankfurter Reform": „Der Kampf zwischen Hohenzollern und Habsburg ist, wenn er jetzt nicht entbrennt, nur auf kurze Zeit vertagt und räumt das Feld nur einer höheren Möglichkeit: dem Kampfe der deutschen Nation um ihre Freiheit und Einheit. Kabinettskrieg oder Volkskrieg, das ist die dem Genius Deutschlands gestellte Wahl; möchten doch die Friedliebenden sich klarmachen, daß es kein Drittes, keine Möglichkeit gibt, sich dieser Alternative zu entziehen." 38 Am 16. April 1866 schrieb Lange an LudwigBüchner noch unverhohlener: „Unsere Arbeiter wünschen im allgemeinen den Krieg, jedoch nicht im Bismarckschen Sinn, sondern mehr im Hoffen auf unvorhergesehene Ereignisse. Auch-das Parlament möchte man am liebsten Herrn v. Bismarck schleunigst aus der Hand reißen, ehe er uns damit höhnend an der Nase vorbeifahrt. . . . Die allgemeine Stimmung ist die, daß man nur noch vom,Handeln' etwas wissen will und allen Programmen gram ist." 39 Im „Boten vom Niederrhein" bezeichnete Lange die Versammlungen, die gegen den Krieg protestierten, als sinnlos; sie dienten „nur zur Bemäntelung eines traurigen Mangels an moralischer Widerstandskraft". 40 Da die linken Demokraten den Krieg für unausbleiblich hielten und nahezu propagierten, wurde der Widerstandswille gegen den Kriegsausbruch geschwächt. Ein weiteres Hinauszögern des Kriegsbeginns hätte jedoch den Sammlungsbestrebungen der proletarischen und kleinbürgerlichen Bismarckgegner Chancen gegeben. Auch Büchner begrüßte den bevorstehenden Krieg in der optimistischen Erwartung, daß Österreich und Preußen sich gegenseitig zerfleischen würden und daß danach die Rettung der Nation durch die Volksmassen erfolgen werde. Offensichtlich meinten er und seine Freunde, anders als Karl Marx, die allgemeine Volksbewaffnung wäre so rasch möglich, daß sie auch einer napoleonischen Intervention wirksam begegnen könnte. Das offenbar hatte auch Rockel im Auge, als er vom „Volkskrieg" sprach; schließlich schrieb er noch am 25. Mai: „Das Alte muß vergehen, soll das Neue erstehen; ein einiges freies Deutschland hat keinen Raum in sich, weder für das junkerlich-militärische Preußen noch für das aristokratisch-konkordatliche Österreich und sie beide müssen einander das Ende bereiten." 41 Die Mehrheit der Demokraten war jedoch bestrebt, den Bruderkrieg, wie sie ihn ansahen, zu verhindern. Die Besucherzahl der von ihnen organisierten Versammlungen in ganz Südund Mitteldeutschland, aber auch in Städten Norddeutschlands war, wenn man den Korrespondenzen der „Neuen Frankfurter Zeitung" glauben darf, weitaus höher als zur Zeit der Volksbewegung für die Befreiung Schleswig-Holsteins. In all diesen Versammlungen, von denen sich die radikalen Demokraten im allgemeinen fernhielten, wurden Resolutionen angenommen, die den Frieden forderten. Selbstverständlich ging aus ihnen hervor, daß sie für keine der beiden Großmächte Partei ergreifen wollten. Im April und Mai trat nur eine Minderheit der Demokraten für einen Krieg gegen Preußen an der Seite Österreichs ein. Sie wurde von dem durch seine „Neue Frankfurter Zeitung" immer einflußreicher werdenden Leopold Sonnemann angeführt und bekam im Juni das 38 39

40 41

Frankfurter Reform v. 18. 4. 1866; vgl. Weber, S. 245f. Friedrich Albert Lange, Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862—1875, bearb. u. hg. v. G. Eckert, Duisburg 1968, S. 63. Der Bote vom Niederrhein v. 4. 4. 1866. Frankfurter Reform v. 25. 5. 1866, Hervorhebungen von mir.

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Übergewicht. Bereits am 20. Mai wurde in einer von Sonnemann organisierten Gegenversammlung zum liberalen Abgeordnetentag mit Mehrheit eine Resolution angenommen, die für Osterreich unter Berufung auf das Bundesrecht Partei ergriff. Die radikalen Demokraten, die zu dieser Versammlung gar nicht eingeladen worden waren, widersprachen der Frankfurter Resolution. Es war vor allem Ludwig Büchner, der sich am 26. Mai im „Deutschen Wochenblatt" darüber empörte, daß sich deutsche Demokraten im Namen des Bundesrechts auf die Seite Österreichs und der Partikularisten gestellt hatten. Er bezeichnete es als kindisch, Garantien im liberalen Sinne von Habsburg zu verlangen. 42 Im ganzen muß festgehalten werden: Das demokratische Kleinbürgertum hatte keine politische Partei hervorzubringen vermocht, die ein zielklarer und sicherer Verbündeter des Proletariats im Kampfe um einen bürgerlich-freiheitlichen Nationalstaat hätte sein können. Das politisch agierende Proletariat wiederum war auf dem Höhepunkt der Krise in bismarckfreundliche Lassalleaner und oft einseitig gegen Preußen auftretende LiebknechtBebel-Anhänger gespalten. Noch waren die Arbeiter von der Möglichkeit einer Führungskraft in der Gesellschaft weit entfernt. Daß eine wirkungsvolle politische Orientierung aber auch nicht von der proletarischen und kleinbürgerlichen Demokratie gegeben werden konnte, wirkte sich verhängnisvoll auf die Aktionen der Volksmassen aus. Deshalb mußte Bebel am Ende seines erfahrungsreichen Lebens feststellen: „Aber da keine klare und zielbewußte Führung vorhanden war, zu der man Vertrauen hatte, auch keine mächtige Organisation bestand, die die Kräfte zusammenfaßte, verpuffte die Stimmung. Nie verlief resultatloser eine im Kern vortreffliche Bewegung." 43

42 43

Vgl. Weber, S. 262. August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 6, Aus meinem Leben, bearb. v. Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Wilfried Henze und Ruth Rüdiger, Berlin 1983, S. 101.

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Purpurmäntel und dunkle Kutten. Über ein unerkanntes Lenau-Zitat bei Marx

Man kennt den konzise gefaßten, folgerichtig entwickelten und einprägsam formulierten Gedankengang des großartigen Vorworts zum „Kapital". 1 Es ist exakt lokalisiert und datiert: London, 25. Juli 1867. Seine Eindringlichkeit wirkt auch heute noch lebendig, unverblaßt, anregend. Marx beginnt mit einer Erwähnung seiner 1859 veröffentlichten Studie „Zur Kritik der politischen Ökonomie", deutet damit einiges von der verwickelten (und noch weiter zurückreichenden) Entstehungsgeschichte des „Kapital" an. Er gibt dessen potentiellen Lesern sodann einige Winke und Hinweise mit auf den Weg, wohl wissend, welch immense geistige Energie ihnen auf den folgenden 784 Seiten abgefordert werden wird beim Eindringen in eine außerordentlich komplizierte Materie, die manchmal auch eine komplizierte Art der Darstellung verlangte, wenn anders nicht simplifiziert werden sollte. Dann sagt er geradeheraus, daß „der letzte Endzweck dieses Werks" seiner Absicht nach darin liegen solle, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen". Am Schluß stehen vier Bemerkungen, die bereits die Aufnahme des gedruckten Buches durch das Publikum ins Auge fassen: eine erste „zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse"; eine zweite über die , freie wissenschaftliche Forschung" auf dem Gebiet der politischen Ökonomie; eine dritte darüber, welcher Thematik die nachfolgenden Bände 2 und 3 gewidmet sein würden; eine vierte, die versichert, daß wissenschaftliche Kritik willkommen sei, diese aber grundsätzlich von „Vorurtheilen der s. g. öffentlichen Meinung" zu unterscheiden und zu scheiden gedenkt. Knapper und instruktiver hätte man sich kaum äußern können. Uns interessiert hier nur ein bestimmter, auf den ersten Blick scheinbar nebensächlicher, in Wirklichkeit aber doch bedeutsamer Aspekt in Hinsicht auf den sorgfaltig erwogenen Wortlaut dieses Vorwortes. 2 Wir wollen nach der Technik und nach der Funktion des

1

M E G A , Zweite Abteilung, Band 5, Berlin 1983, S. 11 — 15. Dort auch alle Zitate im folgenden Text, die nicht eigens in Fußnoten, sondern nur durch Seiten- und Zeilenangaben in Parenthese belegt sind. — Zum Grundsätzlichen in Überblicksform vgl. vor allem Manfred Naumann, Literatur im „Kapital", Berlin 1979, Dort auch weiterführende Literaturangaben.

2

Daß trotz dieser Sorgfalt gelegentlich ein kleiner Schnitzer, ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen konnte, zeigt die folgende Episode. Im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital" war die Formulierung „jenseits des transatlantischen Oceans" stehengeblieben. Daraufhin fragt Engels am 9. September 1867 spöttisch bei Marx an: „Apropos, wo strömt denn der „Transatlantische Ocean'?" Marx repliziert unter dem Datum des 11. September lakonisch: „Was den ,ira«.satlantischen Ocean' betrifft, so ist es Sache des letzten Correctors dergleichen lapsus pennae zu corrigiren." (Hier zitiert nach M E G A , a. a. O., S. 696. Der Text beider Briefe ist nicht enthalten in MEW, Band 31, Berlin 1965.)

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Zitierens fragen, das hier praktiziert wurde. Eine über diese Intention hinausgehende Analyse des Vorwortes, so wünschenswert sie wäre, ist zunächst nicht beabsichtigt.

I

Drei Zitate fallen im Text des Vorwortes sofort ins Auge. Alle drei fremdsprachig: ein französisches, ein lateinisches, ein italienisches. Alle drei durch Kursivdruck hervorgehoben und auf diese Weise als Zitationen kenntlich gemacht. Nummer eins ist weiter nichts als die illustrierende Umschreibung eines zuvor in deutscher Sprache geäußerten Gedankens: „Wir leiden", so schreibt Marx (S. 13, Zeile 10f.), „nicht nur von den Lebenden,- sondern auch von den Todten." Um hinzuzufügen: „Le mort saisit le vif." In den Erläuterungen wird dazu formuliert (S. 694): „Der Tote reicht dem Lebenden die Hand, d. h. der Überlebende tritt durch den Tod des Erblassers sogleich den Besitz seines Vermögens an (juristischer Tatbestand nach dem Code civil)." Woher die Erläuterer die Sache mit dem Händeschütteln genommen haben, vermag ich mir nicht recht zu erklären. Aber ihre folgende Das-heißt-Kommentierung stimmt. Einschlägige Wörterbücher und Fachlexika geben ähnliche oder gleiche Auskünfte. 3 Vermutlich war die Redewendung „le mort saisit le v i f eine stereotypisierte Floskel alten, feudalistischen Rechts, die später im allgemeinen Sprachgebrauch weiterlebte, ohne daß ihre ursprüngliche Bedeutung noch immer assoziiert wurde. Marx verwendet sie offenbar, um die Unausweichlichkeit des Weiterlebens alter Gedanken, Ideen oder Topoi im fortschreitenden ideologiegeschichtlichen Prozeß hervorzuheben. Der Hinweis, daß hier ein „juristischer Tatbestand nach dem Code civil" vorläge (sozusagen eine natürliche Erbfolge im allgemeinsten Sinne bezeichnend), wäre demnach eher irreführend als präzisierend. Was der Code Napoléon höchst lakonisch (und, versteht sich, ohne Verwendung des Wortlauts der umgangssprachlichen Floskel) dazu sagt, läßt sich eindeutig als die Setzung bürgerlicher Rechtsnormen erkennen, nämlich: „Erbschaften werden durch den natürlichen und durch den bürgerlichen Tod eröffnet." Und: „Auf den rechtmäßigen Erben geht der Besitz der Güter, Rechte und Forderungen des Verstorbenen schon kraft des Gesetzes über; sie sind dagegen verbunden, alle Lasten der Erbschaft zu berichtigen." 4 Andere Entsprechungen finden sich im Code Napoléon nicht. Nummer zwei ist ein wörtlich genaues Zitat mit tiefsinnigem Anspielungsreichtum. Marx 3

4

So etwa Le Grand Larousse, Le Petit Robert und Le Grand Robert. Am genauesten jedoch Robert Piccard/ Emile Thilo/Ernest Steiner, Rechtswörterbuch französisch-deutsch und deutsch-französisch, Teil I: Französisch-deutsch, Zürich 1950, S. 359 und 507f. Hier wird „le mort saisit le v i f dem Sinne nach gleichgestellt mit „le vif chasse le mort"; neben der Übersetzung („dem Verstorbenen folgt unmittelbar im Besitze der Erbe, der Besitz geht unmittelbar an den Erben über") ist dann noch die Erläuterung angeführt: „Fiction par laquelle on exprime que l'héritier est immédiatement saisi de la possession des biens du défunt et qu'ainsi il n'y a pas d'interruption dans la propriété." — Für Recherchen und Informationen zu diesem Problem bin ich Herrn Dr. Bernhard Hentschel zu Dank verpflichtet. Code Napoléon. Avec les changements qui y on été par la loi du 3 Septembre 1807. Gesetzbuch Napoleons. Mit den Veränderungen, die durch das Gesetz vom 3. September 1807 gemacht worden sind. Aus dem französischen officiellen Texte übersetzt von Daniels, Cöln 1807, S. 299 und 301. — Diese zweisprachige Ausgabe stimmt zwar nicht im Wortlaut, aber dem Sinne nach mit dem nur deutschen Text überein in Codex Napoléon. Uebersetzt nach der neuen officiellen Ausgabe von einer Gesellschaft Rechtsgelehrter und durch Noten erläutert von L. Spielmann, Straßburg und Paris 1808, S. 191 und 193.

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führt aus: „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dieß der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: De te fabula narraturl" (S. 12, Zeile 27—35). Der Ursprung dieser lateinischen Wendung ist in den „Sermones" des Quintus Horatius Flaccus zu finden, und zwar gleich in der ersten Satire des ersten Buches. Dort lauten die Verse 68 bis 79: Tantalus a labris sitiens fugientia captat flumina — quid rides? mutato nomine de te fabula narratur: congestis undique saccis indormis inhians et tamquam parcere sacris cogeris aut pictis tamquam gaudere tabellis. nescis, quo valeat nummus, quem praebeat usum? panis ematur, holus, vini sextarius, adde quis humane sibi doleat natura negatis. an vigilare metu examinem, noctesque diesque formidare malos fures, incendia, servos, ne te conpilent fugientes, hoc iuvat? horum semper ego optarim pauperrimus esse bonorum. 5 Oder in der deutschen Prosa-Übersetzung von Otto Schönberger: „Tantalus schnappt lechzend nach dem Wasser, das immer wieder vor seinen Lippen zurückweicht — Was lachst du denn? Du brauchst nur den Namen zu ändern, und die Geschichte spricht von dir. Auf deinen Geldsäcken, die du von allen Seiten herbeigeschleppt hast, schläfst du mit gierig aufgesperrtem Munde und mußt sie doch unberührt lassen wie Heiligtümer, oder du darfst dich an ihnen nur so erfreuen, wie wenn es bloße Gemälde wären. Weißt du nicht, wozu das Geld da ist und welchen Nutzen es gewähren soll?~Brot soll man dafür kaufen, Gemüse, einen Schoppen Wein, dazu noch Dinge, deren Mangel die menschliche Natur schmerzlich empfindet. Oder soll das ein Genuß sein, wenn du halbtot vor Angst nicht schlafen kannst und Tag und Nacht in Furcht lebst vor bösen Dieben, Brandgefahr und vor Sklaven, die dich ausplündern könnten und dann durchbrennen? An solchen Gütern will ich für meine Person immer bettelarm sein." 6 5

6

Horaz, Satiren und Episteln. Auf der Grundlage der Übersetzung von J. K. Schönberger lateinisch und deutsch von Otto Schönberger ( = Schriften und Quellen der Alten Welt. Hrsg. vom Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Band 33), Berlin 1976, S. 38. Hervorhebungen von mii\ — Die im folgenden angeführte Übersetzung ins Deutsche S. 39. In der jambischen Übersetzung Christoph Martin Wielands lautet der Beginn mit dem Tantalus-Gleichnis: . . . Tantalus schnappt ewig dürstend dem Wasser nach, das seine dürren Lippen vorbeyfließt — und du lachest? Ist die Fabel nicht unter anderm Nahmen deine eigene Geschichte? (Horazens Satyren aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von C. M. Wieland. Erster Theil. Zweyte Auflage. Leipzig 1794, S. 16). Eine Übersetzung in Hexa-

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Das Beispiel zeigt sehr schön, daß es Marx nicht auf Bildungsprotzerei, nicht auf ein Zitieren um des Zitierens willen ankam, sondern darauf, seinem Publikum sozusagen eine „doppelte Optik" einzurichten. Für denjenigen Leser nämlich, der zwar versteht, sich den Sinn der horazischen Sentenz in seine Muttersprache zu verdolmetschen, der aber über ihre Herkunft nicht Bescheid weiß, entsteht immerhin ein gleicher Illustrationseffekt wie bei vorgenanntem Exempel. Für den klassisch gebildeten Leser jedoch, der darüber hinaus auch noch „weiß, wo's steht", ergibt sich die Möglichkeit eines besonderen ästhetischen Genusses dadurch, daß er gedanklich, herbeirufen kann, wie sehr sich die erste Satire gerade um Armut und Reichtum, um Geld, Gelderwerb, Geldverschwendung, Geld als Tausch- und Zirkulationsmittel und verwandte Themen dreht (nicht zufallig ist sie dem für Horaz „lebenswichtigen" Maecenas gewidmet!) — so daß es, wenn der Ausdruck erlaubt ist, vor allem um eine sehr „adäquate" Zitation geht, die zu der von Marx an Ort und Stelle abgehandelten Thematik auch in unmittelbar inhaltlicher Korrespondenz steht. Marx hätte leicht, und zwar aus den „Episteln" desselben Horaz, das vielleicht noch bekanntere „Tua res agitur" wählen können. 7 Er verzichtet offensichtlich deshalb darauf, weil die Adäquatheit in diesem Falle geringer gewesen wäre. Nummer drei ist das sicherlich bekannteste Zitat aus dem Vorwort zum „Kapital". Es steht ganz am Schluß, wo Marx beteuert, gegenüber der sogenannten öffentlichen Meinung gelte ihm „nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners: Segui il tuo corso, e lascia dir legentil" (S. 15, Zeile 3f.) Zu deutsch: Geh deinen Weg, und laß die Leute reden! Diesmal haben wir es mit einem abgewandelten, vom Wortlaut des Originals abweichenden Zitat zu tun. In Dantes „Göttlicher Komödie" lautet der Vers 13, der erste in der fünften Terzine des fünften Gesanges im „Purgatorio": ,,Vien' dietro a me, e lascia dir le genti." 8 Zu deutsch: Folge mir nach, und laß die Leute reden. Die Abwandlung scheint willkürlich vorgenommen zu sein, ein Grund für ihre Notwendigkeit ist nicht zu erkennen. Daß gerade ein Dante-Zitat ausgewählt wurde, um ans Ende eines so wichtigen Vorworts zu einem so wichtigen Werk gerückt zu werden, hat wahrscheinlich mit der beinahe uneingeschränkten Hochachtung zu tun, die Marx und Engels zeitlebens dem gewaltigen Poeten entgegenbrachten. Beide hatten Dante häufig (und selbstverständlich im italienischen metern hört sich so an: „Tantalus hascht nach dem Wasser, das immer den lechzenden Lippen/Wieder entweicht. Was lachst du? verändre den Namen, und du bist's,/Du, den das Märlein meint. . ." Satiren.

(Horazens

Lateinisch und deutsch mit Erläuterungen von Ludwig Döderlein. Leipzig 1860, S. 7). — Die

„Erläuterungen" in der M E G A verdeutschen dem Sinne nach richtig (S. 694): „Über dich wird hier berichtet!" Dabei die Werkangabe „Saturae" offensichtlich als stehengebliebener Druckfehler statt „Satirae". 7

Es steht in der 18. Epistel an Lollius Maximus, Vers 84f.; jedoch wird hier ein anderer, nicht so sehr „adäquater" Vergleich bemüht. Der lateinische Text mit Otto Schönbergers Übersetzung (a. a. O., S. 200f.) lautet: N a m tua res agitur, paries cum proximus ardet, et neglecta solent incendia sumere vires. („Dein Eigentum steht nämlich auf dem Spiele, wenn das Haus deines Nachbarn brennt, und gewöhnlich greift ein unbeachteter Brand immer weiter um sich.")

8

La Commedia

di Dante Alighieri. Nel testo e nel commentato di Niccolö Tommaseo, Band 2 (Purgatorio),

Milano 1965, S. 27. M E G A , Zweite Abteilung, Band 5, S. 697, erläutert lediglich die Segui-il-tuo-corsoVariante: „Abgewandeltes Zitat aus Dante Alighieri: La divina commedia. Canto V." Diese Erläuterung ist erstens ungenau (denn sie sagt nicht, aus welchem der drei Teile - Hölle, Fegefeuer oder Paradies — der angegebene „Canto V" stammt) und zweitens oberflächlich (denn weder teilt sie mit, was abgeändert wurde, noch bringt sie, wie in anderen Fällen, eine deutsche Übersetzung).

Purpurmäntel und dunkle Kutten

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Original) gelesen ; in ihren Werken und in ihrem Briefwechsel findet sich eine Unmenge von Dante-Zitaten und -paraphrasen. 9 Vor allem an der Sprache dieses Dichters pflegte Engels seine Italienisch-Kenntnisse zu schulen. Von ihm stammt auch die bekannte Einschätzung, in Dantes „grandioser Gestalt" sei „zugleich der letzte Dichter des Mittelalters und der erste Dichter der Neuzeit" aufgetreten. 10 Marx seinerseits aber wiederholt im Vorwort zum „Kapital" eine Geste, derer er sich bereits im (nicht minder berühmt gewordenen) Vorwort seiner Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie" (1859) bedient hatte. Dieses endete so: „Bei dem Eingang in die Wissenschaft aber, wie beim Eingang in die Hölle, muß die Forderung gestellt werden : Qui si convien lasciare ogni sospetto, Ogni viltà convien che qui sia morta." 1 1 Zweimal also ein Dante-Zitat aus der „Göttlichen Komödie". Das Werk selbst beim Zitieren nicht erwähnt. Der Verfassername im ersten Falle einfach ausgespart, im zweiten Falle nicht genannt, jedoch mit Hilfe einer logischen Paraphrase oder lokalisierenden Antonomasie wenigstens indirekt bezeichnet (Umschreibung durch explizite Merkmalshervorhebung nach dem Muster: „der Stagirite" — für Aristoteles; „der große Korse" — für Napoleon : „der Pfarrer von Cleversulzbach" — für Mörike, etc.). War vielleicht die periphrastische Formulierung („der große Florentiner" statt „Dante") gewählt worden, weil Marx danni seinem Publikum auf intelligente Manier mitteilen wollte, er traue ihm die konkrete Auflösung der Umschreibung ohne weiteres zu? Das wäre gut denkbar.

n Nun befände sich allerdings gründlich im Irrtum, wer zu der vorschnellen Annahme bereit wäre, daß sich in diesen drei offen zutage liegenden Beispielen des Vorwort-Autors ebenso anspruchsvolle wie variable Zitierkunst bereits erschöpfte. Dies ist keineswegs der Fall. Da diese Kunst weiter und tiefer reicht, als bisher sichtbar werden konnte, gibt es dort noch manches aufzuspüren, darunter auch das eine oder andere Detail, das aufzuspüren bislang versäumt worden ist. Um diese Behauptung zu beweisen, empfiehlt es sich, zunächst eine längere Passage im Wortlaut einzurücken, die zweite der obenerwähnten vier, in denen Marx didaktische Anleitung seiner Leser betreibt. Da heißt es gegen Schluß hin (S. 14, Zeile 13 — 37): „Auf dem Gebiet der politischen Oekonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben Feinde, wie auf allen anderen Gebieten. Die eigenthümliche Natur des Stoffes, den sie behandelt, ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privatinteresses, auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche z. B. 9

10

11

Über die intime Dante-Kennerschaft beider lesenswerte Urteile bei /. N. Goleniscev-Kutuzov, Tvorcestvo Dante i mirovaja kul'tura, Moskva 1971, S. 250f., 396, 4 0 5 - 4 0 8 und 4 9 4 - 4 9 7 . MEW, Band 4, Berlin 1959, S. 590 (aus dem Vorwort „An den italienischen Leser" zum „Manifest der Kommunistischen Partei", 1893). MEW, Band 13, Berlin 1961, S. 11. — Dort auch, in Form einer Fußnote, die freie, sonst nicht kommentierte Übersetzung ins Deutsche: Hier mußt du allen Zweifelmut ertöten, Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin.

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verzeiht eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Heutzutage ist der Atheismus selbst eine culpa levis, verglichen mit der Kritik überlieferter Eigentumsverhältnisse. Jedoch ist hier ein Fortschritt unverkennbar. Ich verweise z. B. auf das in den letzten Wochen veröffentlichte Blaubuch: 'Correspondence with Her Majeslys Missions Abroad, regarding Industrial Questions and Trade's Unions\ Die auswärtigen Vertreter der englischen Krone sprechen es hier mit dürren Worten aus, daß in Deutschland, Frankreich, kurz allen Kulturstaaten des europäischen Kontinents, eine Umwandlung der bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich ist als in England. Gleichzeitig erklärte jenseits des atlantischen Oceans Herr Wade, Vicepräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, in öffentlichen Meetings: Nach Beseitigung der Sklaverei trete die Umwandlung der Kapital- und Grundeigenthumsverhältnisse auf die Tagesordnung! Es sind dieß Zeichen der Zeit, die sich nicht verstecken lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten. Sie bedeuten nicht, daß morgen Wunder geschehn werden. Sie zeigen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Krystall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist." Soweit der Kontext. In ihm befinden sich keine Zitate, die durch Hervorhebung als solche gekennzeichnet wären. Andrerseits enthält er einige Begriffe, Fremdworte und Titel, für die in einer historisch-kritischen Ausgabe Erklärungen gefordert sind. Die Bearbeiter des Bandes 5 der Zweiten Abteilung der M E G A stellen denn auch entsprechende Kommentare auf den Seiten 695 bis 697 bereit. 12 Nicht erläutert noch kommentiert haben sie — aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind — die folgende Problematik. Sie steckt in dem Satz (genauer: in einer Satzverbindung aus Haupt- und Relativsatz): „Es sind dieß Zeichen der Zeit, die sich nicht verstecken lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten". Hier redet Marx zweimal unter Verwendung einer Kryptozitation. Die „Zeichen der Zeit" gehen auf einen neutestamentlicheri Text zurück. Im Evangelium des Matthäus, Kapitel 16, Vers 1 — 3, wird (in Luthers Übersetzung) 13 von Jesus berichtet: „ D a traten die Pharisäer und Sadducäer zu ihm; die versuchten ihn, und forderten, daß er sie ein Zeichen vom Himmel sehen ließe. Aber er antwortete und sprach: Des Abends sprecht ihr: Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot. Und des Morgens sprecht ihr: Es wird heute Ungewitter sein, denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler, über des Himmels Gestalt könnet ihr urteilen; könnet ihr denn nicht auch über die Zeichen dieser Zeit urteilen?" Die „Purpurmäntel" und die „schwarzen Kutten", durch die sich solche Zeichen der Zeit „nicht verstecken lassen", stammen aus Nikolaus Lenaus Versepos „Die Albigenser", dessen „Schlußgesang" so endet (Vers 3461—3476):

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Sie betreffen die 39 Glaubensartikel der englischen Hochkirche, erklären „culpa levis" nach römischem Recht mit „leichte Fahrlässigkeit", erläutern den Charakter der sogenannten Blaubücher und dokumentieren die erwähnten kritischen Äußerungen von John Franklin Wade (1800—1878) durch ein Zitat aus dem „Aufruf des Generalraths der internationalen Arbeiterassociation an die Sektionen, mitgenossischen Gesellschaften und alle Arbeiter", ursprünglich publiziert im Genfer „Vorboten" vom 8. August 1867, S. 115 f.

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Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Allen und Neuen Testaments, nach der deutschen Ubersetzung Dr. Martin Luthers. Durchgesehen nach dem von der Deutschen evangelischen Kirchenkonferenz genehmigten Text, Neue Oktavausgabe, Dresden o. J., S. 22 (Neues Testament mit separater Paginierung). Hervorhebungen von mir.

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Nicht meint das Lied auf Tote abzulenken Den H a ß von solchen, die uns heute k r ä n k e n ; Doch vor den schwächern, spätgezeugten Kindern Des Nachtgeists wird die scheue Furcht sich mindern, Wenn ihr die Schrumpfgestalten der Despoten Vergleicht mit Innozenz, dem großen Toten, Der doch der Menschheit Herz nicht still gezwungen U n d den Gedanken nicht hinabgerungen. Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen, N o c h läßt der Sonnenaufgang sich verhängen Mit Purpurmänteln oder dunklen Kutten; Den Albigensern folgen die Hussiten U n d zahlen blutig heim, was jene litten; Nach H u ß und Ziska kommen Luther, Hutten, Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter, Die Stürmer der Bastille, und so weiter. 1 4 Der Sachverhalt, daß hier bewußt zitiert wird, ist meines Erachtens zweifelsfrei, nicht bestreitbar. Allenfalls daß die Art, wie hier zitiert worden ist, noch die proleptische Bemerkung verlangt, daß das Vorhandensein kleinerer Ungenauigkeiten („Zeichen der Zeit" statt „Zeichen dieser Z e i t " ; „sich nicht verstecken lassen" statt „sich nicht verhängen lassen"; „schwarze K u t t e n " statt „dunkle Kutten") keineswegs als Gegenargument in Betracht käme. Im ersten Fall dürfte es sich um die (allgemein übliche) Angleichung eines Bibeltextes ^n cfen alltäglichen Sprachgebrauch, im zweiten Falle vermutlich u m eine nicht vollständig exakte Gedächtnisleistung handeln, die den Sinn ja überhaupt nicht beschädigt, indem sie den Buchstaben geringfügig verändert.

m W a r u m ein Bibel-Zitat? W a r u m ein Lenau-Zitat? W a r u m beide, auf engstem R a u m zusammengepreßt, als Kryptozitation? Die Fragen sind leichter gestellt als beantwortet. Wir müssen uns hier auf einige Andeutungen beschränken. Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau (1802— 1850), der sich unter Abtrennung der ersten Silbe seines Adelsnamens als Lyriker und Epiker das Pseudonym Lenau zulegte, gehörte offensichtlich nicht zu M a r x ' Lieblingsautoren. Dieser nennt den N a m e n Lenau jedenfalls, soweit ich bis heute sehen kann, weder in seinen Werken noch in seinen Briefen. Anders Engels, der Lenau schon vor 1840 zu den bedeutendsten deutschsprachigen Vormärz-Autoren zählte und seine Entwicklung aufmerksam verfolgte. 1 5 F ü r Engels wiederum 14

15

Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe. Auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausgabe von Eduard Castle mit einem Nachwort hrsg. von Walter Dietze, Band 1, Leipzig 1970, S. 888f. Hervorhebungen von mir. Engels bemerkt, seiner Meinung nach sei „Lenau schon hinneigend zum Jungen Deutschland trotz seiner kirchlichen Stoffe" und fragt: „Was hatten wir vor 1830? Theodor Hell und Konsorten, Willibald Alexis, einen alten Goethe und einen alten Tieck, c'est tout. D a tritt die Julirevolution, seit dem Befreiungskriege die schönste Äußerung des Volkswillens, wie ein Donnerschlag herein. Goethe stirbt, Tieck verkommt

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Walter Dietze

läßt sich der Beleg nicht beibringen, daß er Lenaus „Albigenser" (1842 in erster, 1846 in zweiter Auflage bei Cotta in Stuttgart erschienen) gekannt hätte. Marx kennt sie, und sehr genau: sonst hätte er nicht so treffend aus ihnen zitieren können. Bedeutet die Manier, das Zitat diesmal nicht als solches zu kennzeichnen, einen Zutrauensbeweis für den potentiellen Leser? Will Marx mit dieser Geste zu erkennen geben, daß er von seinem Leser erwarte, dieser sei in der Lage, das heimliche Zitat auf der Stelle zu identifizieren? Das wäre abermals gut denkbar. Wichtiger ist der inhaltliche Zusammenhang. Lenau war in den „Albigensern" ersichtlich über sich selbst hinausgewachsen. Ungleich präziser und ungleich progressiver hatte er hier — vor allem im Vergleich zu den vorausgegangenen Versepen „Faust" (1836) und „Savonarola" (1837), aber auch im Hinblick auf die bis dahin entstandene Lyrik — das wirkliche Zentralproblem seiner Epoche erfassen und in poetischer Überhöhung eines historischen Stoffes gestalten können: als Apotheose einer sich über viele Generationen hinziehenden, von Teilniederlagen nicht verschont gebliebenen, aber in der Perspektive siegreich angelegten gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung. Gerade ein halbes Jahrhundert war vergangen, als Lenau dergestalt die Pariser „Bastillestürmer" beschwor, mit jenem unnachahmlichen „und so weiter" danach, das, als phrasenhafte Redefloskel mit neuer Funktion versehen und als das buchstäblich „letzte W o r t " eines epischen Großzusammenhangs emphatisch betont, eben jenen „Prozeß der Umwandlung" der Gesellschaft ausdrückt, auf den Marx gleich anschließend zu sprechen kommt und über den er sagt, daß von ihm eine „Ahnung" selbst in den herrschenden Klassen „aufdämmere". Deshalb der Zugriff zu diesem verdeckten Lenau-Zitat: es „paßt" wie kaum ein anderes in Marx' Gedankenführung im Vorwort zum „Kapital". Nicht zu vergessen dabei eine weitere, spezifisch ästhetische Komponente. Ohne Schwierigkeiten läßt sich in der deutschen und österreichischen Literatur um die Mitte des vorigen Jahrhunderts verfolgen, wie der Topos von Abenddämmerung (bei Sonnenuntergang) und Morgendämmerung (bei Sonnenaufgang) zu einer außerordentlich häufig gebrauchten, politisierten und ins Poetische transponierten Charakteristik krisenhafter Zeitzustände avanciert, wobei der Gesichtspunkt einer bevorstehenden Epochenwende (Zuendegehen der Nacht und Beginn des Morgens) als hauptsächliches Tertium comparationis eingesetzt zu werden pflegt. Es ist hier nicht der Ort, für diese mit Vorliebe traktierte Metaphorik eine beinahe unübersehbare Menge von Nachweisen auszubreiten 1 6 ; genug, daß dabei Namen wie Schleiermacher und Hegel, Eichendorff und Immermann, Gutzkow und Rüge, Heine und Freiligrath, Raabe und Spielhagen genannt werden könnten — und viele a n d u . noch. • In einer der Vorarbeiten zu seiner Dissertation hatte sich der junge Karl Marx eines Verimmer mehr, Hell schläft ein, Wolfgang Menzel fährt fort, Schusterkritiken zu schreiben, aber «in neuer Geist steht auf in der Literatur; als Dichter vor allem Grün und Lenau . . ." (Engels an Friedrich Graeber aus Bremen, 8. April 1839. MEW, Ergänzungsband, Zweiter Teil, Berlin 1967, S. 365). Aus dem Oktober desselben Jahres stammt ein Artikel von Engels über Karl Beck, in dem sich die Bemerkung findet, die Deutschen könnten stolz sein „auf die Philosophie von Kant bis Hegel und auf die Liederreihe vom Ludwigslied bis auf Nikolaus Lenau", und der Hinweis, man solle „die lebendigen Gemälde des Zigeunerlebens bei Lenau" schätzen, ebenda, S. 23 und 26). 16

17

Einige aussagekräftige Beispiele dafür habe ich 1957 zusammengestellt. Vgl. den Text neuerdings in Walter Dietze, Junges Deutschland und deutsche Klassik. Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz, Vierte Auflage, Berlin 1981, S. 135f. Weitere Exempel passim in Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, zweite, durchgesehene Auflage, Stuttgart 1967.

Purpurmäntel und dunkle Kutten

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gleichs ganz ähnlicher Art bedient, um die Epochen der stoischen, skeptischen und epikuräischen Naturphilosophie im Altgriechischen zu erklären. 18 Mithin konnte die Lenausche Sonnenaufgangs-Metapher offenbar auch noch nach 1867 einen konnotativen Wiedererkennungseffekt auslösen: im Vertrauen darauf setzt Marx sie allem Anschein nach ein. Offengelassen sei die Frage, ob er nur des gängigen Wortgebrauchs wegen oder aus demselben „ästhetischen" Grunde auch das Matthäus-Zitat herangezogen hat. Da dieses ebenfalls von Wettererscheinungen redet, nämlich von rotem Abend- und Morgenhimmel (die hier allerdings als deutbar, im Unterschied zu Erscheinungen des gesellschaftlichen und sozialen Lebens angesehen werden), könnte eine beabsichtigte Korrespondenz mit gewisser Wahrscheinlichkeit immerhin vorausgesetzt werden. Prolepse aber auch diesmal: den Einwand jedenfalls, Marx habe die Herkunft der „Zeichen-der-Zeit"-Redewendung vielleicht gar nicht so genau gewußt, sollte man besser unterlassen. Das Gegenteil wäre ebensoleicht möglich. Die „Bibelfestigkeit" dieses bemerkenswerten Autors verdiente längst eine gründliche Untersuchung, obwohl und weil sie sich gar nicht auf Glaubensdinge, sondern auf eine unglaublich sattelfeste und musisch empfindsame, auch sprachlich geschulte Bildung richtet, die sie höchst souverän anzuwenden versteht. Summa summarum: für die Auswahl dieser Bibel- und dieser Lenau-Stelle bei Marx gibt es plausible und weitreichende Gründe. Die Kryptozitation ist alles andere als ein Zufall, eine Laune des Augenblicks oder eine protzig zur Schau gestellte Lesefrucht. Der penibel und ungemein genau arbeitende politische Schriftsteller versäumt nicht, auf die Homogenität von Ganzem und Detail zu achten. Er berücksichtigt aufs präziseste den Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinem, von Konkretem und Abstraktem. Er sorgt dafür, daß sich Großes im Kleinen spiegelt, et vice versa. Weil seine Leser viel von ihm erwarten können, erwartet er viel von seinen Lesern. Man kann von ihm lernen (unter anderem, versteht sich), was es heißt, adäquat zu zitieren.

18

Vgl. seine Notiz über „Knotenpunkte in der Entwicklung der Philosophie" in Karl Marx und Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe, im Auftrag des Marx-Engels-Instituts Moskau hrsg. von D. Rjazanov, Abteilung 1. Band 1: Karl Marx, Werke und Schriften bis Anfang 1844, nebst Briefen und Dokumenten, Halbband 1: Werke und Schriften, Frankfurt a. M. 1927, S. 133.

PETER H . F E I S T

Die bildende Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die „soziale Frage"

Auch viele bildende Künstler wurden — wie überhaupt immer mehr Menschen — spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der „sozialen Frage" bewegt. Der unscharfe Terminus ist mit Absicht gewählt. In den als „Kritik des Gothaer Programms" bekannten, erst 1891 veröffentlichten „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" griff Karl Marx mit der ihn kennzeichnenden Schärfe die im Programm vertretene Lasallesche Position an: „An die Stelle des existierenden Klassenkampfes tritt eine Zeitungsschreiberphrase: ,die soziale Frage', deren ,Lösung' man ,anbahnt'." Das Programm orientiere damit nicht auf den notwendigen „revolutionären Umwandlungsprozeß der Gesellschaft". 1 Genau diese Zeitungsschreiberphrase benötigen wir aber hier — aus zwei Gründen. Sie erlaubt uns, erstens, die Grenzen des Untersuchungsfeldes weiter zu ziehen, als es der Begriff der revolutionären Umwandlung zuließe, und es wird zu zeigen sein, warum das erforderlich ist. Zweitens ist davon auszugehen, daß das Bewußtsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen2, das bei Künstlern wie auch bei der überwiegenden Mehrheit ihrer Partner im Beziehungsgeflecht der gesellschaftlichen Kunstverhältnisse — bei den Betrachtern, Käufern, Auftraggebern, Kritikern usw. — vorhanden war, weit mehr durch Zeitungslektüre und andere landläufige Meinungen, durch spontane Beobachtungen, Erlebnisse und Empfindungen, die ein Alltagsbewußtsein ergaben, geformt wurde, als durch stringente theoretischwissenschaftliche Analyse und klare politische Programmatik. Die „soziale Frage" — das war das Auftreten und die Zuspitzung von solchen, vorwiegend historisch neuen Widersprüchen in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die aus der vollen Entfaltung der antagonistischen Beziehung von Kapital und Arbeit erwuchsen, wozu als Basis die Entwicklung der Produktivkräfte zur Vorherrschaft der großen Industrie gehörte. Die soziale Frage erschien vor allem als eine Vielzahl von Veränderungen in der Arbeitsweise, den Formen der Ausbeutung und der Lebensweise insgesamt, als Wachstum der neuen Klasse des Proletariats, als Zunahme von Verelendung sowie als Organisierung und Kampf der Arbeiterbewegung zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Massen. Beziehungen der bildenden Kunst auf diese Vorgänge konnten verschiedenes in sich einschließen: Direkte wie indirekte Veränderungen in den Gegenständen künstlerischer Widerspiegelung, im Ausmaß der für kunstwürdig erachteten und daher künstlerisch angeeigneten Realität; Veränderungen in der sozialen Position und Rolle, im beruflichen Selbst-

1

Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 26.

2

Marxistisch-leninistische

Philosophie, Berlin 1979, S. 633.

Bildende Kunst und „soziale Frage"

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Verständnis der Künstler und, damit verbunden, in den Adressaten ihrer künstlerischen Produktion; Veränderungen im Funktionsverständnis und im tatsächlichen gesellschaftlichen Funktionieren der Kunst; Veränderungen in den mittels der Kunst vorgenommenen Wertungen, den Wirkungsstrategien der Kunstwerke und den dafür ausgebildeten Gestaltungsweisen. Hier wird vornehmlich den an erster Stelle genannten Veränderungen nachgegangen, wobei diese nicht scharf von den anderen getrennt werden können. Unmittelbare Darstellungen von (neuer) Realität zu ermitteln, ist — hinsichtlich der kunstwissenschaftlichen Methodik — die Aufgabe von Ikonographie bzw. Ikonologie und Motivkunde. Stofflich schlug sich die soziale Frage vorwiegend in einer Reihe von Themenund Motivbereichen nieder: Darstellungen von Arbeitsvorgängen und -Stätten, vor allem aus der Industrie, und von Angehörigen der Arbeiterklasse überhaupt; Ausbeutung; Arbeitslosigkeit und andere Erscheinungsformen von Armut und Elend; Kampf der Werktätigen um die Durchsetzung ihrer Rechte und Ansprüche in der Form von Streiks und politischer Tätigkeit; Entwürfe für ein zukünftiges besseres Leben. Dafür gab es kunsthistorische, ikonographische Traditionen, an die angeknüpft wurde, die abzuwandeln waren und die durch ihre prägende Kraft manchmal auch ein Hemmnis für das Finden von neuen Lösungen sein konnten. Eine Voraussetzung für ein direktes Reagieren der bildenden Kunst auf die soziale Frage bestand in dem größeren Gewicht, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Widerspiegelung ganz allgemein von gegenwärtiger, visuell wahrg6nommener Wirklichkeit erlangte. In diesem sich in heftigen ästhetisch-künstlerischen Richtungskämpfen vollziehenden Prozeß der Ausbildung einer für das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Art von Realismus blühte besonders die Genredarstellung (das „Sittenbild") auf. Sie erfüllte und förderte Bedürfnisse nach abbildend-informativen, erzieherischen, agitatorischen wie nach einfach erzählerischen, gemütvollen, u. U. auch spannenden oder erheiternden, also „unterhaltenden" Darstellungen. Nach den Bildern über das „Volksleben" der Bauern, Hirten und Fischer, der Handwerker, aber auch solcher out-laws wie Wilderer und Räuber und der ethnographischen Entdeckung vor allem orientalischer Völker kamen nun auch die Proletarier ins Blickfeld. Die Wertschätzung derartiger Kunst mußte gegen Auffassungen erstritten werden, denen zufolge die Kunst eine imaginierte „höhere" Wirklichkeit bzw. Überwirklichkeit zu bilden und sich an „ideale" Stoffe, gegebenenfalls aus einer entsprechend verstandenen Geschichte, zu halten habe. Formal sei die Kunst, diesen Auffassungen zufolge, nicht auf die Erscheinungen der Realität, sondern auf ästhetisch und kunsthistorisch vorgegebene Normen von hohen Stilen und idealer Schönheit verpflichtet. Dies bestritt der Realismus mit seiner neuen Forderung nach unverstellter Wahrheit. Noch an eine allgemeine Voraussetzung für das spezielle Problem innerhalb der Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft, das uns hier beschäftigt, gilt es zu erinnern: Die bildenden Künstler existierten, sozialökonomisch gesehen, im wesentlichen als kleine Warenproduzenten auf dem Kunstmarkt. Um von ihrer Kunstproduktion leben zu können, mußten sie Thematik und Gestaltung ihrer Werke in eine Beziehung zu erkannten oder vorstellbaren Erwartungen und Bedürfnissen präsumptiver Käufer setzen. Wer, aus welchen Gründen auch immer, das Risiko einging, unverkäufliche Bilder zu produzieren, mußte von etwas anderem leben können. Außerdem gehört der kommunikative Charakter der Kunst, der Wunsch, mit der eigenen Botschaft einen Adressaten zu erreichen, stärker als manchmal eingestanden wird, zu den Schaffensmotivationen der Künstler. Es zeigt sich jedenfalls, daß der reine Selbstausdruck und eine Produktion ohne Chance zu irgendeiner Öffentlich!4

Demokratie, Sozialismus

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Peter H. Feist

keit seltener waren, als es die Theorie des „l'art pour l'art", die im 19. Jahrhundert entstand, vermuten ließe. Mit dem Aufgreifen eines entsprechenden Themas traf ein Künstler bereits eine Entscheidung dafür, den betreffenden Sachverhalt für wichtig und kunstwürdig zu halten und weder zu übersehen, zu ignorieren noch zu verdrängen. Letzteres waren aber durchaus geläufige Verhaltensweisen und (kultur-)politische wie ästhetische Strategien. Soziale Gegenmodelle zu den entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnissen, zu proletarischem Dasein, wurden als Wunschbilder harmonischen Lebens verbreitet: patriarchalisches „Kleine-Leute-Glück" und die verklärte Natürlichkeit bäuerlichen Lebens. Thematische Bezugnahme auf die soziale Frage blieb daher auf einen kleinen Teil der Kunstproduktion beschränkt, dessen Umfang allerdings im Verlauf der Jahrzehnte anwuchs. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Bilder dieser Art nur begrenzt dazu taugten, als Verschönerung der bürgerlichen Wohnung und als „Fest für das Auge" zu dienen, wofür damals die Mehrzahl der Kunstwerke produziert und gekauft wurde. Auch die öffentliche Monumentalkunst griff diese Thematik begreiflicherweise nur sehr zögernd auf, und wenn, dann allenfalls, um die Sozialgesetzgebung, dargestellt als Mildtätigkeit, dem Herrscher als sein Verdienst zuzuordnen, wie es bei Johannes Schillings Denkmal für Wilhelm I. auf dem Hamburger Rathausplatz (1899—1903) der Fall war. Diejenigen, die als Leidtragende der Widersprüche am dringlichsten an der Veränderung der Verhältnisse interessiert waren, kamen als Rezipienten — als Ausstellungs- oder Museumsbesucher — nur eingeschränkt und als Käufer, als materielle Träger einer für ihre Interessen eintretenden Kunst überhaupt nicht in Frage. Eine gewisse Ausnahme bildete in dieser Hinsicht die Illustrationsgraphik in Zeitschriften und Büchern. Nur bürgerliche Käufer mit sozialem Gewissen und private Kunstsammler oder Museen, die Werke mit Themen zur sozialen Frage als Zeugnisse einer aktuellen Strömung künstlerisch hochzuschätzen bereit waren, konnten einem Maler die Aussicht bieten, ein derartiges Bild verkaufen zu können. Thematik allein reicht allerdings nicht aus, um die uns interessierende Frage nach der gesellschaftspolitischen Bewertung des Dargestellten, der Parteinahme des Künstlers zu beantworten. Diese läßt sich oft nur schwer mit einiger Genauigkeit feststellen. Das liegt daran, daß sie häufig unentschieden, unscharf oder ambivalent, u. U. auch absichtlich verdeckt war. So waren auch für den zeitgenössischen Betrachter unterschiedliche Lesarten eines Bildes möglich. Werke, in denen die revolutionäre Konzeption zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse offen vertreten, der revolutionäre Kampf positiv gewürdigt und für neue Kämpfe agitiert wurde, waren selten. Das entsprach dem Bewußtseinsstand der meisten Künstler bzw. läßt Rückschlüsse auf ihn zu und entsprach auch den geringen Möglichkeiten, mit solchen Arbeiten an die Öffentlichkeit zu gelangen. Eine Darstellung zur Pariser Kommune von Franz Defregger, überraschende thematische Ausnahme im Œuvre dieses Bauernmalers, konzentrierte sich voll Mitgefühl auf das Leid von Frauen, Kindern und Verwundeten in einem von Kommunarden verteidigten Keller, blieb aber ebenso unausgeführte, unveröffentlichte Skizze wie zwei Jahrzehnte zuvor Adolph Menzels Bild zur Revolution von 1848 „Aufbahrung der Märzgefallenen". Das Auftreten solcher Darstellungen, die Zunahme z. B. von Streikdarstellungen auf das Jahrhundertende zu, seit den 80er Jahren, reflektierte die allgemeine Entwicklung und Ausstrahlung der Arbeiterbewegung. Ein solcher Reflex waren aber auch Darstellungen, die Abscheu und Furcht vor der Revolution verbreiten wollten. Zwei Auffassungen waren am weitesten verbreitet : Eine Art von Darstellungen, die Mit-

Bildende Kunst und „soziale Frage"

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gefühl mit dem schweren Schicksal von hart Arbeitenden, Armen, Elenden usw. erwecken wollte, um mehr oder weniger zu (christlicher) Nächstenliebe oder zu Reformen des Sozialverhaltens zu stimulieren, und eine sich mehr oder weniger sachlich feststellend gebende, „positivistische" Art der Darstellung von Zuständen. Die Grenze zwischen der letzteren und einem evident „kritischen Realismus" bzw. einer offenen Agitation, die Verhältnisse umzustürzen, blieb eigentümlich verschwommen. Gustave Courbet, dessen Gemälde für ganz Europa und Amerika eine Schlüsselstellung in der Entwicklung des realistischen Eingehens auf die neue soziale Problematik einnahmen, soll dem Comte d'Ideville auf dessen Frage, ob er mit seinen bekannten „Steinklopfern" (1849, ehem. Dresden, Gemäldegalerie, Kriegsverlust) einen sozialen Protest auslösen wolle, während das Bild doch eher Mitleid empfinden lasse, geantwortet haben: „Dieses Mitleid resultierte aus einer Ungerechtigkeit, und damit habe ich, ohne es zu wollen (!), aber einfach indem ich das malte, was ich gesehen habe (!), das angesprochen, was man die soziale Frage nennt." 3 Diese Zurückhaltung in bezug auf den offenen Protest war kennzeichnend ; die Ursachen für sie waren unterschiedlich und* wurden nicht aufgedeckt. Mangelnde Einsicht in die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, das Fehlen einer revolutionären Überzeugung, das Zurückschrecken vor der Revolution und ihren Konsequenzen gehörten dazu. Die realistische und naturalistische künstlerische Methode des 19. Jahrhunderts, die Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen abzubilden „wie sie ist", gab den Künstlern die Möglichkeit, sich auf den Standpunkt zurückzuziehen, man solle den Spiegel nicht dafür schelten, was er zeigt. Und die herrschende öffentliche Meinung ließ es einem Künstler, der sich auf der Kunstszene halten und von seiner Kunst leben wollte, geraten erscheinen, sich nicht als Umstürzler zu bekennen. Die konservativen und reaktionären Kunstauffassungen pflegten nämlich die ästhetische Diskussion offen mit politischen Akzenten zu versehen. Der Einbruch des Realismus, der gegenwärtige Wirklichkeit so wiedergab, wie der Künstler sie sah, in eine Kunstwelt des „Idealen" und der formalen Normierung durch Meisterwerke der Vergangenheit wurde von der antirealistischen Kunstkritik — durchaus zu Recht ! — in einen engeren Zusammenhang mit den sozialen, politischen, weltanschaulichen Bewegungen der Demokratie und des Sozialismus gebracht, als es viele der Realisten und ihrer Befürworter selbst taten. Bei dem einflußreichen, in seinen Standpunkten etwas schwankenden, im wesentlichen konservativnationalistischen Kunstkritiker Friedrich Pecht findet sich 1884 ein Schlüsselsatz für diese zweifellos seit längerem allgemein verbreitete Auffassung: „Daß dieses ungekämmte Plebejertum in der Kunst (nämlich „schlottrig und gemein in den Formen zu werden, ja das Schöne im Häßlichen zu suchen", so Pecht zuvor, P. H. F.) aber gerade bei uns einen so breiten Platz erlangte, hängt doch mit der politischen Entwicklung, vorab mit dem Auftreten der Demokratie — ja des Sozialismus, viel enger zusammen, als es den Trägern dieser neuesten Richtung selber irgendwie bewußt wurde (!)." 4 Dies zielte in erster Linie auf Stil und Gestaltungsweise, aber bei „plebejischer" Thematik wurde es noch brisanter. So wurde es nachgerade zu einem kunstkritischen Topos der Befürworter von Bildern mit „sozialen" Themen, daß ihnen „alle Absichtlichkeit" fehle, wie es Max Jordan, der Direktor der Berliner 3

Courbet raconté par lui-même et par ses amis, ed. Pierre Courthion, Genf 1948—50, Bd. 1, S. 214; zitiert nach Michael Nungesser: „ U n d selbst die soziale Frage zieht ein in die weit geöffneten Pforten der Kunst" — Die „Steinklopfer" im Spiegel der Kritik, in : Realismus als Widerspruch : Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, hrsg. von Klaus Herding, Frankfurt am Main 1978, S. 177—193.

4

Friedrich

Pecht,

Bearbeitung von Franz von Reber: Geschichte der Neueren deutschen Kunst, Bd. 3,

Leipzig 1884, 2. Aufl., S. 286. 14»

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Peter H. Feist

Nationalgalerie, 1875 über Adolph Menzels „Eisenwalzwerk" an den Minister schrieb, um das Geld für den Ankauf des Gemäldes bewilligt zu erhalten. 5 Christian Ludwig Bokelmanns mehrfach ausgestelltes Gemälde „Streik in der Tischlerwerkstatt" (1888) sei „ohne das heuchlerische Pathos sozialdemokratischer Tendenzmalerei", schrieb der ebenfalls viel gelesene Kunstkritiker Adolf Rosenberg.6 Dabei fallt es heute schwer, Beispiele aus der deutschen Malerei dieser Zeit auszumachen, auf die Rosenbergs gehässige Charakterisierung, die ja das Vorhandensein einer ganzen Strömung suggeriert, zutreffen könnte. Das meiste war ähnlich „zahm" wie Bokelmanns Bild. Käthe Kollwitz war mit ihren Graphiken noch nicht hervorgetreten. Eine gewisse Ausnahme bildete Robert Koehlers „Streik" (1886, Besitz Lee Baxandall, USA), gemalt in München, aber inspiriert durch Vorgänge in den USA und fast nur in diesem Land geblieben. Peter Weiss hat in seiner „Ästhetik des Widerstands" die Aufmerksamkeit neuerlich auf dieses große Gemälde gelenkt.7 Über malerische Qualität zu sprechen, aber soziale Tendenz abzustreiten, wurde zu einer Art Strategie, realistische Kunst beim bürgerlichen Publikum und Käufer durchzusetzen. Sie wirkte zweifellos auf das Selbstverständnis der Künstler und die „Wirkungsstrategien" ihrer Werke8 zurück, und wie wir sahen, hat dem selbst Courbet mit der Interpretation seiner Methode Vorschub geleistet. Unter diesen Bedingungen, die von den gesellschaftlichen Kunstverhältnissen für das Kunstschaffen gegeben wurden, erscheint erst einmal jedes erkennbare Eingehen von bildenden Künstlern auf die „soziale Frage" als beachtenswert. Darstellungen, die — u. U. mit einer damals anzutreffenden Neigung zu einer bloß reißerischen Wahl bisher unerschlossen gebliebener Bildstoffe oder zu schockierender Banalität — ein Stück gesellschaftlicher Widersprüche registrierten, die Nöte der Armen zum Rührstück machten oder mit liberaler oder christlicher Humanität behandelten, sind als eine ideologisch verschwommene „Arme-Leute-Kunst" von der marxistischen Kunstwissenschaft für die Behandlung der Vor- und Frühgeschichte einer mit der Arbeiterbewegung verbundenen sozialistischen Kunst im allgemeinen nicht eingehend berücksichtigt worden. 9 Ihre in der Regel nicht sehr hohe künstlerische Qualität trug dazu bei. Als Zeugnisse für die Breite und Unterschiedlichkeit, in der sich auch bildkünstlerisch Bewußtheit von der Wucht und Dringlichkeit der „sozialen Frage" herstellte, verdienen sie, die meistens nur noch in schlechten, alten Reproduktionen, knappen Beschreibungen oder lediglich dem Titel nach erfaßbar sind, jedoch eine ernsthaftere Beachtung. Fast in jedem Falle artikulierten sie allein durch ihre Existenz zumindest einen Widerspruch zu der — wenn auch auf dem Rückzug befindlichen, so doch noch mächtigen und verbreiteten — Kunstkonzeption, die auch Wilhelm II. in 5

6 7

8

9

Françoise Forster-Hahn, Adolph Menzels „Eisenwalzwerk" : Kunst im Konflikt zwischen Tradition und sozialer Wirklichkeit, in : Die Nützlichen Künste, Gestaltende Technik und Bildende Kunst seit der Industriellen Revolution, hrsg. von Tilmann Buddensieg u. Henning Rogge, Berlin(West) 1981, S. 122—129, Zitat S. 123. Adolf Rosenberg, Christian Ludwig Bokelmann, in: Zs. f. bild. Kunst, N F 1 (1890) S. 3—7, m. Abb. Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Roman, Berlin 1983, Bd. 1, S. 356 ff. — Vgl. mit etwas abweichender Beurteilung Peter H. Feist, Die Bedeutung der Arbeiterklasse für den Realismus der Käthe Kollwitz, in: Ders., Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft, Dresden 1978, S. 208, Abb. 26, zuerst in Wiss. Zeitschr. d. Humboldt-Univ. Berlin, Gesellsch.- u. sprachwiss. R. 17 (1968). Der Begriff lehnt sich an die wichtigen kunsttheoretischen Erkenntnisse von Dieter Schlenstedt an (Wirkungsästhetische Analysen: Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur, Berlin 1979). Am weitesten geht die Skizze von Günter Meißner, Soziale Tendenzen in der bildenden Kunst des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Deutsche Kunst 19./20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog, Staatliche Museen zu Berlin, Altes Museum — National-Galerie 1966, S. 77—96.

Bildende Kunst und „soziale Frage"

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seiner Rede am 18. Dezember 1901 zur Vollendung der Berliner Siegesallee autoritativ verkündete: „Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volk." Denn die Kultur müsse, u. zw. „bis in die untersten Schichten des Volkes" dringend, erheben, „statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt". 10 Die „Rinnsteinkunst", wie es danach hieß, und die verschiedenen Arbeitsdarstellungen haben durch ihre motivischen Entdeckungen, Bildstrukturen und gestalterischen Topoi außerdem ein bildsprachliches Material erbracht, das u. U. weit über die unmittelbaren ideologischen Intentionen der Urheber hinausgehend in der späteren Entwicklung von sozialistischer realistischer Kunst verarbeitet weiterwirken konnte. Dies ist beispielsweise bei Menzels „Eisenwalzwerk" der Fall und bei Max Liebermanns Darstellungen aus den 1870er und 80er Jahren von Arbeitsvorgängen, die gleichförmig von vielen, also industriemäßig ausgeführt werden. 11 Es ist im Wesen der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung wohlbegründet, daß diese und andere Werke sowohl in ihrer Zeit als auch während des seither vergangenen Jahrhunderts unterschiedlich, ja konträr interpretiert wurden und auch uns und den Nachfolgenden immer neue produktive „Lesarten" ermöglichen. Für den Kunsthistoriker ergibt die Vielfalt der künstlerischen Reflexe auf die „soziale Frage" im 19. Jahrhundert ein theoretisch-methodologisch wichtiges Beispiel für die Arten und Weisen, wie sich Kunst zur gesellschaftlichen Realität in ihrer geschichtlichen Bewegung verhalten kann und wie die Entwicklung der Kunst, vermittelt durch das Be^ingungsgefüge der Kunstverhältnisse, von den gesellschaftlichen Kräften in ihrer sich prozeßhaft verändernden Beziehung aufeinander beeinflußt wird. Dem Historiker können Werke der bildenden Kunst, in ihrer Widerspiegelungsleistung richtig interpretiert, eine zusätzliche Information über erscheinende Sachverhalte des sozialhistorischen Geschehens geben — Andeutungen darüber, wie der Alltag des deutschen Volkes aussah. In erster Linie müssen sie ihm aber in ihrer Eigenschaft als spezifische Interpretation von gesellschaftlicher Realität zu einer Quelle werden, die Auskunft über die Art und die Verbreitung von Bewußtsein über gesellschaftliche Verhältnisse gibt, u. zw. vor allem auf der für sozio-kulturelle Vorgänge so wesentlichen Ebene des Alltagsbewußtseins. Daher die Benutzung der „Zeitungsschreiberphrase" von der „sozialen Frage" und ihrer Lösung. Das Kunstschaffen kann auf Grund der für diese Art der Aneignung der Welt kennzeichnenden Feinfühligkeit für Lebensvorgänge, für geistiges Klima, für das, „was in der Luft liegt", äußerst wertvolle Symptome für gesellschaftliche Zustände, Kräfteverhältnisse und Bewegungen liefern. Damit der Gesamtprozeß der Geschichte immer genauer erkannt wird, bedürfen sie m. E. noch mehr, als es üblich ist, der gemeinsamen Analyse durch Historiker und Kunsthistoriker. 12 10

Vgl. zuletzt in Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Texte und Dokumente, hrsg. von Wolfgang Beyrodt, Ulrich Bischoff, Werner Busch und Harold Hammer-Schenk, Bd. 3: Skulptur und Plastik, hrsg. von Ulrich Bischoff, Stuttgart 1985 (Reclam -Universal-Bibliothek 8043 [4]), S. 252. 11 Peter H. Feist, Adolph Menzel und der Realismus, in: Adolph Menzel, Gemälde, Zeichnungen, Staatl. Museen zu Berlin Hauptstadt der DDR, Nationalgalerie, Ausstellung 1980, S. 17—25; ders., Max Liebermanns Entscheidungen, in: Für Max Liebermann, 1847—1935. Eine Schwarzweiß-Ausstellung der Akademie der Künste der DDR und des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin Hauptstadt de r DDR, Nationalgalerie 1985, S. 9—14. 12 Verfasser hat hier einige Fragen noch einmal aufgegriffen, die er während einer Tagung 1983 unter anderem Aspekt behandelte: Die „soziale Frage" in der bildenden Kunst und die Herausbildung sozialistischer Kunst, in: Studien zu sozialistischer Kunst und Kunsttheorie (1830—1917), Wissenschaftl. Zeitschr. der HumboldtUniversität zu Berlin, Gesellschaftsw. R. 34 (1985) H. 1/2, S. 21—26.

HELGA NUSSBAUM

Inwiefern wurde der deutsche Bauer manipuliert? Zu einigen objektiven Voraussetzungen möglicher oder unmöglicher Bündnispolitik vor dem ersten Weltkrieg

Die Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Produzenten in der DDR legt u. a. auch Zeugnis davon ab, welche Leistungen für den gesellschaftlichen Fortschritt Bauern — auch auf deutschem Boden, auch im 20. Jh., auch in politischer Hinsicht — erbringen können. Das Phänomen, daß größere Teile der bäuerlichen Bevölkerung im imperialistischen Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jh. Stützen konservativer und reaktionärer Politik gewesen sind, ist unbedingt aus dieser Perspektive zu betrachten. Diese Perspektive ermöglicht es auch, z. B. Gollwitzers Behauptung, daß der Marxismus die Bauern immer geschmäht und bekämpft habe 1 , ohne weiteren Kommentar als schlichten Unsinn zu bezeichnen. Betrachtet man also mit den heutigen historischen Erfahrungen Lage und Bestrebungen der Bauern und der Arbeiter zur Zeit um die Jahrhundertwende, ist man doch versucht, einige Fragen aufzuwerfen. War es wirklich einzig und allein auf Demagogie und Manipulation durch die Herrschenden zurückzuführen, wenn sich, nach Lenins drastischer Formulierung bei der Analyse der Reichstagswahlen von 1912, „das deutsche Dorf, die deutsche Bauernschaft . . . bis heute fast ausnahmslos in geistiger und politischer Knechtschaft der Gutsbesitzer und Pfaffen befindet"? 2 Gab es um 1900 wirklich schon genügend Bedingungen für eine wirksame und erfolgversprechende Bündnispolitik der Sozialdemokratie mit den Bauern? Ein Nein auf beide Fragen sei zunächst einmal als Hypothese gesetzt. Es folgen Material und Überlegungen zur Begründung dieser Hypothese(n). Als die deutsche Sozialdemokratie Probleme eines Agrarprogramms diskutierte und Engels dazu seine Meinung schrieb, ging eine langjährige Weltagrarkrise ihrem Tiefpunkt entgegen. Die Preiskurven für Getreide hatten seit Anfang der 1870er Jahre bei aller Zick-zackBewegung einen deutlich sinkenden Trend. Besonders drastisch war im Rahmen dieser Abwärtsbewegung der Preisfall von der letzten Spitze 1891 bis zum Tief 1894: Roggen fiel von 211,2 auf 117,8, Weizen von 224,2 auf 136,1 Mark/to. 3 Der Roggenpreis erreichte damit den 1

2 3

Europäische Bauernparteien im 20. Jh., hg. v. Heinz Gollwitzer, Stuttgart/New York 1977, S. 2 ( = Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 29). W. I. Lenin, Die neuesten Angaben über die Parteien in Deutschland, in: Werke, Bd. 19, Berlin 1965, S. 259. Alfred JacobsjHans Richter, Die Großhandelspreise in Deutschland von 1792 bis 1934, in: Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 37, Berlin 1935, S. 52 f. (Berliner Börsenpreise) sowie Schaubilder, S. 90.

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tiefsten Stand seit 1864, bei Weizen lagen ähnliche Tiefpreise noch weiter zurück. Die Erzeugerpreise für Fleisch sahen zwar nicht diesen sinkenden Trend, sondern pendelten seit Anfang der siebziger Jahre um eine etwa gleichbleibende Höhe, aber bei anderen tierischen Produkten, wie Butter, Schmalz, Talg, Häuten und Fellen, verhielt es sich ganz ähnlich wie beim Getreide. 4 Von den finanziellen Ertragseinbußen waren also nicht allein diejenigen Landwirtschaftsbetriebe betroffen, deren Hauptmarktprodukt das Getreide war, also grob gesprochen: die Gutsbetriebe des Ostens. Viele Landwirte kamen in Schwierigkeiten. Es trat noch ein weiterer Faktor hinzu: 1892 war ein Jahr einer Maul- und KlauenseuchenEpidemie, deren Umfang bis zum ersten Weltkrieg nur 1899 und 1911 übertroffen wurde. 1892 waren rund 105000 Gehöfte befallen, in denen rund 1,5 Millionen Rinder, über 2 Millionen Schafe und fast eine halbe Million Schweine standen. 5 Waren in Preußen 1886/87 schon so viele land- und forstwirtschaftliche Grundstücke versteigert worden wie in keinem folgenden Jahr bis 1931 (auch der Fläche nach nicht), so ergab sich, nach leichtem Rückgang, dann 1892/93 nochmal eine Spitze, die fast an die von 1886/87 heranreichte. Danach nahmen sowohl Zahl als auch Gesamtfläche der zwangsversteigerten Grundstücke ab, zunächst langsam, im Weltkrieg schnell, in den Inflationsjahren noch schneller, um danach wieder rasch anzusteigen.6 Was die deutschen Landwirte in diesen Jahren erlebten, war aber kein deutsches Spezialproblem. Auf dem Weltmarkt machten nicht nur die Preise für Brotgetreide diesen 30—20 jährigen Fall durch, sondern auch die für viele Erzeugnisse überseeischer Landwirtschaft: Reis, Tee, Palmöl, Baumwolle, Wolle.7 Es handelte sich eben um eine Weltagrarkrise, um einen Bestandteil dessen, was heute „Great Depression" genannt wird, um eine lange Abschwungswelle, die um 1895 wieder in eine Aufschwungswelle umschlug. War aber im Tiefpunkt 1894 der dann etwa 20 Jahre, über mehrere Krisenzyklen hinweg anhaltende weltwirtschaftliche Aufwärtstrend abzusehen? Wohl kaum, muß man sagen; oder besser: Ausgeschlossen! In die Jahre 1892, 1893, 1894, Jahre scharfen Preisfalls auf den Tiefpunkt und hoher Versteigerungszahlen, fielen unter anderem folgende Vorgänge und Ereignisse: — die Gründung des von Großagrariern geführten Bundes der Landwirte (BdL) und des Bayerischen Bauernbundes 1893 und 1895, — Heftiger Meinungsstreit in der Sozialdemokratie um Landagitation und Agrarprogramm, insbesondere auf dem Frankfurter Parteitag im Oktober 1894. — Ausarbeitung von Friedrich Engels' Artikel „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" im November 1894. In diesem Artikel schildert Engels sehr prägnant, wie bedrohlich die Landwirte die Lage empfinden mußten: „Die Konkurrenz Nord- und Südamerikas und Indiens hat den europäischen Markt mit wohlfeilem Getreide überschwemmt, so wohlfeil, daß kein einheimischer Produzent damit konkurrieren kann. Großgrundbesitzer und Kleinbauern sehn beide 4 5 6

Ebenda, S. 9 1 - 1 0 0 . Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 1899, S. 210ff.; Jg. 1919, S. 353ff. GerhardKokotkiewicz, Der Immobiliarkredit. Seine Lage und Aussichten, Berlin 1932, S. 13 ( = Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 30 [Zweite, erweiterte und neubearbeitete Aufl. d. Sonder-

7

heftes 26]). Jacobs!Richter,

Großhandelspreise, S. 91 — 100.

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gleichmäßig den Untergang vor Augen. Und da sie beide Grundbesitzer und Landleute sind, wirft sich der Großgrundbesitzer zum Vorkämpfer der Interessen des Kleinbauern auf, und der Kleinbauer — im ganzen und großen — akzeptiert diesen Vorkämpfer." 8 Wenn Engels nun im folgenden die wichtigen Hinweise gibt, die erst im 20. Jh. zu Grundlagen erfolgreicher Bündnispolitik der marxistisch-leninistischen Arbeiterparteien geworden sind, so stand ihm damals unter anderem vor Augen: 1. „Die Eroberung der politischen Macht durch die sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt" schreibt er kurz nach dem oben Zitierten und fahrt fort: „Um aber die politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der Stadt auf das Land gelten, muß eine Macht werden auf dem Land. Sie, die vor allen anderen Parteien voraus hat die klare Einsicht in den Zusammenhang der ökonomischen Ursachen mit den politischen Folgen, die also auch die Wolfsgestalt unter dem Schafspelz des großgrundherrlichen zudringlichen Bauernfreunds längst erspäht hat — darf sie den dem Untergang geweihten Bauern ruhig in den Händen seiner falschen Beschützer lassen, bis er aus einem passiven in einen aktiven Gegner der industriellen Arbeiter verwandelt wird? Und damit sind wir inmitten der Bauernfrage." 9 2. stand ihm vor Augen die zerstörerische Wirkung der langen Agrarkrise, die die massenhafte Verdrängung des kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebes schon in nächster Zukunft wahrscheinlich machte. Er schrieb daher: „Es ist die Pflicht unsrer Partei, den Bauern immer und immer wieder die absolute Rettungslosigkeit ihrer Lage, solange der Kapitalismus herrscht, klarzumachen, die absolute Unmöglichkeit, ihnen ihr Parzelleneigentum als solches zu erhalten, die absolute Gewißheit, daß die kapitalistische Großproduktion über ihren machtlosen, veralteten Kleinbetrieb hinweggehen wird wie ein Eisenbahnzug über eine Schubkarre. Tun wir dies, so handeln wir im Sinne der unvermeidlichen ökonomischen Entwicklung, und diese wird den Kleinbauern schon offne Köpfe machen für unsere Worte."- 0 Niemand konnte damals voraussehen, daß diese richtige Prognose der ökonomischen Entwicklung sich als stürmischer Prozeß erst 50—60 Jahre später in vielen kapitalistischen Ländern durchsetzen würde. Aiich in bezug auf das kapitalistische Deutschland haben wir die zwar erklärbare, aber dennoch erstaunliche Tatsache zu verzeichnen, daß sich die agrarischen Besitzstrukturen zwischen Mitte der 1890er und Ende der 1930er Jahre im großen und ganzen nicht dramatisch verändert haben (vgl. Tabelle Anhang 1). Entscheidende Strukturverschiebungen hin zum größeren Betrieb im Sinne der von Engels genannten „unvermeidlichen ökonomischen Entwicklung" setzten erst in den Jahrzehnten nach dem*2. Weltkrieg in der BRD ein. Engels' Hoffnung, diese unvermeidliche ökonomische Entwicklung würde „den Kleinbauern schon offne Köpfe machen für unsere Worte", konnte sich daher damals nur in bescheidenem Maße erfüllen, selbst wenn seine Worte — d. h. die Konzeption der Produktionsgenossenschaft — von der deutschen Sozialdemokratie richtig verwendet worden wären. Angesichts der dramatischen Wirkungen der Agrarkrise sah Engels auch für die Betriebe der Mittel- und Großbauern keine längere Zukunft mehr: „Wollen diese Bauern die Garan8 9 10

Friedrich Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: MEW, Bd. 22, Berlin 1977, S. 486. Ebenda. Ebenda, S. 502.

