Imagerie des Anderen im Weimarer Kino [1. Aufl.] 9783839401163

Die Imaginationsmaschine des Kinos wird in der Moderne zu einem mächtigen Agenten der Repräsentation des Anderen. Populä

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German Pages 226 [225] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Rekonstruktionen – Zur Überlieferungsgeschichte des Weimarer Kinos
Das Kino als Agent des Eskapismus?
Verlusterfahrungen oder Suchbilder der Ordnung
Abenteuerliche Topographien und fantastische Wirklichkeiten
Aufmarschplatz der Abenteurer
›Moderne‹ physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle Anthropologie
Schluß: Erfundene Eilande oder Aloha Oé in Moll
Filmographie
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
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Imagerie des Anderen im Weimarer Kino [1. Aufl.]
 9783839401163

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Imagerie des Anderen im Weimarer Kino

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Wolfgang Kabatek, geb. 1961, Dr. phil., ist Assistent an der Humboldt Universität zu Berlin. Er arbeitet zu medien- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen von Film, Fotografie, Literatur, Fernsehen und Radio, zu Aspekten des Medienreflexiven und zu medialen Lesbarkeitskonzepten.

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Wolfgang Kabatek Imagerie des Anderen im Weimarer Kino

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bernhard Goetzke als Yoghi Ramigani in »Das indische Grabmal« (Screenshot) Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-116-7

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Inhalt Danksagung

7 Einleitung

9 Rekonstruktionen – Zur Überlieferungsgeschichte des Weimarer Kinos

21 Das Kino als Agent des Eskapismus?

35 Verlusterfahrungen oder Suchbilder der Ordnung

51 Abenteuerliche Topographien und fantastische Wirklichkeiten

75 Aufmarschplatz der Abenteurer

117 ›Moderne‹ physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle Anthropologie

149 Schluß: Erfundene Eilande oder Aloha Oé in Moll

175 Filmographie

189 Bibliographie

195 Abbildungsverzeichnis

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Für Tanja

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Danksagung Mein Dank all denen, die zum Gelingen meines Dissertationsprojekts Imagerie des Anderen mit intellektueller, kritischer, logistischer, ermutigender und finanzieller Unterstützung beigetragen haben. Gedankt sei vor allem meinem Erstgutachter Prof. Dr. Karl Prümm für sein Interesse am Thema dieser Arbeit und die zahlreichen Gespräche und Diskussionen zur Medienkultur der Weimarer Republik. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Heinz-B. Heller für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen. Mein ganz besonderer Dank richtet sich an Tanja Nusser, die mit zum Teil scharfer, immer aber produktiver weiterführender und fantasievoller Kritik alle Phasen dieser Arbeit begleitet hat und in den damit verbundenen wechselvollen Lebenslagen jederzeit ein offenes Ohr für mich hatte. Bedanken möchte ich mich nicht zuletzt bei Prof. Dr. Klaus R. Scherpe, der fortdauerndes Interesse am Fortgang meines Projekts zeigte und in dessen Seminaren und Forschungskolloquien zu Wahrnehmungsformen des Fremden erste Gedanken zu meinem Forschungsgegenstand reiften. In freundschaftlicher Verbundenheit verdanke ich zudem Ronald Hermann, Burkhard Röwekamp und Stephan Wiehler zahlreiche Anregungen, hilfreiche Korrekturen und Diskussionen umfangreicher Teile der Arbeit. Für die wertvolle und geduldige Hilfe bei den Quellen-Recherchen sei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung Deutsche Kinemathek (SDK) und des Bundesarchiv-Filmarchivs (BAFA) in Berlin sowie des Deutschen Instituts für Filmkunde (DIF) in Frankfurt/M. und Wiesbaden, besonders aber der entgegenkommenden Unterstützung von Frau Capitän (DIF) und Frau van der Zeh (SDK) gedankt. An dieser Stelle auch noch einmal ein Dankeswort an meine Mutter, die mich immer wieder großzügig unterstützt hat.

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Einleitung »[S]chwer zu sagen, was schöner ist: die Nächte oder die Tage immer neu, immer anders – und immer anders, als man es erwartete. Das ist schön, daß es so ist, auch wo es zunächst enttäuscht, weil es nicht erscheint, wie wir es erwarteten, wie wir es lasen, wie wir es träumten. Immer ist mir das Sternbild: ›das südliche Kreuz‹ […] das Wahrzeichen aller Südsee-, Abenteuer-, Entdecker-, und Seeräubergeschichten – Wahrzeichen aller Melvilles, Stevensons und Conrads.«1 »Ich bin auf der Reise nach der südlichen Weststrecke des großen Brasiliens, und was ich da suche, sind zwei Dinge: den Grenzfluß des Uruguay und die Erfüllung einer Sage. […] Vielleicht gebe ich der Sehnsucht nach unbekannten Fernen nur den Namen: Uruguaystrom.« 2 Als Geschöpf der avancierten industriellen Moderne beginnt die Kinematographie mit ihren bewegten Bilderzählungen zu einer Zeit, da die Welt fast gänzlich erforscht und aufgeteilt scheint und größere territoriale Entdeckungen nicht mehr erwartet werden. Das Unbekannte, Fremde, Andere wirkt gleichsam an die Ränder der Welt zurückgedrängt, verschwunden ist es damit jedoch nicht. Entdekkungen mögen Schneisen des Bekannten durch die Welt gezogen haben; stellt man sich diese Bahnungen jedoch in Form eines Netzes vor, so wäre es lediglich aus lauter Ariadnefäden geknüpft; ein labyrinthischer Wirklichkeitsraum, überzogen von einem Maschenwerk, das auch weiterhin genügend Raum für Erprobungsfelder einer befremdend-befremdlichen Imagination bietet. Vornehmlich in absei-

1. Murnau, Friedrich Wilhelm: »Bericht aus der Südsee [Brief an Salka u. Berthold Viertel]«, in: Kreimeier, Klaus (Red.): Friedrich Wilhelm Murnau 1888-1988, Bielefeld: Bielefelder Verlagsanstalt 1988, S. 103-107, hier S. 104. 2. Jacques, Norbert: Neue Brasilienreise, München: Drei Masken 1925, 3.5.1924 zit. nach Scholdt, Günter: »Norbert Jacques. Der Autor des ›Mabuse‹«, in: Jacques, Norbert (Hg.), Mabuses Kolonie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 405-417, hier S. 417. 9

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tigen Regionen, jenseits kartographisch verzeichneter Pfade und Bahnungen, in den Zwischenräumen des Entdeckten wird dem Anderen dann sein Ort zugewiesen. Jedoch ist, wie Gerhard Gamm ausführt, das »Unbestimmte […] nicht das Unbegrenzte jenseits der bewohnten Welt […]. In der Nähe der bestimmten Dinge ist die Präsenz des Unbestimmten grenzenlos.«3 Die Imaginationsmaschine des Kinos wird in der Moderne zu einem mächtigen Agenten der Repräsentation des Anderen, dessen Heterotopien4 jedoch nicht ausschließlich auf topographisch entlegene Gegenden beschränkt sind. In den Geschichten, die im Weimarer Kino erzählt werden, finden sich häufig ideale Einschreibund Erprobungsfelder für autoritär strukturierte Charaktere mit ihren hybriden Vorstellungen von Mach- und Beherrschbarkeit, die gleichsam als Das Andere der Vernunft5 figurieren. Die Konzeptualisierungen des Fremden erscheinen bestimmt durch die Ambivalenzen von Verführung und Abschreckung, Bezauberung und Bedrohung, changierend zwischen dem amor alieni – beispielsweise in der Figur des ›Edlen Wilden‹ – und dem horror alieni6 – so repräsentiert in der Figur des ›Barbaren‹. Beide Repräsentationsformen können mit Urs Bitterli verstanden werden als »vertauschbare Abstraktionen […], die darin ihr Gemeinsames haben, daß beide das bezeichnen, wofür die Europäer sich selbst nicht halten«.7 Nicht selten prägt und dominiert eine spezifische Unordnung, ein von Angst begleitetes Unbehagen dieses nebulöse Terrain zwischen fascinans und tremendum. Diese Unentschiedenheit und fortwährende Auflösung vorgeblich verbürgter Gewißheit reicht mit ihren Wurzeln weit zurück bis in die Neuzeit; eine besondere Radikalisierung läßt sich jedoch mit einsetzender Industrialisierung samt bekannter sozio-kultureller Folgen verzeichnen. Ubiquitär wird dieses Gefühl

3. Gamm, Gerhard: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 17. 4. Der Begriff der Heterotopie wird von Michel Foucault in dem einschlägigen Text Andere Räume entwickelt. [Foucault, Michel: »Andere Räume (1967)«, in: Barck, Karlheinz, u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46.] 5. Böhme, Hartmut/Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. 6. Vgl. Landmann, Michael: »Plädoyer für die Entfremdung«, in: Praxis. Philosophische Zeitschrift, Jg. 1/2, Nr. 5, 1969, S. 134-150, hier S. 134ff. 7. Bitterli, Urs: »Die exotische Insel«, in: Pickerodt, Gerhart (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt/M.: Athenäum 1987, S. 11-30, hier S. 19. 10

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EINLEITUNG

einer ›exzentrischen Position‹ (Plessner) besonders nach dem Ersten Weltkrieg, diesem frenetischen Tanz über Gräben8, der die geistigen Eliten der kriegführenden Nationen nachhaltig erschüttert. Ungeachtet der vermessenen Welt rücken nun Regionen verstörender Ambivalenz, die vordem bevorzugt in sicherer Distanz zum Eigenen am Rande der bekannten Welt lokalisiert wurden, von ihrem topographischen (N)Irgendwo in die Nähe des Eigenen, ja greifen zunehmend sogar in dieses ein. Als Weltgenerierungs- und Zeitmaschine erscheint das Kino – wenn nicht als Mythenproduzent so doch – als Mythendistribuent par excellence und verbreitet unter den Bedingungen einer als ›entzaubert‹ apostrophierten Moderne massenwirksame Verzauberungen und Remythisierungen. Als ein eklektisches System der Welt(v)erklärung rekurriert es dabei auf eine lange Tradition mythischer Erzählweisen und führt diese weiter. So erhofft sich Max Adler unter dem Eindruck von Krieg und Revolution ein in der Massengesellschaft gründendes, neues ›kollektives Wollen‹ zur Erschaffung des Mythos. Daß »[d]ie Frage nach den mythenbildenden Kräften der Gegenwart […] ein Problem der Religiosität und zugleich der Soziologie« wird, charakterisiert viele Positionen der Nachkriegs zeit.9 Mit dem Begriff des Mythos ist jedoch »eine Art ›enzyklopädisches Stichwort‹«10 gegeben, dessen regalfüllende Forschungsliteratur den unabschließbaren Klärungsbedarf einer Arbeit am Mythos11 anzuzeigen scheint. Ohne in die Verästelungen der Mythenforschung vordringen zu wollen (und zu können), soll Mythos hier auf einer basalen Ebene als eine Form der Welterklärung verstanden werden. In bezug auf den in der Filmforschung häufig behaupteten engen Konnex von Kinematographie und Mythos erweist sich der in den 20er Jahren von Ernst Cassirer in seiner kultursemiotischen Symbolforschung gewiesene Weg, die »mythische[] Bilderwelt«12 auf die Sphäre des Ästhetischen zu beziehen, als anschlußfähig. »Der Mythos sieht im Bilde immer zugleich ein Stück substan-

8. Vgl. Eksteins, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990. 9. Adler, Max: »Masse und Mythos«, in: Die Neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film, Jg. 2, Nr. 9, 1920, S. 229-233, hier S. 230. 10. Rössner, Michael: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Athenäum 1988, S. 20. 11. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. 12. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken (1923), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 311. 11

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IMAGERIE DES ANDEREN IM WEIMARER KINO

tieller Wirklichkeit, einen Teil der Dingwelt selbst […].«13 Daß die vom Mythos entworfene Welt auf mannigfache Weise mit der des Logos verbunden ist, daß die Grenzziehung zwischen beiden mithin eine imaginäre ist, darauf hat nicht zuletzt Hans Blumenberg hingewiesen, indem er »nach dem Logos des Mythos im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit« fragt und den Mythos als »ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos«14 begreift. Wenn über das deutsche Kino der Zwischenkriegszeit gesprochen wird, spielen attributive Bestimmungen wie fantastisch, obsessiv, dunkel, dämonisch, gespenstisch15 und von tief irrationalen Motiven beherrscht eine große Rolle. Dämonisierte Figuren, verrückte Wissenschaftler, Doppelgänger, Widergänger und künstliche Menschen treiben ihr Unwesen in zahlreichen Filmen der Zeit und sind forschungsgeschichtlich der dominante Untersuchungsgegenstand. Fragt man nach den Gründen dieser ästhetischen Konzeption, so bestimmen dabei unbestritten das Ende der Weimarer Republik – dieser »Republik ohne Gebrauchsanweisung«16, wie es Alfred Döblin ausgedrückt hat – und die daran anschließende nationalsozialistische Schreckensherrschaft die Forschungsperspektive. Beispielhaft läßt sich dies anhand des Titels der Kracauerschen Monographie zum Weimarer Kino zeigen, deren endgültiger Titel Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films17 lange Zeit den filmhistorischen Fokus dominierte. Der ursprünglich vorgesehene Titel Shadows of the Mass Mind. A History of the German Film läßt jedoch noch eine andere Perspektive erkennen. Hier sind die dunklen Seiten der modernen Massengesellschaft, wie sie

13. Ebd. 14. Blumenberg: Mythos, S. 18. 15. Das dem Weimarer Kino in der anglo-amerikanischen Forschung oftmals applizierte Attribut ›gespenstisch‹ kann als Nachwirkung der englischen Titelübersetzung der Lotte Eisner Studie zum Film der Weimarer Republik verstanden werden: The Haunted Screen. [Vergleiche Eisner, Lotte H.: Die dämonische Leinwand (1952), Frankfurt/M.: Kommunales Kino Frankfurt 1975.] 16. Döblin, Alfred: »Der deutsche Maskenball (1921)«, in: ders.: Ausgewählte Werke, hrsg. v. Walter Muschg, Bd. 14, Olten, Freiburg: Walter 1972, S. 9-124, hier S. 100. 17. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. Vergleiche zur Genese des Titels die Anmerkungen Volker Breideckers zu dem Brief Kracauers an Panofsky vom 8.11.1944 [Breidecker, Volker (Hg.): Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky, Briefwechsel 1941-1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer »Under the spell of the living Warburg tradition«, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 38.] 12

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EINLEITUNG

in den Licht- und Schattenspielen des Films ihren Ausdruck finden, titelgebend ins Visier genommen und die teleologische Perspektive sowie der enge Konnex zwischen ästhetischem Trend und zeitgeschichtlichem Phänomen vermieden. Auch wenn das Spekulative über den Zusammenhang eines ästhetischen Trends mit sozialen und politischen Entwicklungen in der von Siegfried Kracauer unter dem Eindruck von Diaspora und Holocaust verfaßten Studie heute unbestritten ist, führt dies jedoch keineswegs dazu, die Untersuchung als bedeutungslos abzuqualifizieren. Betrachtet man die Forschungsliteratur zum Weimarer Kino, so zeigt sich, daß Kracauer mit seiner Schrift ein weiterhin wirkungsmächtiges Modell formuliert hat, durch das politische und soziale Phänomene mit der im Kino imaginierten populären Fantasie korreliert werden.18 Seine Leitthese war, daß Filme »psychologische Dispositionen« reflektieren, »jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken.«19 Besonders in der deutschen Diskussion über diese Studie wird nicht zuletzt aufgrund ihrer ersten, überaus fehlerhaften und massiv gekürzten deutschen Übersetzung von 1958, die unter dem Titel Von Caligari bis Hitler – ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films in der Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« erschien, auch heute noch behauptet, Kracauer habe beabsichtigt, das kollektive Unbewußte (gar im Jungschen Verständnis) zu untersuchen. Diese Annahme unterschlägt, daß Kracauer im amerikanischen Exil und besonders in seiner Funktion als Hauptgutachter und professioneller Advisor für die Bollingen Foundation seine Ablehnung der Jungschen Konzeption deutlich formuliert hat. Dagegen ist seine Auffassung der Kollektivmentalität nachhaltig von mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen in den amerikanischen humanities beeinflußt. Ausgangspunkt für Kracauers mentalitätsgeschichtlichen Ansatz ist die Annahme, daß in Filmen die Mentalität einer Nation

18. Joanne Hollows und Mark Jancovich führen aus, daß viele Theorien zum Populären daran leiden, dieses gleichsam substantialistisch als spezifisches Moment eines Textes zu verstehen und nicht als Produkt der Umgangsweisen, mit denen Texte von spezifischen sozialen Gruppen angeeignet und wiederum fortan mit diesen assoziiert werden. [Vgl. Hollows, Joanne/Jancovich, Mark: »Introduction: Popular film and cultural distinctions«, in: dies. (Hg.), Approaches to popular film, Manchester: Manchester UP 1995, S. 1-14, hier S. 3.] 19. Kracauer: Von Caligari, S. 12. »[…] those deep layers of collective mentality which extend more or less below the dimension of consciousness,« heißt es in der englischen Originalausgabe. [Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hitler, a psychological history of the German film, Princeton/N.J.: Princeton UP 1974, S. 6.] 13

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»unvermittelter«20 als in anderen künstlerischen Medien reflektiert würde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß er sich deutlich vom Projekt einer völkerpsychologistischen Charakterisierung abgrenzt, wie sie wohl am deutlichsten in einem anderen nachhaltig wirkenden Buch über diese Zeit formuliert wurde: Lotte H. Eisners Die dämonische Leinwand. Über diese Einschätzung hinaus stellt Eisner die Verbindung des sogenannten expressionistischen Kinos – das bereits in zeitgenössischer Perspektive als »Bildform des Absonderlichen«21 rezipiert wurde – mit der Literatur der Romantik und der gothic novel her, die bis in unsere Tage teilweise mechanisch repetiert wird.22 Eisner erklärt Stilelemente der Filme, indem sie Rückbezüge auf die romantische Kunsttradition herstellt und aus ihnen mögliche Konstanten des deutschen Nationalcharakters analogisch konstruiert.23 Demgegenüber versucht Kracauer, keinen ahistorischen Volkscharakter, sondern eine spezifische historische Konstellation in den Blick zu nehmen: »Mit anderen Worten, diesem Buch ist nicht daran gelegen, ein beliebiges Grundmuster eines Nationalcharakters zu erstellen, das sich vorgeblich über Geschichte erhebt, sondern befaßt sich mit dem psychologischen Grundmuster eines Volkes in einer eingegrenzten Zeit.«24 Dennoch hat Kracauers Filmgeschichte mit Lotte Eisners gemein, daß beide in gewisser Weise eine teleologische Argumentation ex post verfolgen, die die behandelten Filme aus der zeitgeschichtlichen Perspektive der Ereignisse von 1933-1945 deuten. Daß es sich bei dieser Sicht um eine Konstruktion mit einigen gravierenden Mängeln handelt, ist aus heutiger Perspektive gemeinhin unstrittig. Dem Historiker Kracauer

20. Kracauer: Von Caligari, S. 11. »The films of a nation reflect its mentality in a more direct way than other artistic media […]« [Kracauer: From Caligari, S. 5.] 21. Fürstenau, Theo: »Bemerkungen zum expressionistischen Film (Erster Teil)«, in: DIF – Filmkundliche Mitteilungen, Jg. 2, Nr. 2, 1969, S. 5-12, hier S. 10. 22. So zum Beispiel in der Arbeit von Barbara Steinbauer-Grötsch zum deutschen Einfluß auf den Film Noir. [Steinbauer-Grötsch, Barbara: Die lange Nacht der Schatten. Film noir und Filmexil, Berlin: Berzt 1997.] 23. »Mystizismus und Magie, ewige Verlockung zur Grübelei scheinen ihr zur apokalyptischen Doktrin des Expressionismus zu führen.« [Lenssen, Claudia: »Die ›Klassiker‹. Die Rezeption von Lotte E. Eisner und Siegfried Kracauer«, in: Bock, Hans Michael/Jacobsen, Wolfgang (Hg.), Recherche: Film. Quellen und Methoden der Filmforschung, München: edition text + kritik 1997, S. 67-82, hier S. 70.] 24. [Kracauer: Von Caligari, S. 14.] »In other words, this book is not concerned with establishing some national character pattern allegedly elevated above history, but it is concerned with the psychological pattern of a people at a particular time.« [Kracauer: From Caligari, S. 8.] 14

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EINLEITUNG

jedoch waren schon während des Schreibprozesses die problematischen Implikationen seiner Arbeit über eine Epoche bewußt, die für den Emigranten als eine nicht vergehen wollende Vergangenheit erscheint. »Ich selber war hin und her gezerrt zwischen Fremdheit und Nähe […]. Im Schreiben kam ich mir wie ein Arzt vor, der eine Autopsie vornimmt und dabei auch ein Stück eigener, jetzt endgültig toter Vergangenheit seziert. Aber natürlich, einiges lebt, wie immer verwandelt, fort. Es ist ein tightrope walking zwischen und über dem Gestern und Heute.«25 »Endings rewrite beginnings. […] We discover possible pasts at the same time as we feel the opening-up of possible futures.«26 Daß Geschichtsschreibungen ganz eigenen narrativen Mustern folgen und sicher keine ›zeitlosen‹ Sammlungen von Fakten sind, darüber herrscht heute weitgehend Konsens. »[T]he written history is not just about time, doesn’t just describe time, or take time as its setting; rather, it embeds time in its narrative structure.«27 Die Historizität beider Entwürfe zur Weimarer Filmgeschichte betrifft aber gleichermaßen auch deren Rezeption. Für die beiden mustergültigen Modelle28 zum Kino der Weimarer Republik gilt es zu beachten, daß in ihrer in »mehreren historischen Schüben« verlaufenden Rezeption »zugleich auch verschiedene Aggregatzustände im Verständnis von Filmkultur«29 abzulesen sind. Nicht zuletzt aufgrund der Überlieferungsgeschichte der Weimarer Filme beziehen sich Filmgeschichten zum Weimarer Kino mehrheitlich auf Produkte, die als explizit künstlerische eine Nische in einer im Laufe der

25. Brief Kracauers an Panofsky vom 2.5.1947, In: Breidecker (Hg.): Siegfried Kracauer: S. 47. 26. Wollen, Peter: »Fashion/Orientalism/The Body«, in: New Formations, Jg. 1, 1987, S. 5-34, hier S. 5. 27. Steedman, Carolyn: »Culture, Cultural Studies, and the Historians«, in: Grossberg, Lawrence, u. a. (Hg.), Cultural Studies, London: Routledge 1992, S. 613621, hier S. 614. Die Textualität der Geschichte als Komplement der Historizität des Textes wird grundlegend in einem Aufsatz von Hayden White herausgearbeitet. [White, Hayden: »Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit (1980/81)«, in: ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M.: Fischer 1990, S. 11-39, 194-195.] 28. Vgl. Schlüpmann, Heide: »Ein feministischer Blick – Dunkler Kontinent der frühen Jahre«, in: Jacobsen, Wolfgang, u. a. (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart: Metzler 1993, S. 465-478, hier S. 466. 29. Lenssen: »Die ›Klassiker‹«, S. 67. 15

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20er Jahre zunehmend international umkämpften Kinolandschaft besetzen sollten.30 In jüngster Zeit werden aber immer häufiger vordem marginalisierte Filme ins Zentrum des Interesses gerückt31. Die Imaginationen des Anderen sind im Kino der Weimarer Republik äußerst vielgestaltig. So treten sie beispielsweise auf in märchenhaft-phantastischen Räumen (Harakiri [D 19; R: F. Lang]; Sumurun [D 20, R: E. Lubitsch]; Das indische Grabmal [D 21, R: J. May]; Das Geheimnis von Bombay [D 20, R: Artur Holz]); Geheimnisse des Orients [D 28, R: A. Wolkoff] oder figurieren lediglich in einzelnen Filmepisoden wie in Der müde Tod [D 21; R: F. Lang], Das Wachsfigurenkabinett [D 24, R: P. Leni] oder in der Hunnen-Sequenz in Kriemhilds Rache, dem zweiten Teil von Fritz Langs Die Nibelungen [D 1922/24]. In Joe Mays Das indische Grabmal kann paradigmatisch das Naherücken des vormals Fernen beobachtet werden, das in einigen frühen Filmen der Zwischenkriegszeit – so in Die Augen der Mumie Mâ [D 18, R: E. Lubitsch] oder Opium [D 18/19, R: R. Reinert] – zum bestimmenden Thema wird. Der konflikthafte Einbruch des Anderen gleichsam in die ›Wohnstube des Eigenen‹ zeigt sich darüber hinaus auch in Filmen die in europäischen Topographien situiert sind, für die aber gewissermaßen ›Östliches‹ den Resonanzraum bildet. »Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen jetzt einen Fall von typischer Massensuggestion vorführen, wie sie ähnlich den Tricks der indischen Fakire zugrunde liegt,« mit diesen Worten kündigt beispielsweise Dr. Mabuse alias Sandor Weltmann in der berühmten Illusionssequenz im zweiten Teil von Dr. Mabuse, der Spieler [D 22; R: F. Lang] seine Vorführungen an und läßt daraufhin zunächst eine arabische Landschaft, gesäumt von den bekannten ›Filmdattelpalmen‹ erscheinen. Aus der Tiefe des (Theater-)Raums kommt eine Karawane auf die Theaterrampe zu und

30. Vergleiche hierzu beispielsweise die Studien von Thomas J. Saunders. [Saunders, Thomas J.: »History in the Making. Weimar Cinema and National Identity«, in: Murray, Bruce A./Wickham, Christopher J. (Hg.), Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Carbondale, Edwardsville: Southern Illinois UP 1992, S. 42-67; Saunders, Thomas J.: Hollywood in Berlin: American Cinema and Weimar Germany, Berkeley/CA: U of California P 1994.] 31. Zu nennen wären hier Untersuchungen wie die jüngst vorgelegte Dissertation von Gaia Banks oder der Kongreß unter dem Titel Triviale Tropen des CineGraph. Hamburgisches Centrum für Filmforschung von 1996. [Banks, Gaia: Imagining the other and staging the self. German national identity and the Weimar Exotic Adventure Film (1918-1924), Ann Arbor/Michigan: UMI 1996; Schöning, Jörg (Red.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919-1939, München: edition text + kritik 1997.] 16

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überschreitet diese in den Zuschauerraum hinein. Das nun auch staunend gezeigte Publikum verfolgt den Zug, bis Mabuse mit einer gebieterischen Geste die Illusion zweier ineinandergestülpten Räume gleichsam wegwischt. Das östliche Europa – hier durch die Namensassoziation des Illusionisten aufgerufen – scheint lediglich durch eine Membran vom Orient getrennt, wie sich deutlicher in Filmen wie Der Golem, wie er in die Welt kam [D 20, R: P. Wegener] oder Nosferatu [D 22, R: F.W. Murnau] zeigt. Aber auch das südliche Europa stellt imaginäre Räume bereit – wie in Carmen [D 18, R: E. Lubitsch], in denen sich der Kontakt unterschiedlicher Kulturen als dramatischer Konflikt in Szene setzen läßt, der oftmals auf der individuellen Ebene tödlich endet. Diese Auseinandersetzung kann sich aber auch, wie in Metropolis [D 27; R: F. Lang], in apokalyptischen Explosionen entladen. In der allegorisch-biblischen Erzählung, die Maria ihren Anhängern in der Unterwelt von Metropolis erzählt, sind es ausdrücklich die zur Fertigstellung des Turms hinzugezogen ›fremden Hände‹, die die Kreationen des Visionäres vom Turmbau nicht verstehen und somit den finalen Konflikt in Gang setzen. Überdies werden diese fremden Arbeiter mittels einer Vielzahl ikonographischer Elemente kulturell auf einer der Gesellschaft der Turmbaumeister untergeordneteren Entwicklungsstufe situiert. Im nun folgenden Kapitel beschäftige ich mich zunächst mit der Überlieferungsgeschichte des Weimarer Kinos und werde mit Bezug auf die ›Imagerie‹ des Anderen die problematischen Implikationen dieser medienarchäologischen Rekonstruktionen herausarbeiten. In diesem Zusammenhang werden sowohl der Begriff der ›Imagerie‹ als auch die Konzeptualisierungen des Anderen/des Fremden erörtert. Das Kapitel Das Kino als Agent des Eskapismus? ist der in der Filmgeschichte immer wieder thematisierten Frage nach eskapistischen Tendenzen des Weimarer Kinos allgemein und im speziellen des publikumswirksamen, im exotischen Ambiente angesiedelten, Films gewidmet. Das Kapitel Verlusterfahrungen oder Suchbilder der Ordnung beschäftigt sich mit der in der Weimarer Republik aus verschiedensten Gründen weitverbreiteten Krisenstimmung, die in der zeitgenössischen Perspektive nicht als temporäre Ausnahmeerscheinung, sondern als Krise in Permanenz thematisiert wird. Nach dem Verlust des Kriegs und anschließender Revolution setzt eine Suche nach nationaler Identität ein, die in besonderem Maße über den Umweg einer Erfahrung von kultureller Differenz moduliert wird.32 Da besonders die filmhistorische For-

32. Zur Modulierung von nationaler Identität im Film siehe auch Heath, Stephen: »Questions of Property. Film and Nationhood«, in: Burnett, Ron (Hg.), Ex17

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schung zur Weimarer Republik oftmals auf mentalitätsgeschichtliche Konzepte zurückgreift und sich die vorliegende Arbeit explizit mit der Modulation von kulturellem Wissen über Fremdheit in populären Imaginationen auseinandersetzt, wird in diesem Rahmen in aller Kürze dem methodologischen Problem der Erforschung historischer Mentalitäten nachzugehen sein. Bereits in den 60er Jahren hat Thomas Luckmanns und Peter Bergers The Social Construction of Reality33 die Grundlagen einer neuen Wissenssoziologie geschaffen, mit der die Aufmerksamkeit auf den Bereich des impliziten ›Alltagswissens‹ und seine realitätskonstituierende Bedeutung gelenkt wurde. Diese frühen Versuche einer ›sociology of knowledge‹ werden in rezenten Forschungspositionen zunehmend mit anthropologisch-ethnographischen Konzepten von ›Kultur‹ (Geertz, Mead, Crapanzano) verbunden und modellieren das Konzept des kulturellen Wissens. »Human experience is constituted by both the content and the manner of its conceptualization, that is, by cultural knowledge in the form of a society’s beliefs, its norms, and its world view.«34 Im Gegensatz zu angelsächsischen Forschungspositionen ist die Modulation des Konzepts in der deutschsprachigen Literatur deutlich textzentrierter. So bestimmt der Romanist Michael Titzmann kulturelles Wissen aus dieser Perspektive als »die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Text der Kultur als wahr setzt; jede solche Proposition ist ein ›Wissenselement‹; die systematisch geordnete Menge der Wissenselemente ist das Wissenschaftssystem.«35 Da non-verbale Kommunikationselemente nicht in Archiven überliefert werden, gelten sie Titzmann als nicht eruierbar. Diese hier vorgeschlagene Engführung auf textuelle Zeugnisse verwundert umso mehr, als das mit der Arbeit Erwin Panofskys zur niederländischen Malerei oder Aby Warburgs Überlegungen zum bildlich kodierten Gedächtnis – um nur an zwei wichtige Arbeiten zu erinnern – die kulturhistorische Signifikanz vormals oftmals übersehener bildlicher Manifestationen als

plorations in film theory. Selected Essays from Cinè-tracts, Indiana: Indiana UP 1991, S. 180-190. 33. Luckmann, Thomas/Berger, Peter: The Social Construction of Reality: A Treatise its the Sociology of Knowledge, Garden City, New York: Anchor Books 1966. 34. McCarthy, E. Doyle: Knowledge as Culture. The New Sociology of Knowledge, London: Routledge 1996, S. 2. 35. Titzmann, Michael: »Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Nr. 99, 1989, S. 47-61, hier S. 49. 18

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erwiesen gelten.36 Überdies greift in der obigen Definition des kulturellen Wissens die Bestimmung des ›Für-wahr-Haltens‹ im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu kurz, da es bei den Clichés, Ressentiments oder Stereotypen des Alltagswissens weniger um Wahrheiten oder Plausibilitäten denn um deren Auftrittsmodalitäten geht. Der Begriff des kulturellen Wissens soll hier deshalb im weiteren Sinne als eine Art diskursive Vermittlung von Wissensbeständen auf der Ebene von ›Alltag‹ und ›Lebenswelt‹ und als allgemein verfügbares, aber heterogenes Repertoire von Vorstellungsinhalten, Redeweisen und Denkfiguren begriffen werden.37 Wenngleich die Untersuchung synchroner Repräsentationsverfahren des Anderen im Kino der Weimarer Republik den Fokus der Kapitel Abenteuerliche Topographien und fantastische Wirklichkeiten sowie Aufmarschplatz der Abenteurer bildet, so kommen partiellen diachronen Streiflichtern zur Erhellung der hereditären Hartnäckigkeit und historischen Ausprägungen anthropologischer Bilder bei der problemorientierten Analyse einzelner Filmsequenzen eine besondere Bedeutung zu. Hierbei gehe ich jedoch nicht von anthropologischen Konstanten in historisch und kulturell unterschiedlichen Zusammenhängen aus, sondern orientiere mich an der Forschungsperspektive der historischen – auf alltägliche menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen fokussierten – Anthropologie und untersuche Handlungsweisen als veränderliche Momente historischer Prozesse. Das Kapitel Abenteuerliche Topographien und fantastische Wirklichkeiten wird zunächst mit Blick auf die deutschen Vorkriegsdebatten um die Kinematographie die spannungsreiche Atmosphäre skizziert, in der sich das Weimarer Kino zwischen Publikums- und Autorenfilm entwickelt. Anhand zweier Decla-Produktionen – Das Cabinet des Dr. Caligari sowie Die Spinnen – aus dem ersten Nachkriegsjahr wird das spezifische Spannungsfeld des deutschen Kinos dieser Zeit im Hinblick auf die Thematik des Anderen untersucht. Den thematischen Kern des Kapitels Aufmarschplatz der Abenteurer wird Joe Mays Abenteuerfilm Das Indische Grabmal bilden. Überdies wird sich das Kapitel eingehend mit Indien als dem wohl schillerndsten Imaginationsraum des deutschen Films beschäftigen. Im Kapitel ›Moderne‹ physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle An-

36. Panofsky, Erwin: Early Netherlandish painting, its origins and character, Cambridge: Harvard UP 1953; Warburg, Aby: Gesammelte Schriften, Bd. II.1 (Zweite Abteilung): Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin: Akademie 2000. 37. Vergleiche dazu die Einleitung in Scherpe/Honold. [Scherpe, Klaus R./ Honold, Alexander (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden im Kaiserreich, Stuttgart: Metzler 2003 (im Erscheinen).] 19

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thropologie werden Fragen nach dem Typecasting und der Verbindung von Physiognomie und Protagonistencharakter vor dem Hintergrund anthropologischer Repräsentationsverfahren in der Filmtheorie Béla Balázs’ thematisiert werden. Den Abschluß der Arbeit bildet ein kurzer Ausblick auf die in vielfacher Hinsicht isolierte Topographie der Insel.

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Rekonstruktionen – Zur Überlieferungsgeschichte des Weimarer Kinos Der annähernd versunkene Kontinent des Weimarer Kinos läßt sich heute häufig nur noch mit Hilfe von Zensurkarten, Drehbüchern und Filmexposés, fotografischem Zensur- und Aushangmaterial, Rezensionen1, Drehberichten, Programmblättern, Szenenentwürfen, Kostümfigurinen, Einladungskarten und vielfältigen Werbematerialien, die in den Filmarchiven mehr oder weniger zufällig überlebt haben, zumindest partiell als textuelles Gewebe rekonstruieren. Bei der Auswertung dieser Materialien stellte sich bei einzelnen Filmen eine mitunter frappante Einmütigkeit der verschiedenen schriftlichen Quellen heraus, die auf die Effizienz der Werbeverlautbarungen schließen läßt. Augenfällig ist jedoch vor allem, daß in Rezensionen über Filme, die aus heutiger Perspektive vorsichtig formuliert problematische Fremdheitsimagines aufweisen, das Thema des Anderen auf signifikante Weise unterdeterminiert ist. Aufgrund rezenter Forschungsperspektiven fallen beispielsweise auf der Ebene der Personage clichierte Handlungsmuster auf, die in der zeitgenössischen Rezeption keinerlei Erwähnung finden, gleichwohl aber, wie beispielsweise im ›Bilderhandel‹ in Die Büchse der Pandora [D 1927/28, R: G.W. Pabst], am Bild eines vom Eigenen abgegrenzten Imagines des Anderen mitmodulieren. Besonders die eigens zu Werbezwecken produzierten Standfotografien spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Dieser artifiziell wir-

1. Zur Rekonstruktion der strukturellen Rahmenbedingungen der von mir herangezogenen Filme wurde neben den Archivalien des Deutschen Instituts für Filmkunde [DIF], Bundesarchiv-Filmarchivs [BAFA] und der Stiftung Deutsche Kinemathek [SDK] die einschlägige Fachpresse (z. B. Film-Kurier, Lichtbildbühne, Der Film, Der Kinematograph, Illustrierte Filmwoche, Illustrierter Film-Kurier), filmhistorisch relevante Tageszeitungen (FZ, 8-Uhr-Abendblatt, Berliner Börsen-Courier, Berliner Tageblatt, Der Montag Morgen, Vossische Zeitung, Deutsche Allgemeine Zeitung) sowie Kulturperiodika (Die Weltbühne, Das Tage-Buch, Die literarische Welt, Das Kunstblatt) ausgewertet. 21

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kende Fotografietyp – häufig eine hybride Form aus Portrait und Szenenaufnahme – erzählt, wenn auch nicht gänzlich andere Geschichten, so doch häufig Geschichten ganz anders als der fertige Kinofilm. Wenngleich ein zeitgenössischer Beobachter, der in Standfotografien einen »Extrakt der Spielszene«2 zu erblicken meint, dieses Material deutlich überbewertet, so müssen diese dennoch nicht im Sinn einer Verfälschung3, sondern können als eine überspitzende Verdeutlichung der im Film und seinem konzeptionellen Umfeld angelegten Bildpotentiale – als ›Schlagbilder‹ – verstanden werden. So verweist beispielsweise ein im Original sehr farbenprächtig gestaltetes Werbebild zu Die Büchse der Pandora von G.W. Pabst auf einen orientalisierenden Sexualdiskurs, der im Film jedoch am Ende des 3. Aktes mit einigen Sekunden Laufzeit diegetisch unterrepräsentiert bleibt. Lediglich eine vergleichbar kurze Szene mit der Figur des ägyptischen Paschas im letzten Drittel des Films schleust mittels einer Fotografie Lulus im Kostüm einer indischen Bajadere diesen Diskurs nochmals explizit in den Film ein. Werbestrategisch werden diese beiden kurzen Szenen somit durch die Standfotografien im Verhältnis zu ihrer diegetischen Funktion herausgehoben und fungieren gewissermaßen als Interessantmacher für den gesamten Film.