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tie der Fortdauer ihres Betriebes, so können wir ihnen das absolut nicht bieten. Ihr Platz ist dann bei den Antisemiten, Bauernbündlern und dergleichen Parteien, die sich ein Vergnügen daraus machen, alles zu versprechen und nichts zu halten. Wir haben die ökonomische Gewißheit, daß auch der Groß- und Mittelbauer vor der Konkurrenz des kapitalistischen Betriebs und der wohlfeilen überseeischen Kornproduktion unfehlbar erliegen muß, wie die wachsende Verschuldung und der überall sichtbare Verfall auch dieser Bauern beweist. Wir können gegen diesen Verfall nichts tun, als auch hier die Zusammenlegung der Güter zu genossenschaftlichen Betrieben empfehlen, bei denen die Ausbeutung der Lohnarbeit mehr und mehr beseitigt und die allmähliche Verwandlung in gleichberechtigte und.gleichverpflichtete Zweige der großen nationalen Produktionsgenossenschaft eingeleitet werden kann. Sehen diese Bauern die Unvermeidlichkeit des Untergangs ihrer jetzigen Produktionsweise ein, ziehen sie die notwendigen Konsequenzen daraus, so kommen sie zu uns, und es wird unsres Amtes sein, auch ihnen den Übergang in die veränderte Produktionsweise nach Kräften zu erleichtern. Andernfalls müssen wir sie ihrem Schicksal überlassen und uns an ihre Lohnarbeiter wenden, bei denen wir schon Anklang finden werden. Von einer gewaltsamen Expropriation werden wir auch hier wahrscheinlich absehen und im übrigen darauf rechnen können, daß die ökonomische Entwicklung auch diese härteren Schädel der Vernunft zugänglich machen wird." 11 Die Geschichte hat „die Unvermeidlichkeit des Untergangs ihrer jetzigen Produktionsweise" bewiesen, doch damals ist der Untergang noch nicht von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden. Die Möglichkeit jedoch hing gerade in jenen Jahren vor 1894 wie ein Damoklesschwert über den Köpfen. Kein Wunder also, daß nicht wenige Landwirte, auch kleinere und mittlere Bauern, die Großgrundbesitzer in der Führung des Bundes der Landwirte als ihre „Vorkämpfer" akzeptierten, wie Engels es ausdrückte. Die Mitgliederzahl des BdL wuchs stetig an, von 162 000 im Gründungsjahr 1893 bis auf 330000 im Jahr 1914; ab Ende der neunziger Jahre stammte mehr als die Hälfte der Mitglieder aus Gebieten westlich der Elbe. 12 An dieser Stelle ist vielleicht ein Zahlenüberblick über die landwirtschaftlichen Betriebsinhaber von Betrieben ab 2 ha in den beiden Zählungen 1895 und 1907 angebracht (Tabelle 1): Die Großgrundbesitzer selbst waren natürlich eine zahlenmäßig dünne Schicht. Der Massenänhang des BdL konnte sich nur aus Landwirten der anderen Betriebsgrößengruppen zusammensetzen. Über die Struktur der Mitgliederschaft schrieb Fricke folgendes: „Nach den Angaben, die der Vorstand verschiedentlich in den Geschäftsberichten machte, betrug der Anteil der Mitglieder, die über 20 M Jahresbeitrag bezahlten, also nach den Satzungen über einen Grundbesitz von mehr als 200 ha verfügten, in den ersten Jahren des BdL 2 % und seit der Jahrhundertwende durchschnittlich 0,5% (1902: 1500, 1913: 1733). Zu den ,mittleren' Grundbesitzern zählten durchschnittlich 12 bis 14% aller Mitglieder, während die ,Kleingrundbesitzer' die Masse der Mitgliederschaft, ca. 85 bis 89% ausmachten." 13

11 12

13

Ebenda, S. 503. Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789—1945). In vier Bänden, hg. von Dieter Fricke (Leiter des Herausgeberkollektivs), Werner Fritsch [u. a.], Bd. 1, Leipzig 1983, S. 242. Dieter Fricke, „Bund der Landwirte", in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlichen Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 133.

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Tabelle 1 Zahl der Betriebsinhaber von Landwirtschaftsbetrieben ab 2 ha im Deutschen Reich 1895 und 1907 1895

1907

Größenklasse in ha (LNF)

Betriebsinhaber insgesamt

Davon hauptberuflich i. d. Landwirtsch.

In BetriebsProzent inhaber insgesamt

Davon hauptberuflich i. d. Landwirtsch.

In Prozent

100 u. mehr 20-100 5 - 20 25

25061 281767 998804 1016318

23611 271079 908852 759025

94,5 96,5 91,0 74,6

22871 254104 981509 734868

97,1 96,9 92,1 73,0

23566 262191 1065539 1006277

Quelle: Die deutsche Landwirtschaft. Hauptergebnisse der Reichsstatistik, bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amt, Berlin 1913, S. 34f.

Tabelle 2 Anteile einzelner Betriebsgrößenklassen im Deutschen Reich 1907 Größenklasse in ha (LNF)

2- 5 5 - 20 20-100 100 u. mehr

Es bewirtschafteten

Es besaßen

Prozent der gesamten landwirtsch. Nutzfläche

Prozent der Getreideanbaufläche

Prozent des gesamten Rinderbestandes

Prozent des gesamten Schweinebestandes

1

2

3

4

9,8 32,6 29,6 24,6

9,5 33,6 30,6 22,8

15,7 39,3 26,5 11,9

16,5 33,5 19,3 7,3

Quelle: Spalte 1: Berechnet nach Die deutsche Landwirtschaft, Spalte 2: Berechnet nach ebenda, S. 119. Spalte 3 und 4: Berechnet nach ebenda, S. 198 f.

S. 118.

Für die wirtschaftlichen Potenzen der einzelnen Betriebsgrößenklassen gibt Tabelle 2 Anhaltspunkte. Deutlich sichtbar sind hier z. B. die hohen Produktionsanteile der rund 1 Million mittleren Bauern (5—20 ha). Hierbei handelt es sich freilich um Durchschnittszahlen für das Deutsche Reich. Doch darf man nicht von der Vorstellung ausgehen, in Ostelbien

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hätte es nur oder hauptsächlich Großgrundbesitz und Landarbeiterkleinstellenbesitz gegeben. In stärkstem Maße in dieser Richtung geprägt waren eigentlich nur die beiden Mecklenburg und der preußische Regierungsbezirk Stralsund. In den übrigen östlichen preußischen Regierungsbezirken überwog der Nutzflächenanteil des groß- und mittelbäuerlichen Sektors den des Großgrundbesitzes. Für Preußen insgesamt betrug der Nutzflächenanteil des Großgrundbesitzes 28,1 Prozent. Fassen wir den Inhalt der Tabelle 2 nochmals kürzer zusammen: Die rund 1,3 Millionen mittleren und großen Landwirte mit Betrieben von 5—unter 100 ha bewirtschafteten im Jahre 1907 und besaßen

62,2% der LNF 64,2% der Getreideanbaufläche 65,8 % des Rinderbestandes 52,8 % des Schweinebestandes im Deutschen Reich.

In diesen Betrieben wurde also der größere Teil der Agrarproduktion in Deutschland erzeugt. Diese Betriebe traten auch als Verkäufer auf dem Markt auf, und zwar nicht nur mit tierischen Produkten, sondern auch mit Getreide. Das Verkäuferinteresse mußte die Landwirte dieser Gruppe zwangsläufig mit dem der Großgrundbesitzer verbinden. Der springende Punkt ist, daß die Verkäuferinteressen der Mittel- und Großbauern und der Junker sich nur graduell unterschieden, nicht aber prinzipiell. Erstere waren stärker als die Junker an hohen Preisen für tierische Produkte interessiert, beide aber an hohen Getreidepreisen. Wiedenfeld hat aus der landwirtschaftlichen Betriebszählung von 1907 die Brot- und Futtergetreideanbauflächen der einzelnen Größenklassen berechnet sowie die Ernteergebnisse und den Pro-Kopf-Verbrauch der Bauernfamilien, des Gesindes, des Viehs. Er kam zu dem Schluß: „Erst der mittelbäuerliche Betrieb (5—20 ha) ist ein regelmäßiger Getreideverkäufer . . ," 14 Aus Buchführungsanalysen der 1920er Jahre ergab sich, daß die Betriebe von 5 bis 20 ha 32 Prozent ihres Getreideertrages verkauften, die von 20 bis 100 ha 46 Prozent, die über 100 ha 54 Prozent. 15 Die Kleinbesitzer mit unter 5 ha freilich verkauften in der Regel kein Getreide, ja viele von ihnen pflegten für die tierische Produktion Futtergetreide hinzuzukaufen. Soweit sie tierische Produkte verkauften, mußten sie an hohen Preisen interessiert sein, aber an niedrigen Getreidepreisen. In bezug auf letztere bestand also ein Gegensatz der Marktinteressen zwischen . den Kleinbesitzern einerseits sowie den Mittel- und Großbauern sowie Junkern andererseits. Denkt man sich eine Entwicklung, bei der die Getreidepreise steigen und die Preise für tierische Produkte gleichbleiben oder sinken, würde die Gruppe der Kleinbesitzer stark zu leiden haben, und der Gegensatz der Marktinteressen könnte zu offenen Konflikten führen. Nun war es aber so, daß in der Zeit nach der Trendwende 1895 bis 1914 die Preise für tierische Produkte stärker gestiegen sind als die Getreidepreise (Tabelle 3). Unter diesen Bedingungen konnten auch die Futterkäufer unter den Agrarproduzenten ihre Einnahmen erhöhen, und der theoretisch mögliche Interessenkonflikt kam nicht zum Tragen. Nochmals sei hervorgehoben: Wer sollte 1894 oder um 1900, als die Kämpfe um den neuen Zolltarif sich abspielten, diese Entwicklung voraussehen? 14

15

K. Wiedenfeld, Getreidezölle, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. v. Ludwig Elster, 3. völlig umgearb. Aufl., Bd. 1, Jena 1914, S. 1059. H. L. Fensch/L. Herholz, Die Verwendung der deutschen Getreideernte, Berlin 1930, S. 60 ( = Deutscher Landwirtschaftsrat. Veröffentlichungen, H. 18).

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Tabelle 3 Indices der Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte in Deutschland (1895/99 = 100) Jahr

Pflanzliche Produkte

Fleisch

Sonstige tierische Produkte

Landwirtschaftliche Produkte insgesamt

1880/84 1895/99 1910/13

115 100 131

94 100 136

103 100 143

106 100 136

Quelle : Berechnet nach Hoffmann, W. G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jh., Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 561 f.

Als die Gegner der Getreidezölle deren sicheren künftigen Schaden für die Kleinbauern hervorhoben, war eine derartige Steigerung der Preise für tierische Produkte nicht abzusehen. Und es sieht so aus, als ob viele der kleineren Landwirte mit einem solchen Schaden auch nicht gerechnet haben, denn es waren ja auch recht hohe Zölle für tierische Produkte vorgesehen, und für die setzten sie sich besonders ein.16 Aber, und das ist das Erstaunliche: auch für Getreidezölle. Aufschlußreich hierfür ist ein Verzeichnis "der beim Reichstag bis 7. Januar 1902 „eingegangenen, den Entwurf eines Zolltarifgesetzes betreffenden Petitionen". 17 Aus diesen 50 eng bedruckten Seiten sind die bekannten Fronten in einigen Grundsatzpositionen auf den ersten Blick abzulesen. „Für wesentliche Ermäßigung der Lebensmittelzölle" lautet das Petitum des Deutschen Handelstages zu Berlin. „Gegen Erhöhung der Zölle auf Getreide, Lebensmittel und Rohprodukte bzw. für Fortsetzung der bisherigen Handelsvertragspolitik" legte der Vorstand der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstags in Berlin 83756 Petitionen mit 3431784 Unterschriften vor. Rund 2450 weitere solcher Petitionen stammten von Vereinen, Verbänden, öffentlichen Volksversammlungen. Außer freisinnigen Wahlvereinen waren vertreten: Viele Handelskammern, Kommunalorgane von Städten, Handwerkerinnungen, mehrere Frauenvereine, der Verein für Handlungs-Commis von 1858, der Verein Berliner Schneidermeister für Damenkonfektion zu Berlin, der Gewerbeverein des Plauenschen Grundes zu Deuben, der Verein der Detaillisten zu Hanau, der Techniker-Verein zu Hannover, der Verband Deutscher Bürsten- und Pinselindustrieller zu Nürnberg, Evangelische Arbeitervereine, der Katholische Männerverein zu Tutzingen, der Verband der Ortskrankenkassen Thüringens, der „Zentralvorstand des Verbandes der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker) zu Berlin" mit 100426 Unterschriften. Diese kleine Auswahl möge noch einmal die Breite der Front illustrieren, die gegen Erhöhung der Agrarzölle war. Aber: Es 16

17

Zu den Zöllen für tierische Produkte siehe Dieter BaudislHelga Nussbaum, Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlh 1978, S. 244f. — In diesem Band sind einige der im vorliegenden Artikel nur knapp angedeuteten Fakten zur Ls^e und Struktur der Landwirtschaft ausführlicher erörtert (S. 177—248 und Anhangstabellen). Reichstagsberichte, Bd. 193, Drucksache Nr. 426: Erstes Verzeichnis der bei dem Reichstage eingegangenen, den Entwurf eines Zolltarifgesetzes betreffenden Petitionen (Abgeschlossen am 7. Januar 1902), S. 2742 bis 2799.

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war ganz überwiegend eine städtische Front. Auch bei den Petitionen aus „Öffentlichen Volksversammlungen" überwiegen die Städtenamen. Bei der Gruppe der Petitionen von „Einwohnern in . . ." (bei den oben gegebenen Zahlen nicht mitgezählt) stammt fast die Hälfte aus Städten und Industrieorten in Sachsen. Als einzige Ausnahme finden wir bei diesem Petitum „Gegen Erhöhung der Zölle auf Getreide, Lebensmittel, Rohprodukte . . ." eine kleine Gruppe von 30 Petitionen von Ländwirten. Sie wurden von 3 Vorstandsmitgliedern des 1896 gegründeten Bauernvereins „NordOst", der mit der Freisinnigen Vereinigung verbunden war, eingebracht, und zwar im Auftrag von in 31 Orten „veranstalteten Versammlungen von Landwirten". 18 Dieser Fall ist interessant. Die Orte lagen sämtlich in Hinterpommern, welches die Regierungsbezirke Stettin und Köslin umfaßte. Diese beiden Regierungsbezirke hatten in Preußen nach dem Regierungsbezirk Stralsund mit 73,4 Prozent die höchsten Anteile des Großgrundbesitzes an der LNF: 46,5 bzw. 47,9 Prozent. Die Betriebe mit 20—100 ha LNF hatten im Regierungsbezirk Köslin nur 20,9 Prozent Anteil, die kleineren Betriebe 31,2 Prozent. Die Freisinnige Vereinigung besaß ihre stärksten Positionen in den Küstenstädten und hatte offensichtlich im Junkerländ Hinterpommern ein bäuerliches „Hinterland" gefunden. Sollte man diese Ausnahme vielleicht gar nicht als solche betrachten dürfen? Hatten die Bauern in anderen Reichsteilen vielleicht keine Möglichkeit der Artikulation? Sieht man sich jedoch die Petenten an, die für die Erhöhung der Agrarzölle waren, sowie ihre Zollvorschläge, so fallt mehreres auf: 1. Zahlreiche Bauernvereine und Ortsversammlungen aus Reichsteilen, in denen Mitteloder gar Kleinbesitz vorherrschte, sprachen sich für die Erhöhung der Agrarzölle aus. 2. Unter diesen bäuerlichen Petenten gab es solche, die höhere Getreidezölle forderten als der Bund der Landwirte. 3. Der Bund der Landwirte wiederum, der für alle der über 200 land- und forstwirtschaftlichen Positionen des neuen Zolltarifs Vorschläge unterbreitet hatte, also auch für tierische Produkte und z. B. für Erzeugnisse des Garten- und Weinbaus, forderte bei einigen dieser Positionen höhere Zölle als Bauern-, Gärtner- oder Winzerverbände! Zu 1: Von den Petenten aus den westlichen und südlichen Teilen des Deutschen Reiches, die sich „für ausreichende Schutzzölle auf die land- und forstwirtschaftlichen Erzeugnisse" aussprachen, fällt besonders der Badische Bauernverein zu Fautenbach auf, dessen Präsidium 567 Petitionen aus ebensovielen Ortschaften mit 33218 Unterschriften einreichte. Das Großherzogtum Baden aber war der deutsche Staat mit dem größten Anteil von Betrieben von 2 bis 5 ha LNF an seiner gesamten LNF: 31 Prozent. Für die Betriebe von 5 bis 20 ha war der entsprechende Anteil dort 43 Prozent, für die von 20 bis 100 nur 9,2 und die über 100 3 Prozent. Der Badische Bauernverein nun bat außerdem „um Annahme des Doppeltarifs", was bedeutet, daß er für die Erhöhung der Getreidezölle eintrat. Der Regierungsentwurf sah für Getreide Minimalsätze vor, die bei Handelsvertragsverhandlungen nicht unterschritten werden durften, und einen Generaltarif für Importe bei vertragslosem Zustand. Für Weizen z. B. lautete der Zollvorschlag der Regierung für den Doppeltarif: 5,50 M und 6,50 M/dt (bzw. damals Doppelzentner) gegenüber den bislang geltenden Sätzen von 3,50 M und 5 M. Die badischen Bauern gingen zwar in ihren Forderungen nicht so weit wie der Bund der Landwirte, der 7,50 M/dt verlangte, aber sie waren für Erhöhung der Getreidezölle und unterstützten den Regierungsentwurf — ebenso wie andere Bauernvereine. 18

Ebenda, S. 2752.

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Zu 2: Über den Mindestsatz des Regierungsvorschlags hinaus gingen 38 Petitionen von Bauernvereinen und -Versammlungen aus West- und Süddeutschland. Zu denen, die einen Mindestsatz von 7 M/dt für alle Getreidearten forderten, gehörten die des Bayerischen Bauernbundes in Würzburg mit 73073 Unterschriften. Der Forderung des Bundes der Landwirte von 7,50 M/dt Mindestsatz für alle Getreidearten schlössen sich 140 Petitionen an. 24 Petitionen aus dem Rheinland forderten Mindestsätze von 7,50 bis 8 M/dt, zwei aus Bayern 8 M/dt. Die Vereinigung der christlichen deutschen Bauernvereine zu Kempen (Rhein) verlangte für Weizen und Roggen ebensoviel wie der BdL, für Gerste und Hafer mit 6 M/dt höhere Mindestsätze als in der Zollvorlage vorgesehen. Dieser Petition waren 559 Gemeinden beigetreten. Zu 3: Für die verschiedensten landwirtschaftlichen Produkte gingen die Forderungen des Bundes der Landwirte oftmals über diejenigen anderer Petenten hinaus. So schlug der BdL für frische Weintrauben einen jahreszeitlich differenzierten Zollsatz von 30 bis 100 M vor, während verschiedene Dachverbände von Winzervereinigungen nur 24—30 M forderten. Auch in bezug auf Wein ging der BdL über die Winzerforderungen hinaus. Für Äpfel, Birnen, Quitten schlug der Verein selbständiger Gärtner Rheinlands und Westfalens je nach Verpackung einen Zollsatz von 3 bis 15 M vor, der BdL aber einen von 6 bis 15 M. Für Fleisch, Milch, Butter, Eier verlangte der BdL höhere Zollsätze als die Vereinigung christlicher deutscher Bauernvereine in Kempen (Rhein). Für Hopfen forderte er in Übereinstimmung mit den zahlreichen Petenten aus Bayern eine Erhöhung des Zollsatzes auf 100 M. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der BdL bei den Forderungen, die nicht Getreide betrafen, immer dann vorpreschte, wenn eine Interessentengruppe besonders zahlreich war. Wer nur Süßwasserfische, Sämereien oder Feingemüse verkaufte, wurde bei seinen Zollforderungen vom BdL höchstens in den Minimalsätzen unterstützt. In der vom BdL geforderten Höhe kamen viele der Zollsätze nicht durch, auch nicht für tierische Produkte. Aber der BdL hatte es verstanden, sich zum „Vorkämpfer" auch der bäuerlichen Interessen zu machen, zumindest der bäuerlichen Markt- oder wenn man will „Alltags"interessen. Lenin schrieb 1915 im Zusammenhang mit der Analyse amerikanischer Verhältnisse, bei seiner Verallgemeinerung aber offensichtlich vormonopolistische Bedingungen ins Auge fassend: „Unter dem Kapitalismus wird der kleine Landwirt — ob er will oder nicht, ob er es merkt oder nicht — zum Warenproduzenten. In dieser Veränderung liegt der ganze Kern der Sache. Diese Veränderung allein macht aus dem kleinen Landwirt, selbst wenn er noch keine Lohnarbeiter ausbeutet, einen Antagonisten des Proletariats, einen kleinen Bourgeois. Er verkauft sein Produkt, der Proletarier verkauft seine Arbeitskraft. Als Klasse können die kleinen Landwirte nicht umhin, eine Preissteigerung für landwirtschaftliche Produkte anzustreben, und das ist gleichbedeutend damit, daß sie sich mit den Großgrundbesitzern in die Grundrente teilen und sich mit ihnen gegen die übrige Gesellschaft solidarisieren. Der kleine Landwirt wird mit der Entwicklung der Warenproduktion seiner KlasserA> nach unvermeidlich zum Kleinagrarier." Und er stellte weiter fest, daß es im Kapitalismus typisch sei, daß „die Verbesserung der Lage der kleinen Landwirte als Klasse das Ergebnis ihres Zusammenschlusses mit den Gutsbesitzern" ist. 19 Diese im Hinblick auf amerikanische Verhältnisse geschriebene Analyse trifft aber m. E. auch genau „den Kern der Sache" in bezug auf Deutschland um die Jahrhundertwende. 19

W. I. Lenin, Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 93.

Inwiefern wurde der deutsche Bauer manipuliert?

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Bauern, ob kleine oder große, können bekanntlich rechnen. Gegen ihre Wirtschaftsinteressen oder Alltagsinteressen oder auch „kurzfristigen" Interessen haben sie sich jedenfalls nicht manipulieren lassen, wenn sie den Gutsbesitzern als ihren „Vorkämpfern" folgten. Eine gegenteilige Deutung wäre unrealistisch, würde die bäuerlichen Massen unterschätzen und täte ihnen Unrecht. Die Manipulation erfolgte auf einer anderen Ebene. Gollwitzer kommt 60 Jahre nach Lenin aus Forschungen zu europäischen Bauernparteien zu folgender Verallgemeinerung: Wo Interessengegensätze zwischen Großgrundbesitz und Bauern keine besonderen Streitpunkte mehr aufgeworfen hätten, hätten konservative Parteien es vermocht, oft große Teile des Bauernstandes zu ihrem Wählerreservoir zu machen. 20 Wie aber in Deutschland gerade jene Konservativen, die sich zum „Vorkämpfer" für die Tagesinteressen der Bauern gemacht hatten, politisch-ideologisch ausgerichtet waren, ist hinlänglich bekannt: „Der militante Nationalismus des BdL", schreiben Fricke und Hartwig, „äußerte sich immer stärker im Antisemitismus, in dem verschiedene seiner ideologischen Varianten, vor allem die antikapitalistische Demagogie, der Antisozialismus und der Biologismus mit zunehmend rassistischer Zuspitzung, vereinigt waren ... Im ersten Weltkrieg gehörte der BdL zu den reaktionärsten und aggressivsten Kräften, die um den Alldeutschen Verband (ADV) gruppiert waren. Die sich seit seiner Gründung tendenziell verstärkende antisozialistische, auch antidemokratische Grundlinie kulminierte während der Novemberrevolution und zu Beginn der revolutionären Nachkriegskrise in einem militanten Antikommunismus und Antisowjetismus, im verschärften Kampf gegen soziale und politische Rechte der Werktätigen und in den Bestrebungen zur Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie. Die Nachfolgeorganisation des BdL war der Reichslandbund (RLB)." 21 Wenn Lenin schreibt, daß die kleinen Landwirte ihrer Klassenlage nach nicht umhin können, sich mit den Großgrundbesitzern gegen die übrige Gesellschaft zu solidarisieren, betont er die historische Logik dieses Prozesses. Dessen tragische Aspekte in bezug auf die deutsche Entwicklung bis Mitte des 20. Jh. liegen in der besonders reaktionären Couleur der politisch führenden Großgrundbesitzer. Das praktische agrarpolitische Programm dieser Kräfte, das Programm bei der Gründung des BdL 1893 (siehe Anhang 2), bot tatsächlich „keine besonderen Streitpunkte" mit den Bauern. Es ist nicht zu sehen, mit welchem der 11 Punkte sich Bauern nicht hätten solidarisieren sollen. Gab es nun damals überhaupt reale Möglichkeiten für ein bündnispolitisches Gegenprogramm der Sozialdemokratie? Dieses Problem scheint der weiteren Erörterung wert zu sein. Engels betonte doch mit Recht, daß die Sozialdemokratie den Mittel- und Großbauern nichts versprechen könne. Unmöglich für sie, für höhere Preise auf Lebensmittel einzutreten! Unabdingbar jedoch, gegen den „Brotwucher" zu kämpfen. Dieser Kampf hat den beträchtlichen Preisanstieg für Agrarprodukte in der Zeit bis zum 1. Weltkrieg nicht verhindern können. (Es sei betönt, daß dieser Preisanstieg dem internationalen Trend entsprach; doch lagen z. B. bei Getreide dank anderer, den Schutzzoll flankierender staatlicher Maßnahmen die Preise in Deutschland tatsächlich um den vollen Zollsatz höher als auf dem Weltmarkt.) Die Preisschere ^wischen Agrarerzeugnissen und industriell erzeugten landwirtschaftlichen Produktionsmitteln blieb bis zum ersten Weltkrieg noch zugunsten der Landwirt20

Europäische

21

Lexikon zur Parieiengeschichle

Bauernparteien,

S. 8. Bd. 1, S. 248 und 241.

224

Helga Nussbaum

schaft geöffnet. 22 So führte der Preisanstieg für Agrarerzeugnisse zur Stabilisierung der» Einkommens- und Betriebsverhältnisse in der Landwirtschaft, auch der bäuerlichen. Wie aber wirkte sich dies auf die Situation der Arbeiter aus? Berechnet man entsprechend den in Tabelle 3 gegebenen Perioden die Indices für die Entwicklung der-Nominallöhne und vergleicht sie mit den Preisen, die die Landwirte erzielten, ergibt sich folgendes Bild. Tabelle 4 Indices der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise und der Löhne in Industrie und Landwirtschaft (1895/99 = 100) Jahr

Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte insgesamt

Durchschnittliche Löhne in Industrie und Landwirtschaft

1880/84 1895/99 1910/13

106 100 136

81 100 133

Quellen: Preisindices aus Tabelle 3, Lohnindices aus J. Kuczynskis Indexreihen berechnet. Angaben bis 1900: Kuczynski, /., Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 3, Berlin 1962, S. 297f. Angaben ab 1900: Ebenda, Bd. 4, Berlin 1967, S. 326.

In der ersten Periode waren die Geldlöhne um ein Viertel angestiegen. Da die Agrarpreise sanken, wirkte sich das im Anstieg der Reallöhne stark aus. In der zweiten Periode stiegen die durchschnittlichen Geldlöhne bei starker Streikaktivität immerhin um ein Drittel — aber wegen des Anstiegs der Lebensmittelpreise konnte sich das nicht auf die Reallöhne auswirken : Sie stagnierten. Wie hätte sich die Sozialdemokratie für eine solche Entwicklung einsetzen sollen? Mit dem Kampf gegen den „Brotwucher" hat sie vielmehr darum gekämpft und kämpfen müssen, diese Entwicklung zu verhindern. Was hier zum Ausdruck kam, war ein echter Interessenwiderspruch, der zu jener Zeit nicht überwunden werden konnte. Dieser Widerspruch zwischen „Kleinagrariern" und Arbeiterklasse verringert sich erst mit der Entwicklung des Monopolkapitalismus, wenn die Bedrohung durch die monopolistische Preisschere und durch imperialistische Kriege auch die Interessen der „Kleinagrarier" enger mit den Klasseninteressen des Proletariats, die zum Lebensinteresse breitester Schichten des Volkes werden, verbindet. 1901/02 aber trat der genannte Widerspruch klar zutage: Die „Kleinagrarier" konnten nicht umhin, die Erhöhung der Agrarpreise anzustreben, und das Proletariat bzw. seine Partei konnte nicht umhin, gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter durch den „Brotwucher" aufs entschiedenste anzukämpfen. Dieser von Lenin als Antagonismus bezeichnete Widerspruch mußte sich natürlich auf die Bündnisbedingungen zwischen Arbeiterklasse und bäuerlichen Mittelschichten für die 22

Baudis/Nussbaum, S. 194ff.

225

Inwiefern wurde der deutsche Bauer manipuliert?

folgende Zeit auswirken. In den Jahren, in denen dieser eigentlich dem vormonopolistischen Kapitalismus „angehörende" Widerspruch sich hier noch auftat, hatte das Monopolkapital schon dominierendes Gewicht in wichtigen Zweigen, waren die außenpolitischen Weichen bereits seit einigen Jahren auf expansionistische „Weltpolitik" gestellt, hatten die Großagrarier ihre Zustimmung zum verstärkten Ausbau der Kriegsflotte gegeben, für die die Mehrheit der Bourgeoisie unter Führung der schwerindustriellen Monopolbourgeoisie eintrat. Wesentliche Bedingungen für Bündnismöglichkeiten und -notwendigkeiten waren herangereift, die Epoche des Monopolkapitalismus hatte begonnen. Doch wichtig für die Analyse ist, daß man ganz klar sieht: Diese Epoche hatte erst begonnen. Alte, verkürzt gesagt „vormonopolistische" Widersprüche waren keineswegs alle verschwunden, nicht alle „neuen" schon genügend ausgereift. Erst mit der Vertiefung dieser neuen Widersprüche im Laufe von Jahrzehnten entwickelten sich reale Bündnismöglichkeiten, erwiesen sich Engels Ideen von 1894, die damals Prognose bleiben mußten, zum praktischen Programm realer Bündnispolitik.

Anhang 1 Anteil der einzelnen Größenklassen ab 2 ha an der LNF der landwirtschaftlichen Betriebe ab 2 ha in Preußen 1882—1939 (in Prozent). Jahr

2 - 5 ha1

5 - 2 0 ha1

20-100 ha1

100 u. mehr ha1

18822 18952 19072 19073 (Gebietsstand von 1925) 19253 19394 (Gebietsstand 17. 5. 39)

8,1 8,2 8,5 9,3

24,1 25,4 29,0 29,4

34,5 33,6 32,8 33,8

33,3 32,4 29,5 27,6

9,9 6,9

32,8 32,9

30,0 36,6

27,2 23,5

1

2 3 4

15

Die Größenklassen wurden in den Zählungen bis einschließlich 1925 nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche gebildet, 1939 nach der gesamten Betriebsfläche der Betriebe. Für 1939 gilt außerdem: Anteil der einzelnen Größenklassen ab 2 ha an der LNF aller land- undforstwirtschaftlichen Betriebe ab 2 ha. Die Zahlen für 1939 sind also nicht streng vergleichbar mit denen von 1925. Berechnet nach Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, 1914, S. 119. Berechnet nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 1929, S. 61. Berechnet nach: Ebenda, Jg. 1941/42, S. 102f.

Demokratie, Sozialismus

226

Helga Nussbaum

Anhang 2 Das Programm des BdL, das auf der Gründungsversammlung am 18. Februar 1893 in der Tivoli-Brauerei in Berlin angenommen wurde, enthielt die folgenden Forderungen: „1. Genügenden Zollschutz für Erzeugnisse der Landwirtschaft und deren Nebengewerbe. 2. Deshalb keinerlei Ermäßigung der bestehenden Zölle, keine Handelsverträge mit Rußland und anderen Ländern, welche die Herabsetzung der deutschen landwirtschaftlichen Zölle zur Folge haben, und eine entsprechende Regelung unserer Verhältnisse zu Amerika. 3. Schonung der landwirtschaftlichen, besonders der bäuerlichen Nebengewerbe in jeder Beziehung. 4. Absperrung der Vieheinfuhr aus seuchenverdächtigen Ländern. 5. Einführung der Doppelwährung als wirksamsten Schutz gegen den Rückgang des Preises der landwirtschaftlichen Produkte und Erzeugnisse. 6. Gesetzlich geregelte Vertretung der Landwirtschaft durch Bildung von Landwirtschaftskammern. 7. Anderweitige Regelung der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter. 8. Revision der Arbeiterschutzgesetzgebung, Beseitigung des Markenzwangs und Verbilligung der Verwaltung. 9. Schärfere staatliche Beaufsichtigung der Produktenbörse, um eine willkürliche, Landwirtschaft und Konsum gleichmäßig schädigende Preisbildung zu verhindern. 10. Ausbildung des privaten und öffentlichen Rechts, auch der Verschuldungsformen des Grundbesitzes und der Heimstättengesetzgebung auf der Grundlage des deutschen Rechtsbewußtseins, damit den Interessen von Grundbesitz und Landwirtschaft besser wie bisher genügt wird. 11. Möglichste Entlastung der ländlichen Selbstverwaltungsorgane." Stenographischer Bericht über die konstituierende Versammlung des Bundes der Landwirte am 18. Februar 1893 im Saale der Tivoli-Brauerei zu Berlin, Berlin o. J. (1893), S. 29 f.

ANNELIES LASCHITZA

Rosa Luxemburgs Verständnis und Kampf für Demokratie

Dieses Thema gehört zu den Problemen in der Luxemburgrezeption, über die es die gegensätzlichsten Auffassungen gibt. Seitdem Anfang der 20er Jahre Rosa Luxemburgs Demokratieverständnis das erste Mal mißdeutet und mißbraucht worden war, um antileninistische Haltungen zur Politik der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Kommunistischen Internationale zu bemänteln und die Leninschen Prinzipien der Verteidigung und Festigung der Sowjetmacht zu verunglimpfen1, wiederholen sich von Zeit zu Zeit die Angriffe gegen den Marxismus-Leninismus und den realen Sozialismus nach Paul Levis untauglichem Muster. 2 Aus Rosa Luxemburgs unvollendetem Manuskript „Zur russischen Revolution" 3 wird der eine Satz von der „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden" 4 aus dem Zusammenhang herausgerissen und sowohl der Klassengebundenheit als auch der Dialektik des marxistisch-leninistischen Demokratieverständnisses entgegengesetzt.5 Es wird versucht, 1

Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg, hrsg. und eingel. von Paul Levi, Berlin 1922. Dagegen polemisierten sofort Clara Zetkin, U m Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution, H a m b u r g 1922, und W. 1. Lenin, Notizen eines Publizisten, in: Werke, Bd. 33, S. 194f.

2

Vgl. u. a. Lelio Basso, Rosa Luxemburgs Dialektik der Revolution, F r a n k f u r t / M a i n 1969; ders. u. a., Rosa Luxemburg et lo sviluppo del pensiero Marxiste, R o m 1973; Raya Dunayevskaya, Rosa Luxemburg, women liberation, and Marx's philosophy of revolution, New Jersey 1982; Iring Fetscher, Nachwort, in: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, hrsg. von Paul Frölich, F r a n k f u r t / M a i n 1967; ders., Rosa Luxemburg, in: Marxistische Porträts, Stuttgart-Bad Cannstadt 1975; Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg — ein Mensch mit seinem Widerspruch, in: Ders., Von Marx bis Kolakowski. Sozialismus oder Untergang in der Barbarei?, K ö l n / F r a n k f u r t / M a i n 1978; ders., Einleitung zu Rosa Luxemburg: Politische Schriften III, Berlin 1975; Norman Geras, Rosa Luxemburg. Kämpferin f ü r einen emanzipatorischen Sozialismus, Berlin (W) 1979; Rosa Luxemburg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Helmut Hirsch, Reinbek b. H a m b u r g 1969; Anette Jost, Rosa Luxemburgs Lenin-Kritik, in: Jahrbuch der Arbeiterbewegung, Bd. 5, F r a n k f u r t / M a i n 1977; Rosa Luxemburg oder Die Bestimmung des Sozialismus. Beiträge von C. Pozzoli, L. Basso, I. Fetscher, A. Cordova, D. Howard, G. Bedeschi, O. Negt, G. Badia, I. Seifert, G . H a u p t , I. Agnoli, F r a n k f u r t / M a i n 1974; Peter Nettl, Rosa Luxemburg, vom A u t o r gekürzte Volksausgabe, K ö l n Berlin (W) 1969; Sibylle Quack, Geistig frei und niemandes Knecht — Paul Levi/Rosa Luxemburg, Politische Arbeit u n d persönliche Beziehung, mit 50 unveröffentlichten Briefen, Köln 1983; Georg W. Strobel, Die Partei Rosa Luxemburgs, Lenin und die SPD. Der polnische „europäische" Internationalismus in der russischen Sozialdemokratie, Wiesbaden 1974.

3

Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, 3. Aufl. Berlin 1983, S.

Siehe Rosa Luxemburg, 332ff. * Ebenda, S. 359. 5 Siehe Günter Radczun, 15»

Einige Probleme der Haltung Rosa Luxemburgs zur proletarischen Revolution.

228

Annelies Laschitza

die Meinung zu suggerieren, Rosa Luxemburg hätte einen klassenneutralen, „menschlichen" Demokratiebegriff verfochten, der weitgehend dem Ideal bürgerlicher Demokratie nahegekommen und bisher noch nirgends reálisiert worden sei.6 In Wirklichkeit war Rosa Luxemburgs Auffassung über Demokratie niemals klassenneutral, immer marxistisch, und in ihrem konsequenten Kampf für Demokratie, Frieden und Sozialismus verhielt sich Rosa Luxemburg stets revolutionär. 7 Diese unumstößliche Wahrheit findet jeder heraus, der vorbehaltlos ihr Gesamtwerk in Augenschein nimmt. Der aber vor allem, sofern er Rosa Luxemburgs Vermächtnis im Kampf für Demokratie erschließen will, historisch-konkret berücksichtigt, wie unterschiedlich die sozialen, politischen, ideologischen Umstände, die inhaltlichen Bezugspunkte, die theoretischen Debatten sowie das zeitgebundene, objektiv wie subjektiv bedingte Kräfteverhältnis zwischen Fortschritt und Reaktion waren, wenn Rosa Luxemburg über Demokratie schrieb und sprach und dafür kämpfte, aber auch, wenn sich später marxistisch oder nichtmarxistisch orientierte Interpreten dazu äußerten. 8 Die zeit- und problemgebundenen unterschiedlichen Absichten sowie das Wesen der von Rosa Luxemburg mannigfach geäußerten und im Kampf verfochtenen Demokratieauffassungen verlangen, daß korrekt auseinandergehalten wird, ob ihre Überlegungen darauf abzielten, die innerparteiliche Demokratie in der proletarischen Partei zu sichern, oder ob sie darum kämpfte, wie die Demokratie im politischen Leben der Gesellschaft gewahrt und gestaltet werden soll. Rosa Luxemburgs Bemerkungen zur innerparteilichen Demokratie wiederum gilt es konkret ins Verhältnis zu setzen zu den sehr unterschiedlichen Kampf- und Entwicklungsbedingungen der proletarischen Parteien in Deutschland, Polen und Rußland im jeweiligen historischen Zeitabschnitt. Für Rosa Luxemburgs gesellschaftspolitisches Demokratieverständnis wollen sowohl die gegensätzlichen Bezugsebenen Kapitalismus und Sozialismus als auch zeitgenössische und zukunftsorientierte Motive und schließlich strategische und taktische Aspekte in ihrer ganzen Differenziertheit beachtet werden.

7

8

Zu Flechtheims Rosa-Luxemburg-Edition „Die russische Revolution", in: BzG, 1966, H. 1; ders., Einige Bemerkungen-zum Rosa-Luxemburg-Bild von John Peter Nettl, ebenda, 1969, H. 1; ders. Zu einigen Aspekten des Rosa-Luxemburg-Bildes in der bürgerlichen Geschichtsschreibung, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Univ., 1971, H. 6; Annelies Laschitza, „Eine neue, bessere Welt nimmt ihren Anfang". Über die Stellung der führenden deutschen Linken zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, in: Einheit, 1977, H. 3; dies., Nachwort zu Annelies Laschitza/Günter Radczun, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1980, S. 523ff.; dies., Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht über das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus, in: ZfG, 1971, H. 7. So de facto bei Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin (W)/Bonn 1984, S. 25,114— 119; Lern- und Arbeitsbuch deutsche Arbeiterbewegung. Darstellung, Chroniken, Dokumente, Bd. 2, hrsg. unter der Leitung von Thomas Meyer, Susanne Miller und Joachim Rohlfes, Bonn 1984, S. 428 ff.; Hans-Peter Waldrich, Der Demokratiebegriff der SED.' Ein Vergleich zwischen der älteren deutschen Sozialdemokratie und der SED, Stuttgart 1980. Siehe Gilbert Badia, Rosa Luxemburg. Journaliste, Polémiste, Revolutionnaire, Paris 1975; H. C. %Mc6opoecKan¡P. fl. Ee3epoe, Po3a JliOKceMÓypr. Enorpa(j)HHecKHH onepK, Moskau 1974; Annelies Laschitza!Günter Radczun, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1971 u. 1980; Bernhard von Mutius, Die Rosa Luxemburg-Legende, Bd. 1., Frankfurt/Main 1978. Siehe z. B. zum Kampf gegen den Luxemburgismus Klaus Kinner, Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917 bis 1933. Geschichte und Politik im Kampf der KPD, Berlin 1982, S. 406 ff.

Rosa Luxemburgs Verständnis

229

Die Analyse und Einordnung allein des viel umstrittenen, unvollendeten Manuskripts „Zur russischen Revolution" aus dem Jahre 1918 nach diesen Prinzipien des historischen Materialismus führen zu interessanten Aufschlüssen, die es nun mehr ermöglichen, neue Gedanken in die Diskussion über Rosa Luxemburgs Erbe im Kampf für Demokratie einzubringen. Unsere Kenntnis über das Entstehen des Manuskripts während der „Schutzhaft" in Breslau stammt aus dem Nachlaß ihrer Kampfgefährten, vor allem LeoJogiches' und Clara Zetkins. Beide bezeugen, daß es nach Meinungsverschiedenheiten mit der Redaktion der „Spartakusbriefe" über die Beurteilung des Brester Friedens geschrieben wurde und Rosa Luxemburgs ersten Versuch darstellt, die Februar- und Oktoberrevolution in Rußland 1917 wissenschaftlich-kritisch zu bewältigen.9 Am 20. Dezember 1921 enthüllten Adolf Warski und Clara Zetkin den Verrat, den Paul Levi mit der Herausgabe des Manuskripts von Rosa Luxemburg beging. Drei Jahre lang hatte er es der Öffentlichkeit vorenthalten, um es jetzt für Zwecke auszunutzen, die mit revolutionärer Kritik nichts gemein hatten. Rosa Luxemburg hat diese Arbeit nie vollendet und nicht veröffentlichen wollen.10 Es handelt sich also bei diesem Manuskript um einen ersten, tastenden, noch unfertigen Versuch 11 , Gedanken zu Grundfragen der proletarischen Revolution zu skizzieren, und das unter Bedingungen, die für Rosa Luxemburg persönlich 12 wie für die junge Sowjetmacht innen- und außenpolitisch 13 außerordentlich schwierig waren. Um so beeindruckender sind Rosa Luxemburgs Aussagen zu ihrem Grundanliegen. Sie betrachtete die russische Revolution als das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. „Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Rußland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle ,Klassenverhältnisse erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik zu immer weiteren Phasen mit der Fatalität der inneren Logik voranbewegt hat, . . . all dies zeigt auf flacher Hand, daß die Befreiung Rußlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlage des Zarismus war, nicht das Verdienst ,deutscher Bajonette in deutschen Fäusten', wie die ,Neue Zeit' unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern daß sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war." 14 Rosa Luxemburg solidarisierte sich nicht nur sofort mit der Errichtung der ersten Arbeiterund-Bauern-Macht in Sowjetrußland durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution 1917, sondern war sich unmittelbar und vorbehaltlos im klaren, daß dort im besonderen welthistorisch Allgemeingültiges geleistet wurde. Als erfahrene Kämpferin und marxistische Dialektikerin wußte sie um den hohen Schwierigkeitsgrad für die Konstituierung der Diktatur des Proletariats, um das absolute Neuland, das nach der Zerstörung der bürgerlichen Demokratie mit dem Aufbau der sozialistischen Demokratie betreten wurde. 15 Außerordentliches verlangte insbesondere die historische 9

10

11 12 13 14 15

Siehe Clara Zetkin, Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution, Hamburg 1922, S. 7 ff.; LaschitzajRadczun, Rosa Luxemburg, 1980, S. 431 ff.; Günter Radczun, Vorwort zu Rosa Luxemburg, Werke, Bd. 4, S. 25 ff. Gegen den Verrat Paul Levis. Erklärung!, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Jg. 1, Nr. 39, 1921, S. 344. Siehe Clara Zetkin, Um Rosa Luxemburgs Stellung, S. 9. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 380 ff. Siehe Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Bd. 3, Erstes Buch, Moskau o. J., S. 492f. Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Werke, Bd. 4, S. 332. Siehe ebenda, S. 334, 339, 341, 352, 359f„ 363f.

230

Annelies Laschitza

Herausforderung, den für Marxisten theoretisch klaren qualitativen Unterschied zwischen den bürgerlichen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte und der proletarischen Revolution nun in der Praxis erfolgreich zu meistern. Dabei konnte an Vorleistungen und Erfahrungen der Pariser Kommune 187116 und der Revolution in Rußland von 1905 bis 190717 angeknüpft werden und blieben auch die Klassenkampferfahrungen der englischen Revolution des 17. Jh., der Großen Französischen Revolution von 1789 und der Revolutionen in Europa 1848/49 von grundsätzlichem Interesse.18 Dennoch war das Neue das Entscheidende, das es zu erfassen und zu verallgemeinern galt. Rosa Luxemburg tat es selbst in ihrem unvollendeten Manuskript erstaunlich gekonnt, indem sie es in erster Linie auf die Machtfrage zuspitzte: „Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufalligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus, geradezu die brennende Zeitfrage nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die revolutionäre Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. . . Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben . . . Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem Bolschewismus'." 19 Rosa Luxemburgs Äußerungen über Freiheit und Demokratie lag die historische wie klassenmäßige Unterscheidung zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie zugrunde. „Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen"20, schrieb sie in Polemik gegen Kautsky, der sich von der Diktatur des Proletariats in Sowjetrußland distanzierte, die Machtfrage wegen der angeblichen Unreife des Landes nur in den Grenzen der bürgerlichen Revolution und der bürgerlichen Demokratie gelöst sehen wollte und zudem die antibolschewistischen Attacken der Menschewiki unterstützte. Die Marxisten unterschieden stets, argumentierte Rosa Luxemburg weiter, ,„den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit — nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu erfüllen". 21 Kautsky durchlöchere den Sozialismus, wenn er ihm formal Demokratie entgegensetze.22 Rosa Luxemburg grenzte sich von jedweder Art und Begründung der 16 17 18 19 20 21 22

Siehe dies., Über Krieg, nationale Frage und Revolution, in: Ebenda, S. 370f. Siehe dies., Zur russischen Revolution, in: Ebenda, S. 336, 360. Siehe ebenda, S. 335, 339, 342, 353ff., 359. Ebenda, S. 365. Ebenda, S. 363. Ebenda. Siehe ebenda, S. 338, 362.

Rosa Luxemburgs Verständnis

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Verherrlichung der bürgerlichen Demokratie ab und wandte sich zugleich gegen Halbheiten bei der Klärung der Machtfrage. Eindeutig erklärte sie zur Alternative der Revolution in Rußland, wie sie sich aus der objektiven Lage ergab: „Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin oder Lenin." 23 Zu dieser Erkenntnis verhalfen ihr viele Voraussetzungen. Rosa Luxemburg besaß gründliche Kenntnisse über die Lösung der Machtfrage in den bürgerlichen Revolutionen. Sie teilte Marx' und Engels' staats- und revolutionstheoretische Auffassungen. 24 Und sie hatte es in rund 30 Jahren politischer Tätigkeit als sozialistische Revolutionärin am eigenen Leibe erfahren, daß die bürgerliche Demokratie letztendlich immer nur der kapitalistischen Klassenherrschaft und der imperialistischen Politik der Militarisierung, des Wettrüstens, der Kriege und der kolonialen und nationalen Versklavung diente. Die bürgerliche Demokratie lebte vom Blendwerk der formalen Demokratie und mit den Illusionen des parlamentarischen Kretinismus. Sie brauchte über gewisse enggezogene Grenzen hinaus keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse25, war sie doch die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit. Die sozialistische Demokratie dagegen basiert als Diktatur des Proletariats auf der Herrschaft der Mehrheit über die in der proletarischen Revolution gestürzte Minderheit von Bourgeois, Grundbesitzern und deren Helfershelfern. Für die konkrete Situation der Revolution in Rußland taten die Bolschewiki, wie Rosa Luxemburg mehrfach in ihrem Manuskript Ijervorhob, das einzig Richtige, wenn sie die Losung ausgaben: Alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums! 26 Es ging in der proletarischen Revolution 1917 nicht mehr um die Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern um die Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus, und das war für Rosa Luxemburg identisch mit sozialistischer Demokratie. 27 Im unmittelbaren Moment des Beginns der Diktatur des Proletariats entwickelte Rosa Luxemburg außerdem Gedanken zu Grundsätzen der Gestaltung und Wahrung sozialistischer Demokratie, die nicht nur für den Augenblick des historischen Geschehens Bedeutung besaßen. Rosa Luxemburg teilte die Ansichten und Handlungen der Bolschewiki, die auf der bitteren Erkenntnis beruhten, daß die internationale und nationale Klassenauseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution mit Notwendigkeit die Anwendung von Gewalt forderte, weil die Feinde der Arbeiterklasse die proletarische Revolution im Blut ersticken wollten.28 Sie verwies auf Tatsachen, wie bürgerliche Politiker den Nationalismus gegen die Sowjetmacht schürten, wie die Bajonette des deutschen Imperialismus der Gegenrevolution in der Ukraine, in Finnland und im Baltikum halfen, wie der Putsch der Sozialrevolutionäre im Juli 1918, Korruption, Sabotage u. a. m. die Revolution ernsthaft bedrohten. 29 „Als der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang boykottierten", schrieb sie, „den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Verwaltungs23 24

25 26 27 28 29

Ebenda, S. 339. Siehe insbesondere Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Ebenda, Bd.l, erster Hbd., S. 367ff. Siehe dies., Zur russischen Revolution, in: Ebenda, Bd. 4, S. 359. Siehe ebenda, S. 341. Siehe ebenda und S. 363. Siehe ebenda, S. 353. Siehe ebenda, S. 348ff.

232

Annelies Laschitza

apparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc., geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern." 30 Da die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse in ihrem Programm zwar einen großen Wegweiser zum Sozialismus besitze31, aber keinesfalls ein fertiges Rezept in der Tasche trage, welche Maßnahmen konkret zu ergreifen sind, „um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen" 32 , bedürfe es für die sozialistische Demokratie nie erlahmender Schöpferkraft. Bürokratismus, Korruption und Cliquenwirtschaft seien Todfeinde lebendiger Machtausübung der Arbeiterklasse.33 Unendliche Erfahrungen, breiteste Schulung und ungehemmte Beteiligung der Massen seien wichtigste Voraussetzung zur Schaffung des sozialistischen Gesellschaftssystems.34 Der Sozialismus als etwas völlig Neues in der Menschheitsgeschichte „erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch Jahrhunderte der bürgerlichen Gesellschaft degradierten Massen", stellte Rosa Luxemburg fest und forderte: „Soziale Instinkte anstelle egoistischer;-Masseninitiative anstelle der Trägheit; Idealismus, der über alle Leiden hinwegbringt usw. usw. Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt das hartnäckiger als Lenin", hob Rosa Luxemburg mit direktem Hinweis auf dessen Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" hervor. 35 Wie aber erklärt sich, daß Rosa Luxemburg bei dieser Parteilichkeit für die Verdienste der Bolschewiki zur Rettung der Demokratie durch Errichtung der Diktatur des Proletariats die Partei der Bolschewiki und Lenin persönlich kritisierte, daß sie sich in den Mitteln vergriffen und die sozialistische Demokratie durch falsche Maßnahmen einengten bzw. gefährdeten? Rosa Luxemburg polemisierte in ihrem Manuskript gegen die Verteilung des Bodens an die Bauern, gegen das Recht auf nationale Selbstbestimmung bis zur staatlichen Lostrennung, gegen die Auflösung der Konstituante, gegen den Entzug des allgemeinen Wahlrechts für alle diejenigen, die nicht arbeiteten, sowie gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, des Versammlungs- und Vereinsrechts36, um schließlich auf dem Rand der letzten dieser kritischen Manuskriptseiten überspitzt und im Gegensatz zu allen bisherigen und späteren Äußerungen über den Klassencharakter sowohl der bürgerlichen als auch der sozialistischen Demokratie zu schreiben: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ,Gerechtigkeit', sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die »Freiheit' zum Privilegium wird." 37

30 31 32 33 34 35 36 37

Ebenda, S. 357f. Siehe ebenda, S. 359. Ebenda, S. 360. Siehe ebenda. Siehe ebenda, S. 356, 359ff. Siehe ebenda, S. 360f. Siehe ebenda, S. 353-359. Siehe ebenda, S. 359, und die textkritischen Bemerkungen im Vorwort, S. 30.

Rosa Luxemburgs Verständnis

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Dieser widerspruchsvolle Ausbruch aus dem Gleise ihres durchweg klassenmäßigen und marxistischen Demokratieverständnisses kann nur erklärt werden, wenn viele Momente des Umstandes, unter denen er formuliert wurde, und viele Aspekte ihres Anliegens in Betracht gezogen werden. Der umstrittene Gedanke Rosa Luxemburgs steht ohne direkten Zuordnungsvermerk auf der Seite eines Manuskripts, das sie, wie eingangs schon erwähnt, nicht vollendete, nicht veröffentlichte und aus dem sie — im Unterschied zu anderen Passagen — diese Bemerkung nie in einen späteren Artikel übernahm. Im Gegenteil, alle nach diesem Manuskript geäußerten Gedanken zum Demokratiekomplex beweisen, daß Rosa Luxemburg in keiner Weise klassenungebunden einer Freiheit oder Demokratie an sich das Wort redete. „Es gilt", schrieb sie während der Novemberrevolution in Deutschland am 17. Dezember 1918 in der „Roten Fahne", „die ,Liberté, Egalité, Fraternité', die 1789 in Frankreich vom Bürgertum proklamiert worden ist, zum erstenmal zur Wahrheit zu machen — durch die Abschaffung der Klassenherrschaft des Bürgertums. Und als ersten Akt zu dieser rettenden Tat gilt es vor aller Welt und vor den Jahrhunderten der Weltgeschichte laut zu Protokoll zu geben: Was bisher als Gleichberechtigung und Demokratie galt : Parlament, Nationalversammlung, gleicher Stimmzettel, war Lug und Trug! Die ganze Macht in der Hand der arbeitenden Masse als revolutionäre Waffe zur Zerschmetterung des Kapitalismus — das allein ist wahre Gleichberechtigung, das allein wahre Demokratie!" 38 Rosa Luxemburgs marxistischer Standpunkt zur bürgerlichen Demokratie war seit ihrer aktiven Beteiligung an der Bernsteindebatte um die Jahrhundertwende klar ausgeprägt 39 und hatte sich im antiimperialistischen Kampf, der mit heftigen Auseinandersetzungen über opportunistische Angriffe auf das proletarische Demokratieverständnis verbunden war, immer weiter gefestigt.40 Bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917, mit der das Engagement für die sozialistische Demokratie in den Mittelpunkt praktischer Erfahrungen und theoretischer Erkenntnisse rückte, war die Klarheit über das Wesen, die Funktion, die Geschichte und den Stellenwert der bürgerlichen Demokratie für den Emanzipationskampf der Arbeiterklasse das Hauptanliegen Rosa Luxemburgs gewesen. Diesbezüglich meisterte sie uneingeschränkt die komplizierte Dialektik von Opposition gegen den bestehenden bürgerlichen Staat als konkreter, wenn auch oft — wie im wilhelminischen Kaiserreich — verkrüppelter Form der bürgerlichen Demokratie, Verteidigung bürgerlich-demokratischer Rechte und Freiheiten gegen die Tendenz des Imperialismus zur Negation der Demokratie und konstruktivem Kampf der Arbeiterklasse um die Ausnutzung und den Ausbau der bürgerlichen Demokratie zugunsten der Vorbereitung der proletarischen Revolution. Äußerungen und Kampf für Demokratie in Wort und Schrift, in Theorie und Aktion erfaßten bei Rosa Luxemburg die ganze mögliche Spannweite von Problemen der bürgerlichen Demokratie ihrer Zeit und gipfelten vor 1914 in ihrer Forderung nach einer demokratischen Republik als massenmobilisierende Aktionslosung im Kampf gegen innenpolitische Reaktion und imperialistische Kriegs Vorbereitung. „Die Losung der Republik", schrieb sie, „ist also in 38 39

40

Dies., Nationalversammlung oder Räteregierung?, in: Ebenda, S. 465. Siehe Laschitza/Radczun: Rosa Luxemburg, S. 30f. ; Hans Gerd Irrlitz, Probleme der Dialektik des Geschichtsprozesses im Denken Rosa Luxemburgs, phil. Diss. A, Berlin 1967. Siehe Annelies Laschitza, Deutsche Linke im Kampf für eine demokratische Republik, Berlin 1969; dies.. Parteigeschichtliche Ereignisse, Prozesse und Probleme der Herausbildung der Krise der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren 1910/1911, Diss. B, Berlin 1982.

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Annelies Laschitza

Deutschland heute unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traumes vom demokratischen , Volksstaat' oder eines in den Wolken schwebenden politischen Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft, Verpreußung Deutschlands, sie ist nur eine Konsequenz und drastische Zusammenfassung unseres täglichen Kampfes gegen alle diese Teilerscheinungen der herrschenden Reaktion." 41 Die Forderung nach einer demokratischen Republik wurde dem neuen Kräfteverhältnis im Klassenkampf gerecht und war geeignet, den Kämpfen der Arbeiterklasse für Demokratie, Frieden und Sozialismus neue Impulse zu geben. Sie stützte sich auf Erkenntnisse von Marx und Engels, stimmte mit Erfahrungen der Revolution in Rußland 1905 bis 1907 überein und wurzelte im Parteiprogramm und in den beispielhaften Kämpfen der deutschen Sozialdemokratie zur Ausnutzung der bürgerlichen Legalität für die Interessen der Werktätigen. Zugleich ging sie darüber hinaus, weil sie auf den Kampf gegen die imperialistische Innenund Außenpolitik und für bessere Kampfbedingungen zur Vorbereitung der Massen für die proletarische Revolution und die sozialistische Demokratie zugespitzt wurde. Indem Rosa Luxemburg keine Möglichkeit ungenutzt ließ, vor Illusionen über die reformerische Ausweitung der bürgerlichen Demokratie zur Volksherrschaft und zum allmählichen Übergang zum Sozialismus ohne Revolution zu warnen, ließ sie keinen Zweifel daran: „Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, ,Anarchie', wie die Agenten des kapitalistischen Profits zielbewußt falschen, sondern das ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Expropriation der Kapitalistenklasse — im Sinne und durch den Willen der revolutionären Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie." 42 Demokratie oder Diktatur sei dagegen das Feldgeschrei der Konterrevolution, so wie sich die Phrasen von der „reinen Demokratie" als Hirngespinste von Demagogen oder realitätsfremde Wunschträume kleinbürgerlicher Illusionisten erwiesen. Rosa Luxemburg schrieb ihre Kritik an einzelnen Maßnahmen der Bolschewiki aus Sorge um die Behauptung der Diktatur des Proletariats als sozialistische Demokratie gegen ihre Feinde und Widersacher. Sie schrieb sie nicht als Gegnerin Lenins, sondern als seine streitbare Kampfgefahrtin. Sie räumte ein, daß Lenin das Beste wollte und nicht kritiklos bewundert zu werden wünschte. Was er brauchte, war die uneingeschränkte Unterstützung durch die internationale Arbeiterklasse43, weil die historischen Umstände abnorme Schwierigkeiten aufhäuften 44 und das 1. Exempel der Diktatur des Proletariats nicht von vornherein vollkommen sein könne. 45 Rosa Luxemburg wollte warnen und gab mit ihrer Kritik zu bedenken, wohin bestimmte Maßnahmen führen könnten. Ihre Informationen über das konkrete Vorgehen der Bolschewiki für die Sicherung der Arbeiter-und-Bauern-Macht erhielt sie so gut wie nicht aus bolschewistischen Quellen, sondern vorwiegend aus bürgerlichen und sozialdemokratischen Meldungen. Rosa Luxemburg konnte sich im Gefängnis in Breslau schwerlich eine genaue Vorstellung vom konkreten 41 42 43 44 45

Rosa Luxemburg, Zeit der Aussaat, in: Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 303. Siehe dies., Die Nationalversammlung, in: Ebenda, Bd. 4, S. 409f. Siehe dies., Zur russischen Revolution, in: Ebenda, S. 335. Siehe ebenda, S. 364. Siehe ebenda, S. 334, 339, 341.

Rosa Luxemburgs Verständnis

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Klassenkräfteverhältnis zwischen Revolution und Konterrevolution in der jeweiligen Situation machen. Sie stützte ihre Ansprüche an den Ausbau der sozialistischen Demokratie auf die theoretisch gerechtfertigte Anschauung über die historische Überlegenheit der sozialistischen Demokratie als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, deren Macht vom Wesen her so stabil sein müsse, daß sie Rechte und Freiheiten relativ großzügig für alle gewähren sollte und weitgehend auf Mittel der Gewalt verzichten könnte. Sie forderte abstrakt. unbeschränkte Demokratie" bei Konstituierung der Diktatur des Proletariats als theoretisches Ideal, ohne eigene praktische Erfahrungen zu haben bzw. machen zu können. In der Praxis erwies sich nämlich sofort die inzwischen vielfach mit bitteren Lehren und großen Opfern errungene Erkenntnis, daß die Diktatur des Proletariats in der Gewährung demokratischer Rechte wie in der Übernahme bisheriger demokratischer Institutionen und Gepflogenheiten nur so weit gehen kann, wie es die konkrete Klassenkräftesituation erlaubt und wie unter den gegebenen Umständen zu sichern ist, daß Institutionen, Rechte und Freiheiten nicht durch die Konterrevolution mißbraucht bzw. umfunktioniert werden können. Rosa Luxemburg war sich noch nicht völlig des neuen Charakters der Sowjets als revolutionäre Machtorgane der Arbeiterklasse bewußt, in denen Marx' Erkenntnis aus der Pariser Kommune über die Vereinigung von gesetzgebender und ausführender Gewalt nunmehr konkret verwirklicht wurde. Insofern verstand sie die Einheit von Diktatur und Demokratie nicht wie Lenin, verstieg sich einmal sogar zu der Bemerkung, daß die Bolschewiki die Diktatur der Demokratie entgegenstellten.46 Die gedankliche Gesamtaussage des unvollendeten Manuskripts zur sozialistischen Demokratie wie auch alle späteren Stellungnahmen erlauben jedoch den Schluß, daß es sich bei den Meinungsverschiedenheiten mit Lenin und Trotzki über die „Art der Verwendung der Demokratie" 47 Mitte 1918 um einen zeitweilig unbewältigten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit über die Breite der sozialistischen Demokratie unter der Sowjetmacht als erster erfolgreich errichteten Diktatur des Proletariats handelte. Obwohl Rosa Luxemburg erkannte, daß die außen- und innenpolitisch komplizierte Situation die Bolschewiki zu nicht unbedingt wünschenswerten diktatorischen Gewaltmaßnahmen zwang, betrachtete sie diese dennoch mehr als subjektive Fehlgriffe, lebensunfähige Improvisationen oder verzerrte Anläufe 48 , als historisch bedingte Begleiterscheinungen der erstmaligen Geburt sozialistischer Demokratie in einem Land gegen eine Welt von Feinden. Die von ihr theoretisch klar angesprochene dialektische Einheit von Diktatur und Demokratie vermochte sie nicht sofort auf ihr konkretes Praxisverständnis für die Sowjetmacht anzuwenden. Im konkreten Verhältnis zur Konstituante und zum Wahlrecht wurde ihr Gleichnis von der Form der Demokratie als Schale und dem Charakter der Demokratie als Kern zu einem Schema, das ihr die dialektische Sicht versperrte. Da bisher jegliche praktische Erfahrungen über die demokratische Republik als besten Zugang zur Diktatur des Proletariats fehlten, meinte Rosa Luxemburg, entgegen den jüngsten Revolutionserfahrungen Lenins und der Marxschen Erkenntnis aus der Pariser Kommune, die Losung zur Sicherung der proletarischen Macht könne nur lauten: Konstituante und Sowjets. Nach wenigen Wochen eigener Revolutionserfahrungen in Berlin korrigierte sie Ende 1918 diesen Irrtum. Bereits am 18. November 1918 warnte sie vor der Orientierung auf die Nationalversamm46 47 48

Siehe ebenda, S. 362; W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: Werke, Bd. 25, S. 469. Siehe Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Werke, Bd. 4, S. 363, auch S. 29. Siehe ebenda, S. 334, 358, 360, 362.

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lung als bürgerliches Gegengewicht zu den Arbeiter-und-Soldaten-Räten. 49 Zwei Tage später bezeichnete sie die Nationalversammlung als „überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen", als eine „Hülse ohne Inhalt", also Schale ohne Kern, die gesprengt werden müsse und nicht krampfhaft um einen neuen Kern gelegt werden dürfe. „Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums." 50 Rosa Luxemburg löste folglich innerhalb weniger Monate selbst die Widersprüche, die sich in ihrem konkreten Verhältnis zur Konstituierung der Sowjetmacht aufgetan hatten. Insofern bezeugt ihr unvollendetes Manuskript ein kurzzeitiges Durchgangsstadium im Selbstverständigungsprozeß. Sie setzte sich dabei, kritisch wie sie als schöpferische Marxistin war, mit erstmals von der Praxis aufgeworfenen Fragen der Ausgestaltung der proletarischen Macht und deren Verhältnis zum progressiven Erbe bürgerlich-demokratischer Traditionen und Institutionen auseinander. Unter der Devise, nicht kritikloses Apologetentum, sondern nur nachdenkliche Kritik könne die Schätze an Erfahrungen und Lehren der Bolschewiki heben 51 , begann sie ihr Manuskript niederzuschreiben, und zwar unter den ungünstigen Bedingungen einer „Schutzhaft" hinter Gefangnismauern in Breslau, wo sie, wie sie sarkastisch schrieb, „durch äußeren Zwang ,auf Urlaub' bei der Weltgeschichte"52 war. Um so höher ist Rosa Luxemburgs absolute Parteinahme für die Politik der Bolschewiki zu werten, die sie mit ihrer Kritik zudem bekräftigen wollte. Dieser revolutionäre Geist spricht aus fast jeder ihrer Zeilen und wird schließlich direkt offenbar, wenn sie bemerkt: „Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig genug geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war." 53 Daher war es keine Floskel, sondern auf internationale Erfahrung und eigenen Erkenntnisweg gestützte Überzeugung, wenn Rosa Luxemburg vor den Delegierten auf dem Gründungsparteitag der KPD die Losung „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten" als das Abc der proletarischen Revolution erläuterte, das ausschließlich bei den Russen, bei den Bolschewiki zu erlernen war und ist.54 Alle Versuche, Rosa Luxemburg für einen jenseits vom Marxismus-Leninismus und vom realen Sozialismus liegenden sogenannten dritten Weg zu einem angeblich demokratischen Sozialismus auszudeuten, befinden sich in unüberbrückbarem Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Entwicklung im Verständnis und Kampf für Demokratie und Sozialismus, die sie an die Seite Lenins führte. 55

49

50 51 52 53 54 55

Siehe dies., Der Anfang, in: Ebenda, S. 398; W. I. Lenin, Notizen eines Publizisten, in: Werke, Bd. 33, S. 194f. Rosa Luxemburg, Die Nationalversammlung, in: Werke, Bd. 4, S. 409. Dies., Zur russischen Revolution, in: Ebenda, S. 334. Rosa Luxemburg an Luise Kautsky, 15. April 1917, in: Gesammelte Briefe, Bd. 5, S. 208. Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Werke, Bd. 4, S. 364. Dies., Unser Programm und die politische Situation, in: Ebenda, S. 498. Siehe Annelies Laschitza, Was die Marxistin Rosa Luxemburg auszeichnete, in: ZfG, 1984, H. 2; dies., Rosa-Luxemburg-Edition und -Forschung in der D D R , Bilanz und Ausblick, in: BzG., 1986, H. 4.

WOLFGANG RUGE

Zur Dialektik von Friedensstreben und Fortschritt vor und während der Novemberrevolution

Lebensstationen eines im ersten Weltkrieg Geborenen : Hineinwachsen in Nachkriegsnöte und -hoffnungfen, Erkennen der Gebrechen und Verbrechen des mordbeladenen Systems, Aufbegehren gegen sein menschheitsfeindliches Wesen und Parteinahme für eine grundstürzende — und das konnte nur heißen: sozialistische — Erneuerung der Gesellschaft, Begeisterung für den sich in östlicher Ferne behauptenden Staat, der mit seinem Geburtsschrei „Frieden!" eine neue Epoche einläutete, Kampf gegen raufgierig-rattenfangerische Künder einer abermaligen Vorkriegszeit, todesmutiger Widerstand gegen die Macher des zweiten Weltkrieges und Standhaftigkeit gegenüber deren Schergen, Erlösung durch den Sieg der aus dem Osten kommenden Befreier, Einsatz für den Aufbau einer Friedensordnung, Hinwendung zur Geschichte als Wissenschaft, Nutzbarmachung der Vergangenheitslehren und Erziehung der im zweiten Kriege Geborenen als Beitrag zur Verhinderung eines dritten, nach dem es — von Naturwissenschaftlern exakt belegt — keine Nachkriegshoffnungen mehr geben kann. Im Œuvre Heinrich Scheels — er hat ein solches Leben vorgelebt — nimmt die KriegFriedens-Problematik zwangsläufig einen zentralen Platz ein. Nicht als Gegenstand akademischer Feinsinnigkeiten oder pazifistischer Illusionen, sondern — den objektiven Gegebenheiten und der politischen Haltung des Forschers entsprechend — als spannungsgeladenes Feld im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion. Heinrich Scheels Blick durchdringt die Zeit, in der eine große Revolution, Menschlichkeit proklamierend — liberté, égalité, fraternité! —, erstmalig einen ganzen Kontinent aufwühlte, eine Zeit, in der von neuen und alten Klasseninteressen, von Ideen und Gegenideen getragene Kriege über Grenzen hinweg aufrührerischen Geist entfachten und die Konterrevolution unverhohlen in ein Exportgut verwandelten. Er ergründet das Geheimnis, wie in der waffenklirrenden Epoche der Jakobiner und Napoleons Kriege gemacht wurden und ihren Charakter änderten, wie sich Friedenssehnsüchte formierten, wie sie geschichtsgestaltend wirkten, wie sie mißbraucht wurden. Scheel begnügt sich aber nicht mit der engagierten Betrachtung voriger Jahrhunderte. Fasziniert wendet er sich auch dem Friedenskampf unserer Zeit zu. Dabei kann er, wo es um den Widerstand während des zweiten Weltkrieges geht, persönliche Kampferfahrungen in die Untersuchung einfließen lassen, die Forschung mit eigenem Erleben bereichern. Und bei der Beschäftigung mit Problemen des ersten Weltkrieges schöpft er nicht nur — dies sehr gründlich — aus Archiven und Bibliotheken, sondern zugleich aus der Kenntnis des Strebens und Begreifens der Menschen von damals, neben denen er als Sohn, als Schüler, als jüngerer Genosse groß geworden ist. In seiner 1957 veröffentlichten Studie über den Aprilstreik 1917 in Berlin schildert Scheel

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Wolfgang Ruge

anschaulich die nach mehr als zwei Jahren imperialistischen Krieges gewaltig gewachsene Friedenssehnsucht der Massen und legt überzeugend dar, „daß der Friedenswille breiter Volksschichten der revolutionären Bewegung in der Arbeiterklasse einen starken Auftrieb gab". 1 Diese Feststellung ist unanzweifelbar und von genereller Bedeutung, gilt sie doch in gleichem Maße für die Kämpfe, deren Präludium der Aprilstreik war. Dennoch lohnt es sich gerade heute, wo sich das Friedensbegehren breitester Schichten auf die verschiedenste Weise artikuliert, bei ihr zu verweilen und auf die Widersprüchlichkeit der angemerkten Beziehung einzugehen. Denn daß es sich keineswegs um ein statisches Abhängigkeitsverhältnis von Friedensstreben und Erfolgsaussichten der Revolution handelte, wird schon deutlich, wenn man den 1917/18 immer stärker anschwellenden Friedenswillen und das Fortschreiten der revolutionären Bewegung bis hin zur Novemberrevolution verfolgt — bis zu jener Erhebung der Massen, die nicht zuletzt deshalb in unsere Gegenwart hereinragt, weil die Mehrheit des deutschen Volkes damals erstmalig erahnte, zum Teil auch schon erkannte, daß Imperialismus und Militarismus von der historischen Bühne verschwinden müssen, wenn Frieden sein soll. Die zutreffende Beurteilung der April-Situation 1917 durch die Spartakusgruppe würdigend, hebt Scheel mit Nachdruck hervor, daß „dem politischen Kampf für Frieden und Demokratie" unter den Bedingungen des Militärzuchthauses auch im Streik um unmittelbare Tagesforderungen der Arbeiter primäre Bedeutung zukam. 2 „Voraussetzung eines wirklichen Friedens", schreibt er, war „der Sturz der Regierung und die Errichtung eines demokratischen Deutschlands." 3 Mit dem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen dem Antikriegskampf und dem Kampf für die Entmachtung der Kriegspolitiker ist der Kern des Problems getroffen. Hat doch die Geschichte unzählige Male bewiesen, daß sich — und gerade an Brennpunkten des Geschehens — auch Kriegstreiber und Durchhaltestrategen ins Schafsfell von Friedensstiftern zu werfen und sich die Massen auf diese Weise unterzuordnen verstehen. Vor allem, um den Rausch zu erzeugen, der — nach Rosa Luxemburg — notwendig ist, um normal veranlagte Menschen zu dem im Kriege praktizierten methodischen, organisierten, riesenhaften Morden zu veranlassen 4 , haben die Herrschenden seit jeher nicht nur Fremdenhaß und Chauvinismus geschürt, sondern auch zutiefst menschliche Sehnsüchte der Werktätigen mißbraucht. Namentlich zwei Begriffe sind es, die für dieses schmutzige Geschäft herhalten müssen — Begriffe, in denen sich jahrhundertealte Träume der Unterdrückten nach Geborgenheit und Gerechtigkeit Ausdruck verschaffen: Frieden und Freiheit. Allen historischen Erfahrungen zuwider, wird den einfachen Menschen damit — dem Gewaltdenken der Ausbeutergesellschaft angemessen — suggeriert, mit Krieg könne Frieden geschaffen, gefestigt, gesichert werden. Zugleich erschleichen sich die mit Unfreiheit wuchernden Machthaber auf diese Weise einen Ehrenplatz im lügenhaft zusammengezimmerten Freund-Feind-Bild: Sie präsentieren sich als Gönner und Vorkämpfer der Freiheit, die sie als eine Errungenschaft hinstellen, die nur von äußeren Kräften vorenthalten, beschnitten, bedroht werden kann. 1

Heinrich Scheel, Der Aprilstreik 1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917/1918, hrsg. von Albert

2

Schreiner, Berlin 1957, S. 7. Ebenda, S. 41.