Unter vergleichbarem Zwang der Zuspitzung ist auch die Gebrauchsgrafik der häufig in unterschiedlichen Versionen angefertigten Filmplakate sowie die Titelblattgestaltung des Illustrierten Filmkuriers zu betrachten. Ein Filmplakat wirbt im Zeichen des Films »[a]ls Bild

2. Weitzenberg, A.O.: »Standphoto oder Filmvergrößerung«, in: Der Film Kurier vom 16.12.1926. Siehe hierzu auch Ingrid Mylo. [Mylo, Ingrid: »Konzentrierte Illusionen. Beim Betrachten von Filmpostkarten«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 4, Nr. 13, 1984, S. 13-26.] 3. Vergleiche hierzu die Position von Jörg Becker. [Becker, Jörg: »Momentfotografie im Film«, in: Jacobsen, Wolfgang (Hg.), Babelsberg. Ein Filmstudio 1912-1992, Berlin: Argon 1992, S. 91-105, hier S. 92.] 22

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über Bilder und Medienkonzentrat seiner jeweiligen Zeit […]. […] [Es, W.K.] spricht vom Kino, dem es sich verdankt, und es fokussiert die Lebenswelt, in der es an uns herantritt.«4 Die folgenden Abbildungen eines Sumurun-Plakats lassen erkennen, wie bildbewußt, aber auch ängstlich Zensoren der Weimarer Republik waren und welche Wirkungsmächtigkeit dem Bild seitens der amtlichen Kontrolle attribuiert wurde. In einer Zeit, da in Zeitungen von Vergewaltigungen berichtet wurden, die marokkanische Söldner der französischen Besatzungsarmee in den annektierten Gebieten verübt haben, befürchtete man scheinbar, man könnte eine zu hellhäutige Abbildung der Frauenfigur mit den realhistorischen Ereignissen in Verbindung bringen und verfügte deshalb ein Schwärzen der Haut. Beispielhaft für die Virulenz dieser Problematik sei auf einen Text von Joseph Roth anläßlich der Absetzung des rassistischen Propagandafilms Die schwarze Schmach (1921) oder auf zeitgenössische Propagandamaterialien verwiesen.5

4. Beilenhoff, Wolfgang/Heller, Martin: »Kartographie des Populären. Eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Das Filmplakat, Zürich: Scalo 1995, S. 31-58, hier S. 34. 5. Vergleiche Roth, Joseph: »[Rez.] Rehabilitierung der Schwarzen«, in: ders.: Werke I. Das journalistische Werk 1915-1923, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 558-562. 23

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Obgleich diese Materialien die Kenntnis der Filme nicht zu ersetzen in der Lage sind, sondern den schmerzlichen Untergang dieses sagenhaften Atlantis’ erst verdeutlichen, so ermöglichen diese Surrogate dennoch einen Einblick in die ›Imagerie‹ des Anderen/ Fremden, die sich eben nicht ausschließlich in den Filmen selbst, sondern auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen konstituiert und konturiert. Deshalb ist für die vorliegende Untersuchung, die sich vornehmlich mit der Beschreibung und Analyse kinematographischer Repräsentationsverfahren des Anderen/Fremden beschäftigen und einen besonderen Akzent auf dispositive Authentisierungsstrategien der Inszenierungen setzen wird, die Verwendung des aus dem Französischen entlehnten Begriffs der ›Imagerie‹ aufgrund seines weitgefaßten semantischen Feldes sinnvoll. Im Fran24

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zösischen bezeichnet der Begriff gleichermaßen die Bilderfabrikation, den Bilderhandel, aber auch die Sammlung von Bildern und umfaßt somit gleichzeitig Herstellung, Zirkulation und Akkumulation von Bildern.6 Dabei gehe ich von einem Bildbegriff aus, der längst nicht mehr alleinig in die Disziplin der klassischen Bildwissenschaften fällt.7 In meinem Arbeitszusammenhang ist auch an die frühe deutsche Bezeichnung des Films als ›Bild‹ zu erinnern, die vereinzelt auch noch in der Weimarer Filmpublizistik verwendet wird und im angelsächsischen Sprachgebrauch weiterhin in der Rede vom ›picture‹ gebräuchlich ist. Insbesondere setze ich mich mit dem deutschen Kino der Zwischenkriegszeit auseinander, in dem man dieses Phänomen entweder mit den expliziten Kunstfilmen der Zeit oder aber mit ›exotistischen‹ Filmproduktionen – wie den populären Reise-, Forschungs- und Expeditions- und Abenteuerfilmen –, die große Zuschauerzahlen für sich verbuchen konnten, assoziiert. Neben der (Re-)Konstruktion des Zusammenhangs der historischen Konstellation mit der gesellschaftlichen Kommunikation sowie der konzeptionellen Repräsentation des Anderen/Fremden wird in dieser Arbeit am Beispiel kinematographischer Fiktionen der Versuch unternommen, den immanenten anthropologischen Bildern und deren geistesgeschichtlichen Wurzeln im Rahmen des historisch verfügbaren kulturellen Wissens von Andersheit nachzugehen. Diese Wissensbestände bilden gewissermaßen den »Hintergrund des Spiegels«8, von dem die jeweiligen imaginären

6. Zum Begriff der ›Imagerie‹ vergleiche die Texte von Lipiansky und Pageaux. [Lipiansky, Marc E.: »L’imagerie de l’identité: le couple France-Allemagne«, in: Ethnopsychologie. Revue de Psychologie des Peuples, Jg. 34, Nr. 1, 1979, S. 273282; Pageaux, Henri: »Image/Imaginaire«, in: Syndram, Karl Ulrich/Dyserinck, Hugo (Hg.), Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20 Jahrhunderts, Bonn: Bouvier 1988, S. 367379.] 7. Vgl. dazu beispielsweise die Sammelbände von Gottfried Boehm und Volker Bohn sowie einen Aufsatz von Karl Prümm. [Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild?, München: Fink 1994; Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990; Prümm, Karl: »In der Hölle – im Paradies der Bilder. Medienstreit und Mediengebrauch«, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 26, Nr. 103, 1996, S. 52-69.] Zu nennen wären auch die transdisziplinären Arbeiten Hans Beltings. [Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte, München: Beck 1995; Belting, Hans: »Der Ort der Bilder«, in: ders./Haustein, Lydia (Hg.), Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München: C. H. Beck 1998, S. 34-53.] 8. Schäffter, Ortfried: »Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Um25

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Konkretionen des Anderen abhängen. Ausdrücklich soll es dabei nicht etwa um die ideologiekritische Aufdeckung der projektiven Verzeichnungen eines objektiv darstellbaren Fremden gehen. Vielmehr werden die in den Inszenierungen bildgewordenen patterns als Wissensformen anerkannt und beschrieben sowie deren vielfältigen diskursiven und ästhetischen Bezügen nachgegangen.

Aufgrund des Verflechtungszusammenhangs von historischen, psychologischen, philosophischen, wirtschaftlichen, literarischen, politischen und filmstilistischen Gegebenheiten werden die ›Bilder‹ des Anderen in einem medienübergreifenden Rahmen und interdisziplinären Zusammenhang untersucht, um somit die an der Entstehung von Filmbildern beteiligten Diskurse und bedeutungskonstituierenden Momente in die Untersuchung mit einzubeziehen. Allgemein kann man für die Situation der Zwischenkriegszeit konstatieren, daß die einzelnen Medien innerhalb eines innovativen Klimas der Medienentwicklung in wechselnden medialen Relationen stehen. Aus diesem Grund werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit die einzelnen Medien und die von ihnen gebildeten Diskursformationen nicht mehr unabhängig voneinander – gleichsam als abgeschlossene Monaden –, sondern mit Blick auf ihre intermedialen Bezüge analysiert.

gang mit Fremdheit«, in: ders. (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen: Westdt. Verl. 1991, S. 11-42, hier S. 15. 26

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So betont der von der Filmgesellschaft Neumann Produktion G.M.B.H. zu Mit dem Kurbelkasten um die Erde herausgegebene Begleittext, der bekannte Reiseschriftsteller Colin Ross habe auf seiner letzten Reise »statt nur mit der Feder […] diesmal auch mit der Linse des Objektivs geschrieben«9. Hervorgehoben wird ausdrücklich die Dramaturgie des ›persönlichen Erlebnisses‹, mit dem die Unmittelbarkeit und ›Echtheit‹ des Gezeigten beschworen wird. Im Zusammenspiel von Schrift und Bild wird das fotografische Medium epistemologisch aufgewertet und die dominierende Rolle zugewiesen. Auf seinen Reisen habe er erkannt, so führt Ross in diesem Begleittext aus, »daß das Wort nicht ausreicht, um mit genügender, eindringlicher Lebendigkeit und Anschaulichkeit zu schildern«10 denn – wie es im folgenden Jahr in einer weiteren Ross-Publikation in bezug auf die Überlegenheit fotografisch illustrierter Bücher heißt – »[w]as man mit seitenlanger Beschreibung nicht verdeutlichen konnte, verlebendigt das Bild mit einem Blick.«11 Mit der Verschaltung von Bild und Schrift geht Ross aber noch einen Schritt weiter. Mit seinem Film-Bild-Buch – so der Untertitel des dem Film folgenden Buchs – wird die im Printmedium gemeinhin übliche Trennung

9. Zit. n. Ross, Colin: Mit dem Kurbelkasten um die Welt, Berlin: Verlag der Lichtbildbühne 1925, S. 6. 10. Ebd., S. 8. 11. Ross, Colin: Mit dem Kurbelkasten um die Erde. Ein Film-Bild-Buch, Berlin: Bild und Buch Verlag 1926, S. 5. 27

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von Bild und Kommentar insoweit aufgelöst, als hier die Bildüberschriften den fließenden Text weiterführen und nicht etwa durch Pointierungen oder Kontraste unterbrechen. Im Unterschied zu vergleichbaren Publikationen sei – wie Ross schreibt – hier vornehmlich auf Filmausschnitte zurückgegriffen worden, die im Verhältnis zu »Standphotographien« in »ganz anderem Maße die unmittelbare Lebendigkeit des Geschehnisses«12 erfassen. Zusätzlich werden die Aufnahmen oftmals durch Ross’ eigene Anwesenheit im Bild beglaubigt und erhöhen dadurch gewissermaßen die Glaubwürdigkeit. Diese Präsenz verleiht den Bildern darüber hinaus die Klammer, die die Narration streckenweise in die Nähe eines Fotoromans rückt. In Ermangelung spezifisch filmgeschichtlicher Untersuchungen zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind sich mit Fragen der Differenz befassende Ansätze aus dem Umfeld der angelsächsischen Ethnologie, dem postkolonialen Diskurs, den Cultural Studies, der interkulturellen Germanistik und Exotismusforschung herangezogen worden.13 Obgleich sich vornehmlich die beiden erstgenannten Theoriefelder vorzugsweise mit kulturellen Produkten befassen, die mit einem dokumentarischen Gestus verfaßt wurden, erwies sich die Bedeutung, die die erwähnten Ansätze sowohl dem Phänomen der Kontextualisierung als auch der Konstitution und dynamischen Wechselwirkung von Eigen- und Fremdbildern beimessen, als relevant und befruchtend für die vorliegende Arbeit. In dieser Studie liegt der Akzent auf problemorientierten Analysen einzelner Sequenzen verschiedener Filme, bei denen das in gleichsam medien-

12. Ebd. 13. Um an dieser Stelle zumindest einige Texte aus diesem Theoriebereichen zu nennen: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (1983), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994; Clifford, James: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge/Mass., London: Harvard UP 1988; Tyler, Stephen A.: »Post-Modern Ethnography. From Document of the Occult to occult Document«, in: Marcus, George E. (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/CA: U of California P 1986, S. 122-140; Bhabha, Homi K.: »The World and the Home«, in: Social Text, Nr. 31/32, 1992, S. 141-153; Bhabha, Homi K.: »The Other Question. The Stereotype of Colonial Discourse«, in: Screen, Jg. 24, Nr. 6, 1983, S. 18-36; Said, Edward W.: Orientalismus (1979), Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1981; Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt/M.: Fischer 1994; Grossberg, Lawrence, u. a. (Hg.): Cultural Studies, London: Routledge 1992; Kaes, Anton: »Filmgeschichte als Kulturgeschichte. Reflexionen zum Kino der Weimarer Republik«, in: Jung, Uli/Schatzberg, Walter (Hg.), Filmkultur zur Zeit der Weimarer Republik, München, London, New York, Paris: Saur 1992, S. 54-64. 28

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archäologischer Arbeit zutage geförderte Material diese nicht nur kontextualisieren soll, sondern seinerseits im Hinblick auf die Produktion von kulturellem Wissen über Andersheit eingehend untersucht wird. Bei der Betrachtung von Repräsentationsformen des Anderen/Fremden geht es – wie bereits erwähnt – nicht um die Problematik einer angemessenen oder entstellenden, weniger noch um die wahre oder falsche Darstellung uns differenter Lebenswelten, sondern um das Bild, das wir uns auch und gerade mittels medialer Bilder vom Nichteigenen in Relation zum Eigenen machen. Mit Hilfe der Rekonstruktion der ihnen zugrundeliegenden Darstellungsformen und Bildtraditionen wird die Repräsentationspraxis als solche in den Blick genommen. Beachtet man hier die diskursiven Bedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten, so kann »die Beziehung zur fremden Kultur nicht als Ausdruck, sondern als Übersetzung, Transfer und Tausch«14 verstanden werden. Joseph Roth verweist beispielsweise anläßlich einer Bildreportage einer nicht näher benannten illustrierten Zeitung über das Volk der Tungusen auf das Spannungsverhältnis in dieser relationalen Beziehung. In der von Roth angesprochenen Bilderserie wurde unter anderem ein Bild reproduziert, das tungusische Frauen beim Hören eines Radiovortrags zeigt. »Die illustrierten Zeitungen freuen sich darüber, daß die Tungusen Radio hören dürfen. Der moderne Eroberer und Zivilisationsspender freut sich ehrlich über die Wirkung seiner Siege und seiner Gaben. Es ist darin etwas von Silvesterscherz und Juxartikel die eigne wissende Überlegenheit über die Ahnungslosigkeit des Beschenkten und Überraschten auszukosten.«15 Daß es sich bei dieser Überlegenheit um eine vermeintliche handelt; daß anhand der an dem Bild ablesbaren Inszenierungsstrategie und von Roth vorgestellten Rezeptionshaltung mehr über uns als über die Abgebildeten zu erfahren ist, daran läßt er in seinem satirischen Beitrag für Die Literarische Welt keinen Zweifel. Bei einem globalen Untersuchungsgegenstand wie dem Anderen/Fremden ließe sich natürlich einwenden, daß das Andere zu verschiedenen Zeiten und in verschieden Genres immer anders sei,

14. Scherpe, Klaus R.: »Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft«, in: Dainat, Holger (Hg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 297-316, hier S. 300. 15. Roth, Joseph: »Die Tungusen (Die Literarische Welt, 8.8.1930)«, in: ders.: Werke III. Das journalistische Werk 1929-1939, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 242-244, hier S. 244. 29

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oder, um mit Derrida zu sprechen: »Tout autre est tout autre.«16 Im gegenwärtigen akademischen Diskurs wird das ›Andere‹ als Terminus einerseits häufig als zu generell, undifferenziert und überstrapaziert kritisiert, andererseits jedoch die offensichtlichen Stärken im Verhältnis möglicher alternativer Begriffe hervorgehoben.17 Die in wissenschaftlichen Texten häufig synonym gebrauchten Relationalbegriffe ›Alter‹, ›Other‹, ›Autre‹ bezeichnen zunächst einmal »den anderen von zweien im Unterschied zum einen ohne markierte differente Zugehörigkeit. So ist der andere als alter ego ein ego wie ich, nur eben anders, d. h.: dasselbe in einer Varietät.«18 Die diesen Bedeutungsfeldern attribuierten Eigenschaften weisen jedoch alle Merkmale eines ambivalenten Verhältnisses auf. »Einerseits fungiert […] [es] als Verlockung, die Ordnung darauf auszudehnen. Andererseits hat die Ausweitung auf ein unbekanntes Terrain auch etwas anziehend Abschreckendes. Sie bedeutet, daß die vertraute Ordnung ›versucht‹, […] auf die Probe gestellt wird.«19 Versteht man Ambivalenz als Ausdruck einer Unentschiedenheit, als Unvermögen, letztgültige taxonomische Einordnungen vorzunehmen und somit letztlich als Versagen der perzeptiven »Nenn(Trenn-)Funktion« 20, so erscheint diese Kategorie bezogen auf die Frage des Anderen in besonderem Maße geeignet, die Doppelbödigkeit der Fremdwahrnehmung zu charakterisieren. Betrachtet man die Entwicklung der Kinematographie in der Weimarer Republik, so spielen beispielsweise sowohl zeitgeschichtliche Zäsuren wie die Einführung der Rentenmark und die daran

16. Derrida, Jacques: The Gift of Death, Chicago: U of Chicago P 1995, S. 68. 17. »The other is an overworked phrase in current academic discourse and may seem too portentous or too imprecise […] but it has certain merits. One is its implication that, […] what is encountered is always singular. Alternatives such as otherness and alterity are less useful by their generality, their suggestion that we are dealing with a substance […].« [Attridge, Derek: »Innovation, Literature, Ethic: Relating to the Other«, in: Publications of the Modern Language Association of America [PMLA], Jg. 114, Nr. 1, 1999, S. 20-31, hier S. 21.] 18. Turk, Horst: »Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 22, Nr. 1, 1990, S. 8-31, hier S. 11. 19. Ebd., S. 19. 20. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 13. 30

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sich anschließende wirtschaftliche Konsolidierung der Weimarer Republik als auch filmtechnische Entwicklungen mit ihren ästhetischen Veränderungen nicht nur für die Repräsentation des Anderen/Fremden eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die ungebrochene Popularität dieses in vielfältigen Variationen über die gesamte Zeitspanne der Republik durchgespielten Themas, das somit eine kontinuierliche Folie in der Suche nach einem Selbstbild – und damit nicht zuletzt nach nationaler Identität – bildet, eröffnet die Möglichkeit, Analogien und Substitutionen, Kontinuitäten, Verschiebungen und Brüchen sowie Neukontextualisierungen einer konkreten Repräsentationspraxis auf die Spur zu kommen.21 Zunächst sind hier mit dem Begriff Identität nicht etwa ein philosophisch-logisches Konzept gemeint, sondern diejenigen impliziten oder expliziten Aspekte eines Charakterbildes, mit denen Personen oder Gruppen sich identifizieren oder aber durch Andere identifiziert werden. Identität ist somit keine unwandelbare Entität. Als prozeßhafte Kategorie ist sie vielmehr gebunden an spezifische historische und soziale Kontexte und deren Repräsentationspraktiken und steht infolgedessen auch im Verhältnis zu den dort bestehenden Machtstrukturen.22

21. Die Darstellung topographischer Fremde erfreut sich natürlich seit der Erfindung der laufenden Bilder beachtlicher Popularität. Seitdem die Kameraleute der Gebrüder Lumière Bilder in der Tradition der Fotografie aus allen Winkeln der Erde mit nach Europa brachten, ist das Interesse an diesem Gegenstand nicht erlahmt. Zahlreiche Beispiele dieser ›Voyages à l’étranger‹ finden sich in dem Lumière-Katalog von Jacques Rittand-Hutinet. [Rittand-Hutinet, Jacques: Auguste et Louis Lumière. Les 1000 premiers films, Paris: Philippe Sers 1990.] Zur Frühzeit der Reisefotografie, die aufgrund der Aufnahmetechnik vornehmlich architektonische Ensembles ablichtete, darüber hinaus jedoch schon früh im Dienst der Wissenschaft stand, finden sich instruktive Texte in einem von Dewitz/Matz herausgegebenen Ausstellungskatalag. [Dewitz, Bodo von/Matz, Reinhard (Hg.): Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum 1839-1860, Köln, Heidelberg: Edition Braus 1989.] 22. Faktoren wie Klassenzugehörigkeit, Gender, ethnische oder religiöse Herkunft werden besonders im Umfeld der amerikanischen Cultural Studies als identitätsbestimmend diskutiert. Im Prozeß der Identifikation sind ›Ich‹ und ›Andere‹ immer gegenseitig durchdrungen. »Identification is a process of identifying with and through another object, an object of otherness, at which point the agency of identification – the subject – is itself always ambivalent, because of the intervention of that otherness.« [Bhabha, Homi K./Rutherford, Jonathan: »The Third Space: Interview with Homi K. Bhabha«, in: Rutherford, Jonathan (Hg.), Identity, Community, Culture, Difference, London: Lawrence and Wishrat 1990, S. 207-221, hier S. 211.] 31

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»The practices of representation always implicate the positions from which we speak or write – the positions of enunciation. What recent theories of enunciation suggest is that, through we speak, so to say ›in our own name‹, of ourselves and from our own experience, nevertheless who speaks, and the subject who is spoken of, are never exactly in the same place. Identity is not as transparent or unproblematic as we think. Perhaps […] we should think […] of identity as a ›production‹, which is never complete, always in process, and always constituted within, not outside, representation.«23 In Zeiten radikaler gesellschaftspolitischer Wandel werden überdies auch die Kategorien der kulturellen Identität und Erbschaft relevant, die weitverbreitet als politische Modelle der Konstruktion von Eigen- und Fremdbildern dienen. Kultur als Kategorie verspricht Gesellschaften eine Vorstellung von Einheit, der jedoch immer schon der Makel des Kontingenten eingezeichnet ist. Zur Definition eines Selbstbildes greifen Gesellschaften gemeinhin auf als gemeinschaftlich bezeichnete (oder erfahrene) Ereignisse in der Vergangenheit zurück. Erst mittels eines solchen Rückgriffs und einer rekonstruierenden Erinnerung entsteht eine gemeinschaftsstiftende Vergangenheit. Für die Imagination nationaler Gemeinschaften ist – wie Jan Assmann aufführt – die »Imagination einer in die Tiefe der Zeit zurückreichende Kontinuität«24 konstitutiv. Dabei weisen so unterschiedliche Zeitkonzepte wie Neuanfänge, Renaissancen oder Restaurationen ein tertium comparationis auf: »In dem Maße, wie sie Zukunft erschließen, produzieren, rekonstruieren, entdecken sie Vergangenheit.«25 In der Weimarer Kinematographie werden eigene nationale Charakteristika und Traditionen zunächst besonders in Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Film diskutiert, der bei der Profilierung von als spezifisch ›deutsch‹ apostrophierten Differenzmerkmalen die Folie bildet.26 Hieran zeigt sich, daß sich die Kontu-

23. Hall, Stuart: »Cultural Identity and Cinematic Representation«, in: Framework. A film journal, Nr. 36: Third Scenario: Theory and the Politics of location, 1989, S. 68-81, hier S. 68. 24. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1992, S. 133. 25. Ebd., S. 32. 26. Erst nach dem überwältigenden Erfolg des Panzerkreuzer Potemkin (1926) im Berliner Apollo-Theater am 29. April 1926 Berlin werden zunehmend auch die Potentiale des russischen Revolutionskinos als mögliche Inspirationsquellen debattiert. In einem anderen Zusammenhang, jedoch auf die Situation der deutschen Zwischenkriegszeit gleichermaßen zutreffend, führen David Morley und Kevin Robins 32

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ren des als kulturelle Identität bezeichneten Projekts vornehmlich über den Umweg einer Erfahrung von Differenz konstruieren lassen. Das Konzept eines nationalen Kinos ist daneben auch mediengeschichtlich relevant, da es als ein Schutzschild fungiert, »under which to synthesize the conflicting commercial, technical, and artistic impulses of the medium.«27

aus: »The discourses of ›art‹, ›culture‹, ›quality‹ and ›national identity/nationhood‹ have thus been mobilized against ›Hollywood‹ and uses to justify various nationally specific economic systems of support and protection for indigenous cinema-making.« [Morley, David/Robins, Kevin: »No Place like Heimat: Images of Home(Land) in European Culture«, in: New Formations, Nr. 12 (Winter), 1990, S. 1-23, hier S. 5.] 27. Saunders: »History«, S. 43. 33

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Das Kino als Agent des Eskapismus? »Freilich, es wäre jetzt an der Zeit, mit diesen exotischen Reisefilmen Schluß zu machen. Expeditionen nach dem heimischen Afrika sind wichtiger und fördern mindestens so viel Exotik zutage.«1 »Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.«2 Filmproduktionen der Weimarer Republik, die im Ruch des Exotistischen stehen, sind von der Filmgeschichtsschreibung nicht zuletzt aufgrund mächtiger Verdikte bislang wenig beachtet worden. Exemplarisch für die zeitgenössische Kritik an eskapistischen Filmproduktionen ist Kracauers Mahnung im ersten Kapitel seiner Studie Die Angestellten. Statt sich exotischen Fantasien der Filmindustrie hinzugeben, moniert er, täte man besser daran, durch eine »kleine Expedition […] ins Innere der modernen Großstadt«3 die »Exotik des Alltags«4 zu entdecken.5 Kracauer plädiert mit dieser

1. Kracauer, Siegfried: »Menschen im Busch«, in: Frankfurter Zeitung vom 23.7.1930 2. Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: ders.: Werkausgabe [in 8 Bänden], Bd. 1: Tractatus logico-philosphicus. Tagebücher 19141916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 225-580, hier S. 342. 3. Kracauer, Siegfried: »Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland«, in: ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 206-304, hier S. 215. 4. Ebd., S. 212. 5. Daß es sich hier keinesfalls um eine Entweder-Oder-Alternative handeln muß, läßt sich am journalistischen Werk des Weltreisenden Richard A. Bermann zeigen, dessen lokale Feuilletons im Berliner Tageblatt Hans-Harald Müller als die »Kehrseite seiner Reiseberichte« wertet. [Müller, Hans-Harald: »Ariel, Baptist, Belial, Merlin, Höllriegel. Richard A. Bermann, der Publizist und Schriftsteller«, in: Binder, 35

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Aussage implizit auch für einen erweiterten Fremdheitsbegriff, der ›Fremdheit‹ nicht ausschließlich als territoriale versteht, und zielt darüber hinaus auf eine Korrektur der epistemologischen Beschränkung der zeitgenössischen ›Völkerkunde‹ auf einen gleichsam exotischen ›Indigenismus‹. Aus heutiger Forschungsperspektive erscheint der Begriff ›Fremde‹ mit je eigenen Konzeptualisierungen in allen Genera6 deklinierbar und in vielfältige Repräsentationsformen aufgefächert. So werden Figuren/Personen in kulturellen Texten als Fremde dargestellt, oder Repräsentationen der Natur als fremd gekennzeichnet. Weiterhin wird die ›Ent-ritualisierung‹ (Mary Douglas) der modernen Lebenswelt mit Rekultisierungstendenzen der Künste um die vorletzte Jahrhundertwende in Zusammenhang gebracht. In deren Rahmen wird verbreitet mit anti-bürgerlichen, anti-rationalen und anti-zivilisatorischen Implikationen eine rückwärtsgewandte Suche nach neuer Spiritualität und Religiosität7 betrieben, die einhergeht mit einer Revalorisierung des Opfers und blutiger Rituale – so zum Beispiel im Symbolismus –, um somit in eine als fremd und archaisch apostrophierte Sphäre vorzudringen. Überdies erhalten Figurationen des Fantastischen, des Wunderbaren und Magischen – wie in Die Spinnen oder Opium oftmals eingebettet in Narrationen vom Traum, Rausch und Wahnsinn einer ›abgründigen‹ Psyche – die Aura des Fremden. Auch die Sphäre der Technik erscheint häufig als eine dem Humanum entgegengesetzte, feindliche und zerstörerische Kraft, derer sich vornehmlich halbverrückte oder kriminelle Wissenschaft-

Hartmut (Hg.), Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der deutschen Metropole, Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1995, S. 145-175, hier S. 162.] 6. So beispielsweise in dem sprechenden Titel eines Aufsatzes von Stephan Oettermann. [Oettermann, Stephan: »Fremde. Der. Die. Das«, in: Jürgensen, Frank (Hg.), Gegenstände der Fremdheit. Museale Grenzgänge, Marburg: Jonas 1989, S. 41-57.] 7. Zwischen der eingangs erwähnten, dem Anderen entgegengebrachten emotionalen Befindlichkeit zwischen fascinans und tremendum und der menschlichen Reaktion auf das Numinose, die von dem evangelischen Theologen und Religionswissenschaftler Rudolf Otto als mysterium tremendum et fascinosum umschrieben wurde, besteht eine offensichtliche Analogie. Otto beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie Wesen und Wahrheit der Religion wissenschaftlich und begrifflich erfaßt werden können. Im Zentrum seines wissenschaftlichen Interesses – das sich in den 20er Jahren zunehmend auf einen religionswissenschaftlichen Vergleich von christlicher und indischer Mystik ausrichtete, stand die Frage nach dem Wesen des religiösen Erlebnisses, daß Otto zufolge ein nicht von anderen Erlebnisgebieten abzuleitendes Spezifisches und Selbständiges ist. 36

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ler beispielsweise in Metropolis – bedienen. Technik und deren Gebrauch fungiert ferner als Parameter zur Bestimmung der Stellung einer Fremdkultur im Verhältnis zur eigenen Kultur – so etwa in Das indische Grabmal. Fernerhin weisen Figurationen des Weiblichen häufig alle Kennzeichen des ambivalent Fremden auf, deren sicherlich populärste Form, die femme fatale, sich, wie Nina Berman schreibt, »ähnlich wie die Dämonisierung fremder Kulturen – als Krisensymptom identifizieren (läßt)«.8 Daneben radikalisiert sich infolge von ›Disziplinierung‹ und Industrialisierungsprozeß der cartesianische Dualismus und läßt den Körper als fremdes Gegenüber des Geistes erscheinen. ›Fremdheit‹ kann in diesen unterschiedlichen Repräsentationsmodi als eine relationale, auch in intrakulturellen Verhältnissen bestehende, aufgefaßt werden. So ist beispielsweise Kracauers Programm einer ›Ethnographie der Nähe‹ und dessen dezidierte Hinwendung zur Erforschung zeitgenössischer Alltagskultur methodologisch durch einen ›distanzierenden Blick‹ (Plessner) gekennzeichnet und überdies in den Rang eines methodischen Prinzips erhoben, mit dessen Hilfe auf dem Wahrnehmungsfeld ›fremder Nähe‹ die Signaturen seiner Zeit ergründet werden sollen. Gleichwohl spart Kracauer aufgrund seiner ideologiekritischen Perspektive den Bereich des zeitgenössisch als exotisch Geltenden aus, der aus heutiger Warte für die Erforschung der Alltagskultur relevant erscheint. Daß selbst die Alltagskultur der modernen Großstadt durchdrungen ist von Exotismen, zeigen die ironischen Kommentare des flanierenden Filmkritikers Hans Feld, der die Beobachtungen seines Samstagnachmittagspaziergangs in der Nähe des Berliner Zoologischen Gartens im Film-Kurier mit dem Untertitel Außenaufnahmen von einer Nachmittags-Expedition betitelt. Neben einem ›montierten‹ Beduinen-Zelt, führt er aus, »befindet sich mit dem Hinweis ›Damen‹ und ›Herren‹ ein Gebäude in maurischem Kurfürstendamm-Stil. Wie gesagt, für alles ist so original wie möglich gesorgt.«9 Dem Philosophen Hans Blumenberg folgend, kann der Pro-

8. Berman, Nina: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart: M(etzler) & P(oeschel), Verl. für Wiss. und Forschung 1997, S. 220f. 9. [Ulu (d.i. Hans Feld): »Tripolis im Zoo. Außenaufnahmen von einer Nachmittags-Expedition«, in: Der Film-Kurier, Nr. 158, 07.07.1927.] Allgemein zum Orientalismus in der Architektur die Studie von Stefan Koppelkamm. [Koppelkamm, Stefan: Der imaginäre Orient. Exotische Bauten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa, Berlin: W. Ernst 1987.] 37

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zeß des projektiven Bildentwerfens als eine Grundkonstante der conditio humana betrachtet werden. Der homo pictor ist, wie Blumenberg ausführt, »das mit der Projektion von Bildern den Verläßlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen. Dem Absolutismus der Wirklichkeit tritt der Absolutismus der Bilder und Wünsche entgegen.«10 Man tut auch im Bereich der populären Kinematographie nicht gut daran, deren Projektionen leichtfertig als eskapistisch und trivial verächtlich beiseite zu schieben, sondern ist gut beraten, die in den Bildprogrammen und -strategien ausagierten und auftretenden Wunschfantasien nicht zuletzt auch auf ihre Realitätspartikel hin zu befragen. In zeitgenössischer Perspektive wird der Film »als Instrument der Zeitgeister an sich«11 verstanden, das »wie kaum ein Gebilde berufen (ist), Ausdruck eben dieses Zeitgeistes zu sein.«12 Jede Zeit suche sich »im Spiegelbild der Künste die Erfüllung der Sehnsüchte, die ihm [sic!] die Realität noch versagt.«13 Die Sehnsucht nach märchenhafter Verklärung und Exotik ist ebenso wie die oftmals ins Fantastische hineinspielende Gestaltung des realen Lebens Teil der Weimarer Filmproduktion wie des Zeitgeistes. Gerade in Zeiten krisenhaft erlebter gesellschaftlicher Umbrüche wie in Deutschland nach 1918, in denen einerseits Personen oder Gruppen ihre eigene Kultur zunehmend in Frage gestellt sehen und andererseits eine vermeintliche Geborgenheit des Menschen in der vormals gültigen gesellschaftlichen Ordnung retrospektiv verklärt wird – und dementsprechend die Gegenwart als Phase des Mangels erscheint – nimmt die Bedeutung einer Erfahrung von Fremdheit und die Suche nach Identität zu. »Das Fremde tritt in dem Maße in den Blick, als sein Gegensatz zum Vertrauten offenbar wird. Die Konturen des Vertrauten werden sichtbar im Lichte des Unerwarteten.«14 Ein verbreitetes Bewußtsein »der Aufwertung des

10. Blumenberg: Mythos, S. 14. 11. Michaelis, Heinz: »Der Weg des deutschen Films«, in: Der Film-Kurier, Jg. 6, Nr. 1, 01.01.1924, S. 3. 12. Ebd. 13. Ebd. 14. [Schneider, Wolfgang Ludwig: Objektives Verstehen. Rekonstruktion eines Paradigmas: Gadamer, Popper, Toulmin, Luhmann, Opladen: Westdt. Verl. 1991, S. 55] Wolfgang Ludwig Schneider spricht mit seiner Bemerkung auch ein generelles Problem der Theorie des Fremdverstehens an. Gegen die Auffassung von der Prozeßhaftigkeit des Fremdverstehens und seines Dialogcharakters läßt sich einwenden, daß auch jedes intrakulturelle Verstehen aufgrund der Heterogenität von Kulturen bereits prinzipiell als Fremdverstehen zu betrachten ist. 38

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Möglichen gegenüber dem Wirklichen«15 setzt jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. In Zeiten (relativer) gesellschaftlicher Stabilität ist dem Einzelnen das Konstruierte symbolisch vermittelter kultureller Formationen gemeinhin wenig bewußt. Meist wird in ruhigeren Zeitläuften im öffentlichen Bewußtsein kaum wahrgenommen, daß es »[i]nnerhalb einer Kultur als einer Makro-Formation […] eine Menge kultureller Sub-Formationen«16 gibt. Erst in Krisenzeiten wie der deutschen Zwischenkriegszeit wird die polymorphe oder polysystemische Ausdifferenzierung der kulturellen Formationen zum Problem. Heute steht deshalb außer Zweifel, daß das Gewahrwerden »des Andersseinkönnens jeglicher Ordnung«17, das nicht mehr auf eine empirische Variante beschränkt ist, »sondern das Ordnungsgefüge selbst antastet und vervielfältigt«18, besonders in der Zwischenkriegszeit als schockhafter Pluralismus und krisenhafte Erschütterung mit weitreichenden Folgen erlebt wird. Das Andere/Fremde wird vornehmlich in solchen Lebens- und Geschichtsphasen bedeutsam, in denen alte Ordnungen instabil werden, ein neues, verbindliches Koordinatensystem jedoch noch nicht in Sicht ist und in denen – wie in der Zwischenkriegszeit – die Alltagswirklichkeit rational zunehmend als undurchdringlich angesehen wird. In bezug auf Geschichtsphasen, in denen der Zustand einer fragmentierten, auseinanderfallenden Welt beklagt wird, erhält die Analyse fiktionaler Repräsentationen des Anderen/Fremden auch unter dem Gesichtspunkt einer Suche nach Orientierung Relevanz. In Deutschland wird das Interesse an der Repräsentation fremder Lebenswelten noch durch die kriegs- und embargobedingte Isolation verstärkt. Als Grund für die Popularität von Reisefilmen in der Zwischenkriegszeit führt beispielsweise die schon erwähnte Neumann Produktion G.M.B.H. an, daß »speziell in Deutschland […] der Wunsch und die Sehnsucht, wenn man schon selber nicht reisen kann, die fernen Länder wenigstens im Bild zu sehen«19 besonders in der »langjährige[n] Abgeschlossenheit von der Welt«20 auszumachen sei. Aufschlußreich ist, wie der deutsche Reisefilm begründet

15. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 11. 16. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C. H. Beck 1992S. 140. 17. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 16. 18. Ebd., S. 17. 19. Zit. n. Ross: Kurbelkasten, S. 5. 20. Zit. n. ebd. 39

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wird. Nicht ein ›begrenztes‹ wissenschaftliches Interesse stehe hier im Vordergrund, vielmehr gehe es darum, daß »das deutsche Volk […] im Spiegel seiner eigenen Film-Operateure zunächst einmal sehen (mußte), wie […] sich die Welt in den zehn Jahren, die sie uns verschlossen war, verändert und entwickelt (hat).«21 Ross weist jedoch in der oben genannten Publikation zu seinem Film Mit dem Kurbelkasten um die Erde (1925) darauf hin, daß es nicht primäres Ziel seiner Arbeit sei, lediglich politischer und wirtschaftlicher Information zu dienen. »In uns Deutschen lebt unauslöschlich die Sehnsucht nach der Ferne und nach exotischer, tropischer Schönheit, und je weniger wir reisen können, desto stärker brennt in uns die Sehnsucht nach dieser unerreichbaren exotischen Ferne. Die […] Verwestlichung der Welt hat dem überseeischen Ausland viel von seinem eigenartigen, phantastischen Reiz genommen.«22 Für »die kommende Generation« gelte es deshalb, eine untergehende ›fremdartige Exotik‹ mit »dem Objektiv«23 einzufangen. Speziell der Kinematographie als Instrument der Nähe wird die Fähigkeit zugesprochen, die Distanz zum Fernen zu überbrücken, dem Zuschauer die Phänomene nahezurücken und einen Überblick über eine fremde Lebenswelt zu verschaffen. Apparative Distanz, die problematischen Implikationen einer eurozentristischen Perspektive, der traditionell »der Überblick aus der Distanz […] von einem Punkt ›außerhalb‹, […] zunächst immer der strategisch-kontrollierendem Orientierung in einem fremden Raum [dient]«24, werden in dieser Perspektive ausgeblendet. Aus heutige Sicht erscheint es zweifelhaft, ob man dem Phänomen der in topographisch entfernten Orten angesiedelten Filme mit dem Hinweis auf deren Funktion als Kompensationsangebot für eine entfremdete Existenz gerecht wird. Versteht man den dynamischen Prozeß von Wahrnehmung und Distanzierung von Alterität in exotistischen Fantasien als eine Suche nach Identität, so werden diese