3

Ebenda, S. 44.

4

Vgl. Rosa Luxemburg, Berlin 1974, S. 64.

Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre), in: Gesammelte Werke, Bd. 4,

Zur Dialektik von Friedensstreben und Fortschritt

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Das so pervertierte Banner des Friedens und der Freiheit hatten im August 1914 nicht nur die millionenschweren Kriegsanstifter und die betreßten Kriegsplaner geschwenkt, sondern auch, das Fahnentuch rosarot tünchend, die rechtssozialdemokratischen Führer. Sie hatten nicht nur erklärt, daß es bei der offiziell proklamierten Sicherung „deutscher Lebensrechte" zugleich um die Wohlfahrt der arbeitenden Menschen gehe, sondern vor allem die vermeintliche Notwendigkeit herausgestellt, Frieden und Freiheit zu verteidigen: ersteres mittels Durchbrechung der waffenstarrenden „Einkreisung" Deutschlands, letzteres durch Zerschmetterung der russischen „Knutenherrschaft". Diese Abkehr vom Internationalismus hatte sich das theoretische Organ der Partei sogar erkühnt, als „zielklaren politischen Willen . . . der deutschen Arbeiterklasse" auszugeben. Ein solcher Wille, schrieb das Blatt drei Wochen nach Kriegsausbruch, erheische, „sich der Bundesgenossen der östlichen Barbarei zu erwehren, um zu einem ehrenvollen Frieden, zu gelangen und an die Vernichtung des Zarismus den letzten Hauch von Roß und Mann zu setzen". 5 Nur mit äußerster Demagogie, auf die Verwirrung ihrer z. T. ratlosen Anhänger bauend, deren traditionelle Organisationstreue ausspielend und mit der Prinzipienlosigkeit der Zentristen auftrumpfend, war es den rechten Führern um Ebert, Scheidemann, David, Südekum u. a. mit Hilfe des seit langem opportunistisch durchtränkten Partei- und Presseapparates gelungen, die einst als internationaler Vortrupp gegen den Militarismus geltende Partei im Moment ihres abrupten Überschwenkens ins Lager des Klassengegners als Ganzes zusammenzuhalten. Aber wie dem auch sei: Es war gelungen. Somit konnte das Friedens(und auch das Freiheits-) streben des deutschen Proletariats — und in den meisten übrigen kriegführenden Staaten lagen die Dinge nicht anders — zu Beginn des Weltkrieges infolge schamloser Manipulierung zumindest teilweise zur Abschirmung des verbrecherischen Völkermordes nutzbar gemacht werden, diente also partiell der Stützung der imperialistischen Raubpolitik. Gewiß: Die klassenbewußtesten Sozialdemokraten verurteilten voller Abscheu die Haltung der Führer, stemmten sich ihnen entgegen und ließen sich auch und gerade vom unverfälschten Friedenswillen leiten, der ihnen gebot, den Kampf gegen Imperialismus und imperialistischen Krieg desto konsequenter zu führen. Doch Tatsache blieb: Friedenssehnsüchte und Friedenswille kamen nicht nur den Antikriegskräften, sondern auch den Kriegstreibern zugute. Es wäre unrichtig zu sagen, daß die dafür verantwortlichen Ebert, Scheidemann und ihre Parteigänger zum Kriege gedrängt hätten. Doch hatten sie sich, ihr persönliches Schicksal und das ihrer Organisationen, ihrer Presse, Verlage, Kultureinrichtungen usw. mit dem Schicksal des bürgerlichen Staates verknüpfend, dem zum Kriege drängenden System so weit angepaßt, daß sie faktisch ein Teil von ihm geworden waren. Diese politische Korruption zugebend, bekannte einer von ihnen sogar ohne Scheu, ihr „ganzes inneres Verhältnis . . . zum Gegenwartsstaat" habe sich „verschoben". 6 Nur noch — ähnlich wie die liberale Bourgeoisie — auf die „Verbesserung", nicht mehr auf die Zertrümmerung des bestehenden Systems bedacht, nahmen sie lieber die schlimmsten Auswüchse des Imperialismus in Kauf, als nach dessen Gurgel zu greifen. Die Bewilligung der Krieg$kredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 4. August 1914 stellte folglich nicht nur eine temporäre Hilfe für den Imperialismus dar, 5 6

Die Neue Zeit, 28.8.1914 (Hervorhebungen von mir). Vgl. Brief Konrad Haenischs an Karl Radek, 4.10.1914 (zit. nach: Geschichte der deutschen wegung, Bd. 2, Berlin 1966, S. 439).

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sondern signalisierte darüber hinaus die längst vollzogene Abkehr der rechten Führer vom sozialistischen Endziel der Arbeiterklasse. Die Abstimmung zerriß gewissermaßen den Schleier, der den grundsätzlichen Frontwechsel der Rechtssozialdemokraten bis dahin verborgen hatte. Jetzt brachen sie offen mit dem Internationalismus und traten-folgerichtig das auch von ihnen "selbst abgegebene Gelöbnis der Arbeiterparteien mit Füßen, das sie verpflichtete, im Falle des Krieges die „wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Herrschaft zu beschleunigen".7 Empört geißelten die revolutionären Linken diesen Verrat und entlarvten die Lüge vom gerechten Krieg mitsamt der hinter ihr verborgenen Absicht, die zum Totengräber des Kapitalismus berufene Arbeiterklasse vor dessen Karren zu spannen. Karl Liebknecht konstatierte: „Dieser Krieg ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen Volkes entbrannt. Er ist kein deutscher Verteidigungskrieg und kein deutscher Freiheitskrieg, sondern ein kapitalistischer Angriffs- und Eroberungskrieg." Und weiter: „Die Parole ,gegen den Zarismus' diente nur dem Zweck, die edelsten Instinkte des deutschen Volkes für den Kriegszweck, für den Völkerhaß zu mobilisieren . . . Die offiziell kundgegebene Formel vom gesicherten Frieden ist deutlich im Sinne der Annexionspolitik zu verstehen." 8 Gegen den verbrecherischen Wahnwitz des Krieges protestierend, rief er das deutsche Volk und die Völker der anderen kriegführenden Mächte auf, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben und den mordgebietenden Militarismus zu zerschlagen. Rosa Luxemburg klagte nicht nur die frevelhafte Praxis der Rechtsopportunisten und Zentristen an, sondern auch deren Preisgabe aller theoretischen Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus. Ihre Haltung, vermerkte sie sarkastisch, wurzele in dem Postulat, daß „im Frieden . . . im Innern jedes Landes der Klassenkampf [gilt], nach außen die internationale Solidarität, im Kriege . . . [hingegen] im Innern die Klassensolidarität, nach außen der Kampf zwischen den Arbeitern verschiedener Länder". Dies, stellte sie fest, inauguriere „eine ganz neue,Revision' des historischen Materialismus, eine Revision, gegen die alle ehemaligen Versuche Bernsteins als ein harmloses Kinderspiel erscheinen". 9 Mehr noch. Auf eine bislang unvorstellbare Dimension universalgeschichtlicher Perspektiven aufmerksam machend, umriß Rosa Luxemburg mit visionärem Blick die auf alles Sein und Werden zukommende Gefahr, die aus den bei Kriegsbeginn sichtbar gewordenen Überlebenschancen des Imperialismus erwuchs. Vom furchtbaren Ernst des Vorgefallenen bedrückt, legte sie sich die Frage vor, ob die in den Reihen der Sozialisten bis dahin unwidersprochene Überzeugung, daß ein erster Weltkrieg auch der letzte sein müsse, weiterhin vertreten werden könne. Sie verneinte das; als erster Denker in der Geschichte erkannte sie die Möglichkeit einer vom Fortbestehen der Ausbeutergesellschaft heraufbeschworenen ganzen Periode von Weltkriegen. Die existentielle Bedrohung der Menschheit vorausahnend, setzte sie zur Beschreibung der „letzten Konsequenz" des ungehemmten Fortgangs einer solchen Periode die schrecklichen Worte: „Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof''. Angelehnt an eine Äußerung von Engels und den berühmten Satz des

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Aus der Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses, Stuttgart 1907 (zit. nach: Die revolutionäre Arbeiterbewegung im Kampf um den Frieden 1848—1964, Dokumente, Berlin 1964, S. 27). Karl Liebknecht, „Thesen" vom November 1914, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 8, Berlin 1970, S. 165, 167. Rosa Luxemburg, Der Wiederaufbau der Internationale, Werke, Bd. 4, S. 25.

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KPD-Programms — „Sozialismus oder Untergang in der Barbarei" 10 — vorwegnehmend, lautete ihr Resümee: „Entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur . . . oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg." 11 Die aus erbärmlichen Motiven in den Sozialchauvinismus geflüchteten Ebert und Scheidemann waren weder willens noch fähig, die welthistorischen Folgen des von ihnen mitverschuldeten Geschehens zu erfassen. Lediglich auf kleinliche Rechtfertigung bedacht, wichen sie einer wirklichen Auseinandersetzung um den Charakter des Weltkrieges aus und verschanzten sich hinter der Floskel, daß es sich bei der Haltung zum Kriege immer nur „um eine Frage der Taktik und nicht um eine Frage der Prinzipien" handele. 12 Ihre auf Desorientierung zielende Methode bestand darin, das Wesen der Auflehnung gegen die Kriegsbefürwortung zu umgehen und das Sperrfeuer auf die Weigerung der revolutionären Linken zu richten, sich Mehrheitsbeschlüssen unterzuordnen, die faktisch die Unterordnung unter die Kriegsfurie forderten. Ebert wetterte auf dem Würzburger Parteitag 1917 gegen die „giftige, haßerfüllte Kampfmethode" der Internationalisten, die die Parteispaltung betrieben und sich mit „Starrsinn und Fanatismus . . . über die Grundregeln der Demokratie" hinweggesetzt hätten, statt „den Konflikt auf ordentlichem Parteiwege auszutragen". 13 . Parallel dazu bediente sich die sozialdemokratische Führung weiterhin des Arguments, daß die Unterstützung der kaiserlichen Regierung vor allem das Ziel verfolge, den Frieden herbeizuführen und zu sichern. Fünf Wochen nach dem Sturz des Zaren durch die russische Februarrevolution schrieb der „Vorwärts", „die leere (!) Hoffnung, in Deutschland würde es in einigen Monaten zu ähnlichen Ereignissen kommen wie in Rußland, könnte das schon nahe scheinende Kriegsende abermals hinauszögern". Und den angeblich nicht mehr fernen Frieden als Erfolg der eigenen Politik hinstellend, hatte das Blatt die Stirn, von einem „sozialistischen Friedenswerk" zu sprechen, das „innere Unruhen in Deutschland in diesem Augenblick . . . [nur] gründlich zu stören geeignet wären". 14 Mit dem Andauern der Blutorgie fanden jedoch Spaltungsverketzerung, rechtssozialdemokratische Selbstbeweihräucherung und friedliebend verkleidete Durchhalteparolen zunehmend weniger Gehör. Zu kraß war die Selbstentlarvung der rechten Führer, die sich auf Gedeih und Verderb mit den Herrschenden verbündet hatten, zu offensichtlich auch die Annexionswütigkeit dfer Machthaber, die die Besetzung riesiger Gebiete zu verewigen trachteten und unverhüllt immer neue Kriegsziele anmeldeten: Calais als „deutsches Gibraltar", Longwy, Kurland, Livland, Deutsch-Zentralafrika. . . Vollends zerstoben war zugleich die Mär vom kaiserlich abgesegneten Friedenskampf, von der freiheitsbringenden Mission der deutschen Armee. Ihr ins Gesicht schlugen die Vergewaltigung Belgiens, die Auspowerung der Ostgebiete und Wilhelms Reaktion auf die russische Februarrevolution. Schwadronierte er doch, sich schon als Eroberer des republikanischen Petrograd wähnend: „Wo meine Garde hinkommt, gibt es keine Demokratie!" 15 10

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Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands, in: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, hrsg. und eingeleitet von Lothar Berthold und Ernst Diehl, Berlin 1965, S. 109. Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Werke, Bd. 4, S. 62. Aus Eberts Rede auf dem Würzburger Parteitag 1917 (nach: Friedrich Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, Dresden ¡926, S. 8). Ebenda, S. 9, 15, 13. Vorwärts, 16.4.1917 (zit. nach: Scheel,- Aprilstreik, S. 24f.). Friedrich Ebert, Kämpfe und Ziele, Dresden o. J., S. 37. Demokratie, Sozialismus

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Daß 4er Friedenswille der fortschrittlichsten Kräfte jetzt zu einer neuen Qualität gereift war, bestätigt der grandiose Streik von 300000 Berliner Rüstungsarbeitern, der genau an dem Tag ausbrach, als der „Vorwärts" mit seiner oben zitierten antirevolutionären Beschwörungsformel aufwartete. Dieser Wille war eine wesentliche Triebkraft des Aprilstreiks, als dessen Hauptaufgabe die an der Spitze des Kampfes stehende Spartakusgruppe formulierte, „den Frieden — ganz so wie es jetzt unsere russischen Brüder tun — zu erzwingen und ihn den Interessen des internationalen Proletariats entsprechend zu gestalten, damit wir unsern Frieden und nicht den Frieden der Imperialisten haben". 1 6 Trotz aller Sympathien, die den Streikenden im ganzen Lande entgegengebracht wurden, war aber noch immer erst eine Minderheit des Proletariats zu aktiven, opferreichen antiimperialistischen Aktionen bereit. Die Mehrheit der Arbeiterklasse und ein Großteil des Volkes war lediglich von einer galoppierenden Kriegsmüdigkeit erfaßt, die durch Hunger, Entbehrung in der Heimat und durch ununterbrochenes Sterben an den Fronten täglich neue Nahrung erhielt. Symptomatisch sind z. B. die Feldpostbriefe des späteren deutschen Gesandten in Warschau, Ulrich Rauschers, der im Sommer 1917 einfacher Infanterist in Flandern war. Der Krieg, schrieb er, habe Formen angenommen, „bei denen es keine Begeisterung geben kann". Und an einer anderen Stelle: Den Soldaten „in meinem engeren Kameradenkreis. . . [ist] ohne Ausnahme der Ausgang des Krieges ganz einerlei; ob gut oder schlecht: sie wollen nur Frieden". 17 Wiewohl hier Resignation und Gleichgültigkeit gegenüber den gesamtgesellschaftlichen Zuständen herausklingen, ist doch deutlich erkennbar, daß sich die Friedenssehnsüchte und -hoffnungen nach zweieinhalbjährigem Völkergemetzel nicht mehr — oder zumindest kaum noch — zur Stützung der verbrecherischen Kriegspolitik ausnutzen ließen. Ein für die Machthaber gefahrlicher .Umschwung bahnte sich an. Verstärkt um ihre Glaubwürdigkeit besorgt, gebärdeten sich die rechtssozialdemokratischen Führer jetzt desto eifriger als eine Alternative zur Kriegsverlängerung anbietende Gegenkraft zu Kaiser und Kapital. Es sollte wie Unter-Druck-Setzung klingen, als sie den Reichskanzler warnten: „Das Festhalten an Kriegszielen, die über das eigene Recht und zugleich über das Erreichbare hinausgehen, verlängert den Krieg und führt uns dem Abgrunde zu." 18 Doch das war pure Irreführung und Heuchelei: Indem sie den aggressiven Kriegskurs weiterhin unterstützten, überließen sie es der kaiserlichen Regierung, zu entscheiden, was eigenes Recht sei, und der Obersten Heeresleitung, wo die Grenzen des Erreichbaren lägen. Nachdem die russische Oktoberrevolution und das Leninsche Dekret über den Frieden den Hoffnungen und der Kampfbereitschaft der zu einem antiimperialistischen Frieden drängenden Kräfte neuen Auftrieb gegeben hatten, verstärkten die rechtssozialdemokratischen Führer ihre Anstrengungen, um aus dem Friedenswillen der Massen geborene Aktionen zu verhindern beziehungsweise — sofern das nicht gelang — sie zu hintertreiben, ehe sie nicht nur das reibungslose Funktionieren der kaiserlichen Kriegsmaschine, sondern auch die Fortführung des Krieges und die Fortexistenz des Systems in Frage zu stellen vermochten. Ihre Komplicenschaft mit den Machthabern bedingte ihre nach dem Sturz Kerenskis und dem Sieg der Oktoberrevolution ins Unermeßliche gewachsene Furcht vor „russischen Zu16 17 18

Zit. nach: Scheel, Aprilstreik, S. 85. Kurt Doß, Zwischen Weimar und Warschau, Düsseldorf 1984, S. 31. Aus der Denkschrift des sozialdemokratischen Parteivorstandes (zit. nach: Philipp Scheidemann, ren eines Sozialdemokraten, 2. Teil, Dresden 1930, S. 26).

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ständen", d. h. vor einer Umwälzung, die nicht nur die imperialistischen Kriegstreiber, sondern auch sie als deren Helfershelfer hinwegschwemmen würde. Obwohl sie von nun an notgedrungen und immer häufiger Lippenbekenntnisse zu einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen ablegten, traten sie desto beflissener und brutaler gegen jede auf einen demokratischen Frieden zielende Aktion auf. Als im Januar 1918 mehr als eine Million Arbeiter zur Waffe des Massenstreiks griff, um unter ausdrücklichem Hinweis auf das sowjetische Friedensangebot die „schleunige Herbeiführung des Friedens ohne Annexionen, ohne Kriegsentschädigung" 19 zu erzwingen, warfen sie sich, kaum noch getarnt, für die Durchkreuzung der angeblich auch von ihnen selbst gestellten Forderungen in die Bresche. Hatten sie sich beim Abwürgen des Aprilstreiks 1917 noch auf zweitrangige Gewerkschaftsfunktionäre verlassen, so exponierte sich nun, da die Lage des deutschen Imperialismus und ihre eigene immer prekärer wurde, mit Ebert, Scheidemann und Braun die erste Garnitur der Parteispitze, in der viele Werktätige auch jetzt noch vertrauenerweckende Traditionsbewahrer der sozialistischen Bewegung sahen. Die sieben Jahre später gemachten Zeugenaussagen im Prozeß um den Januarstreik 1918 sind bekannt: Bürgerliche Politiker und Generale beschworen, daß die „Sozialdemokratische Partei... und namentlich die Führer so vaterländisch gesinnt und so eifrig für das Vaterland tätig . . . [gewesen sind], wie nur irgendeine andere Partei" (Fehrenbach) und daß „Ebert . . . jederzeit die Forderungen der Obersten Heeresleitung aufs nachdrücklichste unterstützt" habe (Groener). Scheidemann gar brüstete sich ausdrücklich, „durch unser Wirken" den Streik zum Erliegen gebracht und „russische Zustände" verhindert zu haben. 20 Das hätte der sozialdemokratische Parteivorsitzende im Frühjahr 1918 nicht öffentlich sagen können. Denn zu diesem Zeitpunkt war die überwältigende Mehrheit der deutschen Werktätigen von der friedensverheißenden revolutionären Großtat der russischen Arbeiter und Bauern begeistert, und viele betrachteten sie als verpflichtende internationale Pionierleistung. Aber auch immer mehr Menschen, die die tiefen gesellschaftlichen Wurzeln des Blutbades nicht durchschauten, gelangten zunehmend zu der Einsicht, daß der ersehnte Frieden nur echt und dauerhaft werden könne, wenn mit seiner Herstellung zugleich diejenigen verschwänden, die seinen Abschluß so lange verhindert hatten. Damit wurden nicht nur einzelne Trupps der zum Frieden Drängenden, sondern deren Mehrheit zur direkten Reserve der antiimperialistischen Bewegung, zu ihrem schier unerschöpflichen Rekrutierfeld. Diese Wendung und die sich anbahnende militärische Niederlage an den Fronten stellten Urheber und Topmanager des Krieges nun, im fünften Herbst des Massenmordens, vor die Alternative, entweder den Waffengang verlorenzugeben oder dem Volkszorn zu weichen. Jetzt drängten sie selbst auf schleunige Beendigung der Feindseligkeiten, und sogar ein Ludendorff erklärte, „falls seine Person ein Hindernis für den Frieden bilde, sei er bereit, seinen Abschied zu nehmen". 21 Die rechten Sozialdemokraten vollzogen in dieser Situation den Übergang von der Burgfriedens- zur Koalitionspolitik und traten in das Anfang Oktober gebildete kaiserliche „Reformministerium" ein, an dessen Spitze ein Prinz mit Generalsepauletten berufen wurde, 19

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Aus den Forderungen der streikenden Berliner Arbeiter, 29.1.1918 (zit. nach: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 2, Berlin 1957, S. 75). Ebert, Kämpfe und Ziele, S. 362f„ 353f. Aufzeichnung des Obersten v. Haeften, 26. 10. 1918 (nach: Erich Matthias Rudolf Morsey [Bearbeiter], Die Regierung des Prinzen Max v. Baden, Düsseldorf 1962, S. 363).

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der schon acht Monate vorher erkannt hatte: „Wer den Frieden macht, wird nachher regieren." 22 Mit der prahlenden Verlautbarung, Deutschland sei „auf dem Wege vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat" 23 , versuchten sie den Massen zu suggerieren, daß der Wille des Volkes — die Beendigung des Krieges — nunmehr von dem von ihnen mit repräsentierten Staat verwirklicht werde. Doch konnte — wie Rosa Luxemburg vorausgesagt hatte — das „Reformministerium" seine Funktion als Blitzableiter gegen das heraufziehende Volksgewitter nicht erfüllen. Drei Wochen nach seiner Berufung hallte der bald alles übertönende und unmittelbar in die Revolution hineinleitende Ruf durch Deutschland: „Schluß mit dem Krieg! Fort mit Kaiser Wilhelm!" In diesem Ruf, dessen beide Teile eine untrennbare Einheit bildeten, kam — zwar vereinfacht, aber mit elementarer Kraft — zum Ausdruck, daß das Friedensbegehren des politisch wachen Teils des Volkes und sicher auch seiner Mehrheit nunmehr von einem antiimperialistischen Impetus getragen wurde, daß es den Massen jetzt nicht mehr um den Frieden schlechthin ging, sondern um einen Frieden ohne Kaiser, ohne die alten Machthaber, ohne die bisherige gesellschaftliche Ordnung. Von diesem Moment an, d. h. von Ende Oktober 1918, bis zum Übergreifen der Revolution auf die Reichshauptstadt am 9./10. November bestand der größtmögliche Einklang zwischen dem allgemeinen Friedenswillen und der zum Sturm auf das volksfeindliche Regime ansetzenden revolutionären Bewegung. Jetzt erhielt letztere nicht nur starken Auftrieb durch den Friedenswillen, sondern wirkte auch in einem bisher ungekannten Ausmaß auf diesen zurück. Es zeichnete sich ab, daß die bevorstehende antiimperialistische Volkserhebung in ihrem Anfangsstadium die Form einer grandiosen Friedensbewegung annehmen werde. Dies erkennend, versuchten die Machthaber und ihre rechtssozialdemokratischen Komplicen, die Massen mit der Drohung zu erpressen, daß die Revolution „Unordnung" schaffen, den Exekutivapparat zerstören, Verhandlungen mit den Feindmächten torpedieren und folglich die Beendigung des Krieges hinauszögern werde. Die Regierung gab jetzt vor, den Friedensschluß gegen den Ansturm des Volkes verteidigen zu müssen! „Jede Disziplinlosigkeit", erklärte sie, „wird den Abschluß eines baldigen Friedens auf das schwerste gefährden." 2 4 Noch eindringlicher klang das sozialdemokratische Echo: „Je geschlossener ihr unsere Aktion unterstützt. . . desto sicherer werden wir rasch zu einem dauernden Frieden gelangen. . . Folgt darum keiner Parole, die von einer unverantwortlichen Minderheit ausgegeben wird!" 25 Somit war der Appell zur Friedensbeschleunigung zum Schlachtruf der sich formierenden Konterrevolution gegen die friedenssüchtige Revolution geworden. Das modifizierte reaktionäre Friedensgewinsel diente, nun auf alle Schnörkel zur Verteufelung des äußeren Feindes verzichtend, allein und unverblümt der Lähmung des inneren Feindes. Als sich die Massen,, nichts mehr von Versprechungen haltend, dennoch erhoben — die erste rote Fahne hißten die Kieler Matrosen am 3. November —, fanden sich die Machthaber nicht nur zur Kapitulation an der Front bereit. Ihr System zu retten, entledigten sie 22

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Joachim Petzold, „Ethischer Imperialismus", in: Politik im Krieg 1914—1918, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1964, S. 221. Aus dem Aufruf des Parteivorstandes der SPD, 17.10.1918 (zit. nach : Dokumente und Materialien, a. a. O., S. 251). Aus dem Aufruf der Reichsregierung, 4. 11. 1918 (zit. nach ebenda, S. 292). Aus dem Aufruf des Vorstandes der SPD, 4. 11. 1918 (ebenda, S. 290).

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sich des Kaisers (sie empfahlen ihm den Heldentod im letzten Gefecht, doch zog er die Flucht nach Holland vor) und anerkannten eine vermeintliche Revolutionsregierung unter Ebert-Scheidemann. Allzuschwer fiel ihnen das allerdings nicht. Zum einen kalkulierten die Klügsten unter ihnen, daß der Abschluß des harten Waffenstillstands durch Zivilisten „die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet . . . erhalten" werde. 26 Zum zweiten konnten sie davon überzeugt sein, daß sich die neuen Regierer mit aller Kraft gegen die Volksbewegung stemmen würden, und zwar, wie Groener als militärischer Führungskopf frohlockte, „mit meiner Zielsetzung und mit allen den Mitteln, die ich zur Bekämpfung der Revolution für geeignet" erachte. 27 Wahrlich: „Die bürgerliche Klassengesellschaft" — so Rosa Luxemburgs Analyse — ,,kämpft[e]. . . unter fremder Flagge, unter der Flagge der Revolution selbst. Es . . . [war] eine sozialistische Partei, . . . das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes, das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat[te]." 28 Zwar war die Waffenstillstandsabordnung noch von der inzwischen gestürzten kaiserlichen Regierung entsandt worden, doch konnten die „Volksbeauftragten", wie sich die neue Regierungsmannschaft (jetzt pharisäisch „russische Zustände" kopierend) nannte, am zweiten Tag ihrer Amtsführung —11. November — verkünden, daß die Waffenruhe soeben vereinbart worden sei und die Kanonen schwiegen. Die Ebert und Scheidemann, denen der von der Generalität eingefädelte Kriegsabschluß in den Schoß fiel, gebärdeten sich nun triumphierend als Friedensbringer. Diese Verkleidung brachte ihnen einen gewaltigen Prestigegewinn und könnte deshalb als kluger Schachzug erscheinen. Langfristig gesehen erwies sie sich jedoch als Fehlspekulation. So laut sie nämlich auch hinausposaunten, daß der Wille des Volkes vollstreckt sei, war doch der Krieg insofern nicht den Massenforderungen entsprechend beendet worden, als die alten Gewalten, deren Konkursmasse Ebert und seine Gefolgsleute übernahmen, ungeschoren davonkamen. Daraus aber folgte: Die der Verantwortung für das niederdrückende Kriegsergebnis enthobenen Generale und ihre Hintermänner blieben aktionsfahig und konnten — wenn nicht heute, dann morgen — auf die Zertrümmerung des von der Sozialdemokratie getragenen neuen Staatswesens und auf die Vernichtung der Sozialdemokratie selbst hinarbeiten. Subjektiv lag es den Ebert und Scheidemann zwar durchaus fern, ein Comeback der extremsten Reaktionäre vorzubereiten, objektiv gaben sie jedoch, indem sie sich vor die Militärs stellten, grünes Licht dafür. „Selbstverständlich", schrieb ein Mitarbeiter des zu Beginn der Revolution feige nach Schweden geflohenen Ludendorffs, „leitete uns . . . nicht der Wunsch, die Sozialdemokratie in den Sattel zu heben ... sondern wir wollten und mußten zunächst einmal — weil es bei der damals in Deutschland herrschenden Stimmung und angesichts des Alpdrucks des äußeren Feindes anders nicht ging — ein Stück mit der Sozialdemokratie zusammen marschieren, um unseren gemeinsamen Feind, den ,SpartakismUs' abzuwürgen. War dies geglückt, dann wollten wir unseren bisherigen Verbündeten die Rechnung vom November 1918 vorlegen und von ihnen begleichen lassen." 29 Genau das tat Hitler 14 Jahre später. 26 27

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Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen, hrsg. von Frhr. Hiller v. Gaertringen, Göttingen 1957, S. 467. Aus der Aussage Groeners im Dolchstoßprozeß (nach: Hans Herzfeld, Die deutsche Sozialdemokratie und die Auflösung der nationalen Einheitsfront im Weltkriege, Leipzig 1928, S. 383 — Hervorhebungen von mir). Rosa Luxemburg, Ein Pyrrhussieg, Werke, Bd. 4, S. 471. Waldemar Pabst, Spartakus, in: Revolutionen der Weltgeschichte, München 1933, S. 827.

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Unbestreitbar ist indes, daß der Abschluß des Waffenstillstandes von der überwältigenden Mehrheit des Volkes zunächst als ungeheure Erleichterung empfunden wurde. Da nun auch der Kaiser nicht mehr da war, wähnten die Menschen, ihre Forderung „Schluß mit dem Krieg! Fort mit Kaiser Wilhelm!" sei erfüllt. Wesen und Erscheinung der Geschehnisse klafften jedoch auseinander. Wilhelms Paladine waren geblieben, beendet war nur dieser Krieg. Kein Bann traf den Krieg als solchen, als Daseinsform der Ausbeutergesellschaft. Nicht nur, daß er sogar jetzt, inmitten des Friedenstaumels, weitertobte — im Osten, wo es gegen das Rote Rußland ging. In den geheimen Schaltzentralen der Herrschenden wurde schon an seiner Auferstehung im Großformat gearbeitet. Der mit Ebert verschwörerisch verbundene Generalstabschef Groener tastete, nach eigenen Worten, beim amerikanischen Hauptquartier in Europa vor, „wieweit die ehemaligen Gegner für eine gemeinsame Niederwerfung der Bolschewiken zu haben sein würden" 30 , und ließ unter dem Codewort „Frühlingssonne" einen Operationsplan für den Vormarsch auf Moskau erstellen. Und auch ein künftiger Revanchekrieg gegen die Westmächte war bereits im Kalkül. Auf einer Generalstabsberatung im Dezember zeichnete Major Schleicher, der spätere Reichskanzler und Steigbügelhalter Hitlers, die perspektivische Planung vor: „Auf der Basis der wiederhergestellten Ordnung müsse man . . . zur Gesundung der Wirtschaft kommen. Erst auf den Schultern einer aus den Trümmern wiederaufgebauten Wirtschaft könne alsdann . . . an die Wiederherstellung der äußeren Macht gegangen werden." 31 Diejenigen, die erkannten, daß die grundsätzliche Wende, für die die Massen sich erhoben hatten, noch nicht erreicht war, drängten zur Überwindung der Halbheiten, zur Vollendung der demokratischen Umwälzung, zur Überleitung des Kampfes in die sozialistische Revolution. Ihr Vortrupp, der von Liebknecht, Luxemburg und Genossen als Keimzelle einer neuen revolutionären Partei gegründete Spartakusbund, orientierte darauf, „die Revolution über ihre bisherigen kümmerlichen Ergebnisse vorwärtszutreiben": „Das Proletariat muß den herrschenden Klassen die politische Macht endgültig entwinden. . ., muß den Kapitalisten ihre wirtschaftliche Macht, die tiefste und festeste Grundlage der Klassenherrschaft, entreißen." 32 Die Mehrheit der am Revolutionsgeschehen Beteiligten begriff jedoch nicht, daß vorerst nur eine Fassadenerneuerung, kein Systemwechsel stattgefunden hatte. Vor allem ein Großteil der Soldaten, die zwar Krieg und Kadavergehorsam verabscheuten, aber dem Sozialismus zwiespältig gegenüberstanden, hielt den Sieg über den Militarismus für erfochten und gesichert. Ihnen die Augen über das wahre Gesicht des Regimes der „Volksbeauftragten" zu öffnen, bemühten sich die revolutionären Kräfte. „In eurer Freude über das Ende des furchtbaren Völkermordens", hieß es in einem Aufruf des Roten Soldatenbundes vom November, „über das Wiedersehen mit euren Lieben in der Heimat glaubtet [ihr] diesen Wölfen im Schafspelze. In dieser Freude hattet ihr alle Unterdrückung, allen Jammer und [alles] Elend vergessen . . . Soll dieser Krieg der letzte gewesen und den Völkern eine glückliche Zukunft gesichert sein, so muß aus dem Soldatenrat, diesem grundlegenden Glied der neuen Regierungsform (und das galt selbstverständlich für alle Organe der Revolution — W.R.), jeder,

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Groener, Lebenserinnerungen, S. 486. Friedrich v. Rabenau, Seeckt. Aus seinem Leben 1918-1938, Leipzig 1940, S. 118. Aus der Entschließung einer Massenversammlung des Spartakusbundes, 21.11.1918 (zit. nach: Dokumente und Materialien, a. a. O., S. 444) und Karl Liebknecht, Leitsätze, 28. 11. 1918, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 9, Berlin 1971, S. 632.

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aber auch jeder entfernt werden, der nicht für die unbedingte Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte ist." 33 Auch viele Arbeiter bauten auf den vermeintlich errungenen Sieg, wähnten den Krieg ein für allemal überwunden und verließen sich, von kleinbürgerlichen Illusionen beschwert, im übrigen darauf, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung jetzt durch famose Erlasse der vom „Genossen Ebert" geleiteten Regierung eingeführt werde. So mußte die Aktionseinheit, die im ersten Ansturm der Revolution namentlich in den überall geschaffenen Arbeiter- und Soldatenräten zustande gekommen war, zerbrechen: Diejenigen, die zum Verharren auf dem Erreichten entschlossen waren, standen nun neben den Vorwärtsdrängenden — und bald auch gegen sie. Die Dialektik von Friedenskampf und Fortschritt offenbarte, daß der allgemeine Friedenswille, der der Volkserhebung die stärksten Impulse gegeben, ihr zu ungeahnter Breite verholfen hatte, nicht ausreichte, um ihr auch die historisch erforderliche Tiefe zu verleihen; ja, in dem Moment, da sich die Kriegsverlängerer von gestern seiner zu bemächtigen verstanden, wur.de er zum Hemmschuh des weiteren Kampfes für eine Ordnung der Freiheit und des Friedens. Die Niedertracht der Kriegsverlängerer von gestern bestand nicht zuletzt darin, daß sie die weltweit beispielgebenden Vorkämpfer des Friedens — die Bolschewiki — und die konsequentesten Friedensstreiter im eigenen Lande — Spartakus und Genossen — als blutrünstige und zum Krieg treibende Kräfte diffamierten. Sie wiesen auf den von ihren Komplicen mit entfesselten Interventions- und Bürgerkrieg in Rußland hin und prangerten nicht die weißen Generale, die der Arbeiter-und-Bauern-Macht einen Kampf auf Leben und Tod aufzwangen, der Mordgier an, nicht die ausländischen Eindringlinge, die Rußland verwüsteten, sondern die mit der Waffe in der Hand die neue Friedensordnung verteidigenden russischen Kommunisten. Sich selbst das Verdienst zuschreibend, die deutsche Revolution in friedliche Bahnen gelenkt zu haben, stellten die Rechtssozialdemokraten die Dinge so dar, als sei der Sozialismus nach ihrem Rezept im Einvernehmen mit den früheren Herren ohne Opfer und Entsagungen erreichbar. So gaukelten sie den vor allem nach Bewahrung des Friedens dürstenden Massen die verlogene Alternative zweier Wege zum Sozialismus vor: des russischen Gewaltmarsches durch Kampf und Entbehrungen und des deutschen Spazierganges mit dem Wahlzettel in der Hand. Der Gipfel ihrer Infamie bestand darin, daß sie zugleich einen brutalen Ausrottungsfeldzug gegen diejenigen vorbereiteten und führten, die von Anfang an für eine wirklich von Kriegen freie Gesellschaft gekämpft hatten. Die Soldateska ihres Kumpans Noske ermordete Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Überall dort, wo sich die Arbeiter zur Weitertreibung der Revolution erhoben, errichteten sie ein grausames Regiment des weißen Terros — in Berlin, in Bremen, abermals in Berlin, in Mitteldeutschland, im Ruhrgebiet, in München. Und für den Fall, daß die sozialistische Revolution in ganz Deutschland an Kraft gewinnen würde, hatten die neuen Regierer sich schon vorsorglich an die imperialistischen Westmächte, die ehemaligen Feindstaaten, mit der Bitte gewandt, ihre Truppen in Deutschland einmarschieren, also das in Worten über alles gestellte Vaterland mit Krieg überziehen zu lassen.34 33

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Aus dem Aufruf des Roten Soldatenbundes, November 1918 (zit. nach: Dokumente und Materialien, a. a. O., S. 452). Vgl. Albert Norden, Die Novemberrevolution 1918 und das Wiedererstarken des deutschen Imperialismus, in: Einheit, 1958, H. 10, S. 1452.

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Die mit der Niederwerfung der Revolutionsherde, der Antisowjethetze und der Ausmerzung von Teilerrungenschaften der Revolution einhergehende Entschleierung der rechten Sozialdemokraten vertiefte die Spaltung der Arbeiterklasse und führte zur verschärften Konfrontation ihrer für und wider die Gemeinsamkeit mit der Bourgeoisie eintretenden Trupps. Dieses Gegeneinander kennzeichnete auch die Frühjahrskämpfe 1919. Die Frage Krieg oder Frieden spielte in ihnen kaum noch eine Rolle. Da jetzt aber die Vorbereitung des Friedensvertrages immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte und sich von Monat zu Monat — bis zur Veröffentlichung des Vertragstextes im Juni — deutlicher abzeichnete, daß die westlichen Siegermächte ein räuberisches Diktat vorbereiteten, griff, von Konterrevolutionären jeglicher Couleur tatkräftig gefördert, namentlich im Kleinbürger- und Bürgertum Empörung über den „ungerechten" und somit unechten Frieden um sich. Das war nur allzu erklärlich, hatten doch diese Menschen 1914 das Gewehr mit dem Bewußtsein geschultert, einer gerechten Sache zu dienen, und taten doch auch jetzt die neuen Regierer alles, um die ihnen wohlbekannte Hauptschuld des Kaiserreichs am Kriege weiterhin zu leugnen. So bahnte sich für die nächste Periode des Klassenkampfes, in der die Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Anschläge und die Verhinderung eines neuen Weltkrieges einen bedeutenden Platz einnahmen, eine Konstellation an, in der die Verbitterung breiter nichtproletarischer Schichten über die „Verzichtpolitiker" von Versailles und ihr Streben nach einem „echten" Frieden der Reaktion und dann auch dem Faschismus Wasser auf die Mühlen leiteten.

JÜRGEN KUCZYNSKI

Die Haltung der Intelligenz zu Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der Weimarer Republik

Die Intelligenz als hauptberufliche Schicht der Gesellschaft ist mindestens 5000 Jahre alt. Sie ist die einzige Schicht, die alle Schichten und Klassen auf wunderbare Weise überleben wird. Denn im vollendeten Kommunismus wird sie, wie Marx vorausgesehen hat, die ganze Menschheit umfassen. Marx erwartet vom Kommunismus „die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht". 1 Wenn es an hunderttausend Jahre dauerte, bis aus der gröbsten Form der Steinaxt ein trefflich wirksames Handwerkszeug aus Stein wurde, dann bedurfte es dazu keiner hauptberuflichen Intelligenz, die als Produktivkraft wirksam wurde. Und wenn Höhlenmalereien, vor Zehntausenden von Jahren gefertigt, noch heutes unser Schönheitsempfinden tief berühren, so verfehlten sie doch ihren eigentlichen Zweck, nämlich durch Magie das Jägerglück zu steigern. Erst wenige Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung entsteht eine hauptberufliche Intelligenz in China, in Ägypten, in Indien. Zuerst wohl eine religiöse Intelligenz und eine Verwaltungsintelligenz, beide überaus wichtig als Herrschafts- und Leitungskraft. Erst später beginnt eine wissenschaftliche Intelligenz als Produktivkraft wirksam zu werden. Ihr-ging sicherlich die künstlerische Intelligenz in Gestalt hauptberuflicher Sänger und Erzähler voran. Die Arbeiterklasse entwickelte im Laufe ihrer Geschichte eine quantitativ und qualitativ wachsende Avantgarde revolutionärer Kämpfer gegen das Kapital, die sie bereits auf einem Drittel der Erde zum Sieg geführt hat. Die Intelligenz verfügte nur auf einigen Höhepunkten ihrer Entwicklung über eine Avantgarde, die dem Fortschritt der Wissenschaft und Künste diente. Zumeist trieb sie nur durch eine Elite, also eine sehr kleine kämpferische Einheit, die Menschheit voran. Eine Avantgarde der Intelligenz gab es in Europa in der Zeit der Blüte und der ersten Zeichen des Verfalls im antiken Griechenland, in der Zeit der Renaissance, vor der englischen und französischen bürgerlichen Revolution, zur Zeit um 1800 in Deutschland und nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion. Auch läßt sich keine spätere Zeit, an der Vielfalt der Zusammensetzung der Avantgarde gemessen, mit der Blüte des antiken Griechenland und der Renaissance vergleichen. Denn

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Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 593.

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Jürgen Kuczynski

nur in diesen beiden Perioden haben wir Höhepunkte der Wissenschaft, der Schönen Literatur und der bildenden Künste zur selben Zeit. Die Intelligenz war zumeist so zusammengesetzt, daß es eine winzig kleine, nur selten das Ausmaß einer Avantgarde erreichende fortschrittliche, großartig kämpfende, so oft verfolgte, gequälte, gemordete Gruppe gab, daß sie oft in der Hauptsache aus gesellschaftlich wenig, in ihrem Bewußtsein bisweilen politisch gar nicht engagierten Mitgliedern und einer Minderheit bewußt fortschrittsfeindlicher Gestalten bestand. In der Weimarer Republik war das anders. Wenn wir die Lehrer an den Schulen zur Intelligenz rechnen, und das müssen wir, ja sie stellten mit der klerikalen den Großteil der Intelligenz, dann waren diese beiden Gruppen im allgemeinen bewußt reaktionär eingestellt. Sie waren in ihrer großen Mehrheit rechtsbürgerlich orientiert. Stellen wir jedoch die Frage noch pointierter, nämlich nach ihrer Stellung zum Faschismus, dann finden wir, auch in den letzten Jahren der Weimarer Republik, nicht sehr viele Faschisten unter dem Klerus, dagegen eine zunehmende Zahl unter den Lehrern. Hier beobachten wir einen entscheidenden Unterschied etwa zu Frankreich. Wenn dort (bis nach dem zweiten Weltkrieg) die Arbeiterparteien eine Wahlniederlage erlitten, dann sank der Prozentsatz der Intelligenz im Parlament, weil relativ viele Lehrer gerade von den Arbeiterparteien als Kandidaten aufgestellt wurden. Auch die wissenschaftlich-technische Intelligenz war in der Weimarer Republik in ihrer Mehrheit reaktionär eingestellt. Besser war die Situation unter den bürgerlichen Gesellschaftswissenschaftlern, die in der Mehrheit zwar die Reaktion durch ihre „Neutralität" und politische Untätigkeit unterstützten, die aber keine größere Minderheit von „echten" Reaktionären und nur eine sehr kleine Minderheit von irgendwie (bewußt) fortschrittlichen Wissenschaftlern umfaßte. Weit besser war die Situation unter den Schriftstellern und bildenden Künstlern. Zunächst, ohne Rücksicht auf die politische Richtung, war ihr politisches Engagement entschieden größer als das der Wissenschaftler. Und dann war unter denen von schriftstellerisch-technischem Format die Zahl der fortschrittlich engagierten weit größer als unter den Gesellschaftswissenschaftlern. Ein formvollendeter reaktionärer Dichter wie George war eine Seltenheit. Fortschrittliche Schriftsteller von gutem literarischem Niveau gab es nicht wenige — wie Stefan und Arnold Zweig, Thomas und Heinrich Mann, Jacob Wassermann, Lion Feuchtwanger usw. usw. Auch unter den bildenden Künstlern gab es nicht wenige, die den Fortschritt förderten: von der Bauhaus-Gruppe bis zu Corinth, Liebermann und Barlach. In der Tat kann man von einer Nachblüte der fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz in der Weimarer Zeit sprechen. Sie alle traten für Demokratie ein und oft offen gegen den Faschismus auf. Sie alle wußten, was Faschismus außenpolitisch bedeutete. Keiner von ihnen ahnte — das gilt aber auch von der Arbeiter- und Parteiintelligenz —, wie er innenpolitisch wüten würde. Die Intelligenz umfaßte aber auch — zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit — eine Intelligenz der Werktätigen, insbesondere in den Gewerkschaften und Arbeiterparteien. In Deutschland war sie größer als in den anderen kapitalistischen Ländern auf Grund der jahrzehntelangen Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung und der mehr oder weniger erfolgreichen Lehre im Studium des Marxismus, der Verbreitung der Werke von Marx und Engels und (in der Kommunistischen Partei) der zunehmenden Veröffentlichung und Lektüre der Schriften von Lenin.

Die Haltung der Intelligenz

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Die akademisch gebildete Intelligenz innerhalb der Sozialdemokratischen Partei war zahlenmäßig nicht unbedeutend, im Gegensatz zur Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften, in denen sie keine irgendwie ins Gewicht fallende Rolle spielte, insbesondere in der Kommunistischen Partei nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, nach dem Tode von Franz Mehring und der Ausschaltung der Ultralinken Anfang der zwanziger Jahre. Ich glaube, daß es richtig war, bei der bürgerlichen Intelligenz nur die Frage nach ihrer Haltung zu Demokratie und Faschismus zu stellen. Wenn einige unter ihnen glaubten, irgendwie positiv zum (wissenschaftlichen) Sozialismus zu stehen, so war das faktisch in fast allen Fällen ein subjektiver Irrtum. U m so berechtigter ist diese Frage bei der Intelligenz, die zur Arbeiterklasse stand und zumeist in der Sozialdemokratischen Partei organisiert war. In dieser Partei müssen wir ganz deutlich zwischen den „Linken" und den „Rechten" unterscheiden. Mögen sich die „Rechten" auch Sozialisten genannt haben, so waren sie doch gegen die Forderungen und Anforderungen des wissenschaftlichen Sozialismus. Den „Linken" aber darf man, trotz mancher Schwächen in ihrer Auffassung von der erforderlichen Taktik und Strategie, die aber auch die Kommunisten hatten, doch den stolzen Namen Sozialisten geben, der jedoch dem „Zentrum" in der Sozialdemokratischen Partei und der großen Masse der Gewerkschaftsmitglieder im allgemeinen nicht gebührt. Ganz anders war die Situation in der Kommunistischen Partei und bei vielen ihrer Wähler. Trotz der Verkennung der Lösung des so wichtigen strategischen Problems, gegen wen der Hauptstoß zu richten sei, waren die Kommunisten und viele ihrer Sympathisanten echte, tief überzeugte Sozialisten, und das galt auch für die Intelligenz, auch natürlich für die aus dem Bürgertum zu ihr gestoßene Intelligenz wie Johannes R. Becher oder Käthe Kollwitz. Wenn wir die fortschrittliche Intelligenz in der Weimarer Republik klassenmäßig untersuchen, dann fällt, im Gegensatz etwa zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland, auf, daß der Anteil der sterbenden Klasse der Bourgeoisie am Fortschritt doch weit größer war als der des sterbenden Feudaladels, sagen wir, um 1800. Das gilt zwar nicht für die wissenschaftliche, militärische und hauptberuflich politische Intelligenz, aber in ganz hohem Maße für die künstlerische Intelligenz, für die Vertreter der Schönen Literatur und der bildenden Künste. Wieviel breiter aber war das Spektrum der fortschrittlichen adligen Intelligenz in dem Halbjahrhundert vor der Revolution in Frankreich! Ein Vergleich mit derselben Zeit vor der englischen Revolution ist nicht möglich, da um 1600 ein Teil des Adels dort schon ökonomisch verbürgerlicht war, das heißt, kapitalistisch wirtschaftete. Einzig in der Geschichte waren natürlich die Leistungen der griechischen Intelligenz aus den Oberschichten in der Niedergangsperiode der Polis, etwa mit Plato aus ältestem griechischem Adelsgeschlecht und Aristoteles, Sohn des Leibarztes des Königs von Mazedonien und selbst Prinzenerzieher — Alexander der Große war sein Zögling. Faszinierend ist das Studium solcher Zusammenhänge, und viel zu wenig wird es betrieben. Manches läßt sich nicht erklären, und wir können uns nur froh wundern — wie etwa über die Erscheinung der größten wissenschaftlichen Gestalt vor Marx, des Aristoteles, bei fortgeschrittenem Niedergang der Gesellschaft, in der er lebte, ober über Marx, noch bevor sich das Proletariat in Deutschland als Klasse konstituiert hatte, als es in Frankreich gerade als selbstbewußte Klasse auftauchte und in England soeben erblich zu werden begann. Zwei unerklärliche Wunder in der Geschichte der Intelligenz: Aristoteles als Spätling, Marx als Frühling.

EBERHARD BRÜNING

Antifaschistische deutsche Exilliteratur in der historischen und kulturellen Situation in den USA 1933-1945

Als Amerikanist, der sich seit langem in der Forschung um die marxistische Aufarbeitung der literarischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in den USA während der 30er Jahre bemüht, geht es mir vornehmlich um die amerikanische Reflexion des Phänomens antifaschistische deutsche Exilliteratur in den USA von 1933 bis 1945 (48). Ist einerseits unbestritten, daß die kulturellen und sozialen Gegebenheiten und nationalen Spezifika des Gastlandes nicht ohne Folgen für die Exilautoren geblieben sind, so scheinen andererseits nur sehr vage Vorstellungen darüber zu bestehen, welche Rückwirkungen die Existenz einer solchen Literatur, die Aktivitäten, Lebens- und Schaffensbedingungen, Ansichten, Erfahrungen und Verhaltensweisen der — wie es im Amerikanischen gewöhnlich heißt — „antiNazi writers" deutschsprachiger Repräsentanz auf die allgemeine literarische und kulturelle Szene der Vereinigten Staaten jener Periode hatten. Wenn auch für Jahre hin latent und in der breiten Öffentlichkeit wenig sichtbar, so trat doch eine solche Wechselbeziehung und Korrelation zumindest in der Zeit der Antihitlerkoalition, vor allem aber in den Jahren 1942—1945, fast spektakulär in das nationale und internationale Rampenlicht, d. h. in jener Zeit, als auch in den USA antifaschistischer Kampf und offizielle Regierungspolitik in völliger Übereinstimmung zu stehen schienen. So ist es kein Zufall, daß der Präsident Franklin D. Roosevelt ^n den im Oktober 1943 in Los Angeles von der Hollywood Writers' Mobilization und der University of California einberufenen Schriftstellerkongreß, auf dem auch als namhafte Repräsentanten der deutschen Exilautoren Thomas Mann und Lion Feuchtwanger sprachen und dem die sowjetischen Schriftsteller und Kriegskorresporidenten Michail Scholochow, Alexei Tolstoi, Ilja Ehrenburg, Konstantin Simonow und Leonid Leonow ihre Grüße und besten Wünsche übermittelten, folgendes Telegramm richtete: „Ich sende diese Grußworte an den Schriftstellerkongreß im tiefen Bewußtsein der Bedeutung'einer solchen Versammlung von Schriftstellern in unseren Tagen. Er ist ein Symbol, so will es mir dünken, für unseren amerikanischen Glauben an die Freiheit der Meinungsäußerung — an unser Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Schriftsteller, die brennenden Fragen unserer Zeit darzustellen und aufzuhellen. Die hier versammelten Männer und Frauen haben alle schon der Nation einen großen Dienst erwiesen, indem sie dazu beigetragen haben, die Grundprobleme dieses Krieges und das Wesen unserer Gegner zu erläutern. Ich bin zuversichtlich, und zwar gerade jetzt, wo wir uns des Sieges zunehmend gewiß sind, daß Sie sich nicht weniger erfolgreich engagieren, um das Volk über die vielschichtigen Probleme aufzuklären, die wir lösen müssen, soll der Friede eim dauerhafte Realität werden." 1

1

Siehe Writers' Congress. The Proceedings of the Conference held in October 1943 under the sponsorship

Antifaschistische deutsche Exilliteratur

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Gerade in unseren Tagen, da wir auf die Zerschlagung des Hitler-Faschismus und die Beendigung des von ihm instigierten 2. Weltkrieges vor vierzig Jahren zurückblicken, verdienen Worte wie diese und die darin ausgedrückten Hoffnungen besondere Beachtung. Zugleich sollten wieder alle ehrlichen antifaschistischen Bemühungen in das öffentliche Bewußtsein gehoben werden, die im Zeichen der Antihitlerkoalition auch in jenen kapitalistisch-imperialistischen Staaten erfolgten, die schon kurz nach Kriegsende zu Hauptvertretern der Ära des kalten Krieges, des Antikommunismus und Antisowjetismus wurden. Eine nicht geringe Anzahl antifaschistischer Werke der amerikanischen Literatur aus der zur Betrachtung stehenden Periode hat ja auch in der Entstehungs- und ersten Aufbauphase unserer Republik zur geistigen Erneuerung und humanistischen Standpunktfindung ihrer Menschen beigetragen. Bei allen bisherigen amerikanischen Untersuchungen — selbst solchen, die sich großer Objektivität befleißigen und ideologisch bedingter Voreingenommenheiten enthalten — präsentiert sich das Beziehungsverhältnis der antifaschistischen Exilautoren zu den progressiven literarischen und kulturellen Kräften der USA und überhaupt zur allgemeinen literarischen und kulturellen Entwicklung der 30er und ersten Hälfte der 40er Jahre merkwürdig verschwommen und lückenhaft. Hier sind sicherlich noch immer die Nachwirkungen des McCarthyismus auf Autoren und Literaturwissenschaft gleichermaßen spürbar. Vorsicht, Vorbehalte und fast schon petrifizierte Tabus sind nur schwer zu überkommen, und auch die gegenwärtigen außerliterarischen Konstellationen und Konfrontationen sind wohl nicht gerade einem Abbau derselben förderlich. Mir erscheint in diesem speziellen Bereich der Exilliteraturforschung ein Nachholebedarf vorzuliegen — ein Desideratum mit der Implikation, zumindest erst einmal die nicht unbeträchtlichen Fakten zu erfassen und aufzuarbeiten sowie Weggelassenes bzw. Verschüttetes ans Tageslicht zu bringen. Zu untersuchen wäre m. E. eben auch — in einer Reihe noch weiter zu spezifizierender Fragestellungen — die Auseinandersetzung der US-amerikanischen literarischen und kulturellen Öffentlichkeit mit der antifaschistischen deutschen Literatur. .Formen ihrer Rezeption, aber auch die Parallelität literarisch-kultureller Erscheinungen — gewissermaßen als Ausdruck einer internationalen Gesetzmäßigkeit — könnten von Interesse sein für die weitere Erhellung der Wechselwirkung von nationalliterarischem und weltliterarischem Prozeß. Zudem wären jene Institutionen, Veranstaltungen und Publikationsorgane der in Betracht kommenden Periode in ihrer stimulierenden Spezifik zu erfassen, die zu einem Ferment dieser Entwicklung geworden sind. Ein Hauptanliegen solcher Bemühungen sehe ich nicht zuletzt darin, die — übrigens in Ost wie West gleicherweise — vertretene These von der nahezu völligen Isolation der antifaschistischen deutschen Schriftsteller im USA-Exil zu relativieren, wenn nicht überhaupt in Frage zu stellen. „Isolierung" alsDiktum und Prämisse verbaut von vornherein den Zugang zum Erkennen und Werten von vorhandenen Wechselbeziehungen oder schiebt sie auf ein uninteressantes bzw. unwichtiges Nebengleis. In vielen Publikationen insbesondere aus amerikanischer Feder ist „Isolation" fast schon zu dem durchgängigen Charakteristikum des Exilautors in den USA deklariert worden — der marktwirksame Titel eines neueren und durchaus aufschlußreichen Buches drückt das paradigmatisch aus.2

1

of thp Hollywood Writer's Mobilization and the University of California, Berkeley and Los Angeles 1944, S. 5. - Übers. E. B. Anthony Heilbut, Exiled in Paradise. German Refugee Artists and Intellectuals in America, from the 1930s to the Present, New York 1983.

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Natürlich ist nicht zu übersehen, daß viele Exilautoren — vor allem die in ihren Heimatländern Deutschland und Österreich prominenten und populären — diese Vorstellung bewußt oder unbewußt durch wiederholte Selbstaussagen gefördert haben und daß sich einige sogar mit einem für die Hilfsbereiten des Gastlandes nur schwer verständlichen Elite- und kulturellen Überlegenheitsanspruch in diese Position selbst hineinmanövriert haben. Manche, wie Bertolt Brecht, haben ihren „culture shock" nie recht überwinden können — oder wollen. Allerdings so „isoliert", wie sie sich oft gaben oder vorkamen, waren selbst jene beim näheren Hinsehen nun wiederum auch nicht. Sie wurden schon zur Kenntnis genommen von ihren amerikanischen Kollegen und der kulturellen Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten. Tätige Solidarität und gelungene Versuche des geistigen Brückenschlags waren durchaus nicht so selten. Gewiß ist einzuräumen, daß die Dimensionen, gemessen an den Erwartungen und gewohnten Qualitätsansprüchen, bescheiden waren. Viel ist schon über die Handvoll Spitzenautoren im amerikanischen Exil geschrieben worden (insbesondere über Thomas Mann, Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger), aber — obwohl es auch hier noch Lücken und notwendige Ergänzungen geben mag — das Problemfeld „Deutsche Exilliteratur und -autoren in den USA" ist m. E. viel breiter, wenn man die „elitäre" Position verläßt, den Gesichtspunkt der direkten und indirekten Massenwirksamkeit einbezieht und vor allem den weniger prominenten Autoren mehr Aufmerksamkeit widmet. Es drängen sich hier Namen wie F. C. Weiskopf und Stefan Heym auf, die mit ihren zunächst in englisch verfaßten antifaschistischen Werken stark in die kulturelle Öffentlichkeit der USA hineinwirkten. Aber auch an solche Schriftsteller ist zu denken, die sich nur zeitweilig in den Vereinigten Staaten als Exilierte aufgehalten haben — wie Friedrich Wolf, Ludwig Renn oder Bodo Uhse —, jedoch in nicht unwesentlicher Wechselbeziehung zur amerikanischen literarischen und kulturellen Szene gestanden haben. Nicht minder interessant ist unter diesem Aspekt zum Beispiel das Verhältnis von Anna Seghers zur zeitgenössischen amerikanischen Literaturgesellschaft sowie die Rezeption ihrer antifaschistischen Werke in den USA. Immerhin war sie ja mit Hilfe der „League of American Writers" via Ellis Island nach Mexiko gelangt, erhielt regelmäßig finanzielle Unterstützung durch das „Exiled Writers Committee" der „League" aus New York und gehörte zwischen 1942 und 1944 zu den am häufigsten in den New Masses publizierten antifaschistischen deutschen Autoren. So erschien im Dezember 1944 mehrseitig und an zentraler Stelle der gerade in jener Zeit so wichtige Artikel The Task of Art mit seinen theoretischen Überlegungen zur Funktion der Literatur und Kunst bei der Befreiung der deutschen Jugend von der faschistischen Ideologie.3 Mit der englischen Erstausgabe von Das siebte Kreuz (The Seventh CrossJ 1942 bei dem angesehenen Verlag Little, Brown & Comp, in Boston und seiner Aufnahme in die nationale Buchgemeinschaft des Book-of-the-Month-Club für Oktober desselben Jahres wurde schließlich dieser Roman in einer entscheidenden Phase des internationalen antifaschistischen Kampfes zum ersten Mal massenwirksam. Samuel Sillen konstatierte eingangs seiner ausführlichen Buchbesprechung: „Man wagt es kauip zu glauben, aber es ist eine Tatsache, über Nacht hat der Name Anna Seghers den ihm lange zustehenden hervorragenden Stellenwert in diesem Lande erhalten." 4 Aus diesem generellen Blickwinkel heraus stellen sich für mich Fragen, die m. E. bisher kaum aufgeworfen oder wenn, dann nur recht einseitig beantwortet worden sind: Wie 3 4

Anna Seghers, The Task of Art, in: New Masses, December 19, 1944, S. 9—11. Samuel Sillen, The Seven Who Fled, in: Ebenda, September 29, 1942, S. 22. — Übers. E. B.

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haben amerikanische Kritiker und Schriftsteller die antifaschistischen deutschen Autoren und ihre Publikationen wahrgenommen und eingeschätzt? Welche deutschen Exilautoren wurden in der amerikanischen literarischen Kritik (literaturwissenschaftliche Publikationen und Presse) am stärksten beachtet? Wie steht es mit den Rezensionen von Werken deutscher Exilautoren in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften, bes. in den marxistisch orientierten, wie Daily Worker und New Masses, oder in linksbürgerlichen wie New Republic, Nation, Partisan Review und Twice a Yearl Welche Bedeutung erlangten die „League of American Writers" und die „American Writers Congresses" für die antifaschistischen deutschen Schriftsteller? Wie ist das Verhältnis und Bekenntnis deutscher Exilautoren zur amerikanischen Nationalliteratur? In welchem Maße haben die deutschen Exilautoren (bes. die Gruppe der aktiven antifaschistischen) zur Profilierung des politischen Bewußtseins der amerikanischen Öffentlichkeit und des literarischen Prozesses in den Vereinigten Staaten beigetragen? In welchen konkreten Fällen des literarischen Schaffens kann man von einer gegenseitigen Beeinflussung oder gar Zusammenarbeit sprechen? Gibt es einen Einfluß der antifaschistischen deutschen Exilliteratur auf das Deutschlandbild und die Nachkriegsdeutschland-Konzeption in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur und Gesellschaft? Welche Erwartungen und Vorstellungen vom Beitrag exilierter Autoren zur amerikanischen literarischen und kulturellen Situation hatten amerikanische Schriftsteller? Wir wollen es jedoch bei dieser Aneinanderreihung programmatischer Fragestellungen für einige Aspekte der Exilliteraturforschung nicht belassen, sondern das Gesagte an Hand wenigstens eines Beispiels zu konkretisieren versuchen. Der Literaturkritiker Samuel Sillen hatte in der vorgenannten Würdigung des Schaffens von Anna Seghers nicht ohne Grund erklärt: „The Seventh Cross wirft Probleme auf, die in enger Verbindung stehen mit der weiteren Entwicklung der antifaschistischen Literatur, und wir müssen uns ihnen stellen." 5 Mag auch die antifaschistische Thematik nicht die dominierende Stellung in der amerikanischen Literatur des Zeitraumes 1933/45 eingenommen haben, Tatsache ist jedoch, daß sie immer stärker ins nationale Blickfeld trat und sich eine ansehnliche Zahl — auch recht prominenter — Autoren damit befaßt hat. Namen von weltweitem Renommee wären zu nennen, wie Sinclair Lewis, Ernest Hemingway, John Steinbeck, Thomas Wolfe, John Dos Passos, Upton Sinclair, Langston Hughes, Erskine Caldwell, Dorothy Parker, Nathanael West, Archibald MacLeish, Clifford Odets, Lillian Hellman und selbst Eugene O'Neill, von dem erst neuerdings entsprechende Dramenfragmente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. 6 Ich hatte an anderer Stelle schon einmal Gelegenheit, auf ein markantes Beispiel für die unmittelbaren Auswirkungen der Erfahrungen, Weltsicht und Deutschland-Position antifaschistischer Autoren deutschsprachiger Provenienz auf den amerikanischen Literaturprozeß aufmerksam zu machen. Die in Karl Billingers (i. e. Paul W. Massing) romanhaft gestaltetem Erlebnisbericht Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen KZ (Paris 1935; Moskau 1935; New York 1935) eingebrachten Fakten hatten ja Mitte der 30er Jahre in der englischsprachigen Ausgabe des Buches (Fatherland; überdies eingeleitet durch den weltweit bekannten Publizisten Lincoln Steffens) die demokratisch gesinnte Öffentlichkeit in den USA sichtlich bewegt und waren schließlich in ihrer weitgehenden Verarbeitung in Sinclair Lewis' ungemein populärem antifaschistischem Roman It Cant Happen Here (1935), dt. 5 6

Ebenda, S. 23. Vgl. Virginia Floyd (ed.), Eugene O'Neill at Work: Newly Released Ideas for Plays, New York 1981.

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im Exil-Verlag Querido, Amsterdam, unter dem Titel Das ist bei uns nicht möglich (1936), zusätzlich — gleichsam indirekt — massenwirksam geworden.7 Hier soll aber vornehmlich ein späterer Zeitabschnitt ins Auge gefaßt werden, und zwar die erste Hälfte der 40er Jahre, insbesondere, die für die Niederringung des Hitler-Faschismus so entscheidenden Jahre, der Antihitlerkoalition. Diese Periode verdient m. E. nicht zuletzt auch deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil sich hier in vielen literarischen Zeugnissen amerikanischer Autoren teils unterschwellig, aber teils auch sehr direkt und offen Vorstellungen über Deutschland und die Deutschen nach dem endgültigen Sieg über die faschistischen Armeen und die Beseitigung der nazistischen Gewaltherrschaft manifestierten. Die ganze komplizierte und zum Teil mit Leidenschaft und Heftigkeit geführte Debatte unter den Exilautoren über die Zukunft Deutschlands und das „Wesen" oder den „Nationalcharakter" des deutschen Volkes konnte natürlich an den antifaschistisch engagierten amerikanischen Autoren nicht wirkungslos vorübergehen, zumal durch eine Reihe extremer — öffentlich vehement debattierter — „Konzeptionen" einflußreicher Politiker und anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den wildesten Spekulationen und vernunftfernen Phantasien Tor und Tür geöffnet waren. Von besonderer Bedeutung erscheint mir in diesem Zusammenhang die Haltung der New Masses, die immerhin als linke kulturpolitische Zeitschrift in den zur Betrachtung anstehenden Jahren eine anerkannt breite Resonanz im geistigkulturellen Leben der USA aufzuweisen hatte. Von Anfang an hat sie sich in die „hate controversy" eingeschaltet, jedoch keinen Zweifel daran gelassen, daß man differenzieren muß und das deutsche Volk nicht pauschal mit dem Faschismus gleichzusetzen ist. Selbst nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion wurde diese Position nicht verlassen. So heißt es in einem Leitartikel (The Soviet — Nazi War) vom 1. Juli 1941: „Unsere Herzen schlagen für die großartige Arbeiterklasse Deutschlands, jenes Deutschlands, das es noch immer gibt, jener standhaften hochgebildeten Werktätigen und Facharbeiter, jener Menschen, die diese furchtbare Belastung ertragen müssen, den schon acht Jahre andauernden Alpdruck des Mordes und der Lügen . . . dieses wahre deutsche Volk wird auch zu den Gewinnern gehören, denn der Sieg wird nicht nur ein sowjetischer sein, sondern ein Sieg für die ganze Menschheit." 8 Als Ernest Hemingway in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Anthologie von Kriegserzählungen (Men at War) 1942 vorschlug, Deutschland „so gründlich zu zerstören, daß wir in den nächsten hundert Jahren nie wieder Krieg gegen dieses führen müssen", und er als sicherste Garantie dafür die Sterilisierung aller Mitglieder der Nazipartei und ihrer Organisationen ansah 9 , da wandte sich der progressive Schriftsteller und antifaschistische Spanienkämpfer Alvah Bessie in den Spalten der New Masses scharf gegen den berühmten Autor, der immerhin noch 1939 in der literarischen Exilzeitschrift Das Wort seine Sympathie für die „intelligenten Arbeiter" und andere „wahre, achtenswerte Deutsche" zum Ausdruck gebracht hatte. 10 Bessie warf ihm vor, auf die Lügen eines Goebbels herein7

Siehe Eberhard Brüning, Sinclair Lewis als Antifaschist, in: Realismus und literarische Kommunikation. Dem Wirken Rita Schobers gewidmet, Sitzungsberichte der AdW der D D R , Gesellschaftswissenschaften 8 G, Berlin 1984, S. 7 8 - 8 6 .

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The Soviet-Nazi War, in: New Masses, July 1, 1941, S. 3. — Übers. E. B. Men at War. The Best War Stories of All Time, edited with an Introduction by Ernest Hemingway, New York 1942. Die umstrittenen Passagen sind dann in der „reprint edition" von 1955 und den nachfolgenden „paperback editions" vom Autor gestrichen worden. Ernest Hemingway, An das wirkliche Deutschland, in: Das Wort, H. 2 (Februar) 1939, S. 4.

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gefallen zu sein, der tagtäglich versuche, das deutsche Volk mit dem Faschismus gleichzusetzen.11 Nicht von ungefähr erschien in der selben Zeitschrift eine Woche später dann ein ausführlicher Artikel mit der Überschrift Is There Another Germany? Der Verfasser setzt sich darin zunächst einmal scharf mit der These auseinander, daß „Militarismus und Barbarentum das Blut eines jeden Deutschen vergiften und daß dieses Gift schon seit zweitausend Jahren im deutschen Blutstrom kreist". Er richtet dabei seine Polemik ebenso gegen den einflußreichen amerikanischen Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift The New Yorker Clifton Fadiman wie gegen den deutschen Emigranten Emil Ludwig, ehe er resümiert: „Wir kämpfen im Bündnis mit dem Deutschland der Freiheit gegen das Deutschland des Despotismus, genauso wie wir vereint mit dem freien Frankreich gegen das Frankreich Lavais kämpfen . . . Indem wir unser Verständnis für das andere Deutschland vertiefen, das der Nazismus mit Blut befleckt und geschändet hat, werden wir nur um so größere Anstrengungen unternehmen, wissend, daß das nicht ein Krieg ist, der zur Ausrottung von Völkern geführt wird, sondern zur Ausrottung der Unterdrücker der Völker." 12 Die Kontinuität einer solchen Haltung drückt sich bis hin zu den Rezensionen des Blattes aus. Kurze Zeit nach der endgültigen Kapitulation der faschistischen Armeen in Europa postuliert Hans Berger (i. e. Gerhart Eisler) in einer Besprechung von Jürgen Kuczynskis Veröffentlichung Economic and Labor Conditions under Fascism (mit einem Vorwort von Albert Norden): „Kuczynskis Buch sollte vor allem von jenen gelesen werden, die eine Gefahr der Versklavung der deutschen Arbeiter wittern. Der Sieg der Alliierten mag vielleicht die Unterdrückung der herrschenden Kräfte des Monopolkapitals bedeuten — zumindest dürfen wir das erhoffen —, aber für die deutschen Arbeiter kann er doch nichts anderes als die wahre Befreiung bringen." 13 Nur einmal — kurz vor Ende des Krieges — haben sich die New Masses ein Zugeständnis an die Haß- und Vernichtungshysterie nach Art der Losung „Jeder Deutscher ist ein schlechter Deutscher, nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher!" erlaubt, indem sie Ilja Ehrenburgs Artikel Why We Despise Them abdruckten 14 , der mit seiner Haßtirade auf alle Deutschen schlechthin in peinlicher Übereinstimmung stand mit jenen berüchtigten und umstrittenen „Konzeptionen", die von dem britischen Diplomaten Vansittart und dem amerikanischen Finanzminister Morgenthau vertreten wurden. Natürlich war diese Problematik eben längst eine internationale geworden, und die unterschiedlichen Auffassungen und Kontroversen zum Schicksal des deutschen Volkes und zum Ausmaß seiner Faschisierung zwangen immer mehr literarische und kulturelle Kreise in den USA zur Stellungnahme. Es war insbesondere ein Roman eines progressiven amerikanischen Dramatikers, Erzählers und Filmautors, der zu diesem Zeitpunkt schon ein gutes Jahr lang mit den in ihm zum Ausdruck gebrachten ideologischen, ethischen und äsihetisclten Grundpositionen sowohl deutschen exilierten Antifaschisten als auch amerikanischen Kritikern und Berufskollegen viel Stoff zu kontroversen Meinungsäußerungen geliefert hatte. Ich meine den antifaschistischen Roman The Cross and the Arrow (Das Kreuz und der Pfeil) von Albert Maitz. Nachdem er in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 in drei verschiedenen Verlagsausgaben (Little, Brown & Comp., Boston; Book Find Club Edition; Sun Dial 11 12 13 14

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Alvah Bessie, Hemingway Chooses, in: New Masses, November 17, 1942, S. 24f. Samuel Sillen, Is There Another Germany?, in: Ebenda, November 24, 1942, S. 23. — Übers. E. B. Hans Berger, Life in Germany, in: Ebenda, May 8, 1945, S. 27. — Übers. E. B. Ilya Ehrenburg, Why We Despise Them, in: Ebenda, April 10, 1945. Demokratie, Sozialismus

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Edition) mit einer Gesamtzahl von 68000 Exemplaren publiziert worden war, wurde er zudem auf Beschluß der Roosevelt-Administration in einer Sonderauflage der Armed Services Edition von 140000 Exemplaren für die amerikanischen Soldaten in Europa gedruckt. Damit war er zu einem Bestseller geworden, denn das sind für einen anspruchsvollen, nicht der Unterhaltungsliteratur zuzurechnenden Roman entsprechend amerikanischer Buchmarktverhältnisse recht bemerkenswerte Zahlen. Eine englische Ausgabe bei einem renommierten Londoner Verlag sowie rasche Übersetzungen ins Schwedische, Spanische, Dänische, Norwegische, Deutsche, Bulgarische, Niederländische und Chinesische schlössen sich an. 15 Nachdem bereits im Frühjahr 1947 ein Auszug deutsch in der Zeitschrift Ost und West erschienen war, legte der Dietz Verlag in Berlin 1949 eine erste Auflage vor, der später noch weitere folgten. Der antifaschistische Publizist Maximilian Scheer, der Albert Maitz im Exil selbst kennengelernt hatte, schrieb eine Einleitung dazu, in der er darauf verwies, daß dieses Buch von Hunderttausenden Amerikanern gelesen wurde, und zwar zu einer Zeit, „da eine fast einheitliche, monotone, fast gleichgeschaltete Auffassung über Deutschland in der amerikanischen Öffentlichkeit herrschte. ,Alle Deutschen sind Nazis', ,Alle Deutschen sind krauts' (ein Wort, das von Sauerkraut abgewandelt wurde), ,Ein guter Deutscher ist ein toter Deutscher' — das war die in unendlichen Schattierungen getönte, vorherrschende öffentliche These von New York bis San Francisco. Es war eine unkomplizierte, primitive, nationalistische, eine schädliche und gefahrliche These." 16 Nun, wir wissen, daß diese richtige Feststellung Scheers durchaus nicht die einheitliche Ansicht deutscher Antifaschisten im Exil war. Albert Maitz' Roman The Cross and the Arrow ist im Deutschland des Jahres 1942 angesiedelt und entfaltet sich an der Frage nach den Motiven zu einer Sabotagetat eines bis dahin „unbescholtenen deutschen Staatsbürgers". Ein Heupfeil flammte am nächtlichen Himmel auf. Er war mit der Absicht entzündet worden, britische Bombenflugzeuge auf eine aus Düsseldorf verlagerte und gut getarnte Panzerfabrik aufmerksam zu machen. Der Täter, der am Fallhammer arbeitende Willi Wegler, liegt, von einem SS-Posten angeschossen, operiert im Krankenrevier. Die Umwelt sucht nach den Motiven zur Tat dieses tags zuvor mit dem „Kriegsverdienstkreuz" ausgezeichneten Arbeiters. Letzten Aufschluß aber kann nur er selbst geben. Doch er entzieht sich dem Verhör, indem er sich bewußtlos stellt. Gleichzeitig legt er Rechenschaft vor sich selbst ab und beginnt, über Verlauf und Sinn seines bisherigen Lebens nachzudenken. Abschnitt für Abschnitt wird auf diese Weise das gesamte Leben eines politisch indifferenten Arbeiters aus der Weimarer Zeit und der darauffolgenden Hitler-Diktatur bloßgelegt. Es ist das Leben eines durchschnittlichen Deutschen jener Zeiten, mit dem zwar die gesellschaftliche Realität nicht gerade schonend umgegangen ist, dessen Bewußtsein sich aber nur langsam veränderte. Nur allmählich lassen Enttäuschungen, Erniedrigungen, Not und Leid im engsten Familienkreis und am Arbeitsplatz in ihm eine politische Erkenntnis heranreifen, die schließlich in jene für seine Umwelt so unbegreifliche antifaschistische Aktion umschlägt. Am nächsten Vormittag fallen die vernichtenden Bomben auf die Panzerfabrik. Wegler sieht damit nicht nur seine Ausdauer belohnt, sondern erleidet nunmehr auch einen befreienden Tod, weil er glaubt, wenigstens einen kleinen Teil der Schuld, die auf ihm lastet, abgetragen zu haben. 15 16

Siehe Eberhard Brüning, Albert Malz. Ein amerikanischer Arbeiterschriftsteller, Halle 1956. Maximilian Scheer, Der Autor und sein Werk, in: Albert Maitz, Das Kreuz und der Pfeil, übers, von Kurt Wagenseil, Berlin 1949, S. 5.