21. Zit. n. ebd. 22. Ebd., S. 8f. 23. [Ebd., S. 9.] Auf den fast durchgängig anzutreffenden Gestus des Sammelns und Bewahrens, der das Exotische im Moment seines Verschwindens fixiert, sei hier nur nebenbei aufmerksam gemacht. 24. Großklaus, Götz: »Reisen in die fremde Natur. Zur Fremdwahrnehmung im Kontext der bürgerlichen Aufstiegsgeschichte (1982)«, in: Wierlacher, Alois (Hg.), Hermeneutik der Fremde, München: Iudicium 1990, S. 218-234, hier S. 226 40

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Imaginationen mentalitätsgeschichtlich bedeutungsvoll. So lassen etwa Abenteuergeschichten, die auch in weniger turbulenten Zeiten ein Bedürfnis nach einem unbürgerlichen, gefahrvollen Leben bedienen, die reale Gefährdungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in gleichsam ästhetisch entschärfter Form auf der Leinwand erscheinen und führen dem Zuschauer in einer turbulenten – dem Einzelnen undurchdringlich erscheinenden – Welt handlungsmächtige Protagonisten vor. Kracauer vergleicht diese Filme »in ihrer Lust an exotischen Schauplätzen« mit dem »Tagtraum eines Gefangenen«.25 Daß diese ›raumverschlingenden‹ Geschichten nicht ausschließlich nach inhaltlichen Aspekten der Narrationen bewertet werden können, sondern einem Lebensgefühl entsprachen, hätte Kracauer bei seinem philosophischen Lehrer Georg Simmel nachlesen können. Dieser bestimmt den Reiz des Abenteuers als die »unbedingte Gegenwärtigkeit, das Aufschnellen des Lebensprozesses zu einem Punkt, der weder Vergangenheit noch Zukunft hat und deshalb das Leben mit einer Intensität in sich sammelt, der gegenüber dem Stoff des Vorgangs oft relativ gleichgültig wird«.26 Für Simmel ist der Abenteurer »das stärkste Beispiel des unhistorischen Menschen, des Gegenwartswesens«.27 Weder bestimme ihn die Vergangenheit, noch bestehe für ihn die Zukunft. Hauptkriterium für den Abenteurer sei, daß »er aus der Systemlosigkeit seines Lebens ein Lebenssystem macht […,] so macht er damit nur gleichsam makroskopisch sichtbar, was die Wesensform jedes ›Abenteurers‹, auch des nicht abenteuerlichen Menschen, ist«.28 Der Abenteurer behandele das Unberechenbare des Lebens so, wie der nicht abenteuerliche Mensch sich gegenüber dem sicher Berechenbaren verhalte. Das Korrelat dieser Geisteshaltung bestimmt Simmel im »Skeptizismus des Abenteurers […]: wem das Unwahrscheinliche wahrscheinlich ist, dem wird leicht das Wahrscheinliche unwahrscheinlich«.29 Simmel universalisiert das dem Abenteurer eignende Lebensgefühl: »Wir sind die Abenteurer der Erde, unser Leben ist auf Schritt und Tritt von den Spannungen durchzogen, die das Abenteuer ausmachen. […] Denn es besteht nicht

25. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 63. 26. Simmel, Georg: »Das Abenteuer (1911)«, in: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin: Wagenbach 1986, S. 25-38, hier S. 35. 27. Ebd., S. 27. 28. Ebd., S. 28. 29. Ebd., S. 31. 41

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in den Inhalten, […] sondern daß der Radikalismus da ist, mit dem es als Lebensspannung, als das Rubato des Lebensprozesses fühlbar wird, unabhängig von seiner Materie und ihren Unterschieden.«30 Riskanz kann als das den Abenteurer schlechthin charakterisierende Prinzip betrachtet werden. Zum Lebensprinzip erhoben bleibt bei Simmel ein utopischer Horizont dennoch im Blick. »Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch«31, das Zitat aus Hölderlins Patmos, das für Ernst Bloch zum Inbegriff der Utopie wurde, bestimmt diesen Fokus deutlich. Gegen Kracauers Abwertung der Lust am Exotischen läßt sich darüber hinaus einwenden, daß auch die Tagträume eines Gefangenen einer Analyse zugänglich sind, ja in einer psychoanalytisch geschulten Perspektive nachgerade eine ideale »Nebenpforte«32 bieten, Einblicke in die zu einer spezifischen historischen Zeit zirkulierenden Fantasien zu erhalten. Die Gegenposition zur ideologiekritischen Ablehnung fiktiver Gestaltungen des Abenteuers, hinter denen lediglich die Affirmation des schlechten Bestehenden sowie die Widerspiegelung des falschen Bewußtseins vermutet werden, läßt sich bekanntermaßen ebenso mit Bloch markieren, der gleichwohl kritische Dimensionen seines Untersuchungsgegenstands nicht einfach ausblendet. Bloch bezeichnet die kolportageartige Abenteuergeschichte zwar als ›Luftschloß‹, sieht dieses jedoch in »guter Luft und, soweit das bei bloßem Wunschwerk überhaupt zutreffen kann: das Luftschloß ist richtig.«33 »Der Glanz, auf den die Abenteuergeschichte zugeht, wird […] gewonnen […] durch aktive Ausfahrt in den Orient des Traums.«34 Träume, Tagträume oder Fantasien sowie visuelle Imagination können einer Gruppe mentaler Zustände zugerechnet werden, die Richard Allen »iconic imagination«35 nennt. Richard Allen hält an der Analogie von Traum und Kino aufgrund der Lebensechtheit

30. Ebd., S. 38. 31. Hölderlin, Friedrich: »Patmos«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 1: Gedichte, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verl. 1992, S. 350360, hier S. 350. 32. Kracauer, Siegfried: »Georg Simmel (1920)«, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 209-248, hier S. 224. 33. Bloch, Ernst: »Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen«, in: ders.: Gesamtausgabe: 5.1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1959 S. 428. 34. Ebd., S. 426. 35. Allen, Richard: Projecting Illusion. Film Spectatorship and the Impression of Reality, Cambridge, New York: Cambridge UP 1995, S. 122. 42

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›projektiver Illusionen‹ fest36, die er als eine spezifische Erfahrungsform definiert, die »explizit mit meinem Wissen konfligiert und in der ich dennoch nicht glaube, das Imaginierte sei real«37. Damit steht er in Opposition zu Christian Metz, demzufolge das Imaginäre als real wahrgenommen wird und »unser Wissen, daß das, was wir sehen, nur ein Bild ist«38 verleugnet wird. Gegen Metz und Baudry wendet Allen ein, daß »[t]he quality of a spectator’s look at a film is never dictated or determined by the film; it is only, at most, fostered or encouraged by it.«39 »The movies do not cause the ego to lose its grip on reality and unconsciously defend against this loss by splitting.«40 »Like a child playing a game of make-believe, the spectator who entertains the film as a projective illusion does not simply give herself over to the screen; she toys with the experience of presence and absence as in a game of fort-da or peekaboo.«41 Zum einen läßt sich der Film »als eine kollektive Produktion [betrachten], bei der es um die ästhetische (ebenso wie psychoanalytische) Durcharbeitung von öffentlichen, sozialen wie politischen Diskursen geht, die dem Film vorausgehen«42, zum anderen läuft die »Analyse der Träume und aller kollektiven Vorstellungen, die ›man‹ sich von allen Phänomenen macht, […] über Bilder«.43 Anhand der in bestimmten historischen Zeiten zirkulierenden Bilder ließe sich somit »etwas sozial oder kollektiv naheliegendes oder Nahegelegtes«44 ausmachen. Was Gombrich, Poppers Falsifikationsprinzip aufgreifend, beispielsweise für die Kunsttheorie feststellt, kann für die visuelle Wahrnehmung allgemein geltend gemacht werden. Er führt aus, daß ein getreues Abbild wie eine gute Landkarte den »Endpunkt eines sorgfältigen Prozesses darstellt, einer langen Folge von Korrekturen und Modifikationen eines ur-

36. Vgl. ebd.,S. 125. 37. Allen, Richard: »Film, Fiktion und psychoanalytische Theorie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 4, Nr. 3, 1995, S. 507-530, hier S. 512. 38. Ebd., S. 511. 39. Allen: Projecting Illusion, S. 135. 40. Ebd., S. 139. 41. Ebd., S. 140. 42. Schmidt, Georg: »Spuren der Tiefe. Das Geschichtete der Photographie«, in: Photographie und Gesellschaft. Zeitschrift für photographische Imagologie, Nr. 2, 1989, S. 32-44, hier S. 39. 43. Ebd. 44. Ebd. 43

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sprünglichen Schemas.« 45 Ein derartiges Schema sei somit ein konstruiertes Modell, das die wesentlichen Beziehungen wiedergebe. Aufgrund dieser auch beim Sehen zugrundeliegenden Wahrnehmungsstruktur wird einer hypothetischen Setzung nur solange Geltung eingeräumt, bis neue Impulse und Vorschläge diese in Frage stellen und dadurch unsere Kenntnis über die Welt erweitern. Das Auge sieht demnach nur das, was wir wissen oder wissend erwarten, und folgt somit dem Modell von Hypothesenbildung und deren Revision. Es ist ebenso wie der Verstand von unbewußten wie bewußten Vorgaben abhängig und gesteuert, diesen jedoch nicht unhintergehbar ausgeliefert. Bernhard Waldenfels differenziert aus diesem Grund wahrnehmungstheoretisch zwischen den Möglichkeiten »Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen. Im ersten Falle ist das Neue ein Was […] [i]m zweiten Falle handelt es sich um ein neuartiges Wie, um eine neue Struktur, Gestalt oder Regel, die es erlaubt, das Bekannte mit anderen Augen und in einem neuen Licht zu betrachten. Die Sehart, ob alt oder neu, verweist also auf eine bestimmte Sehordnung.«46 Visuelle Wahrnehmung ist jedoch wie jede andere Wahrnehmungsform überformt von (bild)mächtigen Erbschaften, so das auch die Lichtschrift kinematographischer Bilder gemeinhin im doppelten Sinn »nach Vorschrift betrachtet«47 wird. Das Kino mehr noch als der Film als eine sozial-historische Tatsache, die sich bildlich formt48, läßt Bilder zirkulieren, die gelegentlich signifikante Kristallisationszonen schematischer Wahrnehmung bilden. Es ist ein bevorzugter Ort der Kodierung und Artikulation kulturellen Sinns, d. h. des Vorrats »gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen, der die ›symbolische Sinnwelt‹ bzw. das ›Weltbild‹ einer Gesellschaft bildet.«49 Darüber hinaus lassen die Konzeptionen des Alteritären in populären Fiktionen gleichsam örtliche »Gegenplazierungen oder

45. Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Kunst (1960), Stuttgart: Belser 1978, S. 113. 46. Waldenfels, Bernhard: »Ordnungen des Sichtbaren«, in: Boehm, Gottfried (Hg.), Was ist ein Bild?, München: Fink 1994, S. 233-252, hier S. 237. 47. Schmidt: »Spuren«, S. 39. 48. Vergleichbar mit dem Simmelschen Begriff des Raumes. [Simmel, Georg: »Soziologie des Raumes (1903)«, in: ders.: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1983, S. 221-242, hier S. 229.] 49. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 140. 44

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Widerlager«50 (erkennen, denen die Funktion zukommt, Eigenes und dessen Grenzen auszuloten. »The ›other‹ is never outside or beyond us; it emerges forcefully, within cultural discourse, when we think we speak most intimately and indigenously ›between ourselves‹«.51 Die Konstruktion eines nach innen identitätsstiftenden Außen durch Fremdheitsimagines muß im Zusammenhang mit dem wachsenden Unbehagen am modernen, die Gesellschaft homogenisierenden Zivilisationsprozeß und dem Problem einer immer wieder beklagten Ununterscheidbarkeit in der Massengesellschaft gesehen werden.52 Selbst wenn beispielsweise exotische Repräsentationen nur als imaginäre zu werten sind, so bietet deren Analyse gleichwohl die Möglichkeit, das so entworfene Imaginär in bezug zu den realen Lebensbedingungen des Exotisten zu setzen.53 Wenn auch das Imaginierte nicht einfach für wahr gehalten wird, so sind Imaginationen doch von Wunschfantasien begleitet, die potentiell daran beteiligt sind, »Überzeugungen über die Welt zu unterstützen, die unserem Wissen über die Welt, wie sie wirklich ist, widersprechen.«54 Besonders vor dem Hintergrund des in den 20er Jahren noch weitgehend bestehenden Glaubwürdigkeitskredits kinematographischer Bildfantasien, können die im Kino zirkulierenden Bilder nicht überprüfte Überzeugungen unterstützen und auf diese Weise Vorurteile festigen. Kinofilme haben, so Richard Allen, »in dieser Hinsicht eine besondere Macht […]. Fiktionen spielen in der Tat eine heimliche Rolle bei der Bildung von Überzeugungen […].«55 Weiterhin handelt es sich auch beim Exotischen keineswegs um die substantielle Qualität eines Phänomens.

50. Foucault: »Andere Räume«, S. 39. 51. Bhabha, Homi K.: »Introduction: narrating the nation«, in: ders. (Hg.), Nation and Narration, London: Routledge 1990, S. 1-7, hier S. 4. 52. Die Gedankenfigur gesellschaftlicher Nivellierung, Homogenisierung und Egalisierung ist jedoch nicht auf die konservative Kulturkritik beschränkt. In kulturgeschichtlichen Studien über die 20er Jahre wird dies als Zeichen der Demokratisierung der Republik bewertet. Balázs erweitert in seiner Konzeption der Physiognomie dieses Denkfigur in interkultureller Perspektive mit durchaus problematischen Implikationen als Möglichkeit der Völkerverständigung. Siehe dazu das Kapitel ›Moderne‹ physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle Anthropologie dieser Arbeit. 53. Vgl. Scherpe, Klaus R.: »Die Wahrnehmung des Fremden 1914/17. Ein Vortrag zur Frage der Interpretation im kulturellen und medialen Zusammenhang«, in: Weimarer Beiträge, Jg. 39, Nr. 4, 1993, S. 485-498, hier S. 491. 54. Allen: »Film, Fiktion«, S. 518. 55. Ebd., S. 518. 45

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»Tatsächlich ist von Natur aus der fremde Gegenstand – Objekt oder Person – keineswegs exotisch […]. […] Exotismus wird gemacht – am häuslichen Herd. […] Man schafft sich die Repräsentation des Eingeborenen, wie man sie gerade braucht. […] Am vorherrschenden Bild des Fremden lassen sich folglich vorherrschende ideologische Strömungen einer Zeit ablesen. So spiegelt das exotische Bild weniger den abgebildeten Fremden, als die wandelbaren Bedürfnisse, sich ihn so oder so zu denken.«56 Da narrative Fiktionen und die in ihnen realisierten Repräsentationen des Anderen in Beziehung zu den jeweiligen sozialen, ökonomischen und historischen Bedingungen ihres Entstehungskontextes stehen, lassen sich an ihnen grundlegende Einstellungsdispositionen der sie produzierenden und sie rezipierenden Gesellschaft ablesen. Zu fragen ist weiterhin, wie sich das Andere als ein Jenseitsder-Grenze-Phänomen auf dem Feld der Repräsentation konstituiert und welche Implikationen sich daran festmachen lassen.57 Wie sich gerade auf diesem Feld die ›Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen‹ (Mannheim) als »Zeitgenossenschaft divergenter Gegenwärtigkeit«58 einen fiktionalen Ausdruck verschaffen, ist in der deutschen Filmgeschichte zur Weimarer Republik bislang wenig beachtet worden. Die im Vergleich des scheinbar Eigenen mit dem vermeintlich Fremden erstellten kognitiven Karten, die die Welt aus der Eigenperspektive vermessen, lassen Rückschlüsse auf die sie präfigurierenden Wahrnehmungsmodi zu. Daß es sich hierbei um kinematographische Aufzeichnungen imaginärer Fremdheitsbilder handelt, die das zumeist dichotomisch inszenierte ›Andere‹ abermals verzeichnen, ist zunächst meine grundlegende Arbeitshypothese. Zu fragen wäre jedoch, wie sich Imagines des Anderen/ Fremden vor dem Hintergrund anderer Bilder konstituieren. Wie zirkulieren diese Bilder intrakulturell an verschiedenen gesellschaftlichen Orten und wie werden sie während dieses Prozesses transformiert? Wie vollzieht sich die Grenzziehung von Identität und Differenz im Aufeinandertreffen von Eigenem und Anderen?

56. Oppitz, Michael: »Die visuelle Anthropologie und das Unsichtbare«, in: ders.: Kunst der Genauigkeit. Wort und Bild in der Ethnographie, unter Mitarbeit von Ahmad Alasti, München: Trickster 1989, S. 11-36, hier S. 25. 57. Zur Begriffsgeschichte der Grenze und den sich daraus ergebenden Implikationen gibt sehr instruktiv der Text von Wokart Auskunft. [Wokart, Norbert: »Differenzierungen im Begriff ›Grenze‹. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs«, in: Faber, Richard/Naumann, Barbara (Hg.), Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 275-289.] 58. Schäffter: »Modi«, S. 12. 46

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Was läßt sich mit Hilfe der Fremdbilder indirekt über die Gesellschaft aussagen, die diese Bilder prägt und konsumiert?59 Wenn Filme die »ungeschriebene Geschichte der Menschen«60 schreiben, dann sind sie auch in dem Sinne eine ›Bewegungsschrift‹, wie sich in den kinematographischen Fiktionen die durch den Modernisierungsprozeß verursachten, konflikthaften Verluste und die mit ihnen zusammenhängenden Ängste, Sehnsüchte und Wünsche als ›Lichtspur‹ und Sehnsuchtsbild einschreiben. Die in meiner Arbeit in den Blick genommene Zeit der Weimarer Republik, die uns historisch als »Krisenzeit der klassischen Moderne«61 erscheint, gehört, wie Sloterdijk treffend formuliert, »zu den historischen Phänomenen, an denen man am besten studieren kann, wie die Modernisierung einer Gesellschaft bezahlt werden will«.62 Mit Hilfe der von mir vorgenommenen Auswahl und Kombination von Filmen, die filmhistorisch bezüglich ihres Stils, ihrer ästhetischen Qualität und Bedeutung gemeinhin streng voneinander – hie der Kunstfilm dort der »Kommerzfilm« 63 – geschieden behandelt werden, soll dem

59. So stellt Fritz Kramer schon in den Einleitungsworten seiner Habilitationsschrift fest, »daß die Wirksamkeit der Ethnographie, das, was sie letztlich besonders aus forschungsgeschichtlicher Perspektive ›interessant‹ macht, nicht in ihrem Gegenstand begründet war, sondern in dessen Beziehung auf die Gesellschaft, die ihn zu ihrem Negativbild verfremdet hat.« [Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Syndikat 1977, S. 7.] 60. Kaes: »Filmgeschichte«, S. 57. 61. Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne (1983), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 11. 62. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 702. 63. Eine Unterscheidung, die auch Uli Jung ungeachtet seiner Kritik an der ›konventionellen Perspektive‹ zur deutschen Filmgeschichte vornimmt. [Jung, Uli: »Ein Monster nach dem Ersten Weltkrieg. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu (D 1922)«, in: ders.: Dracula. Filmanalytische Studien zur Funktionalisierung eines Motivs der viktorianischen Populär-Literatur, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 1997, S. 68-90, hier S. 70.] Implizit ist diese Unterscheidung in vielen Studien über die 20er Jahre anzutreffen, selbst wenn diese der immer wieder hervorgehoben Egalisierungstendenz der modernen Massenkultur nicht grundlegend negativ gegenüber stehen. Hermand/Trommler führen beispielsweise aus, daß »ein Mehr an Kultur für die größtmögliche Zahl« zugleich »auch ein Mehr an Un-Kultur« bedeute. Diese Mehr trug in ihren Augen auch »zur ideologischen Verdummung« der Massen bei. Sie bewerten »das meiste dieser demokratisch gemeinten Kultur weniger in einem positiven Sinn populär als in einem negativen Sinn trivial.« [Hermand, Jost/Trommler, Frank: Die Kultur der Weimarer Republik, München: Nymphenburger 1978, S. 71.] Kreimeier 47

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vielgestaltigen Umgang mit Imaginationen des Anderen im ›kinematographischen Sehlabor‹ Rechnung getragen werden. Unter Filmhistorikern herrscht inzwischen weitgehender Konsens darüber, daß eine filmhistorische Analyse der Rekonstruktion des geschichtlichen Rezeptionskontextes bedarf.64

Heinz-B. Heller bestimmt die Aufgabe der Filmgeschichtsschreibung darin, »die Historizität der Werkproduktion und die Geschichtlichkeit der Wahrnehmung in ein Verhältnis«65 zu setzen und fragt in einem anderen Zusammenhang nach den gleichermaßen auf Produzenten- wie Rezipientenseite anzutreffenden medienhistorischen Gebrauchsspuren.66 Aufschlußreiche Studienobjekte sind

entgegnet dieser Denkfigur, daß »[d]as Verdikt der ›ideologischen Verdummung‹ […] allerdings die Existenz einer ideologischen Zentrale, die eine infame Strategie zur Betäubung der Massen« unterstellt. »Eine solche Zentrale gab es in den 20er Jahren nicht […]. Die Strategie des Gewerbes zielte allein auf gefüllte Kassen, und an einer ›Verdummung‹ seines Publikums lag ihm so wenig wie an einer bewußten Anhebung seines Wissens oder seines Geschmackniveaus. Ebenso mißachtet der Trivialitätsverdacht die dem filmischen Medium von Grund auf eigentümliche triviale Struktur, die gerade seine Faszinationskraft ausmacht.« [Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, München: Hanser 1992, S. 101.] 64. Vgl. dazu den GFF-Sammelband zur Filmgeschichtsschreibung. [Hickethier, Knut (Hg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988, Berlin: sigma/Bohn 1989.] 65. Heller, Heinz-B.: »Kanonbildung und Filmgeschichtsschreibung«, in: Hickethier, Knut (Hg.), Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988, Berlin: sigma/Bohn 1989, S. 125-132, hier S. 129. 66. Vgl. Heller, Heinz-B.: »Ästhetische Strategien als Politik. Aspekte des 48

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hierfür die bereits Mitte der 20er Jahre einsetzenden Wiederaufführungen inzwischen für das zeitgenössische Publikum historisch anmutender früherer Stummfilme. Die hierbei dokumentierten Reaktionen werden jedoch auch durch die Aufführungspraxis einer häufig parodistischen Musikbegleitung und falscher Vorführgeschwindigkeiten mitbestimmt.67 So lobt Fritz Olimsky in seiner Rezension zu dem Film Lebende Buddhas zunächst, daß Paul Wegener es verstanden habe »phantastisch-mythisches [sic!] ganz stark zu gestalten.«68 Der Rezensent der Berliner Börsenzeitung begründet seine Kritik an der zwischen »Kunst und Kitsch«69 anzusiedelnden Gestaltung des tibetischen Settings jedoch unter Hinweis auf zwei in der jüngsten Vergangenheit gelaufene »echte Tibetfilme«70, »die in ihrer Ursprünglichkeit doch noch elementarer wirkten.«71 Weiter moniert er, den Bauten Poelzigs fehle »in den tibetanischen Szenen durchaus die Wucht des Gigantischen, etwas mehr Golemmystik

Fernsehdokumentarismus«, in: Montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 1, Nr. 1, 1992, S. 37-47, hier S. 44. 67. Vgl. beispielsweise Olimsky, Fritz: Kino vor 15 Jahren. Das neue Programm der »Kamera« – Die Augen der Mumie Mâ, 1928 (SDK/Olimsky: 4.3-89/3 =VAR, 4, S. 97; Rezension); anonym: »Wiedersehen mit alten Filmen. Die Augen der Mumie Mâ in der Kamera«, in: Der Kinematograph, Nr. 164, 25.8.1933, S. 2. 68. [F.O. (d.i. Olimsky, Fritz): Lebende Buddhas, 1925 (SDK/Olimsky: 4.389/3 =VAR, 3, S. 33; Rezension)]. Paul Wegener garantierte besonders in der Rolle eines gewalttätigen, mit allerlei übersinnlichen Kräften begabten Charakters für manch schwächeren Film einen gewissen Erfolg bei Publikum und Kritik. Mit seinem auf starren, maskenhaften Ausdruck ausgerichteten – häufig effektvoll in Szene gesetzten – Spiel scheint er geradezu prototypisch faszinierend-bedrohliche, die Aura des Fremden und Unbegreiflichen umgebende, Gestalten zu verkörpern, deren Auftreten die Wirkung auf das Publikum nicht verfehlten. »Wenn Wegeners starres Auge in Großaufnahme sich in die Blicke des Publikums bohrt, dann überkommt einem Schauer und man hat Verständnis für die starke Suggestivkraft dieses Svengali«, heißt es beispielsweise zu Svengali, einer Großproduktion der Terra-Film, in der Wegener einen mit hypnotischen Fähigkeiten begabten Klavierspieler darstellt [K.M.: Svengali, 1927 (SDK-File: Svengali; Rezension)]. 69. F.O.: Lebende Buddhas. 70. Bei diesen Filmen handelt es sich um Die Besteigung des Mount Everest und Zum Gipfel der Welt. Auch die Rezension in Der Film erwähnt den ersten Titel und führt auf dessen Kenntnis die mangelnde Wirkung von Wegeners mit zwei Jahren Verspätung in die Kinos gelangten Film zurück. [Vgl. anonym: »Die Götter von Tibet«, in: Der Film, Nr. 20, 17.05.1925, S. 20.] 71. F.O.: Lebende Buddhas. 49

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wäre hier sehr am Platze gewesen«.72 Im Kinematograph wird beanstandet, die abenteuerliche Handlung führe »zwei Europäer nach Tibet, d. h. nicht etwa in das wirkliche Bergland, sondern in eine Fantasiegegend, wie sie in den Köpfen einiger Okkultisten spukt. Hier ereignen sich Greuel, die direkt aus den Romanen des Marquis de Sade stammen könnten.«73 Mit der Verfolgungsgeschichte des Films beginne somit »des ›Indischen Grabmals‹ neuester Teil, die Wanderung eines Yoghi im Astralleib […]«.74 An solchen Aussagen läßt sich zum einen ablesen, wie sich die Rezeption unterschiedlicher Filmgattungen überlagert. Zum anderen sind somit sowohl der Erwartungshorizont als auch die damit zusammenhängende Kategorie des Authentischen ständigen Veränderungen unterworfen. Historischen Umgestaltungen unterworfene mediale Vermittlungen ferner Weltgegenden prägen und verändern ein hypothetisches Vorwissen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, jedoch spielen Gattungserwartungen bei der Beurteilung des Gezeigten eine ebenso wichtige Rolle. »Von einer Operette verlangt niemand völkerkundliche Genauigkeit«75, heißt es lapidar von einem Rezensenten zu dem Abenteuerfilm Die weisse Geisha, der aufgrund inflationsbedingter Schwierigkeiten der Produktionsfirma Deutsche Nordische Film-Union G.M.B.H. mit zweijähriger Verspätung erst 1926 in die Kinos kommt und auf zwischenzeitlich veränderte Rezeptionserwartungen des Publikums trifft.

72. Ebd. 73. Anonym: »Lebende Buddhas«, in: Der Kinematograph, Nr. 952, 15.5.1925, S. 20. 74. Ebd. 75. P.L.: »Nordischer Bilderbogen [Sammelrezension]«, in Ebd., Nr. 1027, 1926, S. 16. 50

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Verlusterfahrungen oder Suchbilder der Ordnung »Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist.«1

Zum Zeitgefühl in der Weimarer Republik Der mehrheitlich beklagte Verlust der Mitte und die damit einhergehende ›neue Beweglichkeit‹ und Pluralisierung der Ordnung nach dem Zerfall umfassender, allgemein verbindlicher Weltanschauungen sowie konziser Weltbilder zeigen nicht nur auf dem Feld des Kinos ›Ungleichzeitkeiten des Gleichzeitigen‹. Von großen Teilen der linksliberalen Intelligenz – für die Kracauer eingangs stellvertretend genannt wurde – werden explizit exotistische Filme als eskapistisch diskreditiert. In den Filmen der Zeit werden – wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen – tradierte Wahrnehmungsformen bestätigt und/oder irritiert sowie auch neue Sichtweisen nur zögernd etabliert. Seit Mitte der 10er Jahre wird das Kino als kulturelle Praxis zunehmend bedeutungsvoller. Das gibt den durch die Kinematographie distribuierten und sich hier konstituierenden Bildern und Wahrnehmungsmodi besondere Relevanz. Das weitverbreitete Gefühl des ›Unbehaustseins‹ nach dem Verlust der alten Welt- und Werteordnung in der Weimarer Republik wird noch unterstützt durch Migrationsbewegungen infolge von Revolution und nationalstaatlicher Neuordnung, die nicht zuletzt bereits zirkulierende Ängste mit neuen, mächtigen Bildern versorgen.2 Daneben

1. Simmel, Georg: »Exkurs über den Fremden (1908)«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. v. O. Rammstedt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 764-771, hier S. 767. 2. Zu denken ist hier zum Beispiel an wirkungsmächtige Geschichtsfälschungen vom Schlage der Verschwörungstheorien der Protokolle der Weisen von Zion. [Vgl. hierzu Sammons, Jeffrey L. (Hg.): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen: 51

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sind für große Teile der Kriegsheimkehrer Integrationsprobleme in eine veränderte zivile Gesellschaft an der Tagesordnung und verstärken das Gefühl der Entfremdung. In der Republik von Weimar amalgamieren politische, wirtschaftliche und soziale Erschütterungen zu einer vornehmlich unter Intellektuellen weitverbreiteten Krisenstimmung, in der der Terminus ›Krise‹ auf nahezu alle Lebensbereiche inflationär angewandt wird – und dies nicht erst in der sich radikalisierenden Zeit nach der Weltwirtschaftskrise. 3 Entscheidend für die zeitgenössische Stimmungslage ist, daß das etymologisch auf einen Augenblick der Entscheidung oder einen Wendepunkt hinweisende Wort ›krisis‹ mit einem Ordnungsschema korrespondiert, das nicht mehr binären Strukturprinzipien folgt. Die simple und totale Wiederherstellung eines komplexitätsreduzierenden ›guten Vorher‹ – eine Vorstellung, die bereits in vormodernen Zeiten der Imagination entsprang –, die eine Krise als Durchgangsphase mit sicherem Ausgang erscheinen läßt, ist in der Instabilität moderner Ordnungsgefüge nunmehr undenkbar. Diese Grundkonstellation ruft in der Weimarer Republik auch die vielen Zeitdiagnostiker auf den Plan, die als selbsternannte ›krites‹ der Zeitläufte im medizinischen Wortfeld der ›krisis‹ bleiben. Wortgeschichtlich bedeutet das griechische ›diágnosis‹ eine

Wallstein 1998; Rásky, Béla: »Plagiierte Höllendialoge. Die Fälschungs- und Wirkungsgeschichte der ›Protokolle der Weisen von Zion‹«, in: Klamper, Elisabeth (Red.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien: Picus 1995, S. 264271; Piper, Ernst: »Die jüdische Weltverschwörung«, in: Schlör, Joachim (Hg.), Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, München: Piper 1995, S. 127-135; Sarkowicz, Hans: »Die Protokolle der Weisen von Zion«, in: Corino, Karl (Hg.), Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik, Frankfurt/M.: Eichborn 1990, S. 56-73.] 3. Weite Teile der bürgerlichen Intelligenz sind durch eine betont unpolitische, im Verhalten zum Weimarer Staat zumindest ambivalente Haltung gekennzeichnet, aus der über den gesamten Verlauf der Republik lebhafte Debatten unter krisenhaften Vorzeichen resultieren. Frank Trommler stellt heraus, daß »die Intelligenz die politische Analyse sehr wesentlich durch die Beschäftigung mit einer gewaltigen Kulturkrise ersetzt und die Krise nach 1929 bald als deren Kulmination einschätzte.« [Trommler, Frank: »Verfall Weimars oder Verfall der Kultur? Zum Krisengefühl der Intelligenz um 1930«, in: Koebner, Thomas (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und Publizistik 1930-1933, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 34-53, hier S. 35.] Vielfältiges Material zur intellektuellen Ortsbestimmung gegen Ende der Republik findet sich in der Metzler Materialsammlung zur Weimarer Republik. [Kaes, Anton (Hg.): Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Weimarer Republik, Stuttgart: Metzler 1983, S. 605-689.] 52

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auf Unterscheidungen basierende Erkenntnis. Im medizinischen Kontext wird mit Hilfe der Diagnose eine bestimmte Krankheit anhand von Anzeichen erkannt und beurteilt, indem sie differenztheoretisch (differenzialdiagnostisch) von anderen Erkrankungen unterschieden wird. Um Beeinträchtigungen, Dysfunktionen und Schwächen eines organischen Körpers festzustellen, sind Kriterien über das ›normale‹ Funktionieren eines ›starken, gesunden Organismus‹ unabdingbar. Der Nachweis einer Krankheit ist aber auch in der Medizin nicht mit einem objektiven Befund zu verwechseln, sondern ebenso abhängig »von subjektiven Empfindungen von Leid und Schmerz, die das jeweilige Befinden bewerten.«4 In der Medizin stellt die Diagnose die Grundlage für Aussagen über Prognose und Therapie der Krankheit dar. Bezieht man den figurativen, metaphorischen Gebrauch des Begriffs in der Rede von der Zeitdiagnose auf seinen ursprünglichen Kontext zurück, so zeigen die dabei zutage tretenden strukturellen Unterschiede die problematischen Implikationen des übertragenen Gebrauchs des Terminus auf. So werden mittels der Analogie physische Körper mit gesellschaftlichen Körpern überblendet und somit funktionale Gebilde wie Gesellschaft, Kultur, Gegenwart und Geschichte gleichsam wie ein biologischer Organismus betrachtet.5 Diese Katachrese kann als Grundlage für die Frage angesehen werden, unter welchen Umständen ein gesellschaftliches Ensemble als ›ganz‹ und funktionstüchtig aufzufassen sei. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die wesentlichen Funktionen einer Gesellschaft »nicht durch externe Beobachtung, sondern nur durch Bezug auf ihr internes Selbstverständnis zu beantworten [sind].«6 Insofern vergewissert sich der Zeitdiagnostiker mit der Diagnose immer auch seines eigenen Standorts. Dieser steht nicht – dem Selbstbild dieses Deutungsgeschäfts in den 20er Jahren entsprechend – als ein weitgehend neutraler Beobachter seiner Zeit gegenüber. Vielmehr beschreibt der Zeitdiagnostiker gewissermaßen analog zur ethnographischen Situation der teilnehmenden Beobachtung eine Entwicklung, deren Teil er ist. Zumindest implizit muß der Zeitdiagnostiker zur Formulierung sei-

4. Lohmann, Georg: »Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen«, in: Fink-Eitel, Hinrich/ders. (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 266-292, hier S. 272. 5. Zum Austauschverhältnis zwischen diesen beiden Gebilden vergleiche Mary Douglas. [Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt/M.: Fischer 1986, S. 99.] 6. Lohmann: »Stimmungen«. 53

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nes Befunds über Bewertungskriterien hinsichtlich des ›normalen Funktionierens‹ der Gesellschaft verfügen, die als subjektiv ›gemachte‹ Kriterien jedoch potentiell immer kritisierbar und verbesserungsfähig sind. »Zur Zeitlage insgesamt gehören aber auch die existentiellen Selbstverständigungen; der Ganzheitsanspruch involviert den Diagnostiker selbst in den Gegenstand der Diagnose. Auf Grund dieser Selbstinvolvierung sind Zeitdiagnosen letztlich Verständigungen über die Weltlage aus der Perspektive einer ersten Person.« 7 Zeitdiagnosen erschöpfen sich jedoch nicht nur in der Beschreibung eines Befunds, sondern verfolgen ein praktisches Interesse, indem sie etwas über die Zeit herauszufinden beabsichtigen, dem es abzuhelfen gilt. So läßt sich vermuten – wie Lohmann formuliert –, daß Zeitdiagnosen »auch mit einem Anlaß verbunden sind, mit einem Leiden ›an der Zeit‹, das erst ein Bedürfnis nach Diagnose, nach genauem Erkennen dessen, woran ›man‹ leidet, hervorruft. So betrachtet, steht die Zeitdiagnose in einem reflexiv-praktischen Verhältnis.«8 So kann beispielsweise die Betrachtungsweise Siegfried Kracauers, der die revolutionären Erschütterungen von 1918 als Vollendung des Zusammenbruchs »einer schon längst unterhöhlten Autorität«9 bewertet, zwar als Zeichen intellektueller Verarbeitung der Zeitläufte, nicht aber als mehrheitlich geteilte Perspektive verstanden werden. Solchen Aussagen haftet eine – nicht nur – im linksliberalen Lager verbreitete Tendenz zu einem latenten, romantisch gefärbten Anti-Kapitalismus an, die in den überlieferten Zeitklagen jener Tage nicht unüblich ist. Häufig erscheint in dieser als unüberschaubar wahrgenommen Entwicklung das Mittelalter als ruhender Bezugspunkt10, von dem aus die Erscheinungen der neuen Republik

7. Ebd., S. 267. 8. Ebd., S. 273. 9. Kracauer, Siegfried: »Autorität und Individualismus (15.2.1921)«, in: ders.: Schriften, Bd. 5.1: 1915-1926, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 81-86, hier S.81. 10. Charles Taylor beschreibt das Dilemma einer Kritik, die die neuzeitliche Aufklärungszivilisation wegen ihrer Fragmentierung und Ausgedörrtheit anklagt, mit dem aufkommenden pessimistischen Gefühl, »früher habe eine größere Fülle geherrscht und seitdem sei es – vielleicht unwiderruflich – mit der Welt bergab gegangen. Dieses Gefühl kann dann eine Sehnsucht erwecken, die einer heilen, oft mit dem 54

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und der mit ihr verknüpfte Pluralismus unter negativen Vorzeichen gedeutet werden. Kracauer beschreibt diese Situation, diesen ›Schock der Freiheit‹ ex eventu hingegen als Chance für einen wirklichen Neubeginn: »Für eine kurze Zeit hatte der deutsche Geist die einzigartige Gelegenheit, ererbte Gewohnheiten über Bord zu werfen und sich völlig neu zu organisieren.«11 Die Hoffnung auf einen Neubeginn währt jedoch bekanntermaßen nicht lange. Spätestens mit Bekanntwerden der Versailler Friedensbedingungen und der wiedereinsetzenden Zensur12 weicht die zumindest in linksintellektuellen Kreisen verbreitete erwartungsvolle Stimmung einem »Gefühl des Betrogenseins«13, das sich »in die Luft des Neubeginns«14 mischt. Desillusionierung verknüpft sich mit dem Vorsatz, »sich nicht mehr weiter täuschen zu lassen.«15

Mittelalter gleichgesetzten Vergangenheit gilt«. [Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (1989), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 676.] 11. Kracauer: Von Caligari, S. 49. 12. Erste Prozesse gegen die Intelligenz finden schon im Juli 1919 statt. Es war einer der weitreichendsten Irrtümer der Intellektuellen zu Beginn der Weimarer Republik, unter dem Eindruck einer zeitweiligen Absenz der Staatsgewalt literarische mit politischer Öffentlichkeit gleichzusetzen. Die Enttäuschungen über mangelnden gesellschaftlichen Einfluß, fehlende Gestaltungsfähigkeit und den Verlust des Interpretationsmonopols – das freilich schon viel früher verloren war – hinterlassen tiefe Spuren in der Befindlichkeit der Intelligenz. [Vgl. Kaes, Anton: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Weimarer Republik, Stuttgart: Metzler 1983, S. XIX-LII, hier S. XXf.] Erst allmählich beginnt sich diese Erfahrung auf ein neues Konzept von Subjektivität auszuwirken und führt zur Verabschiedung des geschichtsmächtigen Subjekts. Nach der Konsolidierung der Republik wiederholt sich mit Inkrafttreten eines neuen ›Schmutz- und Schundgesetzes‹ 1926 die Auseinandersetzung zwischen Staatsgewalt und Intellektuellen. Neue Zensurprozesse stehen auf der Tagesordnung. Die Auseinandersetzung um besonders schützenswerte, weil als gefährdet eingestufte, Personengruppen spielten schon während der Kino-Debatte eine große Rolle. Auch in der Weimarer Republik gilt hier die erhöhte Aufmerksamkeit der Sitten- und Moralwächter Jugendlichen, Frauen und Industriearbeitern. Letztlich zeigen Äußerungen zu diesen Gesellschaftsgruppen – wie insbesondere zur Gruppe der Industriearbeiter – eine tiefe Voreingenommenheit gegen die sozialen Verwerfungen der modernen Massengesellschaft, die auch zu einer Depotenzierung vormals gültiger Autoritäten führt. 13. Sloterdijk: Kritik, S. 741. 14. Ebd. 15. Ebd. 55

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In Die Not der geistigen Arbeiter16 beschreibt Alfred Weber 1923 die Pauperisierung großer Teile der vormals vom täglichen Erwerbsleben mehr oder weniger unabhängigen Schriftsteller und Akademiker, die infolge der Inflation ihrer ökonomischen Vermögensbasis verlustig gehen und sich sozial deklassiert sehen. Diese Entwicklung führt bei vielen Angehörigen der Intelligenz zu Ressentiments gegen die demokratische Verfassung und ist »ein Faktor in ihrer geistigen Delegitimierung«.17 Diese weitverbreitete Haltung zur noch jungen Demokratie auf deutschem Boden ist der Hintergrund für den impliziten Einwand, der in der oben erwähnten Formulierung Kracauers zur Bewertung der revolutionären Nachkriegsereignisse mitschwingt. Bedenkt man darüber hinaus die von ihm in der Weimarer Filmgeschichte verfolgte symptomatische Filmlektüre, nimmt es denn auch kaum Wunder, daß Kracauer besonders die vorgeblich von der zeitgenössischen Gegenwart ablenkenden Filme als von »nachgeordneter Bedeutung«18 einstuft und mit einem mächtigen Verdikt belegt, das sich gleichwohl nicht unmittelbar gegen deren ästhetischen Wert richtet. Im Konglomerat der Äußerungen zur zeitgenössischen Befindlichkeit ist es angemessen, zwischen einer reflexiv angenommenen geistigen ›Unbehaustheit‹ – die als intellektuelle Herausforderung begriffenen wird – und einer ungewollten Orientierungslosigkeit zu differenzieren. Diese Unterscheidung orientiert sich an der von dem kanadischen Publizisten Michael Ignatieff vorgeschlagenen Differenzierung zwischen willentlichem und ungewolltem Weltbürgertum19 im Zusammenhang mit heutigen Globalisierungstendenzen und dem hiermit in Verbindung stehenden konfliktträchtigen Verhältnis von Wir- und Fremdgruppen. In vielen rezenten Positionen zu diesem Thema sucht man eine solche Differenzierung vergebens. Unter Ausblendung individueller Belastungen wird dagegen vornehmlich der Nutzen der Entwurzelung für eine multikulturelle Gesellschaft hervorgehoben. Ja, oftmals gilt Entwurzelung als Gewahrwerden der eigenen Ortlosigkeit, des eigenen Mangels und des eigenen Ungeborgenseins nachgerade als Bedingung einer Öffnung zur Erfahrung des Anderen, von dem angenommen wird, daß es in

16. Vgl. Weber, Alfred: »Die Not der geistigen Arbeiter (1923)«, in: Kaes, Anton (Hg.), Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Weimarer Republik, Stuttgart: Metzler 1983, S. 71-75. 17. Kaes: »Einleitung«, S. XXV. 18. Kracauer: Von Caligari, S. 62. 19. Vgl. Ignatieff, Michael: Reisen in den neuen Nationalismus, Frankfurt/ M., Leipzig: Insel 1994, S. 17-21. 56

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dieser Heimatlosigkeit existiere. Ungeachtet des eingestandenermaßen positiven Potentials eigener Erfahrung der Wurzellosigkeit und den sich daraus ergebenden Gefährdungen, die potentiell ein Interesse am Anderen offen zu halten in der Lage sind, scheinen derartige Modelle mehr als ästhetische denn als sozial-pragmatische Entwürfe ihre Berechtigung zu haben.20 In den ›raumgreifenden‹ Filmen der Weimarer Zeit werden Stabilisierungsfantasien durchgespielt, Probehandlungen, mit denen nationale Identität gleichsam vom Fremden her konstituiert wird. (Filmische) Fiktionen als Requisiten für eine ›Imaginationsübung‹ gestatten in ihrem geschlossenen – gleichwohl auf die ›reale‹ Welt hin geöffneten – Möglichkeitsraum21 das Durchspielen imaginativer Ausschweifungen, die der ›Absolutismus der Wirklichkeit‹22 verwehrt. Orte werden beispielsweise in den ›raumverschlingenden‹ Abenteuerfilmen vom Typ der Spinnen lediglich als Durchgangsorte etabliert. Hier wird nicht das ›Reale‹ erforscht, sondern das ›Imaginäre‹ in bildgewordenen Raumfantasien situiert. Beständig durchschweift in diesen ausschweifenden Fantasien der Held die Welt. Die einer atemlosen Und-dann-Dramaturgie folgenden Protagonisten des frühen Weimarer Abenteuerfilms behaupten fortwährend die Singularität ihres bewegten Daseins, lehnen sich auf gegen die Faktizität, das Allgemeine und Endgültige, gegen die inzwischen sprichwörtliche Hegelsche »Prosa der Verhältnisse.«23 »Schauplätze des Reisens und die Chronologie der Ereignisse«, so Hans-Jürgen Heinrichs, »folgen nie nur geographischen und anderen äußeren

20. Viele rezente, eine kulturelle Politik der Differenz verfolgende Arbeiten, vermögen denn auch nicht immer erfolgreich zwischen der »Scylla of reductionism and the Charybdis of aestheticism« Kurs zu halten. [West, Cornell: »The New Cultural Politics of Difference«, in: October, Nr. 53, 1990, S. 93-109, hier S. 106.] 21. Vgl. Umberto Ecos erzähltheoretische Kategorie der ›möglichen Welt‹ die er als ein kulturelles Gebilde definiert, daß als erzählerische Welt der ›realen‹ Welt Eigenschaften entleihe und diese in redundanter Weise überlagere. [Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten (1979), München: dtv 1990, S. 154-219.] 22. Vgl. dazu Blumenberg: Mythos, S. 9-39. 23. »Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus, auf deren Boden er sodann in seinem Kreise […] der Poesie, soweit es bei dieser Voraussetzung möglich ist, ihr verlorenes Recht wieder erringt. Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse.« [Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Vorlesungen über die Ästhetik III«, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Bd. 15, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 S. 392f.] 57

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Mustern, sondern ebenso vielen verborgenen inneren codes und Phantasien.«24 Anstatt reale oder imaginierte Bedrohungspotentiale ›durchzuarbeiten‹ wird hier anhand der Figur des Abenteurers Vitalität, Tatendrang und die eingangs in Anlehnung an Simmel beschriebene, auf den verdichteten Augenblick fokussierte abenteuerliche Lebensweise gefeiert. In dem Versuch der kinematographischen Abenteurer, den engen räumlichen Grenzen des besiegten Landes zu entfliehen, ist augenfällig, daß es sich bei den Protagonisten der auf dem deutschsprachigen Markt produzierten Filme oftmals um Angehörige europäischer Kolonialmächte oder US-Amerikaner handelt. Zumindest in den ersten Jahren der Republik ist dies dem weiterhin bestehenden alliierten Embargo gegen Deutschland und seitens der Filmindustrie vermuteter – aus Kriegszeiten fortbestehender – antideutscher Ressentiments geschuldet, durch die sie ihre Exportchancen beeinträchtigt sahen.25 Aber auch nach Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen findet diese Praxis kein Ende. Zum einen kann dies als Versuch gewertet werden, den Filmen ein internationales Flair zu geben, mit denen die deutsche Filmindustrie nach Kriegsende im Exportgeschäft zu reüssieren versucht. Zum anderen wird auf diese Weise jedoch dem Publikum ein Imaginationsraum vorgeführt, in dem die Welt zwar in Interessensphären aufgeteilt ist, gleichwohl aber gemeinhin handlungsmächtige Protagonisten potentiell den gesamten Globus mit seinen Widrigkeiten als Bewährungsraum zu ihrer Verfügung haben. Darüber hinaus steht dieses Phänomen jedoch in der Tradition einer dichotomisierenden – ex-

24. Heinrichs, Hans-Jürgen: »Die geheimen Wünsche des Reisenden«, in: ders.: Der Reisende und sein Schatten. Städte & Landschaften, Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1990, S. 203-213, hier S. 211. 25. Das Embargo der Alliierten von 1915 kann als Voraussetzung, nicht aber als Garantie für den Aufstieg der deutschen Filmindustrie angesehen werden. Die vor Kriegsausbruch den deutschen Filmmarkt beherrschenden französischen, britischen oder italienischen Produktionen gelangen so nicht mehr in die Kinos. Allgemein läßt sich für die Kinowirtschaft im Wilhelminischen Reich eine Diskrepanz zwischen avancierter technischer Entwicklung (Simon Stampfer, Ottomar Anschütz, die Brüder Skladanowsky, Oskar Messter, Guido Seeber, die Agfa und Stollwerck) auf der einen Seite und der bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs lediglich zu 14 Prozent aus heimischer Produktion stammenden in Deutschland gezeigten Filme auf der anderen Seite feststellen, die Elsaesser als Zeichen eines ökonomischen Konservatismus deutscher Unternehmer wertet. [Vgl. Elsaesser, Thomas: »Das Weimarer Kino«, in: Nowell-Smith, Geoffrey (Hg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 130-142, hier S. 131.] 58

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emplarisch am Begriffspaar Orient-Okzident aufzeigbaren – Repräsentationspraxis, die große heterogene kulturelle Räume zu ausgedehnten homogenen Gebieten verschmelzen läßt.26 In freudiger Erwartung werden in diesen Filmen bereitwillig die »dumpfen Stuben«27 verlassen, wird der Aufbruch in die Welt in Szene gesetzt. Einzig an den Rändern der vermessenen Welt wird hier noch der Ort vermutet, an dem – wie Norbert Jacques in seinem Romanfragment Mabuses Kolonie schreibt – »man noch was zeigen (kann) von sich«28, an dem die sich selbst als Ausnahmemenschen betrachtenden Protagonisten ihre Erfüllung finden. Mit dem Aufbruch in die Welt flüchtet der nach Abenteuern dürstende Mensch letztlich auch vor der Stadt und der sie prägenden Massengesellschaft. In der Beurteilung der Großstadt als modernen Lebensraum par excellence sind sich bekanntermaßen sowohl Vertreter des Fortschrittsoptimismus wie der Kulturkritik in den vier Jahrzehnten um die letzte Jahrhundertwende einig. In dieser Zeit gilt dem großstädtischen Raum als paradigmatischem sozialem Funktionsensemble die besondere Aufmerksamkeit. Im ausgehenden 19. Jahrhundert stimmen beide Denkrichtungen bei divergierender Bewertung darin überein, daß in der Großstadt eine Zunahme an individueller Freiheit, ein rascher Wandel kollektiver Werte und Normen und die Entstehung einer anonymen Großstadtmasse unter dem Gesetz des Marktes zu verzeichnen ist. In Deutschland überwiegt jedoch deutlich die negative Einschätzung des Großstadtphänomens, die überdies auf die gesamte industrielle Moderne ausgedehnt wird. Dagegen gibt Miriam Hansen in einem Aufsatz über die unterschiedlichen, Modernekonzeptionen in den Stadttexten Siegfried Kracauers zu bedenken, daß Ausmaß der Moderne als Massenbewegung nicht unterschätzen. »[W]e also need to reconstruct the liberatory appeal of the ›modern‹ for a mass public – a public that was itself both product and casualty of the modernization process.«29

26. Nina Berman verweist beispielsweise unter Hinweis auf das Inhaltsverzeichnis des Publikationsorgans der 1845 gegründeten Deutschen Morgenländischen Gesellschaft auf die verschwommene Vorstellung, was unter dem Begriff des Orients zu rubrizieren sei. Hier finden sich »unter anderem Artikel über äthiopische Handschriften, arabische Schriftsteller, Sinologie, arabische Augenheilkunde und indische Handschriften.« [Berman: Orientalismus, Kolonialismus, S. 104.] 27. Jacques, Norbert: »Mabuses Kolonie oder N.J. sucht Kristina [Romanfragment, 1930]«, in: ders.: Mabuses Kolonie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 163-250, hier S. 198. 28. Ebd., S. 198. 29. Hansen, Miriam: »America, Paris, the Alps. Kracauer (and Benjamin) 59

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Bekanntermaßen sind diese Phänomene der Moderne zumal im Deutschland der Zwischenkriegszeit nicht wohl gelitten: »Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar […].«30 Nicht nur in völkisch-nationalen Kreisen31 klingt in diesem Aufbruchswunsch verhalten (oder deutlich) artikulierte Wehmut über die Folgen von Versailles an.32 Das Datum 1918 markiert eine zeitgeschichtliche Zäsur und steht in Deutschland nicht zuletzt auf dem Feld der Kinematographie gleichermaßen für einen Neubeginn wie für das Fortwirken von Kräften, deren Energiezentren weit vor diesem Datum liegen. Zumal in Deutschland ist der Film am Ende der Wilhelminischen Ära für weite Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit weiterhin jenes zweifelhafte Geschöpf einer gesellschaftlichen Entwicklung, der das Entstehen der modernen Massengesellschaft mit all den ihr zugeschriebenen Gefahren angelastet wird: der Moderne. Die Jahre der

on Cinema and Modernity«, in: Charney, Leo/Schwartz, Vanessa R. (Hg.), Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley: U of California P 1995, S. 362-402, hier S. 365. 30. [Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918-1922), München: dtv 1988, S. 45.] Zur Debatte um die Stellung Berlins in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in der zugespitzt im wesentlichen alle markanten Positionen zur Großstadt auch der vorherigen Jahrzehnte entfaltet sind, siehe Jochen Meyer. [Meyer, Jochen (Red.): Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930, Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1988.] Allgemein immer noch instruktiv zum Thema Friedrich Sengle. [Sengle, Friedrich: »Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur«, in: Studium Generale, Jg. 16, Nr. 10, 1963, S. 619-631.] Zur Bewertung der Großstadtphänomene in der beginnenden Soziologie vergleiche Ilja Srubar. [Srubar, Ilja: »Zur Formierung des soziologischen Blickes durch die Großstadtwahrnehmung«, in: Smuda, Manfred (Hg.), Die Großstadt als »Text«, München: Fink 1992, S. 37-52.] 31. Vgl. beispielsweise Grimm, Hans: Volk ohne Raum, München: Albert Langer 1926. 32. »Versailles hat uns die Kolonien genommen. Mabuses Erbe gibt uns eine zurück.« [Jacques: »Mabuses Kolonie«, S. 171.] Mit diesen Worten wird in Norbert Jacques’ Romanfragment die Suche nach Mabuses Hinterlassenschaft begründet. 60

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Weimarer Republik sind von Anbeginn durch die Erosion vertrauter Orientierungsmuster aus der Zeit der Wilhelminischen Ära bestimmt, die zu einer folgenschweren Desorganisation der Gesellschaft und der sie tragenden Kräfte führt. Dieser Zustand wird jedoch bereits in den ersten Kriegsjahren von vielen nicht als Destruktion einer vormals intakten Welt gesehen, sondern als notwendige Konsequenz einer seit langem andauernden, zerstörerischen Entwicklung verstanden. Die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918/19 lassen sich auch an den Unsicherheiten der offiziellen Kunst- und Kulturpolitik ablesen. Wenngleich die Förderung der Kinematographie nicht zu den primären Zielen der offiziellen Politik in der jungen deutschen Republik zählt, so beeinflussen die kulturpolitischen Diskussionen zur Frage einer nationalen Identität dennoch nachhaltig auch die Positionen deutscher Filmschaffender und der Filmkritik. »[A]ngesichts sozialer Not und nationalen Niedergangs« gehört die Forderung, Kunst und Kultur mögen sowohl »in sozialpolitischer als auch in nationalethischer Hinsicht«33 gesellschaftliche Verantwortung übernehmen – wie Winfried Speitkamp ausführt –, von Anbeginn zu den erklärten Zielen sozialdemokratischer Kunst- und Kulturpolitik. So kann etwa auf das Programm des sozialdemokratischen Kulturpolitikers Konrad Haenisch verwiesen werden, das Kulturpolitik sowohl in den Dienst eines holistischen Gemeinschaftskonzept stellt, als auch ein neues Nationalbewußtsein zu schaffen beabsichtigt, um auf diese Weise Deutschland im internationalen Wettbewerb eine bessere Position zu verschaffen. Dessen Konzept wertet Speitkamp jedoch nicht als restaurativ, sondern als behutsamen Versuch, »den politischen Untergang des Kaiserreichs kulturell zu kompensieren und die Basis für eine Wiederbelebung der Kulturnation Deutschland zu schaffen, die im Kreise der nationalen Kulturen einen eigenständigen Rang gewinnen sollte«.34 In der Frage der Schaffung einer neuen nationalen Identität wird der traditionsreiche Begriff der Kulturnation und des Volkes revitalisiert und neu legitimiert. Der parteilose, der Deutschen Demokratischen Partei nahestehende preußische Kulturpolitiker Carl Heinrich Becker führt hierzu Ende 1919 unmißverständlich aus: »Was wir zunächst brauchen, ist Be-

33. Speitkamp, Winfried: »›Erziehung zur Nation‹. Reichskunstwart, Kulturpolitik und Identitätsstiftung im Staat von Weimar«, in: Berding, Helmut (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 541580, hier S. 544. 34. Ebd., S. 547. 61

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wußtsein unserer selbst als Volk. Man kann die Aufgabe als Erziehung zur Nation umschreiben.«35 Becker zufolge soll gerade »die Pflege des Volksgedankens zur Überbrückung innerpolitischer Gegensätze«36 dienen. Auf dem Feld des Films rückt Oskar Kalbus ex post die im märkischen Sand und anderen ›weltläufigen‹ Orten spielenden frühen Weimarer Abenteuerfilme in den Kontext einer Suche nach nationaler Identität. »Man wollte nicht nur kostspielige Reisen ins Ausland sparen, man mußte auch das Nationalbewußtsein stärken und neu beleben, das gerade beim Deutschen in seiner Landschaft innig verwurzelt ist. […] Wir haben für jede Landschaft der Erde ein Fleckchen deutschen Bodens, der – geschickt aufgenommen – jede exotische Landschaft darzustellen imstande ist.«37 Obgleich diese Aussage von ihrem historischen Ort geprägt ist, so ist die immanente Logik bemerkenswert. Wenn schon die Welt infolge von Weltkrieg und Embargo – ein Umstand, den Kalbus unterschlägt – nicht mehr zur Verfügung steht, so können doch die dem Film zur Verfügung stehenden Mittel diesen Mangel kompensieren helfen. Mehr noch: mit der imaginären Verfügbarkeit über die Welt scheint bei Kalbus bereits ein Versprechen auf die Verfügbarkeit der realen Welt angelegt. Am Profil einer nationalen Identität wird nicht nur dort gearbeitet, wo in Filmen vom Typ eines Fridericus Rex (I-IV, 1922-23), der Nibelungen (I-II, 1924) oder Zur Chronik von Grieshuus (1925) explizit nationale Themen in Geschichte, Mythos oder Mär-

35. Becker, Carl Heinrich: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig: Quelle & Meyer 1919, S. 46f., zit. nach Speitkamp: »Erziehung zur Nation«, S. 541. 36. Becker: Kulturpolitische Aufgaben, zit. nach Speitkamp: »Erziehung zur Nation«, S. 550. 37. [Kalbus, Oskar: Vom Werden deutscher Filmkunst, 1.Teil: Der stumme Film, Altona-Bahrenfeld: Cigaretten-Bilderdienst 1935, S. 102.] Bevor Kalbus 1935 die angesprochene populäre Filmgeschichte im Hamburger ›Cigaretten-Bilderdienst‹ vorlegte, begleitete er den Weimarer Film als kompetenter Filmkritiker und nicht zuletzt in seiner Funktion als Direktor des Premierenkinos U.T. Kurfürstendamm, das er ab 1926 zu einem Reprisentheater machte. Wenngleich das Buch nicht frei ist von dem völkisch-nationalen Geist der Zeit, so finden sich jedoch vornehmlich im ersten, dem Stummfilm gewidmeten, Band erstaunlich differenzierte Bewertungen des Weimarer Filmschaffens. Siehe dagegen Heinz-B. Hellers Bewertung dieser Filmgeschichte. [Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 110.]. 62

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chen – noch dazu produziert oder verliehen vom einflußreichsten deutschen Filmkonzern, der Ufa, – aufgegriffen und gestaltet werden.38 Auch und gerade in den publikumsträchtigen Abenteuerfilmen wird deren Profilierung betrieben; wenngleich nicht so offensichtlich wie im Historienfilm mittels eines Rückgriffs auf geschichtlich bedeutungsvolle Zeiten – nach dem Muster ›wie wir wurden, was wir sind‹. Eric J. Hobsbawm hebt in seiner Studie Nationen und Nationalismus hervor, daß die Bedeutung moderner Massenmedien bei der Fabrikation nationaler Identität weniger auf gezielter Propaganda beruhe, sondern vielmehr in deren Fähigkeit zu sehen sei, »letztlich nationale Symbole zu einem Bestandteil des Lebens jedes einzelnen zu machen […]«.39 Wie Marc E. Lipiansky zum Konzept der ›Imagerie‹ nationalstaatlicher Identitätsbildung ausführt, greift demzufolge ein Repräsentationsverständnis zu kurz, das lediglich strukturelle Bezüge zur Gemeinschaft beachtet, deren Selbstbild man zu untersuchen beabsichtigt. Repräsentationen, die auf Identitätsbildung zielen, »s’élabore aussi dans une confrontation permanente à d’autres identités.« 40 Als relationaler Begriff leitet sich Nationalität von einem inhärenten System von Differenzen ab. »[N]ational identity is determined not on the basis of its own intrinsic properties but as a function of what is (presumably) its not.«41 Auch in neueren Ansätzen der vergleichenden Nationenforschung werden Nationen nicht mehr als naturale Gegebenheit aufgefaßt, sondern ihre »kulturelle und historische Konstitution«42 befragt. Bernhard Giesen konstatiert ungeachtet unterschiedlicher Forschungsansätze eine Übereinstimmung in der Perspektive, »nationale Identität als eine Konstruktion des Kollektiven im Spannungsfeld zwischen Kultur

38. Im Hinblick auf seine Kommentarfunktion zum »Verhältnis von Republik und Kaiserreich« schreibt Rainer Rother dem Aufgreifen des Preußenthemas im Film der Weimarer Republik symbolische Bedeutung zu. [Rother, Rainer: »Vom Kaiserreich bis in die fünfziger Jahre. Der deutsche Film«, in: ders. (Hg.), Mythen der Nationen. Völker im Film, München: Koehler & Amelang 1998, S. 63-81, hier S. 65.] 39. Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M., New York: Campus 1992, S. 167. 40. Lipiansky: »L’imagerie«, S. 276. 41. Parker, Andrew, u. a.: »Introduction«, in: dies. (Hg.), Nationalisms and Sexualities, New York: Routledge 1992, S. 1-20, hier S. 5. 42. Giesen, Bernhard: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 9-18, hier S. 12. 63

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und Politik«43 zu betrachten und sich gegen jegliche Substantialisierung nationaler Zugehörigkeit auszusprechen. Benedict Anderson behauptet in der Ausgangsthese seiner einflußreichen Studie zum konstruktiven Charakter nationaler Identitätsbildung, »that nationality […] as well as nationalism, are cultural artifacts of a particular kind.«44 Die Nation ist eine »imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign.«45 Ausdrücklich in Opposition zu einem vorschnell formulierten Ideologieverdacht gegen das Konzept der Nation versteht Anderson auf einer basalen Ebene alle Gemeinschaften, die größer als die Urhorde sind, als imaginierte und folgert: »Communities are to be distinguished, not by their falsity/genuineness, but by their style in which they are imagined.«46 John Hartley greift Andersons Überlegungen auf und gewinnt daraus eine Perspektive, die die Konzeption eines nationalen Publikums problematisiert. »Audiences may be imagined empirically, theoretically, or politically, but in all cases the product is a fiction which serves the needs of the imagining institution. In no case is the audience ›real‹, or external to its discursive construction. […] [A]udiences are only ever encountered per se as representations.«47 Der konstruktive Charakter setzt sich somit auf der Ebene ›nationaler‹ Untersuchungseinheiten fort und bleibt nicht nur in den meisten Studien zu nationalen Kinemato-

43. Ebd., S. 13. 44. [Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1993, S. 4.] Obgleich Andersons Untersuchung in deutscher Übersetzung vorliegt, zitiere ich aufgrund der Qualität der Übersetzung, die wichtige Nuancierungen und Konnotationen übergeht, das englische Original. Die Textstellen der deutschen Ausgabe im folgenden lediglich summierend ohne detaillierten Nachweis als Verweis: »Nationalität […] und gleichermaßen Nationalismus (sind) kulturelle Produkte einer besonderen Art.« Die Nation ist eine »vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.« »Gemeinschaften sollten nicht durch ihre Authentizität voneinander unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden.« Für Anderson sind Nationen deshalb imaginiert, »weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals Kennen, ihnen niemals begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.« [Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin: Ullstein 1998, S. 13-15.] 45. Anderson: Imagined Communities, S. 6. 46. Ebd., S. 6. 47. Hartely, John: »Invisible Fictions. Television Audiences, Paedocracy, Pleasure«, in: Textual Practice, Jg. 1, Nr. 1, 1987, S. 121-138, hier S. 125. 64

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graphien gemeinhin unhinterfragt. Nationalkulturen sind, wie Stuart Hall ausführt, »composed not only of cultural institutions, but of symbols and representations. A national culture is a discourse […]. National cultures construct identities by producing meanings about ›the nation‹ with which we can identify […].«48 Der Diskurs nationaler Kulturen konstruiert Stuart Hall zufolge Identitäten, die ambivalent zwischen Vergangenheit und Zukunft plaziert werden. Mithin sollten Nationalkulturen nicht als einheitliche gedacht werden, sondern als »constituting a discursive device which represents difference as unity or identity.«49 Damit seien alle Identitäten in einem symbolischen Raum und in einer symbolischen Zeit situiert und hätten in Edward W. Saids Worten eine »imaginäre Geographie«.50 Bezieht man die eben skizzierte Problematik auf den Diskurs über die Stellung des deutschen Films, so lassen sich auch hier alle Merkmale finden, die Harold James als Charakteristika nationaler Identitätsbildung herausgearbeitet hat. »Partly they [die Deutschen, W.K.] relied on the rejection of some types as ›alien›: defining Germans in opposition to other peoples, Frenchmen, or Russians. But the German quest for identity also required the absorption of foreign models into German life. […] Imaginative projections of other national types helped Germans to decide who they were.«51 Die über den gesamten Zeitraum der Republik debattierten Fragen des Filmstils, die Suche nach nationaltypischen Sujets und die unter besonderer Betonung handwerklicher Qualität gepriesene Filmproduktion, in denen fortwährend mit relationalen Eigen- und Fremdbildern operiert wird, profilieren diese Imagines auf subtile und wirkungsmächtige Weise. Bei der Suche und im Prozeß der Fabrikation einer nationalen Identität übernimmt die Kinematographie nicht nur auf der Ebene der Filmbilder eine wichtig Rolle. Die Ufa geriert sich – wie Karl Prümm anhand eines das Jahresprogramm 1925/26 ankündigenden Werbetextes des Ufa-Katalogs hervorhebt – als »nationales Kulturzentrum, das überall deutscher

48. Hall, Stuart: »The Question of Cultural Identity«, in: Thompson, Kenneth (Hg.), Modernity. An Introduction to Modern Societies, London: Blackwell Publishers 1996, S. 595-634, hier S. 613. 49. Ebd., S. 617. 50. Vgl. ebd.,S. 620. 51. James, Harold: A German Identity 1770-1990, New York: Routledge 1989, S. 11. 65

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Wertarbeit ›Ansehen und Achtung‹ verschafft.«52 Sorgen um das eigene Erscheinungsbild in der Welt macht sich etwa Hans Siemsen, der im Querschnitt nach dem Bild fragt, »das der deutsche Film von Deutschland gibt«.53 Daß Siemsen in bekannt überspitzter Manier hier nichts Gutes zu entdecken weiß, ist nicht weiter verwunderlich. Den Stil des deutschen Films macht er als den »des verflossenen Kaiserreichs« aus. »[E]in aufgedonnertes Pomposo. Vom ›Weib des Pharao‹ bis zum ›Friedericus Rex‹ [sic!] eine einzige ›Siegesallee‹. […] Und die Höhe des Gefühls, der Gipfel der Kunst ist die dreimal heilige Massenszene, der verschämte Ersatz für die heissgeliebte Kaiserparade.«54 Ein Kristallisationspunkt dieser Diskussionen läßt sich in zeitlicher Nähe zur Währungsreform (16.11.1923) ausmachen, die mit dem sich ankündigenden Ende der Inflation für die exportorientierte Filmindustrie den Verlust ihres strategischen Wettbewerbsvorteils bedeutet und somit erneut die Frage nach der Stellung und Entwicklung der deutschen Filmproduktionen aufkommen läßt.55 So fragt sich beispielsweise Paul Ickes rhetorisch, ob man sich »dem Geschmacks- und Gewohnheitsdiktat Englands und Amerikas beugen«56 müsse und warnt »bei einem blinden Gehorsam dem englischen Geschmack gegenüber vor einer gefahrdrohenden Nivellierung der deutschen Bild- und Filmkonzeption«. Er wendet sich gegen die vermeintlich servile Haltung der Filmindustrie und macht sich für ein Festhalten an den eigenen »kulturellen Voraussetzungen«, für das »abweichende Moment […] in unserm Volkstum« stark. Deshalb fordert er von der Industrie mehr Vertrauen in den »Wert des Individuums«, »Bekenntnismut und Beharrlichkeit auf der Grundlage, die nun einmal der unveräußerliche Besitztum einer

52. Prümm, Karl: »Empfindsame Reisen in die Filmstadt«, in: Jacobson, Wolfgang (Hg.), Babelsberg. 1912 Ein Filmstudio 1992, Berlin: Argon 1992, S. 117134, hier S. 118. 53. Siemsen, Hans: »Deutsches Kino«, in: Der Querschnitt, Jg. 1, Nr. Weihnachtsheft, 1922, S. 193. 54. Ebd. 55. Die Bedeutung dieser Diskussion läßt sich an der im selben Jahr erscheinenden, von Hugo Zehder herausgegebenen, Textsammlung Der Film von morgen ablesen, in der eine Vielzahl bekannter Filmkritiker den ästhetischen Stand deutscher Filmproduktionen analysieren und auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten hin weiterdenken. [Vgl. Zehder, Hugo (Hg.): Der Film von morgen, Berlin, Dresden: Rudolf Kaemmerer 1923.] 56. [Ickes, Paul: »Die ›allzu penible Dramaturgie‹«, in: Der Film-Kurier, Jg. 5, Nr. 107, 09.05.1923, o.P.] Folgende Zitate aus diesem Text. 66

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jeden Nation ist.« Im selben Jahrgang des Film-Kuriers legt Herbert Lewandowski dar, worin Die Seele des deutschen Films zu sehen sei, indem er zunächst völkerpsychologistisch behauptet, die Angelsachsen scheinen »das, was die deutsche Seele auszeichnete, verloren zu haben: ›Die Tiefe des Gefühls und die Verinnerlichung des seelischen Lebens‹«.57 Den »Ausdruck des deutschen Seelenlebens« sieht der Autor zum ersten Mal in Wegeners Der Student von Prag adäquat umgesetzt. In Lewandowskis Aufsatz fehlt keiner der heute den ›Höhenkamm‹ Weimarer Filmkunst bildenden Filme, für den Golem jedoch findet er lobende Worte gleichsam ›faustischen‹ Ausmaßes. Die »phantastische, okkulte« »Welt skurriler Gestalten und grotesker Figuren« im Stil E.T.A. Hoffmanns wird als die eigentliche Inspirationsquelle des deutschen Films ausgemacht, aus deren Geist eine »›Filmdichtung‹ von monumentaler Geschlossenheit« entstehen kann, die jedoch nur durch eine »gewaltige künstlerische Persönlichkeit« garantiert zu sein scheint. Heinz Michaelis bedient sich auf der Suche nach dem Wesen der »Sendung des deutschen Films«58 und den »Stärken des Deutschtums« des amerikanischen Gegenbildes. »Die Sentimentalität des amerikanischen Films ist nicht angeschminkt, sondern ist eine spezifische Eigenart dieses Landes«, erfährt der geneigte Leser. Von den Amerikanern könne man jedoch

57. [Lewandowski, Herbert: »Die Seele des deutschen Films«, in: Der Film-Kurier, Jg. 5, Nr. 163, 16.07.1923, S. 3. Folgende Zitate aus diesem Text.] Die Frage nach den Spezifika deutscher Kultur und nationaler Identität seit 1806 bleibt bekanntermaßen eine offene und – besonders in Zeiten, die unter dem Zeichen der Krise stehen – eine kontrovers diskutierte. [Vergleiche beispielsweise Kleist, Heinrich v.: »Katechismus der Deutschen abgefaßt nach dem Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München: Hanser 1952, S. 367-38; Wagner, Richard: »Was ist Deutsch?« in: ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 10: Bayreuth. Späte weltanschauliche Schriften, Frankfurt/M.: Insel 1983, S. 84-103; Adorno, Theodor W.: »Auf die Frage: ›Was ist Deutsch?‹«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichwort. Anhang, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 691701.] 58. [Michaelis, Heinz: »Was wir von Amerika lernen können«, in: Der Film-Kurier, Jg. 5, Nr. 261, 28.11.1923, S. 3. Folgende Zitate aus diesem Text.] An den Aufsätzen von Michaelis läßt sich das oftmals Tentative der Suche nach den Spezifika deutscher Filmproduktionen ablesen. Lediglich einen Monat später, wahrscheinlich unter dem Eindruck von Ludwig Bergers Aschenputtel-Adaption Der verlorene Schuh, der überwiegend enthusiasmierte Rezensionen erfährt, sieht der Autor die Zukunft des deutschen Kunstfilms darin, »mit den spezifischen Mitteln des Films romantische Stoffe lebendig zu machen« [Michaelis: »Weg«.] 67

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»den Mut zu sich selbst« lernen. Die »Wurzeln des idealen Deutschtums« sind dem Autor zufolge im Realismus zu sehen, der aber nicht als abbildend verstanden wird, sondern nichts Geringeres als das »Wesentliche der realen Welt«, »[n]icht Wirklichkeit, sondern Wahrheit« zum Ziel habe. Ohne den Rückgriff aufs Fantastische kommt auch Michaelis nicht aus: »[D]ie Mission des deutschen Films« sei, »die Phantastik des modernen deutschen Lebens zu gestalten«. Darüber hinaus werden besonders auf der Suche nach einer spezifisch deutschen Filmkunst, die die Weimarer Filmpublizistik von Anbeginn beschäftigt, Selbstbilder entworfen, mit deren Hilfe die Kinematographie mit dem kulturellen Erbe verbunden wird. So lobt ein begeisterter Rezensent von Der müde Tod, daß dieser Film etwas bislang unerreichbar Geglaubtes erreicht habe: »[D]ie schlichte, echte Innigkeit, wie sie das deutsche Lied birgt – diese ist es, die in diesem Film webt. Diese ist es, die den ›Müden Tod‹ – weit über seine vielbesprochenen Qualitäten in äußerer Hinsicht – zum Markstein im Filmwesen macht. […] Der Stoff ist umwittert von dem Weihrauch altdeutscher Mystik, wie Jakob Böhme, Andreas Gryphius sie erfühlten«.59

Rekonstruktion historischer Mentalitäten. Anmerkungen zu einem methodologischen Problem »Wir sind aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus.« 60 Es findet sich kaum eine umfangreichere Studie zur Weimarer Filmgeschichte, die ohne die Rede über eine die Republik charakterisierende Mentalität auskäme. Bisweilen kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, als habe die Beschäftigung mit einem populären – überdies mit Formen des Unbewußten wie beispielsweise dem Traum korrelierten – Phänomen wie dem Kino gleichsam eine ›natürliche Affinität‹ zu mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen. In so vielen historiographischen Fragestellungen zur Kinematographie dieser Zeit scheint man den Schatten der Caligari-Studie Siegfried Kracauers zu spüren. Dies ist Anlaß genug, sich im folgenden in gebotener Kürze, mit der Konzeption der Mentalitätsforschung und deren problematischen Implikationen zu beschäftigen. Kracauers so häufig gescholtener – weiterhin wirkungsmäch-

59. Anonym: »Müde Tod, Der«, in: Münchner Filmkurier, 6.11.1921. 60. Novalis (d.i. Friedrich v. Hardenberg): Schriften, Bd. 2: Das philosophische Werk I, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1965, S. 649. 68