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Sogleich nach dem Erscheinen des Buches schrieb der antifaschistische Emigrant Curt Riess in der Chicagoer Tribüne (17. September 1944): „Aber ein Buch über Deutschland — selbst ein Roman — muß auf den Prüfstand seiner Ideen. Es stellt ein gesellschaftliches Faktum dar mit Konsequenzen für die Gemüter all jener, die sich ihm ausgesetzt sehen. Maitz ist ein Gegengewicht zu jenen, die sich der Vernichtung und Ausrottung aller Deutschen verschrieben haben. Aber für einige — und ich gehöre auch dazu — muß sein romanhaft verhülltes Plädoyer für ein Verstehen der deutschen Menschen und für Nachsicht bei der Auseinandersetzung mit ihnen (unter Bezugnahme auf die Möglichkeit, daß eine Anzahl von ihnen anti-nazistischer Gesinnung sind) doch in unseren Tagen recht gefahrlich erscheinen." Riess spricht damit genau das entscheidende weltanschauliche Kriterium für den ästhetischen Standpunkt des amerikanischen Autors an. Denn Maitz richtet die ganze Schärfe und Leidenschaft seines antifaschistischen Engagements nicht „gegen die an der Pest Erkrankten, sondern gegen die Pest selber". So ist der Deutsche für ihn eben nicht schlechthin verdammenswürdig. Er distanziert sich eindeutig von solchen Anschauungen, wie er sie dem verzweifelten Arzt Dr. Zoder in den Mund legt: „Und wer sind diese deutschen Ungeheuer — diese Kannibalen, die wie Menschen gehen und wie Menschen aussehen, aber nur verstehen, Kugeln aus einem Gewehr zu jagen? Ein paar SS-Leute? Seien Sie doch nicht kindisch! Die ganze deutsche Armee — Fleisch vom Körper des Volkes." 17 In der Auseinandersetzung mit dem Zyniker und Menschenverächter setzt sich schließlich die Gestalt des Pfarrers Frisch — ein ehemaliger KZ-Häftling und jetzt zwangsverpflichteter Arbeiter in dem Rüstungsbetrieb — mit seinem Glauben an das Gute im Menschen durch. Statt von einer mystischen Infektion des deutschen Blutstromes zu faseln, solle man nach den Ursachen des Bösen fragen, denn es gelte zu verstehen, „daß das Böse nicht neu ist.. . daß kein Volk das Gute gepachtet hat und daß das Böse verstanden werden muß. Es kommt nicht aus der Luft und wird nicht vom Winde herbeigeweht — es hat seinen Ursprung und sein Wachstum, seinen Anlaß und seine Wesenheit — und es muß verstanden werden." 18 „ Dies ist gewiß eine beachtenswerte Feststellung — und wohl die Schlüsselstelle für die Grundidee des gesamten Romans. Nun, man könnte es dabei bewenden lassen und es ganz einfach der marxistischen Bildung und der engen Verbindung des Autors zu den politisch bewußtesten Kräften der amerikanischen Arbeiterklasse zuschreiben, wenn da nicht noch eine wichtige und gerade für unsere Ausgangsthematik so relevante Komponente hinzukäme. Denn es gibt nicht zuletzt in bezug auf diese brisante, in jenen Jahren so heiß diskutierte Problematik eine direkte Bezugslinie zur antifaschistischen deutschen Exilliteratur und deren in den USA lebenden Autoren. Albert Maitz hatte nachweislich einen engen persönlichen Kontakt mit F. C. Weiskopf. Der deutsch schreibende tschechische Exilautor beriet den amerikanischen Schriftsteller nicht nur in Detailfragen, sondern er sah ihm auch das Manuskript zu The Cross and the Arrow durch. Ich darf zur Verifizierung dieser bemerkenswerten Kooperation zwischen einem deutschen antifaschistischen Autor und einem amerikanischen Berufskollegen aus meinem Briefwechsel mit beiden Schriftstellern zitieren. F. C. Weiskopf schrieb an Verf. (Berlin, 20. Juli 1958): „Maitz hat sich als ausgesproche-

17 18

17»

Maitz, Das Kreuz und der Pfeil, S. 407. Ebenda, S. 409.

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ner Antifaschist seit 1933 für deutsche Fragen lebhaft interessiert, die einschlägige Literatur studiert etc. Er benutzte eine Menge von Zeitungen, übersetzte Bücher deutscher Antifaschisten, Material, das von den verschiedenen Komitees herausgegeben wurde und Material, das er aus Unterhaltungen mit deutschen Antinazis erhielt. Er war in Verbindung mit den bekannten exilierten Schriftstellern, die sich in den USA aufhielten. Ich erinnere mich an mehrere eingehende Unterhaltungen mit ihm." Albert Maitz schrieb mir am 19. Oktober 1953 aus Mexiko, wo er nach seiner Verurteilung und Einkerkerung als prominentes Mitglied der sog. Hollywood Ten im freiwilligen Exil lebte und just in demselben Hause wohnte, das während der Hitlerherrschaft das Komitee Freies Deutschland der deutschen Antifaschisten in Mexiko beherbergte: „Soweit ich weiß, hat kein amerikanischer Schriftsteller das .deutsche Thema' in der Zeit von 1933 bis 1945 unter dem gleichen Blickwinkel behandelt, wie ich es in ,The Cross and the Arrow' getan habe, d. h., mit dem Bemühen um ein gesellschaftliches und menschliches Verständnis. Die Romane und die Theaterstücke, die dazu erschienen, lassen sich weitestgehend in zwei Kategorien zusammenfassen: 1) antifaschistische Werke mit einer sehr vereinfachenden Position, d. h., der Nazismus war der Feind und das war alles, was dazu zu sagen wäre; 2) Bücher mit einer ausgesprochen rassistischen Haltung, d. h., die Nazis sind Deutsche, die Deutschen werden aus biologischen Gründen ständig dazu getrieben, Kriege zu führen. Einfach entsetzlich! Zu deutschen Schriftstellern in der Emigration hatte ich keinen engen persönlichen Kontakt, höchstens einen mehr zufalligen und oberflächlichen — so traf ich z. B. Feuchtwanger, Mann und andere. Aber es gab zwei Ausnahmen. Die eine betrifft einen jungen deutschen Ökonom, der ein Buch über seine Erlebnisse im Konzentrationslager geschrieben hatte ... Die andere war Franz Weiskopf, der tschechische Schriftsteller, der in deutsch schreibt. Er war einer von jenen, die mein Manuskript durchgelesen haben." Anläßlich des Todes von F. C. Weiskopf erinnerte sich Maitz nochmals an die freundschaftliche Kooperation: „Ich fühlte mich ihm sehr verbunden und habe ihn ganz außerordentlich geschätzt. Es mag von Interesse sein, in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu geben, daß er einer von denjenigen war, die das Manuskript von ,The Cross and the Arrow' durchgelesen haben und daß er schon während der Abfassung sehr hilfreiche Kritik eingebracht hat" (Mexiko, 26. Oktober 1955). Allein schon aus der Kenntnis dieser Zusammenarbeit heraus dürfte es nicht verwundern, daß sich die Haltungen gegenüber dem deutschen Volk und dem antifaschistischen Widerstand in Deutschland bei Maitz und Weiskopf so stark ähneln. Die im amerikanischen Exil geschriebenen und zuerst englisch erschienenen Romane Weiskopfs Vor einem neuen Tag (Dawn Breaks, 1942) und Himmelfahrtskommando (The Firing Squad, 1944j sind im übrigen die besten Beweisstücke für die Parallelität und Übereinstimmung der Grundpositionen und -konzeptionen beider Autoren. Wenn Weiskopf 1943 im Nachwort zur deutschen Ausgabe seines Romans Vor einem neuen Tag schrieb: „Als Antifaschist ist mir klar bewußt, daß man nicht ganze Völker als solche verurteilen, sie in Bausch und Bogen minderwertig oder böse nennen kann. Diese Art der Beurteilung bleibt den Anhängern chauvinistischer Rassentheorien überlassen", dann lassen sich gewiß direkte Bezugslinien zu Maitz' The Cross and the Arrow herstellen. Im übrigen gleichen sich der thematische Ansatzpunkt des epischen Geschehens, die Wandlung, der Erkenntnisprozeß und der Versuch der Wiedergutmachung der jeweiligen Protagonisten in The Firing Squad und in The Cross and the Arrow auffallend. Beide Romane erschienen 1944 fast gleichzeitig auf dem Buchmarkt in den USA. Samuel Sillen verwies deshalb auch ausdrücklich in seiner Besprechung mit dem Titel Profile of a German Worker auf das verstärkte Interesse in den USA an solcher Literatur und stellte fest: „Albert Maitz' ,The Cross and the Arrow' ist eine tieflotende Studie Hitler-Deutschlands,

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die sich in guter Gesellschaft weiß mit solchen herausragenden zeitgenössischen Büchern wie Franz Weiskopfs ,The Firing Squad' und Bodo Uhses .Leutnant Bertram'." 19 Wie die Debatte um das deutsche Volk und seine Zukunft gegen Kriegsende und in den Wochen danach noch einmal mächtig aufflackerte, haben schon einige Zitate exemplifiziert, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Buch stehen. Aber auch Maitz' Roman bewegte um diese Zeit noch immer die literarische Kritik wie die öffentliche Meinung. Hans Berger formulierte das in der Zeitung The Worker vom 15. April 1945 so: „Die Frage ,Gibt es eine deutsche Untergrundbewegung?' wird wieder und wieder gestellt. Unglauben an die Existenz einer deutschen Widerstandsbewegung nimmt zuweilen sogar solche Formen an, daß man z. B. ein so hervorragendes Buch wie Albert Maitz' ,The Cross and the Arrow' deshalb kritisiert, weil es einen Deutschen darstellt, der zur Vernunft kommt und versucht, Widerstand gegen die Nazis zu leisten." Am 8. Mai 1945 schließlich veröffentlichten die New Masses als Kontrast zu einer Lesermeinung (Dr. Arnold M. Geiger), die die „zunehmende Popularität von Albert Maitz' ,The Cross and the Arrow'" für bedenklich hielt und das Buch als „politisch unverantwortlich" bezeichnete, den Brief eines verwundeten amerikanischen Soldaten, in dem es u. a. heißt: „Ich weiß jetzt, daß ich als Frontsoldat Maitz einfach dringend nötig hatte. Denn in der Hitze vieler Kampfhandlungen hatte ich begonnen — sicherlich ohne es zu wollen und unbewußt —, das deutsche Volk auf einen Gesamtnenner der nationalen Hinterhältigkeit zu reduzieren und ihm nur noch den nationalen Selbstmord zuzubilligen. Ich wünschte, daß jeder im Kampf stehende Mann Maitz' Lehrbuch für die Zukunft lesen könnte." 20 Äußerungen wie diese belegen nur erneut, wie stark damals die amerikanische Literatur in den Sog der Tagesproblematik und der unmittelbaren politischen Auseinandersetzungen geriet. Wenn wir uns jedoch in den vorangegangenen Betrachtungen vornehmlich auf den Roman The Cross and the Arrow von Albert Maitz konzentrierten, dann waren dafür hauptsächlich vier Gesichtspunkte ausschlaggebend: Erstens handelt es sich um ein ungewöhnlich massenwirksames Buch der USA-Literatur zur antifaschistischen Thematik, das in sechzehn Fremdsprachen übersetzt wurde und 1962 in einer amerikanischen Paperback-Edition sogar eine Neuauflage fand. Für die „Langzeitwirkung" steht auch ein Brief aus Piräus (Griechenland), der Albert Maitz Ende des Jahres 1965 erreichte und in dem es heißt: „Wir sind zwei ehemalige politische Gefangene, die über achtzehn Jahre lang wegen unserer antifaschistischen Prinzipien eingekerkert waren. Jetzt sind wir entlassen worden und endlich frei. Durch Zufall kam im letzten Jahr unseres Gefangnisaufenthaltes Ihr Buch ,The Cross and the Arrow' in unsere Hände. Ein englischer Freund hatte es uns geschickt. Wir haben es gelesen, und es hat uns natürlich sehr gefallen, weil der größte Teil seines Inhaltes uns so unmittelbar berührte. Und wir möchten Ihnen gern nicht nur dafür unsere Hochachtung ausdrücken, sondern Ihnen zugleich auch danken für die angenehmen Stunden, die es uns bereitet hat. Gerade deshalb haben wir uns dazu entschlossen, es in unsere eigene Sprache zu übersetzen, d. h., ins Griechische — und das haben wir inzwischen abgeschlossen. Wir sind beide der Meinung, daß Ihr Buch breiteren Kreisen unseres Volkes zugänglich gemacht werden sollte und deshalb schreiben wir Ihnen, um für die Publikationserlaubnis nachzusuchen." 21 19

20 21

Samuel Sillen, Profile of a German Worker, in: New Masses, October 3, 1944, S. 23. — Übers. E. B.; vgl. auch derselbe, Inside a Nazi (Bespr. von F. C. Weiskopfs „The Firing Squad"), in Ebenda, July 18, 1944. Readers' Forum, in: Ebenda, May 8, 1945, S. 22. — Übers. E. B. Nikos Damigos und Dimitrios Kanelopoulos an Albert Maitz, Piraeus, 24.12.1965.

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Zweitens drückten sich in diesem Roman eine differenzierende Haltung gegenüber dem deutschen Volk und eine Würdigung des antifaschistischen Widerstands in Deutschland aus, die damals zwar im Gegensatz zur vorherrschenden öffentlichen Meinung standen, aber sich in Übereinstimmung mit den Positionen der nationalen wie internationalen revolutionären Arbeiterbewegung befanden. Im Streit der Meinungen über die Frage „Is there another Germany?" — und zwar sowohl unter deutschen Antifaschisten im Exil selbst als auch in den intellektuellen Kreisen der antinazistischen Kräfte in den USA — hat der Roman eine zentrale Rolle gespielt, so daß er zu einem Kristallisationspunkt in der Positionsbestimmung für Literaturproduzenten wie -rezipienten gleichermaßen werden konnte. Drittens liegt hier ein aufschlußreiches und aussagestarkes Beispiel für eine fruchtbare und grundsätzliche Fragen berührende Zusammenarbeit von antifaschistischen deutschen Exilautoren und progressiven amerikanischen Schriftstellern vor, d. h., insbesondere eine direkte Einflußnahme von Exilliteratur auf eine bestimmte Phase des Literaturprozesses eines anderen Landes. Viertens schließlich hat der Roman von Albert Maitz einen beachtenswerten Anteil an der geistig-kulturellen Erneuerung im Nachkriegsdeutschland auf demokratisch-antifaschistischer Basis gehabt sowie Denkanstöße und Orientierungshilfen bei der humanistischen Selbstfindung und sozialistischen Bewußtseinsbildung des sich formierenden Leserpublikums der DDR gegeben.

K A R L OBERMANN

Die Jugend- und Studentenbewegung im antifaschistischen Kampf

1933-1945

Als am 30. Januar 1933 Hitler im Auftrag der Monopole die Macht ergriff, sah sich das deutsche Volk von einer täglich wachsenden Terror- und Verhaftungswelle bedroht. Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28 Februar 1933, von den Nazis organisiert, war das Signal für den Generalangriff auf die deutschen Arbeiter, um alle Andersdenkenden zu vernichten. Viele emigrierten nicht nur, um ihr Leben, sondern auch die deutsche Kultur zu retten. Nach einem Bericht der Pariser Polizeipräfektur kamen aus Deutschland zwischen dem 20. Oktober und 7. November 1933 7195 Flüchtlinge, darunter 425 Künstler, 424 Angehörige freischaffender Berufe, 904 Intellektuelle, darunter 734 Studenten. Der Leiter der Völkerbundkommission für die aus Deutschland kommenden Flüchtlinge schätzte, daß bis Ende 1935 etwa 100000 Deutsche emigrierten.1 Der erste „Antifaschistische Arbeiterkongreß Europas" mit 3500 Delegierten aus vielen Ländern, darunter 120 deutschen Antifaschisten, fand vom 4. bis 6. Juni 1933 im großen Pleyel-Saal in Paris statt. Am 20. August 1933 erfolgte in Paris die Gründung des „Weltkpmitees gegen Krieg und Faschismus" mit dem französischen Schriftsteller und Friedenskämpfer Henri Barbusse an der Spitze. Mit Hilfe des Weltkomitees konnte bereits vom 22. bis 25. September 1933 der „Weltkongreß der Jugend gegen Krieg und Faschismus" in Paris mit 1098 Delegierten aus über 40 Ländern, jungen Kommunisten, aber auch christlichen und bürgerlichen Vertretern, stattfinden. „Schaffung einer breiten Front der Weltjugend im Kampf gegen Krieg und Faschismus" lautete das Hauptthema, zu dem auch Artur Becker sprach. Der Weltjugendkongreß bahnte mithin einer internationalen antifaschistischen Jugend- und Studentenbewegung den Weg. Es wurde ein Weltjugendkomitee gebildet, dem die kommunistischen Funktionäre Artur Becker und Hans Marum angehörten. Die emigrierten Jugendlichen sammelten sich in den drei Jugendorganisationen: KJV, SJV und SAJ (Kommunistischer Jugend verband, Sozialistischer Jugendverband und Sozialistische Arbeiterjugend). Es ging in den Beratungen von Anfang an darum, ein gemeinsames Vorgehen zu ermöglichen. Um diese Zeit traf ich, gerade 28 Jahre alt, in Paris ein. Trotz Verfolgung war es mir gelungen, übers Saargebiet nach Frankreich einzureisen. Ich begann sofort, meine Erfahrungen aus der mehr als zehnjährigen Aktivität in der fortschrittlichen linken deutschen Jugendbewegung nutzend, mich der antifaschistischen Jugendarbeit zuzuwenden. Mein Name er-

1

Les barbéles de l'Exil, Etudes sur l'émigration allemande et autrichènne (1938—1940), Grenoble 1940, S. 15, 18—21; Karl Obermann, Zur antifaschistischen Geschichtsschreibung im Exil, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswiss. R. XXXIII, 1984, Nr. 3, S. 321.

264

Karl Obermann

schien deshalb auch in einem Verzeichnis „der aktivsten Kombattanten der Freien Deutschen Jugend in Paris". 2 Das Wachstum der Jugendorganisationen 1934 machte es erforderlich, Gedanken auszutauschen und über Probleme und Aufgaben zu diskutieren. Dazu waren Informationsblätter notwendig. Wenngleich es an finanziellen Mitteln mangelte, erschien doch ab 1. Mai 1934 ein hektographiertes „Internationales Jugend-Bulletin" in deutscher Sprache, herausgegeben vom Internationalen Büro revolutionärer Jugendorganisationen, Sekretariat: Kurt Forsland, Stockholm. Die Artikel waren meist von Funktionären des SJV und des KJV verfaßt und mit einem angenommenen Namen unterzeichnet worden. Im ersten Heft, Mai 1934, erschien ein Bericht über eine „Liller Konferenz der revolutionären Jugendorganisationen" im Februar 1934. Ferner heißt es, daß am 24., 27. und 28. Februar in Laren bei Amsterdam eine „Internationale Konferenz" mit Vertretern des Sozialistischen Jugendverbandes (SJV) Hollands und Deutschlands stattfand. In Heft 2, Juni 1934, wird von einem „Kongreß des Norwegischen Arbeiterjugendverbandes" vom 11. bis 13. Mai in Oslo berichtet, der 20000 Mitglieder zählte. Das 3. Heft, Juli/August 1934, geht auf das „Dritte sozialistische Jugendtreffen" vom 3. bis 5. August 1934 in Lüttich ein, ferner auf eine „Bürositzung des Internationalen Büros revolutionärer Jugendorganisationen", Mitte August. Auf der Tagesordnung stand das Thema Studentenbewegung. Auch in den Reihen der Studenten im Exil zeigte sich Entschlossenheit, keineswegs abseits zu stehen, sondern sich mit ganzer Kraft am Kampf gegen Krieg und Faschismus zu beteiligen und für die Wahrung der deutschen Wissenschaft und Kultur einzutreten.3 Die Vereinigung und Zusammenarbeit antifaschistischer Studenten bahnte der „Studentenweltkongreß gegen Krieg, Faschismus und Kulturreaktion" an, der vom 29. bis 31. Dezember 1934 in Brüssel stattfand. Im Bericht darüber vom 8. Januar 1935 in der Exil-Wochenzeitung „Der Gegen-Angriff' (Prag — Paris) unter der Überschrift „Studenten im Kampf. Der Weltkongreß der Studenten gegen Krieg und Faschismus" heißt es: „Über 400 Delegierte aus allen Ländern traten zusammen. Der Kongreß wurde vorbereitet und durchgeführt von sozialistischen und pazifistischen Organisationen, christlichen Vereinigungen, Gruppen der Völkerbundsliga, von kommunistischen Studentengruppen und vielen anderen. Ein breiter Strom von Organisationen mündete in diesem Kongreß. In der letzten Zeit haben die Studenten in der allgemeinen antifaschistischen Bewegung eine immer aktivere Rolle gespielt." Im Begrüßungsschreiben russischer Studenten wurde die Erwartung ausgesprochen, daß der Kongreß „ein großer Erfolg im Kampfe gegen Krieg und Faschismus, in der Mobilisierung neuer Massen gegen die Mächte der Vergangenheit und Kriegsurheber" sein wird. Die Hauptreferate behandelten: „Erstens: Die Lage und Rolle der Studenten im gesellschaftlichen Leben; zweitens: Studentenschaft, Faschismus und Krieg; drittens: Die Lehrerschaft und die Kulturkrise." Als besondere Höhepunkte wurden „die Reden eines deutschen Studenten, der, selbst Mitglied der Nationalsozialistischen Studentenschaft, durch die Erfahrungen unter der Hitlerdiktatur zum überzeugten Antifaschisten wurde, und des Vertreters der spanischen Delegation" bezeichnet sowie der Auftritt einer Pariser Jungarbeiterdelegation, die erklärte, „daß 2

Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,

Chronik, Teil II, Berlin 1966, S. 324, 327, 330; Karl

Exil Paris ( 1 9 3 3 - 1 9 3 9 ) , Berlin 1984, S. 1—8; Exil in Frankreich, 3

Obermann,

1 9 3 3 - 1 9 4 5 , Bd. 7 Leipzig 1981, S. 70—71.

Internationales Jugend-Bulletin, hrsg. vom Internationalen Büro revolutionärer Jugendorganisationen, Stockholm, 1. Jg., Mai 1934, Nr. 1,S. 1 - 7 ; Juni 1934, Nr. 2, S. 4 - 6 ; Juli 1934, August 1934, Nr. 3, S. 4 - 1 1 , in: Deutsche Bibliothek, Abteilung IX, Exil-Literatur, Signatur EB K 6, 347, Frankfurt/Main.

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265

der Kampf der Studenten nur in engster Verbindung mit der einzig und bis zu Ende fortschrittlichen Klasse, der Arbeiterschaft, erfolgreich sein kann". Im Schlußabsatz des Berichtes wird bemerkt: „Der Kongreß beschloß eine Proklamation der Rechte der studierenden Jugend und ein Aktionsprogramm gegen Krieg und Faschismus. Die Wahl des Studenten-Weltkomitees aus Vertretern aller Länder und Organisationen schafft die Voraussetzungen dafür, daß der Kongreß als Auftakt des Massenkampfes der studierenden Jugend gegen Faschismus und Krieg und für eine sozialistische Zukunft wirken wird." 4 Der Schaffung von Studentenkomitees bzw. eines Weltstudentenkomitees, dem Vertreter aus zahlreichen Ländern angehörten, war ein außerordentlich wichtiger Schritt auf dem Wege der Mobilisierung der antifaschistischen Studenten, zur Förderung der Zusammenarbeit der Jugendverbände und Studentenorganisationen. Eine der vorrangigsten Aufgaben war, Weltjugend- und Studentenkongresse zu organisieren bzw. durchzuführen. Ab Oktober 1935 erschien monatlich der „Weltjugendkurier" in deutscher, französischer und englischer Sprache mit dem Untertitel „Bulletin des Organisationsbüros eines Welttreffens der Jugend". Die Leitung des Büros und der Redaktion lag in den Händen von Artur Becker, Atze genannt. Im Dezember 1935 trat ich als Mitarbeiter in die Redaktion ein, und es kam schnell zu einem freundschaftlichen Verhältnis, denn wir waren beide geborene Rheinländer, Jahrgang 1905.5 Im dritten Heft des „Weltjugendkuriers", Dezember 1935, erschien ein Aufruf von André Victor, Sekretär des Komitees der Weltstudentenbewegung für Frieden, Freiheit und Kultur. Hier heißt es: „Die intellektuelle Jugend begrüßt mit Begeisterung die Initiative einer Einigung aller Jugendkräfte für die Erhaltung des Friedens. Wir glauben, daß es mehr als je notwendig ist, ernsthaft die Standpunkte der verschiedenen Jugendorganisationen zu konfrontieren, die für den Frieden kämpfen, und gemeinsam die besten Methoden zu studieren, um das Übel der Menschheit, den Krieg, wirkungsvoll außerhalb des Gesetzes zu stellen. Die Weltstudentenbewegung beschloß in einer Sitzung ihres internationalen Sekretariats (22. — 23. November), an der die Vertreter Frankreichs, Englands, Belgiens, Hollands, Dänemarks, der Tschechoslowakei und Rumäniens teilnahmen, in diesem Sinne bei allen internationalen Studenten- und Jugendorganisationen zu intervenieren." 6 In Nummer 4 des Weltjugendkuriers, Januar 1936, erschien ein ungezeichneter Artikel mit der Überschrift „Jede Universität — Eine Festung des Friedens". Das Weltstudentenkomitee für Frieden, Freiheit und Kultur teilte mit: „Die intellektuelle Jugend ist ein wichtiger Faktor für die öffentliche Meinungsbildung. So tragen die Studénten viel dazu bei, alle Friedenskräfte zu mobilisieren und zu stärken, indem sie an ihrer Koordinierung arbeiten und die Öffentlichkeit in diesem Sinne mobilisieren. In einer Anzahl der wichtigsten Länder hat sich tatsächlich die Mehrheit der organisierten Studenten für die Verteidigung des Friedens ausgesprochen. In England z. B. wurden in sämtlichen Universitäten Friedensräte' geschaffen, die die verschiedensten Organisationen zusammenfassen. . . In den Vereinigten Staaten befaßt sich die gewaltige Studentenbewegung, die elf große Organisationen in einem Friedenskomitee zusammenfaßt, nach den großen Friedensdemonstrationen vom 15. April (150000) und vom 11. November 1935 (500000) mit einer Kampagne 'gegen die Militarisierung der studentischen Jugend ... 4 5 6

Der Gegen-Angriff, Prag-Paris, Nr. 2, 8. Januar 1935. Obermann, Exil Paris, S. 28. Dritte Nummer Weltjugendkurier, Paris, Dezember 1935, S. 6.

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In der Tschechoslowakei haben 48 Studentenorganisationen auf dem Prager Kongreß (Juni 1935) beschlossen, eine gewaltige Studentenfront für Frieden, Fortschritt und Freiheit zu schaffen. . ," 7 Als das faschistische Italien am 3. Oktober 1935 den unabhängigen afrikanischen Staat Äthiopien überfiel, riefen das Komitee der Weltstudentenbewegung für Frieden, Freiheit und Kultur und drei internationale pazifistische Organisationen sofort zu einer internationalen Jugendkonferenz vom 29. Februar bis 1. März 1936 in Brüssel auf, d. h. zu einer Massenkundgebung der Weltjugend gegen Krieg und Faschismus. Diese Konferenz in Brüssel mit 300 Delegierten und 61 Beobachtern von 248 Organisationen aus 23 Ländern und von 29 internationalen Organisationen bedeutete einen großen Schritt vorwärts auf dem Weg der Zusammenarbeit der Jugendorganisationen in den europäischen und außereuropäischen Ländern. André Victor war Mitglied des Büros der Konferenz. Punkt 6 und 7 der Beschlüsse legten fest: „Das Büro der Konferenz beschließt, die auf der Konferenz geschlossenen Verbindungen zu erhalten und auszubauen. Bereits während der Vorbereitung des Weltjugendkongresses in Genf vom 31. August bis 6. September 1936 sollte sich die Jugend in allen Ländern zu großen Friedensaktionen vereinigen.8 Im Juni 1936 veröffentlichte der Weltjugendkurier meinen Artikel „Die Jugend und die internationale Lage", den ich mit den Worten abschloß: „Es gilt keine Zeit zu verlieren. Der Genfer Weltjugendkongreß ist der Kongreß der gesamten Jugend, auf dem sie öffentlich zu beweisen hat, ob sie bereit und in der Lage ist, für den Frieden zusammenzuarbeiten. Alle Kräfte müssen dazu beitragen, daß die Friedensfront der Jugend sich in Genf als ein unerschütterliches Bollwerk erweist."9 Am 15. Juli 1936 trat in Paris das Internationale Büro der Weltjugendbewegung zu einer Sitzung zusammen. Die Vertreter von Studentenorganisationen aus 13 Ländern wählten die internationale Delegation der Weltstudentenbewegung zum Genfer Kongreß. 10 In Genf tagte nun vom 31. August bis 6. September der Weltjugendkongreß mit etwa 700 Delegierten aus 35 Ländern. Die spanische Jugenddelegation, der auch der junge katholische Schriftsteller José Bergamin angehörte, wurde von allen stürmisch begrüßt. Zur deutschen antifaschistischen Jugenddelegation gehörten u. a. Artur Becker, Robert Lehmann und ich selbst. Alle Beteiligten waren überzeugt : „Die Zusammenarbeit und Vereinigung der Kräfte der Jugend ist von ungeheuerer Bedeutung. Wenn es eine enge Zusammenarbeit der Jugend im internationalen Rahmen gibt, wird ein Angriff des Faschismus wenig Chancen haben. Wir erwarten von einer solchen Zusammenarbeit sehr viel, und hoffen, daß sie unsere Aufgabe erleichtert." 11 Der Weltjugendkongreß spornte dazu an, in der antifaschistischen Jugend- und Studentenarbeit nicht nachzulassen. Ende 1936 übernahm ich die Funktion, als deutscher Vertreter 7 8

9 10 11

Vierte Nummer Weltjugendkurier, Januar 1936, S. 8. Sechste Nummer Weltjugendkurier, März 1936, Beilage; Karl Obermann, (Bericht) „Die Jugend für den Frieden", in: Pariser Tageblatt, 6. März 1936; desgl. in: Wochenzeitung für Tat und Freiheit, 2. Jg., 1936, Nr. 14, S. 4: „Weltjugend für den Frieden. Nach der Konferenz in Brüssel, Vorbereitung des Weltjugendtreffens in G e n f ; Obermann, Exil Paris, S. 29. Achte Nummer Weltjugendkurier, Juni 1936, S. 11. Neunte Nummer Weltjugendkurier, Juli 1936, S. 15. Karl Obermann, Spaniens Jugend in Genf, in: Elfte Nummer „Weltjugendkurier", Oktober 1936, S. 8: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Chronik, Teil II, S. 369.

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im Weltstudentenkomitee mitzuarbeiten. Die Hauptaufgabe war die Vorbereitung einer Internationalen Studentenkonferenz vom 15. bis 19. August 1939 in Paris. Die linksstehende amerikanische Studentenvertreterin Helen Simon war eine vortreffliche Mitarbeiterin. Im August 1938 fand in New York ein zweiter „Internationaler Jugendkongreß für den Frieden und den Kampf gegen den Faschismus" statt, auf dem Erich Jungmann von der KJV-Leitung die antifaschistische deutsche Jugend vertrat. Ich gehörte zu denjenigen, die den Auftrag erhielten, ein „etwa 50 Seiten umfassendes Material" auszuarbeiten, „in dem enthüllt wurde, wie in Nazideutschland die heranwachsende Jugend durch Schule, Presse, Rundfunk und faschistische Jugendorganisationen systematisch im Geiste des Chauvinismus, der Völkerhetze und des Rassenhasses erzogen wurde". Zu den Mitarbeitern gehörten u. a. Stephan Hermlin, Roman Rubinstein, Fritz Nickolay. 12 Anschließend arbeitete ich drei Memoranden für die Internationale Studentenkonferenz aus, die in französischer und englischer Übersetzung auf der Konferenz verteilt wurden. Das Jahr 1939 hatte große Bedeutung als 150. Jahrestag der Französischen Revolution. Daher lautete mein erstes Thema „Die französische Revolution und die Freiheitsbewegung der deutschen Studenten". Das 2. und 3. Thema befaßten sich mit der Gegenwart bzw. mit der Unterdrückungspolitik der Nazis : „Kultur und Universitäten unter der nationalsozialistischen Diktatur" und „Der Kampf gegen den Faschismus an den deutschen Universitäten". In einem kurzen Vortrag erläuterte und ergänzte ich diese beiden Themen, die in der Diskussion eine wichtige Rolle spielten.13 Die sich überstürzenden politischen Ereignisse überschatteten bereits den 19. August, den letzten Tag der Internationalen Studentenkonferenz. Die L'Humanité wurde am 23. August verboten, eine Auswertung des Internationalen Studenten-Kongresses in der Presse war nicht mehr möglich. Die zunehmende Kriegsgefahr veranlaßte die englischen und anderen auswärtigen Teilnehmer, schnellstens abzureisen. Das Internationale Studentenkomitee löste sich langsam auf. Die Amerikanerin Helen Simon kehrte sofort nach New York zurück, nahm aber eine ganze Anzahl meiner ins Englische übersetzten Memoranden mit und verteilte sie unter den amerikanischen Studenten. Auch die Engländerin, die z. Z. den Vorsitz hatte, verließ schnellstens Paris, desgleichen einige andere. Infolge Internierung am 1. September konnte ich meine Arbeit als deutscher Vertreter nicht weiterführen. Als ich im Dezember aus dem Internierungslager Marolles wegen Krankheit entlassen wurde und wieder nach Paris zurückkehrte, suchte ich sofort das Büro des Weltstudentenkomitees auf. Die französische Sekretärin war allein und damit beschäftigt, das Büro aufzulösen. Wir unterhielten uns über Politik. Vorsichtig zog die Sekretärin einige im Busen versteckte Exemplare der illegalen L'Humanité hervor und überreichte mir einige Nummern. 14 Das bewährte aktive internationale Studentenzentrum mußte zwar auf Grund der durch den Nazismus und Faschismus in Europa geschaffenen Lage aufgelöst werden, doch die antifaschistischen Studenten gaben den Kampf nicht auf. Zwar vergingen 2'/ 2 bewegte, un12

13

14

Franz Dahlem, Am Vorabend des zweiten Weltkrieges 1938 bis 1939. Erinnerungen, Bd. 1, Berlin 1977, S. 218. Obermann, Exil Paris, S. 40. Die Internationale Literatur. Deutsche Blätter, Moskau, veröffentlichte bereits im Juli 1939 den Artikel über die französische Revolution und ihre Bedeutung, Nachdruck in : Aufbau, Berlin, Juli 1946, S. 6 8 7 - 7 0 1 . Vgl. Karl Obermann, Begegnungen mit Johannes Wüsten im Internierungslager Marolies 1939, in: Johannes-Wüsten-Symposium, Görlitz 1976, 2. Oktober, Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz, Bd. 9, S. 8 1 - 8 7 .

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angenehme Jahre, die für mich KZ Vernet, Auswanderer-Lager Les Milles, Zwangsaufenthalt bzw. Internierung in Marokko bedeuteten, aber schließlich boten sich nach der Ankunft in New York Ende August 1941 wieder Möglichkeiten für den Aufbau einer internationalen antifaschistischen Studentenbewegung. Die sofort eingeleitete Zusammenarbeit der antifaschistischen Emigranten und der fortschrittlichen Deutschamerikaner in der German American Emergency Conference ermöglichte die Gründung eines erst monatlich, später halbmonatlich erscheinenden Blattes mit Berichten und Artikeln in deutsch, aber auch in englisch, das bald Anerkennung fand als Zentralorgan im antifaschistischen Kampf. Bereits in der zweiten, der Juni-Ausgabe 1942 kündigte „The German American" die Gründung des Anti-Nazi German American Students Committee an, dem das Büro der German American Emergency Conference zur Verfügung stand. An der Columbia-Universität veranstalteten der „International Students Service", die „National Student Federation of America" und die „Student League" eine Konferenz über die Rolle der Studenten im Krieg. 15 Das Anti-Nazi German American Students Committee veröffentlichte im August 1942 ein Programm, das vorsah, sich gegen faschistische Tätigkeit an den Schulen zu wenden und mit allen Deutschamerikanern demokratisch zusammenzuarbeiten. 16 Hier zeigten sich erste Ansätze zur Entwicklung einer antifaschistischen Studentenbewegung. Von entscheidender Bedeutung hierfür war jedoch die vom 2. bis 5. September 1942 in Washington, der Hauptstadt der USA, stattfindende „International Students Assembly" (Internationale Studenten-Versammlung). Die Anregung bzw. Initiative war vom Vereinigten-Staaten-Komitee des Internationalen Studenten-Dienstes (Service) ausgegangen. Der I. S. S. war 1920 in Genf als Studenten-Hilfsorganisation gegründet worden, unterhielt auch Zweigstellen in anderen Staaten. In Nazi-Deutschland war er gleich 1933 verboten worden. Der I. S. S. bemühte sich, den Opfern des Faschismus, später insbesondere den Studenten unter den Kriegsgefangenen, zu helfen. Die Internationale Studenten-Versammlung mit etwa 350 Teilnehmern aus 55 Ländern war eine eindrucksvolle Kundgebung der studentischen Jugend gegen Faschismus und Krieg und für bedingungslosen Einsatz im Kampf für Frieden und Freiheit. Im Mittelpunkt der Vorträge und der Diskussionsbeiträge stand der Gedanke des „Volkskrieges für die Freiheit", der „Beendigung der Periode des Imperialismus" und der „Verwirklichung eines people's Century", eines „Jahrhunderts des Volkes", um alles zu beseitigen, was Differenzen und Spannungen zwischen den Völkern hervorrufen kann. Alle waren besonders daran interessiert, sich mit der dreiköpfigen sowjetischen Delegation unter der Leitung von Nikolai Krasavchenko vom Moskauer Jugendverband zu unterhalten. Großes Interesse fand aber auch die deutsche antifaschistische Delegation, der ich angehörte, ebenso die Delegierten des Deutschamerikanischen Studentenkomitees und Studenten und Studentinnen verschiedener Colleges und Universitäten. Es kam zu einer langanhaltenden Beifallskundgebung, als die deutsche Delegation den an die Jugend der Welt gerichteten Appell „Wir erklären hiermit einstimmig unsere Bereitschaft, den Kampf bis zur vollständigen Vernichtung des Faschismus zu führen, dessen Philosophie wir als vernichtend für die besten Äußerungen der Menschheit betrachten" unterschrieb. Der einstimmige Beschluß, die „International Students Assembly" als wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit der Studentenjugend aller Länder zur Gewinnung dieses Krieges gegen den Faschismus und zur Lösung der Nachkriegsprobleme fortzuführen, beendete die Tagung. 15 16

The German American, vol. I, No. 2, June 1942, S. 11; ebenda, No. 3, July 1942, S. 12. Ebenda, No. 4, August 1942, S. 12.

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Im leitenden Komitee hatte auch die antifaschistische deutsche Delegation Sitz und Stimme. Starke Anstöße waren von der Tagung in Washington ausgegangen. Der weitere Aufenthalt der sowjetischen Delegation in New York, die Aussprachen und Unterhaltungen mit deutsch-amerikanischen Organisationen, u. a. auf dem Büro des „German American Emergency Commitee", waren sehr anregend. Auf der Jugendseite der Oktoberausgabe des „German American" „The Voice of the German American Youth" (Die Stimme der deutschamerikanischen Jugend) erschien ein Bericht „Youth of all Nations Rallying against Hitler" (Jugend aller Nationen versammelt gegen Hitler) mit dem Untertitel „A Free German Delegates Report from tire International Students Assembly" (Ein freier deutscher DelegationsBericht von der Internationalen Studenten-Versammlung), der mit den Worten eingeleitet wird: „Wenn Studenten aus fast allen Ländern der Welt sich in der Hauptstadt einer Nation treffen, u m über ihre gemeinsamen Probleme zu diskutieren, so sind das Neuigkeiten, aber wenn eine Versammlung dieser Art so viel Aufregung in den Hauptquartieren der Achsenmächte verursacht, die eine ungewöhnliche Menge von hysterischen Kommentaren über die Versammlung geben, gut, das ist etwas, sich zu erfreuen." Im Artikel wird besonders auf die unterdrückten Völker Europas, aufjunge Deutsche, Österreicher, Italiener, Tschechoslowaken, Jugoslawen hingewiesen.17 Ohne Zweifel löste die Internationale Studentenversammlung ein gewaltiges Echo aus, was nicht zuletzt der umfangreichen Berichterstattung zu verdanken war. „Students fighting against Fascism" (Studenten kämpfen gegen Faschismus) lautet der Titel meines ins Englische übersetzten Artikels. Im letzten Satz heißt es: Die „International Students Assembly ist der Beginn internationaler Zusammenarbeit der Jugend aller Länder hei der Wiederherstellung einer neuen freien Welt". 18 In „The German American" waren nun fast ständig kleinere oder größere Berichte über die Tätigkeit des Deutsch-Amerikanischen Anti-Nazi-Studenten-Komitees zu finden. In der Juni-Ausgabe wird mitgeteilt, daß das Komitee zwei Mitglieder zur „Win the War Students Conference" entsandt hat, die vom 7. bis zum 9. Mai 1943 in New York von der United States Students Assembly durchgeführt wurde. Am 10. Mai 1943, dem zehnten Jahrestag der Bücherverbrennung in Nazi-Deutschland, wandten sich die Anti-Nazideutschen und deutsch-amerikanischen Studenten der International Students Assembly in einer Rundfunksendung an die deutschen Kommilitonen im Dritten Reich. Unter einer großen Überschrift „Students Broadcast to Germany" erschien in der Juni-Ausgabe des „German American" ein ins Englische übersetzter Auszug mit der einleitenden Erklärung „written by Anti-Nazis German students in America". Dazu gehörte auch ich. Eine Kopie des von mir entworfenen Textes fand ich in meiner Dokumentensammlung. Darin heißt es: „Zehn Jahre sind es her, daß deutsche Studenten in allen Städten Deutschlands Scheiterhaufen aufflammen ließen. Bücher deutscher Freiheitsdichter, hervorragender deutscher Wissenschaftler, darunter zahlreiche Nobelpreisträger wurden dem Feuer übergeben ... von der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 führt ein direkter Weg zu den Schlachtfeldern Rußlands und Nord-Afrikas, 17

18

Ebenda, No. 6, Oktober 1942, S. 15; Programmheft International Students Assembly, September 2—5,1942, Washington D. C. 1942, 14 Seiten; Flugschrift Declaration of International Students Assembly, hrsg. vom International Student Service, New York 1942, 4 Seiten. Karl Obermann, Der Internationale Studentenkongreß, in: Freies Deutschland, Mexiko, 2, 1942, S. 32. Unter der Überschrift „Das Beispiel der Studenten" erschien in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, ein vollständiger Nachdruck meines Artikels in der deutschsprachigen Zeitschrift Volksblatt, Buenos Aires, vol. II, Nr. 21, 15.2.1943, S. 5f.; The German American, New York, vol. II, No. 1, Mai 1943, S. 15.

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zu den Schlachtfeldern dieses Krieges... Doch der Geist, der von den Flammen des 10. Mai vernichtet werden sollte, lebt... Wir begrüßen die Studenten, wo immer sie in der Freiheitsfront kämpfen mögen als Kämpfer für eine neue, freie Welt... Uns deutschen antifaschistischen Studenten in der Emigration beseelt jedoch eine große Sorge, die Beschleunigung der Niederlage Hitlers bzw. des Nazismus ... Jeder Tag, den die Nazihorden länger in Europa herrschen, bedeutet mehr Grausamkeiten, mehr Menschenopfer ... Der schnellste Weg zum entscheidenden Schlag ist die zweite Front in Westeuropa." Unterschrift: „Free German Students Delegation of the I. S. A." 1 9 Die sowjetische Studentendelegation hatte während ihres Aufenthalts in New York freundschaftliche Beziehungen zu den deutsch-amerikanischen Studenten angeknüpft und sie ermutigt. In einem Abschiedsbrief rief Krasavchenko ihnen zu: „Freunde. . . Alle Freiheit liebenden Völker müssen ihr äußerstes tun, um so bald wie möglich die zweite Front zu eröffnen. . . Vorwärts Freunde. Fürchtet keine Schwierigkeiten. . . ihr kämpft für die Freiheit des deutschen Volkes bzw. für seine Freiheit von Sklaverei und Erniedrigung." 20 Die Zeit von September 1942 bis Anfang 1944 war eine Periode zunehmender Aktivität in der internationalen antifaschistischen Studentenbewegung, eine entscheidende Phase des Aufstiegs, der Entwicklung. Es ist unübersehbar, daß die sowjetische Studentendelegation auf Grund ihrer Erfahrungen erheblichen Anteil daran hatte, indem von ihr wichtige Anstöße bzw. Anregungen kamen. Aber auch Berichte über die Lage an den Universitäten in Nazi-Deutschland, über die Verfolgung der Studenten veranlaßten gerade die Anti-Nazideutschen und deutsch-amerikanischen Studenten-Gruppen zu einer gesteigerten Aktivität. Die Studentenarbeit nahm eine beachtliche Stellung im antifaschistischen Kampf ein, sie erlangte ein erhebliches Ausmaß. 2 1 Die Anti-Nazi German Delegation of the International Students Assembly führte Ende Mai 1943 in New York eine Veranstaltung zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom Mai 1933 durch. Sonja Grodka, Vorsitzende der Anti-Nazi-Delegation, hielt die Eröffnungsrede. Mitglieder der Delegation führten ein kleines Theaterstück „They burned the books" (Sie verbrannten die Bücher) auf, dann wurden das Moorsoldatenlied und andere Kampflieder gesungen. Die russische und französische Studentendelegation waren durch ihre Vorsitzenden vertreten. 22 Unter der Überschrift „Erfolgreiche Aktivitäten des German American Anti-Nazi Students Committee" erschienen im Dezember 1943 Artikel, die einige Aktivitäten aufführten und dabei besonders erwähnten, daß sich verschiedene höhere Schulen und Colleges für die Ausstellung „Allies inside Germany" (Alliierte in Deutschland) und für Artikel über Deutschland interessierten. 23 Bei den Aktivitäten der Anti-Nazi-Studenten spielte seit 1942 auch der „Internationale Studententag" als Kampftag der antifaschistischen Studenten für die Wiedereroberung der Freiheit eine wichtige Rolle. In der Radio-Botschaft vom 17. November 1942 heißt es: „Wir deutsche Studenten in der Internationalen Studenten-Versammlung senden Euch diese Botschaft zu dem Tag, der im Andenken an die 160 Prager Studenten, die 1939 von den Nazis ermordet wurden, weil sie für die Freiheit und Unabhängigkeit ihres Landes eintraten, zum Internationalen Studententag erklärt wurde. Im Geiste dieser ermordeten Prager Stu19 20 21 22 23

The German American, vol. II, No. 1, Mai 1943, S. 15; ebenda, No. 2, Juni 1943, S. 15 und 16. Ebenda, vol. I, No. 7, November 1942, S. 15, Brief in Englisch. Vgl. Karl Obermann, Students fighting against Fascism, in: Ebenda, vol. II, No. 1, Mai 1943, S. 15. The German American, vol. II, No. 3, Juli 1943, S. 15, The Voice of the Youth. Ebenda, No. 8, Dezember 1943, S. 15.

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denten fordern wir Euch auf, mit uns für die Befreiung unseres deutschen Volkes von der Naziherrschaft zu kämpfen. Dann wird der Tag nicht mehr fern sein, an dem Deutschland wieder den Ruf als das Land der Dichter und Denker erlangt." 24 Als ich zum 17. November 1943, dem 4. Internationalen Studententag, wiederum das Manuskript für die Radiosendung an die Studenten des Hitlerreichs entwarf, hatte sich die politische Lage außerordentlich verschärft, d. h. der von den Nazis entfachte Weltkrieg dehnte sich über ganz Europa aus. Die Unterdrückung hatte erhebliche Ausmaße angenommen. Einleitend erklärte ich, daß „die entschlossene Einheit aller freiheitsliebenden Studenten" erforderlich ist, und erwähnte kurz, wie es mir selbst 1933 bei meiner antifaschistischen Tätigkeit ergangen war. Die letzte Seite des Manuskripts enthielt notwendige Hinweise, „daß Tausende und Abertausende Deutsche heute noch in den Konzentrationslagern schmachten", daß aber „der wahre deutsche Geist nicht tot ist, daß er unterdrückt ist und unter dem Druck leidet. . . heute genügt es wirklich nicht mehr, nur davon zu sprechen, gegen die geistige Unterdrückung und gegen diesen Krieg zu sein. Ist nicht heute die Zeit gekommen, daß Antworten nicht mehr mit Worten gegeben werden können? Die Zukunft Deutschlands, die Zukunft der Wissenschaft in Deutschland hängt davon ab, daß Ihr deutsche Studenten, die Ihr die Wissenschaft und das Studium liebt, für die Sicherung dieses Studiums eintretet." 25 Die 1943 zunehmende Verschärfung der politischen Lage erforderte aber auch von den deutschen Antifaschisten im USA-Exil größere politische Aktivitäten bzw. ein politisches Engagement. Das betraf nicht zuletzt die deutschen und deutschamerikanischen AntiNazi-Studenten. Im März 1944 erschien No. 1 des „Free German Students Bulletin" mit dem Untertitel „Information-Bulletin of the Free German Students Delegation of the I. S. A." Auf der ersten Seite in der Rubrik „Unser Zweck" wird erklärt: „Die ,Freie deutsche Studenten Delegation in der Internationalen Studenten Assembly' (Versammlung) versucht mit diesem Bulletin eine Plattform für alle antifaschistischen Studenten in den Vereinigten Staaten zu schaffen, die bereit sind, gegen den Nazismus zu kämpfen für ein freies Deutschland in einer freien Welt. Dieses Bulletin soll unsere Waffe sein." In einem Gruß- bzw. Anerkennungsschreiben von Thomas Mann lautet der Schlußsatz: „Es ist allerdings eine Ehre und ein Vergnügen, der ratgebenden Kommission Ihrer freien deutschen Studenten Gruppe beizutreten." In einem weiteren undatierten Rundschreiben wird zur Unterstützung dp« Free German Students Bulletin" aufgefordert. Weiter heißt es: „Gegenwärtig arbeitet unsere Delegation an der Vorbereitung eines Memorandums für die kommende International Students Assembly Conference. Diese Konferenz wird sich mit dem Thema beschäftigen .Erzieherischer Wiederaufbau' (Educational Reconstruction) und wird am 5 . - 7 . Mai 1944 stattfinden . . ," 26 Über diese Tagung der I. S. A. erschien ein Bericht in Englisch.27 Es handelt sich um eine wörtliche Übersetzung meiner deutschen Niederschrift bzw. des Artikels. 24

23 26

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An der Ausarbeitung dieser Radio-Botschaft war ich beteiligt, ich besitze noch das 2% Schreibmaschinenseiten umfassende Manuskript. 3 Seiten Manuskript, Kopie in meinem Besitz . In einer Fußnote wird meine Privatadresse als Anlaufstelle für Beiträge und Korrespondenzen angegeben, wahrscheinlich weil das Büro der „German American Emergency Conference", das auch als Büro des German American Anti Nazi Students Committee galt, Broadway, Room 409, New City, schon zu sehr überlaufen war. Die genannten Rundschreiben sind in Englisch abgefaßt. Vgl. The German American, vol. III, No. 3, 1. Juni 1944, S. 10.

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Hier heißt es: „In den Tagen vom 5 . - 7 . Mai 1944 fand in New York ein internationaler Studentenkongreß statt. Amerikanische, sowjetrussische, chinesische, tschechische, holländische, belgische, polnische, griechische und freie deutsche Studenten fanden sich zusammen, um gemeinsam die Frage der Erziehung nach dem Krieg zu besprechen. Einmütig herrschte die Überzeugung, daß Erziehungsfragen eine bedeutende Rolle im Wiederaufbau nach dem Kriege einnehmen werden . . . Die freie deutsche Delegation legte kurz die Hauptpunkte ihres Memorandums dar: Ausrottung der faschistischen Ideologie, ganz besonders ihres gefährlichsten Bestandteils: der Rassenideologie und Aufbau einer Erziehung, die von den Grundsätzen der Gleichberechtigung, der sozialen Verantwortung, des freien Denkens getragen ist und wieder zu denkenden Menschen bildet, die sich ihrer sozialen Verpflichtung gegenüber anderen Menschen und anderen Völkern bewußt sind . . In einer Resolution wird u. a. betont, daß „Bestand und Fortschritt der Erziehung und der gesamten Kultur von der schnellsten Vernichtung Hitler-Deutschlands, des Bollwerkes des Barbarismus bedingt ist". Der Internationale Studentenkongreß in Washington vom 2. bis 5. September 1942 war eine gewaltige Kundgebung der studentischen Jugend gegen Krieg und Faschismus, deren Beschluß, die Zusammenarbeit der studentischen Jugend aller Länder in der I. S. A. einzuleiten, als beachtenswertes Ergebnis betrachtet werden muß. Der internationale I. S. A.Kongreß vom 5. bis 7. Mai 1944 in New York befaßte sich mit konkreten Aufgaben und machte deutlich, daß Kundgebungen nicht mehr genügten, sondern eine politische Arbeit geleistet werden mußte. Die politischen Beschlüsse wirkten sich schließlich auch auf Aktionen der „Freien Deutschen Studenten-Delegation" aus. Von großer internationaler Bedeutung und Auswirkung waren das am 12./13. Juli 1943 in der Sowjetunion gegründete Komitee „Freies Deutschland" und das Manifest des „Nationalkomitees Freies Deutschland". The German American veröffentlichte in seiner Augustausgabe 1943 den vollständigen Text. Der Abdruck begann auf der ersten Seite: „Deutsche, Die Ereignisse verlangen von uns eine sofortige Lösung. Das Nationalkomitee für ein ,Freies Deutschland' hat sich in einer Zeit gebildet, in der tödliche Gefahr über unserm Land schwebt und seine Existenz bedroht. Das Nationalkomitee setzt sich zusammen aus Arbeitern und Schriftstellern, Soldaten und Offizieren, Gewerkschaftlern und politischen Persönlichkeiten, Menschen mit den verschiedensten politischen Anschauungen und Überzeugungen, welche noch vor einem Jahr eine solche Vereinigung für unmöglich gehalten haben würden. Das Nationalkomitee verleiht den Gedanken und Wünschen von Millionen Deutschen an der Front und im Hinterland Ausdruck, die besorgt sind um das Schicksal ihrer Heimat. Das Nationalkomitee hat das Recht und die Pflicht, in dieser harten Stunde im Namen des deutschen Volkes zu sprechen, klar und entschieden zu sprechen, so wie es der Ernst des gegenwärtigen Augenblicks verlangt." 28 Mit der großen fettgedruckten Überschrift „German American Hail the National Committee ,Free Germany'" wird auf der ersten Seite der Septemberausgabe die Berichterstattung begonnen und mit dem Artikel „Wie das ,Nationalkomitee' entstand" von Erich Weinert, Präsident des Nationalkomitees, und weiteren Beiträgen zum Thema Manifest auf den Seiten 6 und 7 fortgesetzt. In der Oktoberausgabe des „German American" nimmt der Tod von Kurt Rosenfeld einige Seiten ein, doch auch das Nationalkomitee findet noch Platz 28

Der Abdruck des Manifests beanspruchte 2 Spalten der Seite 5 mit weiteren Fortsetzungen auf den Seiten 8, 10 und 12.

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auf Seite 5. Auch im Dezemberheft sind auf den Seiten 1 und 5 noch Artikel über das Nationalkomitee „Freies Deutschland" zu finden.29 Es ist anzunehmen, daß diese besonders von jüngeren Lesern sehr beachtet wurden. Das „Nationalkomitee Freies Deutschland" in Moskau regte die Antifaschisten in andern Exilländern, in England, in den USA, in Mexiko, an, ebenfalls ihren Kampf unter der Fahne „Freies Deutschland" zu führen. In den Spalten des „German American" tauchte immer wieder das Thema „Nationalkomitee Freies Deutschland" auf. „Neue Nachrichten über die Tätigkeit des .Nationalkomitee Freies Deutschland"' lautete die fettgedruckte Überschrift auf Seite 16 der Februarausgabe 1944.30 The German American, vol. III, erschien ab 1. Mai 1944 alle 14 Tage. „The German American" 1. Mai brachte auf Seite 8 einen Artikel vom Sekretär des „Lateinamerikanischen Komitees Freies Deutschland", Paul Merker. Hier heißt es: „Die Bewegung Freies Deutschland ist 1943 groß geworden. Neben dem Nationalkomitee in Moskau führen heute Komitees in England, Schweden und in 14 Ländern Zentral- und Südamerikas den Kampf gegen den Nazismus. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika befindet sich ein Komitee Freies Deutschland in Vorbereitung ... Die Bewegung Freies Deutschland ist so zur führenden Kraft der deutschen Antinazis in Deutschland und in der Emigration geworden. . ," 31 Doch in den USA war die Bezeichnung „Freies Deutschland" aus politischen Gründen nicht erwünscht. Aber auf Seite 3 der Ausgabe des „German American" vom 15. Mai 1944 war zu lesen: „Council for a Democratic Germany" gegründet. Deutsche Emigranten, Feinde des Nazismus, Befürworter eines demokratischen Deutschland, schließen sich zusammen. Es folgt die Bemerkung: Am Mittwoch, dem 3. Mai, wurde folgende Erklärung der New Yorker Presse zur Veröffentlichung übergeben. An der Spitze der Unterzeichner steht Prof. Paul Tillich. Mein Name stand auch auf der Liste der Unterzeichner der Erklärung. Als Mitglied des Rates beteiligte ich mich an der Arbeit der Kommission „Bildung und Erziehung". Bei meinen Beziehungen zur „Freien deutschen Studenten-Delegation" war es durchaus verständlich, daß von mir einige Hinweise für die Behandlung des Themas „Nachkriegserziehung" kamen und mein Bericht über die Tagung der I. S. A. vom 5. bis 7. Mai die entsprechenden Gesichtspunkte enthielt, die auch in der Kommission des Rates „Bildung und Erziehung" behandelt wurden. Zudem unterhielt die Gruppe der Sponsors (Pate oder Bürge) des Rates, dem viele Professoren angehörten, Kontakte zur Kommission „Bildung und Erziehung" des Rates. Der „Council" erwies sich als eine Plattform der Zusammenarbeit. 32 29

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The German American, vol. II, No. 4, August 1943, S. 1, 5, 8, 10 und 12; ebenda, No. 5, September 1943, S. 1, 5 und 7; ebenda, No. 6, Oktober 1943, S. 5; ebenda, No. 8, Dezember 1943, S. 1 und 5. Ebenda, No. 10, Februar 1944, S. 16. Ebenda, vol. III, No. 1, 1. Mai 1944, S. 8. Auf Seite 16 erschien noch ein Artikel „Neue Aktionen und Erfolge des ,National-Komitee Freies Deutschland'". Es wird daraufhingewiesen, daß an der sowjetischen Front nach Liquidierung des Kessels von Korsum das Nationalkomitee 20 000 deutschen Soldaten das Leben gerettet hat. Ebenda,No. 2,15. Mai 1944,S. 3und4;ebenda,No. 3,1. Juni 1944,S. 3,8und 10;ebenda,Nr. 4,15. Juni 1944. S. 1, 8 und 11, (S. 3): „An das deutsche Volk. Aufruf des Council for a Democratie Germany". Die amerikanische Öffentlichkeit begrüßt den Council for a Democratic Germany; ebenda, No. 5, 1. Juli 1944, S. 12, Stimmen zum „Council for a Democratic Germany". Vgl. Karl Obermann, Rolle und Bedeutung der Geschichtsschreibung in der antifaschistischen Publizistik im Exil 1933 bis 1946, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswiss. Reihe XXXIII, 1984, 3, S. 331; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Chronik, Teil II, S. 482. Demokratie, Sozialismus

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Die politischen Vorgänge nahmen immer stärker die Vertreter des Fortschritts und der Demokratie auch unter den deutschamerikanischen Anti-Nazi-Studenten in Anspruch. Umfangreichere grundsätzliche Artikel füllten die Seiten des „German American". Die im November 1944 bevorstehenden Wahlen, bei denen es auch um die Wiederwahl des Präsidenten Roosevelt ging, veranlaßten geradezu den „German American" am 15. September 1944 zur Hauptüberschrift „The vote of the German Americans" und zur Erklärung „The German American to sponsor Forum on Election Issues". 33 Diese deutsch-amerikanische Kampagne erfaßte natürlich in weitgehendem Maße auch die German American Anti-Nazi Students. Doch mußte m. E. auch berücksichtigt werden, daß die im USA-Exil lebenden antifaschistischen deutschen Studenten noch eine andere Aufgabe hatten. Unter meinen Papieren fand ich meinen Entwurf über „Die Aufgaben der deutschen Delegation der I. S. A." Hier heißt es: „Eine deutsche Delegation der I. S. A., also eine Gruppe von Studenten deutscher Herkunft, die bereit ist, in der internationalen Studentenbewegung zusammen mit den Studenten der United und Oppressed Nations für die Vernichtung des Faschismus zu kämpfen und am Aufbau einer neuen freien Welt mitzuwirken, muß in ihrer Arbeit von den Bedingungen ausgehen, die durch die Zerstörung der freien Wissenschaft und Erziehung, der Zerstörung einer freien Studentenbewegung in Deytschland durch den Faschismus geschaffen worden sind. Es sind Bedingungen, die besonders schwierige Anforderungen an uns stellen. Die zu uns auf den verschiedenen Wegen gedrungenen Nachrichten zeigen uns aus Deutschland emigrierten Studenten an, daß gerade jetzt eine Notwendigkeit für die Arbeit einer Gruppe deutscher antifaschistischer Studenten im Ausland im Rahmen der internationalen Studentenbewegung besteht." In dieser Richtung gingen unsere Bemühungen. Ich vertrat zwar die Anti-Nazi-deutsche Studenten-Delegation, war aber sehr mit redaktionellen und publizistischen Arbeiten belastet. Die Anti-Nazi-deutsche Studentin Sonja Grodka, die schon in Washington dabei war, übernahm einen Teil der Arbeit. Im November 1944 und in den folgenden Monaten, als das Ende des Weltkrieges nahte und damit auch das Ende des Nazi-Regimes, kam es mehr und mehr zu Diskussionen. Dabei herrschten unterschiedliche politische Meinungen und Differenzen im Hinblick auf die weitere Entwicklung bzw. die Zukunft. Die Anti-Nazi-deutschen Studenten galten als linksstehend. Unterschiedliche politische Meinungen und Bestrebungen beeinträchtigten die internationale Zusammenarbeit. Es herrschte vielfach Unklarheit über die Lage. Am 15. April 1945 hieß es, die erste U. S.-Armee habe Halle eingenommen. Am 19. April lautete die Meldung, die erste U. S.-Armee sei in Leipzig einmarschiert. Am 5. Mai wird in der Presse bemerkt, der deutsche Widerstand ist beendet. Über Leistungen der sowjetischen Truppen wird kaum etwas berichtet, es wird nur von Besetzung gesprochen.34 Bei den aufkommenden Widersprüchen, die sich in der Berichterstattung zeigten, trat eine gewisse Auflockerung in der internationalen antifaschistischen Studentenarbeit ein, zumal auch bei den deutschen Antifaschisten die Sehnsucht erwachte, nach der alten Heimat zurückzukehren und am Neuaufbau teilzunehmen. Die internationale Zusammenarbeit der Antifaschisten zerbrach keineswegs völlig. Der Internationale Studenten-Rat, den 1941 antifaschistische europäische Studenten in London gegründet hatten, pflegte ständig interna33

34

The German American, vol. III, No. 10, 15. September 1944, S. 1; ebenda, No. 11, 1. Oktober 1944, S. 1, For Re-Election of President Roosevelt. German Americans form Independent Voters Committee. (Wahlanzeigen auch in den nächsten beiden Ausgaben.) New York Times, New York, laufende Kurzberichte mit Daten 1945 /1946.

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tionale Beziehungen. Besondere Bedeutung hatte — wie gesagt — der 17. November, der Tag, an dem 1939 die Nazis in Prag 1200 Studenten verschleppten und viele ermordeten, der als „Internationaler Studententag" in die Geschichte einging und als Mahn- und Gedenktag ständig die Studenten aller Länder mahnt, sich untereinander zu verständigen und für den Frieden und das Glück aller Völker einzutreten. Präsident Roosevelt hatte sich jedes Jahr bis zu seinem Tode in einer Rundfunkrede an die Studenten gewandt, und wir deutsche Studenten im USA-Exil folgten seinem Beispiel. Der „Internationale Studententag" war das Bindeglied, um die alten studentischen Beziehungen mit neuen zu verknüpfen. Am 11. und am 12. November 1945 diskutierte der Internationale Studenten-Rat auf einer Versammlung über die Notwendigkeit, eine internationale Studenten-Organisation zu schaffen und zu diesem Zweck ein Internationales Vorbereitungskomitee zu bilden. Das Komitee erfüllte seine Aufgabe, und am 26. August 1946 konnte in Prag der Gründungskongreß der IUS (International Union of Students) stattfinden mit Vertretern aus 38 Ländern. Einen Tag später wurde bereits die Verfassung verabschiedet. In der Einleitung heißt es: „Wir, die Studenten der Welt, bestätigen unseren Willen, wieder eine bessere Welt zu bauen, die Freiheit, Frieden und Fortschritt begehrt. . ," 35

35

is*

This is the IUS. 1949 International Union of Students, New York, S. 8—11.

WERNER MITTENZWEI

Brecht in den Salons von Hollywood Gespräche deutscher Emigranten während der Kriegsjahre

Der kalifornische Raum zwischen dem Hafen San Pedro und Los Angeles mit der Jobmetropole Hollywood kam den meisten deutschen Emigranten wie ein Ghetto vor. Hier gab es die stärkste Konzentration von Künstlern, Dichtern, Wissenschaftlern, Juristen, Ärzten, die vor Hitler geflohen waren. Gottfried Reinhardt meinte, hier hätte sich leicht eine deutsche Universität gründen lassen; an Professoren der verschiedenen Fakultäten jedenfalls fehlte es nicht. Auch ein deutsches Krankenhaus wäre mit den verschiedensten Spezialisten zu besetzen gewesen. Ein Theater zumal, käme es ohne Publikum aus, fände genügend hervorragende Schauspieler, Regisseure, Stückeschreiber und Intendanten. In Hollywood kannte jeder jeden. Leute, die sich in Berlin nie begegnet wären, trafen sich in regelmäßigen Abständen immer wieder in denselben Häusern. Zu keiner Zeit sonst gab es einen so engen Kontakt und regen Gedankenaustausch unter den deutschen Schriftstellern und Künstlern wie während der Kriegsjahre in Hollywood. Doch von den meisten Emigranten wurde diese Form der Kommunikation keineswegs nur positiv gesehen. Waren die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten der einzelnen auch sehr unterschiedlich, so litten doch mehr oder weniger alle unter dem Zustand einer gefesselten Produktivität. Die meisten glaubten, das ihnen Mögliche hier nicht erreichen zu können. Selbst die Erfolgreichsten, die nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollten, sahen in Hollywood keineswegs den Ort ihrer Erfüllung. In einer solchen Atmosphäre blieben Spannungen, Streit und Feindschaften nicht aus. „Diese Gegensätze im Ghetto wurden von denen der Umwelt noch verschärft: Nennt Kalifornien doch nicht allein den höchsten Gipfel der kontinentalen USA und den tiefsten Punkt (unter dem Meeresspiegel), nur wenige Kilometer voneinander entfernt, sein eigen, Schnee lagert auch unmittelbar über der Wüste, subtropische Flora, jeden Stil der Welt imitierende Architektur, Gebirgsseen und Meeresstrand wechseln einander ab, Tannenwald und ausgedörrte Canyons werden von Großstadtmenschen bevölkert, die sich am liebsten nicht von der Klimaanlage trennen. Geschminkt, gepudert, kostümiert, brät man in greller Sonne. Theatermenschen ohne Theater. Kolossaler Reichtum wird von Leuten angesammelt, die im Grunde bedürfnislos sind. Als Sybariten verschrien, leben sie in Wirklichkeit nur der Arbeit. Voller provinzieller Minderwertigkeitskomplexe, ist der Hollywooder ... gastfreundlich, aber gegen Kritik empfindlich. Und jeder kritisierte. Besonders der Emigrant. Das lachende Hollywood verträgt kein Lachen, bringt keinerlei Selbstironie auf. Symbol ist Buster Keaton: ,Dead-pan', und das heißt: versteinertes Gesicht in allen Situationen." 1 1

Gottfried

Reinhardt, Der Liebhaber. Erinnerungen seines Sohnes Gottfried Reinhardt an Max Reinhardt,

München/Zürich 1973, S. 269.

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Im einsamen Skovsbostrand mußte Helene Weigel mühsam bewerkstelligen, daß Brecht mit verschiedenen Leuten debattieren konnte. In Hollywood ergab sich das von selbst. Und doch kam bei ihm nie die große Lust zum Gespräch auf, die er sonst immer empfand. Salka Viertel, bei der er oft weilte, meinte, sie habe ihn eigentlich nie laut lachen hören. „Er lächelte sein feines Lächeln, lachte aber nie richtig und herzlich. . ." 2 Und dabei lachte Brecht gern, meist laut und auffallig. In jedem Ghetto bilden sich Gruppen, natürlich auch in Hollywood, wobei es da keine scharfen Abgrenzungen gab. Jeder lud zu seiner Party andere Gäste ein, so kamen die Leute unterschiedlichster Richtungen miteinander in Berührung. So stellte das Haus Thomas Manns eine Gruppe dar. Eine andere, politisch links orientierte, sammelte sich um Fritz Kortner und bestand hauptsächlich aus emigrierten Schauspielern. Nach Salka Viertel bildeten Bruno und Liesl Frank, die Polgars, Franz und Alma Werfel einen Kreis, der sich dem Hause Thomas Manns verbunden fühlte und zu dem sich auch Wilhelm und Charlotte Dieterle sowie Fritzi Massary als zugehörig betrachteten. Dagegen habe Max Reinhardt, wie sein Sohn meinte, das Ghetto ignoriert. Die Berühmtheiten Hollywoods seien zwar gern in sein Haus am Pazifik zum Essen und zur Konversation gekommen, aber kaum jemand zu seinen Workshop-Vorstellungen. Für Brecht gab es in Hollywood zunächst den Kreis der Freunde, mit denen er arbeiten und marxistische Gesichtspunkte diskutieren konnte. Dazu gehörten Hanns Eisler, später Paul Dessau, Ferdinand Reyher, Fritz Kortner, auch Lion Feuchtwanger und Peter Lorre. Davon hob sich der Kreis der „Frankfurtisten" ab, wie ihn Brecht und Eisler bezeichneten, jene Gelehrten der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Herbert Marcuse. In Deutschland hätte Brecht wahrscheinlich gar keinen Kontakt mit ihnen gehabt und das Gespräch nicht gesucht. In Hollywood war bei aller kritischen Haltung eine solche Distanz nicht möglich. Zwischen diesen beiden Gruppierungen standen jene Emigranten, die sich in den USA sehr unglücklich fühlten, weder an ihre Erfolge von einst anknüpfen noch ihren bisherigen Ruf überhaupt zur Geltung bringen konnten, wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Berthold Viertel, Arnold Schönberg. Ihnen blieb Brecht trotz politisch unterschiedlicher Meinung, ja Gegensätze verbunden. Bei den Partys waren immer auch Amerikaner zugegen, so daß sie nie zu reinen Geselligkeiten unter Emigranten wurden, wie das in anderen Emigrationszentren weit mehr der Fall war. Am ungezwungensten waren die Treffs im Hause von Salka Viertel. „Da setzte Greta Garbo Max Reinhardt auseinander, wie sie den Hamlet zu spielen gedenke; da ergänzte Chaplin sein Universalgenie und kaperte sich seinen zukünftigen musikalischen Ghostwriter, den brillanten Ohrenbläser Hanns Eisler; da begegnete sich der liebenswürdige virtuose Rubinstein und der unliebenswürdige, seherische Schönberg; da ahmte der Urkomiker Curt Bois die Häßlichkeit des tiefernsten Geigers Bronislaw Hubermann nach; da versöhnten sich nach jahzehntelanger Entfremdung und wochenlangen protokollarischen Verhandlungen die Brüder Heinrich und Thomas Mann an einem festlich gedeckten Ping-pong;Tisch, wo sonst Schönberg seinen tonaleren Kollegen noch ein weiteres auswischen wollte, jedoch das Zwölf-Ton-System ausnahmsweise versagte ..." 3 In ihrem Hause machte sie Leute miteinander bekannt. Das war oftmals mehr nötig, als sich manche Berühmtheit der Weimarer Republik eingestehen wollte. In Kalifornien kannte 2

3

Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films, Hamburg und Düsseldorf 1970, S. 417. Reinhardt, Der Liebhaber, S. 270.

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man meist nicht, was in Berlin berühmt gewesen war. In den ersten Jahren hielt man die Brechts für ein komisches Ehepaar, das kein Wort englisch sprach. Feuchtwanger hatte sich nach einigen Anläufen wieder so eingerichtet, wie er es gewohnt war. Was ihm auch widerfuhr, die kultivierte, von einem geschmackvollen Luxus geprägte Lebensweise verstand er immer wieder herzustellen. Selbst in den widrigsten Umständen verhielt er sich als ein Lebenskünstler. Während sich Brecht über den Lebensstil Thomas Manns, über dessen Haus und Wagen mokierte, obwohl Thomas Mann im Vergleich zu Feuchtwanger geradezu bescheiden lebte, ließ er gegenüber dem Freund kein Gefühl des Neids erkennen. Als es Feuchtwanger nach der Übersiedlung in die USA gelungen war, seine gesperrten Bankkonten freizubekommen, wechselte er viermal das Haus, bis er 1943 die Villa in Pacific Palisades bezog. Das Anwesen hatte er billig erworben, weil das Haus abseits von den anderen auf einem Berge stand und erst mit beträchtlichem Aufwand auf den baulichen Standard gebracht werden mußte. In Feuchtwangers Regie bekam es jedoch bald Konturen, die die Besucher veranlaßten, vom „Schloßherrn" Feuchtwanger zu reden. Von Brecht, der in seinem „Arbeitsjournal" ausführlich die Gedankengänge Feuchtwangers über den Verlauf des Krieges und über Hitler notierte, gibt es keine Beschreibung dieses Hauses, in dem er oft zu Gast war. Zweimal im Jahr lud Feuchtwanger die deutschen Schriftsteller und Künstler in sein Haus, um aus einem neuen Werk zu lesen. Eisler erzählt: „Und da las er uns manchmal leider auch vor. Und nun ist es so: Ich lese ja gerne seine Romane, aber nur vorgelesen — höre ich sie nicht. Also, das hat er bei Brecht nicht gemacht. Da hat er den Brecht einfach nicht zugewählt. Aber ich mußte mir das oft anhören. Und der Kortner auch. Da gab's kein Pardon. Da mußte man eben stillhalten. Er las übrigens sehr gut vor." 4 Nach der Lesung bat er um Meinungen, um ergänzende Gedanken zu seinem Werk. Brecht hätte sich hier auch schon deshalb nicht an der Diskussion beteiligt, weil die erste Wortmeldung meist Thomas Mann vorbehalten blieb. Viel lieber war Brecht das intime Gespräch mit dem gescheiten Feuchtwanger oder das im kleinen Kreis der Freunde. Feuchtwangers politische Ansichten hoben sich meist in der Meinungsrunde ab. Vor allem im deprimierenden Jahr 1941, als die faschistischen Armeen tief in das Territorium der UdSSR vorstießen und nicht wenige Emigranten glaubten, Europa sei an Hitler verloren, zeigte sich Feuchtwanger optimistisch. Brecht freute das. Am 27. Oktober notierte er: „Die nazis dringen in die krim ein, bedrohen den kaukasus, leningrad und moskau, die engländer schauen ,beunruhigt' zu, aber FEUCHTWANGER zeigt alleräußerstes erstaunen, wenn jemand daran zweifelt, daß die russen noch siegen könnten, ein zweifei daran erscheint ihm reiner aberwitz." 5 Als sich eine Woche später Fritz Kortner, Heinrich Mann, Ludwig Marcuse und Brecht bei Feuchtwanger versammelt hatten, zeigte man sich enttäuscht über den schlechten Start der britischen Offensive in Libyen. Feuchtwanger teilte diese Meinung auch diesmal nicht. Die Engländer arbeiteten etwas langsamer, doch am Ende werde Nazi-Rommel doch geliefert sein. Hier war nicht einmal Brecht bereit, ihm so ohne weiteres zu folgen, „ich selber meine, daß keine waffe so jung sein kann, daß sie nicht versagen muß in den händen einer klasse, die so alt ist wie die englische aristokratie." 6 Tief beeindruckt war Brecht über den entschlossenen, alle Möglichkeiten mobilisierenden 4

5 6

Hanns Eisler, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, übertragen und erläutert von Hans Bunge, Leipzig 1975, S. 48 f. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 1938—1955, Berlin und Weimar 1977, S. 191, 27. Oktober 1941. Ebenda, S. 199, 3. Dezember 1941.

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Widerstand der Sowjets. Hier stimmte er mit Feuchtwanger überein, dessen allgemeinen Optimismus er jedoch nicht teilte. Brecht lenkte das Gespräch von der Libyen-Offensive auf den Widerstand der Rostower Bewohner, die sich den in ihre Häuser eindringenden Soldaten mit Bratpfannen zur Wehr setzten, so den Krieg zu ihrer persönlichen Sache machend. Die faschistische Presse fand eine solche Haltung empörend, sie verstoße gegen das Kriegsrecht. Der alte Heinrich Mann stellte sich ganz auf die Seite Brechts, wenn er bemerkte: ,„ja, tanks sind erlaubt, aber niqht bratpfannen.'" 7 Eines der häufigsten Gesprächsthemen, nicht nur im Hause Feuchtwangers, war das Phänomen Hitler. Der Autor historischer Romane sah darin für sich ein Arbeitsproblem. Feuchtwanger kam immer wieder darauf zu sprechen. Brecht notierte ein wenig mitleidig: „feuchtwanger und andere können mit dem phänomen HITLER nicht fertig werden, weil sie das phänomen .herrschendes kleinbürgertum' nicht sehen, das kleinbürgertum ist ökonomisch nicht eine selbständige klasse. es bleibt immer objekt der politik, jetzt ist es objekt der großbürgerlichen politik." 8 Tags darauf, am 28. Februar 1942, kamen die Feuchtwangers zum Abendessen zu Brechts. Das Thema vom Vortage „Ist Hitler ein Hampelmann?" wurde wieder aufgenommen. Brecht und Feuchtwanger vertraten hier kontroverse Standpunkte. Feuchtwanger wollte Hitler keinen Plan, keine originelle Idee zugestehen. In seinen Augen war er ein unbedeutender Mime, den die Reichswehr engagiert habe, ihre Geschäfte zu besorgen. Gerade aus der Sicht der Kunst fand Brecht einen solchen Standpunkt unzulänglich, weil dann Hitler in der Dramatik nur noch als unbedeutend, als Charge gestaltet werden könnte. Er selber hatte das Problem dahin gehend gelöst, daß er Hitler nicht in erster Linie als großen Verbrecher darstellte, sondern als Verüber großer Verbrechen. Aber das ganze Thema wäre Brecht nicht so wichtig gewesen, hätte er nicht in dem methodischen Ausgangspunkt Feuchtwangers das Problem gesehen. Wieder sah Brecht bei seinem Freund gesellschaftliche Fragen von einem geistigen Aristokratismus her beurteilt: „der stil ist der mann." 9 Im Unterschied zu Feuchtwanger hatte Brecht keine Bedenken, Hitler als „großen Mann" aufzufassen, wenn bewußt gemacht wird, wohin „bürgerliche große" führen kann. Brecht argumentierte: „man bekämpft hitler nicht, wenn man ihn als besonders unfähig, als auswuchs, perversität, humbug, speziellen pathologischen fall hinstellt und ihm die andern bürgerlichen politiker als muster, unerreichte muster, vorhält; wie man ja auch den faschismus nicht bekämpfen kann, wenn man ihn vom .gesunden' bürgertum (reichswehr und industrie) isolieren und ,allein' beseitigen will, würde man ihn goutieren, wenn er ,groß' wäre? — aber auch eine tiefgreifende dramatische darstellung zb scheint mir nicht möglich, wenn übersehen wird, daß er eine wirklich nationale erscheinung, ein ,volksführer' ist, ein schlauer, vitaler, unkonventioneller und origineller politiker, und seine äußerste korruptheit, Unzulänglichkeit, brutalität usw kommen erst dann wirkungsvoll ins spiel.. . . die bestie, sehr krank, sehr gefahrlich, sehr stark, denkt scharf im detail, drückt sich am schlauesten aus, wenn sie sich verworren ausdrückt (der stil ist die Situation), handelt sprunghaft, krankhaft, ,intuitiv', produziert dauernd tugenden, die aus not gemacht sind, die berühmten ,stoße' sind lauter gegenstöße zu anti[zi]pierten stoßen der feinde." 10 Feuchtwanger, der sich an die Meinung klammerte, Hitler sei ein Nichts, kam damit auch bei der amerikanischen Presse nicht an. Einen solchen Artikel über Hitler druckte sie auch von Feuchtwanger nicht. Mit 7 8 9 10

Ebenda. Ebenda, S. 234, 27. Februar 1942. Ebenda, S. 235, 28. Februar 1942. Ebenda, S. 235f.

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nicht zu übersehendem Hohn kommentierte Brecht: „aber der amerikaner versteht überhaupt nicht, wie ein mann nichts sein könnte, wenn die USA 40 milliarden zu seiner Vertilgung ausgeben wollen." 11 Die Diskussion um das Phänomen Hitler beschäftigte viele Emigranten. So ärgerte es Kortner, daß jemand zu ihm gesagt hatte, Hitler sei ein zweiter Napoleon. Was er dann nach einigem Nachdenken herausfand, bildete das Satyrspiel zu der ernsthaften Gesprächsrunde Brechts mit Feuchtwanger. Kortner rief Brecht an und teilte ihm mit, für ihn sei Hitler „ein zweiter mussolini" 12 . Durch Feuchtwanger, aber auch einfach durch die Partys, wie sie in Hollywood üblich waren, kam Brecht mit Leuten zusammen, die er gar nicht mochte. So traf er bei Feuchtwanger mit dem Historiker-Schriftsteller Emil Ludwig zusammen, einem der Erfolgreichen der Weimarer Republik, die erfolgreich auch im Exil blieben. ,,. . . ein sehr gehemmter, etwas angetrunkener, subalterner, aber mit dem-,funken' versehener mensch, völlig gesinnungslos, unoriginell, aber dem originellen ausgeliefert, töricht, aber die Weisheit schätzend." 1 3 Seinem Freund Feuchtwanger konnte er nicht verzeihen, daß er diesem Manne einen Aufsatz über Ovid versprach. Da Feuchtwanger herausgefunden hatte, Ovid sei aus Versehen ins Exil geraten, ließ er sich von Brecht nicht bewegen, sein Versprechen gegenüber Ludwig „charaktervoll zu brechen". Mit einiger Betrübnis sah Brecht, wie weit der Forscherdrang zu haltlosen Grundsätzen verführte. Silvester 1941 feierten die Brechts mit Feuchtwangers bei Elisabeth Bergner. An diesem Abend kam, wie sich Brecht ausdrückte, Erich Maria Remarque „hereingetropft". Obwohl Remarque in den USA sich viel energischer antifaschistisch betätigte und auch als Schriftsteller wieder stärker hervortrat als in seinem früheren Exilland Schweiz, galt er auch hier als ein literarischer Lebemann. Außenstehender] schien es so, als müsse er beweisen, daß es auch im antifaschistischen Exil den Playboy gibt. Auf einer Abendgesellschaft im Hause von Salka Viertel antwortete er auf die Frage, ob er Sehnsucht nach Deutschland habe: „Wieso? Ich bin doch kein Jud!" 1 4 Brecht tolerierte jeden Lebensstil, wenn er nicht der Arbeit im Wege stand. Doch wer nach seiner Vorstellung so in den Tag hinein lebte, verdiente keine Schonung. Die Charakteristik Remarques, die er in sein „Arbeitsjournal" eintrug, ist nicht ohne Niedertracht, verglich er ihn doch mit dem faschistischen Dichter Hanns Heinz Ewers, der einen Horst-Wessel-Roman geschrieben hatte: ,,r[emarque] ist im smoking, sieht aus wie hanns heinz ewers, und irgend etwas fehlt mir an seinem gesicht, wahrscheinlich ein monokel." 1 5 Andererseits zeigte sich immer wieder, wie verbunden Brecht Menschen blieb, auch wenn sie sich auf einer bestimmten Wegstrecke von ihren früheren Einsichten losgesagt hatten, so Alfred Döblin, mit dem er in Berlin oft diskutiert hatte. Dessen Ansichten über das Epische schätzte er nach wie vor. Zusammenkünfte mit Döblin waren jedoch selten, der, ohne Auto, auf die Hilfe von Freunden angewiesen war, wollte er mit anderen ins Gespräch kommen. Ohne Verdienstmöglichkeiten, ohne Erfolg, ohne Anerkennung in der Öffentlichkeit, sich nur auf wenige Freunde stützend, mußte er seine Isolierung als total empfinden. Brecht fand vor allem die finanzielle und häusliche Lage Döblins empörend. Dabei übertraf nach 11 12 13 14 15

Ebenda, S. 192, 1. November 1941. Ebenda, S. 211, 29. Dezember 1941. Ebenda, S. 221, 24. Januar 1942. Reinhardt, Der Liebhaber, S. 270. Brecht, Arbeitsjournal, S. 212, 31. Dezember 1941.

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seiner Meinung dieser Romancier alles, was sich an deutschen Schriftstellern in Kalifornien niedergelassen hatte. Tatsächlich ging es Döblin noch weit schlechter als Brecht selber. Nachdem sein Vertrag mit der Filmfirma M G M ausgelaufen war, bezog er eine wöchentliche Arbeitslosenunterstützung von 18 Dollar, „abens bei döblins, kleines möbliertes haus für 60 dollar im monat, aus dem sie heraus müssen, jetzt, wo er (zusammen mit 8 andern, darunter heinrich mann, die, aus frankreich ankommend, picturewriterkontrakte bekamen) fired ist. er steht vor dem nichts, zeigt aber seinen alten berliner humor. was für ein geschäft aufmachen? um ein arztexamen zu machen, müßte er ein jähr studieren, als healer müßte er englisch können (ich kann nich 'nen mann in hypnose ersuchen, er soll mir'n wort sagen, das mir für ihn fehlt)." 16 Auch das Filmstoryschreiben verlief für Döblin noch unerfreulicher als für Brecht, da er seinen monatlichen 100-Dollar-Scheck von 10 Uhr bis 17 oder 18 Uhr im Office absitzen mußte. Im Unterschied zu Brecht, der sich bereit fand, hollywoodgemäß zu schreiben, erklärte Döblin, daß er sich nicht verkaufen werde. Ein solcher Standpunkt mußte hier, wo alles an der Höhe der Kaufsumme gemessen wurde, völlig unverständlich erscheinen, einfach schwachsinnig. Zur weiteren Isolierung trug bei, daß er den Erfolgsschriftstellern vorwarf, sie würden ihren Wohlstand mit der Preisgabe ihrer dichterischen Integrität erkaufen. So bezog er gegenüber Feuchtwanger eine ähnlich polemische Haltung wie Brecht gegenüber Thomas Mann. In der Kritik an Thomas Mann jedoch, den Döblin für „das Musterbeispiel der großbürgerlichen Degeneration" 1 7 hielt, stimmten sie völlig überein. Als Brecht sein Honorar für „Hangmen" erhielt, verzichtete er auf die finanzielle Hilfe durch den European Film Fund und unterstützte nunmehr Alfred Döblin. Während Brecht an Döblin bewunderte, wie dieser unerbittlich an seinem in den Jahren der Weimarer Republik erarbeiteten schriftstellerischen Standard festhielt und lieber die Rolle eines Don Quijote in Hollywood auf sich nahm, beklagte er, daß sich dieser gesellschaftskritische Dichter dem Mystischen zuwandte und in die Arme der Kirche warf. Brecht, der zwei Tage vor dem Zusammentreffen mit Döblin im April 1942 in sein „Arbeitsjournal" eintrug: „und tag und nacht tobt auf den schneefeldern von smolensk der kämpf um die würde des menschen" 1 8 , mußte es bitter ankommen, wenn Döblin aus seiner antisowjetischen Einstellung auch ihm gegenüber keinen Hehl machte. Leute mit einer solchen Haltung pflegte Brecht sonst zu vergessen. Döblin gegenüber, an dessen Wertschätzung er keine Abstriche machte, empfand er „etwas von dem verständnisvollen entsetzen über einen mitgefangenen, der den folterungen erlegen ist und nun aussagt" 1 9 . Bereits seit der Übersiedlung in die USA bemühte sich Döblin um seine Konversion zur katholischen Kirche. Die für alle überraschende Entscheidung trug er ausgerechnet auf der Feier vor, die die Freunde zu seinem 65. Geburtstag, am 14. August 1943, in dem kleinen Theatersaal von Santa Monica arrangiert hatten. An diesem Tage waren alle gekommen, die etwas mit der deutschen Literatur zu tun hatten, auch jene, die sonst gegenüber dem verbittert polemischen Döblin auf Distanz hielten. D a ß die Feier zustande kam, ging vor allem auf die Initiative von Helene Weigel und Brecht zurück. „Wir alle waren sehr gerührt und wollten jetzt einmal den guten alten Döblin, dem wir alle aus Berlin herzlich verbunden

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Ebenda, S. 188, 25. Oktober 1941. Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. 1: Kalifornien, hrsg. von John M. Spalek und Joseph Strelka, Bern und München 1976, S. 308. Brecht, Arbeitsjournal, S. 253, 12. April 1942. Ebenda, S. 339, 14. August 1943.

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waren, feiern. Und Brechts Haus war der organisatorische Mittelpunkt der Organisation der Geburtstagsfeier von Döblin'" 2 0 , erinnerte sich Hanns Eisler. Er selbst übernahm es, Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann für die Ehrung zu gewinnen. Salka Viertels Bruder, den international gefragten Pianisten Eduard Steuermann, bat er, einen für Döblins Geburtstagsfeier komponierten Klaviersatz zu spielen. Heinrich Mann hielt die Begrüßungsrede und die Laudatio. Die Schauspieler Kortner, Lorre und Granach lasen aus Döblins Werken. Blandine Ebinger sang Berliner Chansons. Es wäre eine wirklich gelungene Feier gewesen, hätte nicht Döblin noch das Wort zu einer Danksagung erbeten, die er benutzte, um ein christliches Glaubensbekenntnis abzulegen. Alle fanden diese Offenbarung peinlich, ja grotesk. Thomas Mann meinte, es sei bedauerlich, daß sich Döblin eine solche Blöße gegeben habe. Ganz und gar zum Narren gehalten fühlte sich Hanns Eisler, der auf Brechts Betreiben alles in die Wege geleitet hatte: „Ich wurde also fast grob. Ich sagte mir, also das geht mir zu weit. Man läuft mir das Haus ein, ich komponiere für diesen Narren ein Musikstück, mein armer Freund Steuermann, statt seinen Urlaub an der Beach zu verbringen, studiert das ein — und ich höre, daß ich Gott suchen soll. Das geht mir zu weit. Ich machte keinen Skandal im Vortragssaal, aber ich verließ so laut und deutlich die Stuhlreihe — wo der Brecht mir immer ,pssst!' nachrief und ging weg und machte ein, wie man sagt,,unangenehmes Aufsehen'. Also das war eine jammervolle Angelegenheit. Es zeigt eben, daß die Familie Brecht — vor allem der Bert; und auch die Helli muß ich rühmen — wirklich freundschaftsfahig sind." 21 Obwohl Brecht das alles auch höchst peinlich fand — seinen Eindruck hielt er in dem Gedicht „Peinlicher Vorfall" fest —, versuchte er sich jedoch in den Mann hineinzudenken, dem die Zeit solche Wunden geschlagen hatte, daß er woanders Trost suchte als in der Hoffnung auf die neue Zeit. Brecht entschuldigte Döblin, aber nicht ohne die gesellschaftlichen Konsequenzen zu markieren, das Defizit an politischer Haltung, das nach seiner Meinung Döblin immer mehr ins Abseits hatte treiben lassen, „ein fatales gefühl ergriff die rationaleren zuhörer,. . . tatsächlich haben besonders harte Schläge döblin niedergeworfen: der Verlust zweier söhne in frankreich, die undruckbarkeit eines 2 400-seiten-epos, angina pectoris (die große bekehrerin) und das leben mit einer ungewöhnlich dummen und spießigen frau. . . . als döblin anfing zu beschreiben, wie mit vielen anderen Schreibern auch er mitschuldig wurde an dem aufstieg der nazis (,sagten nicht Sie, herr thomas mann, er sei wie ein bruder, ein schlechter natürlich', fragte er nach der ersten reihe herunter), und die frage entschlossen aufwarf, warum denn, glaubte ich für minuten kindlich, er werde jetzt fortfahren: ,weil ich die verbrechen der herrschenden vertuscht, die bedrückten entmutigt, die hungernden mit gesängen abgespeist habe' usw. aber er fuhr nur verstockt, unbußfertig, ohne reue fort: ,weil ich nicht gott suchte.' " 2 2 Kalifornien führte Brecht auch weit häufiger mit Thomas Mann zusammen, als sich das je in Deutschland ergeben hätte. Einladungen zum 5-Uhr-Tee mit Thomas Mann gab es zwar für ihn nicht, aber man traf sich in den Häusern, die ebenso den Kontakt zu Thomas Mann wie zu Bertolt Brecht pflegten. Daß Brecht in unmittelbarer Nähe Manns wohnte, änderte nichts an den seit jeher bestehenden Spannungen, die sich im Gegenteil noch verschärften. Gegen Ende des Krieges gab es dafür auch politische Gründe. Doch weitgehend war die Polemik einfach vom Neid Brechts diktiert. Ein untrügliches Gefühl schien ihm zu sagen, daß er nur dann in die erste Reihe deutscher Dichter aufrücken werde, wenn sein 20 21 22

Eisler, Gespräche mit Hans Bunge, S. 77. Ebenda, S. 78. Brecht, Arbeitsjournal, S. 339, 14. August 1943.

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literarischer Ruf an den Thomas Manns heranreiche. Noch glaubte Brecht zu wissen, daß der Thomas-Mann-Kreis in ihm vor allem den erfolgreichen Texter der „Dreigroschenoper" sah. Als letztes Beispiel dafür wertete er die „Furcht und Elend"-Kritik von Hermann Kesten im „Aufbau". Diese Kritik klebte er in sein „Arbeitsjournal", versehen mit der Bemerkung: „interessant, wie versucht wird, bestimmte kunstwerke einfach aus der literatur auszuweisen und sie in besonderen konzentrationslagern unterzubringen, die literatur der niedrigen kann keine hohe literatur sein." 23 Allein schon die Wortwahl, „aus der literatur auszuweisen", in „besonderen konzentrationslagern" unterzubringen, erhellt, was sich da an Haß aufgestaut hatte. Eisler beklagte immer wieder, „der Brecht war gegen den Thomas Mann von einer — ich kann nur sagen: Renitenz!" 24 Obwohl die Abneigung mit Hinweisen auf die Werke gestützt wurde, spielten diese eigentlich gar keine Rolle, weil keiner die des anderen las. Eisler meinte zwar, daß Thomas Mann einige Stücke von Brecht kannte, aber dessen Rolle in der deutschen Literatur begriff er ebensowenig wie Georg Lukäcs. Das Groteske dabei ist, daß es gerade Thomas Mann war, der als erster die Amerikaner mit dem Namen Brecht bekannt gemacht hatte. Als Korrespondent des amerikanischen Magazins „The Dial" wies er im Septemberheft 1923 auf „Trommeln in der Nacht" und im Novemberheft 1924 auf „Eduard" hin und nannte den Autor „ein starkes, aber etwas nachlässiges Talent, das vom deutschen Publikum verwöhnt wird" 25 . Was die Thomas-Mann-Kenntnis Brechts betraf, so urteilte Eisler: „Brecht kannte, glaube ich, Thomas Mann nur von meinen Berichten. So eine Art literarischen Berichterstatter hat Brecht sehr gern gehabt. Denn ich lese auch sehr dicke Bücher. Mir macht's ja nichts aus; denn der Abend ist oft lang, und am Abend kann ich net komponieren. Da berichtete ich Brecht immer über schöne Stellen im ,Zauberberg'. Und er war immer ganz erstaunt, daß da so gute Sachen drin sind. Da meinte er, das müsse man wirklich einmal durchsehen. Er kam nie dazu." 26 Von Seiten Thomas Manns gab es keinen Haß auf Brecht, eher Gleichgültigkeit. Doch die ärgerte Brecht noch mehr. Was ihn aber im amerikanischen Exil am meisten aufbrachte, war die Selbstverständlichkeit, mit der diesem Schriftsteller eine politische Führerrolle zugespielt wurde, hielt er doch gerade ihn in allen Fragen der Politik für am wenigsten kompetent. Eislers Kontakte zu Thomas Mann faßte Brecht als eine Art „Landesverrat" auf. Eisler. hielt Thomas Mann nicht nur für einen großen Dichter, dessen Romane ihm persönlich sehr imponierten, er beurteilte auch dessen politische Aktivität anders als Brecht. Daß Thomas Mann Mut und Engagement im antifaschistischen Kampf bewies, stand für Eisler ganz außer Frage, während Brecht da immer nur Halbheiten, feige Rückzüge und Kompromisse sah. Die Möglichkeiten, die sich für ihn aus seiner Vorzugsstellung in der deutschen Literatur ergaben, daß er vom Ausland aus über den Rundfunk zu den deutschen Hörern sprechen konnte, nutzte er konsequent. Selbst wenn Brecht Thomas Manns Romane nicht mochte, hätte er doch mindestens diese politische Arbeit gegen Hitler würdigen können. Aber nein, er wollte von Thomas Mann immer viel weitergehende Erklärungen unterschrieben haben. Während Brecht bei Schönberg sogar ausgesprochen reaktionäre Ansichten tole23 24 25

26

Ebenda, S. 276, 8. Juni 1942. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge, S. 22. Auf diese frühen Besprechungen von Brecht-Stücken durch Thomas Mann hat erstmals Barbara Glauert aufmerksam gemacht, Brecht-Jahrbuch 1976, Frankfurt a. M. 1976, S. 210f., zit. nach: James K. Lyon, Bertolt Brecht in Amerika, Frankfurt a. M. 1984, S. 353. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge, S. 23.

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rierte, gab es bei Thomas Mann keine Schonung, wenn er politisch nicht mit seiner Meinung übereinstimmte. Aber auch in der Zustimmung hätte er ihn politisch nicht für voll genommen. Brechts tolerantes Verhalten zu Arnold Schönberg wurde allerdings nur dadurch erreicht, daß Eisler ihn so in die Kur nahm, daß er alle Polemik gegenüber dem großen Musiker zurückstellte und sie nur seinem „Arbeitsjournal" anvertraute. Aber selbst dort blieb er tolerant und voller Hochachtung. Ihn zu einer ähnlichen Haltung gegenüber Thomas Mann zu bewegen, gelang Eisler nicht, obwohl er dazu auch die Hilfe Lion Feuchtwangers in Anspruch nahm. „Wenn der Thomas Mann bei mir war, habe ich immer wieder auch versucht, den Brecht einzuladen. Auch der Feuchtwanger. Sie sehen, was für Probleme man hatte: Wen ladet man ein! Auch solchen Unsinn gab es eben. . . . Kurz und gut: Mißtrauen, Renitenz bis zu bösartigen lauten Bemerkungen machten ein Zusammensein von Thomas Mann und Brecht ziemlich unangenehm. Vor allem war das Alter Thomas Manns. Er war bereits also aus dem Schußalter heraus. Und was soll das? Also warum das?" 2 7 Wenn auch dieser Versuch einer Vermittlung mißlang, so muß Eisler gerade im amerikanischen Exil ein äußerst nachhaltiger Einfluß auf Brecht eingeräumt werden. Was ihm nicht gelang, gelang niemandem. Im Unterschied zu Brecht war Eisler sehr belesen. Wirkliche Belesenheit ist ja ebenso selten wie große Begabung. Der innere Antrieb dazu kommt nicht zuletzt aus sublimer Langeweile, die aber Brecht überhaupt nicht kannte. Einen solchen Zustand begriff er gar nicht. Brecht vermochte mit Gelesenem, auch wenn nur durch andere übermittelt, immer viel anzufangen. Ihm genügten Bruchstücke. Das Fragmentarische war ihm am liebsten. Sich in ein Gesamtwerk einzulesen, in eine fremde Gedankenwelt Schritt für Schritt einzudringen, das lag ihm gar nicht. Er suchte immer nur das, was er auf seine Weise gebrauchen konnte. Wenn Brecht den Eindruck machte, er sei belesen, so eigentlich nur deshalb, weil er erstaunlich viel Material aufnahm und verbrauchte. Dabei erschien ihm der Umgang mit so belesenen Leuten wie Eisler und Feuchtwanger lebensnotwendig. Während er aber Feuchtwanger zu sehr in der Tradition befangen sah, wußte er von Eisler, daß der sich auf die schwierige Operation verstand, das Technische vom Inhaltlichen zu lösen. Bei einem Dialektiker wie Eisler konnte er sicher sein, daß er ein Werk von den verschiedenen Seiten durchdachte und nicht nur vom künstlerischen Geschmack her urteilte. Hier lag sozusagen der geheime Einfluß, den Eisler auf Brecht zu nehmen verstand. Wenn er einen längst vergessenen Schriftsteller empfahl, wenn er auf klassische Dichter verwies, die von der Reaktion genutzt wurden — wie der vom Faschismus mißbrauchte Hölderlin —, konnte Brecht sicher sein, daß da etwas dran war. Wenn Eisler das musikalische Genie seines Lehrers Schönberg rühmte, der politisch der Monarchie nachtrauerte, so tat er das nicht nur aus Liebe zu seinem Lehrer, sondern aus der Erkenntnis, daß der künstlerische Materialfortschritt nicht immer einhergeht mit dem Verständnis für den politischen Fortschritt. In Hollywood traf Brecht auch mit der ersten Garnitur des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, zusammen, mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und in diesem Umfeld auch mit dem Physiker und Philosophen Hans Reichenbach. Obwohl sich Brecht sehr gern mit Wissenschaftlern unterhielt, ja das Gespräch mit ihnen geradezu suchte, selbst wenn sie ganz andere Haltungen als er einnahmen, verlief die Begegnung mit den Vertretern der Frankfurter Schule eher distanziert bis ausgesprochen polemisch, ja feindlich. Allerdings darf man sich nicht jedes der Gespräche so polemisch aufgeladen vorstellen, wie das einige Notierungen des „Arbeitsjoürnals" nahe27

Ebenda, S. 22f.

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legen. Brecht bezog von diesen Leuten auch ganz sachliche Auskünfte, an denen er immer interessiert war, und benutzte sie gelegentlich, wie zum Beispiel Adorno, um Beziehungen zu knüpfen bzw. zu erneuern. Das Institut für Sozialforschung war 1934 nach N e w Y o r k emigriert. Horkheimer und Adorno übersiedelten 1941 nach Kalifornien, zur selben Zeit, als sich Brecht hier niederließ. Sie blieben weiterhin dem in New York fortbestehenden Institut verbunden, entwikkelten aber im Raum von Los Angeles — Hollywood ein reges Vortragsleben im kleinen Kreis. Die Mitglieder des Instituts trafen sich in regelmäßigen Abständen bei Horkheimer oder Adorno zu Seminaren und Gesprächen. Man versuchte, nicht immer unter sich zu bleiben, und lud Wissenschaftler und Künstler ein, die hier lebten und von denen man sich Anregungen versprach. Als Brecht mit diesem Kreis bekannt wurde, lagen von einzelnen Mitgliedern wichtige Arbeiten vor' von Horkheimer der Aufsatz „ N e u e Kunst und Massen-Literatur" (1941), von Herbert Marcuse das Hegel-Buch „Vernunft und Revolution" (1941). Brecht lernte die meisten Mitglieder des Instituts gleich im ersten Jahr seines USA-Exils kennen. Noch nicht einen Monat im Lande, traf er bei einer Gartenparty, wie er im „Arbeitsjournal" formulierte, auf „den doppelclown horkheimer und pollock . . . die zwei tuis vom frankfurter soziologischen institut. horkheimer ist millionär, pollock nur aus gutem hause, so kann nur h[orkheimer] sich an seinem jeweiligen aufenthaltsort eine professur kaufen ,zur deckung der revolutionären tätigkeit des instituts nach außen hin', diesmal ist es an der columbia, aber seit die großen redsrazzias stattfinden, hat h[orkheimer] die lust verloren, ,seine seele zu verkaufen, was an einer Universität doch immer mehr oder minder stattfindet', und sie ziehen in den paradiesischen westen. was sind akademische palmen! — mit ihrem geld halten sie etwa ein dutzend intellektuelle über wasser, die dafür alle ihre arbeiten abliefern müssen ohne die gewähr, daß die Zeitschrift sie jemals druckt, so können sie behaupten, daß ,das geld des instituts zu retten' ihre hauptsächlichste revolutionäre pflicht durch all die jähre war." 28 In welchem Maße Brecht diese Gelehrten verachtete oder sich von ihnen distanzierte, läßt sich viel deutlicher an dem Grad der Übertreibung als an den von ihm mitgeteilten Fakten ablesen. Immer dort, wo bei ihm die Pointe wichtiger wurde als der Fakt, konnte man sicher sein, daß er ganz auf Polemik und Aggression aus war. Horkheimer gehörte damals weder zu den Millionären, noch kaufte er sich Professuren. Der Hohn, der aus der Eintragung spricht, zielte darauf, daß er diesen Leuten einfach nicht zugestehen wollte, das Wort „revolutionär" in den Mund zu nehmen. Etwas glimpflicher verfuhr er mit Adorno, „wiesengrundadorno hier, er ist rund und dick geworden und bringt einen aufsatz über RICHARD W A G N E R , nicht uninteressant, aber ausschließlich nach Verdrängungen, komplexen, hemmungen im bewußtsein des alten mythenschmieds stöbernd, in dieser routine der lukäcs, bloch, stern, die alle nur eine alte psychoanalyse verdrängen." 29 In den zwanziger Jahren hatte Adorno über die Funktion der Musik im Werk Brechts geschrieben, doch dürfte es zwischen beiden kaum mehr als flüchtige Begegnungen gegeben haben. Brecht seinerseits schilderte Adorno und Horkheimer so, als kannte er sie von früher. Fest stehen dürfte, daß Walter Benjamin, der gleichfalls zum Institut gehörte, ihm über seine unerquicklichen Auseinandersetzungen mit Adorno und Horkheimer berichtet hat, so daß sich Brecht über das Institut hinreichend unterrichtet glaubte. Daß er von ihren Werken kaum etwas kannte,

28

Brecht, Arbeitsjournal, S. 181, /August 1941/.

29

Ebenda, S. 219, 18. Januar 1942.

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Werner Mittenzwei

läßt sich schon daraus entnehmen, daß er sie in ihren wissenschaftlichen Positionen unterschiedslos über einen Kamm scherte. Zuwider war Brecht bei den Frankfurtisten vor allem ihr Einerseits — Andererseits. Bei ihnen blieb immer alles in der Schwebe, schien alles auf Vermittlungen aufgebaut. Hier lag ein wesentlicher Grund, weshalb sich Brecht mit ihrer Theorie nicht beschäftigte. Sie lieferte ihm keinen Impuls in Richtung auf die wirklichen Kämpfe. So gern er sich mit Theorien beschäftigte, die unter den Marxisten-Leninisten als umstritten oder abwegig galten, glaubte er bei den Frankfurtisten nichts erkennen zu können, das ihn zu einer produktiven Auseinandersetzung reizte. So kam es, daß sich Brecht völlig desinteressiert an einer Theorie zeigte, deren Hauptkategorien auch die Schlüsselbegriffe seiner Methode bildeten: Kritik, Vernunft, Aufklärung, Dialektik. Der Unterschied, ja der Gegensatz, trat sofort zutage, wenn ihr Gebrauch zur Sprache kam. Derart verwerfenswert wie Brecht die Theorien der Frankfurtisten hinstellte, erwiesen sie sich jedoch keineswegs. Wenn er sich damit auseinandergesetzt hätte, wäre eine wichtige philosophische Debatte zustande gekommen. Das kalifornische Exil bot dazu eine Möglichkeit, die später gar nicht mehr denkbar erschien. Brecht etablierte sich in der Literatur als Philosoph, indem er bestimmte philosophische Gedanken so produktiv fand, daß er sie mit dem Methodenverständnis seiner Poesie weiterentwickelte und ihnen dadurch eine Dimension verlieh, die sich dann vom Theoriedenken der Philosophie abhob. Die Arbeiten von Adorno, Horkheimer, Pollock und Marcuse boten ihm dazu keinen Anlaß. Die polemischen, auf Distanz gehaltenen Beziehungen zwischen Brecht und den Frankfurtisten erklärten sich zu einem Großteil aus dem Bild, das jeweils eine Seite von der anderen besaß. Für die Frankfurtisten, besonders für Horkheimer und Adorno, galt Brecht als ein schlimmer Vulgärmarxist, als ein skrupelloser Vereinfacher. In ihren Augen vertrat er einen kruden Marxismus und einen ganz und gar undialektischen Optimismus. Seine konsequente Verbundenheit mit dem Proletariat betrachteten sie als völlig verfehlt und hielten sie wahrscheinlich nicht einmal für echt. Dagegen war Eisler für sie ein gebildeter, philosophischer Kopf. Brecht jedoch nicht. Da sie von ihm nur grobschlächtige Polemik erwarteten, luden sie ihn gar nicht erst ein. Mehr Verständnis besaßen sie für seine Dichtung, doch gerade die fanden sie durch vereinfachtes philosophisches Denken ruiniert. Wenn ihr Blick auf seine dichterische Bedeutung auch weniger durch Tradition verstellt war als bei Lukäcs, so veranlaßte doch erst der beginnende Weltruhm Brechts sie zu einer anderen Wertung. Brecht wiederum sah in den Frankfurtisten nur „Halbmarxisten", denen es an jeder echten Polemik und Kampfposition zum Kapitalismus fehlte. Er hielt Sie nur für fähig, den Untergang der Klasse wahrzunehmen, zu der sie sich nach wie vor bekannten. In seiner Dichtung charakterisierte er sie als Tuis, die ihren Kopf an die Unternehmer vermieten, aber vorgeben, für die Allgemeinheit zu denken.

K U R T PÄTZOLD

Die Ermordung des Berliner Zoologen Walther Arndt im Jahre 1944 und die vergeblichen Versuche zur Rettung seines Lebens

Wenige Tage bevor die antinazistischen Putschisten 1944 versuchten, Hitler zu töten und die Macht an sich zu bringen, wurde in Brandenburg a. d. Havel ein Mann mit dem Fallbeil ermordet, den die Geheime Staatspolizei am 12. Januar 1944 wegen Wehrkraftzersetzung und Vergehen gegen das Heimtückegesetz festgenommen hatte. Die Anklage gegen ihn war vom Oberreichsanwalt am 4. April erhoben und am 27. April dem Volksgerichtshof zugestellt worden. Am 11. Mai hatte dieses Gericht unter dem Vorsitz Roland Freislers getagt und das Todesurteil ausgesprochen. Am 31. Mai lag der Gnadenbericht vor, und am 8. Juni wurde die Entscheidung über die Vollstreckung des Todesurteils gefallt.1 Soweit die bürokratisch verzeichneten Tatsachen. Am Ende wurde ein Menschenleben vernichtet. Es war das des Zoologen Walther Arndt, Professor und Kustos am Zoologischen Museum der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin.2 Nichts deutet darauf hin, daß der Wissenschaftler in irgendeiner Verbindung zu jenen seiner Berufskollegen oder zu anderen Personen gestanden hätte, die zum weitschichtigen Organisationsnetz der Verschwörer des 20. Juli gehörten. Alles, was wir von Waither Arndt wissen, spricht dafür, daß er nach Charakter und Lebensweise ein Einzelgänger war. Um die Politik im großen wie im kleinen hatte er sich weder während der Jahre der Weimarer Republik noch in denen der faschistischenJDiktatur sonderlich gekümmert, Organisationen sich nicht angeschlossen, Ämter außerhalb von Beruf und Wissenschaft nicht ausgeübt. Er lebte unverheiratet, unweit seiner Arbeitsstätte, des Zoologischen Museums, nach einem festen und strengen Rhythmus, der durch seine wissenschaftlichen Pflichten und Arbeiten bestimmt wurde. Wann dieser Mann in inneren Konflikt mit dem Faschismus und dem von ihm verursachten Krieg geriet, läßt sich nicht ermitteln. Daß er jedoch nie ein engagierter Parteigänger der Machthaber war, darauf deutet zumindest die Tatsache hin, daß trotz aller auf seine Begnadigung gerichteten Anstrengungen von ihm nicht mehr politische Beziehungen zum Regime aufgefunden werden konnten als seine Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und seine Spenden für das Winterhilfswerk (WHW). Überliefert ist eine einzige knappe Äußerung aus dem Jahre 1937, die nicht mehr als eine Andeutung davon

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Die Angaben entstammen dem Mordregister des Reichsjustizministeriums, im ZStA Potsdam, Kopie im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (weiterhin: UA), Personalakte Walther Arndt, Bd. 86, 1. Alle in diesem Beitrag vorkommenden weiteren biographischen Angaben zur Person Arndts entstammen seinen Eintragungen in die als „Personalnachrichten" bezeichneten Fragebögen. UA, Personalakte Arndt, Bd. 86, 1 und 2.

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gibt, daß der Zoologe ein kritisches Verhältnis zur faschistischen Rassenpolitik hatte. Als ihn ein Buchhändler, dem er das Manuskript einer wissenschaftlichen Arbeit zur Durchsicht ausgehändigt hatte, darauf aufmerksam machte, daß sich unter den Autoren, auf die sich Arndt berief, auch solche jüdischer Herkunft befanden, entgegnete Arndt, daß dies für ihn ohne Belang wäre, sondern nur für jene Bedeutung haben könnte, die zum Bereich des Reichspropaganda-Ministeriums gehörten, wozu er sich nicht zähle. 3 Nachweisbar ist, daß der Wissenschaftler in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 zu politischen Erkenntnissen vorgestoßen war, die ihn in vollständigen Gegensatz zu den faschistischen Machthabern setzten und den Volksgerichtshof zu dem Urteil gelangen ließen, Arndt sei „ein gefahrlicher Defätist'" 4 . Aus dem inhaltlich knappen, juristisch schludrigen, moralisch von Menschenverachtung zeugenden Urteilstext Freislers lassen sich Erkenntnisse rekonstruieren, die jenen durchaus verwandt sind, welche auch manche Putschisten des 20. Juli 1944 leiteten und bestimmten. Da findet sich die von Arndt im August 1943 ausgesprochene Ansicht, daß der Krieg verloren sei. Seine Ansicht gründete sich, auch hier blieb die Überlieferung lückenhaft, zum einen darauf, daß das faschistische Deutschland soeben seinen Hauptverbündeten, Italien, verloren hatte, und Arndt mag sich in diesem Zusammenhang daran erinnert haben, daß der Abfall der Verbündeten bereits im ersten Weltkrieg das Ende, die Niederlage ankündigte. Der Zerfall des faschistischen Regimes in Italien 1943 hat offenbar auch bei anderen konservativen Kreisen als Vorbote der erneuten militärischen Niederlage und als Muster für die Ablösung der Naziherrschaft in Deutschland gegolten. So äußerte sich ein Potsdamer Verlagsbuchhändler, der Mitglied der dortigen Kasinogesellschaft war, 1943 dahin, daß eine Gruppe von Militärs auch in Deutschland die Macht übernehmen und die so eingeleitete Entwicklung zur Wiedererrichtung der Monarchie hin gesteuert werden solle. Nach Denunziation vom Volksgerichtshof am 15. Februar 1944 zum Tode verurteilt, wurde das Urteil am 4. Dezember 1944 vollstreckt. Das Bewußtsein vom verlorenen Krieg prägte sich bei Arndt weiter durch das unmittelbare Erleben der immer verheerenderen anglo-amerikanischen Luftangriffe auf das Stadtgebiet Berlins aüs. Unter dem direkten Eindruck eines solchen Angriffs machte er, soweit wir wissen, zum ersten Male seinem Herzen Luft — gegenüber einer Jugendfreundin im heimatlich-schlesischen Landeshut, wo Arndt geboren und aufgewachsen war. Schon da geriet er an eine Denunziantin. Sie, die Arndt vor Freislers Tribunal gegenübergestellt wurde, hatte sich die wenigen Äußerungen ihres einstigen Vertrauten notiert, so daß eine gewisse Verläßlichkeit der Überlieferung angenommen werden kann. 5 Arndt hatte sich auch zu der Erkenntnis durchgearbeitet, daß die bevorstehende Niederlage im Kriege geschichtlich folgenreich sein werde. Es sei, so verzeichnet das Urteil seine 3

Die wissenschaftliche Arbeit und Haltung Arndts und die aus ihr hervorgegangenen wichtigsten Publikationen stellt D. H. H. Kühlmann in einer vom Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin herausgegebenen Broschüre vor: „Der Wissenschaftler und Antifaschist Professor Dr. Dr. Walther A r n d t " (Berlin o. J.).

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Diese wie die folgenden Auszüge aus dem Urteil entstammen teils der Kurzbegründung des Urteils, die der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit Schreiben vom 10.8.1944 dem Universitätskurator übermittelte (UA, Personalakte Arndt, Bd. 86, 1), teils seiner Langfassung, abgedruckt bei Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im national-sozialistischen Staat, Stuttgart 1974, S. 358ff. Bei den Denunzianten Arndts handelte es sich um Hanneliese Mehlhausen sowie deren Ehemann, den Arzt Siegfried M., sowie den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zoologischen Museums Wolfgang Stichel, der sich seinerzeit bei der Waffen-SS befand.

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Die Ermordung des Zoologen Walther Arndt

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Worte, „Schluß mit dem Deutschen Reich". 6 Eindeutig war auch Arndts Ansicht über die Kriegsschuldfrage. „Wir seien schuld am Kriege", hatte er sich hören lassen — an einem Kriege, der nur noch die Frage offenlasse, „wieweit die Schuldigen" an seinem Ende „bestraft [werden] würden". 7 An diesen Äußerungen ließ sich nichts abmildern, und nach allem, was bekannt ist, unterließ der angeklagte Hitlergegner vor Gericht auch jeden Versuch, sich auf ihre abschwächende Ausdeutung einzulassen. Es braucht folglich wenig Phantasie, um sich vorzustellen, was Freisler und die ihn am Richtertisch flankierenden Nazis, ein Kammergerichtsrat, ein SS-Obersturmbannführer, ein SA-Oberführer und ein NSDAPOrtsgruppenleiter — die übliche skrupel-und gnadenlose Gesellschaft —, sich angesichts der klaren Vorhersage Arndts gedacht haben mögen, daß ihre Richter bereits nahten. Die zusammenfassende Begründung des mörderischen Urteilsspruchs lautete dann auch: „Er mußte zum Tode verurteilt werden, damit die Siegesgewißheit und damit die Kampfkraft unserer Heimat unangetastet bleibt."8 Diese Formulierung enthielt eine unfreiwillige, die grundlegend veränderte Situation kennzeichnende Selbstentlarvung. Siegesgewißheit konnte durch den Hinweis auf Kriegserfolge faschistischer militärischer Verbände und Waffen nicht mehr begründet werden — sie sollte nun aus der Liquidierung derjenigen geschöpft werden, die diesem Regime keine Siegesaussichten mehr zubilligten und dies auch aussprachen. Die „Kampfkraft unserer Heimat" erwuchs aus einer Siegesgläubigkeit, der die rationalen Argumente total verlorengegangen waren. Die mystifizierte Betrachtung des Zeitgeschehens strebte einem Höhepunkt zu, und niemandem war es erlaubt, den Schleier, den die Nazipropaganda tagtäglich zwischen die Menschen und die Tatsachen zu legen suchte, hinwegzuziehen. Nun gab es bereits vor dem Urteil gegen Arndt Richtersprüche, die Menschen auf das Schafott schickten, einzig weil sie die ungeschminkte Wahrheit ausgesprochen hatten. Neu war Mitte 1944 jedoch, daß aufgrund zweier Denunziationen ein Wissenschaftler von hohem internationalem Rang und Ansehen zum Tode verurteilt und dann auch hingerichtet wurde. Berücksichtigt man, daß zwischen den verhängnisvollen Gesprächen, die Arndt im Juli und September 1943 vertrauensselig oder aufgebracht führte, und seiner Verhaftung im Januar 1944 Monate lagen und die Denunziationen offenkundig alsbald nach diesen Unterhaltungen erfolgten, so kann man davon ausgehen, daß sich die Geheime Staatspolizei vor der Verhaftung davon überzeugt hatte, daß der „Defätist" in keinerlei regimefeindlichen organisatorischen Beziehungen zu Widerstandskräften stand und daß er seine antinazistische Gesinnung nur gelegentlich preisgegeben hatte. Auf diesen Sachverhalt gründete sich auch die Hoffnung derer, die das Leben des Verurteilten noch glaubten retten zu können. Arndt unternahm in dieser Richtung selbst keinen Schritt. Das Gnadengesuch seines Rechtsanwalts, am 12. Mai 1944 im Namen des Mandanten eingereicht, machte den Versuch, die Bedeutung der nazifeindlichen Äußerungen zu relativieren, und bediente sich zu diesem Zweck einer Reihe vorwiegend psychologischer Argumente wie des Verweises auf die Weitabgewandtheit des in seine Forschungen vertieften Wissenschaftlers und auf dessen Erregung angesichts der Gefahr, auch sein Lebenswerk im Bombenkrieg untergehen zu sehen.9 6

Siehe Anm. 4.

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Siehe ebenda.

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Siehe ebenda.

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Arndts Verteidiger vor dem „Volksgerichtshof' war der Rechtsanwalt Arno Weichmann. Gegen diese Argumentation hatte schon die Urteilsbegründung des Senats erklärt, Arndt, der eine „Führerverantwor-

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Demokratie, Sozialismus

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Was auf den „Fall Arndt" ein zusätzliches Interesse des Historikers lenkrund ihn zu einem — gewiß sehr kleinen — Zugang zur Erörterung breiterer Fragestellungen erst werden läßt, ist der Umstand, daß sich eine relativ breite Kampagne für Arndts Begnadigung entwickelte. Sie umfaßt eine Reihe von nicht leicht zu interpretierenden Tatsachen und wirft ein Licht auf die innenpolitische Situation in der Jahresmitte 1944. Motor und Schaltzentrale der Anstrengungen für die Begnadigung Walther Arndts wurde dessen Sekretärin, Erika Land, die nach Arndts Verhaftung ihre Stelle im Zoologischen Museum verlor und per Kriegseinsatz zu dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch versetzt wurde. Sie vor allem, in Verbindung mit dem Direktor des Zoologischen Museums Professor Hans von Lengerken, mobilisierte eine große Zahl von Fachkollegen des Gelehrten, die in eigenen Stellungnahmen für Arndts Begnadigung eintraten. Wissenschaftler in Berlin, Wien, Prag, München, Straßburg und anderen Städten lieferten mit unterschiedlicher Diktion, in unterschiedlicher Ausführlichkeit Erklärungen und Gutachten, die sich für Arndt und die Umwandlung des Todesurteils in eine Freiheitsstrafe aussprachen. 10 Hans von Lengerken schrieb nach Arndts Verhaftung einen vom 10. Februar 1944 datierten Brief an den SS-Obersturmbannführer Baumert, der Stabsführer des Persönlichen Stabes beim Reichsführer SS Heinrich Himmler war. Wie vorher schon in einem Telefonat stellte Lengerken auch brieflich .seinen Kollegen als einen weltfremden Gelehrten und politisch harmlosen Menschen hin. Mehr als einen Monat später, andere Nachrichten liegen nicht vor, erhielt Lengerken von einem Mitarbeiter des Sven-Hedin-Instituts für Innerasienforschung, der sich auf den SS-Offizier aus Himmlers Umgebung berief, die Nachricht, es sei aussichtslos, sich für Arndt einzusetzen. Dieser solle gesagt haben, „die Judenaktion vom 9. 11. 1938 wäre der Anfang zum Zweiten Weltkrieg gewesen, so daß wir jetzt dieses Verbrechen büßen müssen". Von einer derartigen Äußerung Arndts findet sich in allen anderen Quellen nichts. Lengerken ließ sich durch diese Nachricht jedoch nicht davon abhalten, weiter für Arndts Überleben einzutreten. Er stand an der Spitze derjenigen, die sich in persönlichen schriftlichen Stellungnahmen nach Prozeß und Todesurteil weiter zugunsten ihres Kollegen aussprachen und die Adressaten dadurch zu beeindrucken suchten, daß sie auf die Gefahr des Verlusts der Monopolstellung Deutschlands auf dem von Arndt vertretenen Spezialgebiet und die dann eintretende Nachfolgeschaft der USA aufmerksam machten. Lengerken war sich offenbar darüber klar, daß nur außerordentlicher Einfluß, den er vor allem auf Seiten des SS-Apparates sah und zu mobilisieren trachtete, Arndts Tod würde verhindern können. Daher wandte er sich an einen der führenden Nazis der Berliner Universität, den Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, Franz Six, der einen hohen SS-Rang bekleidete und gleichzeitig als Gesandter 1. Klasse die Kulturabteilung im Auswärtigen Amt leitete. Six antwortete auf das Ansinnen, sich zugunsten Arndts zu verwenden, aber ausweichend; die Rechtsabteilung des Ministeriums sei grundsätzlich zu einer Stellungnahme bereit, jedoch müsse erst das Urteil und zudem die Genehmigung des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop vorliegen, bevor sie tätig werden könnte. Da schrieb man bereits den 16. Juni 1944.

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tung" gehabt hätte, wäre im Gegenteil verpflichtet gewesen, angesichts der Situation erst recht „Kampfwillen" zu zeigen, so daß die äußeren Umstände, unter denen er gegen das Regime Stellung genommen hatte, ihm erschwerend zur Last gelegt wurden. Die Stellungnahmen, mit denen Arndt dem Henker entrissen werden sollte, sind in Abschriften von Erika Land gesammelt worden und finden sich in UA, Personalakte Arndt, Bd. 86, 3. Sie entstammen zum geringeren Teil der Zeit vor dem Prozeß, in der Masse den Wochen zwischen dem 20. Mai und dem 15. Juni 1944 und sind Reaktionen auf das Bekanntwerden des vom Gericht ausgesprochenen Todesurteils.

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Zu denen, die mit Lengerken für Arndts Begnadigung eintraten, gehörten u. a. die Professoren Oskar Heinroth, Direktor des Berliner Aquariums seit 1912; Otto Friedrich Gandert, der Vor- und Frühgeschichtler, Abteilungsdirektor im Märkischen Museum Berlin; der Direktor des Zoologischen Gartens Berlin Dr. Lutz Heck, der auch Leiter der Obersten Naturschutzbehörde im Reichsforstamt war; Dr. Günther Just, Leiter des Erbwissenschaftlichen Forschungsinstituts des Reichsgesundheitsamtes; Ulrich Gerhardt, Universitätsprofessor in Halle und Spezialist für Anatomie und Physiologie der Haustiere; Otto Koehler, Universitätsprofessor in Königsberg; der Zoologe Hans Krieg, Direktor der Zoologischen Sammlungen des Bayrischen Staates; der Zoologe Caesar Boettger, außerordentlicher Universitätsprofessor in Berlin und derzeit Oberst der faschistischen Wehrmacht an der Heeresgasschule in Celle; der Direktor des Instituts für Tierernährungslehre der Berliner Universität Ernst Mangold; der Oberstabsarzt am Zentralarchiv für Wehrmedizin, der 85jährige Ferdinand Pax, Botaniker und Pflanzengeograph, der als früherer Breslauer Universitätsprofessor und Direktor des Botanischen Gartens zu Arndts Lehrern gehört hatte; der Präsident des Ibero-Amerikanischen Instituts Berlin, Botschafter a. D. Faupel; Professor Richard Kolkwitz von der zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gehörenden Biologischen Station Lunz am See (Niederösterreich); der Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart, Direktor der Württembergischen Naturaliensammlung und Vorsitzender des Bundes der deutschen naturwissenschaftlichen Museen Max Rauther; der Direktor des Zoologischen Gartens Breslau Martin Schlott; der Vorsteher des Anatomischen Instituts der Universität Berlin Hermann Stieve; der Kieler Universitätsprofessor und Direktor der Hydrobiologischen Anstalt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu Plön/Holstein August Thienemann; der emeritierte Berliner Universitätsprofessor und frühere Direktor des Zoologischen Museums Berlin Carl Zimmer; der Direktor des Zoologischen Instituts und Museums der Universität Straßburg Hermann Weber, der zugleich Bundesführer des Reichsbundes für Biologie und 1. Vorsitzender der deutschen zoologischen Gesellschaft war. Ohne Arndt zu kennen, verwandte sich der hochbetagte und kranke Geograph Albrecht Penck, der zuletzt bis 1926 in Berlin gelehrt hatte, zugunsten des Verurteilten. Ferdinand Sauerbruch trat mit einem Schreiben vom 12. Juni 1944, das er direkt an Reichsjustizminister Thierack richtete, für die Abschwächung des ergangenen Urteils ein und schrieb, daß er in dieser Angelegenheit auch zu einem persönlichen Gespräch zur Verfügung stehe. Einige Fachkollegen Arndts versprachen sich von ihren Interventionen offenbar größere Wirkung, wenn sie sie unter ausdrücklicher Hervorhebung ihrer faschistischen Ränge ausfertigten und sich so zugleich dem denkbaren Verdacht entzogen, mit ihrer Stellungnahme eine Regimekritik zu verbinden. Der Kustos am Naturhistorischen Museum Wien, Günther Niethammer, verwies auf seinen derzeitigen Dienstrang als SS-Untersturmführer, Adolf Remane, Universitätsprofessor für Zoologie und Meereskunde in Kiel, auf seine Stellung als SA-Sturmführer und darauf, daß er zum Wissenschaftlichen Beirat der Nationalsozialistischen Akademie Kiel gehöre. Der in der SS-Ranghierachie höchstgestellte Fürsprecher Arndts war Eduard Paul Tratz, Salzburg, Leiter der Lehr- und Forschungsstelle „Haus der Natur" in der Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe", der auch Gaujägermeister war und weitere Nazifunktionen innehatte. Wenn im Reichsjustizministerium die Eingaben dieser Wissenschaftler überhaupt ernsthaft geprüft und verglichen wurden, was fraglich ist, so konnte jedenfalls nicht der Eindruck entstanden sein, daß sich eine Gruppe politisch gleichgesinnter Wissenschaftler geäußert hatte. Für das Erfassen der Zeitsituation liegt gerade darin das am meisten Bemerkenswerte: für einen Mann, der sich gegen die Naziherrschaft gestellt hatte, setzten sich 19*

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Fachkollegen ein, deren politischer Standort, soweit er sich festmachen läßt, von dem Konservatismus der Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft, der Albrecht Penck angehörte, bis zu verläßlichster Nazitreue reichte. Dieses Faktum bleibt bedeutsam, selbst wenn man in Rechnung stellen muß, daß der eine oder andere Fürsprecher einer Begnadigung in seiner Haltung von dem opportunistischen Gesichtspunkt geleitet worden sein mag, daß er sich nicht gut ausschließen könne, wenn seine namhafteren Kollegen bereits sich vor ihm geäußert hatten. Jedenfalls verstand Erika Land ihre um Hilfe werbende Korrespondenz so abzufassen, daß erkennbar wurde, wen und wieviele sie bereits zum Eingreifen veranlaßt oder gewonnen hatte. Und auch nach vollzogener Hinrichtung scheute sie sich nicht, in einer Vielzahl persönlicher Briefe allen denen zu danken, die mit ihr versucht hatten, Arndt das Leben zu retten. Zu diesem Schritt mag sie sich um so mehr verpflichtet gesehen haben, als keines der überlieferten Schreiben, die bei Erika Land eingingen, den Charakter bloßer Pflichtübung besaß und eine erhebliche Zahl von näheren und ferneren Fachkollegen für die Begnadigung eintrat, ohne im einzelnen die Vorwürfe gegen Arndt zu kennen, deren wörtliche Weiterverbreitung obendrein als defätistische Aktivität auslegungsfahig gewesen wäre. Es war unter den Bedingungen faschistischen Terrors selbstredend unmöglich, die Urteilsumwandlung anders zu erbitten als durch die Ausbreitung von Argumenten, die bei den faschistischen Richtern auf irgendeine Sympathie rechnen konnten. Zuerst und vor allem anderen wurden Arndts Verdienste im ersten Weltkrieg zur Geltung gebracht; als eben approbierter Arzt hatte er sich unmittelbar nach Kriegsbeginn am 8. August 1914 als Freiwilliger gemeldet, war schon im Oktober in Rußland in Kriegsgefangenschaft geraten, hatte in Sibirien seine medizinische Tätigkeit unter gefangenen deutschen Soldaten ausgeübt, bis er 1917 nach Deutschland zurückkehren konnte. Doch schon 1918 ging er, diesmal als Angehöriger einer Kriegsgefangenenkommission, wieder nach Rußland, kam in den Ural, schließlich in den asiatischen Teil des vom Bürgerkrieg durchtobten Sowjetrußland, geriet in das Gebiet der Weißen und gelangte nach weiter Fahrt über Wladiwostok, Japan, San' Franzisco und New York im August 1919 nach Deutschland zurück. Als Oberarzt der Reserve, mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse dekoriert, quittierte er den Militärdienst. Nachdem er 1919/21 als Beratungsarzt an der Landesversicherungsanstalt Schlesien in Breslau tätig gewesen war, hatte er sich ganz der Wissenschaft gewidmet und war schon 1921 nach Berlin an das Zoologische Museum gekommen. Arndt wurde eine internationale Kapazität ersten Ranges, und diese Tatsache bildete das zweite Argument, das sich immer wieder in den Gnadengesuchen seiner Kollegen findet. Ein Mann dieses Wissens und dieser Fähigkeiten — Arndts Spezialität war die Erforschung und Systematisierung der Schwämme, doch kannte er sich auf vielen Gebieten seines Fachs hervorragend aus — dürfe der deutschen Wissenschaft nicht verlorengehen, hieß es immer wieder. Und dies um so weniger, als seine Forschungen keineswegs nur theoretisch-systematischer Natur seien, sondern in großem Maße, wie unter Berufung auf seine Mitarbeit an dem Werk „Die Rohstoffe des Tierreichs" erklärt wurde, auch volkswirtschaftliche und mithin kriegswichtige Bedeutung besäßen. Es werde eine Vollstreckung des Todesurteils an diesem Manne auch im befreundeten Ausland schwerlich verstanden werden, meinte einer der Wissenschaftler, die zugunsten Arndts schrieben. Viele verwiesen schließlich — drittens — darauf, daß sie Arndt zu ganz verschiedenen Zeiten als einen Mann von „nationaler" Gesinnung und Haltung erlebt hätten, und erklärten mehr oder weniger bestimmt, daß sie es für ganz ausgeschlossen hielten, daß er von dieser Haltung im Innern abgegangen wäre.

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Erika Land sammelte alle diese Stellungnahmen und versuchte sie über den Staatssekretär Otto Meißner, mit dessen Schwester sie auch korrespondierte, vor die Augen Hitlers zu bringen, um auf diese Weise die Vollstreckung zu verhindern. Sie glaubte, Meißner selbst für einen Schritt zugunsten Arndts gewinnen zu können, und wurde bei ihren Versuchen nicht müde, auch andere höchstgestellte faschistische Politiker zu erreichen. Einzig der Persönliche Referent Meißners beschied sie mit einer Antwort, die besagte, daß der arbeitsüberlastete Meißner sie nicht empfangen könnte und die Gnadengesuche an den Reichsminister der Justiz weitergeleitet worden seien. Dorthin sollten auch künftige Schreiben in dieser Sache gerichtet werden. 11 Alle Anstrengungen und alles Engagement trugen nichts ein. Kein Argument verfing bei den Adressaten. Selbst die Tatsache, daß Arndt im Herbst 1943 während verheerender Bombenabwürfe, die auch das Museumsgebäude betroffen hatten, auf dessen Dach die Löscharbeiten organisiert hatte und dafür zur Auszeichnung mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse cinscrcipht worden war, bewirkte nichts. Die faschistischen Machthaber wollten den Kopf des Mannes, und dies spricht zweifelsfrei dafür, daß der Übergang zu immer exzessiveren Formen des Justizterrors bereits vor dem 20. Juli 1944 lag. Es galt zu diesem Zeitpunkt der Grundsatz, die terroristische Abschreckung ohne Ansehen der Person aufs äußerste zu steigern und dafür selbst eine interne Konfrontation mit einer Anzahl bürgerlicher Wissenschaftler in Kauf zu nehmen, die erklärtermaßen diesen Terrorismus, soweit er einen der ihren betraf, nicht mittrug und dazu auch im Einzelfall nicht schwieg. Mehr noch: es war geradezu die komplementäre Erscheinung zur verächtlichen Haltung der faschistischen Machthaber und ihrer Gefolgschaft gegenüber den Angehörigen der Intelligenz, daß sie die nüchternen Urteile derer fürchteten, die zu logischem Denken besonders ausgebildet waren, und dies um so mehr, je tiefer sie die Volksmassen in irrationale Ansichten von den Ereignissen hineinzutreiben suchten. So geht aus den SD-Berichten des Juni 1944 wiederholt hervor, daß in Kreisen der Intelligenz eine Lagebeurteilung anzutreffen war, die sich stärker an den gesicherten Tatsachen orientiere als an den Verheißungen der Nazipropaganda. Beispielsweise vermerkten die Meldungen vom 8. Juni, die vom erwartungsvollen Stimmungsaufschwung angesichts der „endlich" entbrannten Kämpfe mit den Invasionstruppen berichteten, daß es „neben einigen Intelligenzlern eigentlich nur Frauen" wären, die hier und da von dieser Gemütsbewegung nicht erfaßt würden. 12 An anderer Stelle desselben Berichts wurde notiert, daß man „in Intelligenzkreisen auf einen so glatten Verlauf (Sieg im Westen, danach im Osten — K. P.) nicht zu hoffen wagt". 13 Es war der HaUptcharakterzug der verbrecherischen faschistischen Justizpraxis, daß sie „die Todesstrafe in einem in der bürgerlichen Justizgeschichte bisher unbekannt gebliebenen Ausmaße anwandte". 14 Obwohl diese Feststellung

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Erika Land an Staatssekretär Meißner vom 24. 5. 1944, die Antwortschreiben des Persönlichen Referenten • r Meißners erfolgten am 26. 5. 1944 (mit der Mitteilung, er stünde zu einem Gespräch zur Verfügung, empfehle aber die direkte Verbindung mit der Oberreichsanwaltschaft) und am 31.5. 1944 (mit der Information, daß die ihm übersandten Unterlagen dem Reichsjustizministerium zugegangen wären). UA, Personalakte Arndt, Bd. 86, 2. Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945, Bd. 17, Herrsching 1984, S. 6572. Ebenda, S. 6574. Eduart Robofsky/Gerhard Oberkoßer, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege, Wien 1985, S. 18.

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für die gesamte Zeit der faschistischen Diktatur galt und namentlich während der Kriegsjahre und seit der Wende des Krieges 1943 die Justiz ihren Beitrag zum erstrebten Endsieg durch immer blutigere Urteile leistete, war die Hinrichtung eines bürgerlich-konservativen Gelehrten in Nazideutschland kein alltäglicher Vorgang. Bis in die Wochen vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 konnte kein weiterer Fall ermittelt werden, da ein angesehener, von seinen Fachgenossen hochgeschätzter Wissenschaftler unter das Fallbeil geschleppt wurde. Die Entscheidung, das gegen Arndt gefällte Urteil trotz aller Einwände zu vollstrecken, muß in Beziehung zu dem Datum gesetzt werden, an dem sie getroffen wurde. Zwei Tage zuvor — am 6. Juni 1944 — war an der Atlantikküste die Landung alliierter Truppen erfolgt und die Zweite Front eröffnet worden. Die faschistische Führung hatte sich auf dieses Ereignis seit längerem eingerichtet. Mit ihren Plänen verband sie die Vorstellung, den Landungstruppen eine vernichtende Niederlage beibringen zu können, derart den Regierenden in London und Washington die Unerreichbarkeit ihres militärischen Sieges vor Augen zu führen und sie so zu zwingen, sich mit den faschistischen Machthabern zu verständigen. Das sollte die Grundlage dafür geben, ausnahmslos alle Kräfte zum Kampf gegen die UdSSR zu wenden. Diese Vorstellung existierte als Hoffnung und Erwartung nicht nur in den Köpfen der politischen und militärischen Führer des Faschismus. Die Nazipropaganda hatte auch große Teile der deutschen Bevölkerung auf diesen geplanten Verlauf der Ereignisse eingestellt. Das geschah mit der psychologischen Absicht, den Deutschen an der Front und im Hinterland ein wenn auch vages Vorstellungsmuster für die Beendigung des Krieges zu geben. Denn keine Frage beschäftigte die Bevölkerung inmitten der wachsenden Kriegsstrapazen mehr als deren Ende. So hatte sich jene Mehrheit der Deutschen, die geistig noch den faschistischen Orientierungen folgte, wenn auch längst nicht mehr ohne tiefe und nagende Zweifel, zu Ende des Frühjahrs 1944 damit abgefunden, daß es an der Ostfront deutscherseits keine militärische Initiative geben werde und man lediglich auf die nächste sowjetische Großoffensive warten könne. Die Menschen blickten jedoch mehr noch nach Westeuropa, wenngleich sie des Wartens zunehmend müde wurden. Nach allen Berichten nazistischer Beobachter sank die Stimmung im Volke weiter ab, wozu die Luftangriffe auf Groß- und Mittelstädte und die Meldungen vom Rückzug der deutschen Truppen in Mittelitalien beitrugen. Die Preisgabe Roms, am 5. Juni 1944 gemeldet, rief eben noch die Frage hervor, wo die vordringenden Truppen des Gegners vor den Alpen überhaupt noch zum Stehen zu bringen seien, als die Nachricht von der Invasion an die Stelle sich ausbreitender Lethargie wiederum äußerste innere Mobilisation setzte. Es wurde mit einer gewissen Erleichterung geglaubt, daß man mit diesem Ereignis endlich dem Frieden — so oder so — das entscheidende Stück näher kommen werde. In diese Richtung hatte die faschistische Führung das Denken selbst gelenkt, wenn auch mit dem Vorzeichen, dieses Ende könne nur der „deutsche" Sieg sein. Die Ablehnung des Gnadengesuchs für Walther Arndt geschah in einem Augenblick, da die faschistische Führung äußerste Konzentration auf die militärische Schlacht im Westen forderte. Der zum Tode verurteilte Häftling, von dem man mit Sicherheit wußte, daß er den Krieg für den zerfallenden faschistischen Mächteblock längst für verloren hielt, besaß in diesem Moment weniger noch als vor dem 6. Juni eine Überlebenschance. Der Berliner Wissenschaftler verbrachte die ihm verbleibenden achtzehn Tage zwischen der Entscheidung über die Hinrichtung und ihren Vollzug in einer Todeszelle. Von seiner Beschäftigung dort ist nur bekannt, welche Bücher ihm als Lesestoff dienten. Ungewiß und unwahrscheinlich ist, daß ihn da bestimmte Nachrichten über die Kriegsereignisse und

Die Ermordung des Zoologen Walther Arndt

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deren Wirkung auf die Mehrheit der Deutschen erreichten. Er hätte sonst noch wissen können, daß die Einsicht oder auch nur das Gefühl von der herannahenden militärischen Niederlage sich unter der Bevölkerung gerade in diesen wenigen Wochen besonders verstärkte. Ohne die Dinge in vollständiger Schärfe zu benennen, vermerkte der SD-Bericht vom 28. Juni 1944, zwei Tage nach Arndts Tode: „In allen Bevölkerungsschichten macht sich infolge des Ausbleibens von Nachrichten über eine sichtbare Wirkung der Vergeltungswaffe sowie infolge der schweren Kämpfe an der Invasionsfront und des Beginns der neuen Sowjetoffensive eine weitgehende Verschlechterung der Stimmung bemerkbar." 15 Schon wurde von manchen vorhergesehen, daß die sowjetische Armee bei diesem Angriff bis nach Ostpreußen vorstoßen werde. Tatsächlich bahnte sich für das faschistische Ostheer mit der Offensive im Mittelabschnitt eine Niederlage an, die in ihrem Ausmaß die von Stalingrad noch übertraf. Arndt war den Henkern nicht zu entreißen. Ein knappes Jahr vor der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus verlor die Zoologie eine ihrer Kapazitäten, die Berliner Universität einen ihrer Gelehrten von Rang, dem sie ein ehrendes Andenken bewahrt.

15

Boberach, S.6614.

K U R T GOSSWEILER

Der 20. Juli und die Faschismustheorie

I Der 20. Juli 1944 ist ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des faschistischen Deutschland, zugleich ein markantes in der Geschichte des Widerstandes gegen das Hitlerregime. Zu Recht wird diesem* Ereignis an seinen Jahrestagen große Aufmerksamkeit gewidmet. Es gibt nur wenige ändere Gedenktage der deutschen Geschichte, an denen so auffällig abzulesen ist, wie sehr aktuelle Bedürfnisse dazu führen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt jeweils neue Fragen an die Geschichte zu stellen und jeweils andere Seiten desselben Ereignisses stärker als früher zu beleuchten. Besonders deutlich wurde das am 40. Jahrestag des 20. Juli. Er fiel in eine Zeit, da stärker als je zuvor — angesichts der Perspektive der Auslöschung der Menschheit durch einen Kernwaffenkrieg — der Zusammenschluß aller die Erhaltung des Friedens und die Beendigung des atomaren Rüstungswettlaufs erstrebenden Kräfte und die Herstellung einer Koalition der Vernunft und des Realismus zu einer zwingenden Notwendigkeit geworden sind. Daher ist es nur natürlich, daß das Gedenken an den 20. Juli 1 ganz im Zeichen der Frage stand, welche Erkenntnisse und Lehren dieses Datum uns vermitteln kann, um heute „eine klassenüberschreitende Koalition der Vernunft auf die Beine zu stellen, die sich dem Hochrüstungswahnsinn und Hegemoniestreben bestimmter Kreise des US-Imperialismus in den Weg stellt und den Frieden bewahrt". 2 Die jeweils neuen Fragen und Aspekte bedeuten-indessen „ganz und gar nicht. . ., daß wir die damals hervorgehobenen Aspekte heute unbedingt anders sehen" 3 , oder daß die alten Fragen überflüssig oder anachronistisch geworden wären. Eine der wichtigsten dieser alten Fragen, die aber bislang noch keineswegs ausreichend untersucht wurde, ist die nach der Bedeutung des Attentats vom 20. Juli für die Faschismustheorie. Was sagt dieser Ereigniskomplex über den Charakter des faschistischen Regimes in Deutschland aus? Für die vorherrschende bürgerliche Geschichtsschreibung ist der 20. Juli eine klare, unwiderlegliche Bestätigung ihrer Auffassung, derzufolge das faschistische Regime in 1

2

3

Zu denken ist hier vor allem an das von der Historiker-Gesellschaft der D D R und dem Zentralinstitut für Geschichte der A d W der D D R getragene Kolloquium vom 18. Juli 1984: „ D e r Platz des 20. Juli 1944 in der Geschichte des antifaschistischen deutschen Widerstandskampfes". Die Materialien dieses Kolloquiums sind veröffentlicht in den „Wissenschaftlichen Mitteilungen" 1985/I-II der Historikergesellschaft der D D R . Aus dem Schlußwort des Präsidenten der Historiker-Gesellschaft der D D R , Heinrich Scheel, auf dem obengenannten Kolloquium, in: Ebenda, S. 142. Ebenda.