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tiger – mentalitätsgeschichtlicher Ansatz im Caligari-Buch ist noch von dem sehr umfassenden Anspruch geprägt, der (unreflektierten) Mentalität einer ganzen Nation mit Hilfe einer filmhistorischen Untersuchung auf die Spur zu kommen.61 Dennoch ist es beispielsweise für Thomas Koebner »allzu voreilig, einen schroffen Gegensatz anzunehmen zwischen den Inhalten des Bewußtseins und den vorgeblich verdrängten Inhalten des Unbewußten. Vielleicht äußert sich ›Kollektivmentalität‹ nicht nur in der Repräsentation uneingestandener Komplexe, sondern auch in der bewußt eingestandenen Abhängigkeit von Leit- und Sinnbildern.«62 Im Anschluß an diese differenzierte Betrachtung der Kracauerschen Position stellt Koebner in eher schematischer Weise dessen filmhistorische Konzeption der des Kunsthistorikers Erwin Panofsky gegenüber und betont, Kracauer nehme eine »gemeinsame Matrix an Interessen, Haltungen, Bildinventaren, Denkformeln«63 an, die von Filmschaffenden wie Publikum gleichermaßen geteilt würden. Weiterhin gehe er von dem Modell eines »weitgehend unbewußt schaffenden Menschen«64 aus, der »mit jedem kreativen Akt im Grunde dem Diktat einer Kollektivmentalität«65 gehorche. Demgegenüber finde sich bei Panofsky »die Idee von höchst kenntnisreichen und selbstreflexiven ›Artisten‹, die in ihren Werken einen viel größeren Bedeutungshorizont anlegen, als ihn das Publikum überhaupt wahrnimmt.«66 Begreift man jedoch Individualität – sowohl des einzelnen Artefakts als auch seines/r Produzenten – und Kollektivität nicht als Gegensätze, so ist »im Zentrum des Individuellen selbst Kollektives zu entdecken« 67, wie Pierre Bourdieu in seiner Auseinandersetzung mit Panofskys Gothic Architecture and Scholasticism ausführt. Dieses Kollektive müßte jedoch im Sinne der an-

61. Obgleich Kracauer sein Mentalitätskonzept nachdrücklich historisiert, geht er dennoch von einem Phänomen im Singular aus. 62. Koebner, Thomas: »Eine Bildnisgalerie der deutschen Filmgeschichte. Einleitung«, in: ders. (Hg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München: edition text + kritik 1998, S. 9-21, hier S. 11. 63. Ebd., S. 11. 64. Ebd. 65. Ebd. 66. Ebd. 67. Bourdieu, Pierre: »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis (1967)«, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 125-158, hier S. 132. 69

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gelsächsischen attitude of mind als Habitus, Vorstellungswelt sowie Verhaltensformen verstanden werden und nicht etwa als kollektives Unbewußtes, das in C. G. Jungs Archetypenlehre als sich in Träumen äußernde mémoire involontaire gedacht wird. Koebners Ressentiment gegen den Mentalitätsbegriff scheint von der inzwischen weitgehend als simplifizierend abgelehnten mentalitätsgeschichtlichen Position Braudels geprägt, derzufolge Mentalität gleichsam vergegenständlicht als ein ›Gefängnis‹ verstanden wird. Produktiver als ein schroffes Entweder-Oder erscheint ein Ansatz, der von Berührungspunkten und Kreuzungen zwischen Autoren- und Mentalitätskonzept ausgeht und somit versucht, sowohl die Scylla eines – insbesondere in bezug auf das kollektive kinematographische Produktionsverfahren – fraglichen ästhetischen Konzepts als auch die Charybdis einer kruden, ›inhaltistischen‹ Filminterpretation zu umschiffen. Hartmut Winkler beschreibt die Verbindung von individuellen und kollektiven Vorstellungen im Anschluß an die Theorie von Maurice Halbwachs als Verschränkung eines Prozesses beispielsweise eines Ideensystems, von Konventionen oder Sprache, der aus Daseinsvollzügen, gelebten Traditionen und Erinnerungen mit einer Struktur bestehe. Dies geschehe »auf doppelte Weise: der Fluß der Ereignisse schreibt sich in die Struktur des kollektiven Gedächtnisses ein, verdichtet sich dort, staut sich hoch und wird umgeformt zu einem synchronen System gesellschaftlicher Überzeugungen und Institutionen. Und umgekehrt schreibt die Struktur des kollektiven Gedächtnisses in die Denkprozesse und die Daseinsvollzüge der Individuen zurück, die bildet das Milieu, in dem alle aktuellen Prozesse sich abspielen, und geht als ein System von Voraussetzungen in jedes aktuelle Sprechen und Denken ein.«68 Die Erforschung historischer Mentalitäten als eine Geschichte ›von unten‹ gerät in der Zwischenkriegszeit nicht nur bei Vertretern der französischen ›Nouvelle histoire‹ im Umkreis der 1929 gegründeten Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale, sondern auch diesseits des Rheins in den Fokus wissenssoziologischen Interesses. Als wissenschaftlicher Terminus wird der Begriff zunächst von Emile Durkheim und nach dessen Tod 1917 von seinen Schülern in den 20er Jahren etabliert. Der Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl beschäftigt sich in seiner 1923 unter dem Titel La mentalité primitive erschienen Analyse sogenannter ›primitiver Gesellschaften‹ an zentraler Stelle mit dem Mentalitätskonzept. Über den Umweg der

68. Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 99f. 70

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Beschäftigung mit fremdkulturellen Phänomenen wird zunehmend die Frage bedeutungsvoll, in welcher Weise ein weitgehend diffuses Phänomen wie Mentalität auch im eigenkulturellen Zusammenhang an Prozessen der Sinngenerierung beteiligt ist und wie es zu erforschen sei. Nicht zuletzt die Studien der bedeutenden, ebenfalls dem Durkheim-Kreis angehörenden, Anthropologen Marcel Mauss, Claude Lévi-Strauss und Roger Caillois haben in der Folge dazu beigetragen, vielfältige kulturwissenschaftliche Anschlußmöglichkeiten des Mentalitätsbegriffs aufzuzeigen. Im Anschluß an Georges Duby kann Mentalitätengeschichte als eine programmatische Suchanweisung nach mentalen Dispositionen historischer Epochen verstanden werden. Forschungsgegenstand sind dabei die »Begriffe (›l’outillage mental‹, das geistige Werkzeug), mit denen sie ihre Weltdeutungen sprachlich ausdrücken, die Institutionen und Praktiken, mittels welcher die jeweiligen kulturellen Deutungs- und Wertesysteme zwischen den Generationen vermittelt werden – also Erziehung im weitesten Sinn – sowie Mythen und Glaubensvorstellungen aller Art (›représentations collectives‹).«69 In der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung der Weimarer Republik begreift der Braunschweiger Soziologieprofessor Theodor Geiger Mentalität als eine »geistig-seelische Disposition«.70 Für ihn ist Mentalität »unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen«.71 Wenngleich die Stoßrichtung von Geigers Kritik vornehmlich gegen den Ideologiebegriff Karl Mannheims gerichtet ist72, so verraten die dafür verwandten Metaphern die mit dem Mentalitätsbegriff verbundenen Hoffnungen: »Mentalität ist […] Atmosphäre – Ideologie ist Stratosphäre. Mentalität ist eine Haut – Ideologie ist ein Gewand.«73 Die meteorologische und organizi-

69. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 225. 70. Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart: Ferdinand Enke 1932, S. 77. 71. Ebd., S. 77 72. »Der Lehre Mannheims von der notwendigen Seinsverbundenheit alles Denkens suchte er [Geiger, W.K.] dadurch zu begegnen, daß er zwischen die ›Realfaktoren‹ und die Ideologie als ›Zwischenglied‹ die Mentalität im Sinne der gesellschaftlich bedingten ›Befangenheit‹ oder der ›intellektuellen Gesinnung‹ einschob.« [Sellin, Volker: »Mentalität und Mentalitätsgeschichte«, in: Historische Zeitschrift, Nr. 241, 1985, S. 555-598, hier S. 582.] 73. Geiger: Die soziale Schichtung, S. 78. 71

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stische Betrachtungsweise des Gesellschaftlichen legt die deutliche Prägung durch lebensphilosophisch inspirierte Denkfiguren offen, sie drückt aber darüber hinaus die Erwartung aus, mit dem Ergründen der Mentalität dem historischen Menschen näher als mit Hilfe der traditionellen ›Hi(gh)story‹ zu kommen, die sich vornehmlich auf ereignisgeschichtliche Fakten und einmalige politische Zäsuren konzentriert. Diese Hoffnung ist freilich nicht auf die Zwischenkriegszeit beschränkt. Auch für heutige Mentalitätshistoriker bedeutet das Mentale eine »primäre Öffnung zur und für Welt, die allerdings bereits eine Kontur, eine Figuration, ein pattern aufweist.«74 Wenngleich die Unterscheidung in Primäres und Sekundäres – in erste und zweite Ordnung – problematisch erscheint, da hierdurch eine ›natürliche‹ Sphäre unterstellt wird, in der der Mensch gleichsam unreflektiert lebt, so liegt das Verdienst der mentalitätsgeschichtlichen Perspektive darin, Alltagshandlungen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu rücken. »[T]ausend Einzelheiten des Alltagslebens bilden im Ensemble den Typ des Lebensduktus und dieser ist Ausdruck der Mentalität.«75 Somit trägt dieser Ansatz dazu bei, der Konzentration historischer Forschungen entweder auf Manifestationen der Geistesgeschichte oder auf die der Sozialgeschichte ein notwendiges Korrektiv an die Seite zu stellen.76 Oftmals formulieren mentalitätsgeschichtliche Forschungen ihr Erkenntnisziel in der hermeneutischen Aufdeckung vorwiegend unreflektierter, als latent angenommener Verhaltensdispositionen. Mentalitätsgeschichte geht es nicht, wie Michael Erbe ausführt, um »bewußtes Agieren und Reagieren, sondern um unbewußte Einstellungen, die Verhaltensweisen mit steuern und bestimmen. Es geht also um Einstellungs- und Verhaltensformen aufgrund tiefer ver-

74. Raulff, Ulrich: »Vorwort. Mentalitäten-Geschichte«, in: ders. (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin: Wagenbach 1987, S. 7-17, hier S. 10f. 75. Geiger: Die soziale Schichtung, S. 80. 76. Nicht unerwähnt bleiben soll, daß einige Mentalitätshistoriker dazu neigen, sich als Vertreter einer Königsdisziplin zu gerieren. Peter Dinzelbacher behauptet beispielsweise, daß »Ideen- und Geistesgeschichte […] als Hilfswissenschaften für die Mentalitätshistorie [fungieren]«. [Dinzelbacher, Peter: »Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte«, in: ders. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart: Kröner 1993, S. XV-XXXVII, hier S. XXVII.] Werden jedoch die einzelnen Beiträge des von Dinzelbacher herausgegebenen Readers an dem selbst gestellten Anspruch einer histoire totale gemessen, so kann man sich des Eindrucks von ›altem Wein in neuen Schläuchen‹ nur schwer erwehren. 72

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wurzelter, weitgehend unreflektierter Handlungsantriebe.«77 Mit der Absicht, psychische Einstellungen gesellschaftlicher Gruppen gegenüber den mannigfaltigen Zeit- und Lebensumständen zu erforschen, mit denen diese sich konfrontiert sehen und auseinanderzusetzen haben, stellt sich das Problem, daß sich Dispositionen gemeinhin erst in dem Moment fassen lassen, in dem sie sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken manifestieren und damit potentiell der historischen Interpretation zugängliche Spuren hinterlassen. Selbst wenn Mentalität und bewußte Reflexion in Form eines wechselseitigen Spannungsverhältnisses begriffen wird, das die Handlungsweise – sei es verbal, mimisch-gestisch oder schriftlich – beeinflußt, so muß Mentalitätsgeschichte dennoch mit einer gewissen doppelten Unschärfe rechnen. »Wenn nämlich die Mentalität einer wie immer definierten menschlichen Gruppe aus dem Erfahren von Umwelteinflüssen resultiert, so mögen Denken und Tun, damit die geistigen Beweggründe und die Handlungsweisen dieser Gruppe quellenmäßig gut belegt sein, die Dimension des unreflektierten Handlungsantriebs kennt man dagegen aber meistens kaum.«78 Georges Duby führt zum Projekt der Mentalitätsgeschichte aus, daß Menschen ihr Verhalten im Verhältnis zu einem Bild regeln, das sie sich von ihren realen Lebensumständen machen. »Ils s’efforcent de la [das Bild, W.K.] conformer à des modèles de comportement qui sont le produit d’une culture et qui s’ajustent tant bien que mal, au cours de l’histoire, aux réalités matérielles.« 79 Duby bestimmt somit die Beziehung von Verhalten und Wirklichkeit als bildhafte Vermittlung.80

77. Erbe, Michael: »Mentalitätsgeschichte. Zur Erforschung des Einwirkens von Erfahrungsmustern auf die Wirklichkeit«, in: Brunn, Gerhard/Reulecke, Jürgen (Hg.), Berlin. Blicke auf die deutsche Metropole, Essen: Reimar Hobbing 1989, S. 1327, hier S. 14f. 78. Ebd., S. 16. 79. Duby, Georges: Des sociétés médiévales. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 4 décembre 1970, Paris 1971, S. 10, zit. nach Oexle, Gerhard: »Die ›Wirklichkeit‹ und das ›Wissen‹. Ein Blick in das sozialgeschichtliche Oeuvre von Georges Duby«, in: Historische Zeitschrift, Nr. 232, 1981, S. 61-91, hier S. 61. 80. Neben seiner Konzentration auf die den Mentalitäten zugrundeliegenden attitudes mentales konzentriert sich Duby auf die Erforschung des Teils »de l’imaginaire dans l’évolution des sociétés humaines« [Duby, Georges: »Histoire sociale et idéologies des sociétés«, in: Le Goff, Jacques/Nora, Pierre (Hg.), Faire de l’hi73

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Mentalitätsgeschichte – oder besser Mentalitätengeschichte – operiert demnach im Modus des Indirekten, medial Vermittelten und geht davon aus, daß mittels der in einer Kulturgemeinschaft verbreiteten Verhaltensmuster und Ausdrucksformen kollektiven Befindlichkeiten auf die Spur zu kommen sei. Die Wirkungspotentiale kollektiver Mentalitäten – so die Annahme – sedimentiert sich in Vorstellungsbildern und den charakteristischen kulturellen Artefakten historischer Epochen. Aus heutiger Perspektive sind es vornehmlich die Krisenmomente, denen mentalitätsgeschichtlich besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im Anschluß an die Forschungen Ariès’ geht man davon aus, daß sich in solchen Zeiten verschiedene Zeitrhythmen und Zeitordnungen überlappen und somit Verwerfungslinien besser erkennen lassen. Die Mentalitätsgeschichte untersucht neben den Umgangsformen des Alltags soziale Praktiken und volkstümliche Gebräuche, um den aus kognitiven, intellektuellen und psychischen Dispositionen sowie Denkfiguren bestehenden, heterogenen Gebilden auf die Spur zu kommen, die die partiell unbewußten, zeit- und gruppenspezifischen Mentalitäten formieren. Im Gegensatz zur klassischen Geistesgeschichte werden mit diesem Ansatz Wechselwirkungen und Verflechtungen von Elitekultur und Volkskultur betrachtet, ohne die eine gegenüber der anderen eindeutig zu präferieren. Im Rahmen meiner Arbeit, kann es nicht darum gehen, mittels der Beschreibung von Repräsentationsverfahren des Anderen in der Weimarer Republik gleichsam im Rückschluß die Mentalität der Zeit zu rekonstruieren. Die moderne, plurale Gesellschaft läßt sich sicherlich nicht unter nur einer Mentalität subsumieren. Mentalitätsgeschichtlich inspirierte Fragestellungen öffnen jedoch ungeachtet der oben skizzierten problematischen Implikationen den Blick für diskursive und imaginär-ästhetische Produktionsformen kulturellen Wissens gerade der Kommunikationsformen des Alltags, ohne diese als bedeutungslose Projektionen zu desavouieren.

stoire, Paris: Gallimard 1974, S. 147-168, hier S. 168, zit. nach Oexle: »Die ›Wirklichkeit‹«, S. 63.] einer noch zu schreibenden Histoire de l’imaginaire. 74

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VERLUSTERFAHRUNGEN ODER SUCHBILDER DER ORDNUNG

Abenteuerliche Topographien und fantastische Wirklichkeiten Das Weimarer Kino im Spannungsfeld von Publikums- und Autorenfilm Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte und so können nicht nur für die die zeitgeschichtlichen Ereignisse bestimmenden Strukturen der Weimarer Republik vielfältige Bezüge zur Vorkriegszeit hergestellt werden, auch die Wurzeln der um den Film geführten Debatten reichen in die Wilhelminische Ära zurück. Die Diskussion um die Entwicklung des deutschen Films verläuft im wesentlichen im Spannungsfeld des am Massengeschmack orientierten Genrekinos und dem im Verhältnis zur gesamten Produktion zahlenmäßig weitaus unterrepräsentierten anspruchsvollen, expliziten Kunstkinos. Kulturgeschichtlich ist das Kino auch nach dem Weltkrieg anhaltendem Mißtrauen großer Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgesetzt, das sich nicht zuletzt an den Diskussionen um die Zensur und die Vergnügungssteuer ablesen läßt. In dieser Atmosphäre wird auch von Seiten der etablierten Filmindustrie nach Wegen gesucht, ihre Produkte im öffentlichen (oder in den meinungsprägenden Printmedien veröffentlichten) Bewußtsein zu nobilitieren, ohne aber die Orientierung an massenmedialer Verwertbarkeit gänzlich aus den Augen zu verlieren. Verächtlich-feindliche Charakterisierungen, wie die von Carl Einstein, der sich im ›Kintopp‹ »geradezu schmerzhaftem Blödsinn […] atavistische[r] Kindereien«1 ausgesetzt sieht, zeigen dessen ungeachtet eine gewisse Kontinuität. Wie Thomas Elsaesser anmerkt, mußte kein anderes Kino »mit einem so feindseligen gebildeten Publikum fertig werden wie die deutsche Filmproduktion in den 20er Jahren«.2 Wie an einer zeitgenössi-

1. Einstein, Carl: »Die Pleite des deutschen Films«, in: Der Querschnitt, Jg. 1, Nr. Weihnachtsheft, 1922, S. 191-192, hier S. 191. 2. Elsaesser, Thomas: »Zwischen Filmtheorie und Cultural Studies. Mit 75

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schen Bemerkung abzulesen ist, stand das Medium selbst in der heute als Blütezeit der deutschen Kinematographie geltenden Periode immer unter dem Erfolgsdruck, »den Beweis zu erbringen, daß der Film in kultureller Beziehung vielerlei zu bieten hat«.3 So fungiert auch das Etikett expressionistischer Film letztlich als ein Qualitätsmerkmal, das beispielsweise einen Film wie Das Cabinet des Dr. Caligari von den despektierlich als ›Massenware‹ bezeichneten Filmen unterscheidet. Infolge der Werbekampagne und der nachfolgenden Rezeption wird Das Cabinet des Dr. Caligari jedoch seinerseits zu einem Markennamen4, der in Analogie zu den vielen, den deutschen Film der Zeit bevölkernden Schemen nun fortan seinerseits in der Filmgeschichte gewissermaßen ein Eigenleben zu führen beginnt. Will man die zeitgenössischen Repräsentationen des Anderen in den Blick bekommen, so wäre die Fokussierung auf nur einen Strang der Filmentwicklung jedoch eine zu starke Einschränkung der Sicht. Nur miteinander ergeben beide Entwicklungen ein konturiertes Bild und bilden wie Schuß- und Kettfäden gemeinsam das Gewebe, aus dem die ›dämonische Leinwand‹ besteht. Im folgenden sollen nun in aller Kürze einige Etappen der in den 10er und 20er Jahren geführten Debatten um die Stellung der Kinematographie skizziert werden, damit die im Zusammenhang der problemorientierten Analyse einzelner Filmsequenzen dieser Arbeit herangezogenen zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse auf ihren kulturgeschichtlichen Rahmen bezogen werden können. Der die Debatten auslösende Klärungs- und Definitionsbedarf 5 entsteht, als die Kinomaschine mit ambitionierten, an Literatur und Theater orientierten sogenannten ›Autorenfilmen‹ in die Sphäre der Ästhetik einzubrechen droht. Mit dieser Entwicklung spielt die Auseinandersetzung um die Frage nach der mit dem Kino verbundenen gesellschaftlichen Praxis eine zunehmend wichtigere Rolle und wird

Kracauer (noch einmal) im Kino«, in: Koebner, Thomas (Hg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München: edition text + kritik 1997, S. 22-40, hier S. 37. 3. Anonym: »Die Geschichte [sic!] des Prinzen Achmed«, in: Der Kinematograph, Nr. 1003, 9.5.1926, S. 14. 4. Vgl. Budd, Michael: »Authorship as a Commodity: The Art Cinema and THE CABINET OF DR. CALIGARI«, in: Wide Angle, Jg. 6, Nr. 1, 1984, S. 12-19 sowie Budd, Mike: »The Moments of CALIGARI«, in: ders. (Hg.), The Cabinet of Dr. Caligari. Texts, Contexts, Histories, New Brunswick, London: Rutgers UP 1990, S. 8-119, hier S. 22f. 5. Vgl. dazu Prümm: »In der Hölle – im Paradies der Bilder. Medienstreit und Mediengebrauch«, S. 54. 76

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mit aller Schärfe öffentlich debattiert. Zu dem Zeitpunkt, als sich das Kino in der großstädtischen Kultur zu etablieren beginnt und langsam seiner Herkunft als billiges, spektakuläres Jahrmarktsvergnügen entwächst, hatte sich die Rolle der literarischen Intelligenz in der Gesellschaft jedoch bereits grundlegend gewandelt. Die bürgerliche Literatur befindet sich in der Zeit um die letzte Jahrhundertwende, in der die klassisch liberale bürgerliche Öffentlichkeit bereits zerfallen war, mitten in einem Funktionswandel und einer tiefen Legitimationskrise. Ein Teil der literarischen Intelligenz reagiert mit einer »ostentativen, zwanghaften Rigidität einer überspitzt normativen Kritik«, die Heinz-B. Heller gruppenpsychologisch als eine »Reaktionsbildung«6 auf eine »weitgehend noch unbewußte Bedrohung ihres traditionellen öffentlichen Selbstverständnisses und seiner ästhetischen Ansprüche«7 wertet, die sich aber um so bewußter durch eine »Kritik an dem paradigmatischen Medium der neuen Massengesellschaft«8 ausdrückt. Als sich das neue Medium, unterstützt durch technische und soziale Veränderungen sowie ökonomische Zwänge, zusehends nobilitiert, und mit prätentiösen Filmtheatern »provokativ in bürgerliche Kultur- und Kunstreservate« einbricht, sieht sich die »bildungstragende Schicht des Bürgertums und hier insbesondere die literarische Intelligenz auf den Plan gerufen und zu dezidierten Reaktionen herausgefordert.«9 Wenngleich sich die in der Kino-Debatte vorgebrachten Argumente nicht ausschließlich auf ökonomische Gründe reduzieren lassen, so wirkt der Verlust des kulturtragenden und kulturfinanzierenden mittleren Bürgertums an das Kino doch als Katalysator im Streit um die Kommerzialisierung der Kunst. Hinter den Ressentiments gegen das Kino zeigen sich darüber hinaus ebenso Muster einer Fortführung des Kampfes gegen die sogenannte Schundliteratur auf einem anderen Feld. Der Herausgeber und Verleger der Aktion, Franz Pfemfert, beispielsweise zieht Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser zu einer »trivialen Dreiheit«10 zusammen. Für ihn wird Edison, den er als »Paarung von Genialität und Trivialität« sieht, der »Schlächterruf einer kulturmordenden Epoche. Das Feldgeschrei der Unkultur.« Der Weg zu den Höhen der Kultur wäre für Pfemfert frei, »wenn

6. Heller: Literarische Intelligenz, S. 45. 7. Ebd. 8. Ebd., S. 46. 9. Ebd., S. 45. 10. Pfemfert, Franz: »Kino als Erzieher (1911)«, in: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, hrsg. und kommentiert von Jörg Schweinitz, Leipzig: Reclam 1992, S. 165-169, hier S. 167. 77

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nicht das Siebenmeilenstiefeltum der Trivialität jedem kulturellen Fortschritt entgegenstehen würde«.11 In diese Zeit fällt darüber hinaus auch die Diversifikation des (großstädtischen) Kinopublikums: Die soziale Zusammensetzung des damaligen Kinopublikums wird somit zunehmend auch zu einer Frage der urbanen Topographie.12 Obgleich der von Kurt Pinthus 1913/14 herausgegebene Sammelband Das Kinobuch im Jahr seines Erscheinens wenig beachtet wird, nehmen die hier versammelten, eigens für den Film verfaßten ›Kinodramen‹ medienhistorisch eine bedeutende Stellung ein.13 Obwohl dieses Buch die Annäherung eines Teils der literarischen Intelligenz an das als trivial geziehene Massenmedium markiert, so zeigt die von Pinthus verfaßte Ernste Einleitung für Vor- und Nachdenkliche durchaus einen generösen Gestus des sich gleichsam in die Niederungen der Populärkultur herabbegebenden Anthologisten, der dem »in Verlegenheit harrenden Kino neue Stücke und Anregungen« »zu schenken«14 beabsichtigt. Vorherrschend in den deutschen bildungstragenden Schichten bleibt auch nach Ende des Krieges das Ressentiment und die Distanz zu dem noch jungen technischen Bildmedium, dessen wichtigste ökonomische Basis die großstädtischen Massen sind. So artikuliert sich denn auch in Aussagen zur Kinematographie – besonders in Verbindung mit dem weitverbreiteten Kurzschluß, der Kino und Moderne identifiziert15 – vielfach die Haltung der Autoren gegenüber der modernen Massen-

11. Ebd., S. 166. 12. Etwas schematisch formuliert – nur um einige topographische Indikatoren am Berliner Beispiel zu markieren – ließen sich die Groschenkinos der Weinmeisterstraße den plebejischen Vergnügen, die von diesen nicht weit entfernten Kinos am Hackeschen Markt den bürgerlichen Milieu und damit einer mittelständischen Unterhaltungssphäre zuordnen, während die Kinopaläste des Kurfürstendamms in den Rayon gesellschaftlicher Ereignisse fallen würden. 13. Vgl. Heller: Literarische Intelligenz, S. 67. 14. Pinthus, Kurt: »Einleitung. Das Kinostück [1913]«, in: Das Kinobuch, hrsg. und eingeleitet von Kurt Pinthus, Neuausgabe, Zürich: Arche 1963, S. 19-28, hier S. 19.] Obgleich sich Pinthus in seiner Schlußbetrachtung beeilt festzustellen, daß es sich nur um die Meinung eines Einzelnen handele, kann man wohl einen breiten Konsens der am Buch Beteiligten vermuten. [Vgl. dazu Pinthus: »Einleitung«, S. 27.] 15. Vgl. hierzu den Aufsatz von Karl Prümm zur Kategorie des Organischen. [Prümm, Karl: »Die beseelte Maschine. Das Organische und das Anorganische in der ›Kino-Debatte‹ und in der frühen Filmtheorie«, in: Eggert, Hartmut, u. a. (Hg.), Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, München: Iudicium 1995, S. 145-172, hier besonders: S. 153-155.] 78

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gesellschaft. Offen oder versteckt sind beispielsweise die gleichermaßen emotional wie ideologisch besetzten Debatten über Themenkomplexe wie Kunst vs. Ware, Realismus vs. Illusionismus/Eskapismus und die Position (und Gefährdungen) des Zuschauers immer auch Auseinandersetzungen über Modernität, die moderne Massengesellschaft und den gesellschaftlichen Ort des Kinos. Bereits am Vorabend des Krieges werden in der sogenannten KinoDebatte um 1913 die – auch in den intensiven Auseinandersetzungen über die Kinematographie zur Zeit der Weimarer Republik zentralen – Argumente vorgebracht und lassen sich bis hinein in die deutschsprachige Filmtheorie der 20er Jahre verfolgen, die nicht in akademischen Zirkeln, sondern in den kritischen Milieus der Intellektuellen entsteht. Auch wenn der Einfluß der Intellektuellen auf die Filmproduktion lediglich vereinzelt direkt nachzuweisen ist, so kann man durchaus konstatieren, daß die fortwährende Debatte um die Kunstfähig- und -haftigkeit des Films zumindest in den uns heute bekannten Filmen der Epoche ihre Wirkung gezeitigt hat. Ungeachtet der offensichtlichen Parallelen zwischen der frühen Entwicklung des Weimarer Kinos und den Vorkriegsdebatten, die nicht zuletzt in der immer wieder behaupteten Theaterhaftigkeit des Caligari-Films kulminieren16, ist neben anderen Differenzen vor allem auf eine zentrale hinzuweisen. In den Diskussionen um die künstlerische Entwicklung der Kinematographie steht nun nicht mehr die Qualität des Drehbuchs und die Mitwirkung bekannter Bühnengrößen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern der Verbesserung des Filmbildes, der Konzentration auf kinematographische Spezifika gelten nun die herausgestellten Bemühungen um ein anspruchsvolles Erzählkino. Im Kreis der Filmschaffenden werden die 20er Jahre so zu einer »Blütezeit der öffentlichen Diskussion über Filmästhetik, Kameraarbeit und Lichtgebung.«17 Die künstlerische Arbeit entwickelt sich in dieser Zeit als ein »Zusammenspiel von technischem Wissen, Phantasie und ästhetischem

16. Zur Entkräftung dieses Vorwurfs siehe Jürgen Kasten. [Kasten, Jürgen: Der expressionistische Film: abgefilmtes Theater oder avantgardistisches Erzählkino? Eine stil-, produktions- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, Münster: MAkS Publikationen 1990, S. 50.] Allgemein zu den Unterschieden in der Konstruktion von Räumen zwischen den beiden ›optischen Maschinen‹ Theater und Kino siehe die Studie von Ben Brewster und Lea Jacobs. [Brewster, Ben/Jacobs, Lea: Theatre to Cinema. Stage Pictorialism and the Early Feature Film, Oxford: Oxford UP 1997.] 17. Müller, Robert: »Lichtbilder. Zur Arbeit des Kameramanns,« in: Gleißende Schatten. Kamerapioniere der zwanziger Jahre, Berlin: Henschel 1994, S. 35-62, hier S. 39. 79

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Gespür«.18 Wie in öffentlichen Diskussionen um den Film schwingt auch in den zeitgenössischen Äußerungen der Filmschaffenden eine merklich ambivalente Haltung der Moderne gegenüber mit. »Rationalität und aufklärerisches Denken, Mystizismus und rückwärtsgewandte Romantik«19 lassen sich gleichermaßen antreffen und verweisen somit auf die das kulturelle Leben bestimmenden divergierenden Kräfte der Weimarer Republik. In der Frühphase der Weimarer Republik, in der die intellektuelle Beschäftigung mit dem Film mehrheitlich von der Argumentationsstrategie geprägt war, diesen als Bildkunst von der dem Wort zugeordneten Sphäre des Geistes zu unterscheiden, wird das Lichtspiel, wie Walter Bloem in der Einleitung seiner 1921 veröffentlichten Filmtheorie ausführt, vornehmlich als Gefühlskunst und nicht als Gedankenkunst wahrgenommen. Wer ins Lichtspiel gehe – so heißt es dort –, wolle »nicht denken, sondern fühlend erleben«.20 Nimmt man diese Perspektive ernst, so sollte mit Blick auf die damalige Lebenswelt21 in einer heutigen Analyse der letztlich sich an populären Fantasien orientierenden Bildgestaltung und den sich in ihr ausdrückenden anthropologischen Bildern eine erhöhte Aufmerksamkeit gelten.

Film-Klassen – Das Differenzierungssystem der Decla »Die Metaphysik des Dekors ist ein Geheimnis des deutschen Films. Und in diesen Filmen, bei denen die Komposition alles bedeutet, ist der Filmarchitekt der Alchimist einer Welt, die er dank der Magie seines Wissens quellend erstehen läßt.«22 »Es gibt Geister – Überall sind sie um uns her – mich haben sie von Haus und Herd, von Weib und Kind getrieben.« – »Ich will nicht

18. Ebd. 19. Ebd. 20. Bloem, Walter (d.J.): Die Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis zum Film, Leipzig, Zürich: Grethlein 1922, S. 6. 21. Lebenswelt wird hier verstanden im Sinne der Definition von Alfred Schütz und Thomas Luckmann: »Die Lebenswelt ist nicht meine private Welt, noch deine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung.« [Luckmann, Thomas/Schütz, Alfred: Strukturen der Lebenswelt, Neuwied, Darmstadt: Luchterhand 1975, S. 81.] 22. Henri Langlois zit. nach Kaul, Walter: »Schöpferische Filmarchitektur«, in: ders. (Red.): Schöpferische Filmarchitektur, Berlin: Deutsche Kinemathek 1971, S. 4-9, hier S. 4. 80

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ruhen, bis ich die furchtbaren Dinge, die ringsum geschehen, begreife.« Diese beiden Zwischentitel aus Das Cabinet des Dr. Caligari markieren verbreitet anzutreffende Stimmungen in Filmen der Weimarer Zeit. Der Zusammenbruch der äußeren Ordnung sowie revolutionäre Turbulenzen stürzen besonders die großstädtische Intelligenz in eine in ihrer Omnipräsenz bis dahin unbekannte ›geistige Obdachlosigkeit›23. In vielen Filmen der Zwischenkriegszeit korrespondiert eine ungebändigte Innenwelt, ein geradezu obsessives Ausloten der dunklen Areale des Psychischen, mit einer tumultuösen Außenwelt. Vielfach sind die Protagonisten getrieben von dem Bestreben nach Verstehen einer für sie undurchdringlichen, unverständlichen Umwelt, in der vordem maßgebende Autoritäten ihre Macht eingebüßt haben und das Individuum sich einer feindlichen Umwelt ausgesetzt sieht. »Was ist Wirklichkeit? Was Schemen? Und was die Wahrheit…?«24 fragt Karl Figdor – aus dessen Feder auch die Romanvorlage zu Joe Mays Abenteuerzyklus Die Herrin der Welt stammt – rhetorisch im Programmheft zu dessen viertem Teil König Makombe. Figdor formuliert mit diesen Fragen einen gleichermaßen für das Genre des Abenteuerfilms wie für das des fantastischen Films seitens der Produzenten erhobenen Anspruch, die Grenze von Realem und Imaginärem, von Tatsächlichem und Wahrscheinlichem nicht als unüberbrückbar, sondern als durchlässig zu betrachten. Ungeachtet der argumentationsstrategischen Bedeutung dieser Aussage, mit der Figdor seine im Ruch des Trivialen stehende literarische Arbeit aufzuwerten beabsichtigt, läßt sich die Verschränkung des Realen mit dem Imaginären – bezogen auf die Alltagswahrnehmung – auch als Verhältnis des ›Imaginativen der Realität und der Realität des Imaginativen‹ denken. Frank Warschauer – in vielen Positionen seiner Zeit voraus – fordert beispielsweise eine Art des Fantastischen, die sich filmischer Mittel bedient und nicht einfach die Wirklichkeit »mit den alten Mitteln […] umschaffen und verändern«25 will. Eine filmspezifische »Phantastik bildet die Wirklichkeit nicht

23. Der von vielen Zeitgenossen beklagte Sinnverlust wird häufig mit dem von Georg Lukács geprägten Begriff der »transzendentale[n] Obdachlosigkeit« belegt. [Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1914/15, 1920), Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987, S. 32.] 24. Figdor, Karl: [Programmheft] König Makombe. Die Herrin der Welt, 4. Teil, 1919 (SDK-File: Die Herrin der Welt) 25. Warschauer, Frank: »Filme. Das Wachsfigurenkabinett«, in: Die Weltbühne, Bd. 2, 1924, S. 876-877, hier S. 876. 81

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um, sondern setzt die Elemente des Wirklichen in neuer Weise zusammen«.26 In Warschauers Verständnis ist das Fantastische letztlich eine Frage der Perspektive. Elementen der wirklichen, vorfilmischen Welt wird mittels einer Neuanordnung das Fantastische entlockt. Alltagswahrnehmung – zumal die der Moderne – und das Fantastische liegen somit nicht dichotomisch getrennt, sondern als graduelle Formation vor. Daß in der durch das Kino geschaffenen mundus mirabilis fictus die Grenzen zum Fantastischen durchlässig sind, ist schon eine der Kernthesen der ersten ästhetischen Abhandlung über die Kinematographie. In seinen Gedanken zu einer Ästhetik des »Kino« von 1911 führt der junge Georg Lukács dies auf die von Kinobildern ausgehende »unheimlich lebensechte[]«27 Wirkung zurück. »Das Phantastische ist aber kein Gegensatz des lebendigen Lebens, es ist nur ein neuer Aspekt desselben: ein Leben ohne Gegenwärtigkeit, ein Leben ohne Schicksal, ohne Grunde, ohne Motive.«28 Betrachtet man eine Abenteuerserie wie Die Spinnen und einen explizit unter dem Etikett des Künstlerischen vermarkteten Film wie Das Cabinet des Dr. Caligari nicht isoliert, sondern im Entstehungskontext, so lassen sich die Beziehungen und die Wechselwirkungen zwischen sogenannter Massen- und Elitekultur zeigen. Elemente des für beide Filme von deren Produktionsfirma Decla als Marketingstrategie entwickelten Klassensystems, mit deren Hilfe diese Filme unter eindeutigen Labeln beworben wurden, sollen im folgenden stellvertretend einige Grundzüge dieser Textur skizzieren helfen. Auf je spezifische Weise sind in den Produktionsstrategien und den daraus für beide Filme resultierenden Werbekampagnen vergleichbare Methoden der Authentisierung festzustellen, die eine kategorische Scheidung nach dem Muster hier der Kunstfilm – Das

26. Ebd., S. 876. 27. Lukács, Georg: »Gedanken zu einer Ästhetik des ›Kino‹ (Fassung 1911)«, in: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, hrsg. und kommentiert von Jörg Schweinitz, Leipzig: Reclam 1992, S. 300-305, hier S. 302. 28. [Ebd.] Lediglich verwiesen sei auf die (einengende) Tradition intellektueller Wertschätzung des fantastischen Films, die einzig diese Ausprägung als künstlerische Artikulation der ihrer Trivialität geziehenen und aufgrund ihrer vorgeblichen ›reinen Reproduktion‹ beargwöhnten Kinematographie gelten lassen wollte. »Nur im Zeichen des ›Phantastischen‹, der Unordnung in der Ordnung«, so Heller seine Auseinandersetzung mit Lukács’ filmästhetischem Entwurf resümierend, »ließe sich – zumal in der literarischen Präformierung – die (vermeintlich) positivistische ›Tatsächlichkeit‹ des Films von Intellektuellen ästhetisch legitimieren«. [Heller: Literarische Intelligenz, S. 66.] 82