Der 20. Juli und die Faschismustheorie

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Deutschland und anderswo die Diktatur der faschistischen Partei und ihres Führers über alle Klassen und Schichten der Gesellschaft darstellt. Denn wenn der Faschismus — so ihre Argumentation — nur das Werkzeug der herrschenden Klasse, sein Führer nur ihr Willensvollstrecker gewesen ist, wie die Marxisten behaupten, dann sei doch völlig unbegreiflich, weshalb es der herrschenden Klasse nicht möglich war, dieses Werkzeug einfach aus der Hand zu legen und diesen Führer einfach zu entlassen, nachdem er ihr nicht mehr nützlich war, sondern einer ihren Interessen entsprechenden Lösung, nämlich einer rechtzeitigen Beendigung des Krieges, im Wege stand. In der Tat ist damit eine Frage gestellt, auf die unsererseits bisher m. E. nach noch keine ausreichende Antwort gegeben wurde. Eine solche Antwort kann nur gefunden werden, indem die Erklärung für das Verhalten der herrschenden Klasse und ihrer verschiedenen Gruppierungen gegenüber der faschistischen Führung gesucht wird in ihrer Interessenlage und den ihnen angesichts des Kriegsverlaufes und der innenpolitischen Probleme noch tatsächlich oder vermeintlich offengebliebenen Entscheidungsmöglichkeiten. Eine solche Untersuchung stößt aber auf schwer zu überwindende Hindernisse. So leicht es fällt, das durch die jeweiligen Umstände gegebene objektive Interesse der Führungskräfte des deutschen Imperialismus zu bestimmen, so schwer fallt es, dem entsprechende Äußerungen oder gar Handlungen aus den Reihen dieser Führungskräfte zu eruieren. Was in diesen Kreisen gesagt oder getan wurde über und für eine Beseitigung Hitlers von der Führung, kam, soweit überhaupt, nur durch die Vernehmungen der Akteure des 20. Juli und durch Aufzeichnungen, die den faschistischen Häschern in die Hände fielen, ans Tageslicht; und auf den Historiker ist davon nur das überkommen, was veröffentlicht oder in den Archiven noch einsehbar ist. Liest man dieses Material durch, dann fallt sehr bald ein merkwürdiger Umstand auf: Obwohl es in den Aussagen der Verhafteten und in den aufgefundenen Dokumenten nicht wenige Hinweise auf Verbindungen der Verschwörer zu Topmanagern des deutschen Monopolkapitals gibt, haben die faschistischen Untersuchungsorgane ihre Nachforschungen in dieser Richtung entweder gar nicht weitergeführt oder, wenn vereinzelt doch, sie sehr bald wieder eingestellt. Dafür nur einige wenige, aber sehr charakteristische Beispiele. Bekanntlich machte Carl Goerdeler nach seiner Verhaftung gegenüber den faschistischen Inquisitoren „außerordentlich weitgehende Angaben, durch die u. a. zahlreiche Personen, die sich in wichtigen Stellungen des öffentlichen Lebens befinden, belastet" wurden 4 ; selbst Gerhard Ritter konnte nicht umhin festzustellen, daß sich Goerdeler „als eine Nachrichtenquelle für die Gestapo erwies, deren Ergiebigkeit Staunen erweckte". 5 Dadurch und durch andere Quellen wurde bekannt, daß Goerdeler enge Kontakte zu verschiedenen Großindustriellen hatte und daß Julius Leber in ihm einen „Mann der Großindustrie" sah.6 Der Gestapo war bekannt, daß leitende Männer des Stuttgarter Bosch-Konzerns und des Krupp-Konzerns seine Auslandsreisen, die der Kontaktaufnahme mit Mittelsmännern zur britischen Regierung dienten, als Reisen in ihrem Auftrag legalisierten. Bekannt war ihr ferner, daß der Krupp-Direktor Löser mit seinem Einverständnis als Finanzminister für 4

5 6

Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, hg. vom Archiv Peter für historische und zeitgeschichtliche Dokumentation, Stuttgart 1961 (künftig: Kaltenbrunner-Berichte), S. 232. Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956, S. 417. Ebenda, S. 391.

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eine künftige Regierung Goerdeler vorgesehen war. Dies hätte die Sonderkommission zur Untersuchung der Verschwörung doch veranlassen müssen, die großindustriellen Hintermänner der Verschwörung genau so rigoros zu vernehmen und abzuurteilen wie die Verschwörer selbst. Doch nichts dergleichen geschah. Löser wurde zwar verhaftet und verhört, aber nicht zum Tode verurteilt, im Gegensatz zu kleineren Industriellen, wie etwa Walter Cramer, und zu zahlreichen Industrie-Syndizi, wie Lejeune-Jung, Syndikus in der Zellstoffindustrie und gleich Löser als Minister (für Wirtschaft) in einer Goerdeler-Regierung vorgesehen, oder zu dem Gutsbesitzer Wentzel-Teutschenthal. Hans Walz, nach Robert Boschs Tod (März 1942) an der Spitze des Konzerns, wurde anscheinend überhaupt unbehelligt gelassen; jedenfalls taucht sein Name in den Berichten über die Untersuchung der Sonderkommission nicht als einer der Vernommenen auf, obwohl er in die Verschwörung eingeweiht war und sie förderte. 7 Der Gestapo war ferner bekannt, daß Goerdeler des öfteren in den Zusammenkünften des sogenannten Reusch-Kreises, eines Zirkels von hochkarätigen rheinisch-westfälischen Industriellen, auftrat und dort seine Auffassungen zur Lage vortrug. Im November 1943 sprach er in Anwesenheit des langjährigen Hanielkonzern-Generaldirektors Paul Reusch von der Notwendigkeit, Hitler von der Führung zu beseitigen, um zu einer Verständigung mit den Angelsachsen gegen die Russen zu kommen. 8 Obwohl in ähnlich gelagerten Fällen gegen kleinere Leute Todesurteile ausgesprochen wurden, weil sie derartige Äußerungen nicht zur Meldung gebracht hatten, geschah Paul Reusch nichts dergleichen. Als Mitwisser der Putschpläne Goerdelers wurden auch der Direktor der Deutschen Bank Oswald Roesler und das Vorstandsmitglied der Allgemeinen Deutschen Kreditgesellschaft, Schoen von Wildeneck, vorübergehend verhaftet. Auf nähere Auskünfte über die Zukunftsvorstellungen in den Chefzimmern der großen Industrie- und Bankkonzerne war die Sonderkommission jedoch offenbar gar nicht begierig. Roesler und v. Wildeneck bestritten, wie es im Bericht über ihre Vernehmung heißt, „glaubwürdig jede Kenntnis der Goerdeler'schen Pläne" und wurden alsbald auf Antrag des Oberreichsanwaltes freigelassen.9 Aus diesem Anlaß erhielt der Deutsche-Bank-Direktor Roesler zahlreiche Glückwünsche, darunter auch von einem der prominentesten Nazi-Industriellen, Albert Pietzsch; dieser schrieb ihm am 13. Dezember 1944: „Zu meiner großen Freude entnehme ich einer Mitteilung des Aufsichtsrates der Deutschen Bank, daß Sie nunmehr Ihre Tätigkeit aufgenommen haben. Wir alle waren davon überzeugt, daß das Untersuchungsergebnis nicht anders ausfallen konnte." 10 In der Tat: Wenn Wirtschaftskapitäne ganz ausnahmsweise doch einmal von den Untersuchungsorganen des SD erfaßt wurden, dann konnte das Untersuchungsergebnis eben „nicht anders ausfallen", denn es gab eine unsichtbare Barriere, vor der die Todesmaschinerie des faschistischen Regimes haltmachen mußte. Ein entsprechendes Haltesignal wurde z. B. durch die schriftliche Weisung für die Begrenzung der Anwendung „Verschärfter Vernehmungen", d. h. der Folterungen zur Erpressung von Geständnissen, auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich „Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Saboteure, Terroristen, Angehörige der Widerstandsbewegung, Fallschirmagenten, Asoziale, pol-

7 8 9 10

Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben und Leistung, Stuttgart und Tübingen 1946, S. 707. Kaltenbrunner-Berichte, S. 550ff. Ebenda, S. 558 f. ZStAP, Deutsche Bank-Akten 5961/35.

Der 20. Juli und die Fäschismustheorie

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nische oder sowjetische Arbeitsverweigerer oder Bummelanten" 11 , gegeben. Wirtschaftskapitäne fielen generell unter keine dieser Kategorien, auch nicht unter die der „Angehörigen der Widerstandsbewegung"; denn auch dann, wenn sie nicht nur Mitwisser, sondern sogar Anreger von Aktivitäten wie derjenigen Goerdelers waren, blieben sie doch diesen Aktivitäten selbst fern: das Prinzip der Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik wurde gerade bei derartigen Unternehmungen strikt gewahrt. Mit anderen Worten: Die Spitzenkräfte der großen Bank- und Industriemonopole waren für die Gestapo tabu. Dies ist der entscheidende Grund dafür, daß wir zwar recht genau über Beweggründe und Aktionen der Verschwörer Bescheid wissen, über Vorstellungen und Handlungen der „Wirtschaftsführer" dagegen nur sehr vage Nachrichten besitzen. Diese unsere geringen Kenntnisse haben ihren Grund also in einem Sachverhalt, der allerdings ganz und gar nicht die These jener stützt, die uns glauben machen wollen, Hitler habe als allmächtiger Diktator alle Klassen und Schichten gleichermaßen seiner Tyrannei unterworfen. Wir können uns also bei unserer Untersuchung des Verhältnisses der herrschenden Klasse zum faschistischen Regime nach dem Umschwung im Kriegsverlauf, da man nicht mehr darüber im Zweifel sein konnte, daß der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen war 12 , nur auf gesicherte Forschungsergebnisse zu zwei Problemkreisen stützen: zum einen auf die bekannten Fakten über den 20. Juli, zum anderen auf die Ergebnisse der relativ jungen Forschung über die Nachkriegsplanungen und die Überlebensstrategie von Kreisen und Institutionen der deutschen Monopolbourgeoisie in den letzten Jahren und Monaten der faschistischen Diktatur. 13 Diese Tatsachen alleine erlauben aber noch nicht, ein zusammenhängendes, deutlich umrissenes Bild zu entwerfen. Es muß ergänzend versucht werden, die inneren Zusammenhänge durch Rekonstruktion der objektiv gegebenen Interessen der herrschenden Klasse Deutschlands in jener Zeit nachzuzeichnen; um hier die Möglichkeit subjektiver Fehldeutungen so gering wie möglich zu halten, ist es darüber hinaus von Nutzen, den Blick nicht nur auf die Jahre 1943—1945 zu richten, sondern ihn auch zurückzuwenden, um den Weg und seine wichtigsten Stationen zu verfolgen, der zum 20. Juli führte.

n Eine Situation, in der der Repräsentant des Staates und oberste Kriegsherr ein Hindernis für den rechtzeitigen Abbruch eines nicht mehr gewinnbaren Krieges wird, war für die imperialistische deutsche Bourgeoisie keine Premiere. 14 Im ersten Weltkrieg war es WilhelmJU dessen rechtzeitigen Rücktritt die deutschen Monopolherren und die einsichtigsten Generale zu erreichen suchten, worüber sich der Kaiser in einem Brief vom 3. November 1918 an einen Vertrauten bitter beklagte 15 : „Es war schon alles so schön aufgeteilt, ganz 11

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Aus der Anweisung des Gestapochefs Müller v. 12. 6. 1942, zit. nach: 20. Juli 1944, hg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, 4. Aufl., Bonn 1961, S. 197. Siehe Olaf Groehler, 1944: Die Krise des deutschen Faschismus. Faschistische Agonie und Nachkriegsplanung, in: Z f G 7/1984, S. 588. Ebenda. Dort auch Angaben über weitere Literatur zur Nachkriegsplanung. Joachim Pelzold, Die Absetzung Wilhelms II., in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 3/1967, S. 298ff. Eugen Schiffer, Ein Leben für den Liberalismus, Berlin-Grunewald 1951, S. 136f.

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Belgien, Nordfrankreich usw. Die Schwerindust, hatte auch schon Beschlag auf alles gelegt, und nun kommt es mit einmal anders, und jetzt schimpfen sie natürlich, als wenn ich schuld wäre. Und die Rhein. Schwerind. . . . die verhandelt jetzt mit der Entente, lieber einen guten Frieden ohne mich, als einen weniger guten mit mir — weg werfen sie mich.. . . Und das sage ich Ihnen, wenn nur das geringste passiert, dann schreibe ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mein eigenes Schloß zerschieße; aber Ordnung soll sein!" Auch damals war es nicht gelungen, den lästig Gewordenen rechtzeitig loszuwerden; erst als die Revolutionswelle Berlin erreichte, rafften sich die Generale auf und erklärten dem Uneinsichtigen, daß das Heer nicht mehr hinter ihm stehe und er abzudanken habe. War es für die herrschende Klasse schon damals schwierig gewesen, dem Obersten Kriegsherrn, als er hinderlich wurde, „einfach" den Laufpaß zu geben, so war dies noch um vieles schwieriger gegenüber Hitler. Darauf wies die illegale Landesleitung der K P D in ihrem Dokument vom Juni 1944 „Am Beginn der letzten Phase des Krieges" hin, in dem es heißt: „Aber angesichts der unabwendbaren militärischen Niederlage des deutschen Faschismus beginnen sich alle Vorteile, die das faschistische System bisher dem Finanzkapital bot, in Nachteile zu verwandeln, ohne daß diejenigen, die Hitler holten, ihn heute einfach wieder wegschicken könnten." 1 6 Warum konnten sie es nicht, worin bestand jetzt die Schwierigkeit? Wir erwähnten bereits die Erklärung bürgerlicher Historiker und Publizisten, die ihren plastischen Ausdruck in dem einprägsamen Bild vom „Ritt auf dem Tiger" gefunden hat: Wer auf dem Tiger reitet, läuft Gefahr, beim Absteigen von der Bestie zerfleischt zu werden. Dies sei die Situation des deutschen Bürgertums gewesen, als es sich von Hitler und seinem Regime trennen wollte. Gemeint ist damit, daß Hitlers Terrorregime jeden Versuch der herrschenden Klasse, ihn fallenzulassen, gewaltsam zu vereiteln vermochte. Nun ist es sicher richtig, daß Hitler 1944 sehr viel größere Möglichkeiten besaß, das zu praktizieren, was Wilhelm II. 1918 in seinem ohnmächtigen Zorn zu tun androhte, um sich an der Macht zu halten. Aber genau so sicher ist, daß die Wehrmacht, wenn sie von einer entschlossenen Führung gegen die nazifaschistischen Formationen eingesetzt worden wäre, mit diesen in kurzer Zeit hätte fertig werden können. Der Beweis wurde am 20. Juli 1944 in Paris geliefert. Die Schwierigkeit bestand also nicht in einer überlegenen Stärke der Hitler zur Verfügung stehenden Kräfte der Waffen-SS und der anderen Naziformationen, eine solche Überlegenheit gab es nicht. Sie bestand vielmehr in der Unmöglichkeit, die Wehrmachtführung zu einem einheitlichen, geschlossenen Handeln zu bringen. Diese Unmöglichkeit kann nicht mit einer Furcht vor der Auseinandersetzung mit der SS erklärt werden: wie sollte sie sich davor gefürchtet haben, einen unterlegenen Gegner mattzusetzen, da sie sich doch in Friedens- und Kriegszeiten unaufhörlich damit beschäftigt hatte, mit gleichstarken oder gar überlegenen Gegnern fertig zu werden? Zudem lagen ja ausreichende Beweise dafür vor, daß Himmler bereit war, mit den Verschwörern mitzumachen, zumindest in der Weise, daß er seine SS von einem Vorgehen zum Schutze Hitlers abhielt. Schon im Frühjahr 1941 hatte Himmler durch einen Vertrauensmann bei dem Schweizer Diplomaten C. J. Burckhardt nachfragen lassen, ob England mit ihm, Himmler, anstelle Hitlers

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Am Beginn der letzten Phase des Krieges. Ein neues, bedeutsames Dokument aus dem illegalen Kampf in Deutschland, in: BzG 3/1979, S. 410. Siehe auch Deutschland im zweiten Weltkrieg, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann, Bd. 6, Berlin 1985, S. 290.

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Frieden machen würde. 17 Und am 25. Juli 1943 schrieb Goerdeler in einem Briefentwurf für den Generalfeldmarschall Kluge: „Ich kann Ihnen auch, wenn Sie es wollen, Herrn Goebbels oder Herrn Himmler zum Bundesgenossen machen: denn auch diese beiden Männer haben längst begriffen, daß sie mit Hitler verloren sind." 1 8 Mag bei derartigen Versicherungen Goerdelers auch allerhand Übertreibung im Spiele gewesen sein 19 , um damit Kluges Zaudern zu überwinden, so kann doch an Himmlers Bereitschaft, Hitler preiszugeben, um die eigene Haut zu retten, kein Zweifel bestehen. Weshalb also schreckten die meisten Generale und nicht weniger die meisten Generaldirektoren davor zurück, durch eine entschlossene Aktion Hitler von der Führung zu beseitigen? Der Grund dafür ist einfach genug: So sehr Hitler ein Hindernis war für die Anknüpfung von offiziellen Verhandlungen mit den Westmächten, so unentbehrlich war er für den inneren Gebrauch. Wenn der Terror das Hauptmittel war, die aktiven Antifaschisten zu liquidieren und die passiven Unzufriedenen in der Passivität der Furcht verharren zu lassen, so war Hitler das Hauptintegrationsmittel, das die Mehrheit des Volkes in blindgläubigem Vertrauen zum „Führer" und damit in einem Zustand willenloser Gefolgschaft entsprechend dem Nazislogan „Führer, befiel, wir folgen Dir!" hielt. Neben dem Terror war Hitler also der wirkungsvollste Wall, um die herrschende Klasse vor dem zu schützen, was sie am meisten fürchtete — mehr noch als die militärische Niederlage und die bedingungslose Kapitulation: ein zweites 1918, die Revolution. Hitler war aber damit auch zum wichtigsten und stärksten, durch nichts und niemanden zu ersetzenden Faktor der inneren Stabilität, der Erhaltung der Kriegsbereitschaft und Durchhaltemoral im deutschen Volk geworden. Das Interesse der Bewahrung dieser Moral und Ruhe an der „Heimatfront" erforderte die Bewahrung der Wirkung des Hitlermythos auch und erst recht nach dem Umschwung im Kriegsverlauf, als das Vertrauen an der Front und in der Heimat an die Führung durch die ununterbrochene Kette von Niederlagen schweren Belastungen ausgesetzt wurde. Nicht nur Hitlers Eitelkeit und Ehrgeiz, auch die „Staatsräson" bedurfte der Sündenböcke für die Niederlagen in Gestalt „unfähiger" Generale, die in die Wüste geschickt wurden, als erster Brauchitsch. Hitler blieb unverzichtbar, jetzt zwar nicht mehr als der Garant des Sieges, aber doch als Träger aller Hoffnungen auf ein Wunder, das den Sieg trotz allem noch herbeiführen könnte; war er doch der Mann, der durch ein Wunder aus dem Nichts zum Gipfel einer beispiellosen Macht emporgestiegen war, dem deshalb auch das Wunder zugetraut werden konnte, sich selbst und das Land vor dem Versinken ins Nichts zu bewahren. Solange sich das Volk in seiner Mehrheit an die Hoffnung Hitler klammerte, waren die Herrschenden davor gesichert, daß es einen Ausweg durch eigenes Handeln suchen würde, waren sie abgeschirmt vor der Gefahr einer Wiederholung des November achtzehn. Aber zugleich war Hitler das entscheidende Hindernis dafür, mit den Westmächten über einen Verständigungsfrieden zu verhandeln, solange Deutschland noch etwas in die Waagschale zu werfen hatte: militärische und wirtschaftliche Stärke und riesige besetzte Gebiete als Faustpfander. 17 18 19

Ritter, Goerdeler, S. 428. Ebenda, S. 615. So behauptete Goerdeler in demselben Brief: „Heute noch kann ich erklären, daß ich Ihnen, Herr Generalfeldmarschall, und jedem anderen zum notwendigen Handeln entschlossenen General die erdrückende Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft, der deutschen Beamten und der deutschen Wirtschaft zuführen kann." (Ebenda.)

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m In diesem Dilemma mußten sich die widerstrebenden Interessen innerhalb der herrschenden Klasse in widerstreitenden Tendenzen der Suche nach einem Ausweg niederschlagen. Grob gesehen lassen sich drei Varianten imperialistischer Haltung angesichts der drohenden Niederlage ausmachen 2 0 : Erste Variante: Das Allerwichtigste ist die Revolutionsverhinderung. Jedes Vorgehen gegen Hitler birgt das Risiko eines Dammbruchs mit unabsehbaren Folgen in sich, deshalb ist es besser, den Weg mit Hitler bis zu Ende zu gehen. Wie der Krieg auch ausgeht — die unnatürliche Koalition der Westmächte mit der Sowjetunion muß früher oder später an ihren inneren Gegensätzen zerbrechen, und um so rascher, je größer die Erfolge der Roten Armee sind und je näher diese der deutschen Grenze kommt. Deutschland wird für die Westmächte immer als Bollwerk gegen den Bolschewismus unentbehrlich sein. Deshalb ist selbst eine bedingungslose Kapitulation einem Vorgehen gegen Hitler mit dem Risiko einer revolutionären Erhebung vorzuziehen, denn diese würde kaum ein zweitesmal so glimpflich auslaufen wie die Novemberrevolution: damals gab es noch keine Kommunistische Partei, und die Sowjetunion mußte um des Überlebens willen das Brester Diktat akzeptieren. Jetzt aber ist die K P D die einzige organisierte Gegenkraft, und die Rote Armee würde als Siegermacht auf deutschem Boden stehen. Eine Revolution wäre also mit ziemlicher Sicherheit das Ende des Kapitalismus in Deutschland, die Kapitulation dagegen mit Hilfe der Westmächte nur eine Niederlage mit der Chance des Neubeginns. Deshalb sollte als einziges Mittel, die Westmächte zu Verhandlungen geneigt zu machen, die Verstärkung der militärischen Anstrengungen eingesetzt werden, um ihnen klarzumachen, daß die Fortführung des Krieges auch von ihnen einen ungeheuren Blutzoll fordern würde. Sollte sich aber doch eine Situation ergeben, in der Hitler nicht mehr da ist und sich dadurch der Weg für Verhandlungen mit den Westmächten öffnet, dann wäre das natürlich eine sehr erwünschte Gelegenheit, die unbedingt genutzt werden müßte. Darauf darf man indessen nicht warten. Man muß jetzt schon eine Überlebensstrategie für die Zeit nach dem Kriege entwickeln. Dies war in etwa die Position, die von einem Teil der deutschen Monopolisten und natürlich von den offiziellen Institutionen — z. B. der Reichsgruppe Industrie, dem Reichswirtschaftsministerium, dem Speer-Ministerium — eingenommen wurde. Zeugnisse dafür sind die inzwischen aufgedeckten und bereits erwähnten Nachkriegsplanungen. 21 Zweite Variante: Natürlich ist die Revolutionsverhinderung das Allerwichtigste. Aber zugleich darf man nicht aüf den Versuch verzichten, durch eine Verständigung mit den Westmächten von dem, was im Krieg erobert wurde, und an militärischer Macht soviel zu retten als irgend möglich. Man muß das Interesse der Westmächte daran, daß den Russen der Weg nach Europa verlegt wird, ausnutzen und ihnen anbieten, die ganze militärische Macht des Deutschen Reiches an die Ostfront zu werfen, als Gegenleistung für den Verzicht auf bedingungslose Kapitulation und für einen Frieden, der Deutschland als selbständige Macht mit Grenzen, die alle Deutschen oder möglichst viele von ihnen in Mitteleuropa umschließen, bestehen läßt. Das ist mit Hitler nicht zu erreichen. Deshalb muß ein Weg gefunden werden, 20

Vgl. dazu auch die Einschätzung der Landesleitung der K P D in ihrem bereits erwähnten Aufruf (Anm. 16; siehe auch Finkerl Busse, Stauffenberg, Berlin 1984 S. 171 f.); Vgl. ferner Wolfgang Schumann, und der 20. Juli 1944, in: Wiss. Mitt. 1985/1—II, S. 77ff.

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Siehe Anm. 12.

Die Industrie

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Hitler von der Spitze zu beseitigen, sei es auf dem italienischen Wege, durch Verhaftung und Absetzung, sei es durch ein Attentat. Auf welchem Wege auch immer, gesichert werden muß, daß der Wechsel an der Spitze schlagartig und mit Blitzesschnelle erfolgt, um auch nicht für eine Sekunde ein Machtvakuum entstehen zu lassen. Die Soldaten und die Bevölkerung dürfen davon erst erfahren, wenn die neue Regierung schon installiert ist. Jede Bewegung von unten muß verhindert und es muß gesichert werden, daß den Anweisungen und Befehlen von oben bedingungslos Folge geleistet wird. Dies ist um so notwendiger, als der Krieg im Osten auf jeden Fall, im Westen wenigstens bis zum Beginn von Verhandlungen weiterzuführen ist. Ein Vorgehen gegen Hitler ist natürlich riskant. Es kann nur gelingen, wenn die militärische Führung, zumindest maßgebliche bekannte und populäre Heerführer, mitmacht, und es darf nur in Gang gesetzt werden, wenn vorher von den Westmächten die Zusicherung vorliegt, daß von einer Regierung ohne Hitler keine bedingungslose Kapitulation gefordert, sondern mit ihr über einen Verständigungsfrieden verhandelt wird. Die Formulierung eines solchen, sich natürlich im Verlauf des Krieges modifizierenden, aber im Grundlegenden gleichbleibenden Konzeptes finden wir vor allem in den zahlreichen Denkschriften Carl Goerdelers. 22 Bei Goerdeler selbst und anderen Teilnehmern der Verschwörung führte jedoch die Ergebnislosigkeit der Versuche, die erhoffte Zurücknahme der Forderung nach „unconditional surrender", nach der bedingungslosen Kapitulation, zu erreichen, zeitweilig zur Annäherung an die dritte Variante. i Diese dritte Variante war die sog. Westlösung. Sie sah vor, die Front im Westen zu öffnen, um den Truppen der Westalliierten den raschen, ungehinderten Vormarsch nach Osten zu erlauben, damit sie bei der Besetzung Deutschlands und vor allem Berlins der Roten Armee zuvorkamen. 23 Ihrem Wesen nach bedeutete diese „Lösung" die unerklärte bedingungslose Kapitulation den Westmächten gegenüber, bei verstärkter Weiterführung des Krieges gegen die Sowjetunion. Diese Variante wurde im Kreise der Verschwörer von Schacht und dessen Vertrauten, dem Doppelagenten Hans Bernd Gisevius, verfochten. Gisevius, 1933 unterlegener Rivale Rudolf Diels' als Leiter von Görings preußischer Geheimer Staatspolizei, war seit 1943 Vizekonsul und Abwehragent beim deutschen Generalkonsulat in Zürich und zugleich Agent des amerikanischen Office of Strategie Service (OSS), das von Allan Dulles geleitet wurde. Dulles, der seit Ende 1942 in der Schweiz, in Bern, residierte, um von dort aus ein Agentennetz in Europa knüpfen zu können, benutzte Gisevius, um die Verschwörer für die „Westlösung" zu gewinnen.24 Diese Lösung erschien Goerdeler und anderen im Juli 1944 als einzig mögliche übriggeblieben zu sein. Gerhard Ritter schrieb dazu: „Die Oppositionsführer waren jetzt nahezu bereit, die Formel .bedingungslose Unterwerfung' den Westmächten gegenüber anzunehmen . . . Offensichtlich war nicht nur an einen Waffenstillstand mit Verkürzung der Westfront . . . gedacht, sondern an eine Art Vereinigung deutscher und angelsächsischer Streitkräfte —

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23 24

Aus Raumgründen muß darauf verzichtet werden, aus den entsprechenden Denkschriften zu zitieren. Es sei lediglich auf das Goerdeler-Buch Gerhard Ritters und auf die Stauffenberg-Studie von Finker/Busse verwiesen. Ritter, Goerdeler, S. 393 f. Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende, Bd. 2, Hamburg 1947,S. 234K. ; Allan Welsh Dulles, Verschwörung in Deutschland, Zürich 1948.

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zum mindesten an eine sofortige Besetzung ganz Deutschlands vom Westen her, ehe die Roten Armeen auch noch Polen überrannt und die östlichen Reichsgrenzen erreicht hätten." 2 5 Der.imperialistische, klassenegoistische Charakter auch dieser Konzeption, der das Leben der Soldaten, die im weiterzuführenden Krieg gegen die Sowjetunion verheizt werden sollten, völlig gleichgültig war, weil ihr alleiniger Richtpunkt in der Erhaltung des kapitalistischen Eigentums bestand, springt in die Augen. Dennoch entsprach diese Variante am allerwenigsten von allen dreien dem, was die meisten deutschen Monopolisten zu diesem Zeitpunkt für zweckmäßig erachteten. Sie waren nicht bereit, alle Faustpfander an besetzten Gebieten und militärischer Macht ohne jede Gegenleistung aus der Hand zu geben; selbst im Kreise der Verschwörer wurden Schacht und Gisevius wegen ihrer Propagierung der Auslieferung auf Gedeih und Verderb an die Amerikaner mit Argwohn und Mißtrauen betrachtet und vom Kern der Verschwörung ferngehalten. Soviel zu den drei Varianten einer imperialistischen Antwort auf die drohende Niederlage. Im Kreise der Verschwörer existierten aber bekanntlich auch andere als imperialistische Bestrebungen und Vorstellungen, solche nämlich, denen es nicht vorrangig um die Erhaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, sondern um die Beseitigung eines Regimes des Verbrechens, um die rascheste Beendigung des Krieges und um die Schaffung einer neuen, sozial gerechteren und humanen Nachkriegsordnung in Deutschland ging. Diese Richtungen, die mit dem Offizierskreis um den Obersten Claus Graf Schenk von Stauffenberg und mit dem Kreisauer Kreis umrissen werden können, sind bei uns durch mehrere Veröffentlichungen bekannt gemacht worden, so daß es nicht notwendig ist, ihr Konzept im einzelnen darzulegen. 26 In seinem Hauptreferat auf der eingangs erwähnten Konferenz zum 40. Jahrestag des 20. Juli stellte Kurt Finker die Frage: „War die Verschwörung des 20. Juli eine Bewegung innerhalb der herrschenden Klasse, einen Ausweg aus dem verlorenen Aggressionskrieg zu suchen, oder war sie der Versuch einer Gruppe innerhalb der herrschenden Klasse, konsequent mit der selbstmörderischen Kriegspolitik zu brechen und damit auch Möglichkeiten eines Bündnisses mit antifaschistischen Volkskräften zu eröffnen?" 2 7 Finker selbst gab darauf keine explizite Antwort. Diese Frage kann auch nicht als Entweder-Oder-Frage beantwortet werden, sondern nur mit einem Sowohl-als-Auch. Die Verschwörung trug keinen einheitlichen Charakter; von Seiten der Goerdeler-Gruppe war sie allerdings als Versuch eines imperialistischen, antisowjetischen, revolutionsverhindernden Auswegs gedacht und angelegt 28 , von den patriotischen Kräften um Stauffenberg und des Kreisauer Kreises indessen als Versuch der Rettung Deutschlands vor der Katastrophe durch seine Befreiung von der Hitlerclique und dem Naziregime mit dem Ziel der Beendigung des Krieges und der Errichtung eines erneuerten, sozial gerechten, humanistischen Nachkriegsdeutschland. Ob dieses zwiespältigen Charakters der Verschwörung ist es unmöglich, eine sichere Aus25 26

27 28

Ritter, Goerdeler, S. 394; siehe auch ebenda, S. 407. Hier seien nur genannt: Kurt Finker, Der Platz des 20. Juli 1944 in der Geschichte des deutschen antifaschistischen Widerstandskampfes, in: Wissenschaftliche Mitteilungen 1985/I-II, S. 5 ff.; Finker/Busse, Stauffenberg; Kurt Finker, Graf Moltke und der Kreisauer Kreis. Berlin 1978; Olaf Groehler, Hitlerwehrmacht und Offiziersopposition, in: Wissenschaftliche Mitteilungen 1985/I-II, S. 86ff. Finker, Der Platz des 20. Juli 1944, S. 6. Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd. 6, S. 284 f.

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sage darüber zu treffen, welche Konzeption sich zunächst nach einem geglückten Attentat durchgesetzt hätte. Aber sicher ist, daß „ein Gelingen des militärischen Aufstandes . . . große Teile des Volkes mobilisiert und die Bedingungen für den Kampf der antiimperialistischen, demokratischen Kräfte mit der K P D an der Spitze ungleich günstiger gestaltet" hätte. 29 Die Kommunisten begrüßten deshalb sofort nach Bekanntwerden die Tat des 20. Juli. „Wir wissen nicht, wer die Männer alle gewesen sind, die gegen Hitler gehandelt haben", sagte Anton Ackermann im Sender „Freies Deutschland" am 21. Juli, und er fuhr fort: „Aber wir fragen auch nicht danach. Wer gegen Hitler kämpft, wer diesen schlimmsten Feind der Nation stürzen will, dem gehört die aktive Unterstützung aller ehrlichen Deutschen, aller Generale, Offiziere und Soldaten, die Unterstützung des ganzen Volkes." 30 Für nicht wenige Menschen ist der Hinweis auf die grausam-blutige Abrechnung des Regimes mit den Verschwörern ein beeindruckendes Argument für die Behauptung, der 20. Juli beweise, daß Hitler eine unumschränkte Diktatur allen Bevölkerungsschichten gegenüber ausgeübt habe. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber auch dieses Argument als nicht stichhaltig. Zum ersten: Es wurde schon eingangs gezeigt, daß die Willkür des Terrors von Himmlers schwarzen Häschern und Folterknechten ihre sehr bestimmten Grenzen hatte, durch die die Repräsentanten des großen Kapitals ihrem Zugriff entzogen waren. Zum zweiten aber: Die Terrorwelle, die nach dem Attentat über Deutschland hinwegrollte und gewöhnlich allein als Ausfluß des Hitlerschen Rachedurstes, allenfalls auch noch als Himmlers Wüten dargestellt wird, diente in Wirklichkeit dem, was gerade den Monopolherren am meisten am Herzen lag: der Verhinderung dessen, daß die durch das Attentat ausgelöste Aufrüttelung des Volkes zum Ausgangspunkt einer Erschütterung des Regimes, zu einem Durchbruch der Machtsicherungsdämme werden könnte. Denn angesichts der erfolgreichen Eröffnung der zweiten Front und des weiteren Vormarsches der Roten Armee mußte das Attentat in weiten Kreisen des deutschen Volkes als Eingeständnis der unausweichlichen Niederlage erkannt werden, bestand die äkute Gefahr des Zusammenbruchs der Durchhaltemoral, die Gefahr einer Verbreiterung des Widerstandes gegen die Fortführung des Krieges, kurz: des Beginns einer Entwicklung ähnlich der, die 1917 in der Armee und im Hinterland eingesetzt und im November 1918 ihren Höhepunkt gefunden hatte. Von dieser Gefahr war nicht nur die Naziclique bedroht. Eine Revolution in Deutschland würde — so mußten die Herrschenden befürchten — angesichts der Stärke und Nähe der Roten Armee nicht mehr wie 1918 mit einer Niederlage der Arbeiter enden, sondern die kapitalistische Ordnung in Deutschland ein für allemal liquidieren. Dieser Gefahr konnte in der entstandenen Situation nur durch die äußerste Steigerung des Einsatzes genau derjenigen Mittel begegnet werden, die schon vor dem Attentat sich als am wirkungsvollsten erwiesen hatten — durch den Terror und den Hitlermythos. Es entsprach deshalb den Interessen der deutschen Imperialisten ebenso wie denen der Naziclique, daß dem Volk erzählt wurde, die Verschwörer seien nur ein kleines Häuflein ehrloser Vaterlandsverräter und Verbrecher, und daß man an ihnen ein grausames Exempel statuierte, um damit ein Höchstmaß an Einschüchterung und Abschreckung zu erzielen. Es hatte ja im übrigen gar nicht erst der Mordbefehle Hitlers und Himmlers bedurft, um die 29 30

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Finker, Der Platz des 20. Juli 1944, S. 24. Ebenda, S. 22. Demokratie, Sozialismus

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Verschwörer zu liquidieren: Ihre „Kameraden" begannen damit aus eigener Initiative. Noch bevor Himmler am Abend des 20. Juli in Berlin eingetroffen war, hatte der Vorgesetzte Stauffenbergs, der Befehlshaber des Ersatzheeres, General Fromm, den Generalobersten Beck, den Obersten Mertz von Quirnheim, General Olbricht. Leutnant von Haeften und den Obersten Stauffenberg verhaften und die letztgenannten vier in aller Eile im Hofe des Bendlerblockes erschießen lassen, während er Beck eine Pistole in die Handjdrückte, damit dieser s'einem Leben selbst ein Ende mache. Die Wehrmachtführung gab dann ebenso, wie sie 1934 die Ermordung der Generale v. Schleicher und v. Bredow gebilligt hatte, jetzt die an der Verschwörung beteiligten Offiziere dem Freislerschen Blutgericht preis, indem sie ein „Ehrengericht" bilden ließ, das die Betreffenden aus der Wehrmacht ausstieß. Der deutlichste Beweis dafür, daß es sich bei der Terrorwelle keineswegs nur um einen Rachefeldzug gegen die Verschwörer, sondern um eine Aktion mit systemsichernder Absicht handelte, gezielt vor allem auf die Enthauptung der Arbeiterbewegung, war die Verhaftungs- und Mordwelle vom Juli und August 1944 mit ihrem Höhepunkt am 22. August, der „Aktion Gitter" 31 . Daß man sich jetzt nicht damit begnügte, die Führer der Kommunistischen Partei — Ernst Thälmann, Bernhard Bästlein, Anton Saefkow, Franz Jacob, Theodor Neubauer, Ernst Schneller, Albert Kuntz und viele andere — hinter Zuchthausmauern und Stacheldraht zu bringen und zu halten, sondern sie systematisch physisch liquidierte, zeigt am deutlichsten, daß es sich nicht nur darum handelte, das Naziregime vor seinen unerbittlichsten Feinden abzusichern, sondern darum, Vorsorge zu treffen für die Zeit nach Hitler. Die Kehrseite des gesteigerten Terrors war die Anfachung des irrationalen Glaubens an den wunderwirkenden Führer. Um den Stoß, den der „Endsieg"-Glaube durch das Attentat erhalten hatte, aufzufangen, wurde das Mißlingen des Anschlages dazu benutzt, den Hitlermythos noch stärker als zuvor für die Weiterführung des Krieges wirksam zu machen. Hitlers angeblich wunderbare Rettung wurde von der Propaganda als sichtbarer Beweis dafür ausgegeben, daß die „Vorsehung" Hitler noch für große Dinge ausersehen habe. Wer auf solch wunderbare Weise dem Tode entgangen sei, dem müsse man auch zutrauen, eine scheinbar hoffnungslose militärische Situation zum Besseren zu wenden und dem deutschen Volke noch in letzter Minute den Sieg zu erringen.

IV Wenn wir den 20. Juli 1944 unter faschismustheoretischem Aspekt untersuchen, dann müssen wir davon ausgehen, daß wir es mit einem Ereignis der Endphase des deutschen Faschismus unter extremen Bedingungen, daß wir es mit der Suche des deutschen Imperialismus nach einem Wege aus der Niederlage zum Überleben zu tun haben. 32 Worin diese Extrembedingungen genau bestanden, das wird vielleicht am deutlichsten, 31 32

Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd. 6, S. 295. Olaf Groehlerj Wolfgang Schuman, Vom Krieg zum Nachkrieg. Probleme der Militärstrategie und Politik des faschistischen deutschen Imperialismus in der Endphase des zweiten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Geschichte 26, Studien zur Geschichte des Faschismus und des antifaschistischen Widerstandes (I), hg. von Dietrich Eichholtz und Klaus Mammach, Berlin 1982, S. 276.

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wenn wir diese Endphase mit der des italienischen Faschismus, die Bedingungen des Ausweges für den deutschen mit denen des italienischen Imperialismus vergleichen. Gewöhnlich wird die verblüffende Leichtigkeit, mit der der italienische „Führer", Mussolini, entmachtet werden konnte, damit erklärt, daß er über sich noch den König hatte, dem das Recht zustand, den Ministerpräsidenten zu berufen und abzusetzen. Doch Verfassungsfragen sind bekanntlich Machtfragen. Hätte der König nicht den Machtfaktor Armee hinter sich gehabt, so hätte ihm sein verfassungsmäßiges Recht sehr wenig genützt. Und umgekehrt: Wären die deutschen militärischen Führer im gleichen Maße wie ihre italienischen Kollegen davon überzeugt gewesen, daß der Diktator weg mußte, dann hätten sie mit dem „Führer" genau so verfahren können wie jene mit dem „Duce". Man muß also schon tiefer loten, will man den Ursachen für den unterschiedlichen Verlauf der Endphase des deutschen und des italienischen Faschismus auf den Grund kommen. An erster Stelle sind hier die Unterschiede in der ökonomischen, politischen und militärischen Stärke des deutschen und des italienischen Imperialismus zu nennen sowie die der Situation, aus der heraus jeder von ihnen den Faschismus an die Macht brachte. Der italienische Imperialismus — der Imperialismus einer Mittelmacht, deren Expansionsbestrebungen nur regionale Ausmaße annehmen konnten — brachte den Faschismus im Oktober 1922 an die Macht, um aus seiner krisenhaften Nachkriegsschwäche herauszukommen. Der deutsche Imperialismus brachte den Faschismus an die Macht, nachdem er seine Nachkriegsschwäche in der Weimarer Republik überwunden, ökonomisch wieder die Nummer Zwei in der Welt des Kapitals geworden war und nun danach strebte, durch einen neuerlichen, besser vorbereiteten Waffengang in jeder Hinsicht die Nummer Eins zu werden. Sein Expansionsdrang war also global, was bedeutet, daß die Diskrepanz zwischen Ziel und Möglichkeiten bei ihm viel größer war als beim italienischen. In Deutschland hatte der Faschismus deshalb in viel größerem Maße als in Italien die Aufgabe, diese Kluft zwischen Können und Wollen zu überbrücken durch brutale Ausschaltung aller Widerstände gegen Kriegsvorbereitung und Krieg sowie durch die rücksichtslose Konzentration aller Kraftquellen der Nation auf dieses eine Ziel: rascheste Vorbereitung auf den Krieg, maximaler Einsatz aller nationalen Potenzen für den Krieg. Dies war der entscheidende Grund dafür, daß in keinem Land des Faschismus der Terror so extrem, grausam und effektiv praktiziert und der Führerkult als Massenmanipulierungs- und -mobilisierungsmittel so maßlos bis zur Vergottung des Mannes an der Spitze getrieben wurde wie in Deutschland. Die italienische Monopolbourgeoisie hatte es aber nicht nur nicht nötig, Mussolini zur übermenschlichen Messiasfigur aufzubauen, es wäre ihr dies auch gar nicht möglich gewesen, falls sie es gewollt hätte. Dafür war Mussolini zu früh an die Macht gekommen. Als die Weltwirtschaftskrise auch über Italien hereinbrach, wälzten die Faschisten, nicht anders als die bürgerlichen Regierungen in allen anderen Ländern, die Krisenlasten im Interesse des Kapitals rücksichtslos auf die Werktätigen ab. Dieselbe Weltwirtschaftskrise, die Hitlers Aufstieg zum Hoffnungsträger von vielen Millionen Deutschen ermöglichte, zerstörte bei Millionen Italienern die Illusionen über Mussolini und seine Partei als Schöpfer einer neuen, gerechten Ordnung. Mussolini konnte deshalb auch im Krieg für die italienische Monopolbourgeoisie nicht die gleiche Rolle spielen wie Hitler für die deutsche. Als sich — spätestens nach Stalingrad — herausgestellt hatte, daß sie den falschen Verbündeten gewählt hatte, gab es für sie bei weitem weniger Grund für Hemmungen vor einer Kapitulation als für die deutschen Imperialisten. Italien war in diesem Krieg nur Juniorpartner des Hauptgegners der Antihitlermächte, ein Juniorpartner, der je länger desto mehr 20*

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auf die Stufe des bloßen Vasallen herabgesunken war. Obwohl natürlich auch ihm gegenüber die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation erhoben wurde, konnte er doch auf Belohnung rechnen, falls er noch rechtzeitig mit Hitlerdeutschland brach und die Front wechselte. Aber dazu war nötig, Mussolini und seine Schwarzhemden zu entmachten. Anders als in Deutschland standen dem in Italien keine gewichtigen Bedenken im Wege. Im Gegensatz zu Hitler war Mussolini für die italienische Monopolbourgeoisie in jeder Hinsicht — nicht nur außen —, sondern auch innenpolitisch, eine Belastung geworden. Er war kein Faktor der Verminderung der Revolutionsgefahr mehr, sondern das Gegenteil davon: solange er an der Spitze stand, würden die Forderungen der Massen nach Umsturz der Machtverhältnisse nur immer dringender und drohender erhoben werden. Andererseits brauchte die italienische Bourgeoisie eine Ausbreitung der Widerstandsbewegung weit weniger zu fürchten als die deutsche: hier gab es keine Möglichkeit, daß diese von der Roten Armee Unterstützung erhalten würde, sondern man würde es nur mit den Westmächten als siegreicher Besatzungsmacht zu tun haben, und die würden mit Sicherheit dafür sorgen, daß es zu keiner kommunistischen Machtübernahme kommen würde — selbst wenn die Kommunistische Partei Italiens die überwältigende Mehrheit der Italiener hinter sich hätte. Diese vergleichende Betrachtung erhärtet die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung: Erstens: Hitler und seine Partei waren und blieben auch in der Endphase der faschistischen Diktatur ein Instrument der deutschen Imperialisten und nicht etwa deren Beherrscher. Zweitens: Dieses Instrument war — im Unterschied zu Italien — nur in einer, in außenpolitischer Hinsicht, stumpf und sogar hinderlich geworden; es erfüllte dagegen noch immer in unersetzlicher Weise seine wichtigste, die innenpolitische Funktion des Hintanhaltens der Gefahr eines revolutionären Durchbruches. Drittens: Da die deutsche imperialistische Bourgeoisie mit gutem Grund die Revolution mehr als die Niederlage fürchtete, blieb sie in der Frage der Beseitigung Hitlers unentschlossen, schwankte zwischen verschiedenen Möglichkeiten, so daß die wirkliche Entschlossenheit zum Vorgehen gegen Hitler auf den relativ kleinen Kreis der Verschwörer beschränkt blieb, die ihrerseits allein gelassen wurden von ihrer Klasse und isoliert waren und blieben von den antifaschistischen Kräften im Volk. Hierin und nicht in der von der bürgerlichen Geschichtsschreibung behaupteten „Allmacht Hitlers" lag die wirkliche Ursache für das Scheitern der Verschwörung des 20. Juli. V Im Schlußteil seines Referates über den 20. Juli 1944 ging Kurt Finker auf seine Bedeutung für die Gegenwart ein und bemerkte dabei: „Was sich damals angebahnt hatte, war eine Art Koalition der Vernunft." 3 3 Man muß hierbei „angebahnt" dreifach unterstreichen, um nicht in den Fehler zu verfallen, etwas in die Vergangenheit zurückzuprojizieren,'was damals zwar schon notwendig gewesen wäre, aber noch nicht möglich gewesen ist — eben das, was wir heute als „Koalition der Vernunft" bezeichnen. 33

Finker, Der Platz des 20. Juli 1944, S. 25.

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Sagen wir zunächst, was die Koalition der Vernunft nicht ist, wofür sie aber manchmal gehalten wird: nämlich eine Koalition, die sich dadurch auszeichnet, daß bei ihren Partnern die Vernunft über die Interessen gesiegt hat. Wäre dies darunter zu verstehen, dann würde jeder, der eine solche Koalition zustande zu bringen sucht, einer Schimäre nachjagen; es käme dem Versuch gleich, statt eine Politik des Möglichen die Politik des Unmöglichen praktizieren zu wollen. Das aber wäre keine Politik der Vernunft, sondern der puren Unvernunft. Die Marxisten als die nüchternsten aller nüchternen Realpolitiker, halten heute erstmals eine Koalition der Vernunft nicht nur für notwendig — das taten sie schon vor fünfzig Jahren —, sondern auch für möglich. Was ist ihr wesentlicher Inhalt? Erstens: Es ist dies nicht eine Koalition zwischen irgendwem, sondern es ist im staatlichen Rahmen eine Koalition zwischen sozialistischen und imperialistischen Staaten; im Rahmen von Parteien und Organisationen eine Koalition von Kommunisten und Nicht- bzw. Antikommunisten. Zweitens: Es ist das nicht eine Koalition für irgendeinen beliebigen Zweck, sondern für die Verhinderung eines Weltkrieges. Für eine solche Koalition kämpften vor 50 Jahren, als der zweite Weltkrieg drohte, nur die Kommunisten und als einziger Staat die Sowjetunion. Die Kommunisten, indem sie unermüdlich für den Zusammenschluß aller Kriegsgegner und Antifaschisten in einer Volksfront eintraten, die Sowjetunion mit ihrem Vorschlag zum Abschluß eines Vertrages der kollektiven Sicherheit durch alle Staaten, die an der Erhaltung des Friedens interessiert waren. Aber damals blieben die Kommunisten einsame Rufer in der Wüste, weil zwischen dem Gebot der Vernunft und den Interessen der maßgebenden Kreise der imperialistischen Bourgeoisie nicht nur eine große Distanz, sondern eine tiefe Kluft lag. Die Forderung der Vernunft — nämlich die Erhaltung des Friedens, die Verhinderung des Krieges — war damals wie heute das Grundinteresse des Sozialismus und aller Völker. Die Interessen jener Imperialisten hingegen liefen auf die Vernichtung der Sowjetunion durch Krieg hinaus. Die Führung der Sowjetunion und die der Kommunistischen Internationale schätzten die Situation mit ihren Gefahren und ihren Möglichkeiten nüchtern und real ein. Sie rückten den Kampf um den Frieden an die erste Stelle. Von der Tribüne des VII. Weltkongresses rief Palmiro Togliatti alle friedliebenden Menschen auf: „Schließen wir unsere Kräfte zusammen! Kämpfen wir gemeinsam für den Frieden! Organisieren wir die Einheitsfront derjenigen, die den Frieden verteidigen und erhalten wollen!" 3 4 Bei der Abwägung der Kräfte des Krieges und der Kräfte der Kriegsgegner kam Togliatti indessen zu dem Ergebnis, daß das Übergewicht noch bei den Kriegskräften liege 35 und daß ein Krieg, der, wie immer er beginnt, zu einem Krieg gegen die Sowjetunion werden würde, 36 34

35 36

Ercoli (d. i. Palmiro Togliatti), Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale, Referat auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, in: VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 202. Ebenda, S. 223. „Es kann für niemanden ein Zweifel darüber bestehen, daß der kommende Krieg, selbst wenn er als Krieg zwischen zwei imperialistischen Großmächten oder als ein Krieg irgendeiner Großmacht gegen ein kleines Land beginnt, zwangsläufig die Tendenz haben wird, sich zu verbreitern, und unbedingt auf einen Krieg gegen die Sowjetunion hinauslaufen wird. Jedes Jahr, jeder Monat Aufschub ist für uns eine Garantie, daß die Sowjetunion dem Angriff der Imperialisten eine stärkere Abwehr zu erweisen vermag." (Ebenda, S. 205.)

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unvermeidlich sei.37 Dennoch seien Erfolge im Kampf für den Frieden möglich. „Unser Kampf für den Frieden, in dem wir uns auf die Sowjetunion stützen, hat daher alle Aussicht auf Erfolg. Jeder Monat, jede Woche, die wir gewinnen, ist von sehr großem Wert für die Menschheit." 38 Natürlich setzten die Kommunisten ihre Hoffnungen vor allem auf den Kampf der Werktätigen gegen den Krieg. Aber Togliatti orientierte mit großem Nachdruck darauf, daß die Sowjetunion auch im imperialistischen Lager Verbündete finden könne bei den Bemühungen, die aggressivsten Kriegstreiber zu zügeln. „Es muß daran erinnert werden", sagte er, „daß für den deutschen Nationalsozialismus und den japanischen Militarismus der Krieg gegen die Sowjetunion nicht das einzige Ziel darstellt. Sie führen einen Kampf um ihre eigene Vormachtstellung. Ihr Überfall auf die Sowjetunion ist für sie nur ein Bestandteil des Gesamtplanes von Expansion und Eroberungen. Diese Pläne, die auf eine Neuaufteilung der Welt hinzielen, prallen mit der Gesamtheit der bestehenden Interessen zusammen und spitzen die Gegensätze unter den Imperialisten nicht nur in Europa, sondern auch in der ganzen Welt noch schärfer zu." 39 Dadurch käme es zu einer Differenzierung in der Politik der imperialistischen Großmächte, „von denen einige an der Verteidigung des Status quo und an einer zeitweiligen, bedingten Verteidigung des Friedens interessiert sind". 40 Daraus zog Togliatti den Schluß, die Gegensätze zwischen den imperialistischen Großmächten könnten sich „in einer solchen Weise entwickeln, daß sie in einem gegebenen Moment, unter gewissen Bedingungen sich in einem bestimmten Maße als Hindernis für die Schaffung eines neuen Mächteblocks zum Krieg gegen die Sowjetunion erweisen können. Das eröffnet der Friedenspolitik der Sowjetunion große Möglichkeiten." 41 Durch die Verhandlungen zum Abschluß eines Vertrages über kollektive Sicherheit zur Zügelung des Aggressors knüpfte die Sowjetunion an diese Möglichkeiten an, um die Westmächte im Interesse der Erhaltung des Friedens in eine Koalition zu bringen, die, wäre sie zustande gekommen, den Namen einer Koalition der Vernunft verdient hätte. Aber die antibolschewistischen Ultras in den westlichen Führungskreisen hatten andere Pläne, Pläne, die Togliatti mit Blick auf England zutreffend wie folgt kennzeichnete: „Es ist nicht schwer zu begreifen, daß die Unterstützung, die dem deutschen Faschismus durch die Diehardskreise der englischen Bourgeoisie gewährt wird, nichts anderes darstellt als eine Unterstützung — eine direkte oder indirekte — zur Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion. Der englische Imperialismus und insbesondere der reaktionärste Teil der englischen Bourgeoisie . . . betrachtet es als seine ,historische' Aufgabe, dem Lande des Sozialismus einen tödlichen Stoß zu versetzen . . ," 42 So kam also die Antihitlerkoalition nicht als Koalition der Vernunft, nicht als Friedenskoalition zur Verhinderung des Krieges, sondern als Kriegskoalition zur Herbeifiihrung des 37

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„Ein neuer imperialistischer Krieg um die Neuaufteilung der Welt ist nicht nur unausbleiblich, wird nicht nur in allen Einzelheiten von jeder imperialistischen Macht vorbereitet, sondern kann von einem Tag auf den anderen entbrennen und uns plötzlich überfallen." (Ercoli auf dem VII. Kongreß der KI, zit. nach: Wilhelm Pieck/Georgi Dimitroff/Palmiro Togliatti, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Referate auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale (1935), Berlin 1957, S. 190.) Ercoli, in: VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 203. Ebenda, S. 190. Ebenda, S. 194. Ebenda. Ebenda, S. 192.

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Friedens zustande, und nicht als aus freien Stücken eingegangenes Bündnis mit der Sowjetunion, sondern als eine Bundesgenossenschaft mit ihr, in die sich England durch Hitlers Überfall auf die Sowjetunion plötzlich hineinversetzt fand, wenig später dann auch die USA durch Japans Überfall auf Pearl Harbour und die anschließende Kriegserklärung durch Deutschland. Wenn heute eine Koalition der Vernunft im Unterschied zur Zeit vor dem zweiten Weltkrieg ein erreichbares Ziel ist, dann nicht deshalb, weil etwa die Imperialisten vernünftiger geworden wären, sondern weil sich ihre Interessenlage anders gestaltet hat. Selbst der von der Vision eines Krieges der Sterne besessene USA-Präsident Reagan mußte in Genf seine Unterschrift unter die Feststellung setzen, daß es in einem Kernwaffenkrieg keine Sieger geben kann und daß er nicht entfesselt werden darf. Die erreichte Vernichtungskraft der Kernwaffen, vor allem aber die Fähigkeit der Sowjetunion, aufjeden Schlag mit einem gleichstarken Gegenschlag zu antworten, lassen heute bei allen klarsichtigen, nüchternen imperialistischen Politikern die Illusionen der dreißiger Jahre — durch einen Krieg den Sozialismus wieder aus der Welt zu schaffen — nicht mehr zu. Das erreichte strategische Gleichgewicht des sozialistischen Bündnisses mit dem Imperialismus stellt diesen vor die Alternative: entweder friedliche Koexistenz oder Selbstmord, entweder friedlicher Wettstreit beider Systeme oder ihre Vernichtung im Feuer eines Kernwaffenkrieges. Dies ist in der Tat der kürzeste Nenner, auf den die Koalition der Vernunft zu bringen ist: eine Koalition zur Gewährleistung der Austragung des Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus mit ausschließlich friedlichen Mitteln, insbesondere unter striktem Ausschluß der Anwendung von Kernwaffen. Die Koalition der Vernunft ist also zu einem erreichbaren Ziel geworden, weil heute keine Kluft mehr besteht zwischen den Interessen der Völker und des Sozialismus nach Sicherung des Friedens und dem vordringlichsten imperialistischen Interesse, dem Überlebensinteresse, beide sich vielmehr so nahe gekommen sind, daß ein Übereinkommen möglich geworden ist. Der wichtigste Zusammenhang zwischen dem 20. Juli 1944 und der heutigen Aufgabe des Kampfes um die Herstellung einer Koalition der Vernunft scheint mir die Lehre zu sein,daß ein Kampf gegen Faschismus und Krieg, um die Erringung und Erhaltung des Friedens niemals erfolgreich sein kann, wenn er im Zeichen des Antikommunismus, sondern nur dann, wenn er gemeinsam mit den Kommunisten und mit den sozialistischen Staaten geführt wird. Stauffenberg und einige Kreisauer hatten sich zu einem Handeln durchgerungen, das einer solchen Erkenntnis entsprach. Goerdeler steht dagegen als ein warnendes, zugleich — nicht unverschuldet — tragisches Beispiel dafür, wie verbissener und blinder Antikommunismus allen noch so mutigen und opferbereiten persönlichen Einsatz zuschanden werden läßt.

EBERHARD P O P P E

Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der ersten Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik

Das Thema der Festschrift für Heinrich Scheel — Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte — ist einem Verfassungstheoretiker ein willkommener Anlaß, einige themenbezogene Betrachtungen zur Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 anzustellen. Gerade diese Verfassung verdient das besondere Interesse des Historikers, weil sich an ihr in exemplarischer Weise demonstrieren läßt, wie Kontinuität und Diskontinuität, Tradition, Erbe und sozialer Fortschritt, das Gestern, Heute und Morgen vielfaltig ineinander verwoben in einem Staatsgrundgesetz reflektiert und antizipiert werden. Der Jubilar selbst hat profunde Erkenntnisse zu Verfassungs- und Staatsfragen in der deutschen Geschichte eingebracht. Das macht hier jegliche ausführliche Begründung überflüssig. Heinrich Scheel weiß das Wesen von Verfassungen zu definieren, er weiß, daß sich ihre juristische Eigenschaft, Grundgesetz eines Staates, Gesetz der Gesetze zu sein, primär aus ihrer politischen Funktion ableitet, dem Herrschaftswillen und den Herrschaftszielen der zur politischen Macht gelangten Kräfte konzentrierten und allgemeinverbindlichen juristischen Ausdruck zu geben. Es mag eingewendet werden, daß die bürgerliche Verfassungsgeschichte — auch die deutsche — nicht wenige Verfassungen kennt, so die Paulskirchen Verfassung von 1849 oder auch die Weimarer Verfassung von 1919, deren demokratische oder soziale Verheißungen wesentlich unerfüllt blieben und gar zur Durchsetzung reaktionärer Ziele mißbraucht wurden. Trotz und auch wegen solchen Geschehens sind Verfassungen als historische oder zeitgenössische Dokumente der Untersuchung und Vergleichung wert. Jede Verfassung, selbst die nichtverwirklichte oder in wesentlichen Bestimmungen nichterfüllte Verfassung, ermöglicht im Kontext zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ihrer Zeit Einsichten und Aussagen in einem breiten gesellschaftspolitischen Spektrum, so zu Macht und Moral (auch Doppelmoral) der herrschenden Klassenkräfte, zu den Rechten des Bürgers, und nicht zuletzt auch, um welche demokratischen Verfassungspositionen und Rechtsforderungen der Klassenkampf künftig geführt werden muß. Verfassungen können aber auch Dokumente sein, die den erreichten gesellschaftlichen Fortschritt manifestieren und programmatisch auf weitere Entwicklung orientieren, wie es den Verfassungen des revolutionären Bürgertums zu eigen war und Verfassungen im oder auf dem Wege zum Sozialismus zu eigen ist. Die erste Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, die am 7. Oktober 1949 durch die Provisorische Volkskammer nach umfassender Diskussion in der Bevölkerung in Kraft gesetzt wurde, war die Verfassung einer Gesellschafts- und Staatsordnung, die sich im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus befand. Sie. war keine bürgerliche Ver-

Demokratie, Antifaschismus, Sozialismus in der Verfassung

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fassung mehr und noch keine sozialistische. Sie war das Resultat einer innen- und außenpolitischen Konstellation, die gekennzeichnet war — durch die unter Bruch des Potsdamer Abkommens im Mai 1949 erfolgte Umbildung der drei Westzonen zur BRD. Diese von den Westmächten systematisch betriebene Spaltungspolitik verhinderte die Schaffung eines einheitlichen demokratischen deutschen Staates. Die gesamtdeutsch konzipierte Verfassung konnte nur für das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft gesetzt werden; — durch die konsequente Verwirklichung des Potsdamer Abkommens im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone mit Unterstützung der Besatzungsmacht. Der Staatsapparat, die Justizorgane, die Schulen und Hochschulen wurden von nazistischen Kräften gesäubert, dem Volk verbundene Staatsfunktionäre, Richter, Staatsanwälte und Lehrkräfte eingesetzt. Nach dem Volksentscheid im Lande Sachsen am 30. Juni 1946 wurden in der gesamten Besatzungszone die Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet, ihr Vermögen in Volkseigentum überführt. Die demokratische Bodenreform zerschlug den junkerlichen Großgrundbesitz, er wurde Kleinbauern, Landarbeitern und Umsiedlern übereignet. Als im fünften Jahr nach der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, konnte ihre Verfassung die Ergebnisse einer Entwicklung gegen Faschismus, Militarismus und Monopolismus und zu einer Demokratie des Volkes bilanzieren. Das Verfassungsdokument entsprach den Grundsätzen des Potsdamer Abkommens und folgte den Orientierungen, die KPD und SED für ein demokratisches deutsches Staatswesen aufgestellt hatten. Es knüpfte an traditionelle demokratische Institutionen und Regelungen der Paulskirchen- und der Weimarer Verfassung an, zog aber auch die historischen Lehren aus deren Schwächen gegenüber reaktionären Kräften. 1 Kategorischer Antifaschismus und eine kämpferische Demokratie gehörten zu den Wesensmerkmalen der Verfassung von 1949. Obwohl die Verfassungsschöpfer davon ausgehen konnten, daß zum Zeitpunkt der Gründung der D D R auf ihrem Staatsgebiet die politischen und ökonomischen Machtpositionen des deutschen Imperialismus zerschlagen waren und damit dem Faschismus und Militarismus der Nährboden entzogen worden war, enthielt die Verfassung ausdrücklich antifaschistisch, antimilitaristisch und antiimperialistisch geprägte Bestimmungen: — „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches . . . Wer wegen Begehung dieser Verbrechen bestraft ist, kann weder im öffentlichen Dienst noch in leitenden Stellen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben tätig sein." (Art. 6) — „Die Betriebe der Kriegsverbrecher und aktiven Nationalsozialisten sind enteignet und gehen in Volkseigentum über. Das gleiche gilt für private Uhternehmungen, die sich in den Dienst einer Kriegspolitik stellen. Alle privaten Monopolorganisationen, wie Kartelle, Syndikate, Konzerne, Trusts und ähnliche . . . private Organisationen sind aufgehoben und verboten. 1

Vgl. Otto Grotewohl, Deutsche Verfassungspläne, Berlin 1947, S. 25 ff.; Karl Polak, Volk und Verfassung, Berlin 1949.

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Eberhard Poppe

Der private Großgrundbesitz, der mehr als 100 Hektar umfaßt, ist aufgelöst und wird ohne Entschädigung aufgeteilt." (Art. 24) - - „Kein Strafgesetz hat rückwirkende Kraft. Ausgenommen sind Maßnahmen und die Anwendung von Bestimmungen, die zur Überwindung des Nazismus, des Faschismus und des Militarismus getroffen werden oder die zur Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit notwendig sind." (Art. 135) — „Die verfassungsmäßigen Freiheiten und Rechte können nicht den Bestimmungen entgegengehalten werden, die ergangen sind und noch ergehen werden, um den Nationalsozialismus und Militarismus zu überwinden und das von ihnen verschuldete Unrecht wieder gutzumachen." (Art. 144) Diesem ausdrücklichen verfassungsmäßigen Bekenntnis zum Antifaschismus, das — wie noch zu zeigen ist — ein herausgehobener Aspekt des prinzipiellen demokratischen Charakters dieser Verfassung war, lagen mehrere Motive zugrunde: Obwohl die Verfassung nur für das Hoheitsgebiet der DDR Gültigkeit erlangte, wurde ihre gesamtdeutsche Konzeption im Sinne der Verpflichtung der demokratischen Kräfte zum politischen Engagement zur Überwindung der imperialistischen Spaltungspolitik und ihrer Folgen beibehalten. Das schloß notwendig ein, die in den Westzonen weder ideologisch noch personell konsequent durchgeführte Abrechnung mit Faschismus und Militarismus auf der Tagesordnung der politischen Auseinandersetzung zu belassen und jede legale Einwirkungsmöglichkeit restaurativer und revanchistischer Kräfte aus der BRD auf die Entwicklung der DDR zu unterbinden. Das war zur Sicherung des Friedens um so dringender geboten, als beide deutsche Staaten eine gemeinsame offene Grenze hatten und Westberlin zunehmend die Funktion eines „Pfahles im Fleische der DDR", einer imperialistischen Diversionszentrale gegenüber der DDR zugewiesen wurde. Zudem ist hier anzumerken, daß das im Mai 1949 verabschiedete Grundgesetz der BRD mit keinem Satz Faschismus und Militarismus und seine Anhänger verurteilte, wohl aber im berüchtigt gewordenen Artikel 131 versicherte, daß die Beamten des Nazistaates auf angemessene Wiederverwendung bzw. Pension zählen können. Der vom Obersten Gericht der DDR rechtskräftig zum Tode verurteilte Inspirator und Kommentator der faschistischen Rassengesetze, Oberregierungsrat Hans Globke, war einer von Zehntausenden Nutznießern dieser Regelung. Er wurde Intimus und Staatssekretär des Bundeskanzlers Adenauer. Die antifaschistischen Verfassungsregelungen waren aber auch von dem Ziel motiviert, den inneren demokratischen Umerziehungs- und Erziehungsprozeß der Bevölkerung, insbesondere der jungen Generation, in aktiver Auseinandersetzung mit dem faschistisch-militaristischen Ungeist und seinen Folgen durchzuführen, damit die Bürger in Erkenntnis ihrer Verantwortung vor der Geschichte den Neuaufbau bewußt mitgestalten. War der Antifaschismus das Wesensmerkmal der Verfassung, das die kategorische Ausrottung des deutschen Faschismus und Militarismus mit allen Wurzeln feststellte und Vorsorge gegen jegliches Wiederaufleben traf, so war es gleichzeitig auch eine unverzichtbare Bedingung, um die Demokratie als das dominierende Wesensmerkmal der Verfassung bei der Entwicklung des neuen Staates verwirklichen und sichern zu können. In der Demokratiekonzeption der Verfassung war spürbar, daß erstmalig in der deutschen Geschichte ein Verfassungsentwurf von einer marxistisch-leninistischen Partei erarbeitet und intensiv mit den organisierten demokratischen Kräften beraten worden war. Zudem hatte die Bevölkerung selbst in öffentlicher Diskussion die Möglichkeit, ihre künftige Verfassung zu gestalten. Über 9000 Versammlungen, die sich ausschließlich mit dem Verfassungsentwurf be-

Demokratie, Antifaschismus, Sozialismus in der Verfassung

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schäftigten, wurden durchgeführt. 503 Abänderungsvorschläge waren zu berücksichtigen, von den 144 Artikeln des Entwurfes wurden 52 geändert. Seit im November 1946 der Parteivorstand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands seinen Verfassungsentwurf der Öffentlichkeit unterbreitet hatte, prägte eine maßgeblich von den aktivsten und bewußtesten Kräften des Volkes konzipierte Demokratie, die keine nur antifaschistisch modifizierte bürgerlich-parlamentarische Demokratie war, nicht nur den Entstehungsprozeß, sondern auch den Inhalt der Verfassung selbst. Wenngleich es hier nicht möglich ist, den demokratischen Inhalt der Verfassung lückenlos darzustellen2, so verdienen doch einige Kernregelungen skizziert zu werden. Sie zeigen den Bruch mit herkömmlichen bürgerlichen Demokratiestandards, etwa der in manchen Elementen durchaus rezipierten Weimarer Verfassung, und verkörpern eine eigenständige Demokratiekonzeption, die den neuen antifaschistisch-demokratischen Staat kennzeichnete: Artikel 3 der Verfassung bestimmte: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Dieser Satz fand sich schon in der Weimarer Verfassung (Art. 1), wie er überhaupt zum Standard moderner bürgerlich-republikanischer Verfassungen nach der französischen Revolution wurde. Die offenkundige Diskrepanz dieser Regelung zur Wirklichkeit bourgeoiser Machtausübung wurde in der Weimarer Republik vielfach glossiert, so mit der Feststellung „Alle Staatsgewalt geht vom Gelde aus" oder in einem Brecht-Gedicht „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?". 3 Damit die im Artikel 3 postulierte Volkssouveranität verbürgte Realität sein konnte, waren zwei Voraussetzungen notwendig. Erstens die weitere verfassungsmäßige Ausgestaltung und Sicherung dieses demokratischen Herrschaftspostulats. Zweitens die Führung des Volkes bei seiner Machtausübung durch die Arbeiterklasse und ihre Partei, die Klasse und Partei, die bereits am 11. Juni 1945 im „Aufruf des ZK der KPD an das deutsche Volk zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands" 4 ein klares Aktionsprogramm im Interesse aller Werktätigen vorgelegt hatte. Die Demokratiekonzeption der Verfassung fand nicht nur im schon dargelegten Antifaschismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus, also in der Abwehr der geschichtsnotorischen Feinde jeglicher Demokratie des Volkes ihren Ausdruck, sondern auch im Bekenntnis zu uneingeschränkter Volkssouveränität als Handlungsmaxime für Staat, Wirtschaft und Bürger, um den Frieden zu sichern und gesellschaftlichen Fortschritt zu gestalten. Das Prinzip der Gewaltenteilung und jeglicher partikularistischer Föderalismus im Staatsaufbau wurden aus der Verfassung verbannt. 5 Die Volkskammer erhielt den Status des höchsten Organs der unteilbaren demokratischen Republik. Das war eine maßgebliche verfassungsmäßige Position, daß das Volk seine politische Macht einheitlich in allen Bereichen staatlicher Tätigkeit und allen Landesteilen durchsetzen konnte. Weder der Präsident der Republik noch die Regierung oder das Oberste Gericht konnten Maßnahmen des vom Volk gebildeten höchsten Machtorgans paralysieren. Im Gegenteil, ihr Wirken unterlag der Überwachung durch die Volkskammer. Gleichzeitig verbürgte die Verfassung umfassende gesellschaftliche Mitgestaltung und Mitbestimmung bei der staatlichen Willensbildung und Machtausübung. Volkssouveränität wurde nicht — wie im Grundgesetz der BRD — auf die 2

3 4

5

Dazu ist zu verweisen auf Errichtung des Arbeiter-und-Bauern-Staates der DDR 1945—1949, Autorenkollektiv unter der Leitung von Karl-Heinz Schöneburg, Berlin 1984. Bertolt Brecht, Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung, in: Hundert Gedichte, Berlin 1954, S. 202ff. Geschichte des Staates und Rechts der DDR. Dokumente 1945—1949, Berlin 1984, S. 47f. Dort ist auch der Text der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. 10. 1949 abgedruckt (S. 258 ff.). Polak, S. 29 ff.

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Stimmabgabe bei Parlamentswahlen reduziert, sondern als ständig mögliche und notwendige Teilnahme an der Machtausübung in vielgestaltigen demokratischen Aktivitäten verbürgt. „Jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreis, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik. Das Mitbestimmungsrecht der Bürger wird wahrgenommen durch: Teilnahme an Volksbegehren und Volksentscheiden; Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts; Übernahme öffentlicher Ämter in Verwaltung und Rechtssprechung." (Art. 3) Um Demokratie auch in der Wirtschaft, in der noch in erheblichem Umfang privatkapitalistische Unternehmen tätig waren 6 , zu sichern, wurde die Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten durch Gewerkschaften und Betriebsräte zum Verfassungsgebot erhoben (Art. 17), ein einheitliches Arbeitsrecht der Republik unter maßgeblicher Mitbestimmung der Werktätigen angekündigt (Art. 18) und schon im April 1950 mit dem Arbeitsgesetz in Kraft gesetzt. Für eine demokratische Wirtschaftsgestaltung im Interesse der Werktätigen nicht minder bedeutsam war es, daß die Verfassung an allen Bodenschätzen, allen wirtschaftlich nutzbaren Naturkräften sowie den Betrieben des Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung und der Energiewirtschaft Volkseigentum begründete (Art. 25) und bei Mißbrauch des Privateigentums zum Schaden des Gemeinwohls die Enteignung und Überführung in Volkseigentum androhte (Art. 24). U m die Herrschaft des Volkes auch in der Wirtschaft zu gewährleisten, bestimmte die Verfassung, daß der Staat zur Sicherung der Lebensgrundlagen und zur Steigerung des Wohlstandes seiner Bürger unter ihrer unmittelbaren Mitwirkung den öffentlichen Wirtschaftsplan aufzustellen hat (Art. 21) und durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt sichern muß (Art. 15). Demokratie zu verwirklichen und zu sichern, war auch die Prämisse, die der Regelung der Stellung des Bürgers in der Gesellschaft zugrunde lag. Mit dem Recht und der Pflicht des Bürgers zur Mitgestaltung des Staates (Art. 3) wurde nicht nur ein Grundrecht verankert, sondern damit wurde das Prinzip der Volkssouveränität auch als Vollmacht und Pflicht jedes einzelnen Bürgers zur Teilnahme an der demokratischen Machtausübung verfassungsmäßig definiert und ausgestaltet. Es stand diese Regelung unter der Überschrift „Grundlagen der Staatsgewalt", um damit die persönliche und ständige Verantwortung des Bürgers für die Gestaltung der Demokratie zu betonen, aus der er sich nicht durch bloße Teilnahme an Wahlen lösen konnte. Die Verfassung hob die Größe und Permanenz dieser Verantwortung für die Entwicklung des neuen, antifaschistisch-demokratischen Staatswesens zusätzlich dadurch hervor, daß sie den Bürger zum Widerstand gegen solche Maßnahmen berechtigte und verpflichtete, die den Beschlüssen der Volksvertretung widersprachen (Art. 4). Um unbeeinträchtigtes demokratisches Handeln zu sichern, regelte die Verfassung Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person und Wohnung, Postgeheimnis, Freizügigkeit und andere elementare politische und persönliche Rechte und Freiheiten des Individuums. Hier gab es viele äußerliche Anklänge z. B. an den Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung und 6

„1950 gab es 17 500 kapitalistische Industriebetriebe, die rund 25 Prozent der industriellen Bruttoproduktion erzeugten. Ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche wurde von 47557 großbäuerlichen Betrieben bewirtschaftet. Also existierten noch Schichten der Gesellschaft, denen an der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse lag. Deshalb war ein Teil der Unternehmer, Großbauern und Großhändler offen gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht eingestellt und lehnte die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei ab." Geschichte der SED. Abriß, Berlin 1978, S. 231.

Demokratie, Antifaschismus, Sozialismus in der Verfassung

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dennoch prinzipielle Unterschiede. Es konnten diese Rechte nicht mehr für faschistische und andere reaktionöre Aktivitäten mißbraucht werden, sie definierten sich schon durch die Präambel der Verfassung als Rechte zu demokratischer Gesellschaftsgestaltung. Gleichzeitig garantierte die Verfassung sozialökonomische Rechte, das Recht auf Arbeit (Art. 15), auf Erholung und Versorgung bei Krankheit und im Alter (Art. 16), auf Wohnung (Art. 26) u. a. und sicherte damit existentielle Voraussetzungen freien demokratischen Handelns der Bürger. 7 Wenn hier die Demokratie als ein bestimmendes Wesensmerkmal der Verfassung apostrophiert wurde, so folgt aus dem historischen Kontext, daß dafür nicht der Maßstab sozialistischer Demokratie verbindlich sein konnte. Die gesamtdeutsche Zielsetzung des Verfassungsvorhabens, das politische Bündnis auch mit solchen Kräften, die geistig noch im bürgerlichen Denken verhaftet waren, forderten Kompromisse, um den Konsens für die gemeinsame Gestaltung eines antifaschistischen und demokratischen Staates zu erreichen und zu bewahren. So finden sich in der Verfassung auch Regelungen und Diktionen bürgerlicher Prägung wie z. B. das sogenannte freie Abgeordnetenmandat (Art. 51) anstelle klarer Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern, die kommunale Selbstverwaltung (Abschnitt IX) und der öffentlich-rechtliche Status der Religionsgemeinschaften (Art. 43). In Anlehnung an das Generalthema der Festschrift wird in der Überschrift dieses Beitrages auch vom Sozialismus in der ersten Verfassung der D D R gesprochen. Das ist insoweit legitim, als dadurch auf mögliche Überlegungen dazu aufmerksam gemacht werden soll. Während Antifaschismus und Demokratie als Wesensmerkmale dieser ersten Verfassung bestimmt werden konnten, wäre es vermessen, vom Sozialismus als Wesensmerkmal der 1949 in Kraft gesetzten Verfassung zu sprechen. Der Verfassungstext enthielt weder den Begriff Sozialismus noch davon abgeleitete Begriffe. Die Verfassungsterminologie und äußere Struktur war eher an demokratische Elemente, insbesondere der Weimarer Verfassung, angelehnt. Die eine sozialistische Verfassung kennzeichnende Klarheit der Regelungen zur Klassenstruktur der Gesellschaft und klassenmäßigen Ausübung der Staatsgewalt, zur Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei sowie zu den ökonomischen Grundlagen bestand nicht. Dem Typus nach war die Verfassung der D D R von 1949 keine sozialistische Verfassung. Sie war eine Verfassung, die die Weiterführung der revolutionären Umwälzung sicherte und dem Aufbau des Sozialismus den Weg ebnete. 8 Ihre eindeutig progressive Tendenz würdigend und in Beachtung der Klassenkämpfe, die diese Verfassung hervorbrachten und verwirklichten, kann sie als eine Verfassung auf dem Wege zum Sozialismus charakterisiert werden. Die in der revolutionären Klassenauseinandersetzung errungenen Erfolge (Verwirklichung der Volkssouveränität, Schaffung des Volkseigentums, Vergesellschaftung der Bodenschätze und Grundstoffindustrie, Durchführung der Boden-, Schul- und Justizreform) erklärte sie ebenso wie Antifaschismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus zu unantastbaren Grundlagen der Gesellschafts- und Staatsordnung. Aber sie war nicht nur Bilanz des Erreichten, der schon vollzogenen gesellschaftlichen Umwälzungen. Ihre programmatischen Zielstellungen — die Präambel und viele Einzelregelungen geboten, „die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern" — gaben der 7 8

Vgl. Grotewohl, S. 65 ff. Geschichte der SED, S. 221.

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geeinten Arbeiterklasse und ihren Verbündeten die Möglichkeit, auf verfassungsrechtlich gesicherten Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus zu wirken. Das war möglich, weil diese erste Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von ihren Schöpfern inhaltlich so gestaltet war, wie es bereits Karl Marx in seiner „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" gefordert hatte: „. . . daß der F o r t s c h r i t t zum P r i n z i p d e r V e r f a s s u n g gemacht wird, daß also der wirkliche Träger der Verfassung, das Volk, zum Träger der Verfassung gemacht wird. Der Fortschritt selbst ist dann die Verfassung." 9 So konnte der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, in Vorbereitung einer sozialistischen Verfassung der DDR am 1. Dezember 1967 vor der Volkskammer resümieren: „Die Verfassung des Jahres 1949 hat uns und unserem sozialistischen deutschen Staat gute Dienste beim Voranschreiten in eine glückliche Zukunft und bei der Errichtung der Fundamente des Sozialismus geleistet."10

9 10

MEW, Bd. 1, Berlin 1958, S. 259. Vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik — Dokumente ¡Kommentare, Bd. 1, Berlin 1969, S. 43.

W E R N E R BAHNER

Sprache und Geschichtswissenschaft

Bei der wissenschaftlichen Aufhellung geschichtlicher Prozesse erweisen sich sprachliche Fakten immer wieder als wertvolle Anhaltspunkte, treten sie doch sowohl als Indikator als auch als Faktor gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in Erscheinung. „In der Art und Weise, mit der sich die Sprecher und Schreiber der Sprache bedienen, wie sie eine Auswahl aus dem Vokabular ihrer Zeit treffen bzw. welche neuen Bedingungen und Wertungen einschließlich emotionaler und voluntativer Konnotationen sie im konkreten Kontext den übernommenen Wörtern geben, kann das Wesen einer historischen Situation, einer zutage tretenden Tendenz, ja das Selbstverständnis der Klassenkräfte erkannt werden." 1 Es hängt vom genauen und zugleich weitreichenden Erfassen der jeweiligen Quellensprache ab, inwieweit es gelingt, die damit verknüpften komplexen Phänomene zu beleuchten. Neuere kommunikationslinguistische Einsichten und Methoden können hierbei eine wertvolle, ja letztlich unverzichtbare Hilfsstellung leisten. Doch die moderne, Geschichtsforschung hat sich nicht nur die nötigen sprachlichen Kenntnisse zum Studium der jeweiligen Quellensprache anzueignen, sondern steht zugleich vor der Aufgabe, sich Klarheit über ihre eigene Sprache zu verschaffen, d. h. sowohl über ihre Darstellungsformen als auch über die Notwendigkeit und Beschaffenheit eines eigenen Fachvokabulars nachzudenken. Es ist deshalb nicht zufallig, daß die Bedeutung der Sprache für die historische Forschung in neuer Zeit verstärkt ins Blickfeld gerückt worden ist. Auf dem XV. Internationalen Historikerkongreß 1980 in Bukarest lautete beispielsweise das Thema einer Plenarveranstaltung „Die Sprache des Historikers". Diese Thematik erwies sich allerdings, wie die einzelnen Beiträge es insgesamt dokumentierten, als recht vieldeutig und lief letztlich auf verschiedene Problemkreise hinaus. 2 Das Problem der sprachlichen Darstellungsform historischer Erkenntnisse reicht weit ins klassische Altertum zurück. Es war vielfach mit der Entwicklung der schöngeistigen Literatur verknüpft. Und daß die bedeutendsten Geschichtsschreiber der vergangenen Jahrhunderte stets auch von der Literaturgeschichte mit behandelt werden, dürfte symptomatisch sein. In jüngster Zeit wird bezeichnenderweise die Fachterminologie des Historikers verstärkt zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion. Dabei spielt das Bedürfnis nach

1

2

Albrecht Neubert, Sprache und Geschichte — Sprache in geschichtlicher Sicht und historischer Wandel im Lichte der Sprache, in : Festvorträge der wissenschaftlichen Konferenz der Akademie anläßlich des 275. Akademiejubiläums, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften 3 G, Berlin 1975, S. 25. Vgl. XV Congrès international des sciences historiques, Bucarest 1980, Bd. I, S. 397ff.

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Werner Bahner

größerer Präzision in der Begriffsbildung und damit in Zusammenhang die Übernahme von Termini der systematischen Sozialwissenschaften eine wesentliche Rolle. Mehr denn je zeigt sich dann, wie sehr die historiographische Fachterminologie mit historischer Theoriebildung zusammenhängt. Mit dem stärkeren Eindringen von Fachausdrücken muß nicht notwendigerweise das Bemühen einer auf Bewußtseinsbildung breiter Schichten ausgerichteten Historiographie kollidieren, forscherisch Neuerschlossenes plastisch und wirksam darzubieten. Es kommt immer darauf an, wie die betreffenden Termini eingeführt und erläutert werden. Außerdem erscheint es für eine auf Breitenwirkung abzielende Historiographie geboten, solche Termini nur sparsam zu gebrauchen, d. h. nur da, wo dies absolut unumgänglich ist. Was für Spezialmonographien hinsichtlich der Fachterminologie angebracht erscheint, gilt nicht im gleichen Maß für Geschichtswerke mit angestrebter Breitenwirkung. Zahlreiche traditionelle geschichtswissenschaftliche Termini lassen sich von quellensprachlichen Ausdrücken herleiten. Mit Recht hob W. Küttler auf dem XV., Internationalen Historikerkongreß hervor, daß solche vielfach als Schlagwort auftauchende Quellenausdrücke „oft schon aus dem theoretischen Wissen der Zeit" erwachsen und „Inhalte bestimmter Fachsprachen" wiedergeben. 3 In der Tat gibt es eine lange Reihe von geschichtswissenschaftlichen Termini, die einst Schlüsselwörter in den ideologischen Kämpfen der Vergangenheit waren und begriffliche Knotenpunkte verkörperten. Insbesondere Selbstbenennungen gesellschaftlicher Kräfte oder griffige Apostrophierungen des Gegners stießen manchmal auf beachtliche Resonanz, verbreiteten sich rasch und boten sich später dem Historiker als ordnende Termini an. Die inhaltliche Bestimmung solcher Termini weist indessen bis heute, je nach bezogener weltanschaulich-methodologischer Position, zuweilen beträchtliche Unterschiede auf, vor allem auf Grund der damit verbundenen Wertung. Schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte und gegenwärtige Bedeutung solcher Ausdrücke wie „Aufklärung", „Kommunismus", „Liberalismus", „Patriotismus", „Reaktion" usw. macht das deutlich. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben einzelne Sprachwissenschaftler, Literaturhistoriker und Historiker die Geschichte solcher Schlüssel-, Fahnen- und Schlagwörter erforscht und darlegt. Erwähnt seien nur R. M. Meyers Werk „Vierhundert Schlagworte" (Leipzig 1900), O. Ladendorfs „Historisches Schlagwörterbuch" (Straßburg/Berlin 1906), E. Kredels Arbeit „Hundert französische Schlagworte und Modewörter" (Gießen 1926), L. Febvres Monographie „Civilisation, le mot et l'idée" (Paris 1930) oder die zahlreichen semantischen Abhandlungen von F. Schalk 4 und anderen Gelehrten. 5 Diese Liste ließe sich beträchtlich verlängern. Charakteristisch für diese Studien ist, daß sie der historischen Semantik traditionellen, d. h. semasiologischen Zuschnitts verpflichtet sind, den Bedeutungsveränderungen des untersuchten Einzelwortes nachgehen und diese vielfach mit der geistigen Entwicklung des jeweiligen Zeitabschnitts in Verbindung bringen. Systemhafte linguistische Zusammenhänge bleiben in diesem Zusammenhang meist unberücksichtigt, so daß oftmals zu eindimensionale und direkte Bezüge hergestellt werden. Und von kommunikationslinguistischen Gesichtspunkten gar, die heute mehr und mehr für solche Studien seitens der Sprachforschung

3 4 5

Ebenda, S. 412. Exempta romanischer Leo Spitzer,

Wortgeschichte,

Frankfurt a. M. 1966.

Essays on Historical Semantics, N e w York 1948. W. Krauss hat in einigen bemerkenswerten

Studien versucht, historische Semantik aus der Sicht des historischen Materialismus zu betreiben und u. a. die Bedeutungsgeschichte von patriotisme, patriote, matérialisme, révolution und enthousiasme untersucht; vgl. Ulrich Ricken

(Hrsg.), Struktur und Funktion des sozialen Wortschatzes in der französischen

Literatur, Halle 1970, S. 79 ff.

Sprache und Geschichtswissenschaft

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als unabdingbar erachtet werden 6 , kann natürlich keine Rede sein. Die noch im traditionellen Rahmen erscheinende historische Semantik hat nichtsdestoweniger in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft und Philosophiegeschichtsschreibung seit ungefähr zwei Jahrzehnten durch die Begriffsgeschichte mächtigen Auftrieb erfahren. Dies hängt eng mit dem besonderen Stellenwert zusammen, den hermeneutische Positionen in der methodologischen Auseinandersetzung erlangt haben. Zugleich findet es seinen konkreten Niederschlag in zahlreichen Monographien und vielbändigen Lexika. Als das wohl anspruchsvollste und typischste Werk darf in dieser Hinsicht gelten: „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", herausgegeben von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Stuttgart 1972 ff. Von diesem auf sechs Bände berechneten Werk sind bisher fünf recht umfangreiche Bände erschienen. Die Herausgeber haben sich das Ziel gesetzt, in diesem Lexikon zirka 130 geschichtliche Grundbegriffe in ihrer Entwicklung darzustellen. Unter geschichtlichen Grundbegriffen verstehen sie nicht die Fachausdrücke ihrer Disziplin. Vielmehr wollen sie damit nach ihrer Ausdrucksweise „Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung" erfassen. Ihr Ausgangspunkt lautet : „Keine historische Forschung kann umhin, die sprachliche Aussage und Selbstauslegung vergangener oder gegenwärtiger Zeiten als Durchgangsphase ihrer Untersuchung zu thematisieren. In gewisser Weise ist die gesamte Quellensprache der jeweils behandelten Zeiträume eine einzige Metapher für die Geschichte, um deren Erkenntnis es geht . . . Das Lexikon beschränkt sich deshalb auf solche Ausdrücke, von deren Tragweite und durch deren Anwendung Strukturen und große Ereigniszusammenhänge erschlossen werden können." 7 Bei diesen Ausdrücken, die als Faktoren und Indikatoren geschichtlicher Bewegung betrachtet werden, handelt es sich im wesentlichen um zentrale Verfassungsbegriffe, Schlüsselwörter der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Organisation, Leitbegriffe politischer Bewegungen, Kernbegriffe der Ideologie, Bezeichnungen der sozialen Schichtung und Selbstbenennungen von Wissenschaften, die sich mit sozialpolitischen Erscheinungen beschäftigen. So werden u. a. historisch-kritisch untersucht Begriffe wie: Adel, Bürger, Arbeiter, Bauer; Ausnahmezustand, Anarchie, Diktatur, Demokratie, Monarchie, Parlament, Partei; Aufklärung, Fortschritt, Freiheit, Menschheit, Friede, Emanzipation, Gleichheit, Ideologie, Liberalismus, Imperialismus, Marxismus, Internationale, Radikalismus, Reaktion, Regierung, Sozialismus usw. Schon diese Aufzählung zeigt, daß hier nicht nur sehr unterschiedliche Begriffe, sondern ebenso in linguistischer Hinsicht recht unterschiedliche Beziehungen hierfür auftauchen. Den Verfassern dieses Lexikons geht es weniger um den bei den einzelnen Stichwörtern jeweils relevanten Bedeutungs- bzw. Bezeichnungswandel in seiner linguistischen Komplexität, sondern darum, heutige gängige politischsoziale Begriffe bewußt zu machen. Sie wollen zeigen, welchen Sinngehalt zahlreiche als Termini gebrauchte Wörter vornehmlich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten haben, indem sie sowohl die damit einst bezeichneten politisch-sozialen Sachverhalte herausstellen als auch die Formierung der modernen Bedeutung verdeutlichen. In letzterem Fall tritt hinter dem philologischen Bemühen, scheinbar unvoreingenommen die jeweiligen Bedeutungen zu registrieren, die Tendenz hervor, die untersuchten Begriffe nach bürgerlichen Wertvorstellungen einzuordnen. Dies zeigt sich u. a. im Aufbau des betreffenden Artikels sowie in den zusammenfassenden Schlußbemerkungen und in einer immanenten Abwehr6

7

21

Vgl. u. a. R. Robin, Histoire et linguistique, Paris 1973; Klaus Bochmann (Hrsg.), Die Analyse politischer Texte. Theoretische und Methodenfragen, Leipzig 1981. Bd. 1, S. XIII. Demokratie. Sozialismus

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haltung gegenüber dem Marxismus-Leninismus. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, daß für zahlreiche politisch-soziale Grundbegriffe der Neuzeit als besonders typisch die Ideologisierbarkeit, ihr wachsender Abstraktionsgrad und damit der Verlust, anschaulich auf bestimmte soziale Gegebenheiten zu verweisen, betont wird. 8 Von manchen durchaus richtigen Beobachtungen ausgehend, wird-dabei der Bogen zu einem pluralistischen Konzept geschlagen, das dem bürgerlichen Ideologiebegriff verpflichtet ist. Damit hängt eng zusammen, daß die Frage nach der Adäquatheit der behandelten Begriffe zur realgeschichtlichen sozial-ökonomischen Entwicklung nicht konsequent gestellt wird. Diese Art Begriffsgeschichte soll interpretierend heranführen an die in den Begriffen sich niederschlagende Erfahrung, und sie soll möglichst die in den Begriffen enthaltenen Theorieansätze aufdecken. 9 Über die Bedeutung der Begriffsgeschichte für die einzelnen historischen Disziplinen gibt es keinen Zweifel 10 , doch sollte im einzelnen genau geprüft werden, wie und mit welcher Zielstellung sie jeweils betrieben wird. Bei allen Erkenntnissen, die durch die Begriffsgeschichte gewonnen worden sind, läßt sich nicht übersehen, daß sie in bürgerlichen Wissenschaftskonzepten auch dafür mit herhalten soll, das gängige bürgerliche Ideologiekonzept zu dokumentieren und das Wahrheitsproblem auszuklammern. In linguistischer Hinsicht bietet die Begriffsgeschichte zahlreiche Schwächen, da sie nur sehr ungenügend den Diskurscharakter, d. h. die Sprache in der sozialen Interaktion beachtet. Die Komplexität des jeweiligen Kommunikationsereignisses gerät aus dem Gesichtskreis. Zu wenig wird berücksichtigt, daß es bei dem Gegenstand der in diesem Lexikon zur Erörterung stehenden Begriffsgeschichte um auf politisches Handeln abzielendes sprachliches Handeln geht. 11 Die im Hinblick auf die Geschichte des jeweiligen Begriffs angeführten Texte werden nicht oder nur recht ungenügend unterschieden nach den jeweils relevanten „Kommunikationssituationen, Kommunikationsrestriktionen, Gruppencodes und Textsorten". 1 2 Außerdem spielt das Moment der Argumentation kaum eine Rolle und damit der Bezug auf eine umfassendere sprachliche Äußerungseinheit. In dieser Hinsicht ist ja gerade von Belang, wer was, zu welchem Zeitpunkt, aus welchem Interesse und zu welchem Zweck durch die sprachliche Äußerung intendiert. Doch außer der Blickrichtung des jeweiligen Textproduzenten ist ebenso der beim Adressaten zu erwartende Wissens- und Erfahrungshorizont und damit die mit der Dekodierung des übermittelten Textes zusammenhängende Problematik im Kommunikationsgeschehen zu beachten. Klaus Bochmann fordert deshalb mit vollem Recht, auch folgenden Fragen nachzugehen: „(1) Wie äußert sich sprachlich die Haltung des Sprechers zum Adressajen, wird dieser in den Text einbezogen bzw. genannt? (2) Gibt sich der Sender zu erkennen, äußert er sich im eigenen, kollektiven oder fremden Namen? (3) Welches sind die Anteile (gruppen-)eigner, fremder Rede, wie wird fremde Rede markiert? 8 9 10 11

12

Bd. 1, S. XVII. Bd. 1, S. XXIV. Vgl. Reinhart Koselleck, Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978. In der Einleitung zu diesem historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland wird zwar von R. Koselleck auf einige wichtige damit verknüpfte Aspekte hingewiesen (S. XX), doch in den einzelnen Artikeln bleiben diese letztlich ein Desiderat. Heiner Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Koselleck, Historische Semantik und Begriffsgeschichte, S. 64.

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(4) Wie äußert sich die Haltung des Sprechers zur Mitteilung, welche .Modalität' wird gewählt, um die Stellung zum ausgedrückten Sachverhalt zu markieren? (5) In welchem Grade liefert der Text die Informationen zu seinem Verständnis mit, welches ist der Anteil der Präsuppositionen, ist der Text opak oder transparent?" 1 3 Diese Aspekte sind Teil komplexer Prozesse, denen stets bestimmte sozial-ökonomisch bedingte Kommunikationsbeziehungen und darauf basierende Kommunikationsereignisse zugrunde liegen. Es muß davon ausgegangen werden, daß beim Kommunikationsvorgang Sender als auch Empfanger über Erfahrungen, Kenntnisse und Grundeinstellungen verfügen, die bei aller individuellen Ausprägung gesellschaftlich determiniert sind und bei den Intentionen des Senders ebenso wie bei den Dekodierungen durch den Adressaten zur Geltung kommen. Die Sprache, die immer nur als eine bestimmte Einzelsprache in Erscheinung tritt, ist mit der gesamten geistigen und gegenständlich-praktischen Tätigkeit des Menschen verknüpft. In ihrer Einheit von kognitiver und kommunikativer Funktion wird sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu einem unverzichtbaren Vermittlungsfaktor. Dort, wo es um Bewußtseins- und Verhaltensentwicklung geht, tritt dies besonders deutlich hervor. Die Fixierung und Übermittlung von Bewußtseinsinhalten erfolgt schließlich über sprachliche Zeichen, mit deren Hilfe eine Einflußnahme auf das Denken und Handeln der Kommunikationspartner ermöglicht werden kann. Jede Einzelsprache, die stets, wenn auch in unterschiedlichem Maße, regionale, soziale und funktional-stilistische Varietäten aufweist, ist als Code der betreffenden Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft das Produkt gesellschaftlicher Überlieferung und Entwicklung. Sie wird von den vorangehenden Generationen übernommen und schöpferisch im Hinblick auf die neuen kommunikativen Bedürfnisse gebraucht und so weiterentwickelt. Der Einfluß der herrschenden Klasse auf die in einer Epoche dominierenden Ideen und damit auf das Vokabular ideologischer Leitvorstellungen und gesellschaftlicher Ideale ist unübersehbar. 1 4 Doch die unterdrückten Klassen haben sich damit in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung nicht abgefunden, besonders in Zeiten zugespitzter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen nicht. Mit unterschiedlichem Erfolg versuchten sie, die Leitbegriffe und die damit verknüpften Schlüsselwörter der herrschenden Ideologie durch andere Sinngebung zu unterminieren oder auch, ihren Kampfzielen gemäß, eigene gesellschaftspolitische Fahnenwörter zu prägen. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wurden dann nicht mehr in der Sprache der Herrschenden, d. h. der vorherrschenden Terminologie, gekennzeichnet. Neue, auf charakteristischen Benennungsmotiven fußende Bezeichnungen tauchten auf, oder zentrale Ausdrücke des gängigen gesellschaftspolitischen Wortschatzes wurden semantisch verändert, zuweilen auch im entgegengesetzten Sinn mit negativem Akzent verwendet. 15 Die Sprachverwendung in der Politik bezieht sich keinesfalls nur auf den besonders aufschlußreichen gesellschaftspolitischen Wortschatz. Sie schließt alle Aspekte des Diskurses und damit alle jeweils relevanten sprachlichen Komponenten ein. Von einer besonderen Sprache der Politik kann indessen keine Rede sein. Georg Klaus meinte in seinem 1971 veröffentlichten Buch „Sprache der Politik", daß man nur einschränkend von einer „Sprache der Politik" sprechen könne. Und eine Begründung hierfür suchend, folgerte er: „. . . denn es 13 14 15

Bochmann, S. 15 f. Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1962, S. 46. Vgl. u. a. Wolfgang Fleischer, Ideologie und Sprache, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 29(1981), H. 11, S. 1329-1339.

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gibt im Prinzip nur eine einheitliche zusammenhängende Sprache; wenn wir von der Sprache der Logik, der Wissenschaft, der Rechtsprechung, der Politik usw. reden, so soll dies nur bedeuten, daß in den betreffenden Bereichen neben den sprachlichen Bezirken der allgemein üblichen Umgangssprache noch ein spezieller Bezirk existiert, in dem die Fachtermini der betreffenden Wissenschaft, der ,Jargon' bestimmter Klassen und Schichten in politischer Beziehung usw. enthalten ist." 16 Mit Recht wird hervorgehoben, wie sehr in diesem Fall die Allgemeinsprache in einem wechselseitigen Zusammenhang mit der Fachsprache steht, ja hierfür die Basis bildet, und terminologische Elemente in die Aussage eingebunden erscheinen. Dennoch dürfte die Komplexität dieses Phänomens damit kaum erfaßt sein. Zum einen fließen in die Politik mehrere Fachbereiche, d. h. Fachwortschätze ein. Da die Politik alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt, einen Komplex eng miteinander verbundener und sich wechselseitig bedingender Bereiche der Gesellschaft darstellt, erweist sie sich als ein weitgefächertes Gebiet. Unter Politik ist bekanntlich der Kampf der Klassen und ihrer Parteien, der Staaten und Weltsysteme um die Verwirklichung ihrer sozialökonomisch bedingten Interessen und Ziele sowie die Stellung der Schichten und Klassen zur Macht zu verstehen. Zum anderen ist bei den einzelnen fachspezifischen Bereichen, die zur Dimension des Politischen zählen, zu unterscheiden, ob es dabei um eine interne, auf Zweckmäßigkeit oder Präzision bedachte sprachliche Verständigung geht oder um eine nach außen hin, auf die breite Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation. Walther Dieckmann differenziert in dieser Hinsicht zwischen Funktionssprache,und Meinungssprache und definiert beide wie folgt: „Die Funktionssprache dient der organisatorischen Verständigung innerhalb des staatlichen Apparates und seiner Institutionen . . . Sie ist wirklichkeitsbezogen und hat ein stark rationales Gepräge. Die Meinungssprache vermittelt Deutungen, die die Ideologie von der Wirklichkeit gibt, und richtet sich nach außen an die Öffentlichkeit. Sie enthält einen starken Einschlag ideologischen Vokabulars." 1 7 Sicherlich ist die Wahl des Terminus „Meinungssprache" wenig angebracht, weil irreführend. Auch ist bei Dieckmann eine konvergenztheoretische Konzeption anzutreffen, wenn er technische und methodische Gemeinsamkeiten bei der organisierenden administrativen Bewältigung in sozialökonomisch ganz unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gleichsetzt und so ausklammert, daß sie der Realisierung ganz unterschiedlicher Zielfunktionen dienen. Dennoch liegt dieser Zweiteilung eine wichtige Beobachtung zugrunde, die mit dem übergreifenden Verhältnis von Allgemeinwortschatz und Fachwortschatz zusammenhängt und nach dem jeweiligen Kommunikationskreis differenziert. Zutreffend wird in neuerer Zeit von mehreren Linguisten hervorgehoben, daß es sich bei den einzelnen Fachwortschätzen nicht nur um Terminologien handelt, sondern auch spezifische Kommunikationssituationen mit von Belang sein können. So lassen sich für eine Reihe von spezifischen Fachbereichen drei Schichten feststellen: 1) die eigentliche theoretisch fundierte Wissenschaftssprache, d. h. die Fachterminologie, 2) die Werkstattsprache, d. h. die fachinterne Verständigung des Alltags, und 3) die Verbreitungssprache, d. h. diejenige, die den Kontakt zur breiten Öffentlichkeit herzustellen hat, das Bindeglied zur Laienwelt darstellt. Diese dritte Schicht wirkt immer wieder in den Wortschatz der Allgemeinsprache hinein. 18 16 17

18

Georg Klaus, Sprache der Politik, Berlin 1971, S. 30f. Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1969, S. 81. Wolfgang Mentrup (Hrsg.), Fachsprachen und Gemeinsprache, Düsseldorf 1979.

Sprache und Geschichtswissenschaft

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Zwischen dem Wortschatz der Allgemeinsprache und den Fachwortschätzen besteht eine Übergangszone, was die allgemeine Zirkulation, den Umlaufswert der einzelnen lexikalischen Einheiten angeht. Diese Übergangszone ist nach den jeweils vorhandenen soziokulturellen und kommunikativen Bedingungen von unterschiedlicher Dimension und Beschaffenheit. Dabei spielen u. a. der Stand der allgemeinen Volksbildung, der Rahmen und die Intensität der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie die Zahl und der Charakter der vorhandenen Kommunikationskanäle eine bemerkenswerte Rolle. Welches Fachgebiet in dieser Übergangszone relativ zahlreich vertreten ist, hängt von den jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen sowie von hierbei besonders relevanten Entwicklungen und Ereignissen ab. Das betreffende Fachwort hat in der Übergangszone bereits seine lexikalische Fremdheit, die nicht mit einem Lehn- bzw. Fremdwort identisch zu sein braucht, sondern durchaus aus einheimischen sprachlichen Elementen bestehen kann, für einen großen Teil Nichtfachkundiger verloren. Das Verhältnis zwischen Fachwortschatz und Allgemeinwortschatz auf dem Gebiet der Politik ist dadurch gekennzeichnet, daß hier sowohl der Faktorder Öffentlichkeit eine herausragende Rolle spielt als auch der jeweilige klassenbedingte ideologische Rahmen, d. h. der In diesem Zusammenhang Verlangen ferner die allgemeine Verständlichkeit und die jeweilige Bezug auf gesellschaftspolitische Prinzipien und Zielvorstellungen, von prägender Kraft ist. Wertung besonderes Gewicht. Bei den Fachausdrücken handelt es sich in der Regel entweder um Termini, die definierte Begriffe im System eines Fachgebietes bezeichnen, also kontextunabhängig gefaßt werden können, oder um spezialisierte Bezeichnungen, die in einem Sachgebiet eindeutig bestimmbare (konkrete) Dinge benennen. Werden die fachsprachlichen Termini, vor allem solche, die aus Elementen der gängigen Allgemeinsprache bestehen, auf der Ebene der Allgemeinsprache gebraucht, besteht die Möglichkeit, daß die ursprüngliche terminologische Fixierung durch im alltagssprachlichen Wortgebrauch herbeigeführte Assoziationen unscharf wird. Diese Gefahr der Entterminologisierung läßt sich zwar durch bewußten Gebrauch eines Terminus bannen, doch hängt dies im politischen Sprachgebrauch von der politischen Bildung und Einstellung der betreffenden Sprachträger ab. Auf der anderen Seite ist es charakteristisch — und dies hängt mit dem Faktor „Öffentlichkeit", der Zielstellung, breiteste Schichten anzusprechen, zusammen —, daß bei den Darlegungen politischer, sozialer und ökonomischer Sachverhalte und Probleme nicht nur zahlreiche beschreibende und wertende Elemente der nichtterminologisch gebundenen Lexik Verwendung finden, sondern darüber hinaus auch für zentrale spezifische Begriffe zu Benennungen gegriffen wird, die in ihrer Durchsichtigkeit und Motiviertheit eine beeinflussende Wirkung auszuüben vermögen. Schließlich ist es typisch, daß die jeweilige politische Ideologie in der die einzelnen Klassen und Richtungen sowohl ihr politisches Selbstverständnis reflektieren als auch ihre Zielstellungen formulieren und begründen, auf einem zusammenhängenden Begriffsarsenal beruht. Letzteres kommt vor allem in Schlüsselkonzepten zum Ausdruck, und diese wiederum treten in einzelnen Schlüssel-, Schlag-, Fahnen- oder Losungswörtern kommunikativ faßbar auf. Schlüssel-, Schlag-, Fahnen- oder Losungswörter sind keine linguistischen Kategorien. Es überrascht daher nicht, daß sie in den einschlägigen Wörterbüchern sprachwissenschaftlicher Terminologie kaum erwähnt und definitorisch geklärt werden. Es handelt sich hier um in markanter Weise auf solche Grundbegriffe bezogene Bezeichnungen, die im gesellschaftlichen, vornehmlich politischen und geistig-kulturellen Leben bestimmter Perioden gleichsam Kristallisationspunkte sind und von einer bestimmten Ideologie und Einstellung

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geprägt werden. Es sind begriffliche Knotenpunkte, die mit ihrer Benennung zahlreiche Assoziationen wecken und zuweilen einen bemerkenswerten emotiven Gehalt aufweisen. Manchmal erhalten auch ursprünglich terminologisch bestimmte lexikalische Einheiten eine derartige Funktion. In zahlreichen philologischen und literarhistorischen Untersuchungen traditioneller Observanz werden bestimmte Schlüsselwörter bei einzelnen Autoren herausgestellt, worunter ohne nähere definitorische Klärung meist Bezeichnungen für Begriffe gemeint sind, die in andeutender, doch konzentrischer Weise häufig wiederkehrende, im Mittelpunkt der geistigen Welt des betreffenden Dichters stehende Grundvorstellungen zum Ausdruck bringen. Sie kondensierten nicht nur dessen Ideale und Hoffnungen, sondern auch seine Aversionen und Ängste. 19 Die hierbei auftauchenden Schlüsselwörter waren deshalb nicht immer identisch mit den allgemeinen Idealen einer bestimmten Generation oder Gesellschaft. Im Gegensatz zum Schlagwort ist beim Schlüsselwort also die öffentliche Wirksamkeit nicht ein obligatorisches Moment. Vielfach kann es zwar mit ihm identisch sein, doch ist hierzu diese Voraussetzung nötig. Wesentlich mehr als das Schlüsselwort ist vor allem von nichtlinguistischen Kreisen das Schlagwort erörtert worden, stieß man doch in der politischen Kommunikation immer wieder auf bestimmte, zuweilen emotionsgeladene, zuweilen stereotyp gewordene Leitbegriffe, die meist als Schlagwort gekennzeichnet wurden. Hinsichtlich der Bestimmung und Wertung des Schlagwortes bestehen allerdings sehr unterschiedliche Auffassungen. Sie reichen von „Leerformel" bis zu „sprachlicher Terminus mit präskriptiver Wertung". Die einen stellen dessen begriffliche Unbestimmtheit und hohe Emotionalität heraus, die anderen heben dessen Fähigkeit hervor, knapp und prägnant auf wichtige Orientierungspunkte hinzuweisen, als agitatorisches Leitwort zu dienen. Rainer Freitag hat in einem umfangreichen Aufsatz versucht, den Charakter des Schlagworts näher zu bestimmen. 20 Er grenzt das Schlagwort als lexikalische Einheit auf Grund seines politischen Bezugs und seiner Ideologiegebundenheit einerseits vom Modewort und andererseits durch seine expressive Komponente vom politischen Terminus ab. Innerhalb des Schlagwortes unterscheidet er noch das Leitwort, das sich immer auf die eigene Ideologie beziehe und daher stets eine positive Wertung beinhalte. Hierfür könnte m. E. auch der Ausdruck „Fahnenwort" Verwendung finden. Zweifellos ist ein Schlagwort ideologiegebunden, von unterschiedlichem emotivem Wert und in der öffentlichen politischen Kommunikation häufig anzutreffen. Bestimmte Ziele und Interessen, die die Allgemeinheit und einzelne Klassen bewegen, werden hierbei auf einen knappen begrifflichen Nenner gebracht und erhalten damit vielfach einen programmatischen Aspekt der Erwartung oder Zielstellung, so daß meistens Wertungselemente und Konnotationen hinzukommen. Nicht jede lexikalische Einheit vermag automatisch zu einem Schlagwort zu werden. Manche Lexeme waren lange schon in der Allgemeinsprache vorhanden, ehe sie auf Grund bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen besondere Markierungspunkte gesellschaftlicher Interessen in kondensierter Weise ausdrückten und so eine solche Funktion übernahmen. Für den Erfolg des betreffenden Schlagwortes bildeten dann die gegebene politische Situation, die psychologische Bereitschaft der Empfanger, die emotionale Assoziationsmöglichkeit und die sich in diesem Zusammenhang abzeichnende gesell-

19 20

Vgl. Stephen Ulimann, Semantik. Eine Einführung in die Bedeutungslehre, Frankfurt a. M. 1973, S. 139. Aktuelle Probleme einer synchronen Schlagwortforschung, in: Linguistische Untersuchungen zur Sprache der Gesellschaftswissenschaften, Leipzig 1977, S. 84—135.

Sprache und Geschichtswissenschaft

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schaftliche Perspektive 21 die notwendigen Voraussetzungen. Außerdem sind Wörter nicht von Haus aus Schlagwörter, sondern können dies erst in entsprechender Sprachverwendung, in einem konkreten Diskurs werden. Gewiß wurden viele Schlagworte nach längeren Zeiträumen oder verhältnismäßig rasch zu stereotypen Leerformeln, wenn die von ihnen ausgedrückten Leitbilder, Werte oder Zielvorstellungen inadäquat und wirklichkeitsfremd geworden waren und als leere Phrase erscheinen mußten. Ebenso konnte vielfach ein politischer Terminus zu einem orientierenden Leitwort werden und dadurch einen emotiven Wert erlangen. Die Grenzen zwischen politischem Terminus und Schlagwort erweisen sich in dieser Hinsicht nämlich als fließend, so daß die von Rainer Freitag getroffene Abgrenzung nur .grosso modo' zutrifft. Von ganz entscheidender Bedeutung hat sich erwiesen, daß sich die Arbeiterklasse auf der wissenschaftlichen Grundlage des Marxismus-Leninismus ihr eigenes gesellschaftspolitisches Vokabular schuf. Dies geschah in einem Prozeß, der eng mit ihrem Kampf gegen die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung zusammenhing und mit ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung unmittelbar verknüpft war. Anhand der frühen Werke von K. Marx und F. Engels läßt sich gut verfolgen, in welcher Weise die Herausbildung dieser Terminologie sich in der Anfangsphase gestaltete: „Neue Termini erscheinen bisweilen zunächst in sprachbedingten synonymischen Variationen." 2 2 Nicht sofort war vielfach eine usuelle Benennung für einen bestimmten Begriff schon vorhanden. So existierten beispielsweise für den Begriff „Arbeiterklasse" in den Frühwerken der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus zunächst nebeneinander: arbeitende Klasse, arbeitende Menschenklasse, Klasse der Arbeiter, Arbeiterbevölkerung, Arbeiterstand, arbeitende Klasse, Arbeiterklasse, besitzlose Klasse, Proletariat. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zeigt sich in den Schriften von K. Marx und F. Engels, daß die synonymischen Variationen bei einzelnen Begriffen, so auch bei „Arbeiterklasse", weniger häufig anzutreffen oder ganz aufgegeben sind. Ihr Bemühen, zu einer feststehenden Terminologie zu gelangen, die durch entsprechende sprachliche Motivierung massenwirksam zu sein vermag, ist deutlich spürbar. Während Marx und Engels in ihren frühen Werken mit Vorliebe die Ausdrücke „Proletarier" und „Proletariat" gebrauchten, bevorzugten sie etwa von 1860 an hierfür „Arbeiter" und „Arbeiterklasse". 23 Außerdem polemisierten sie gegen den von F. Lassalle benutzten Terminus „Arbeiterstand" und dessen ideologische Verschwommenheit. Für jene bürgerlichen Kräfte hingegen, die sich damals publizistisch als arbeiterfreundlich auszugeben versuchten, war typisch, daß sie von den „arbeitenden Klassen" bzw. der „arbeitenden Klasse" sprachen. Vielfach verwendeten bürgerliche Politiker und Publizisten damals auch für Arbeiterklasse die Bezeichnung „Vierter Stand" als eine Art Terminus. 2 4 Eine typische Tendenz in der bürgerlichen Ideologie des 20. Jahrhunderts besteht darin, einige als orientierende Leitwörter geltende Termini der revolutionären Arbeiterbewegung, die eine beträchtliche Resonanz in den werktätigen Massen besaßen, aufzugreifen und sie 21

Vgl. Werner Betz, Koexistenz, Schlagwort, Sprach- und Menschenlenkung, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für O. Brunner, Göttingen 1963, S. 342.

22

Vgl. Wolfgang Fleischer, Zur linguistischen Charakterisierung des Terminus in Natur- und Gesellschaftswissenschaften, in: Deutsch als Fremdsprache, Jg. 10 (1973), S. 200".

23

Vgl. hierzu Elfriede Adelberg, Die Entwicklung einiger Kernwörter der marxistischen Terminologie, in: J. Schildt (Hrsg.), Auswirkungen der industriellen Revolution auf die deutsche Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 208—213.

24

Ebenda, S. 241 ff.

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Werner Bahner

umzufunktionieren, d. h., ihren ursprünglichen Sinn und ihre politische Zielstellung zu verfalschen oder zu eliminieren. Manchmal übernehmen auch bürgerliche Sozialwissenschaftler und Historiker, vor allem aber Theoretiker und ideologische Wortführer oppositioneller linksbürgerlicher Richtungen oder revisionistische bzw. linkssektiererische Kräfte eine Reihe von marxistischen Termini, verändern ihren Inhalt und stellen sie in andere begriffliche und wertende Bezüge. Letztere Erscheinung hängt eng mit der seit einigen Jahrzehnten zu beobachtenden Tendenz in der bürgerlichen Ideologie zusammen, Marx einseitig, ohne Rücksicht auf die Gesamtkonzeption seiner revolutionären Lehre, in bestimmten Richtungen zu vereinnahmen. Die begriffsgeschichtliche Forschung vermag der Geschichtswissenschaft zweifellos wertvolle Dienste zu leisten. Je mehr dabei kommunikationslinguistische Gesichtspunkte zur Geltung kommen, desto mehr wird der damit jeweils verbundenen historisch-gesellschaftlichen Komplexität Rechnung getragen werden können. Indem vom sprachlichen Geschehen in der sozialen Interaktion ausgegangen wird, finden sowohl Intention, Einstellung, sprachliches Wissen und Weltkenntnis des Textproduzenten als auch Erwartung, vorausgesetztes sprachliches Wissen und angenommene Weltkenntnis des Textrezipienten Berücksichtigung. Die bisher vorliegenden Wörterbücher historischer Grundbegriffe beachten diese Aspekte nicht. Selbst die mit den untersuchten Termini verknüpften semasiologischen und onomasiologischen Aspekte, wie sie die historische Semantik in den Mittelpunkt rückt, erfahren darin vielfach nicht die erforderliche Aufmerksamkeit. Letztlich bieten diese Wörterbücher hinsichtlich der Entwicklung des jeweiligen Begriffs nur eine Art Gerüst für den sich abzeichnenden Bedeutungs- und Bezeichnungswandel. Angesichts einer solchen Lage ergibt sich mehr denn je die Notwendigkeit, die interdisziplinäre Kooperation zwischen Sprachwissenschaft und Geschichtswissenschaft auf dem Gebiet der Begriffsgeschichte zu entwickeln. Wie sich Spachhistoriker bewußt sein sollten, daß ihr Gegenstandsbereich Teil sozial-ökonomischer Entwicklungsprozesse ist und ohne engeren Bezug zur Geschichtswissenschaft nicht umfassend aufgehellt werden kann, sollten sich auch Historiker klar darüber sein, daß für begriffs- und ideologiegeschichtliche Untersuchungen die Kooperation mit der Sprachwissenschaft wegen der dabei relevanten Kommunikationsproblematik unerläßlich geworden ist.

H E L M U T MEIER

Antifaschistisches Bewußtsein heute — Anforderungen an die geschichtsideologische Arbeit

Für das historische Selbstverständnis der Bürger der DDR hat der antifaschistische Widerstandskampf konstitutive Bedeutung. Die Beseitigung der faschistischen Diktatur, die das gemeinsame Ziel aller im Widerstandskampf wirkenden Kräfte, Bewegungen und Persönlichkeiten war, bildete die grundlegende Voraussetzung für die Einleitung der revolutionären Umgestaltungen, aus denen die sozialistische DDR hervorging. So verbindet sich mit dem Begriff Antifaschismus ein ganzes Bündel von historischen Tatsachen, Erfahrungen und Lehren, die Entstehung, Entwicklung und Charakter der DDR wesentlich bestimmen. Im Geschichtsbewußtsein der überwiegenden Mehrheit der Bürger der DDR ist die Erkenntnis tief verwurzelt, daß durch den Kampf gegen den Faschismus, seine militärische Niederwerfung und die Entmachtung seiner sozialökonomischen Träger der Boden für die Errichtung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung bereitet wurde. Ein wesentliches Element des in der DDR lebendigen Antifaschismus macht das Wissen um die hervorragende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Vorhut im antifaschistischen Widerstandskampf aus. Die Tatsache, daß die Kommunisten am geschlossensten und konsequentesten von Anfang an den Kampf gegen die faschistische Barbarei führten und die meisten Opfer brachten, ist eine Quelle der hohen Autorität der Partei der Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft. Das Zusammenwirken mit „Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Christen, bürgerlichen Demokraten und patriotischen Offizieren, um die Pläne des Hitlerfaschismus zu durchkreuzen", legte wichtige Grundlagen, um „das feste Bündnis der antifaschistisch-demokratischen Kräfte" zu schmieden, „das auch diejenigen anzog, die am Ende des Krieges ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft waren". 1 Die aktive Rolle der überlebenden Widerstandskämpfer beim antifaschistisch-demokratischen Neubeginn, bei der Gründung der DDR und beim Aufbau des Sozialismus wird als ein sichtbares Kennzeichen für den Zusammenhang des Kampfes gegen Faschismus und Krieg, für Demokratie und sozialen Fortschritt angesehen. Der Antifaschismus hat zudem einen zutiefst internationalistischen Charakter. Er ergibt sich daraus, daß sich der Kampf gegen den Faschismus im Rahmen einer breiten internationalen Kampffront vollzog. „Im Kampf gegen die Naziclique formte sich eine bis dahin einzigartige Front von Völkern und Staaten, von unterschiedlichen sozialen und politischen Kreisen, von Widerstands- und Befreiungskräften. Es entstanden breite Volksbewegungen gegen Faschismus und Krieg, für Freiheit, Demokratie, nationale Unabhängigkeit und Sozia1

Erich Honecker, S. 293.

Eine welthistorische Tat, die auch das deutsche Volk befreite, in: Einheit 1985, Heft 4/5,

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Helmut Meier

lismus." 2 Insofern schließt das Bekenntnis zu den Idealen des antifaschistischen Widerstandskampfes auch die Verantwortung gegenüber der internationalen Völkergemeinschaft ein, den so schwer errungenen Frieden zu bewahren, dafür zu sorgen, daß Faschismus und Krieg für immer der Vergangenheit angehören. Da in dieser Kampffront der Völker die Sowjetunion die Hauptlast trug und den Hauptanteil an dem Sieg über das menschenfeindliche System des Faschismus leistete, verbinden sich mit antifaschistischer Gesinnung auch die tiefsten Gefühle des Dankes und der Freundschaft für die Völker der Sowjetunion. Die Sowjetarmee stellte zudem im Ringen mit den faschistischen Aggressoren die historische Überlegenheit des Sozialismus unter Beweis und eröffnete auch dem deutschen Volk durch die Befreiung von der Naziherrschaft die Chance zu einem Neubeginn, die in der D D R unter Führung der Arbeiterklasse entschlossen genutzt wurde. Antifaschismus bedeutet konsequenten Kampf für den Frieden. Es war eines der vornehmsten Ziele aller Teilnehmer des antifaschistischen Kampfes, mit dem faschistischen deutschen Imperialismus den Hauptstörenfried der internationalen Beziehungen niederzuwerfen, das Völkermorden zu beenden und Bedingungen herbeizuführen, die den Krieg für immer aus dem Leben der Völker verbannen. Im Geiste der antifaschistischen Kämpfer zu handeln heißt daher, heute mit allen Kräften für die Erhaltung des Friedens einzutreten. Diese bedeutungsvollen Zusammenhänge sind von außerordentlicher Aktualität für gegenwärtiges Handeln. Es ist also nicht von Vergangenem, Erledigtem bzw. von Gegenständen ehrfurchtsvoller Erinnerung die Rede, wenn von Antifaschismus heute gesprochen wird. Im Antifaschismus sind unverzichtbare geschichtliche Lehren und Erfahrungen enthalten, die für die Bewältigung der Probleme unserer Zeit hohen Wert besitzen. Auch heute muß die Entscheidung immer wieder neu getroffen werden, wofür es sich zu engagieren und wogegen es anzukämpfen gilt. Die zugespitzte Form der Auseinandersetzung um die Lebensfragen der Menschheit und unseres Volkes in der Zeit des Faschismus kann wichtige Einsichten vermitteln, die die Entscheidungsfindung heute erleichtern. Bewährung und Versagen von gesellschaftlichen Kräften in jener Zeit stehen im Zusammenhang mit heutigen Auseinandersetzungen. Aus ihnen kann politisch-moralische Legitimation erwachsen oder Verwerfung damals wie heute betriebener imperialistischer Politik und Demagogie. Die Erfahrungen jener Jahre enthalten auch Maßstäbe für die Bewertung der Realitäten von heute. Sie machen deutlich, welche Bedeutung es hat, daß Europa seit 40 Jahren in Frieden lebt, und welche Errungenschaft der Sozialismus in der D D R darstellt, der Ausdruck dafür ist, daß in diesem Teil des ehemaligen Deutschland nach der Zerschlagung des Faschismus die Wende zu einem gesellschaftlichen Neubeginn vollzogen wurde. Den antifaschistischen Ursprung der sozialistischen und friedliebenden D D R im Bewußtsein der Gesellschaft stets lebendig zu erhalten, ist daher eine ganz wichtige Aufgabe der Ausprägung des sozialistischen gesellschaftlichen Bewußtseins. Es geht um die Vermittlung der Erkenntnis, „daß es", wie Konrad Wolf einmal formulierte, „keinen Sozialismus ohne sich immer wieder erneuernden Antifaschismus gibt; weil Antifaschismus durch das tagtägliche Tun und Denken in jeden Atemzug, in jeden Herzschlag übergeht ..." 3 2

Aufruf zum 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus Neues Deutschland, B-Ausgabe, vom 11. Januar 1985, S. 1.

3

Konrad Wolf, Wir Sozialisten sind mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag Antifaschisten, in: Konrad Wolf im Dialog. Künste und Politik, hrsg. u. eingel. von Dieter Heinze und Ludwig Hoffmann, Berlin 1985, S. 375 f.

und der Befreiung des deutschen Volkes, in:

Antifaschistisches Bewußtsein heute

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Da es sich dabei um ein Element der Geschichte handelt, muß es vorzüglich ein Anliegen der Geschichtspropaganda sein, sich dieser Aufgabe zu widmen. Dabei ergeben sich immer wieder neue Anforderungen. Je größer nämlich der zeitliche Abstand von den antifaschistischen Ursprüngen der D D R wird, desto weniger Bürger können dazu noch eine unmittelbare Beziehung als Zeitgenossen oder als aktive Widerstandskämpfer und Aktivisten der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung oder der sozialistischen Revolution haben. Aus dem Statistischen Jahrbuch kann man entnehmen, daß nach dem Stand von Mitte 1984 die altersmäßige Zusammensetzung der Bevölkerung der D D R so beschaffen war, daß 63,03 Prozent der Bewohner jünger als 45 Jahre waren, 35,45 Prozent jünger als 25 Jahre. 4 Legen wir die erstere Altersgrenze zugrunde, dann haben selbst die ältesten dieser Mitbürger Faschismus, Krieg und unmittelbare Nachkriegszeit nicht mehr bewußt erlebt, geschweige denn mitgestaltet. Ihr Erfahrungszeitraum setzt günstigstenfalls mit der Periode der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus ein. Für einen he"*» 25jährigen ist aber bereits der 13. August 1961 kein Gegenstand eigener Erinnerung mehr. Bei ihm sind bewußtseinswirksame Erlebnisse und Erfahrungen über historische Ereignisse und Prozesse erst für die Wende von den 60er zu den 70er Jahren zu erwarten. Die statistischen Größenordnungen dieser Altersgruppen machen drastisch deutlich, daß bereits für die Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes die Realzusammenhänge, auf die sich der Anspruch bezieht, daß die D D R ein zutiefst antifaschistischer Staat ist, nicht mehr aus eigenem Erleben reproduziert werden können. Daß Wissen um Ereignisse und Prozesse eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, um aus der Geschichte abgeleitete Lehren, Erfahrungen, Einsichten, Verallgemeinerungen, Wertungen und Urteile zu gewinnen und zu bejahen, ist nicht nur eine Feststellung, die für den Antifaschismus zutrifft. Dieser Zusammenhang hat generelle Gültigkeit für die Entwicklung des sozialistischen Geschichtsbewußtseins. Es ist empirisch verläßlich nachgewiesen, daß sozialistisches Geschichtsbewußtsein eine nach wissenschaftlichen Prinzipien geordnete, anschauliche und daher konkrete Vorstellung vom realen Verlauf des Geschichtsprozesses erfordert, die sich sowohl aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen als auch aus auf unterschiedliche Weise vermittelten und angeeigneten Kenntnissen und Erkenntnissen zusammensetzen kann. Grundsätzlich gilt jedenfalls: Sozialistisches Gesehichtsbewußtsein bedarf eines verfügbaren marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. 5 Allein auf diese Weise erlangen gesellschaftspolitisch und weltanschaulich bedeutsame Erkenntnisse, Verallgemeinerungen und Begriffe einen realgeschichtlichen Unter- und Hintergrund, so daß sie als aus dem Realprozeß abgeleitete Verallgemeinerungen von wesentlichen Seiten erkannt werden können. Das verleiht ihnen Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit und die Eignung, wieder auf reale gesellschaftliche Probleme angewandt zu werden. Das ist aber besonders wichtig, wenn es sich um Charakteristiken von Erscheinungen mit hohem Aktualitätsgehalt handelt, wie das fraglos beim Antifaschismus der Fall ist. Angesichts der Situation in der altersmäßigen Zusammensetzung der Bevölkerung der D D R , die sich in den nächsten Jahren weiter in der angezeigten Richtung verschieben wird, erhebt sich mit allem Nachdruck die Forderung, der Geschichtspropaganda für die ständige 4

5

Statistisches Taschenbuch der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin 1985, S. 142. Autorenkollektiv unter der Leitung von Rolf Döhring und Helmut Meier, Marxistisch-leninistisches Geschichtsbild und Weltanschauung der Arbeiterklasse. Berlin 1975, S. 18 ff.

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Herausbildung und Festigung antifaschistischer Denk- und Verhaltensweisen einen noch höheren Stellenwert zuzuweisen. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, daß ein richtiges Verhältnis zum antifaschistischen Widerstandskampf in dem Umfange und in der Qualität wie bisher nur erhalten werden kann, wenn es durch wirksame ideologische Beeinflussung, d. h. durch Bildung und Erziehung ständig reproduziert und verfestigt wird. Es ist eine Gunst der Stunde, daß z. Z. noch lebende Zeugen jener Zeit, nämlich aktive Teilnehmer des antifaschistischen Kampfes, ihre Erlebnisse und Erfahrungen unmittelbar vermitteln können. Sie muß wie bisher mit allem Nachdruck genutzt werden, aber allein darauf kann perspektivisch die Arbeit nicht mehr aufgebaut werden. Es muß Klarheit darüber herrschen, daß immer mehr die Erfüllung dieses Bildungs- und Erziehungsauftrages davon abhängt, wie ihn alle gesellschaftlichen Kräfte sich zu eigen machen. In diesem Rahmen ist auch der Beitrag der Geschichtswissenschaft und der Geschichtspropaganda einzuordnen. Dabei muß nicht alles neu erfunden werden. Es kann an Bewährtes angeknüpft werden. Aber der Stellenwert der Aktivitäten wird sich verändern, und manche Überlegungen sind anzustellen. Es muß alles das fortgeführt werden, was geeignet ist, den antifaschistischen Kampf als eine der ruhmreichsten Traditionen der revolutionären Arbeiterbewegung und unseres Volkes darzustellen und zu pflegen. Daß dabei der Beitrag der revolutionären Arbeiterbewegung in diesem Ringen besondere Beachtung finden muß, ist eine Selbstverständlichkeit. Nach wie vor gebührt daher der führenden Rolle der Kommunisten und der klassenbewußten Sozialdemokraten in der Widerstandsbewegung nachdrückliches Augenmerk, läßt sich doch daran überzeugend nachweisen, daß sie die konsequentesten Vorkämpfer für ein Leben in Freiheit, Wohlstand, sozialer Sicherheit und Frieden waren. Genauso gilt es auch, den überragenden Anteil der Völker der UdSSR an der Niederwerfung des deutschen Faschismus und bei der Befreiung unseres Volkes immer wieder ins Blickfeld zu rücken. Darüber hinaus gewinnen aus aktueller Sicht eine Reihe weiterer Gesichtspunkte an Bedeutung. Das Verständnis für die historische Bedeutung des antifaschistischen Widerstandskampfes erfordert heute mehr denn je, der Vermittlung von konkreten Kenntnissen über diesen K a m p f u n d über diese Zeit ein stärkeres Gewicht beizumessen. Das gilt zunächst einmal für die Aktionen und Akteure des Widerstandskampfes selbst. So wichtig es bleibt, die Konzeption der K P D und ihre Programmatik nahezubringen, so wichtig wird auch, sie in ihrer ganz konkreten, alltäglichen, schöpferischen Umsetzung zu zeigen. An den realen Vorgängen muß verdeutlicht werden, daß die Kommunisten in dieser schweren Zeit sich als die klarsichtigsten, unbeugsamsten und kooperationsbereitesten Kämpfer erwiesen. 6 Das bedeutet, auch künftig in der geschichtsideologischen Arbeit möglichst viele Widerstandsgruppen und -kämpfer zum Gegenstand der Traditionspflege zu machen. In dieser Hinsicht bestehen reiche Erfahrungen. Seit vielen Jahren orientiert die SED auf die Erschließung der Leistungen der Widerstandskämpfer und die Pflege der im Kampf geborenen Traditionen. Die FDJ und die Pionierorganisation „Ernst Thälmann" haben sich dieser Aufgabe mit großem Engagement angenommen. 7 In Traditionskabinetten von Betrieben,

6

7

Programm der Sozialistischen Einheitsparlei Deutschlands, in: Protokoll der V e r h a n d l u n g e n des IX. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei D e u t s c h l a n d s im Palast der Republik in Berlin, Berlin 1976, Bd. 2, S. 258. Geschichte

der Freien Deutschen

Jugend,

Autorenkollektiv unter Leitung von Karl-Heinz J a h n k e , Berlin

(1982), S. 59 ff.; vgl. auch Horst Helas, Zu einigen aktuellen F r a g e n des geschichtsideologischen Wirkens

Antifaschistisches Bewußtsein heute

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Einheiten und Truppenteilen der Nationalen Volksarmee und Institutionen, in der Traditionsbewegung an den Schulen, durch Forschungsaufträge und Zirkelarbeit, durch die Verleihung von Namen antifaschistischer Widerstandskämpfer an Pionierfreundschaften, FDJ-Grundeinheiten, an Schulen, Dienststellen der NVA und Produktionsbrigaden wurde Bedeutendes geleistet, um den antifaschistischen Widerstandskampf in unserem Lande in den Rang einer lebendigen Tradition zu erheben. Eine für die D D R weitgehend repräsentative Untersuchung unter jungen Leipziger Arbeitern über Kenntnisse und Einstellungen zum antifaschistischen Widerstandskampf bestätigt, daß dieses Grundanliegen weitgehend erreicht wurde. 8 Sie zeigte, daß bei Jugendlichen der D D R antifaschistische Widerstandskämpfer unter den als vorbildhaft angesehenen Persönlichkeiten der Geschichte einen bevorzugten Platz einnehmen. 9 Die Untersuchungen machten aber auch deutlich, daß es darauf ankommt, solchen Aktivitäten noch mehr Dauerwirkung zu verleihen. Zuweilen wird nicht genügend beachtet, daß nicht ständig mit den gleichen Methoden und Ansprüchen gearbeitet werden kann. Es ist eben ein Unterschied, ob sich ein Kollektiv einer antifaschistischen Persönlichkeit oder Gruppe annähert, sich erst Kenntnisse und Materialien erarbeitet, oder ob es darum geht, den erworbenen Kenntnis- und Erkenntnisstand ständig an neue Mitglieder weiterzugeben bzw. dafür zu sorgen, daß die Beziehung zu dem gewählten Vorbild als lebendiger Antrieb für die Lösung ständig wachsender neuer Aufgaben nutzbar gemacht wird. In dieser Hinsicht bewährte Erfahrungen werden noch nicht mit gleicher Konsequenz aufgegriffen, wie das in der Phase des Aufbaus von Traditionsbeziehungen bereits der Fall ist. Vor allem gilt es, der Gefahr zu begegnen, daß Beispiele schematisch übertragen werden. Es müssen immer spezifische Eigenheiten und Züge beachtet werden, die das gewählte Vorbild charakterisieren, wie auch die Tätigkeit, die Aufgaben und die Zusammensetzung des Kollektivs berücksichtigt werden müssen. Das ist die Gewähr, das nicht „genormte" Vorstellungen von Widerstandskämpfern und vom Widerstandskampf entstehen. Vielmehr wird es dann gelingen, die mannigfaltigen Erscheinungsformen des Kampfes, die differenzierten Motivationen der Menschen und den unterschiedlichen Beitrag innerhalb der Bewegung zur Geltung zu bringen. Anders gesagt : die individuelle Physiognomie der Helden des Widerstandes gewinnt stärkere Konturen. Höhere Konkretheit ermöglicht auch die Zuwendung zur regionalen Geschichte. Es ist übrigens auch ein Anliegen der am 12. Januar 1982 zwischen dem Zentralrat der F D J und der Zentralleitung der Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer abgeschlossenen Vereinbarung, die Erschließung und Pflege der antifaschistischen Traditionen in dieser Richtung weiter zu bereichern und ihre Vielfalt zu erfassen. 10 Empirische Untersuchungen ließen erkennen, daß in der geschichtsideologischen A rheit die soziale und weltanschauliche Breite der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus noch mehr ins Blickfeld gerückt werden muß. Natürlich weiß jeder Jugendliche in der D D R , daß in der Widerstandsbewegung Angehörige der Bauernschaft, der Intelligenz, des Klein-

8

9 10

der FDJ, in: Geschichtsideologische Arbeit in Vergangenheit und Gegenwart, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1982, S. 68ff. Vgl. Christa Köhler, Die Widerspiegelung des antifaschistischen Widerstandskampfes im Geschichtsbewußtsein der Arbeiterjugend (dargestellt am Bezirk Leipzig), Phil. Diss. A, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1980. Ebenda, S. 94ff. Vgl. Beschluß des Sekretariats des Zentralrates der FDJ, vom 12. 1. 1982, 3/6/82.

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bürgertums und des Bürgertums, Beamte, Offiziere und Geistliche, Menschen mit unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen kämpften. Es ist bekannt, daß sie das zum Teil gemeinsam und unter der Leitung von Kommunisten und Sozialdemokraten, teilweise aber auch auf sich gestellt taten. Sie sind integrierender Bestandteil der antifaschistischen Bewegung. Unter den Opfern des Kampfes sind viele Menschen aus diesen Personenkreisen. Es sei nur an Pfarrer Paul Schneider, an Pastor Dietrich Bonhoeffer, an Pater Alfred Delp oder die Geschwister Scholl erinnert. Auch ihr Wirken und ihr Opfertod werden als kostbares Vermächtnis in der D D R bewahrt. Es ist notwendig, dem Stellenwert dieses Beitrages zum antifaschistischen Kampf in der Geschichtspropaganda jederzeit gerecht zu werden. Eine orientierende Bedeutung kommt in dieser Hinsicht der Würdigung der Beteiligten an der Verschwörung des 20. Juli 1944 im Jahre 1984 zu. 11 Eingehende Kenntnisse darüber vermitteln gleichzeitig die Einsicht, daß Faschismus eben Reaktion auf der ganzen Linie ist. Zwar richtete sich der faschistische Terror im Interesse der reaktionärsten und aggressivsten Kräfte des Imperialismus in erster Linie gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung, aber er traf ebenso erbarmungslos alle humanistischen, demokratischen und progressiven Bestrebungen und Äußerungen aus anderen Klassen und Schichten. Das Schicksal solcher Kräfte beweist nachhaltig, daß Demokratie, Humanismus und Fortschritt auf Dauer nur an der Seite und unter Führung der Arbeiterklasse gesichert werden können. Die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen den gemeinsamen Feind hat übrigens viele Menschen aus dem bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lager, unter ihnen viele religiös gebundene Menschen, bewogen, nach 1945 unter Führung der SED die antifaschistischdemokratische und die sozialistische Umgestaltung mitzuvollziehen. Es besteht also alle Veranlassung, Antifaschismus als Ferment der politisch-moralischen Einheit des Volkes der D D R zu würdigen. In dieser Hinsicht sind noch nicht alle Möglichkeiten in der Geschichtspropaganda ausgeschöpft, um die im Aufruf des Zentralkomitees der SED, des Staatsrates, des Ministerrates und des Nationalrates der Nationalen Front der D D R zum 40. Jahrestag des Sieges über den Faschismus und der Befreiung unseres Volkes enthaltenen Hinweise voll zur Geltung zu bringen. 12 Die Notwendigkeit einer höheren Konkretheit der geschichtsideologischen Arbeit auf diesem Gebiet betrifft auch die plastischere Darstellung des faschistischen Gegners. Antifaschismus ist die radikale Alternative zum Faschismus, getragen von der Unversöhnlichkeit der Gegnerschaft gegenüber dieser barbarischsten Form imperialistischer Machtausübung. Die Widerstandskämpfer haben diesem gefährlichen Gegner Auge in Auge gegenübergestanden und seine ganze Brutalität und Menschen Verachtung kennenlernen müssen. Sie waren dem erbarmungslosen Einsatz seiner Machtmittel ausgesetzt und haben unter zugespitzt gefährlichen und außergewöhnlichen Bedingungen gekämpft. Der Entschluß, gegen diesen Feind in die Schranken zu treten, vollzog sich im klaren Bewußtsein der Gefahren, denen sie sich damit aussetzten. Die Gefahr, erkannt, verraten und ergriffen zu werden, war allgegenwärtig. Alle Antifaschisten wußten um die teuflische Perfektion des GestapoApparates und um die Gefährlichkeit des Netzes der Dienststellen und Organisationen. Welche ideologische Verwüstung der Faschismus in den Köpfen vieler Menschen angerichtet hatte, erlebten sie tagtäglich. Sie waren unmittelbar mit der Wirkung von Druck, Drohung, Versprechungen, Verführung und Manipulation konfrontiert. All dies ist aber Bürgern, 11 12

Olaf Groehlerj Klaus Drobisch, Der 20. Juli 1944, in: Einheit 1984, Heft 7, S. 633ff. Vgl. Aufruf zum 40. Jahrestag des Sieges . . . a. a. O.

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die in einem sozialistischen Staat aufgewachsen sind und dort leben, absolut fremd. Das hat zur Folge, daß nicht wenige, namentlich junge Bewohner unseres Landes, Schwierigkeiten haben, sich in die Lebens- und Kampfbedingungen von Widerstandskämpfern in einer faschistischen Diktatur hineinzuversetzen. Deswegen muß alles getan werden, um diesen Gegner plastisch und in seiner ganzen Gefährlichkeit darzustellen. Es ist der Auffassung von Kurt Pätzold zuzustimmen, daß bisher die Wirkung von Terror, Demagogie und Korruption in ihrer Kombination unzureichend erforscht wurde. 13 Es ist angezeigt, faschistische ,Herrschaftsmethoden, Lebens- und Arbeitsverhältnisse, Kampfbedingungen und Reaktionen der Menschen im Faschismus eingehender verständlich zu machen. Das ist auch notwendig, um verschiedenen westlichen Historikern und Politikern entgegenzutreten, die den Faschismus mit „normalen" Maßstäben zu messen vorgeben und die Auffassung verbreiten, daß alles gar nicht so schlimm gewesen sei. Dagegen muß deutlich gemacht werden, wie raffiniert und bedenkenlos die herrschenden Klassen in der Wahl und im Einsatz der Mittel waren, welchen Mutes und welcher Überzeugungstreue es bedurfte, um sich in die Kampffront gegen dieses Regime einzureihen, welche moralische Kraft und Überlegenheit die Helden des Widerstandes auszeichnete, die unter scheinbar aussichtslosen Bedingungen nicht verzagten, sondern durchhielten. Es besteht kein Zweifel, daß die überwiegende Mehrheit der Bürger der DDR zum Faschismus eine völlig richtige prinzipielle Position bezieht. Was Faschismus seinem Klassenwesen nach ist, ist allgemein bekannt, aber wie dieses Regime in der Praxis funktionierte und warum es zwölf Jahre lang vermochte, breite Massen des Volkes seiner Politik zu unterwerfen, diese Frage bedarf gerade aus dem Blickwinkel des wachsenden zeitlichen Abstandes immer wieder einer gründlichen Beantwortung. Übrigens steigt in diesem Zusammenhang erneut der Stellenwert der künstlerischen Darstellung des Widerstandskampfes, weil durch sie wesentlich stärker die ganze Atmosphäre jener Zeit auf persönlich nachvollziehbare Weise nahegebracht werden kann. Die ständige Aufhellung der Kontinuität zwischen Kampf gegen den Faschismus während der Nazidiktatur und Entmachtung der Schuldigen an Krieg und Faschismus nach 1945 ist eine weitere wichtige Aufgabe der Erziehung im Geiste des Antifaschismus. Die personelle Identität der Akteure muß als Ausdruck dieser Kontinuität gerade zu einem Zeitpunkt betont werden, da die Zahl der Kämpfer im Abnehmen begriffen ist, die sie repräsentiert haben. Die verständliche Konzentration der Traditionspflege auf den direkten Kampf gegen die bestehende faschistische Diktatur vor dem 8. Mai 1945 drängt bei vielen jungen Leuten die Tatsache in den Hintergrund, daß mit der Befreiung die Bewährung als Antifaschist nicht endete. Der Beitrag, den die antifaschistischen Kader in Fortsetzung ihres und des Kampfes ihrer gefallenen Kameraden und Genossen bei der gesellschaftlichen Umgestaltung in der DDR geleistet haben, muß in die Wertschätzung des antifaschistischen Widerstandskampfes deutlicher einbezogen werden. Im Bewußtsein vieler Jugendlichen bezieht sich Antifaschismus aber fast ausschließlich auf Aktionen während der Herrschaft des Faschismus über Deutschland. In der Vereinbarung zwischen der FDJ und dem Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer wird daher zu Recht hervorgehoben: „Vor allem gilt es, bei allen Mädchen und Jungen die Erkenntnis weiter auszuprägen, daß die DDR 13

Kurt Pätzold, Die faschistische Manipulation des deutschen Volkes. Zu einem Forschungsproblem, in: Soziale Grundlagen und Herrschaftsmechanismen des deutschen Faschismus. Der antifaschistische Kampf, Teil 1, hrsg. von Werner Kowalski, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wissenschaftliche Beiträge 1980/42, S. 48 ff.