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Cabinet des Dr. Caligari als neuer Film der ›Decla-Weltklasse‹ – dort der »Kommerzfilm«29 – Die Spinnen als Film der ›Decla-Abenteuerklasse‹ – vor dem zeitgenössischen Produktions-, Distributionsund Rezeptionshintergrund kaum mehr begründet erscheinen lassen. So wird im Bereich des exotischen Films der ›exotische Echtheit‹ verheißende Name Heinrich Umlauffs für Fritz Langs Abenteuerserie mit gleicher Konsequenz vermarktet, wie das Dreigestirn der am Caligari beteiligten Architekten Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig mit Hilfe der Filmwerbung zu Malern aus dem Umfeld von Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm werden30 und damit das Filmdekor gleichsam institutionell aufwerten. Beide Filme haben ungeachtet der turbulenten Zeitläufte und entgegen einer auch in der Forschung sich haltenden – auf zweifelhaften Aussagen Erich Pommers basierenden – Legende über den Mißerfolg des Caligari an den Kinokassen (zunächst) kommerziellen Erfolg. Beschränkt man den Blick nicht ausschließlich auf das deutsche Presseecho, sondern bezieht das amerikanische mit ein, so läßt sich feststellen, daß die angelsächsische Rezeption sich nicht wesentlich von der deutschen unterscheidet – selbst wenn der Film in den USA aus vielfältigen Gründen in seiner Verbreitung nicht über die Großstädte hinaus gelangt ist.31 Das Filmfachblatt Variety lobt beispielsweise anläßlich der Aufführung des Caligari am 3.4. 1921 im New Yorker Capitol zunächst dessen besondere Qualität als eine »mystery story told in the Poe manner«32, um sodann auf stilistische Spezifika einzugehen: »Of first importance is the direction and cutting. This has resulted in a series of ac-

29. Jung: »Ein Monster«, S. 70. 30. Diese ›Caligari-Legende‹, zu der sich ausführlich Jung/Schatzberg geäußert haben, wird neben anderen auch von Kracauer perpetuiert und bis in die heutige Zeit, so von Michael Budd, wiederholt. [Kracauer: Von Caligari, S. 74f.; Jung, Uli/Schatzberg, Walter: »Ein Drehbuch gegen die CALIGARI-Legenden«, in: Belach, Helga/Bock, Hans-Michael (Hg.), Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Meyer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/20, München: edition text + kritik 1995, S. 113-139, hier S. 124f.; Budd, Mike: »The Cabinet of Dr. Caligari: Production, Reception, History«, in: Lehmann, Peter (Hg.), Close Viewings: An Anthology of New Film Criticism, Tallahassee/FL: Florida State UP 1990, S. 333-352, hier S. 339.] 31. Vgl. hierzu Robinson, David: Das Cabinet des Dr. Caligari, London: BFI 1997, S. 48-50 und Budd, Mike: »The National Board of Review and the Early Art Cinema in New York: The Cabinet of Dr. Caligari as Affirmative Culture«, in: Cinema Journal, Jg. 26, Nr. 1, 1986, S. 3-18. 32. Variety, zit. nach Robinson: Das Cabinet, S. 48. 83

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tions so perfectly dovetailed as to carry the story through at a perfect tempo. Robert Wiene has made perfect use of settings designed by Hermann Warm, Walter Reimann and Walter Roehrig, settings that squeeze and turn and adjust the eye and through the eye the mentality.«33 Besonders die von invektiven Äußerungen gegen den Film geprägte Kampagne der American Legion anläßlich der Premiere vom 7. Mai 1921 in Los Angeles bleibt eine schrille Ausnahme, die aber gleichwohl kursierende Ängste der amerikanischen Filmindustrie vor einer sich formierenden deutschen Konkurrenz zu tage treten läßt. In diesem Zusammenhang schreckt man auch nicht davor zurück, einen gleichsam kategorischen, unüberbrückbaren Unterschied zwischen ›amerikanischer‹ und ›deutscher‹ Mentalität zu behaupten und die Decla-Produktion als ungeeignet für das amerikanische Publikum einzustufen. Vor diesem mediengeschichtlichen Hintergrund können sowohl Die Spinnen als auch Das Cabinet des Dr. Caligari als Versuche der deutschen Filmindustrie betrachtet werden, in Auseinandersetzung mit der amerikanischen Konkurrenz eine spezifische nationale Stilistik in den jeweilig eigenen Segmenten unterschiedlicher Genres zu finden.34 An der zeitgenössischen Rezeption des Caligari läßt sich jedoch auch ablesen, daß – ungeachtet des besonders in dieser Nachkriegsproduktion sich ausdrückenden Kunstanspruchs und des unbestrittenen Innovationspotentials der Dekorgestaltung – seitens der Produzenten von dem hohen Bekanntheitsgrad dunkler, psychopathologischer Kriminalgeschichten ausgegangen werden konnte, der den in der Forschung immer wieder beschworenen radikalen Bruch mit etablierten Rezeptionserwartungen mithin weit weniger radikal erscheinen läßt. Auch der naheliegende Einwand, Das Cabinet des Dr. Caligari als fantastischen Film – gleichsam kategorisch – gegen eine Abenteuerserie wie Die Spinnen abzugrenzen, verliert bei näherer Betrachtung seine ausschließende Eindeutigkeit. So

33. Ebd. 34. Für Karl Prümm bedeutet die in der filmhistorischen Forschung oft bemühte, selten jedoch begrifflich präzisierte Kategorie des Filmstils oder der Stilbildung »ästhetisches Handeln mit dem Ziel der Expressivität. Stil muß sichtbar und wahrnehmbar sein, vollzieht sich als Differenz- und Kontrasterfahrung. […] Stil realisiert sich nur – und dies ist zentral – in einer beständigen Vermittlung von Norm und Abweichung, in einem widersprüchlichen Ineinander von Distinktion und Homogenisierung.« [Prümm, Karl: »Stilbildende Aspekte der Kameraarbeit. Umrisse einer fotografischen Filmanalyse«, in: ders., u. a. (Hg.), Kamerastile im aktuellen Film. Berichte und Analysen, Marburg: Schüren 1999, S. 15-50, hier S. 19.] 84

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finden sich in der caligaresken Sphäre des Fantastischen durchaus vielfältige Realitätspartikel, die auf die zeitgenössische Krisensituation verweisen35, umgekehrt sind Elemente okkulter Fantastik – so in der Indien-Episode – in Die Spinnen eingearbeitet. In beiden Filmen werden Menschen – einer zeitgenössischen Obsession folgend – als lebende Medien vorgeführt sowie die Machtlosigkeit staatlicher Autoritäten demonstriert, deren Handlungen wirkungslos bleiben. Folgerichtig ist es dem Einzelnen überantwortet, angesichts eines unverständlichen, unbekannten, bedrohlichen Geschehens Bedeutungen zu suchen und die opaken Vorkommnisse aufzuklären. Thematisch läßt sich die Repräsentation einer je eigenen, unbekannten, fremden Welt beider Handlungsorte – der multiethnischen Großstadt San Francisco in Die Spinnen und der scheinbar idyllischen Kleinstadt Holstenwall in Das Cabinet des Dr. Caligari – komplementär aufeinander beziehen. In beide Sphären bricht das Bedrohliche jeweils vordergründig von außen ein, ist jedoch – wie im folgenden noch detaillierter zu zeigen sein wird – immer schon in der Sphäre der Wir-Welt verankert. Die Atmosphäre von Wienes Caligari weist in das Milieu des Biedermeier zurück und befragt damit das seit der letzten Jahrhundertwende bestehende Vorstellungsbild einer vermeintlich als ungetrübt glückliche Epoche bürgerlichen Lebens geltenden Zeit auf ihre abgründigen Seiten. Die Attraktivität der Biedermeierzeit ist jedoch nicht auf die Anfangsphase der Republik beschränkt. Den allabendlichen Erfolg eines »Biedermeierlustspiels in einem mondainen Berliner Theater« betrachtet Heinz Michaelis als Symptom einer Zeitstimmung, in der erneut »die alte deutsche Sehnsucht nach Romantik […] durch unsere Lande« geht und »die blaue Blume«36 lockt. Auf den zeitgenössischen Film bezogen begreift er dies jedoch nicht als Gegensatz zur Gestaltung zeitgenössischer Probleme. Romantik sei »Gestaltung typischen, überzeitlichen Geschehens im Gewande einer Vergangenheit, die zeitlich nicht immer allzu weit zurückzuliegen braucht.«37 Dekor und Atmosphäre des Caligari zeichnen ein Bild der Periode zwischen Gründung des deutschen Bundes und Märzrevolution, das den in den 20er Jahren gemeinhin von der Zeit des Vormärz kursierenden Vorstellungen weitgehender Einheit von Lebenshaltung, geistiger Kultur und Stil, diametral entgegensteht. Analog zur Perspektive einer rückwärtsgewandten

35. Vgl. Elsaesser, Thomas: »Social Mobility and the Fantastic. German Silent Cinema«, in: Wide Angle, Jg. 5, Nr. 2, 1982, S. 14-25. 36. Michaelis: »Weg«. 37. Ebd. 85

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Utopie, die lediglich partielle und parteiliche Wahrheiten38 auswählt und die so in den Blick genommene Zeit in der Folge verklärt, fokussieren und kaschieren die im Film verwandten Caches hier das Geschehen gleichermaßen. In diese, gemeinhin mit Heimeligkeit assoziierte Atmosphäre bricht das Fremde in Gestalt des ›Fahrenden Volkes‹ als Störung der Ordnung ein. Siegbert S. Prawer führt aus, daß sich »[d]as Radikal-Fremde […] gern als Einbruch aus dem Süden ins kühlere Nordland«39 verkleidet. Die Namen Caligari und Cesare verknüpfen sich in der Vorstellung über ihren Klang zwar deutlich mit Italien, ob es sich hierbei um ein Radikal-Fremdes handelt, ist jedoch fraglich. Die heimelig unheimliche Atmosphäre des Geschehens scheint vielmehr auf eine Konzeption des Fremden zu verweisen, das uns ganz nah ist. Einem Konzept mithin, das auf eine grundlegende – im vermeintlich Bekannten eingeschriebene – Ambivalenz verweist, die Sigmund Freud in Das Unheimliche40 herausgearbeitet hat, indem er mit Hilfe einer semantischen Untersuchung des Adjektivs heimlich und seines Antonyms unheimlich feststellte, daß das Wort heimlich bereits die negative Bedeutung des Antonyms enthalte, da es neben der Bedeutung von Geborgenheit auch die von ›undurchdringlich‹, ›hinterlistig‹ und ›verborgen‹ aufweist.41 Im Caligari-Drehbuch wird ein vorbeiziehender Zigeunerwagen zum Anlaß genommen, die Geschichte vom Schausteller Caligari und seinem Medium Cesare zu erzählen. Zigeuner42 sowie das

38. Vgl. dazu das von James Clifford in seinem Einleitungsaufsatz zu ›Writing Culture‹ vorgenommene Wortspiel um das Wort. ›partiality‹. [Clifford, James: »Introduction: Partial Truths«, in: Marcus, George E. (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/CA: U of California P 1986, S. 1-26.] 39. Prawer, Siegbert S.: »Vom ›Filmroman‹ zum Kinofilm«, in: Belach, Helga/Bock, Hans-Michael (Hg.), Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Meyer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/20, München: edition text + kritik 1995, S. 11-45, hier S. 14. 40. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche (1919)«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt/M.: Fischer 1972, S. 227-268. 41. Aus dieser Studie Freuds liest Julia Kristeva in ihrer Untersuchung Fremde sind wir uns selbst die (politische) Aufforderung heraus, weder den Fremden noch uns »als solche zu fixieren, sondern das Fremde und den Fremden zu analysieren, indem wir uns analysieren«. Mit deutlicher Orientierung an ästhetischen Modellen erhebt sie das Entdecken unserer »unerklärliche[n] Andersheit« kategorisch zur unerläßlichen Voraussetzung für unser Sein mit dem anderen. [Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 209.] 42. Zur kulturhistorischen Tradition der Zigeunerfigur siehe die instruktive, kürzlich erschienene Studie von Claudia Breger. Breger, Claudia 1998:[Breger, 86

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sogenannte ›Fahrende Volk‹ figurieren von jeher bevorzugt als Inkarnationen des Fremden, das in unzähligen Erzählungen in eine abgeschlossene Gemeinschaft einbricht. Auch die Assoziation mit dem Jahrmarkt ist bedeutungsvoll, figuriert dieser doch im Sinne Foucaults als temporäre Heterotopie, als zeitliche Ausnahmesituation, in der andere Formen der Ordnung in Kraft treten. Foucault faßt Heterotopien bekanntermaßen nicht als radikales Außerhalb, sondern sieht in ihnen ein spezifisches Verhältnis von Nähe und Entferntheit verwirklicht, mit dem die »wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet«43 werden. Wie später in Fritz Langs Metropolis führt die Handlung in Die Spinnen unter anderem in eine dem Uneingeweihten verborgene Unterstadt, die als Gegenordnung, als ein nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktionierendes Regelsystem, etabliert wird. Im Zuge seiner Recherchen konsultiert der Protagonist Kay Hoog einen Schriftgelehrten, um sich von diesem ein geheimnisvolles Elfenbeinplättchen dechiffrieren zu lassen. Der Gelehrte wertet den mysteriösen Gegenstand sogleich als Beweis für eine von offizieller Seite nicht anerkannte unterirdische Chinesenstadt. »Unter dem Chinesenviertel existiert noch eine selbständige unterirdische Chinesenstadt […]«44, führt der von Paul Morgan gespielte Forscher andeutungsvoll aus. Kay Hoog wird jedoch unverzüglich gewarnt: »[H]üten Sie sich, die Polizei versagt Ihnen schon jeden Schutz, wenn sie sich in das oberirdische Chinesenviertel wagen. Sie stellen sich außerhalb des Gesetzes, um wieviel mehr in der unterirdischen Chinesenstadt, deren Existenz die Polizei leugnet, weil sie ihr unbequem ist.«45 Die Zensurkarte führt die Figur des Schriftgelehrten lapidar als »Ein Jude«46 auf; eine Etikettierung, die in Ikonographie und Tätigkeitsfeld auf geradezu stereotype Weise unterstützt wird. Dennoch wird diesem Charakter im Ensemble der Figuren ein verhältnismäßig vorteilhaft besetzter Platz zugestanden. Als Intellektueller entspricht er den positiven Attribuierungen des Fremden in Simmels Soziologie: dieser »ist der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, mißt sie an allge-

Claudia: Ortlosigkeit des Fremden. »Zigeunerinnen« und »Zigeuner« in der deutschsprachigen Literatur um 1800, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998.] 43. Foucault: »Andere Räume«, S. 39. 44. Zensurentscheid: Die Spinnen. Der goldene See, 1921 (BAFA; Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf-Nr. 1400, 24.2.1921), S. 2. 45. Ebd., S. 2f. 46. Ebd., S. 1. 87

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meineren, objektiveren Idealen […].«47 Gleichwohl wird die Figur mit Okkultem assoziiert, mit einer Sphäre also, deren Attraktivität für die Weimarer Zeit sicher unbestritten ist. Die mittels vergleichbarer, schriftgelehrter ›Bücherwürmer‹ in den Filmen der Zeit repräsentierte Wissensaneignung zeigt deutlich, daß in der Moderne Gelehrtheit immer auch die Drohung eines Umschlags in Bedrohung und Negativität präsent hält. Dagegen wird mit der unterirdischen Stadt ein emblematisches Schreckbild eines untergründig, unkontrolliert und verleugnet im Eigenen sein Unwesen treibendes Anderes aufgerufen. Indem der Film den Eingang zu diesen ›Abgrund‹ in einem chinesischen Geschäft situiert, wird die Einbruchsstelle dieses Anderen mit der Figur des asiatischen Händlers zusammengeschlossen. Der Händler gilt nicht erst seit Simmels Soziologie als eine zentrale Figuration des Fremden. Er ist der Wandernde, der nicht »heute kommt und morgen geht«, sondern »heute kommt und morgen bleibt«48, wie Simmel in seinem kurzen, gedankenreichen Exkurs über die Personalisierung des Anderen ausführt. Dadurch wird er »ein Element der Gruppe selbst, […] ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.«49 Fremdheit wird in Simmels Perspektive aus den Koordinaten der Topographie gelöst und in die Sphäre des Sozialen moderner Gesellschaften gerückt. Der Fremde sei nicht, wie Simmel argumentiert, fremd wie der Bewohner des Sirius, dessen übergroße räumliche Distanz zu einer Sphäre des Eigenen zu keinerlei Kontaktflächen führt. Im Gegenteil ist er in Simmels Verständnis aufgrund seiner Präsenz im sozialen Raum moderner Gesellschaften die Figur, die Ferne in ein Verhältnis der Nähe überführt, infolgedessen Fremdheit erst zu einem Thema wird. Aus dem Umstand, daß der Händler kein Bodenbesitzer ist, resultiert für Simmel gewissermaßen eine doppelte Bodenlosigkeit.50 Auf dieses emblematische Vorstellungsbild rekurriert auch der filmende Weltreisende Colin Ross in seinem populären ›Film-

47. Simmel: »Exkurs«, S. 767. 48. Ebd., S. 765. 49. Ebd., S. 764f. 50. [Vgl. dazu ebd., S. 766.] Simmel faßt diese Seinsform jedoch als Chance zur Objektivität auf, wobei er Objektivität keinesfalls als Nicht-Teilnahme verstanden haben will, sondern als »ein positiv-besondre Art der Teilnahme. […] Man kann Objektivität auch als Freiheit bezeichnen: der objektive Mensch ist durch keinerlei Festgelegtheiten gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnte.« [Ebd., S. 767.] 88

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Bild-Buch‹ Mit dem Kurbelkasten um die Erde. Die Bildunterschrift zu einer Fotografie von Chinatown weist auf eine imaginäre Grenzziehung hin und läßt den Leser wissen, daß »die Häfen der Pazifik-Küste nicht nur mehr ausschließlich Abendland (sind), sondern bereits Morgenland, vor allem San-Franzisko mit seinem bedeutenden Chinesenviertel«.51 Wie schon erwähnt, ist in den Einflußbereich des fremden Händlers das Eingangstor zu dieser Unterwelt verlegt, hier haben das Abgründige und die Konspiration ihren Ort, von hier aus droht der vermeintlich geordneten Oberwelt Gefahr. In diese Welt der Hinterhalte, Geheimgänge und Falltüren wird der Langsche Protagonist Kay Hoog gleichsam als Cicerone für das schaulustige Publikum ausgeschickt, so wie Francis in der Binnenerzählung von Das Cabinet des Dr. Caligari gezwungen ist, sich in die Untiefen des Psychischen zu begeben, um die mysteriöse Kriminalgeschichte rätselhafter Morde aufzuklären. Man könnte gleichsam von einem Detektivfilm sprechen, in dem jedoch weder das staatliche Gewaltmonopol verteidigt noch eine professionelle Detektivfigur in Sicht ist. Ein Kriminalfilm mithin, der das Moment des Detektorischen den Privatiers überläßt.

Das Cabinet des Dr. Caligari – Der Jahrmarkt als Ort der Schaustellung Die auf dem Jahrmarkt im Ensemble mit anderen zirzensischen Schaustellungen verbrachten sogenannten ›Flegeljahre‹ des Kinos, machen den Film auch zum bevorzugten Ort des Merkwürdigen, Kuriosen und Abnormen. Dies läßt sich an den Anfängen der deutschen Filmfachpresse ablesen, die gemeinhin mit der ersten Nummer des Kinematograph vom 06.01.1907 angegeben wird. Der Publikationsort gibt hier über die Traditionszusammenhänge der frühen Kinematographie Auskunft. Der gesamte erste Jahrgang dieser Publikation firmierte noch als Beilage der Fachzeitschrift Der Artist. Doch schon vordem finden sich die ersten Kinoartikel und Filminserate in den Publikationsorganen der Schausteller und Artisten.52 Letztlich spielen aber auch in späteren Bewertungen53 der Film-

51. Ross: Kurbelkasten (Film-Bild-Buch), S. 27. 52. Zu nennen ist hier vor allem der Anker, das Offizielle Fachorgan des internationalen Vereins reisender Schausteller – so ein Teil des langen Untertitels. Aber auch Zeitschriften wie Der Komet, Der Kompaß und Das Programm sind an den Anfängen der Fachpresse beteiligt. 53. Ein häufig herangezogener Kronzeuge für die Zustände der Filmindu89

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fachpresse weitverbreitete Ressentiments gegen die anrüchige Herkunft des Kinos eine bedeutende Rolle.54 So schreibt Olimsky, daß »die Filmindustrie […] gerade damals, wie nie zuvor, ein Tummelplatz von allerhand zweifelhaften Abenteurern und Glücksrittern«55 war. Dieser hereditäre Zusammenhang des Kinos mit dem Schaustellergewerbe wird jedoch nicht plötzlich unterbrochen, sondern lebt modifiziert durchaus weiter. Noch bis 1913 – in einer Zeit als sich die Filmindustrie in den Großstädten mit eleganten Kinopalästen um neue Publikumsschichten bemüht – wirbt im Berliner Scheunenviertel beispielsweise das Biograph-Theater Pritzkow in der Grenadier-/Ecke Münzstraße mit einem Schild »Abnormitätenund Biograph Theater«56 über dem Eingang. Auch Siegfried Kracauer greift im Zusammenhang seiner wirkungsmächtigen Caligari-Interpretation bei der Beschreibung des Jahrmarktes zunächst auf literarische Quellen aus dem 17. Jahrhundert zurück und bezeichnet den Jahrmarkt als »eine Enklave der Anarchie im Gebiet der Vergnügungen«.57 »Für Erwachsene ist es eine Rückkehr in die Kindertage, in denen Spiel und Ernst ein und dasselbe sind, Wirkliches und Unwirkliches ineinander übergehen und anarchische Begierden eine Möglichkeit nach der andern ausprobieren. Durch diese Rückkehr entschlüpft der Erwachsene einer Zivilisation, die das Chaos der Instinkte zu überwachen und zum Verkümmern zu bringen droht, entschlüpft ihr, um jenes Chaos wiederherzustellen, auf dem trotz allem Zivilisation beruht. Der Jahrmarkt ist nicht Freiheit, sondern Anarchie, die Chaos brütet. […] Der Kreis wird hier zum Sinnbild des Chaos. Während die Freiheit einem Flußlauf gleicht, gemahnt das Chaos an einen Strudel.«58 Er kommt zu der Einschätzung, »daß der Rummelplatz das Durch-

strie allgemein und der Filmpresse im besonderen, der durch seine Dissertation gewissermaßen Insiderkenntnisse auf akademisches Niveau hebt und damit respektabel macht, ist Fritz Olimsky. 54. Zeitgenössische Äußerungen – wie die zahlreichen Invektiven gegen die Kritikerzunft von Hans Siemsen – bestimmen auch in der heutigen Forschung noch die hierarchische Bewertung der unterschiedlichen Quellen. 55. Olimsky, Fritz: Tendenzen der Filmwirtschaft und deren Auswirkungen auf die Filmpresse, Berlin: Berliner Börsen-Zeitung 1931, S. 28. 56. Siehe dazu die in der Berliner Kinogeschichte von Michael Hanisch abgebildete Fotografie. [Hanisch, Michael: Auf den Spuren der Filmgeschichte. Berliner Schauplätze, Berlin: Henschel 1991, S. 53.] 57. Kracauer: Von Caligari, S. 80. 58. Ebd. 90

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einander im Deutschland der Nachkriegszeit treu widerspiegelte«59 und der Film »eine alles durchdringende Atmosphäre des Grauens verbreitet«.60 Für Kracauer wird dies emblematisch in der Schlußepisode des Caligari verdichtet: »Das Normale als Irrenhaus: die Vereitelung aller Hoffnungen könnte nicht drastischer dargestellt werden.«61 Obgleich sich Kracauers Schlußfolgerungen aus den vermeintlich revolutionären Intentionen der ursprünglichen Rahmenhandlung herleiten, fällt in diesem Zusammenhang dennoch das wiederholt zur Beschreibung der politischen Zustände der Republik bemühte Stichwort Chaos. »Ordnung und Chaos sind moderne Ideen. Sie entstanden gemeinsam […]«62, merkt Zygmunt Bauman an und führt weiter aus, »Ordnung zielt nicht gegen eine andere Form von Ordnung; der Kampf um Ordnung ist kein Kampf einer Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf zwischen Determination und Ambiguität, zwischen semantischer Genauigkeit und Ambivalenz, zwischen Transparenz und Obskurität, zwischen Klarheit und Verschwommenheit. […] Das Gegenteil von Ordnung ist das Miasma des Unbestimmten und Unvorhersehbaren: Unsicherheit, Ursprung und Grundform jeder Angst. […] Chaos, das Gegenstück zur Ordnung, ist reine Negativität. Es ist die Verneinung von allem, was Ordnung erstrebt. Eben gegen jene Negativität konstituiert sich die Positivität der Ordnung […]. […] Ohne Negativität des Chaos gibt es keine Positivität der Ordnung; ohne Chaos keine Ordnung.« 63 Nachdem in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs die ordnende Macht der Moderne in einem bis dahin ungekanntem Maß ihr grausames Vernichtungspotential offenbarte und die Nachkriegszeit von großen Teilen der leistungstragenden Schichten als unzureichend geordnetes, mehrdeutiges, ja chaotisches Regelsystem erlebt wurde, treibt viele Zeitgenossen tiefe Furcht vor dem Chaos um. Die Zonen der Ambivalenz sind es jedoch, die besonders in der kinematographischen Fantastik einen hohen Attraktionswert versprechen. Carl Mayer – neben Hans Janowitz einer der beiden Drehbuchautoren des Caligari – behauptet später in einem mit Paul Rotha im Exil geführten Gespräch, er sei auf einem Spaziergang im

59. Ebd., S. 81. 60. Ebd. 61. Ebd. 62. Bauman, Zygmunt: »Moderne und Ambivalenz«, in: Bielefeld, Uli (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt?, Hamburg: Junius 1992, S. 23-49, hier S. 43. 63. Ebd., S. 45. 91

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hauptstädtischen Charlottenburg in einer ihm unbekannten Gegend auf einen Jahrmarkt geraten. Durch einen Ausrufer – der einen »›electric‹ man whose actions could be controlled«64 ankündigte – sei die Idee zu Das Cabinet des Dr. Caligari geboren. In gleichsam Benjaminscher Irrkunst wird hier das Muster eines Stadterkundungsgangs aufgerufen, auf dem die Entdeckung neuer Bedeutungszusammenhänge und anderer Ordnungen möglich wird. Wie oben erwähnt, können der Jahrmarkt aber auch das Kino65 im Sinne Foucaults als Heterotopien begriffen werden, die in jeder Kultur als wirksame, wirkliche Orte »in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind«.66 Diese sind Foucault zufolge »gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«67

64. [Rotha, Paul: »It’s in the Script. Carl Mayer in a talk with Paul Rotha«, in: World Film News, Nr. 9, 1938, S. 204-205, hier S. 204, zit. nach Kasten, Jürgen: Carl Mayer. Filmpoet. Ein Drehbuchautor schreibt Filmgeschichte, Berlin: Vistas 1994, S. 55.] Kasten verweist darauf, Mayer habe zu dieser Zeit in der Hektorstraße 8 in der Nähe des unteren Kurfürstendamms und somit unweit des Lunaparks in Halensee gewohnt. Ihm dürfte demnach diese Gegend sehr wohl bekannt gewesen sein. [Vgl. Kasten: Carl Mayer. Filmpoet. Ein Drehbuchautor schreibt Filmgeschichte, S. 55.] 65. Für Foucault stellt das Kino vor allem aufgrund seiner Fähigkeit, »an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind« eine Heterotopie dar. [Foucault: »Andere Räume«, S. 42.] 66. [Ebd., S. 39.] Durch ihre Situierung auf einer Festwiese, »diesen wundersamen leeren Plätzen am Rand der Städte, die sich ein- oder zweimal jährlich mit […] heterogensten Objekten […] bevölkern«, sind der Jahrmarkt und Zirkus als zeitlich befristete Heterotopien aufzufassen. [Ebd., S. 44.] 67. Ebd. 92

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Die ›Welt der Schaubuden‹, in der besondere, von den Hierarchien und Klassifikationen des sozialen Raums unterschiedene Regeln gelten, ermöglicht es bekanntlich eine »Vertauschung der Proportionen«68 vorzunehmen und somit »die Hierarchie der Werte in Frage zu ziehen, der wir im Alltag uns unterwerfen.«69 Auch in Janowitz’ retrospektiv verfaßter antimoderner Verkündungspredigt Gesichte von 1913 werden dem Metaphernfeld des Jahrmarkts nahestehende Bilder aufgerufen: »Vervollkommnet eure Maschinen! Reitet auf der Erde wie auf einem Zirkusball! […] Was aber kommen wird, ist schrecklicher als die Sintflut. Wehe, daß die Ewigkeit der Welt, die verfällt, wie diese, keine Zeit zur Klage mehr läßt! Wenn der Krater übergeht, auf dem sie tanzen, und Lava in Staub das Leben einschmilzt, das hier wuchert, dann kommt die Besinnung zu spät, zu spät der Kniefall, – furchtbar wütet der todzeugende Gotteserguß und Höllenkriegszug auf Erden.«70 Mechanisierung, ein gewissermaßen münchhausenisiertes Schreckbild einer entfesselten Ordnung, kulminiert hier in der apokalyptischen Vision einer aus den Fugen geratenen Welt. Besonders die Szenerie des Jahrmarkts in Das Cabinet des Dr. Caligari läßt sich mit Anton Kaes als metareflexives Thema, als »subtile[] Selbstinterpretation des Mediums«71 verstehen, mit der das Kino gleichzeitig in einen Traditionszusammenhang eingerückt wird. Eine Tradition, die sich aus dem 19. Jahrhundert fortschreibt und auf den Budenzauber populärer, öffentlicher Inszenierung menschlicher Medien und vergleichbarer spiritistischer Erscheinungen verweist, mit der geschäftstüchtige Veranstalter ihr Publikum mit den Abgründen von Traum und Rausch faszinierten und die ihren bevorzugten Aufführungsort dort hatten, wo der Schausteller Caligari den staunenden Zuschauern seinen Somnambulen präsentiert. Caligaris Attraktion Cesare, dessen kaiserlicher Name nicht von ungefähr die Assoziation an den römischen Imperator weckt, erscheint hier zunächst als willenloses menschliche Werk-

68. Kracauer, Siegfried: »Akrobat – schöön«, in: ders.: Schriften, Bd. 5.3: 1932-1965, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 127-131, hier S. 129. 69. Ebd., S. 128. 70. Janowitz, Hans: »Gesichte von 1913 (1921)«, in: Kaul, Walter (Red.): Caligari und Caligarismus, Berlin: Deutsche Kinemathek 1970, S. 29-33, hier S. 33. 71. Kaes, Anton: »Einführung«, in: ders.: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film, 1909-1929, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S. 1-35, hier S. 28. 93

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zeug.72 Die marktschreierische Ankündigung Caligaris stellt die visionäre Befähigung des Somnambulen aus, die Vergangenheit zu kennen und die Zukunft zu wissen. Der Somnambule scheint also in einem Zustand des Nicht-Mehr und Noch-Nicht73 zu verharren, der als zeitloses Interregnum eines bedrohlichen Unbewußten, als »Nachhall der kopernikanischen Wende, die mit Freud das Selbstbewußtsein des Individuums erschütterte […]«74, gelesen werden kann und auf die ›cäsarische Anmaßung‹ des Psychischen verweist. Auf einer abstrakteren Ebene läßt sich Cesare darüber hinaus als Figuration einer Gesellschaft im Übergang deuten, deren Blick zurück die Zukunft bestimmt, die eine eigene, die Gegenwart auffüllende, Position jedoch noch nicht gefunden hat. Anhand der Manipulierbarkeit des ›Mediums‹ Cesare und der generellen Täuschung des Zuschauers – dem erst gegen Ende des Films deutlich wird, daß es sich um eine Phantasmagorie handelt75 – kommt dem Filmpublikum zu Bewußtsein, daß für die Zeit der kinematographischen Erzählung die ›natürliche‹ Ordnung außer Kraft gesetzt ist. Diegetisch wird diese ›andere Ordnung‹ emblematisch in der Rezeptionssituation in der Schaubude Caligaris verdichtet. Hier werden die emotionalen Valeurs auf den Gesichtern der Schaulustigen angesichts der vom Somnambulen ausgehenden Fremdheit in ihrer Ambivalenz von Faszination und Schrecken gleichsam vorgeführt. So wie die Filmbetrachtung in der frühen Kinematographie aufgrund der schnellen Entflammbarkeit des Filmmaterials einherging mit realen Gefährdungen des Publikums

72. Vgl. Prawer: »Vom ›Filmroman‹«, S. 14. 73. Siehe dazu auch die Bestimmung des Somnambulismus in dem Roman Hermann Brochs. [Broch, Hermann: »Die Schlafwandler (1931/1932)«, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.] 74. Grafe, Frieda: »Doktor Caligari gegen Doktor Kracauer oder Die Errettung der ästhetischen Realität«, in: dies./Patalas, Enno (Hg.), Im Off. Filmartikel, München: Hanser 1974, S. 159-163, hier S. 162. 75. So schreibt beispielsweise Jürgen Kasten: »Der urplötzliche narrative Perspektivwechsel in der abschließenden Rahmenhandlung ermöglicht eine dramatische Struktur, in der das Ende völlig überraschend, weil gegenläufig zur bisherigen Erzähl- und Identifikationshaltung, erscheint.« [Kasten: Der expressionistische Film, S. 50.] »Wesentliches dramaturgisches Mittel des caligaresken Vexierbildes ist die veränderte Rahmenhandlung und der von ihr bewirkte radikale Perspektivwechsel, so daß sich nicht mehr genau bestimmen läßt, wer denn nun wirklich verrückt ist. […] In der veränderten Rahmenhandlung bleibt dagegen Unbehagen und Unsicherheit zurück«; ambivalente Gefühle also, die sich auf den Zuschauer übertragen. [Kasten: Der expressionistische Film, S. 43.] 94

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für Leib und Leben und sich der Zuschauer gewissermaßen auf eine abenteuerliche Reise mit ungewissem Ausgang begab, so setzen sich hier die Gäste der Schaubude realen Gefahren aus. »Unmittelbar nach dem Weltkriege war die große Sehnsucht nach Zeichen aus dem Jenseits und der feste Glaube an sie ohne weiteres begreiflich, der Krieg hatte Hunderttausende von Vätern, Gatten, Söhnen dahingerafft, die alle ihren Lieben zu Hause in der Sterbestunde kein Abschiedswort zuflüstern konnten und deshalb für die Überlebenden nicht stumm bleiben sollten. Der Boden für alles Übersinnliche, Jenseitige, für Grübeleien und Phantastereien über das Leben nach dem Tode war gut aufgelockert, der Okkultismus blühte«.76 Daß es sich hier nicht um eine abwegige, die Stimmungslage der Zeit verzeichnende Ansicht ex post handelt, läßt sich unter anderem unter Hinweis auf den Bühnenbildner und Filmarchitekten Albin Grau belegen, der nach eigenen Aussagen aufgrund einschneidender Kriegserlebnisse »viel über die okkulten Seiten des Lebens nachgedacht«77 habe. Auch der Filmkritiker Alfred Rosenthal verkündet in seiner Besprechung von Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu das »Okkultismus jetzt Trumpf ist«.78 Die abenteuerlichen Abgründe der Seele, die schauerlichen Ereignisse der Caligari-Erzählung zeigen die Brüchigkeit eines Ordnungsgefüges auf, in dem der einzelne auf sich allein gestellt erscheint. In Das Cabinet des Dr. Caligari werden die handelnden Subjekte mit Hilfe eines übermächtigen, verzerrten Dekors in eine untergeordnete Rolle eingerückt. »Der Begriff des Rechten – sei’s in Geometrie, Ethik oder Technik – qualifiziert das seiner Anwendung Widerstrebende als schief, krumm, schräg und linkisch.«79 Die solchermaßen als anormal gezeichnete Ordnung ist offensichtlich nicht mehr im Lot. Die Kategorie des Normalen leitet sich Georges Canguilhem zufolge

76. Kalbus: Filmkunst, S. 94. 77. Grau, Albin: »Vampire«, in: Bühne und Film, 1921, o.P., zit. nach SDKFile: Nosferatu. 78. Aros.: »Kunst oder Nichtunst [sic!] – das ist hier die Frage«, in: Der Montag, Sonderausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, Nr. 10 vom 6.3.1922. Zum Okkultismus in der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe den Ausstellungskatalog der Kunsthalle Schirn. [Apke, Bernd/Loers, Veit (Red.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 (Ausstellungskatalog Kunsthalle Schirn, Frankfurt), Ostfildern: Edition Tertium 1995.] 79. Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser 1974, S. 163. 95

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»[…] von der Etymologie her, da norma das Winkelmaß bezeichnet –, was sich weder nach rechts noch nach links neigt, was sich also in der richtigen Mitte hält; davon wieder leiten sich zwei Bedeutungen ab: normal ist das, was so ist, wie es sein soll; normal im gebräuchlichsten Wortsinn ist das, was für die Mehrzahl der Vertreter einer bestimmten Gattung zutrifft oder was den Durchschnitt bzw. die Maßeinheit eines meßbaren Merkmals ausmacht.«80 Canguilhem spricht damit jene Zweideutigkeit – jenes Ineins des deskriptiven und normativen Elements – an, die sich durch die gesamte Begriffsgeschichte der Kategorie des Normalen zieht, in der sich die Auffassung des Normalen als Resultat von Prozeduren der Normierung und Normalisierung durchsetzt. »Die Durchsetzung jeder Klassifikation bedeutet unausweichlich die Produktion von Anomalien (d. h. Phänomenen, die nur insoweit als Anomalien wahrgenommen werden, als sie Kategorien umfassen, deren Abwesenheit als Ordnung gedeutet wird.) So ›sieht sich jede Kultur Tatsachen gegenüber denen ihre eigenen Annahmen widersprechen. Sie kann die Anomalien nicht ignorieren, die durch ihr eigenes Schema produziert werden, es sei denn auf das Risiko hin, Vertrauen zu verlieren‹.« 81

80. Ebd., S. 81. 81. Bauman: »Moderne und Ambivalenz«, S. 31. 96

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In Verbindung mit der überbordenden Fülle der Dekoration drängt vornehmlich die Schlußsequenz in Das Cabinet des Dr. Caligari den Gedanken auf, der Mensch sei hier ausweglos normativen Regeln ausgesetzt, die weder von ihm produziert noch durchschaut werden. Der Sternhof, auf dem sich das Personal des Films schlußendlich versammelt, gemahnt denn auch mit seiner graphischen Aufteilung an ein Brettspiel. Mit dem Bild des Daseins als Spiel werden zugleich die immanenten Potentiale des Spiels als Manipulation aufgerufen. Dem sicherlich bekanntesten Manipulator der Weimarer Filmgeschichte, Dr. Mabuse, wird – gewissermaßen autoreflexiv zur damals jüngsten Kinovergangenheit – in Fritz Langs Film Dr. Mabuse, der Spieler (1922) auf einer Vernissage die Frage gestellt, wie er zum Expressionismus stehe. Er antwortet: »Expressionismus ist Spielerei… Aber warum auch nicht… Alles ist heute Spielerei.« Wo das Spiel zur Daseinsmetapher gerät, wird das Fremde zu einer universalen Kategorie. Ausnahmslos fremdbestimmten Regeln ausgesetzt, gibt es weder einen Ausweg aus den Verstrickungen, noch ist der Einzelne in der Lage, ein ›mysteriöses‹ Geschehen aufzuklären. Dieses Schlußtableau aus Das Cabinet des Dr. Caligari, daß besonders deutlich in dem größeren Bildausschnitt der Setfotografie zum Ausdruck kommt, kann als Verweis auf die undurchschaute Macht der das Subjekt im Wortsinn unterwerfenden Spielregeln gelesen werden, die mit ihren lediglich äußerlich ordnungstifenden Strukturen unzureichende, gleichwohl erdrückende Bastionen gegen die Fährnis des Zufalls bereitstellen.82 Francis, den seine Suche nach Caligari in die Nervenheilanstalt führt, betritt genau das Zentrum des Sternhofs, an dessen äußerem Strahlenrand jeweils bequeme Fauteuils positioniert sind. Das Individuum erscheint hier gleichsam kafkaesk ins Zentrum eines leeren Platzes gerückt und

82. »In der Tat, finster ist der Bau, den eine Generation nach der anderen errichtet. Finster aber darum, weil er eine Sicherheit gewährleisten soll, die für Menschen nicht zu erlangen ist. Je systematischer sie ihn anlegen, desto weniger können sie in ihm atmen, je lückenloser sie ihn auszuführen streben, desto unvermeidlicher wird er zum Kerker. […] Die Maßnahmen der Existenzangst gefährden die Existenz.« [Kracauer, Siegfried: »Franz Kafka. Zu seinen nachgelassenen Schriften«, in: ders.: Schriften, Bd. 5.2: 1927-1931, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 363-373, hier S. 364.] Im Gegensatz zu einem aus konservativer Perspektive beklagten Zuwenig der herrschenden Ordnung, betrachtet Kracauer – die Ordnung als kontingent begreifend – diese »durch ein Zuviel an Ordnung gefährdet, da jede Ordnung mit anderen Ordnungen konfligiert«, wie Bernhard Waldenfels in einem anderen Zusammenhang ausführt. [Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 78.] 97

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der stummen Gewalt körperlich nicht situierbarer, gleichwohl anwesender Blicke ausgesetzt. Die architektonische Staffelung dieses Bildes verweist ungeachtet der perspektivischen Verzerrungen auf die Zentralperspektive, bildet dieses Areal doch den Vorplatz zu einem dreibogigen Bau mit sechsbogiger Galerie, der den städtebaulichen Idealen der Renaissancearchitektur folgt. Die Bahnen, auf denen die Figuren in Das Cabinet des Dr. Caligari ihrer Wege gehen, sind hier auf schon fast schmerzhafte Weise durch die aufgemalten Lichtsetzungen vorherbestimmt. Der Einzelne erscheint in diesem Ensemble einem omnipräsenten, fremd und unbeeinflußbar anmutenden Ordnungsgefüge hilflos ausgeliefert. Während in Das Cabinet des Dr. Caligari ein von Beginn an gebrochen dargestelltes, ohnmächtiges Individuum und die Schutzlosigkeit, mit der die Psyche des Einzelnen einer unergründlichen Macht preisgegeben ist, im Vordergrund stehen, wird in Die Spinnen das Bedrohungspotential einer verschwörerischen, manipulativen äußeren Gewalt attribuiert, die nichts geringeres als die Eroberung der Weltmacht anvisiert. Am prominentesten verbinden sich die im deutschen Film der Weimarer Republik ausagierten Verschwörungsfantasien allerdings mit dem Namen Dr. Mabuse. Daß es sich hier keineswegs um ein singuläres Phänomen handelt, soll nun im folgenden gezeigt werden. In Die Spinnen wird einer diffusen Angst Gesicht und Gestalt gegeben und nahezu unangreifbar erscheinende, fremde, im Verborgenen agierende Machthaber als Antipoden des positiven männlichen ›Helden‹ in den Mittelpunkt der Handlung gerückt. Wenngleich die Zeit der Weimarer Republik alles andere als homogen erscheint, so kann man hinsichtlich bestimmter im Film aufgegriffenen Themen doch eine Kontinuität feststellen. »Als der große Krieg zu Ende war, ließ er das Chaos zurück – nicht nur in Ländern und Staaten, auch in den Seelen der Menschen. Und dies Chaos in führerlosen Menschenseelen machte sich einer zunutze. Niemand kennt ihn. Niemand weiß, wo das Zentrum liegt, von dem er seine Helfershelfer über die geängstigte Welt schickt. Aber er ist da. […] [N]iemand ahnt, das der kaltblütige Dirigent dieses Hexensabbaths ein gelähmter Mann ist.«83 Was hier als Beschreibung eines Spionagefilms wie Spione erwartungsgemäß im adäquat reißerischen Gestus angekündigt wird, verdeutlicht bei näherer Betrachtung noch einmal, wie einschneidend der Krieg und seine Folgen ins Alltagsbewußtsein eingedrungen sind. Zehn Jahre nach dieser – für viele traumatisierend wirkenden –

83. Anonym: »Spione«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 871, 11.5.1928, o.P. 98

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zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Zäsur kann so mit einer gewissen Selbstverständlichkeit äußere und innerer Bedrohung korreliert und der Versuch unternommen werden, den Ängsten ein Antlitz zu geben.

Die Spinnen – Gefangen im Netz der Schaustellungen »Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, […] Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; […] In bunten Bildern wenig Klarheit, Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, So wird der beste Trank gebraut […].«84 Im Vorfeld der groß angelegten Abenteuerserie Die Spinnen der Decla-Filmgesellschaft wird das Berliner Publikum auf Spektakuläres eingestimmt. »Für die Internationalität dieses außerordentlich großzügig angelegten Films«, meldet die Film-Tribüne, »bürgt ständiger Wechsel des Schauplatzes (San Francisko, Peru, Gestade des Ozeans).«85 »Was Fritz Lang uns da bietet«, lobt Der Kinematograph, »ist eine eingehende Fülle märchenhafter Wunder und Großartigkeiten.«86 Wenngleich sich der Protagonist Kay Hoog auf den ersten Blick in einer Geschichte zu bewegen scheint, die ganz von dieser Welt ist, so sind die Situationen, in denen er seine Fähigkeiten, seinen Mut und Witz unter Beweis zu stellen hat, doch weit eher von einem fantastischen Maß. In einer ansonsten an Helden armen Welt, bietet dieser Held den übermächtigen, im Unsichtbaren agierenden, gleichsam dematerialisierten Mächten der Dunkelheit die Stirn. »Die Spinnen! Jedermann weiß von ihnen, jeder fürchtet ihre Macht, aber keines Menschen Auge hat sie je gesehen. Man spricht von einem über die ganze Welt verbreiteten Geheimbund, dessen Mitglieder in schwarzen Trikots und unkenntlich machender Kappe ihre Opfer überfallen und unschädlich machen, niemals ohne ihr Wahrzeichen in Gestalt dieser künstlichen Vogelspinne zurückzulassen.«87

84. Goethe, Johann Wolfgang: »Faust I«, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 6.1: Weimarer Klassik 1798-1806, München, Wien: Hanser 1985, S. 535-673 + 974-1074, hier die Verse 95, 97, 170-172. 85. Anonym: »Spinnen, Die«, in: Film-Tribüne, Jg. 1, 04.07.1919, S. 7. 86. Anonym: »Spinnen, Die: Der goldene See«, in: Der Kinematograph, Jg. 13, Nr. 665, 01.10.1919. 87. Anonym: »Spinnen, Die. Der goldene See«, in: L. B. B., Nr. 37, 1919. 99

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Narrationen von Weltverschwörung und Geheimzirkeln bedürfen bekanntlich undurchdringlicher, geheimnisumwitterter Hintergründe, um dem in ihnen angelegten phantasmagorischen Bedrohungspotential die passende Atmosphäre zu verleihen. Daß ein solcher Background letztlich im Nebulösen verbleibt, ist die conditio sine qua non der Verschwörungs-Plots. In der geschichtlichen Wirklichkeit hingegen stehen besonders in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche hinter Verschwörungstheorien oftmals massive politische Interessen und die aus ihnen abgeleiteten Überwachungs- und Verfolgungsmaßnahmen werden zur Absicherung der jeweils neuen Herrschaftsansprüche und -verhältnisse eingesetzt. Die Narration von der weltweit operierenden Geheimorganisation ›Spinnen‹ – die sich anschickt, die Welt zu kontrollieren – verbindet hier handfeste Ängste vor einer Weltverschwörung mit Elementen des Märchens. Im Märchen, so Ernst Bloch, könne man die Kunst üben, »sich nicht imponieren zu lassen. Die Macht der Riesen wird als eine mit einem Loch gemalt, durch das der Schwache siegreich hindurch kann.«88 Märchen seien, führt Kracauer aus, »keine Wundergeschichten […], sondern (meinen) die wunderbare Ankunft der Gerechtigkeit.«89 Natürlich geht es in dem von der zeitgenössischen Filmkritik aufgerufenen Märchenverständnis nicht im emphatischen Sinn Kracauers um die »Einsetzung der Wahrheit in der Welt«90 in der das philosophische Gelächter des Schwachen die Macht der vermeintlich Mächtigen gefährdet. Der Protagonist in Fritz Langs Film folgt weit eher einer Konzeption, die der zeitgenössische Jargon mit dem Etikett »ein Kraftmensch«91 versieht, gleichwohl schlüpft auch dieser »prometheische[] Typ«92 wie der Schwache in Blochs Märchen durch die Maschen der Geheimorganisation ›Spinnen‹, die die Welt mit einem unsichtbaren Netz von Fäden überdeckt haben. Starke Helden, »männlich aufrechte Energie und […] Spannkraft«93 sind in der undurchdringlichen Welt der Diegese von Nöten. Kay Hoog nimmt den ›titanischen‹ Kampf gegen die Organisation der Spinnen

88. Bloch: »Prinzip Hoffnung«, S. 412. 89. Kracauer, Siegfried: »Das Ornament der Masse«, in: ders.: Schriften, Bd. 5.2: 1927-1931, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 57-67, hier S. 61. 90. Ebd. 91. Mit dieser Bezeichnung wird Michael Bohnen in der Rolle des Konsul Madsen in Joe Mays Abenteuerzyklus Die Herrin der Welt eingeführt. 92. Schröder, Peter H.: »Fritz Lang. Orientalischer Irrgarten und Großberlin«, in: Filmkritik, Jg. 9, Nr. 12, 1965, S. 670-675, hier S. 671. 93. J.B., Dr. (d.i. Johannes Brandt): »Spinnen, Die: Der Goldene See«, in: Der Film-Kurier, Nr. 104, 5.10.1919, S. 1. 100

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und die von ihr ausgehende Gefahr der Weltverschwörung jedoch nicht um einer heldenhaften Auseinandersetzung willen auf. Zunächst beschließt er, wie die Lichtbild-Bühne wissen läßt, »von Abenteuerlust getrieben, den […] Goldschatz zu heben«94, über den die Botschaft der von ihm eigenhändig aus dem Pazifik geborgenen Flaschenpost berichtet. In Die Spinnen wird die Bedrohung nicht einfach als eine von außen kommende in Szene gesetzt. Im Gegenteil ist sie bereits in den großbürgerlichen Salons in Gestalt Lio Shas – des von der Filmfachpresse als ›ebenso reich wie exzentrisch‹ bezeichneten Mitglieds des Standard-Clubs – inmitten einer arrivierten, zur herrschenden gesellschaftlichen Oberschicht zählenden Gruppe ›anerkannt unerkannt‹ anwesend. Die Motivik der Abenteuerserie Die Spinnen ›spinnt‹ gewissermaßen die moderne Mythologie des Verbrechens weiter, die zuvor bereits in den französischen sérials etabliert wurde.95 Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang an erster Stelle die von der Eclair produzierte Serie Les Aventures de Nick Carter (1906, 1909, 1911)96 von Victorin Jasset, die auch in einigen zeitgenössischen Rezensionen als Referenz zur neuen ›Abenteuer-Klasse‹ der Decla97 genannt wird. Die Verbindung liegt schon allein aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung der Produktionsgesellschaften nahe. Die Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co. wird unter Leitung von Erich Pommer am 16.2.1915 gegründet und residiert

94. Anonym: »Spinnen. Der goldene See (L. B. B.)«. 95. Les Vipères (1911), Fantômas (1914-1915), Les Vampires (1915-1916) Judex (1916) sowie La Nouvelle Mission de Judex (1917) von Louis Feuillade folgen und elaborieren den einmal etablierten Trend, den Fritz Lang jedoch aufgrund des Kriegsembargos wahrscheinlich aus eigener Anschauung nicht gekannt hat. Ungeachtet weitverbreiteter – nicht allein auf Deutschland beschränkter – Angst vor kriminellen Machenschaften ist die spezifische Gestaltung einer Verschwörungsgeschichte von entscheidender Bedeutung. Zur Entwicklung der französischen Kriminalserien siehe Hans Gerhold. [Gerhold, Hans: Kino der Blicke. Der französische Kriminalfilm. Eine Sozialgeschichte, Frankfurt/M.: Fischer 1989, hier S. 18-26 sowie Gerhold, Hans: »Der Zufallslyrismus der Serie und die Vorläufer des Kriminalfilms: Von Dolly’s Abenteuer (1908) bis Die Vampire (1915-1916)«, in: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hg.), Fischer Filmgeschichte, Bd. 1: 1895-1924: Von den Anfängen bis zum etablierten Medium, Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 182-200.] 96. In Deutschland wurde Nick Carter auch durch die gleichnamigen Groschenhefte des Verlagshauses Eicheler populär. 97. So beispielsweise: Anonym: »Spinnen, Die: Das Brillantenschiff«, in: Berliner Börsen-Courier vom 15.02.1920, S. 8. 101

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fortan in den Räumen der Deutschen Eclair, die bis zu ihrer endgültigen Liquidation 1917 gleichfalls von Pommer geleitet wird.98 Rezensionen loben an der Decla-Produktion Die Spinnen »die blendende, reiche, luxuriöse Aufmachung und Ausstattung von fabelhafter, wirklich großzügiger Prachtentfaltung«.99 Sowohl die DeclaPremierenbroschüre als auch die der Zensur vorgelegten Zwischentitel heben gleich zu Beginn die Mitarbeit Heinrich Umlauffs – eines Neffen Carl Hagenbecks – hervor. Die Erwähnung dieses Namens im Vorspann des Films verweist auf die Kontinuität von – mustergültig im Bereich der Völkerschauen entwickelten – Authentisierungsstrategien, mit deren Hilfe die Repräsentation eines exotischen Ambientes mit dem Label der ›Echtheit‹ versehen wird.100

So wird beispielsweise in einer Werbebroschüre des VölkerschauImpresarios Sarrasani101, mit der eine 1926 in Deutschland gastierende Indianertruppe im rechten Licht erscheinen sollte, neben anderen Forschern Theodor Wilhelm Danzel vom Hamburgischen

98. Vgl. dazu Jacobsen, Wolfgang: Erich Pommer. Ein Produzent macht Filmgeschichte, Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek, Argon 1989, hier S. 21-26. 99. Anonym: »Spinnen: Der goldene See (Kinematograph 665)«. 100. Thode-Arora, Hilke: »Die Familie Umlauff und ihre Firmen – Ethnographica-Händler in Hamburg«, in: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg, Nr. 22 (N.F.), 1992, S. 143-158. 101. Mit bürgerlichen Namen Hans Stosch (1873-1934). 102

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Museum für Völkerkunde mit der Feststellung wiedergegeben, »daß es sich durchweg um prächtige, typische Vertreter der leider aussterbenden roten Rasse handelt.«102 Diese im Bereich der Völkerschauen weitverbreitete Methode der Authentisierung läßt die säuberliche Trennung von populären Vergnügungen und ›harter‹ wissenschaftlicher Forschung zweifelhaft werden. Derartige, massive Interessenahmen können im Zusammenhang mit den ›anthropologisch-zoologischen Schaustellungen‹ – wie Carl Hagenbeck seine Völkerschauen wissenschaftlich verbrämend bevorzugt nannte – als gängige Praxis betrachtet werden. Einerseits sind diese als ein gewinnträchtiges, alle Sinne ansprechendes, Massenvergnügen konzipiert, andererseits werden diese Veranstaltungen von professoralen ›Völkerkundlern‹ als bequeme Möglichkeit genutzt, ›Studienobjekte‹ in Augenschein zu nehmen und anthropometrisch zu vermessen, ohne Strapazen und Kosten einer beschwerlichen Reise in ein fernes Land auf sich nehmen zu müssen.103 Eine verbreitete, nicht nur auf Deutschland beschränkte, Werbestrategie versucht, den Besuch einer Völkerschau mit einer in exotische Weltgegenden führenden Reise gleichzusetzen. So wurde beispielsweise mit Slogans wie: »Um Afrika zu sehen macht man keine lange Reise, sondern geht zu den 100 Somali im Somalidorf. Hagenbeck’s Tierpark« 104 geworben. Es

102. [Sarrasani-Heft 6:21, zit. nach: Thode-Arora, Hilke: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt/M.: Campus 1989, S. 30.] Auch im Bereich der sogenannten Freak-Shows waren ›Professoren‹ ein fester Bestandteil der Authentisierung. »Respected medical doctors authenticated the exhibits by detailing their examinations in language at once clinical and reverent.« [Thomson, Rosemarie Garland: »Introduction: From Wonder to Error – A Genealogy of Freak Discourse in Modernity«, in: dies. (Hg.), Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, 1996, S. 1-19, hier S. 10.] 103. Beredte Auskunft geben uns hierzu die als Teil der Zeitschrift für Ethnologie erschienenen ›Verhandlungen‹ der ›Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte‹ [BGAEU], bei der im übrigen Carl Hagenbeck bis zu seinem Tod 1913 ordentliches Mitglied war. Vgl. allgemein zu diesem Zusammenhang Thode-Arora. [Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig, S. 127-136.] Lediglich erwähnt sei, daß auch eine Institution wie das 1905 gegründete und von Erich von Hornbostel geleitete Phonographische Institut in Berlin ursprünglich zur Aufzeichnung ethnographischer Gesänge gegründet wurde. Die Praxis orientalistischer Repräsentation der Völkerschauen vornehmlich im 19. Jahrhundert untersucht Timothy Mitchell in seinem Aufsatz zum Orientalismus. [Mitchell, Timothy: »Orientalism and the Exhibitionary Order«, in: Mirzoeff, Nicholas (Hg.), The visual culture reader, London: Routledge 1998, S. 293-303.] 104. Zit. n. Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig, S. 140. 103

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nimmt kaum Wunder, daß einige Wissenschaftler gewissermaßen als Gegenleistung für so viel Bequemlichkeit in Werbebroschüren bereitwillig den edukativen und wissenschaftlichen Wert des Dargebotenen betonen oder artig ihren Dank ausdrücken. So wird beispielsweise betont, daß die Sarrasani-Schau »durch ihre [sic!] Indianer der Wissenschaft wertvolle Dienst geleistet hat.«105 In Parenthese sei der Bericht eines deutschen Offiziers am Rande der Weltkriegsschlachtfelder erwähnt, der eine gespenstisch anmutende fotografisch-inventarisierende ›Völkerschau‹ ganz eigener Art in Szene setzt. Aus humanitären Gründen seien Gefangene der unterschiedlichen »kämpfenden Völker« »sorgsam gesammelt, geordnet und zu neuen großen Verbänden zusammengestellt«106 worden, erfährt der Leser der kleinen, reich bebilderten Broschüre mit dem bezeichnenden Titel Unsere Feinde. Charakterköpfe aus deutschen Kriegsgefangenenlagern. Voller Stolz auf diese im Geist archivalischer Taxonomien geleistete Arbeit führt der Verfasser aus, daß nunmehr »Proben der verschiedenen Rassen und Völker zum Kennenlernen bequemer nebeneinander gestellt«107 seien und sich somit die »seltene Möglichkeit [ergab], Beispiele und Belegstücke des Menschentums’ aus den verschiedensten Völkern, Ländern und Klimaten teils neben, teils nacheinander kennen zu lernen.«108 Daß diese durch die Kriegsereignisse geschaffene Möglichkeit auch in der Nachkriegszeit genutzt wird, zeigt eine Anekdote aus dem Bereich des Films. Für die Produktion von Das Indische Grabmal »unter dem Oberbefehl von Joe May«109 werden 1921 für ihre Statistenrolle »als indische Soldaten aus dem Gefangenenlager in Wünsdorf 600 Tartaren nebst 150 Offizieren entliehen«110, läßt Fritz Olimsky in der Berliner Börsen-Zeitung wissen. Überdies wird hier deutlich, wie ein diffuses Wahrnehmungsbild des Orientalen diese Asienimagination zu einem Patchwork werden läßt. In dem oben beschriebenen Konnex sind auch die Paradigmen, unter denen die Völkerschauen nach dem Ersten Weltkrieg zusammengestellt werden, von Interesse. Augenfällige Spuren kul-

105. Zit. n. ebd., S. 31. 106. Stiehl, O.: Unsere Feinde. 96 Charakterköpfe aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart: Jul. Hoffmann 1917, S. 5. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Anton Kaes. 107. Ebd., S. 5. 108. Ebd., S. 5f. 109. Kalbus: Filmkunst, S. 49. 110. Oly. (d.i. Fritz Olimsky): Film-Indien, 1921 (SDK/Olimsky: 4.3-89/3 =VAR, 1, S. 39; Rezension). 104

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tureller ›Deformationen‹ (Tätowierungen, Körperimplantate etc.) sind hier neben einer europäisch geprägten Schönheitsvorstellung zentrale Auswahlkriterien.111 Besonderen Wert wird jedoch auf eine ausgeprägte Physiognomie und ›malerische‹ Kleidung gelegt; gesucht und ausgewählt werden ›Typen‹, die mit charakteristischen Erkennungszeichen ethnischer Gruppen den präsupponierten »Erwartungs-Erwartungen«112 vom Erscheinungsbild eines sogenannten ›Urvolkes‹ entsprechen. Der frühe Abenteuerfilm der Weimarer Republik wird nun durch diese Tradition über Heinrich Umlauff geprägt, der aus seiner Tätigkeit als Ethnographica-Händler vor dem Weltkrieg über eine langjährige Erfahrung als Völkerschauausstatter verfügt. Aus dieser Zeit bringt er neben seinen guten Kontakten zu völkerkundlichen Museen seine familiäre Verzahnung zum Hagenbeck-Clan sowie ausgezeichnete Verbindungen zum Zirkus in die expandierende Filmwirtschaft ein. Durch die Umbrüche und massiven finanziellen Einbrüche nach dem Ersten Weltkrieg gezwungen, sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen, wird er schnell exklusiv für die ambitionierte Decla tätig und sorgt hier bei den Settings gewissermaßen für einen ›Umlauf‹ wiederkehrender Materialien wie beispielsweise in Harakiri und der im chinesischen Viertel San Franciscos spielenden Episode in Die Spinnen. Dem sich noblitierenden, nunmehr auf das bürgerliche Publikum angewiesenen und um ›Echtheit‹ bemühten Medium Film ist es auch geschuldet, daß sein in den Filmtiteln auftauchender Name stets in Verbindung mit der Seriosität verbürgenden Institution des ›Völkerkundlichen Museums I.F.G. Umlauff‹ auftaucht, hinter der sich jedoch ein rein kommerziell orientiertes Handelshaus für Ethnographica verbirgt. Wenn Authentizität, »both personal and cultural, is seen as something constructed vis à vis others«113 – wie James Clifford ausführt – und man weiterhin von der Annahme ausgeht, daß diese letztlich keine Frage der Faktizität oder Realität ist, also mithin nicht auf einen substantiellen Referenten verweist, sondern letzten Endes

111. Vergleiche hierzu die Untersuchung von Hilke Thode-Arora. [ThodeArora: Für fünfzig Pfennig, S. 60-67.] In einem Vortrag auf dem CineGraph-Kongress 1996 zum Thema Triviale Tropen verwies Hilke Thode-Arora darüber hinaus darauf, daß es den Impresarios aus ökonomischen Erwägungen wichtig war, nur ›körperlich Gesunde‹ auszuwählen, die überdies keine ›Trinker‹ oder ›Krakeeler‹ sein durften. 112. Schäffter: »Modi«, S. 13. 113. Clifford, James: »[Rezension] Orientalism by Edward W. Said«, in: History and Theory, Jg. 19, 1980, S. 204-223, hier S. 222. 105

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als eine Frage der Autorität betrachtet werden kann114, dann dient die Erwähnung eines wissenschaftlichen Beraters – wie beispielsweise Heinrich Umlauff – im Titel eines Abenteuerfilms dazu, dem Gezeigten Authentizität zu verleihen. Wie Helmut Lethen ausführt, werden Dinge in der alten transitiven Bedeutung des Verbs authentisieren »authentisch gemacht und, solange die Autorität unbestritten ist, von einem Publikum, das diese Autorität akzeptiert, auch für authentisch gehalten. Dinge, Haltungen und Kunstwerke werden so lange für authentisch gehalten, wie die Autorität ihrer sozialen Inszenierung als unproblematisch erscheint.«115 Ein Blick auf die filmbegleitenden Diskurse früher Weimarer Abenteuerfilme zeigt, daß der – den Nimbus des Wissenschaftlichen verbreitende – Name Umlauff zum authentisierenden Markenzeichen wird, der dem Gezeigten einen vertrauenswürdigen Realitätseffekt verleiht.116 Culler nennt diese authentisierenden – die Echt-

114. Siehe dazu den Aufsatz von Spencer Crew/James E. Sims [Crew, Spencer R./Sims, James E.: »Locating Authenticity. Fragments of a Dialogue«, in: Karp, Ivan/u. a. (Hg.), Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington (u.a.): Simthsonian 1991, S. 159-175.] In der Diskussion um die Kategorie des Authentischen wäre mit Hilfe einer historisierenden Betrachtung dieser Debatte ein gangbarer Weg einzuschlagen, um beispielsweise zu erfahren, welche Vorstellungen zu einer Zeit in verschiedenen Diskursen über wahre und falsche Repräsentationen und zum Problem der Darstellbarkeit kursierten. Zieht man in diesem Zusammenhang auch noch die Rezeptionszeugnisse der professionellen Filmkritik und die Verlautbarungen seitens der Kinoindustrie heran, so kommt man zwar nicht einer ›Echtheit an sich‹, aber gleichwohl dem (offiziellen) Wissenstand einer Zeit auf die Spur. Weiterhin grundlegend für Authentizität als philosophisches Problem sind die Aufsätze von Lionel Trilling. [Trilling, Lionel: Das Ende der Aufrichtigkeit, München: Hanser 1980.] 115. Lethen, Helmut: »Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze«, in: Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 205-231, hier S. 228. 116. Aus der rezenten Dokumentarfilmtheorie läßt sich entnehmen, daß das vermeintlich faktisch ›Reale‹ der Kinematographie letztlich auf einem hergestellten Effekt des Realen beruht. Die Qualifizierung eines Films als ›dokumentarisch‹ geschieht, wie Jürgen E. Müller überzeugend ausführt, »nicht mehr allein auf der Basis ›textueller‹ Gegebenheiten, sondern auf der Basis der im Zusammenspiel mit textuellen Strukturen jeweils aktivierten Modi der Sinn- und Bedeutungskonstitution.« [Müller, Jürgen E.: »Dokumentation und Imagination. Zur Ästhetik des Übergangs im Do106

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heit eines erblickten Objekts oder Ereignisses markierenden – Zeichen Marker. Neben ihrer Beglaubigungsfunktion wird ein in dieser Weise markiertes Objekt im Ensemble weiterer Repräsentationspraktiken situiert, die einer individuellen Wahrnehmung vorausliegen. Marker fungieren als ›Echtheitszertifikat‹ und ermöglichen es, ein Objekt als authentisch wahrzunehmen. »The paradox, the dilemma of authenticity, is that to be experienced as authentic it must be marked as authentic, but when it is marked as authentic it is mediated, a sign of itself, and hence lacks the authenticity of what is truly unspoiled, untouched by mediating cultural codes.«117 Authentizität kann somit als Effekt einer komplexen semiotischen Vermittlung und nicht mehr als substantialistisch einem Objekt innewohnende Qualität verstanden werden. »The authentic is not something unmarked or undifferentiated, authenticity is a sign relation.«118 In dieser Zeichenpraxis wird ein Signifikant vermittels eines weiteren Signifikanten als authentisch markiert. Wie alle kulturellen Zeichen unterliegen auch Authentizitätsmerkmale historischen Veränderungen. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg – mit ihrer weitverbreiteten Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Wildheit, Ganzheit und Intensität – läßt sich erkennen, daß die Autorität eines Völkerkundlers von der Art eines Um-

kumentarfilm Transit Levantkade (1990)«, in: Hattendorf, Manfred (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München: Schaudig & Ledig 1995, S. 127-148, hier S. 129.] »Dokumentation, Authentizität, Fiktion und Imagination werden heute als Konstrukte, als spezifische (historische) Handlungsmuster aufgefaßt, die jeden Versuch einer substantialistischen, d. h. einer ausschließlich auf den Strukturen und dem Repertoire basierenden Definition entsprechender Gattungen, zum Scheitern verurteilen müssen.« [Ebd, S. 128.] Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt im übrigen, daß mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit orientalistische Maler wie Jean-Léon Gérôme versuchten, die Glaubwürdigkeit ihrer Werke zu erhöhen. »Die Strategien der realistischen (oder vielleicht wären ›pseudo-realistisch‹, ›Authentizität vorspiegelnd‹ oder ›naturalistisch‹ bessere Formulierungen) Mystifikationen gehen Hand in Hand mit der orientalisierenden Mystifikation«, führt Linda Nochlin in ihrer einflußreichen Studie aus. [Nochlin, Linda: »The Imaginary Orient«, in: Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart: Canzs 1987, S. 172-179, hier S. 174.] 117. [Culler, Jonathan: »The Semiotics of Tourism«, in: ders.: Framing the Sign. Criticism and its Institutions, Oxford: Blackwell 1988, S. 153-167, hier S. 164.] Den Begriff des Markers übernimmt Culler im übrigen aus der für die Tourismusforschung grundlegenden Studie von Dean MacCannell. 118. Ebd., S. 161. 107

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lauff Hoch im Kurs steht.119 Das Lob für die Ausstattung ist dann auch Konsens in der zeitgenössischen Presse. Hier habe man »bis ins letzte Detail sorgsamst abgewogen«120 und »eine Autorität auf ethnographischem Gebiet, Herrn Heinrich Umlauff, den Schöpfer und Besitzer des völkerkundlichen Museums in Hamburg, zu Rate gezogen, unter dessen kundiger Leitung Rekonstruktionen von Bauten und Skulpturen aus der Inkazeit entstanden.«121 Durch den Film sei »der Eindruck der exotischen Gegend so restlos erweckt, wie man es innerhalb der Grenzen Deutschlands kaum für möglich gehalten hätte.«122 Wenn gelegentlich an der Deutlichkeit der charakteristischen Erkennungszeichen einer bestimmten Ethnie nachgebessert wurde, um somit eine zuverlässigere Orientierung für das Publikum zu gewährleisten, so ist – ungeachtet der Übertreibungen und Verzeichnungen der Darstellung – dennoch der ›Glaubwürdigkeitskredit‹ des Markenzeichens Umlauff besonders in der Fachpresse Garantie für die lobende Erwähnung der ›Echtheit‹ des rezensierten Films. So wird die geographische Situierung des Geschehens der Anfangssequenz im ersten Teil der Abenteuerserie Die Spinnen lediglich dürftig – für das zeitgenössische Publikum jedoch ausreichend glaubwürdig – als exotisches Ambiente markiert, wenn auch geübte Zuschauer das Hagenbecksche Freigelände im Tierpark Stellingen erkannt haben dürften. In dieser Sequenz wird auf geläufige, stabile narrative Muster rekurriert: eine zerklüftete, optisch von einem Höhleneingang dominierte Felslandschaft und eine ins Wasser geschleuderte Flasche rufen ein hinlänglich bekanntes und vielfältig variiertes Bild insularer Topographien auf. Kleidung, Statur und Physiognomie des ›Weißen‹ sind zureichende Markierungen, um Vorstellungsbilder von Robinsonaden abzurufen. Darüber hinaus läßt das Gezeigte in Verbindung mit dem Titel Der goldene See wenn nicht einen ›Schatz im Silbersee‹, so doch zumindest eine

119. Die Frage nach dem Authentischen berührt letztlich auch das vornehmlich im Bereich theoretischer Erörterungen zur Kinematographie vieldiskutierte Problem des Unmittelbaren. In den – die Vermitteltheit des Mediums ausblendenden – zeitgenössischen Reden von ›unmittelbarer Teilhabe‹ an der Realität schillert gewissermaßen palimpsestartig eine Denkfigur durch, die eine frappante Analogie zu der Vorstellung einer Partizipation am Heiligen zeigt und die auf die oftmals religiös aufgeladenen, mit der Kinematographie verbundenen, Hoffnungen verweist. 120. D.B.: »Spinnen, Die: Der Goldene See«, in: Der Film Kurier, 01.10.1919, S. 2. 121. Anonym: »Spinnen. Der goldene See (Kinematograph 666)«. 122. J.B.: »Spinnen«. 108

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›Schatzinsel‹ erwarten; eine Vermutung, die dem Zuschauer wenig später bestätigt wird. Die topographische Situierung der ersten Sequenz wird jedoch vornehmlich durch die üppige Federhaube der den ›Weißen‹ hinterrücks meuchelnden Figur garantiert. Es dürfte dem Publikum wenig Schwierigkeiten bereitet haben, zu erfassen, daß es sich bei diesem ›feigen Mörder‹ um einen ›Indianer‹ handelt. Die Federhaube hat sich in Europa durch eine traditionsreiche Repräsentationspraxis unbestritten als das identifizierbare Kardinalzeichen der gemeinhin generalisierend ›Indianer‹ genannten Ethnien etabliert.123 An vielen, in der Weimarer Republik entstandenen, Filmen läßt sich mithin zeigen, daß in der kinematographischen Repräsentationspraxis – nicht zuletzt aufgrund der Prädominanz des Visuellen und der daraus resultierenden notwendigen Erzählökonomie – eher eine projektive Anthropologie des Fremden denn eine auf genauen anthropologischen Studien124 basierende vorherrschte, in der auf kulturelle Differenzierungen bisweilen weniger als auf die Verständlichkeit der verwandten Signalements geachtet wurde. Ein ›Nachbessern‹ der Wirklichkeit ist jedoch nicht nur auf das Feld der Kinematographie beschränkt, sondern weist auf die eben skizzierte gängige Praxis der Völkerschauen zurück. So können in den verschiedensten kulturellen Kontexten Zeichen angetroffen werden, die an die europäische Tradition der Zurschaustellung fremder Völker erinnern. Beispielsweise läßt sich der Name des jungen Dieners Soliman in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften als textuelle Verdichtung dieses Zusammenhangs verstehen. Dieser verweist auf den Namen des in Wien bekannten Äthiopiers, der in den Diensten der Fürsten Lobkowitz und Liechtenstein stand und der nach seinem Tod 1796 »wegen seiner Schönheit und Ebenmäßigkeit auf Wunsch des Kaiser präpariert«125 und in den

123. Mittels eines solchen Zeichens wird auf ein kulturelles Bildgedächtnis zurückgegriffen, »über das sich Verbindungen zwischen Dingen und ihren Bildern einerseits und Bedeutungen andererseits herstellen.« [Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln: Böhlau 1996, S. 51] Obgleich sich dieses Bildgedächtnis in erheblichem Maß »durch Überlieferung ikonographischer Verschlüsselungen und Festlegungen strukturiert«, geht die von diesem generierte Wahrnehmung jedoch nicht darin auf. [Ebd.] »Auch (intendierte) Ikonographie hat Bilder nie ganz ausgelotet und determiniert – weder in ihrer Herstellung noch in ihrer Rezeption.« [Ebd.] 124. Daß auch anthropologische Fachstudien nicht frei von Verzeichnungen sind, hat nicht zuletzt die Writing-Culture-Debatte gezeigt. 125. Vgl. Goldmann, Stefan: »Wilde in Europa, Aspekte und Orte ihrer Zur109

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Schauräumen des Naturhistorischen Museums in Wien ausgestellt wurde. Die eben erwähnte Nachbesserung rief allerdings auch gelegentlich bei informierteren Zeitgenossen Spott hervor. Joachim Ringelnatz reimt etwa in bezug auf das inszenierte Bedrohungspotential der ›künstlichen Wilden›: »Es war einmal ein Kannibale, Der war aus Halle an der Saale. Man sah in oft am Bodensee Für zwanzig Pfennige Entree.«126 Auch der Plot in Die Spinnen nimmt in bezug auf die ›Nachkommen der Inkas‹ Dramaturgien127 auf, die bereits als Repräsentationskonventionen fremder Ethnien in Völkerschauen entwickelten wurden und etablierte Verzeichnungen fortschreiben. In den zeitgenössischen Rezensionen zu den Spinnen finden sich so auch unterschiedliche ethnische und geographische Zuschreibungen. Einige behaupten, die mexikanischen Azteken haben Prof. Johnston sechs Jahre festgehalten. Es können aber auch schon mal die »Nachkommen der alten Inkas«128 gewesen sein, die jedoch nicht auf dem Gebiet des heutigen Kolumbien und Chile verortet werden, sondern im mexikanischen Yucatán »ihre uralten Gebräuche bis heute«129 zelebrie-

schaustellung«, in: Theye, Thomas (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 243-269, hier S. 248. 126. Ringelnatz, Joachim: »Gedichte«, in: ders.: Das Gesamtwerk in sieben Bänden, Bd. 1, Berlin: Henssel 1984, S. 78. 127. Zeremonien gehören wie Kampfszenen zum festen Repertoire dieser Darbietungen. Daneben können wiederkehrende Szenarien wie das Anschleichen an Siedlungen, die Gefangennahme eines ›Gegners/Opfers‹ mit anschließender Folterung/Opferung zu den Kontinuitäten der Darstellung gezählt werden. 128. Anonym: »Spinnen, Die. Der goldene See (Der Film)«, in: Der Film, 12.10.1919. 129. [Ebd.] ›Yucatán – (Was sagst du?)‹ Diese den spanischen Eroberern einer Anekdote nach von den Mayas gestellte Frage, die der südmexikanischen Halbinsel bis heute ihren Namen verleiht, verdeutlicht das Wahrnehmungs- und Darstellungsproblem des Fremden. Einmal im Unverständnis applizierte Etiketten führen fortan ihr Eigenleben und sind mit hereditärer Hartnäckigkeit mit bestimmten Vorstellungsbildern assoziiert. Raum für die Wahrnehmung kultureller Differenz und Eigenheit bleibt in einem solchen – das Fremde in ein zeit- und raumloses Irgendwo imaginierenden – Perzeptionsmodus nicht. [Zur ›Yucatán-Anekdote‹ vgl. Scherpe, Klaus R./Honold, Alexander: »Auf dem Papier sind Indianer weiss – im Ritual der Weißen farbig. Fremdheitsforschung in der Literaturwissenschaft«, in: humboldt spektrum, Jg. 2, Nr. 4, 1995, S. 28-34, hier S. 28.] 110

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ren. Wie die »projektiven Verunstaltungen des Fremden«130 dieser ›imaginären Ethnographie‹131 mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Autoritäten abgesichert wird, läßt sich an einer Formulierung aus Der Film zeigen: »Sind doch die alten Mayabauten, die Sitten und Kostüme jener Zeit unter Mithilfe hervorragender Gelehrter mit einer Echtheit rekonstruiert worden, wie sie nur deutscher Gründlichkeit möglich ist.«132 In exotischen Gegenden spielende Abenteuerfilme stehen in der unmittelbaren Nachkriegszeit hoch im Kurs. Der Filmindustrie gelingt es, ihre Produktionen im öffentlichen Diskurs mit der Aura des Wahren zu umgeben. Daß diese Wertschätzung – zumindest für die aufwendigeren unter diesen Filmen – auch über diesen Zeitraum hinaus anhält, läßt beispielsweise das Lob Oskar Kalbus’ vermuten. »Die künstlerische Leistung bei einem Abenteuerfilm lag oft in der Schönheit und Stilechtheit der Szenerien, die manchen Sensationsfilm geradezu zum Kulturfilm erhoben«133, schwärmt er sogar ex post. Wie nah der zum Dokumentarischen zählende Kulturfilm und explizite Spielfilme in der Rezeption in den 20er Jahren zusammenliegen, läßt sich an einer kleinen, von Kurt Pinthus berichteten Anekdote ablesen. Nach dem Besuch von Robert Flahertys Nanook of the North verlassen »die Zuschauer […], ergriffen vom Leben und Leiden Nanuks und seiner Menschen und Tiere das Theater. Da hörte ich im Gedränge einen dicken Herrn sagen: ›Das ist der beste Wegener-Film, den ich gesehen habe.‹«134 Wenngleich es nur wenige Rezeptionszeugnisse zu den in Deutschland aufgeführten Filmen dieser Zeit gibt, die überdies lediglich durch Filmkritiker ver- und übermittelt sind, so kann man doch cum grano salis die Macht physiognomischer Zuschreibungen und des typecasting für einige sogenannte Exoten-Schauspieler erahnen. Im Stummfilm werden Körper und Gebärden zu essentiellen Mitteln der Kommunikation und – besonders in der Filmtheorie Béla Balázs’ – als neue Universalsprache gefeiert.135 Nach Zeiten »wilhelminische[r] Körperangst«136

130. Macho, Thomas H.: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 295. 131. Vgl. dazu Kramer: Verkehrte Welten. 132. Anonym: »Spinnen, Die. Der goldene See (Der Film)«. 133. Kalbus: Filmkunst, S. 48. 134. Pinthus, Kurt: »Nanuk-Anekdote«, in: Das Tage-Buch, Jg. 5 (1. Halbjahr), 1924, S. 265. 135. Auf die Bedeutung der Physiognomie im Zusammenhang mit der Kinematographie und insbesondere der deutschen Filmtheorie wird im Kapitel ›Moderne‹ 111

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fällt dieser neue Blick auf den Körper in kulturgeschichtlicher Perspektive mit dem neuerlichen Interesse an physiognomischen Fragestellungen zusammen. Neben den zahllosen Neuveröffentlichungen, die das Thema berühren, fällt eine Unzahl von Wiederveröffentlichungen von ›klassischen‹ Texten zur Physiognomie ins Auge. Über physiognomische Merkmale und Gesten, über Hautfarbe, Minen- und Augenspiel, über Vorstellungen von Attitüden und Mentalitäten wird häufig ein lockeres, aber gleichwohl haltbar geknüpftes Band gespannt, daß dem Fremden erst die Ex-negativo-Konturen verschafft, gegen das ein in die Krise geratenes Selbstbild abgrenzt wird. Dieses, die Signatur der Krise tragende (männliche) Selbstbild wird auf der imaginären Ebene in Die Spinnen unter anderem mit Hilfe zweier Frauenbilder ausagiert. In beiden Teilen der ursprünglich auf vier Teile angelegten Serie Die Spinnen werden zwei weibliche Protagonistinnen effekt- und kontrastreich, aber gleichwohl als komplementäre Figuren angelegt. Die zeitgenössischen, taxonomischen Anmerkungen zu den weiblichen Figuren Naela und Lio Sha im ersten Teil der Spinnen legen ein beredtes – mit Wünschen nach Traditionellem aufgeladenes – Zeugnis von einem dichotomisch von zwei Charakteren repräsentierten Weiblichkeitsbild ab, in dem Lio Sha der bedrohlich-anziehende Part zukommt. So wird sie als »hart, trotzig, voll elementarer Leidenschaftlichkeit«137 charakterisiert. Die männlichen Konnotationen dieser Figur sind evident.138 Sie raucht, kommandiert mit starker Hand eine alleinig männliche Mitglieder zählende Organisation und verfügt über alle Mittel des dominanten, beobachtenden – gemeinhin männlichen Protagonisten vorbehaltenen – Blicks139, der das Gegenüber mit

physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle Anthropologie dieser Arbeit noch ausführlicher einzugehen sein. 136. Wyss, Beat: »[Einleitung] Simmels Rembrandt«, in: Simmel, Georg: Rembrandt (1916), Berlin: Matthes & Seitz 1985, S. VII-XXXI, hier S. XV. 137. J.B.: »Spinnen«. 138. Daß die Besetzung der Führungsposition einer Geheimorganisation mit einer weiblichen Protagonistin in Die Spinnen für die Weimarer Zeit ungewöhnlich ist, läßt sich indirekt auch an einem – für die Stiftung Deutsche Kinemathek [SDK] verfaßten – Informationsblatt aus den 70er Jahren ersehen, in dem die Inhaltswiedergabe des Films von »dem Millionär Lio-Sha, dem Chef dieser Geheimorganisation« spricht. [Datenblatt/Rezensionen: Die Spinnen, (SDK; Typoscript).] 139. Damit vertauscht sie die Frauenfiguren im allgemeinen zugewiesene Objektposition mit der des Subjekts und verkörpert – psychoanalytisch gesprochen – gewissermaßen eine ›phallische Anmaßung‹. Ein Muster also, daß von feministischen 112

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Hilfe souverän beherrschter technischer Apparaturen durchdringt, ohne dabei jedoch selbst der Sichtbarkeit preis gegeben zu sein. Indem Fritz Lang entgegen der zeitgenössischen Konvention seine Protagonistin Lio Sha als Herrin des Blicks zeigt, thematisiert der Film in selbstreflexiver Weise was Giuliana Bruno zufolge für die Kinematographie insgesamt konstitutiv ist, wenn sie ausführt, daß die »epistemology of visible invisibility […] lies at the very base of the filmic dispositif«.140 Weibliche Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit hat jedoch in dieser Zeit ihren Preis. So argumentiert Otto Weininger in seiner ›prinzipiellen Untersuchung‹ Geschlecht und Charakter physiognomisch und bestimmt kategorisch, daß »der Grad der Emanzipiertheit einer Frau mit dem Grade ihrer Männlichkeit identisch ist.«141 Die vermeintliche Stärke dieser Figur wird ihr so letztlich zum Verhängnis. Als Lio Sha gegen Ende von Der goldene See dem Sportsmann und Abenteurer Hoog ihre Liebe gesteht, wird sie brüsk zurückgewiesen und dem Publikum auf geradezu schmerzhafte Weise als ihrer Rivalin Naela Unterlegene vorgeführt. An beiden Frauenfiguren lassen sich somit auch komplementäre Konzeptualisierungen des Fremden als Faszinationsobjekt oder Schreckbild zeigen. Wenngleich Lio Sha in der Konstruktion der Narration die Rolle zukommt, den cliffhanger für den folgenden Serienteil vorzubereiten, ist es jedoch erneut sie, die in das Geviert des Privaten einbricht und – indem Naela in Kay Hoogs Abwesenheit durch die von ihr befehligte Geheimorganisation ermordet wird – der sorgsam

Filmtheoretikerinnen wie Laura Mulvey oder Marie Ann Doane als Gefährdung des männlichen Protagonisten durch eine ›Kastrationsdrohung‹ gelesen würde. [Mulvey, Laura: »Visuelle Lust und narratives Kino (1975)«, in: Nabakowski, Gislind, u. a. (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 30-44; Doane, Mary Ann: »Film und Maskerade. Zur Theorie des weiblichen Zuschauers (1982)«, in: Weissberg, Liliane (Hg.), Weiblichkeit und Maskerade, Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 66-89.] 140. Bruno, Giuliana: »Spectatorial Embodiments. Anatomies of the Visible and the Female Bodyscape«, in: Camera Obscura. A journal of Feminism and Film Theory, Nr. 28, 1992, S. 239-261, hier S. 241. 141. [Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien, Leipzig: Wilhelm Braumüller 1904, S. 81.] Als ein deutlicher Ausweis des in männlicher Perspektive in die Krise geratene Weiblichkeitsbilds kann beispielsweise die Ende der 20er Jahre von Friedrich M. Huebner edierte Essaysammlung namhafter männlicher Autoren unter dem Titel Die Frau von morgen wie wir sie uns wünschen gewertet werden. [Huebner, Friedrich M. (Hg.): Die Frau von morgen wie wir sie wünschen (1929), Frankfurt/M.: Insel 1990.] 113

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umhegten Idylle einer friedlichen Koexistenz zwischen Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen ein jähes Ende bereitet. Dagegen wird die von Lil Dagover verkörperte Sonnenpriesterin Naela als »ganz weiche, schmiegsame Anmut, weibliche Hingebung und unschuldsvolle Lieblichkeit«142 gelobt, deren »kindliches Vertrauen« »stärkstes Mitempfinden«143 erweckt. Das Drehbuch von Fritz Lang läßt sie gewissermaßen zur ›Liebes-Trophäe‹ des Abenteurers Kay Hoog werden, der sie als ein weiteres Objekt und Staffage für seine mit Exotischem opulent ausgestattete, mondäne Villa ›importiert‹. Hier avanciert Naela zum insolito, zum Ungewöhnlichen, und wird als Repräsentantin einer – gleichwohl mit Hilfe eines zuvor gezeigten Rituals der Menschenopferung als ›unzivilisiert‹ konnotierten – (untergehenden) Hochkultur zu einem schützenswerten Sammelobjekt. Der Film ruft mit der Inszenierung dieser Atmosphäre eine im gutsituierten Bürgertum um die letzte Jahrhundertwende weit verbreitete Gestaltung des Interieurs auf144, eines üppigen Imaginationsraums mithin, der häufig den Hintergrund exotistischer Selbstinszenierungen abgibt, wie ihn Walter Benjamin in Kleine Geschichte der Photographie als aufschlußreichen Aspekt bürgerlicher Selbstinszenierung anspricht. In den »Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien« seien in den Fotoateliers um die letzte Jahrhundertwende mit Palmenwedeln ausgestattete, »gepolsterte Tropen« entstanden, in denen die Modelle ungeachtet der dort herrschenden stickigen und schwülen Atmosphäre »die Ohnmacht jener Generation im Angesicht des technischen Fortschritts verriet.«145 Dieser, besonders in Kriminalromanen um-

142. J.B.: »Spinnen«. 143. Ebd. 144. Vgl. Fischer, Jens Malte: »Imitieren und Sammeln. Bürgerliche Möblierung und künstlerische Selbstinszenierung«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 371-393, hier S. 377f. aber auch Asendorf, Christoph: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen: Anabas 1984, besonders: S. 37-42 sowie Krauter, Anne: »Imagination und Dokument. Die eigene Kultur im fotografischen Abbild der fremden Kultur«, in: Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart: Canzs 1987, S. 202-209; Marczoch, Ludwig 1989: Orientalismus in Europa vom 17.-19. Jahrhundert in der Architektur und Innenraumgestaltung, Mainz: Johannes GutenbergUniversität 1989 (=Diss, FB 15). 145. Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1: Essays. Vorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 368385, hier S. 375, 377. 114

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gesetzte, »Charakter der bürgerlichen Wohnung«146 könne mithin als eine kulturgeschichtliche Signatur gelesen werden: »Viel interessanter als der landschaftliche Orient in den Kriminalromanen ist jener üppige Orient in ihren [des Bürgertums, W.K.] Interieurs: der Perserteppich und die Ottomane, die Ampel und der edle kaukasische Dolch. Hinter den schweren gerafften Kelims feiert der Hausherr seine Orgien mit den Wertpapieren, kann sich als morgenländischer Kaufherr, als fauler Pascha im Khanat des faulen Zaubers fühlen […].« 147 Dem von Benjamin aufgerufenen Orient ist die zeitgenössische Vorstellung einer von Maßlosigkeit geprägten – häufig auch mit antikapitalistischen Vorstellungen von Despotismus verwobenen – oneirischen Gefilden zugehörigen Weltgegend eingeschrieben. Seit Charles Louis de Secondat Montesquieus L’esprit de lois dient das Bild des orientalischen Despotismus im Westen gewissermaßen als Projektionsfläche eigener politischer Ängste. Mit Hegel und dessen Interpretation von Robespierre148 wurde dann speziell der Islam – wie Peter Wollen ausführt – »by another inversion, the reflected image of the French Enlightenment, ›an abstract thought which sustains a negative position towards the established order of things‹«149.

146. Benjamin, Walter: »Einbahnstraße«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 81-148, hier S. 89. 147. Ebd. 148. Vergleiche dazu auch Robert Wokler. [Wokler, Robert: »The French Revolutionary Roots of Political Modernity in Hegel’s Philosophy, or the Enlightenment at Dusk«, in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain, Nr. 35, 1997, S. 71-89.] 149. Wollen: »Fashion«, S. 15ff. 115

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) vakat 116.p 17893197524

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Aufmarschplatz der Abenteurer »Es gibt eine einheitliche Zusammensetzung aller Staaten, aber sie haben weder die gleiche Entwicklung noch die gleiche Organisation. Im Orient sind die Komponenten stärker getrennt, unverbundener. Deshalb ist eine große, unwandelbare Form notwendig, um sie zusammenzuhalten; die asiatischen oder afrikanischen ›despotischen Formationen‹ werden unaufhörlich von Revolten, Spaltungen und Dynastiewechseln erschüttert, die aber die Unwandelbarkeit der Form nicht berühren. Im Okzident dagegen macht die Verflechtung der Komponenten Veränderungen der Staats-Form durch Revolutionen möglich.«1

Mysterien, Wunderkammern und unheimliche Praktiken Dieses im obigen Titel angesprochene Ritornell spektakulärer Motive mit garantiert hohem Schauwert kann in fast allen kinematographischen Asienimaginationen aufgefunden werden. So lassen die UFA-Blätter zu Das indische Grabmal den Leser wissen: »Der fantastische Zauber Indiens mit allen seinen Wundern ruht in dem Mark dieses Films.«2 Keinen Zweifel über den adäquaten Zugang zum richtigen Verstehen des Imaginationsraums Asien läßt der Illustrierte Filmkurier in bezug auf den selben Film aufkommen. Bereits der erste Satz macht hier ein Konzept deutlich, in dem eine Verstehensleistung allein auf emotionaler Ebene behauptet und mittels dessen dieses Postulat überdies als ein philosophisches darstellt wird. »Ein französischer Philosoph tat einst den treffenden Ausspruch: ›Asien kann man nicht verstehen, man muß es fühlen‹.«3 Ferner wird In-

1. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1980), Berlin: Merve 1992, S. 530f. 2. Anonym: »indische Grabmal, Das«, in: UFA-Blätter. Programm-Zeitschrift der Theater des UFA-Konzerns, 1921, S. 9. 3. Anonym: »indische Grabmal, Das«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 74, 1921, hier S. 4. 117

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dien als »Land der großen Wunder, das Land des Geheimnisvollen, das Land des Grauens vor dem Nichts«4 oder als »Land des Zaubers und der Schrecken, fantastischer Gier und rätselhafter Kulte«5 vorgestellt. Der Leser dieser Zeilen ist freilich bestens auf derartig vollmundige Formulierungen vorbereitet, wird doch der Großproduktion Das indische Grabmal6 unter der Regie von Joe May bereits monatelang vor der Premiere beider Teile am 22.10.1921 und 17.11.1921 im Ufa-Palast am Zoo mit Hilfe zahlreicher Vorberichterstattungen und großangelegter Werbekampagnen eine Aura des ›Authentischen‹ appliziert. Man habe »wirklich Indien, unverfälschtes Indien […]«7 zu sehen bekommen, läßt die Presse emphatisch von den Dreharbeiten verlauten. Selbst der sonst so zurückhaltendskeptische Hans Siemsen findet für diesen Film lobende Worte und gesteht, daß »ein für tempelhofer Verhältnisse sehr echtes Indien erzielt«8 wurde. Der Erfolg der Vermarktungsstrategie läßt sich aus dem weitgehend einvernehmlichen Lob der Berichte im Vorfeld der Premiere ersehen. Es ist daher kaum verwunderlich, daß die Authentisierungsbemühungen auch in den Texten der Kinoprogramme weitergeführt werden, in denen der Film gleichsam als Kulturfilmproduktion aufgebaut wird.9 Appellativ wird das Publikum angesprochen und in eine imaginäre Gemeinschaft kulturell Gebildeter

4. Ebd., S. 13. 5. Anonym: »B.Z. am Mittag, zit. n. Urteile der Presse über Das indische Grabmal«, in: Der Film, Nr. 45, 6.11.1921, S. 74. 6. May brachte seine eigene Filmfirma für diesen Film in die E.F.A. (Europäische Film-Allianz) ein, in der sich auch erstmals amerikanische Produzenten auf dem deutschen Filmmarkt engagierten. [Vgl. dazu Kasten, Jürgen: »›Veritas Vincit‹ und ›Das indische Grabmal‹. Dramaturgie des Monumentalen«, in: Bock, Hans-Michael/Lenssen, Claudia (Hg.), Joe May. Regisseur und Produzent, München: edition text & kritik 1991, S. 73-79, hier S. 77.] 7. Oly.: Film-Indien. 8. Siemsen, Hans: »Noch immer Kino«, in: Die Weltbühne, Jg. 17 (Zweites Halbjahr), 1921, S. 530-534, hier S. 511. 9. Der Erfolg dieser Bemühungen bestimmt die diesem Film entgegengebrachte Wertschätzung über den Tag hinaus. »Mit dem Film ›Das indische Grabmal‹ hat Joe May den Abenteuerfilm auf sein höchstes Niveau gehoben. Er hat mit den sonst recht anrüchigen Abenteuern und Sensationen das höchste Ziel erreicht: Kinokultur! Diese Ziel wurde erreicht durch die großartige Filmarchitektur (Jacobi, Boi [sic!]), durch die hervorragende Darstellungskunst der Hauptpersonen und durch eine verblüffende Kameratechnik. Wir haben damals wirklich ein paar Stunden in der indischen Welt gelebt, auch dann noch, als es im Kino schon hell geworden war.« [Kalbus: Filmkunst, S. 49.] 118

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aufgenommen. Aber nicht nur den lektürefreudigen Programmheftlesern wird dieses Angebot gemacht, nein, alle Zuschauer werden in diese Gemeinschaft aufgenommen, da derselbe Wortlaut als Vorspann des Films noch einmal über die Leinwand flimmert.10 »Der Film ›Das indische Grabmal‹ setzt, ebenso wie der Roman von Thea von Harbou, die Kenntnis der geheimnisvollen magischen Kräfte voraus, die den indischen Büßern – Yoghis – eigen sind«11, wird behauptet, um sodann die ›essentiellen‹ Informationen mundgerecht nachzuliefern. »In der Ekstase der Willenskraft haben die Naturgesetze für den Yoghi keine Geltung mehr, und wie es heißt, soll er sogar den Tod überwinden können.«12 Spätestens seit der mustergültigen Verkörperung durch Paul Wegener in Der Yoghi (D 1916) ist diese Figur im deutschen Film gleichsam als Figuration des europäischen Topos von Indien als Ort undurchdringlicher Mysterien eingeführt.13 Bernhard Goetzke – der im frühen Weimarer Film neben Conrad Veidt schon fast im Sinn eines Typecasting auf die Darstellung von ›Exotenrollen‹ abonniert ist – wird für sein Spiel großes Lob zuteil. Hervorgehoben wird »seine Geisterhaftigkeit, sein gefühlloses Wandern durch die Ereignisse, seine scheinbare Unberührtheit […], aber auch sein innerer Widerwille, der gehorsame Vollstrecker der bestialischen Wünsche seines Gebieters sein zu müssen, sein Verlangen, wieder ins große Nirwana zurückkehren zu dürfen, sein imponierendes, starrendes Angesicht in den Augenblicken, in denen er rätselhafte Wunder vollbringt.« 14 In diesem Zusammenhang verwundert es denn auch nicht, daß Goetzke in der Presse mit einem weiteren, aus dem metaphysischen Figurenarsenal Wegeners stammenden, Phänomen der deutschen Filmgeschichte assoziiert wird. Er gebe »dem Yoghi das Gespenstische der Erscheinung, das in der Stille seines Spiels Monumentalität

10. Vergleiche dazu den Zensurentscheid. [Zensurentscheid: Indische Grabmal, Das (1. Teil), 1921 (BAFA; Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf-Nr. 4517), hier S. 1.] 11. Anonym: indische Grabmal, Das, 1921 (SDK-File: Indische Grabmal, Das; Hausprogramm UFA-Palast am Zoo). 12. Ebd. 13. Als Stichwort kann Indien mit Vorstellungen von farbenprächtigen religiösen Festen, von unermeßlich reichen Maharadschas, von aromatischen Gewürzen und Tigern in Dschungeln, von ältester Weisheit, tiefer Religiosität, weltentrükkender Meditation, von Yoga und ›Erleuchtung‹ assoziiert werden. 14. R.: »American Films – Made in Germany. Das Indische Grabmal – Das Weib des Pharao«, in: Der Welt-Film, Nr. 10/11, 1921, S. 199-201, hier S. 200. 119

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gewann, wie sie etwa Wegeners Golemfigur eigen ist«15 Derartige Aussagen lassen noch einmal die enge Verbindung zwischen dem oftmals seiner vermeintlichen Trivialität geziehenen exotischen Genrefilm und dem vielgelobten fantastischen Film erkennen, die gemeinhin durch die Zuweisungen Kommerz beziehungsweise Kunst deutlich voneinander geschieden werden. »›Der Yoghi‹ ist im deutschen Film wie ›Der Golem‹ eine leibliche Hülle, in die eine Idee gewissermaßen schlüpft, um als gleißende Erscheinung eine Weile das Publikum zu faszinieren.«16 Die Abenteuerfilme des Regisseurs Joe May waren nicht nur »populär, weil sie fantastische Schauplätze mit Rettungs- und Racheaktionen, Kriminalität mit Sex und Sensation verbanden.«17 Wichtiger als der im Abenteuer-Serial ausagierte Impuls eines umfassenden antizivilisatorischen und vitalistischen Exotismus, der sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert in allen Künsten findet, erscheint die Verschränkung von imaginären Bildern des Fremden mit denen einer Imagination des Eigenen. Insbesondere an Filmen, in denen Figuren unterschiedlicher kultureller Provenienz agieren, kann man beobachten, wie sich Projektionen von Hetero- bzw. Autostereotypen18 zu Bildern nationaler Charakteristika verdichten, von denen besonders der Konstruktcharakter des Selbstbildes in der zeitgenössischen Perspektive gewöhnlich undurchschaut bleibt. Exemplarisch läßt sich diese Funktionsweise in Das indische Grabmal an einem Gespräch des Maharadschas mit Irene, der Verlobten des zur Errichtung des Grabmals nach Indien gereisten Architekten Rowland, verdeutlichen. Fürst Ahan von Eschnapur versucht Irene zu erklären, warum er ihr den Besuch ihres Verlobten untersagen muß. »Damit Ihr Verlobter sein Meisterwerk schaffe, muß sein Wesen erfüllt werden von der Seele und dem Blute Indiens … Darum dürfen auch Sie nicht bei ihm sein; denn mit Ihnen wäre Europa bei

15. Anonym: »8-Uhr-Abendblatt, zit. n. Urteile der Presse über Das Indische Grabmal«, in: Der Film, Nr. 45, 6.11.1921, S. 75. 16. Schulze, Brigitte: »Land des Grauens und der Wunder. Das Indien-Bild im deutschen Film«, in: Schöning, Jörg (Red.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919-1939, München: edition text + kritik 1997, S. 72-84, hier S. 76. 17. Kaes, Anton: »Film in der Weimarer Republik: Motor der Moderne«, in: Jacobsen, Wolfgang, u. a. (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart: Metzler 1993, S. 39-100, hier S. 44. 18. Diese Unterscheidung geht zurück auf die Untersuchung von William Buchanan und Hadley Cantril. [Buchanan, William/Cantril, Hadley: How Nations See Each Other. A Study in Public Opinion, Urbana: U of Illinois P 1953.] 120

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ihm, das Geheimnislose, Angstlose, Heitere …«19 Gemeinhin werden Qualitäten des Eigenen nicht benannt und das Selbstbild lediglich implizit konturiert. Im Fall des zweiteiligen Joe-May-Films finden sich – analog dem eben erwähnten Zwischentitel – explizite Konturierungen jedoch auch in der Tagespresse. In der Interpretation einer Sequenz, in welcher der Yoghi Ramigani mit Hilfe seiner magischen Kräfte eine Autoachse zerbersten läßt, um somit seine Verfolger abzuschütteln, läßt der Rezensent der B.Z. am Mittag reißerisch Fremdund Selbstbilder zusammenfließen: »So greifen geheimnisvolle Mächte schreckhaft in reales Leben und durchdringen nüchternes Europa mit dem wild kreisenden Blut Indiens.«20

Die Tendenz einer derartigen Thematisierung von Fremd- und Eigenbildern wird schon im Roman Thea von Harbous vorgegeben, in dem sich der nach Indien gelockte Baumeister schockiert über den Fürsten zeigt, als er diesen in einem unbeobachteten Moment betrachtet und feststellt, »daß dieses bräunliche, von Höflichkeit gemeisterte Asiatenantlitz […] förmlich ertrunken war in den aufsteigenden Blutwogen eines Hasses und einer Bitterkeit, für die das

19. Zensurentscheid: Indische Grabmal (1. Teil), S. 8. 20. Anonym: »B.Z. am Mittag«. 121

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Abendland keinen Raum, keinen Namen und keine Sättigung besaß.«21 Der Logik einer solchen Repräsentationspraxis folgend führt ein Kritiker in Der Welt-Film aus, die von Conrad Veidt gespielte Figur des indischen Fürsten verbinde »in glücklicher Weise europäische Kultur mit fanatisch-indischer Denkart.«22 Veidt schaffe etwas »Typisches und läßt hinter der äußeren Figur etwas Unnennbares, Metaphysisches ahnen«23, ist im 8-Uhr Abendblatt zu lesen. Aus heutiger Perspektive erscheinen die Verzeichnungen des Fremden – so die vielfach gelobte, vollendete »asiatische Starrheit«24 eines Conrad Veidt – in den Filmen der Weimarer Zeit oftmals überdeutlich als Klischee oder Stereotyp.25 Dabei wird auch in der Forschung allzuleicht übersehen, daß gleichermaßen die Bilder des Eigenen einer stereotypisierenden Imagination entspringen. Nur überaus selten werden dem Selbstbild so deutlich wie in den eben genannten Beispielen charakteristische Qualitäten zugeschrieben. Daß die ›Imagerie‹ des Eigenen jedoch – wie gleich zu zeigen sein wird – präsent ist, läßt sich auf der Ebene der Bilder anhand des Zusammenspiels von Physiognomie, stilisierter Gestik und Mimik belegen. Zuvor ist jedoch zu betonen, daß Ausblendungen über die Funktionsweise des Konstruktcharakters des Eigenbildes selbstverständlich nicht auf den Film der Weimarer Republik zu beschränken sind, sondern allgemein als konstitutiv für die Diskursivierung des

21. Harbou, Thea von: Das indische Grabmal (1921), Frankfurt/M.: Fischer 1986, S. 29. 22. R.: »American Films«, S. 200. 23. Zit. n. diverse: »Urteile der Presse über Das Indische Grabmal«, in: Der Film, Nr. 45, 6.11.1921, S. 74-76, hier S. 75. 24. J-s.: »Das indische Grabmal. 2. Teil ›Der Tiger von Eschnapur‹«, in: Film-Kurier, 21.11.1921. 25. Homi K. Bhabha argumentiert, daß es sowohl eine strukturelle als auch funktionale Begründung gebe, insbesondere ›rassische‹ Stereotypen des kolonialen Diskurses im Sinne des Freudschen Fetischismus zu lesen. »For fetishism is always a ›play‹ or vacillation between the archaic affirmation of wholeness/similarity – in Freud’s terms: ›All men have penises‹; in ours ›All men have the same skin/race/ culture‹ – and the anxiety associated with lack and difference – again, for Freud ›Some do not have penises‹; for us ›Some do not have the same skin/race/culture‹. Within discourse, the fetish represents the simultaneous play between metaphor as substitution (masking absence and difference) and metonymy (which contiguously registers the perceived lack). The fetish or stereotype gives access to an ›identity‹ which is predicated as much on mastery and pleasure as it is on anxiety and defence, for it is a form of multiple and contradictory belief in its recognition of difference and disavowal of it.« [Bhabha: »Other Question«, S. 27.] 122

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Anderen betrachtet werden können. Solange eine Kategorie wie ›Rasse‹ im allgemeinen lediglich in bezug auf ›Nicht-Weiße‹ angewandt wird sowie ›Weiße‹ nicht unter ›rassischen‹ Gesichtspunkten gesehen und benannt werden, funktionieren ›Weiße‹ gewissermaßen als menschliche Norm. Zugespitzt führt Richard Dyer in seiner Monographie zu diesem Thema aus: »Other people are raced, we are just people. There is no more powerful position than that of being ›just‹ human. The claim to power is the claim to speak for the commonality of humanity. Races people can’t do that – they can only speak for their race. […] This assumption that white people are just people, which is not far off saying that whites are people whereas other colors are something else, is endemic to white culture.«26 Ähnlich wie Richard Dyer versteht auch Ruth Frankenberg ›whiteness‹ als ein Set miteinander verbundener Aspekte. Zunächst bedeutet ›whiteness‹ die Situierung eines strukturellen Vorteils und ein rassisches Privileg. Weiterhin kann darunter gewissermaßen ein Standpunkt verstanden werden, von dem aus Weiße sich selbst, andere und die Gesellschaft betrachten. Schließlich bezieht sich ›whiteness‹ auf ein Bündel kultureller Praxen, die gemeinhin weder markiert noch benannt werden.27 Einer der durch den kolonialen Diskurs produzierten Effekte ist das »unmarked, apparently autonomous white/Western self, in contrast with the marked. Other racial and cultural categories with the racially and culturally dominant category is coconstructed.«28 Die bildgewordene Verkörperung des von Frankenberg angesprochenen ›Standpunkts‹, die Funktionsweise des ›Othering‹29 – also der Fabrikation des Anderen – läßt sich exemplarisch anhand eines in den UFA-Blättern abgebildeten Filmstills zeigen. Das Bild bezieht sich auf die Sequenz im ›Tal des Schweigens‹ und zeigt den Maharadscha in einer deutlich als ›unmännlich‹ und unterlegen

26. Dyer, Richard: White, London, New York: Routledge 1997, S. 1f. 27. Vergleiche dazu Frankenberg, Ruth: White Women, Race Matters. The Social Construction of Whiteness, Minneapolis: U of Minnesota P 1993, S. 1. 28. Ebd., S. 17. 29. ›Othering‹ bezeichnet in der reflexiv gewordenen Ethnographie den »ursprüngliche[n] Akt der Inskription, in dem die Anderen distanziert und objektiviert werden.« Der Begriff benennt den »Prozeß der Produktion des Bildes der Anderen.« [Berg, Eberhard/Fuchs, Martin: »Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation«, in: dies. (Hg.), Kultur. Praxis. Text, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 11-108, hier S. 13.] 123

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konnotierten Pose zusammengekauert am Fels gelehnt, während Rowland – seine Gerte untergeschlagen, den Oberkörper in akkurater Haltung auf den hochgestellten rechten Oberschenkel abgestützt – im scharfen Kontrast zu dem Fürsten das Bild gefaßter Bestimmtheit bietet. Gerade hatte der indische Potentat dem von ihm auserwählten Architekten die tragische, nunmehr von unbeherrschter Rachsucht geprägte, Geschichte seiner großen, unglücklichen Liebe erzählt, durch die der Zuschauer erfährt, daß das Grabmal für eine noch Lebende errichtet werden soll. Wenngleich der Maharadscha von Eschnapur im Verlauf des gesamten Films immer wieder als emotional unkontrollierter, lustbestimmter Gewaltherrscher dargestellt wird, so erscheint diese Figur durch Körperhaltung und Habitus jedoch gleichzeitig – einer mächtigen Tradition folgend – effeminiert.30

»Je ohnmächtiger sich der Orient gegenüber den imperialen Expansionsbestrebungen des Okzidents zeigte, desto mehr schien man geneigt, die Beziehungen zwischen den

30. Lediglich erwähnt sei eine weitere Komponente im Spiel Conrad Veidts. Ähnlich kontrastiv wie in Das indische Grabmal wurde der Körpersprache Veidts in Anders als die Anderen die Reinhard Schünzels gegenüber gestellt. In Richard Oswalds Aufklärungsdrama findet sich im übrigen eine Szene, in der der von Veidt gespielte Violinvirtuose Körner in fließender – der beschriebenen Körperposition des May-Films verwandter – Haltung hingestreckt auf einer Ottomane liegt. 124

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beiden Hemisphären nach dem Modell von schwachen und starken Geschlecht auffassen zu können.«31 Das Filmstill aus Das indische Grabmal wird nun im Film durch eine Reihe von Einzeleinstellungen mit fokussierender Kreisblende aufgelöst. Daß diesen Bildern Glauben geschenkt wird – wenngleich sie natürlich nicht als indische Realität verstanden werden – zeigt der Grundtenor der Rezeption. Durch den Film fühle man sich »buchstäblich nach Indien versetzt«32, schwärmt ein Kritiker und fährt fort: »[D]as Ganze (läßt) diesmal auch nicht im entferntesten den Gedanken an ein Berlinisch-Indien aufkommen […]«.33 An der Herstellung des Authentischen im Umfeld des Films haben auch Text-Bild-Verschaltungen einen nicht unwesentlichen Anteil. In Die Wochenschau läßt sich das großformatige Foto einer »indische[n] Straße in der Filmstadt Woltersdorf«34 bewundern. Spuren der Apparatur des Kinos sucht man auf dieser Fotografie vergebens. Eine Basarstraße mit allerlei geschäftlichem Treiben und reichhaltiger Warenauslage kommt offensichtlich zeitgenössischen Erwartungen an »das Zauberland Indien«35 entgegen. Überdies orientieren sich in der Fotografie auch Brennweite und Ausschnittgröße sowie die an diesen ablesbare Tendenz zur pittoresken Inszenierung an zeitgenössischen ethnographischen Aufnahmen vergleichbarer Sujets.36 In dieser Publikation werden ferner Indische Tuba-Posaunen-Bläser sowie der Empfang beim Maharadscha ge-

31. Kohl, Karl-Heinz: »Cherchez la femme d’Orient«, in: Sivernich, Gereon/Budde, Henrich (Hg.), Europa und der Orient. 800-1900, Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikonverlag 1989, S. 356-367, hier S. 360. 32. R.: »American Films«, S. 201. 33. Ebd. 34. Anonym: »Indien in Berlin«, in: Die Wochenschau, Nr. 23, 1920, S. 374-375, hier S. 375. 35. Ebd., S. 374. 36. Zur Verbindung von Anthropologie und Fotografie siehe den von Elizabeth Edwards herausgegebenen Reader und speziell den Text von Martha Macintyre und Maureen MacKenzie, den Aufsatz von Hartmut Krech sowie die Studie von Michael Wiener. [Macintyre, Martha/MacKenzie, Maureen: »Focal Length as an Analogue of Cultural Distance«, in: Edwards, Elizabeth (Hg.), Anthropology & Photography, London: Royal Anthropological Institute 1992, S. 158-164; Krech, Hartmut: »Lichtbild vom Menschen. Vom Typenbild zur anthropologischen Fotografie«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 4, Nr. 14, 1984, S. 3-15, Wiener, Michael: Ikonographie des Wilden. Menschen-Bilder in Ethnographie und Photographie zwischen 1850 und 1918, München: Trickster 1990.] 125

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zeigt. Daneben werden aber auch Blicke hinter die Kulissen angeboten, etwa in die Werkstatt des Maskenbildners mit der Unterschrift »Der Friseur sorgt für das exotische Aussehen«.37 Daß diese Formulierungen wörtlich in der wöchentlichen Beilage des Film-Kuriers – dem Illustrierten Filmkurier – auftauchen, ist ein weiterer Beleg für die enge Verbindung von Filmindustrie und Printmedien; ein Verbund, in dem diese oftmals als Sprachrohr für jene fungieren. Abschließend lobt der Illustrierte Filmkurier den Film als »[a]merikanisch in der Großzügigkeit der Anlage, deutsch in der Gründlichkeit der Ausführung bis ins kleinste Detail […].«38 Wie schon anhand von Die Spinnen dargelegt, haben auch hier wieder die engen Verbindungen zwischen der Filmindustrie und dem nobilitierten Teil des Schaustellergewerbes maßgeblichen Anteil an der Herstellung dieses Gesamteindrucks. »Der bekannte Zirkus Stosch-Sarrasani mit seinem großen Tierpark an Pferden, Elefanten und Zebras, der weltberühmte Hagenbeck mit seinen Tigern wurden zugezogen, um indisches Leben vorzuzaubern.«39 Später kommentiert Kracauer ironisch: »Die Zirkusse machten damals mit dem Verleihen ihrer Tierparks ein schönes Geschäft.«40 Will man sich der Funktionsweise zeitgenössischer Repräsentationsverfahren des Fremden annähern, ist es zum einen beachtenswert, daß die Mehrzahl der aus heutiger Perspektive relevant erscheinenden Filmsequenzen in keiner der (lückenhaft) überlieferten schriftlichen Quellen überhaupt erwähnt werden, zum anderen ist die Diktion aufschlußreich, in der über besonders hervorgehobene Elemente eines Films gesprochen wird. Im Fall von Das indische Grabmal geht die Mehrzahl der schriftlichen Quellen auf das Vorspiel des Films ein. Die visuelle Gestaltung und mysteriöse Atmosphäre dieser Sequenz scheint den Erwartungen zeitgenössischer Rezipienten besonders entgegenzukommen und macht sie zu einem furiosen Fanal des gesamten – an Sensationen nicht eben armen – Films. Fast kein Bericht läßt einen Hinweis auf die grausame, vielarmige Göttin Durgha vermissen, aus deren Schatten der Yoghi Ramigani von seinem Weg der Buße zurückgeholt und zum Werkzeug der Rache wird. Wie so oft im Weimarer Kino ist hier das fremde Numinose nicht frei vom Ominösen.41

37. Nicht näher zu identifizierende Quelle aus: BAFA-File Nr. 7918: Das Indische Grabmal. 38. Anonym: »Grabmal (Illustrierter Film-Kurier)«, S. 13. 39. Ebd. 40. Kracauer: Von Caligari, S. 63. 41. Zu nennen wäre hier besonders die fremden Völkern unterstellte Praxis 126

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Eingestimmt durch den sich edukativ gebenden expositorischen Rolltitel, der von