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Krönung des heldenhaften Kampfes der antifaschistischen Widerstandskämpfer ist, die an der Seite der Sowjetarmee und als Aktivisten der ersten Stunde einen bedeutenden Beitrag zur Zerschlagung des Faschismus und für den Aufbau des Sozialismus geleistet haben und weiterhin leisten." 14 In dieser Richtung hat sich auch das XII. Parlament der FDJ ausgesprochen. 15 Im vollen Bewußtsein dieses Zusammenhangs ist es leichter, den Schritt zu der Schlußfolgerung zu finden, daß die Erfüllung der Aufgaben bei der Stärkung des Sozialismus und bei der Erhaltung des Friedens durch jeden Bürger ein den heutigen Bedingungen angemessener Beitrag zur Fortführung der antifaschistischen Kampftraditionen ist. Antifaschismus ist in hohem Grade Kampf für den Frieden. Antifaschistischer Widerstand richtete sich gegen die damals aggressivsten Kräfte in der Welt, die sich im faschistischen Block zusammengeschlossen hatten. Der Kampf gegen die faschistische Diktatur zielte von Beginn an darauf, den drohenden Krieg zu vereiteln. Nachdem die Faschisten den zweiten Weltkrieg entfesselt hatten, war es das allererste Ziel aller antifaschistischen Kräfte, ein möglichst rasches Ende des Völkermordens herbeizuführen. In dieser Hinsicht vermittelt der antifaschistische Widerstandskampf höchst aktuelle Lehren, so die geschichtliche Erfahrung, daß Aggressoren, militante antikommunistische Kräfte, rechtzeitig gezügelt werden müssen, d. h. bevor sie die Welt in Brand stecken, indem ihnen eine möglichst geschlossene Front aller friedenswilligen Kräfte entgegengestellt wird. Die Antihitlerkoalition, die zu diesem Zwecke gebildet wurde, kam bekanntlich erst nach Ausbruch des Krieges zustande. Antikommunistische Vorurteile und Kurzsichtigkeit bei den Regierungen einiger westlicher imperialistischer Länder kosteten Millionen von Menschen das Leben. Die UdSSR und mit ihr verbunden alle anderen sozialistischen Länder führen daher heute einen beharrlichen Kampf darum, der Politik der Konfrontation und Hochrüstung aggressiver imperialistischer Kreise in den USA und in der NATO den politischen Dialog, Verhandlungen über Rüstungsstopp und Abrüstungsvereinbarungen entgegenzusetzen. Im Kampf gegen den Faschismus hat sich ein breites Bündnis der verschiedensten sozialen, politischen und weltanschaulichen Kräfte als möglich und nützlich erwiesen. Heute ist „das Zusammengehen aller, die der Vernunft und dem Realismus folgen, von entscheidender Bedeutung", um „die Gefahr eines Nuklearkrieges abzuwenden". 16 Die UdSSR tritt dabei als eine aktive Friedenskraft in Erscheinung, indem sie mit konstruktiven Initiativen, wie einem Vertragsentwurf zur friedlichen Nutzung des Weltraumes und dem einseitigen Moratorium der Kernwaffenversuche, erneut ihren guten Willen bekundet, mit den USA zu einem Übereinkommen zu gelangen, das die Welt von den Gefahren eines Kernwaffenkrieges befreit. Aus den Erfahrungen des Kampfes gegen den Faschismus ergibt sich aber auch die Lehre, daß aggressiven Kräften nicht gestattet werden darf, militärische Überlegenheit zu erlangen. Das erhärtet die friedenserhaltende Bedeutung des militärstrategischen Gleichgewichts zwischen Warschauer Vertrag und NATO. Seine Erhaltung muß man gerade im Lichte der

14 15

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Beschluß des Zentralrates . . ., a. a. O. Als revolutionäre junge Garde leisten wir unseren Beitrag zur Verwirklichung des Programms der SED. — Mit neuen Taten im „Ernst-Thälmann-Aufgebot" der FDJ vorwärts zum XI. Parteitag der SED, Rechenschaftsbericht des Zentralrates der FDJ an das XII. Parlament der Freien Deutschen Jugend, Berichterstatter: Eberhard Aurich, Berlin 1985, S. 8 f. 10. Tagung des ZK der SED, 20./21. Juni 1985. Zur Vorbereitung des XI. Parteitages der SED. Aus der Rede des Genossen Erich Honecker, Berlin 1985, S. 22.

Antifaschistisches Bewußtsein heute

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Erfahrungen der Geschichte als eine wichtige Garantie der Bewahrung und Sicherung des Friedens ansehen. Der faschistische deutsche Imperialismus war der Brandstifter des bisher blutigsten Krieges der Weltgeschichte. Das Vermächtnis der Antifaschisten aus allen Ländern, Klassen und Schichten verpflichtet, dafür zu sorgen, daß nie mehr von deutschem Boden ein Krieg ausgehen kann. Dieses „Bestreben", erklärte Erich Honecker, „ist für die Bürger unserer Republik zu einem bestimmenden Motiv ihres Denkens und Handelns, ihrer täglichen Arbeit zur Stärkung des sozialistischen Vaterlandes geworden." 17 Es ist eine wichtige Aufgabe der geschichtsideologischen Arbeit, die in der Tradition des Antifaschismus ruhenden Potenzen für die Mobilisierung zum Kampf um den Frieden in unserer Zeit noch besser auszuschöpfen. Diese Gesichtspunkte, die mit der Vermittlung von Lehren und Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes in der Gegenwart verknüpft sind, zeigen, daß er auch zu jenen Tatsachen der Geschichte gehört, die nicht „erledigt" sind. Aus der aktuellen Situation ergeben sich allerdings auch neue Anforderungen, die in der Geschichtspropaganda Berücksichtigung finden müssen, wenn sozialistisches Geschichtsbewußtsein seine ideologische Funktion in den Kämpfen unserer Zeit erfüllen soll.

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Honecker, Eine welthistorische Tat, S. 291.

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Demokratie, Sozialismus

Bibliographie Heinrich Scheel

1948 1 Theaterbesuch einer Schulklasse. In: Die neue Schule, 3. Jg., 1948, Nr. 11, S. 11 f. 2 Schülerprüfung oder Lehrerprüfung. In: Die neue Schule, 3. Jg., 1948, Nr. 20, S. 5f. 1949 3 Besuch im Leningrader Pionierpalast. In: Junger Pionier, 2. Jg., Nr. 31, 5. 9. 1949 4 Zwei Wochen in der Sowjetunion. In: Sovjetskoje Slovo, Jg. 1949, Nr. 191, 14. 8. 1949 1952 5 „Demokratisches" vom Lehrerkongreß in Westberlin. In: Berliner Zeitung, Nr. 131, 8. 6. 1952 6 Beglückende Tage der Zusammenkunft von Lehrern aus ganz Deutschland. In: Die neue Schule, 7. Jg., 1952, Nr. 26, S. 4—6 7 Wir entdecken Eberswalde. In: Die Schulpost, Jg. 1952, Nr. 2, S. 2f. 8 Das Verhalten der imperialistischen Mächte zur Hitlerdiktatur. In: Geschichte in der Schule, 5. Jg., 1952, Heft 1, S. 3 1 - 3 6 1954 9 Ein Weltreisender (Alexander von Humboldt). In: Die Schulpost, Jg. 1954, Nr. 5, S. 1 4 - 1 6 1955 10 Blätter aus einem Album (Zur Geschichte des 1. Mai). In: Die Schulpost, Jg. 1955, Nr. 5, S. 2 1956 11 2. Tagung der deutsch-tschechoslowakischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IV. Jg., 1956, Heft 1, S. 141 — 143 12 Die Diskussion im Autorenkollektiv über den Entwurf des Abschnittes 1789—1807 zum Lehrbuch der Geschichte Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IV. Jg., 1956, Heft 3, S. 559-567 22'

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Bibliographie Heinrich Scheel

13 Gründungstagung der deutsch-polnischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IV. Jg., 1956, Heft 4, S. 805f. 14 W sprawie oceny charakteru wojen francuskich w latach 1792—1813/14. In: Kwartalnik historyczny, Jg. 1956, Heft 4/5, S. 536—540 15 Über die Geschichte laßt uns sprechen. Zur historischen Wahrheit in Hedda Zinners „Lützower". In: Theater der Zeit, Jg. 1956, Heft 5, S. 22—24

1957 16 Zum 70. Jahrestag der Gründung der Polnischen Gesellschaft für Geschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, V. Jg., 1957, Heft 1, S. 147f. 17 2. Tagung der deutsch-polnischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, V. Jg., 1957, Heft 2, S. 370f. 18 Arbeiter der „Knorr-Bremse" gegen Imperialismus und Krieg. In: Bremsen-Echo, 8. Jg., Nr. 15, 12. 4. 1957 19 Zur Geschichte der Massenkämpfe im ersten Weltkrieg, zwei Richtigstellungen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, V. Jg., 1957, Heft 5, S. 1102f. 20 Der Aprilstreik 1917 in Berlin. In: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1957, S. 1 - 8 8 21 Anleitung zum Studium der Geschichte Deutschlands von 1789—1806, herausgegeben von der Humboldt-Universität zu Berlin, Fernstudium Geschichte, Berlin 1957/58

1958 22 4. Tagung der deutsch-polnischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. VI. Jg., 1958, Heft 4, S. 882 23 Zur Frage des Charakters der französischen Kriege in bezug auf die Entwicklung in Deutschland in den Jahren 1792 bis 1815 (Thesen, Referat, Schlußwort): Schriftenreihe des Instituts für Geschichte, Reihe III, Bd. 2, Berlin 1958, S. 1—4,7—30,79—82

1959 24 Zur Koordinierung der geschichtswissenschaftlichen Arbeit. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, VII. Jg., 1959, Heft 2, S. 389 25 Der Schulprovisor in Knittlingen. In: Neues Deutschland, Nr. 191, 14. 7. 1959

1960 26 Rezension zu Joachim Streisand: Deutschland von 1789 bis 1815, Berlin 1959. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, VIII. Jg., 1960, Heft 2, S. 408—423 27 Die 5. und 6. Tagung der deutsch-polnischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, VIII. Jg., 1960, Heft 5, S. 1172f.

1961 28 Rezension zu Heinz Heitzer: Insurrektionen zwischen Weser und Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806—1813), Berlin 1959. In: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 82, 1961, Heft 2, Sp. 139—142

Bibliographie Heinrich Scheel

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29 Die 7. Tagung der deutsch-polnischen Historiker-Kommission. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IX. Jg., 1961, Heft 3, S. 657 30 Rezension zu Percy Stulz: Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 — 1813, Berlin 1960. In: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 82, 1961, Heft 5, Sp. 451—453 31 K ä m p f für das, was wert und wahr. Ein Beitrag zur Geschichte der Widerstandsbewegung. In : Das große Jugendmagazin, Bd. 3, Berlin 1961, S. 44—47 32 Berliner Historiker zum Friedensvertrag. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IX. Jg., 1961, Heft 7, S. 1479-1481 33 Erstes Gebot der Menschlichkeit ist, den Frieden zu sichern. In : Spektrum, 7. Jg., 1961, Heft 5/6, S. 1 4 5 - 1 4 7

1962 34 Karl Marx und Friedrich Engels, die größten Söhne des deutschen Volkes — die Entstehung des Marxismus. In: Weltall — Erde — Mensch, ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft, Berlin 1962, S. 285—313 35 Discussion sur le communication de M.F.L. Carsten "The Causes of the Décliné of the German Estâtes". In : Comité international des sciences historiques, XI Congrès, actes du Congrès, Stockholm—Göteborg—Uppsala 1962, S. 147 36 Rezension zu Gerda Wegner und Paul Hofmann : Albert Hößler. Leben und Kampf eines deutschen Jungkommunisten, Berlin 1961. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 4. Jg., 1962, Heft 1, S. 176—179 37 Die nationale Befreiungsbewegung 1813/15. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X. Jg., 1962, Sonderheft, S. 3 2 3 - 3 3 6 38 Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962 39 Das Signal von Tauroggen. In: Neues Deutschland, Beilage Nr. 52, 29. 12. 1962

1963 40 Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege. Sammelband der Arbeitsgemeinschat zur Geschichte von 1789 bis 1815, Berlin 1963 (Herausgeber) 41 Die nationale Befreiungsbewegung. In: D a s J a h r 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege, Berlin 1963, S. 1 — 15 42 p i e Rolle des Befreiungskrieges in der illegalen Widerstandsliteratur, dargestellt am Beispiel der Widerstandsgruppen Schulze-Boysen/Harnack und „Innere Front". In: Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege, Berlin 1963, S. 2 0 7 - 2 5 1 43 Auf glattem Parkett (Wiener Kongreß 1814/15). In: ND, Beilage Nr. 9, 27. 2. 1963 44 Die Aufgaben der Akademie zur Vorbereitung der Volkswahlen, zur Durchführung des Ministerratsbeschlusses und des neuen Statuts. In: Spektrum, 9. Jg., 1963, Heft 10, S. 3 5 0 - 3 5 7 45 Der Befreiungskrieg 1813. Zum 150. Jahrestag der Völkerschlacht, 16./19. Oktober 1963, herausgegeben vom Rat der Stadt Leipzig, Leipzig 1963 46 Zur Problematik des deutschen Befreiungskrieges 1813. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XI. Jg., 1963, Heft 7, S. 1277-1298 22a

Demokratie, Sozialismus

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Bibliographie Heinrich Scheel

1964 47 Rezension zu Bernhard Weißel: Von wem die Gewalt in den Staaten herrührt. Beiträge zu den Auswirkungen der Staats- und Gesellschaftsauffassungen Rousseaus auf Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X I I . Jg., 1964, Heft 2, S. 346f. 48 Rezension zu Denis Silagi: Jakobiner in der Habsburger Monarchie. Ein Beitrag zur Geschichte des aufgeklärten Absolutismus in Österreich, Wien und München 1962. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X I I . Jg., 1964, Heft 3, S. 520—522 49 Rechenschaftsbericht der Akademieparteileitung der Berliner Parteiorganisation der D A W zu Berlin. In: Spektrum, 10. Jg., 1964, Sonderheft, S. 2—14 50 Festansprache anläßlich des 20. Jahrestages des 20. Juli 1944. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere, Jg. 1964, Blatt 8, S. 3—6 51 Rezension zu Hans Hausherr: Hardenberg. Eine politische Biographie, 1. Teil: 1750—1800, hrsg. von Karl Erich Born, Köln/Graz 1963. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XII. Jg., 1964, Heft 7, S. 1267—1269 52 Die Saat ging auf. Zum Tag der Opfer des Faschismus. In: ND, Nr. 2 5 3 , 1 3 . 9 . 1964

1965 53 Rezension von Auguste Lazar: Schach dem König! Phantastische und nüchterne Bilder aus der Französischen Revolution, Berlin 1964. In: ND, Literaturbeilage Nr. 4, 1965 54 Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1965 55 Inozemnoe vladycestvo i nacionalno-osvoboditelnaja borba (problemy nemeckoj osvoboditelnoj voiny 1813 g.). In: Osvoboditelnaja voina 1813 goda protiv napoleonovskovo gospodstva, Moskva 1965, S. 12—53

1966 56 Karl Marx und Friedrich Engels, die Begründer der wissenschaftlichen Weltanschauung. In: Weltall — Erde — Mensch, ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft, Neufassung, Berlin 1966, S. 275—302 57 Deutscher Jakobinismus und deutsche Nation, ein Beitrag zur nationalen Frage im Zeitalter der Großen Französischen Revolution. Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jg. 1966, Nr. 2, Berlin 1966 58 Rezension zu Otto Friedrich Winter: Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder, Bd. 3, 1764—1815, Graz—Köln 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X I V . Jg., 1966, Heft 2, S. 338 59 Wissenschaftler der D D R zum Brief Walter Ulbrichts an Prof. Karl Jaspers. In: Neues Deutschland, Nr. 158, 11. 6. 1966 60 Rezension zu R. C. Raack: The Fall of Stein, Harvard Historical Monographs LVIII, Cambridge Massachusetts 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X I V . Jg., 1966, Heft 4, S. 657 f. 61 Rezension zu Alfred Hartlieb von Wallthor: Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens in ihrer Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert, 1. Teil: Bis zur Berufung des

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Vereinigten Landtags (1847), Münster 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIV. Jg., 1966, Heft 5, S. 815f. Rezension zu Hans Hausherr: Hardenberg. Eine politische Biographie, 3. Teil: Die Stunde Hardenbergs, 2. durchgesehene Auflage, Köln/Graz 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIV. Jg., 1966, Heft 6, S. 1040 Zwei deutsche Staaten — zwei Traditionen in ihrer Stellung zum Kampf der Partisanen. In: Der nationale und internationale Charakter der Widerstandsbewegung während des zweiten Weltkrieges. Internationale Konferenz über die Geschichte der Widerstandsbewegung, Warschau, 15.-19. April 1962, Bd. 2, (Wien) 1966, S. 480—487 Rezension zu Kurt von Raumer: Der Freiherr vom Stein und Goethe. Freiherr-vomStein-Gesellschaft, Schriften, Heft 6, Münster 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIV. Jg., 1966, Heft 7, S. 1248f. Zehn Jahre Verbot der KPD — Zehn Jahre Notstand für Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik. In: Dokumentation der Zeit, XVIII. Jg., 1966, Heft 365, S. 1 4 - 2 2 Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Bd. 1, bearbeitet von Doris Schmidt, Berlin 1966 (Herausgeber) Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit (Die Große Französische Revolution von 1789 und ihre Auswirkungen). Marxistische Lehrbriefe, Serie C: Streifzüge durch die neuere Geschichte, Nr. 4, Frankfurt a. M. 1966

1967 68 Robespierre vu par les Jacobins de l'Allemagne du Sud. In: Bibliothèque d'Histoire Révolutionnaire, 3e série, N°7, Actes du colloque Robespierre (XII e Congrès international des Sciences historiques, Vienne 1965), Paris 1967, S. 107—111 69 Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Zur Problematik des deutschen Befreiungskrieges von 1813. In: Der Befreiungskrieg 1813. Schriften der Deutschen Sektion der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR, Bd. 4, Berlin 1967, S. 11—58 70 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 1, Berlin 1967 (Mitherausgeber) 71 Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte von den Anfängen bis 1917, Berlin 1967 (Mitherausgeber) 72 Rezension zu Ernst Klein: Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg. Veröffentlichungen der Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institüt der FU Berlin, Bd. 16, Berlin(West) 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 2, S. 344f. 73 Rezension zu Walter Markov: Jacques Roux oder vom Elend der Biographie, Berlin 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 3, S. 500f. 74 Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Bd. 2, bearbeitet von Doris Schmidt, Berlin 1967 (Herausgeber) 75 Begegnung mit Käte Kollwitz. In: Neues Deutschland, Nr. 185, 8. 7. 1967 76 Rezension zu Ernst Wangermann: Von Joseph II. zu den Jak'obinerprozessen, W i e n Frankfurt—Zürich 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 4, S. 724-726 22a»

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Bibliographie Heinrich Scheel

77 Rezension zu Hans-Dieter Dyroff: Der Wiener Kongreß 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 4, S. 750 78 12 Kurzbiographien (Dalberg, Friedrich Wilhelm II., Hardenberg, Haugwitz, Hofmann, List, Montgelas, Schneider, Stadion, Steffens, Utzschneider, Wilhelm IX.). In: Biographisches Lexikon zur Deutschen Geschichte von den Anfangen bis 1917, Berlin 1967, S. 86f., 142, 184f„ 189, 218f., 290f., 340f., 425f., 446, 448f„ 471 f., 502 79 Rezension zu Rainer Wohlfeil: Spanien und die deutsche Erhebung 1808—1814, Wiesbaden 1965. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 5, S. 9 0 0 - 9 0 3 80 Zur Genesis des zweiten Weltkrieges (14. Tagung der Kommission der Historiker der D D R und der VR Polen). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XV. Jg., 1967, Heft 6, S. 1091 81 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 2, Berlin 1967 (Mitherausgeber) 82 Dokumente zur revolutionären Propaganda Frankreichs gegen die feudale Intervention bei Kriegsausbruch 1792. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 2, Berlin 1967, S. 343—351 83 Über Adam Kuckhoff. In: Adam Kuckhoff, herausgegeben vom Rektorat der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 1967, S. 23 84 Über den Klub junger Historiker. In: Berliner Zeitung, Nr. 270, 1. 10. 1967 85 Tradition für alle Gutwilligen. Das Vermächtnis der antifaschistischen Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. In: Nationalzeitung, Nr. 299, 23. 12. 1967 86 Quellenedition zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte unter dem Reformministerium Stein. In: Archivmitteilungen, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Archivwesens, XVII. Jg., 1967, Heft 6, S. 2 4 0 - 2 4 2

1968 87 Ihr Vermächtnis im Herzen. Eine Betrachtung zum Sonntag. In: Berliner Zeitung, Nr. 14, 14. 1. 1968 88 Rezension zu Walter Grab: Demokratische Strömungen in Hamburg und SchleswigHolstein zur Zeit der ersten französischen Republik. Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 21, Hamburg 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVI. Jg., 1968, Heft 2, S. 236—238 89 Rezension zu Henry Vallotton: Metternich, Napoleons großer Gegenspieler, eine Biographie, Hamburg 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVI. Jg., 1968, Heft 3, S. 399 90 In Mainz tagte der Rheinisch-deutsche Nationalkonvent; als die erste demokratische Republik auf deutschem Boden entstand. In: Neues Deutschland, Nr. 90, 30. 3. 1968 91 Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Bd. 3, bearbeitet von Doris Schmidt, Berlin 1968 (Herausgeber) 92 Wesen und Wollen der Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere, Jg. 1968, Blatt 6, S. 4—7 93 Wesen und Wollen der Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack. Wiederabdruck in: Neues Deutschland, Nr. 178, 29. 6. 1968

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94 Über Adam Kuckhoff. In: Gerald Wiemers: Ein Stück Wirklichkeit mehr. Zum 25. Jahrestag der Ermordung von Adam Kuckhoff, Berlin 1968, S. 12 95 Rezension von Walter Markov: Die Freiheiten des Priesters Roux, Berlin 1967. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVI. Jg., 1968, Heft 10, S. 1346f. 96 Die agrarische Großproduktion in den Nordgebieten der D D R und der Volksrepublik Polen (Tagungsbericht). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVI. Jg., 1968, Heft 7, S. 928 f. 97 Rezension von Hans-Joachim Schoeps: Preußen. Bilder und Zeugnisse, Berlin 1967. Derselbe: Zeitgeist im Wandel, Bd. 1 : Das wilhelminische Zeitalter, Stuttgart 1967. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVI. Jg., 1968, Heft 10, S. 1360f. 98 Was Harro Schulze-Boysen und seine Freunde mit ihrem Widerstand wollten. In: die tat, Wochenzeitung der deutschen Widerstandsbewegung, Organ der Opfer des NaziRegimes und ihrer Hinterbliebenen, Frankfurt/Main, 19. Jg., Nr. 29, 20. 7. 1968, S. 11 99 Zur Darstellung der deutschen Geschichte 1789—1848 in Jürgen Kuczynski: Vierzig Bände „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus". In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1968, Teil IV, S. 235—239

1969 100 Adam Kuckhoff. Ansprache zur Eröffnung der Gedenkausstellung für Adam Kuckhoff am 16. 9. 1968 im Foyer der Deutschen Staatsbibliothek, von der Akademie der Künste zu Berlin veranstaltet. In : Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, VII. Jg., Januar/Februar 1969, S. 22f. 101 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 3, Berlin 1969 (Mitherausgeber) 102 8 Sachartikel (Baseler Frieden, cisrhenanische Bewegung, deutsche Burschenschaft, deutsche Jakobiner, Erfurter Fürstentag, Frieden von Campo Formio, Frieden von Luné ville, Frieden von Preßburg). In: Sach Wörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1969, S. 227, 358, 391 f., 418f., 544f., 645 103 Organizacja ruchu oporu Schulze-Boysena i Harnacka w Die Rote Kapelle Gillesa Perrault. In: Dzieje najnowsze, Kwartalnik poswiçcony historii XX wieku, Rocznik I, 1969, H. 2, S. 1 0 7 - 1 1 6 104 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 4, Berlin 1969 (Mitherausgeber) 105 Die Mainzer Republik im Spiegel der deutschen Geschichtsschreibung. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 4, Berlin 1969, S. 9—72 106 Deutsche Jakobiner. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVII. Jg., 1969, H. 9, S. 1130-1140 107 Rezension zu Erhard Moritz: Preußen und der Kosciuszko-Aufstand 1794. Zur preußischen Polenpolitik in der Zeit der Französischen Revolution, Berlin 1968. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVII. Jg., 1969, H. 10, S. 1356f.

1970 108 Probleme der deutsch-französischen Beziehungen 1789—1830. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 2, S. 163—171 109 Rezension zu Michael Freund: Napoleon und die Deutschen. Despot oder Held der

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Freiheit, München 1969. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 2, S. 258 f. 13 Sachartikel (Mainzer Republik, napoleonische Fremdherrschaft, Pariser Frieden, polnische Teilungen, preußische Reformen, preußische Städtereform, Rastatter Kongreß, Reichsdeputationshauptschluß, Restaurationszeit, Rheinbund, sächischer Bauernaufstand 1790, Tugendbund, Wartburgfest). In: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1970, S. 58,125,244, 272, 287-289, 316f., 330f., 377, 400, 437, 658, 782 Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte von den Anfängen bis 1945, 2., erweiterte Auflage, Berlin 1970 (Herausgeber) Rezension zu Karl Otmar Freiherr von Aretin: Heiliges Römisches Reich 1776—1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil I, II. Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Mainz, Bd. 38, Wiesbaden 1967. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 3, S. 431—434 Die Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack und ihre Darstellung in Gilles Perraults „Roter Kapelle". In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 12. Jg., 1970, H. 2, S. 266-277 Forschungen zur deutschen Geschichte 1789—1848. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Sonderband: Historische Forschungen in der DDR 1960—1970. Analysen und Berichte, XVIII. Jg., 1970, S. 380-407 Rezension zu Donald E. Emerson: Metternich and the political Police. Security and Subversion in the Habsburg Monarchy 1815—1830, The Hague 1968. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 6, S. 848 Die Stein-Hardenbergschen Reformen — der Beginn einer Revolution von oben. In: Wissenschaftliche Mitteilungen, hrsg. vom Büro des Präsidiums der DHG, H. 1969 III/ 1970 I, S. 5 1 - 5 4 Rezension zu Klaus Epstein: The Genesis of German Conservatism, Princeton/New Jersey 1966. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 8, S. 1099f. Beginn einer Epoche von Weltgeltung. Friedrich Engels und die Französische Revolution von 1789. In: Neues Deutschland, Nr. 322, 21. 11. 1970 Die Beziehungen zwischen der DDR und der VR Polen und ihr gemeinsamer Kampf gegen den westdeutschen Imperialismus. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 11, S. 1429-1447 Rezension zu Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Hrsg. u. mit einem Nachwort von Hellmuth G. Haasis, München 1970. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XVIII. Jg., 1970, H. 12, S. 1637—1639

1971 121 Auf einer Brücke im Herzen der Hauptstadt. In : Neues Deutschland, Nr. 119,1. 5.1971 122 Anklage gegen den Imperialismus. Erklärung der Kommission der Historiker der DDR und der VR Polen aus Anlaß des 30. Jahrestages der Errichtung des Vernichtungslagers in Oswiçcim-Brzezinka (Auschwitz-Birkenau). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg., 1971, H. 6, S. 804—805 123 Rezension zu Jacques Roux: Scripta et Acta. Textes présentés par Walter Markov, Berlin 1969. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg., 1971, H. 7, S. 967

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124 Eine Revolutionsschrift Georg Forsters vom November 1792. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg., 1971, H. 8, S. 1045—1050 125 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 5, Berlin 1971 (Mitherausgeber) 126 Die Statuten des Mainzer Jakobinerklubs. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 5, Berlin 1971, S. 303-341 127 Rezension zu Walter Markov: Exkurse zu Jacques Roux. Abhandlungen der DAW zu Berlin, Berlin 1970. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg., 1971, H. 9, S. 1209-1210 128 Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1971 129 Rezension zu Walter Grab: Eroberung oder Befreiung? Deutsche Jakobiner und die Franzosenherrschaft im Rheinland 1792—1799. Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, H. 4, Trier 1971. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX, Jg., 1971, H. 12, S. 1583-1584 130 Rezension zu Richard Pipes: Europe since 1815, New York/Evanston/London 1970. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg., 1971, H. 12, S. 1597 131 Germanskije Jakobinzi. In: Jezegodnik germanskoj istorii 1970, Moskva 1971, S. 407-415 1972 132 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 6, Berlin 1972 (Mitherausgeber) 133 Spitzelberichte aus dem jakobinischen Mainz. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 6, Berlin 1972, S. 501-538 134 Rezension zu Eberhard Weis: Montgelas 1759—1799. Zwischen Revolution und Reform, München 1971. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XX. Jg., 1972, H. 11, S. 1458 135 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 7, Berlin 1972 (Mitherausgeber) 136 Wissenschaftliche Thesen. Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1972, Heft 2 und 3 (Herausgeber) 137 Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1972, Nr. 1, 6—14 (Herausgeber) 1973 138 Unbekannte Zeugnisse aus der revolutionären Tätigkeit Georg Forsters in und um Mainz 1792/93. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXI. Jg., 1973, H. 1, S. 49-69 139 Rezension zu Hans-Werner Engels: Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner. Deutsche revolutionäre Demokraten, Bd. 1, hrsg. u. eingeleitet von Walter Grab, Stuttgart 1971. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXI. Jg., 1973, H. 2, S. 241—243 140 Geleitwort zu Hans Wussing : Nicolaus Copernicus, Leipzig/Jena/Berlin 1973, S. 5 141 La notion de patriotisme en Allemagne, à l'époque de la Révolution française. In: Société des études robespierristes, Actes du Colloque Patriotisme et Nationalisme en Europe à l'epoque de la Révolution française et de Napoléon. XIII e Congrès international des Sciences historiques (Moscou, 19 août 1970), Paris 1973, S. 85—102 142 Rezension zu Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle. Ein Lebensbe-

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rieht, Berlin 1972. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXI. Jg., 1973, H. 6, 5. 721 Der Jugend Vorbild und Vermächtnis: Marie, Krystyna und die „Rote Kapelle". In: Horizont, sozialistische Wochenzeitung für internationale Politik und Wirtschaft, 6. Jg., 1973, Nr. 32, S. 28 Vorbemerkung zu: Nicolaus Copernicus. Akademische Festschrift aus Anlaß der 500. Wiederkehr des Geburtstages von Nicolaus Copernicus. Herausgegeben vom Copernicus-Komitee an der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin 1973, S. 5 Jahrbuch für Geschichte, Bd. 8, Berlin 1973 (Mitherausgeber) Die Begegnung deutscher Aufklärer mit der Revolution. Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Jg. 1972, Nr. 7, Berlin 1973 Begrüßung für Fred Oelßner. In : Die Krise der heutigen bürgerlichen politischen Ökonomie; Vorträge und Ansprachen zum 70. Geburtstag von Fred Oelßner. Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Jg. 1973, Nr. 5, Berlin 'l973, S. 8f. Rezension zu Walter Grab: Leben und Werk norddeutscher Jakobiner, und zu Gerhard Steiner: Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater. Deutsche revolutionäre Demokraten, hrsg. von Walter Grab, Bd. 5 und Bd. 4, Stuttgart 1973. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. XXI. Jg., 1973, H. 11, S. 1392 f. 5 Karten (Das deutsche Reich von 1789—1806, Die Mainzer Republik vom 18. 3. bis 31.3. 1793, Mittel-, West- und Südeuropa von 1794—1806, Europa von 1807—1815, Österreich, Preußen und die Rheinbundstaaten von 1807—1815). In: Atlas zur Geschichte, Bd. 1, Gotha/Leipzig 1973, Nr. 791, II, 80, 81,821 Wissenschaftliche Thesen, Akademie der Wissenschaften der D D R , Jg. 1973, Heft 1, 3, 5—7 (Herausgeber) Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Jg. 1973, Nr. 1 - 2 4 (Herausgeber)

1974 152 Zur Roten Kapelle. Diskussionsbeitrag zur wissenschaftlichen Konferenz anläßlich des 55. Jahrestages der Gründung der K P D . In: Theorie und Praxis, Wissenschaftliche Beiträge der Parteihochschule „Karl Marx" beim ZK der SED, 23. Jg., H. 1, 1974, S. 4 0 - 4 7 153 Rezension von Albert Soboul: Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789—1799). Hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Joachim Heilmann/Dietfried Krause-Vilmar, 2 Tie., Frankfurt a. M. 1973. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., 1974, H. 2, S. 251 f. 154 Zu den Gefängnisbriefen Krystyna Wituskas. In: Standpunkt, evangelische Monatsschrift, 2. Jg., H. 3, März 1974, S. 6 7 - 6 9 155 Wer schuf die Brückenmedaillons? In: Berliner Zeitung, Nr. 190,12. 7.1974 156 Erklärung der DDR-Sektion der Kommission der Historiker der D D R und der Volksrepublik Polen zum 22. Juli 1974. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., 1974, H. 10, S. 1106; dasselbe in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 16. Jg., 1974, S. 823f.; dasselbe in: Neues Deutschland, Nr. 191, 13. 7. 1974

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157 Rezension zu Uta Krüger-Löwenstein : Rußland, Frankreich und das Reich 1801 bis 1803. Zur Vorgeschichte der 3. Koalition. Frankfurter historische Abhandlungen, Bd. 2, Wiesbaden 1972. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., 1974, H. 6, S. 650 158 Rezension zu Alfred Körner: Die Wiener Jakobiner. „Homo hominibus" (Franz Hebenstreit) : Übersetzung und Kommentar von Franz Josef Schuh. Deutsche revolutionäre Demokraten, hrsg. von Walter Grab, Bd. 3, Stuttgart 1972. In : Erasmus, Spéculum scientiarum, International Bulletin of contemporary scholarship. Vol. 26, Wiesbaden 1974, Nr. 15—16, Sp. 562—565 159 Interview: Historiker Prof. Dr. Scheel zum 30. Jahrestag des Attentats auf Hitler. Berlin, 17. Juli 1974, ADN. In: Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Jg. 1974/176, Berlin, 18. Juli 160 Marie, Krystyna, „Czerwona Kapela". In : Miesiçcznik Litercki, Rok IX, Sierpien 1974, Nr. 8 (96), S. 133-136 161 Rezension zu Peter Lautzas: Die Festung Mainz im Zeitalter des Ancien régime, der Französischen Revolution und des Empire (1793—1814). Ein Beitrag zur Militärstruktur des Mittelrheingebietes. Geschichtliche Landeskunde. Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Bd. 8, Wiesbaden 1973. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., 1974, H. 8, S. 900 162 W sprawie wspolpracy historyków NRD i PRL. In : Kwartalnik Historyczny, Bd. 81, Jg. 1974, H. 3, S. 506-509 163 Die Stauffenberg-Gruppe wollte den Krieg an allen Fronten beenden. In: Märkische Volksstimme, 20. 7. 1974 164 Nauka — narodu. In: Prawda, 3. 10. 1974 165 Iz istorii antifasistskoj organizacii Schulze-Boysena-Harnacka. In: Jezegodnik germanskoj istorii 1973, Moskva 1974, S. 301—308 166 Die Einleitung der bürgerlichen Umwälzung unter dem Einfluß der Französischen Revolution und dem Druck deutscher Volksbewegungen (1789—1807). In : Klassenkampf — Tradition — Sozialismus. Von den Anfangen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974, S. 206—212 167 Autorität aus wissenschaftlicher Leistung. In: Spektrum, die Monatsschrift für den Wissenschaftler, 5. Jg., November 1974, S. 6—9 168 Rezension zu Elisabeth Fehrenbach: Der Kampf um die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Wiesbaden 1973. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., 1974, H. 10, S. 1143 169 Glückwunsch. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag. In : Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1974, Nr. 4, Berlin 1974, S. 11 f. 170 Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1974, Nr. 1 - 1 8 (Herausgeber) 1975 171 Die Mainzer Republik I. Protokolle des Jakobinerklubs, herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und bearbeitet, Berlin 1975 172 Vereint im Widerstand gegen den Faschismus. Aus der Geschichte der Roten Kapelle. In: Spektrum, die Monatsschrift für den Wissenschaftler, 6. Jg., Mai 1975, S. 4—7 23

Demokratie. Sozialismus

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Bibliographie Heinrich Scheel

173 Über das Verhältnis von Nation und Revolution, Festvortrag zum 150jährigen Bestehen des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 142. Jg., H. 19, 13. Mai 1975, S. 303—310 174 Russko-germanskije naucnije svjazi akademiej nauk S S S R i akademiej nauk G D R 1700—1974. Sbornik dokumentov, Moskva 1975 (Mitherausgeber) 175 Das Bild von der Mainzer Republik im Wandel der Zeiten. In: Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland: Jakobinismus (Reihe: Literatur im historischen Prozeß, Bd. 3/1), herausgegeben von Gert Mattenklott/Klaus R. Scherpe, Kronberg/ Ts. 1975, S. 1 0 - 6 0 176 Das Verhältnis der Klassiker des Marxismus zu den Anfangen der bürgerlichen revolutionären Demokratie in Deutschland. In : Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1975, Nr. 11 G, Berlin 1975 177 Laudatio für Jürgen Kuczynski. In: Disziplinäres und interdisziplinäres Wirken. Jürgen Kuczynski zum 70. Geburtstag. In : Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1975, Nr. 4 G, Berlin 1975, S. 7— 11 178 Rezension zu Elisabeth Fehrenbach: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten. In: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 13, Göttingen 1974. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X X I I I . Jg., 1975, H. 10, S. 1226 179 Begrüßung und Laudatio für Auguste Cornu. In : Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Dem Wirken Auguste Cornus gewidmet. In : Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Jg. 1973, Nr. 20, Berlin 1975, S. 6—10 180 Marx, Engels und die Anfange der bürgerlichen revolutionären Demokratie in Deutschland. Auszug aus der Karl-Marx-Vorlesung 1975. In: Spektrum, 6. Jg., Dezember 1975, S. 2 1 - 2 5 181 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1975, Nr. 1 — 13 (Herausgeber) 182 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1975, Nr. 1 — 15 (Herausgeber) 183 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1975, Nr. 1—6 (Herausgeber) 184 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Abteilung : Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1975, Nr. 1 (Herausgeber) 185 Studien zur Geschichte der Akademie, Bd. 1, 2/1, 2/2, 3, 4, Berlin 1975 (Herausgeber)

1976 186 Rezension zu Timothy Charles William Blanning: Reform and Revolution in Mainz 1743—1803. In: Cambridge Studies in early modern History, Cambridge University Press, Î974. In : Deutsche Literatur-Zeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, hrsg. imAuftrag der Akademie der Wissenschaften d e r D D R , 9 7 . Jg.,H. 2,Februar 1976, Sp. 1 4 7 - 1 5 3 187 Rezension zu Arnulf Moser : Die französische Emigrantenkolonie in Konstanz während der Revolution (1792—1799). Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. 21, hrsg. vom Stadtarchiv Konstanz, Sigmaringen 1975. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X X I V . Jg., 1976, H. 1, S. 118

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188 Die Begegnung deutscher Aufklärer mit der Revolution. Wiederabdruck in: Renaissance, Barock, Aufklärung; Epochen- und Periodisierungsfragen, hrsg. von Werner Bahner, Berlin 1976, S. 192—209 189 Forschung von hohem Rang. In: Berliner Zeitung, 27. 5. 1976 190 O pewnych cechach szczegölnych niemeckiego oswiecenia. In: Kwartalnik historyczny, Jg. 83, 1976, Nr. 2, S. 268-277 191 Ansprache anläßlich der Gedenkausstellung für Kurt Schumacher. In: Kunsthochschule Berlin. Beiträge 4, Berlin (1976), S. 11 — 18 192 Rezension von Horst Appuhn: Das Bildnis des Freiherrn vom Stein. Mit einer Einleitung von Alfred Hartlieb von Wallthor, Köln—Berlin 1975. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXIV. Jg., 1976, H. 7, S. 830 193 Dwadziescia lat dzialanosci komisji historyköw N R D i PRL. In: Kwartalnik historyczny, Jg. 83, 1976, Nr. 4, S. 881-888 194 Warum mir meine alma mater ans Herz gewachsen ist. In: Humboldt-Universität, Organ der SED-Kreisleitung, 21. Jg., Nr. 7, 76/77 vom 28. 10. 1976, S. 6 195 20 Jahre Kommission der Historiker der DDR und der VR Polen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXIV. Jg., 1976, H. 11, S. 1307—1315 196 Werner Krauss — ein Literaturwissenschaftler von Weltgeltung. In: Spektrum, 7. Jg., Dezember 1976, S. 25—26 197 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1976, Nr. 1 — 14 (Herausgeber) 198 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1976, Nr. 1 — 18 (Herausgeber) 199 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR. Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1976, Nr. 1—4 (Herausgeber) 200 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR. Abteilung: Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1976, Nr. 1 (Herausgeber) 201 Die Begegnung deutscher Aufklärer mit der Revolution. Wiederabdruck in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Berlin 1976, S. 3 9 - 5 5 1977 202 Jakobinismus und Revolution. In: Urania, 53. Jg., 1/1977, S. 6—11 203 Interdisziplinärer Erfahrungsaustausch. In: Spektrum, 8. Jg., Februar 1977, S. 8f. 204 Rezension zu Walter Markov: Volksbewegungen der Französischen Revolution, Frankfurt a. M./New York 1976. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXV. Jg., 1977, H. 2, S. 234f. 205 Für Werner Krauss. Trauerrede, gehalten am 3. 9. 1976 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. In: Weimarer Beiträge, XXIII. Jg., 1977, H. 2, S. 5 - 9 206 Trauerrede für Lotte Bergtel. In: Der Bibliothekar, Beiheft 3: Kommunisten im Kampf für ein neues Bibliothekswesen der DDR, Leipzig 1977, S. 28 f. 207 Der Jakobinerklub zu Worms 1792/93. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 16, Berlin 1977, S. 321-401 208 Rezension zu Axel Kuhn: Jakobiner im Rheinland. Der Kölner konstitutionelle Zirkel von 1798. Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik, Bd. 10, Stuttgart 1976. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXV. Jg., 1977, H. 8, S. 973—977 23'

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209 Das Verhältnis der Klassiker des Marxismus zu den Anfängen der bürgerlichen revolutionären Demokratie in Deutschland. Wiederabdruck in: Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789 bis 1871, hrsg. von Helmut Bleiber, Berlin 1977, S. 35-48 210 60 Jahre Roter Oktober. In: Neues Deutschland, Nr. 225, 22. 9. 1977, Berliner Zeitung, Nr. 225, 22. 9. 1977 211 Interview: Aus der Werkstatt der Wissenschaft; neue Vortragsreihe .Forschungen und Fortschritte' berichtet vom Wirken der Akademie. In: Berliner Zeitung, Nr. 217, 13. 9. 1977 212 Die Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack. Die Wahrheit und bürgerliche Lügen über die ,Rote Kapelle'. In: Horizont, sozialistische Wochenzeitung für internationale Politik und Wirtschaft, 10. Jg., 1977, Nr. 51, S. 25, 28 213 Der antifaschistische Widerstandskämpfer Werner Krauss. In: Sinn und Form, Beiträge zur Literatur, 29. Jahr, 1977, Heft 6, S. 1195—1204 214 Zu den Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen. Geschichte und Gegenwart (Zusammen mit Heinrich Gemkow und Reinhold Jeske). In: Polska — Niemcy — Europa. Studia z dziejöw mysli politycznej i stosunköw mi^dzynarodowych (Festschrift zum 70. Geburtstage von Janusz Pajewski), Poznafi 1977, S. 629-645 215 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1977, Nr. 1—9 (Herausgeber) 216 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1977, Nr. 1—22 (Herausgeber) 217 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1977, Nr. }— 6 (Herausgeber) 218 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1977, Nr. 1—8 (Herausgeber) 219 Deutsche Jakobiner, Deutscher Jakobinismus und deutsche Nation. Die Statuten des Mainzer Jakobinerklubs. Unbekannte Zeugnisse aus der revolutionären Tätigkeit Georg Forsters in und um Mainz 1792/93. Wiederabdruck in: Jakobiner in Mitteleuropa, hrsg. u. eingeleitet von Helmut Reinalter, Innsbruck 1977, S. 23—31, 33—45, 125-166

1978 220 Die Französische Revolution und die deutschen Jakobiner. In: Urania im Funk — Vortrag vom 11. Januar 1978 221 Der Herr Professor Dr. Hermann Weber und die .Mainzer Republik'. In: Die Mainzer Republik 1792/93 im ideologischen Kreuzfeuer. ASTA-INFO vom 28. 6.1978, S. 5—10 222 Eröffnungsansprache zum Festakt anläßlich des 200. Geburtstages von Carl Friedrich Gauß. In: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, N 3, 1978; Festakt und Tagung aus Anlaß des 200. Geburtstages von Carl Friedrich Gauß 22-/23. April 1977 in Berlin, Berlin 1978, S. 1 1 - 1 3 223 Fundierte Bildung für alle Kinder des Volkes bei uns verwirklicht. In: Neues Deutschland, Nr. 291, 20. 10. 1978 224 Herders Stellung zur politischen Grundfrage seiner Zeit. In: Johann Gottfried Herder.

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Zum 175. Todestag am 18. Dezember 1978. In: Sitzungsberichte der AdW der DDR, Jg. 1978, Nr. 8/G, Berlin 1978, S. 5 - 1 3 Ansprache anläßlich der Manifestation der Intelligenz der DDR zum 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, 21. September 1977. In: Akademie der Wissenschaften der DDR, Jahrbuch 1977, Berlin 1978, S. 214—216 Jakobinismus und Revolution. In : Hegel-Jahrbuch 1976, Köln 1978, S. 239—246 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1978, Nr. 1 — 12 (Herausgeber) Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1978, Nr. 1—21 (Herausgeber) Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1978, Nr. 1—9 (Herausgeber) Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung : Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1978, Nr. 1—6 (Herausgeber) Der antifaschistische Widerstandskämpfer Werner Krauss. In: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In memoriam Werner Krauss. Sitzungsberichte der AdW der DDR, Jg. 1978, Nr. 5/G, Berlin 1978, S. 1 0 - 1 8

1979 232 Der Mainzer Ordinarius für Geschichte und die ,Mainzer Republik'. In: Spectrum, Monatsschrift für den Wissenschaftler, Jg. 1979, Nr. 1, S. V—VIII 233 Diskussionsbeitrag. In: VIII. Pädagogischer Kongreß der D D R vom 18. bis 20. Oktober 1978, Protokoll, Berlin 1979, S. 229-232 234 Rezension zu Axel Kuhn: Linksrheinische Jakobiner. Aufrufe, Reden, Protokolle, Briefe und Schriften 1794—1801. Deutsche revolutionäre Demokraten, Bd. 2, Stuttgart 1978. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 27. Jg., 1979, H. 2, S. 173 235 Ehrende Worte in memoriam Fred Ölßner. In: Sitzungsberichte der AdW der DDR, Jg. 1979, Nr. 1/G, Berlin 1979, S. 7 - 1 0 236 Hermann Klare zum 70. Geburtstag (Zusammen mit Eberhard Leibnitz). In: Spectrum, Monatsschrift für den Wissenschaftler, Jg. 1979, H. 6, S. II—III 237 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In: Einheit, Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, 34. Jg., 1979, H. 7, S. 763—770 238 Kampfbedingungen und Kunsterfahrungen ,drinnen' und ,draußen'. Erinnerungen an Mitstreiter im antifaschistischen Widerstand. In: Weimarer Beiträge, 25. Jg., 1979, H. 6, S. 5 - 1 4 239 Das Vermächtnis der Kämpfer. In: Spectrum, Monatsschrift für den Wissenschaftler, Jg. 1979, H. 7, S. 6 - 7 240 Tradition und Erfüllung. Ein Wochenpostgespräch. In: Wochenpost, 26. Jg., Nr. 37, 7. 9. 1979, S. 4—5 241 Der Revolutionär Forster und das klassische Weimar. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Folge 2, Berlin—Weimar 1979, S. 6 3 - 8 6 242 Von der ,Roten Kapelle' zum Vizepräsidenten der Akademie. Ein Interview mit Heinrich Scheel. In: die tat, antifaschistische wochenzeitung, Frankfurt/M., 30. Jg., Nr. 38, 21. 9. 1979, S. 12

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243 Erbe und Auftrag. In der DDR wird das Vermächtnis der Kämpfer gegen Faschismus und Krieg erfüllt. In: Horizont, 12. Jg., 1979, Nr. 41, S. 28 244 DDR — Erfüllung des Vermächtnisses der Kämpfer gegen Faschismus und Krieg. Wiederabdruck in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 21. Jg., 1979, H. 5, S. 6 5 7 - 6 6 2 245 In der D D R wird das Vermächtnis der Kämpfer gegen Faschismus und Krieg erfüllt. Wiederabdruck in: 30 Jahre DDR. Kämpfe — Erfolge — Erfahrungen. Beiträge der zentralen wissenschaftlichen Konferenz der Historiker zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik anläßlich des 30. Jahrestages der Staatsgründung, Berlin 1979, S. 4 0 - 4 8 246 Zum Geleit. In: Zeitschrift für Slawistik. Polnische Aufklärung, Bd. 24, 1979, H. 6, S. 777 247 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1979, Nr. 1 — 14 (Herausgeber) 248 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1979, Nr. 1—20 (Herausgeber) 249 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1979, Nr. 1—7 (Herausgeber) 250 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1979, Nr. 1—4 (Herausgeber) 251 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1979, Nr. 1 (Herausgeber) 252 Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften, Bd. 2/3, 6, 7, 8, Berlin 1979 (Herausgeber) 253 Die Einleitung der bürgerlichen Revolution unter dem Einfluß dir Französischen Revolution und dem Druck deutscher Volksbewegungen (1789—1807). In: Grundriß der deutschen Geschichte, Berlin 1979, S. 202—208

1980 254 Begabungen suchen und fördern. Anschaulichkeit und ausdauernder Fleiß. In: Spectrum, Monatsschrift für den Wissenschaftler, 11. Jg., 1980, H. 2, S. 7—8 255 Johann Georg Forster, Wissenschaftler und- Revolutionär. In: Spectrum, Monatsschrift für den Wissenschaftler, 11. Jg., 1980, H. 3, S. VI—VII 256 Das Wollen und Wirken der,Roten Kapelle'. In: Urania, H. 4/1980, S. 30—35 257 Begegnungen mit Käte Kollwitz. In: Sinn und Form, Beiträge zur Literatur, 32. Jg., 1980, Heft 3, S. 5 7 3 - 5 7 9 258 Dank an Professor Gerhard Keil. In: Spectrum, 11. Jg., 1980, H. 7, S. 15 259 Gedanken zum X. In: Sonntag, die kulturpolitische Wochenzeitung, hrsg. vom Kulturbund der DDR, 34. Jg., Nr. 29,20. 7.1980, S. 2 260 Afimarea idealurilor umaniste. Interview für Contemperanul, Saptaminal al consiliului culturii si educatiel socialiste, Nr. 33,15.8.1980 (Bucuresti), S. 8 261 Kunst als Kraftquell und Waffe im antifaschistischen Widerstandskampf. In: Wissenschaftliche Beiträge der Parteihochschule ,Karl Marx' beim ZK der SED, 29. Jg., 1980, Heft 2 (Materialien der wiss. Konferenz zum 110. Geburtstag von W. I. Lenin), S. 67 bis 70

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262 Herder und die Geschichte. In: Herder-Kolloquium 1978, Referate und Diskussionsbeiträge, hrsg. im Auftrage der NFG, Weimar 1980, S. 28—47 263 Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 2. durchgesehene Auflage, Berlin 1980 264 Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Vaduz/ Liechtenstein 1980 (Lizenzausgabe) 265 Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Vaduz/Liechtenstein 1980 (Lizenzausgabe) 266 Rezension zu Friedrich Beck und Manfred Unger: . . . mit Brief und Siegel. Dokumente aus Archiven der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. von der Staatl. Archivverwaltung der DDR, Leipzig 1979. In: Archivmitteilungen, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Archivwesens, 30. Jg., 1980, Heft 6, S. 238 267 Begegnungen mit Käthe Kollwitz in der Zeit des Faschismus. In: Jürgen Kuczynski — ein universeller marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaftler. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1980, Nr. 9 G, Berlin 1980, S. 57—65 268 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1980, Nr. 1 — 13 (Herausgeber) 269 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1980, Nr. 1—26 (Herausgeber) 270 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1980, Nr. 1—3 (Herausgeber) 271 Geschichten und Geschichte. Ein Gespräch. In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, 1980, Nr. 56, S. 2 0 - 2 7

1981 272 Die Mainzer Republik II. Protokolle des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents mit Quellen zu seiner Vorgeschichte, herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und bearbeitet, Berlin 1981 273 Geleitwort zu Joachim Streisand: Kultur in der DDR. Studien zu ihren historischen Grundlagen und ihren Entwicklungsetappen, Berlin 1981, S. 7—9 274 Slowo wstepne. In: Kwartalnik Historyczny, Jg. LXXXVIII, 1981, Nr. 1, S. 5 275 Geleitwort. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 23, Berlin 1981, S. 5 276 Interview zu Karl Freiherr von und zum Stein. Kolloquium zum 150. Todestag. In: Spectrum, die Monatsschrift für den Wissenschaftler, 11. Jg., 1981, H. 6, S. 15f. 277 Rezension zu Rainer Kawa: Georg Friedrich Rebmann (1768—1824). Studien zu Leben und Werk eines deutschen Jakobiners. Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 290, Bonn 1980. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 29. Jg., 1981, H. 6, S. 565f. 278 Französische Revolution und deutsche Jakobiner. In: Wissen aus erster Hand. Erkenntnisse, Erfahrungen, Erfolge der Wissenschaft, hrsg. von Lutz-Günther Fleischer und Harro Hess, Berlin 1981, S. 159-166 279 Rezension zu Helmut Reinalter: Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Eine Einführung. Urban-Taschenbücher, Bd. 326, Stuttgart—(West-)Berlin—Köln—Mainz 1981. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 29. Jg., 1981, H. 8, S. 751—753 280 Taten der Kämpfer immer in uns lebendig. Ein Kampfgefährte der Männer und Frauen

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um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack erzählt. In: Neuer Tag, Nr. 216, 12. 9. 1981 Erstes Gebot der Menschlichkeit ist, den Frieden zu sichern. Wiederabdruck aus Spektrum, 7. Jg., H. 5/6, 1961. In: Informationen und Dokumente der Kampfgruppen der Arbeiterklasse an der AdW der DDR, H. 4, Berlin 1981, S. 49—53 Rezension zu Kurt von Raumer/Manfred Botzenhart: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung von 1789—1815. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3/1 a, Wiesbaden 1980. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 29. Jg., 1981, H. 11, S. 1063 Der historische Ort der Mainzer Republik. In: Deutsche Jakobiner; Mainzer Republik und Cisrhenanen 1792—1798, Bd. 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland, Mainz 1981, S. 17—24 Der Herr Professor Dr. Hermann Weber und die .Mainzer Republik'. Wiederabdruck in: Wir und die Mainzer Republik. Zur Aktualität der deutschen Jakobiner. ASTA-Dokumentation zur Mainzer Jakobinerwoche (23.—28. 11. 1981), S. 10—14 Mainz zwischen Rot und Schwarz. In: Wir und die Mainzer Republik. Zur Aktualität der deutschen Jakobiner. ASTA-Dokumentation zur Mainzer Jakobinerwoche (23. bis 28. 11. 1981), S. 1 5 - 2 4 Der Mainzer Ordinarius für Geschichte und die,Mainzer Republik'. Wiederabdruck in: Wir und die Mainzer Republik. Zur Aktualität der deutschen Jakobiner. ASTA-Dokumentation zur Mainzer Jakobinerwoche (23.-28. 11. 1981), S. 32—33 Rezension zu Timothy Charles William Blanning: Reform and Revolution in Mainz 1743—1803, London 1974. Wiederabdruck in: Wir und die Mainzer Republik, zur Aktualität der deutschen Jakobiner. ASTA-Dokumentation zur Mainzer Jakobinerwoche (23.-28. 11. 1981), S. 4 8 - 5 0 Laudatio der AdW der DDR für Walter Markov. In: Eine Jury für Jacques Roux. Dem Wirken Walter Markovs gewidmet. Sitzungsberichte der AdW der DDR, Jg. 1981, Nr. 1/G, Berlin 1981, S. 5 - 6 25 Jahre Hansische Arbeitsgemeinschaft — 25 Jahre Hansische Forschung in der DDR. Ansprache des Präsidenten der Historiker-Gesellschaft der DDR, gehalten am 28. Oktober 1980 zur Würdigung der Tätigkeit der Hansischen Arbeitsgemeinschaft. In: Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik, Wissenschaftliche Mitteilungen, 1981/11—III, S. 2 5 - 3 6 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1981, Nr. 1—9 (Herausgeber) Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften, der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1981, Nr. 1—22 (Herausgeber) Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1981, Nr. 1—4 (Herausgeber) Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1981, Nr. 1—6 (Herausgeber).

1982 294 Die Mainzer Republik — Historie oder Politicum? Kritische Anmerkungen aus Anlaß einer Ausstellung. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 30. Jg., 1982, H. 6, S. 498 bis 510

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295 Eine notwendige Polemik in Sachen Stein. In: Preußische Reformen — Wirkungen und Grenzen. Aus Anlaß des 150. Todestages des Freiherrn vom und zum Stein. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1982, Nr. 1/G, Berlin 1982, S. 7 5 - 8 3 296 Laudatio für Eduard Winter. In: Bernard Bolzano. Dem Wirken Eduard Winters gewidmet. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1982, Nr. 6/G, Berlin 1982, S. 5 - 6 297 Wir waren Teil der Antihitlerkoalition. Interview. In: Junge Welt, Organ des Zentralrats der FDJ, Nr. 302, 24. 12. 1982. 298 Historische Lehren vermitteln für die Kämpfe in unserer Zeit. In: Neues Deutschland, Nr. 307, 31. 12. 1982 299 Geleitwort zu Heinz Bergschicker: Deutsche Chronik 1933 bis 1945, 2. durchgesehene Aufl., Berlin 1982, S. 7 300 Zum Geleit. In: Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830—1832, hrsg. und eingeleitet von Helmut Bleiber und Jan Kosim, Berlin 1982, S. V 301 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1982, Nr. 1 — 17 (Herausgeber) 302 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1982, Nr. 1—24 (Herausgeber) 303 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1982, Nr. 1—6 (Herausgeber) 304 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1982, Nr. 1—2 (Herausgeber) 305 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1982, Nr. 1 (Herausgeber) 306 Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften, Bd. 10, Berlin 1982 (Herausgeber) 307 Begrüßung. Geschichte und Funktion der Literaturgeschichtsschreibung (Vorträge des Krauss-Kolloquiums II). In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der 308 DDR, Jg. 1982, Nr. 2/G, Berlin 1982, S. 7 - 9 SSSR v moej zizni. In: Sowjetskij Aserbeidschan, Bulletin Nr. 6 (62), Baku 1982, S. 38 bis 39

1983 309 Nach dem VII. Historikerkongreß (Interview). In: Spectrum, H. 2/83, S. II—III 310 Forschungen zum deutschen Jakobinismus. Eine Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 31. Jg., 1983, H. 4, S. 313—324 311 Eine notwendige Polemik in Sachen Stein. Wiederabdruck in: Militärgeschichte, 1983, H. 2, S. 196—200 312 Laudatio (für Robert Rompe). In: Ausgewählte Forschungsergebnisse der Physik. Dem Wirken Robert Rompes gewidmet. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jg. 1981, Nr. 22/N, Berlin 1983, S. 8 - 1 0 313 Taten der Kämpfer immer in uns lebendig. Wiederabdruck in: Revolutionäre Kampftraditionen der Schulze-Boysen/Harnack-Widerstandsorganisation „Rote Kapelle", Frankfurt/O. 1983, S. 53—58

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Bibliographie Heinrich Scheel

314 Revolutionäre Traditionen des antifaschistischen Widerstandes. Die „Rote Kapelle" und der proletarische Internationalismus. In: Revolutionäre Kampftraditionen der Schulze-Boysen/Harnack-Widerstandsorganisation „Rote Kapelle", Frankfurt/O. 1983, S. 93—210 315 Nochmals zur Frage der Revolution von oben' in Preußen 1808 bis 1813. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 31. Jg., 1983, H. 9, S. 824—829 316 Vernost' proletarskomu internacionalismu. Raskaz o perezitam clena nelegalnoj antifasistskoj organizacii. In: Novaja i novejsaja istorija, 1983, 4, S. 112—123, 1983, 5, S. 110-124 317 Die Reformpolitik des Reichsfreiherrn vom und zum Stein. In: Preußen. Legende und Wirklichkeit, bearbeitet und zusammengestellt von Peter Bachmann und Ingo Knoth, Berlin 1983, S. 129—137, 2. ergänzte Auflage, Berlin 1984, S. 129—137 318 Zum Geleit. In: Die verwischte Photographie. Sozialistische Erzähler über den Widerstand in Deutschland 1933—1945, Berlin 1983, S. 7—10 319 Wissenschaftliche Gesellschaften bereichern geistiges Leben. In: Presse-Informationen, hrsg. vom Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Nr. 140 (5426), 4. 12. 1983, S. 3—4 320 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1983, Nr. 1 — 12 (Herausgeber) 321 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1983, Nr. 1 — 13 (Herausgeber) 322 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1983, Nr. 1—3 (Herausgeber) 323 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung: Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1983, Nr. 2 (Herausgeber) 324 Berichtsband: Zur Bedeutung der Information für Individuum und Gesellschaft. Wissenschaftliche Konferenz zum Leibnitz-Tag der Akademie der Wissenschaften der DDR 1983, Berlin 1983 (Herausgeber) 325 Der Gelehrte Werner Krauss und der antifaschistische Widerstand. In: Dialektik. Beiträge zu Philosophie und Wissenschaften. Dialektik 7: Antifaschismus oder Niederlagen beweisen nichts, als daß wir wenige sind. Redaktion: Wolfgang Abendroth, Lars Lambrecht, Axel Schmidt, Köln 1983", S. 44—53 326 Schlußwort auf der erweiterten Tagung des Präsidiums anläßlich des 25. Jahrestages der Gründung der Historiker-Gesellschaft der DDR. In: Wissenschaftliche Mitteilungen der Historiker-Gesellschaft der DDR, 1983/III, S. 7 5 - 8 1

1984 327 Ein Schulungsmaterial aus dem illegalen antifaschistischen Widerstand der Roten Kapelle. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32. Jg., 1984, H. 1, S. 38—46 328 Rezension zu Franz Dumont: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz. Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft 9, Alzey 1982. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32. Jg., 1984, H. 1, S. 71—74 329 Wissenschaft bereichert das geistige Leben. In: Neue Zeit, Nr. 42,18.2.1984, S. 7 330 Lebendige Traditionen: Ein Berliner Fabrikant im Harnack-Zirkel. In: NationalZeitung, Nr. 57, 7. 3. 1984

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331 Der 22. Dezember 1942. In : Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Neue Scharfenberg-Hefte, hrsg. von der Projektgruppe Scharfenberg-Archiv, Nr. 7, (Westberlin), Juni 1984, S. 2 1 - 2 7 332 Rezension zu Marita Gilli: Pensée et pratique révolutionnaires à la fin du XVIII e siècle en Allemagne. Annales littéraires de l'université de Besançon, 285. Collection du bicentenaire de la révolution française. Centre de recherches de l'histoire et littérature aux XVIII et XIX siècles, vol. 15, Paris 1983. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32. Jg., 1984, H. 8, S. 735-736 333 Die Mainzer Republik I. Protokolle des Jakobinerklubs, herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und bearbeitet, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1984 334 Les Jacobins de Mayence (1794—1797), contribution â l'histoire de la république de Mayence (1792—1793). In: Annales Historiques de la Révolution Française, 56. Jg., Nos. 255—256, Janvier—Mars, Avril—Juin 1984, S. 103—123 335 Diskussionsbeitrag auf der Tagung des Friedensrates der DDR, 31. August 1984. In: Informationen, hrsg. vom Friedensrat der DDR, Sonderausgabe, S. 16—17 336 Kontakt mit dem Berater aus der Bendlerstraße. Prof. Dr. Heinrich Scheel über Verbindungen der „Roten Kapelle" zu Männern des 20. Juli 1944. In: Nationalzeitung, Nr. 252, 24. 10. 1984 337 Werner Krauss: Das wissenschaftliche Werk, Bd. 1 : Literaturtheorie, Philosophie und Politik, Berlin und Weimar 1984 (Mitherausgeber) 338 Harnacks Treffen mit dem Bismarck-Biographen. Prof. Dr. Heinrich Scheel, über Verbindungen der „Roten Kapelle" zu Männern des 20. Juli 1944. In: National-Zeitung, Nr. 246, 17. 10. 1984 339 Rezension zu T.C.W. Blanning: The French Revolution in Germany. Occupation and Resistance in the Rhineland 1792—1802, Oxford 1983. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32. Jg., 1984, H. 10, S. 912-914 340 Rezension zu Potsdamer Schlösser in Geschichte und Kunst, hrsg. von der Staatlichen Archiwerwaltung der DDR; Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Erarbeitung: Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci; Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg; Staatsarchiv Potsdam. Leipzig 1984. In: Archivmitteilungen, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Archivwesens, 1984, H. 5, S. 182 bis 183 341 Erbe und Tradition in der Geschichte der DDR. Dokumentation der gemeinsamen Tagung des Nationalen Rates der DDR zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes und des Präsidiums der Historiker-Gesellschaft der DDR, Berlin 1984, Einleitung, S. 1—2 342 Die Französische Revolution und der Beginn der bürgerlichen Umwälzung (1789 bis 1807). In : Deutsche Geschichte in zwölf Bänden, Bd. 4, Köln 1984, S. 13—74 343 Dasselbe, Berlin 1984, S. 13—74 344 Prof. Dr. habil. Horst Bartel zum Gedenken. In : Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik, Wissenschaftliche Mitteilungen, 1984/11, S. 86—92 345 Briefwechsel über Herbert Paatz. In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, Nr. 73, Berlin 1984, S. 2 4 - 2 8 346 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1984, Nr. 1—8, 15 (Herausgeber) 347 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Jg. 1984, Nr. 1—7 (Herausgeber)

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Bibliographie Heinrich Scheel

348 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Abteilung: Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Räte, Jg. 1984, Nr. 1 (Herausgeber) 1985 349 „. . . daß die Menschheit sich im Aufstieg befindet." In: NeuerTag, Nr. 39, 15. 2. 1985 350 Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen. In: DDR-Revue, Magazin aus der Deutschen Demokratischen Republik, 30. Jg., H. 2/85, S. 33—35 351 Deutsche Antifaschisten in der Front der Sieger. In : Der Morgen, Nr. 64,16./17. 3. 1985 352 Die „Rote Kapelle" und der 20. Juli 1944. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33. Jg., 1985, H. 4, S. 3 2 5 - 3 3 7 353 Deutsche Antifaschisten trugen zum Sieg der Antihitlerkoalition bei. In: Junge Welt, Nr. 102 B, 2. 5. 1985 354 Jakobinismus in Paris und Mainz. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33. Jg., 1985, H. 5, S. 4 1 6 - 4 2 3 355 Zum 80. Geburtstag des Bildhauers Kurt Schumacher. „Ich weiß, . . . unsere Idee siegt. . .". In: Neuer Tag, Nr. 110, 10. 5. 1985 356 Sie begriffen ihren Widerstand als einen deutschen Beitrag zum antifaschistischen Befreiungskampf. In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde, 27. Jg., 1985, H. 6, S. 4 1 5 - 4 1 8 357 Siegeszuversicht selbst in der Todeszelle. In : Der antifaschistische Widerstandskämpfer, H. 6/1985, S. 18 f. 358 Die „Rote Kapelle" und der 20. Juli 1944. Wiederabdruck in: Wissenschaftliche Mitteilungen, hrsg. vom Büro des Präsidiums der Historiker-Gesellschaft der D D R , 1—11/ 1985, S. 4 5 - 5 7 359 Zur „Roten Kapelle" aus einer Gelehrtenfamilie. In: National-Zeitung, Nr. 189, 14. 8. 1985 360 Zukunftsgewißheit. In: Sonntag, 39. Jg., Nr. 36, 8. 9. 1985 361 Vom Wort zur Tat. Georg Forsters Stellung im Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung. In: Georg Forster. Leben, Werk und Wirkung. Wissenschaftliches Kolloquium der staatlichen Schlösser und Gärten am 30. Juni 1984 anläßlich der Eröffnung der ForsterStätte in Wörlitz, Wörlitz 1985, S. 7—23 362 Die Reformpolitik des Reichsfreiherrn vom und zum Stein. In: Preußen. Legende und Wirklichkeit, bearbeitet und zusammengestellt von Peter Bachmann und Inge Knoth, 3., ergänzte Auflage, Berlin 1985, S. 129—137

1986 363 Geistesschaffende zum Vorschlag von Michael Gorbatschow. In: Sonntag, Nr. 4,26. 1. 1986 364 Mein Freund und Kampfgefährte. Zum 70. Geburtstag von Hans Coppi am 25. Januar. In: Neuer Tag, Nr. 20, 24. 1. 1986 365 Wir bauten auf die junge Intelligenz. In: Spectrum, 2/86, S. 8—9 366 Lenins Mahnung. In: Sonntag, Nr. 12, 23. 3. 1986 367 Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein-Dohna, hrsg. von Heinrich Scheel und Doris Schmidt, Berlin 1986

Bibliographie Heinrich Scheel

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368 Die Mainzer Republik 1792/93 — ein deutsch-französiches Phänomen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1986, H. 5, S. 4 0 2 - 4 1 4 369 Drei Zeugnisse französischer Einwirkung auf deutsche Zustände aus den Jahren 1794, 1795 und 1832. In: 1789 und der Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts. Dem Wirken Walter Markovs gewidmet. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, Nr. 3/G, Berlin 1986, S. 19—39 370 Der Wechsel 1949; eine Darstellung als Entgegnung auf Wolfgang Pewesin (Heft 11). In: Neue Scharfenberg-Hefte, hrsg. von der Projektgruppe Scharfenberg-Archiv, Nr. 12, S. 6 1 - 6 7 371 Einführung. In: Gert Rosiejka: Die Rote Kapelle. Landesverrat' als antifaschistischer Widerstand, Hamburg 1986, S. 9 - 1 3 372 Begrüßung. In: Alexander-von-Humboldt-Ehrung in der D D R . Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der D D R , Abteilung Mathematik — Naturwissenschaften — Technik, Nr. 2/N, Berlin 1986, S. 9 373 Die Begegnung deutscher Aufklärer mit der Revolution. In: Manfred Buhr, Wolfgang Förster (Hrsg.): Aufklärung — Geschichte — Revolution, Studien zur Philosophie der Aufklärung (II), Berlin 1986, S. 4 0 8 - 4 2 9 374 Aus einem Gespräch mit Hans Coppi, Hans Lautenschläger und Heinrich Scheel vom 16. Mai 1985. In: Für Mutter Coppi und die Anderen, Alle! Graphische Folge von Fritz Cremer, Beiheft, Berlin 1986, S. 3 1 - 5 3 375 Zur Karl-Marx-Vorlesung von Werner Krauss 1963. Eröffnungsvortrag. In: Zum Problem der Geschichtlichkeit ästhetischer Normen. Die Antike im Wandel des Urteils des 19. Jahrhunderts. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Nr. 1/G Berlin 1986, S. 7—12

1987 376 Neues Wissen auch über die Gründung Berlins. Gespräch mit Prof. Dr. Heinrich Scheel, Präsident der Historiker-Gesellschaft der D D R , über die Geschichtskonferenz. In: Tribüne, Nr. 28, 10. 2. 1987 377 Letzte Zeilen im Handschuh (Über Wilhelm Guddorf). In: Junge Welt, Nr. 43, 20. 2. 1987 378 ,,. . . eine der Wurzeln unserer Kraft". Aus der Eröffnungsansprache auf der Historikerkonferenz zur Geschichte Berlins. In: Der antifaschistische Widerstandskämpfer, Zeitschrift der Zentralleitung des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der D D R , 3/1987, S. 19 379 „Wir haben für die Freiheit gekämpft und konnten nicht feige sein." In: Antifaschistisches Magazin, der Mahnruf, Nr. 205, 2. Quartal 1987, S. 6f. 380 Die Mainzer Republik 1792/93, ein deutsch-französisches Phänomen. In: Die große Französische Revolution und die Frage der revolutionären Demokratie im Revolutionszyklus 1789 bis 1871. Dem Wirken Heinrich Scheels gewidmet. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, Nr. 10/G, Berlin 1987, S. 8 - 2 4

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Bibliographie Heinrich Scheel

381 Der Kreisauer Kreis und die ,Rote Kapelle' — auf den Spuren von Çarl-Dietrich von Trotha, eines Mannes des Kreisauer Kreises und aus der Koalition der Vernünftigen. In: Junge Welt, 20. 7. 1987 382 Antifaschistischer Widerstand und Jakobinismus. In: Thüringer Tageblatt, Bezirkszeitung der C D U , Nr. 203, 29. 8. 1987 383 Humboldt als Staatsmann im beginnenden Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung. In : Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Rechtsphilosophie, hrsg. von Karl-Heinz Schöneburg, Berlin 1987, S. 6 2 - 6 9 384 Kampfgefährte Weisenborn. In: Sonntag, Nr. 37, 13. 9. 1987 385 Vorwort zu 30 Jahre Kommission der Historiker dér D D R und der UdSSR. Eine Chronik, hrsg. von der DDR-Sektion der Kommission der Historiker der D D R und der UdSSR, Berlin 1987, S. I - V 386 Eröffnung der 36. Tagung der Kommission der Historiker der D D R und der UdSSR, gemeinsam mit der Parteihochschule ,Karl Marx' beim ZK der SED, 15. 10. 1987, Manuskriptdruck 387 Rote Kapelle, Dokumente aus dem antifaschistischen Widerstand, VEB Deutsche Schallplatte, Berlin 1987 (Wissenschaftliche Beratung, Interviews, Beiträge zum Beiheft) 388 Zum Tod von Wolfgang Heyse. In: Sinn und Form, H. 6,1987, S. 1229-1231 389 Die Wandlungen im deutsch-französischen Verhältnis in der Zeit von 1789 bis 1830/31. In : La réception de la Révolution Française dans les pays de langue allemande. Actes du XIXe Congrès de l'A. G. E. S., Besançon 26—28 Avril 1986, Besançon 1987, S. 75— 90 390 Mit ganzem Einsatz gegen den kriegsbesessenen Faschismus. In : Neues Deutschland, Nr. 301, 23. 12. 1987 391 Schlußwort. In : Geschichte der Agrarwissenschaften der D D R ; Vorträge eines wissenschaftlichen Symposiums der AdL der D D R und der H G der D D R am 6. und 7. November 1986 in Berlin, Berlin 1987 (Tagungsbericht/Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der D D R ; 254), S. 189—192 392 Werner Krauss: Das wissenschaftliche Werk, Bd. 6: Aufklärung II, Berlin—Weimar 1987 (Mitherausgeber)

Autorenverzeichnis

Bahner, Werner, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bleiber, Helmut, Prof. Dr. sc. phil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bock, Helmut, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Brüning, Eberhard, Prof. Dr. sc. phil., Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Dietze, Walter, Prof. Dr. sc. phil., Dr. h. c. f Engelberg, Ernst, Prof. Dr. phil., Dr. h. c., Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Feist, Peter H., Prof. Dr. sc. phil., Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Gossweiler, Kurt, Dr. sc. phil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Grau, Conrad, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Herrmann, Joachim, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Klenner, Hermann, Prof. Dr. jur. habil., Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Knepler, Georg, Prof. Dr. phil. habil., Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Kossok, Manfred, Prof. Dr. phil. habil., Dr. h. c., Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Geschichte, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Kuczynski, Jürgen, Prof. Dr. phil., Dr. h. c. mult., Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Laschitza, Annelies, Prof. Dr. sc. phil., Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED.

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Autorenverzeichnis

Markov, Walter, Prof. Dr. phil. habil., Dr. h. c., Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Meier, Helmut, Prof. Dr. sc. phil., Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Institut für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Mittenzwei, Werner, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Nussbaum, Helga, Prof. Dr. sc. oec., Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Obermann, Karl, Prof. Dr. phil. habil., Dr. h. c. t Pätzold, Kurt, Prof. Dr. phil. habil., Humboldt-Universität Berlin, Sektion Geschichte. Poppe, Eberhard, Prof. Dr. sc. jur., Dr. h. c., Martin-Luther-Universität Halle, Sektion Staats- und Rechtswissenschaft, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Rüge, Wolfgang, Prof. Dr. phil. habil. Schmidt, Walter, Prof. Dr. phil. habil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seidel-Höppner, Waltraud, Dr. phil., Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Steiner, Gerhard, Prof. Dr. phil. habil. Treder, Hans-Jürgen, Prof. Dr. rer. nat. habil., Dr. h. c. mult., Einstein-Laboratorium für theoretische Physik, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR.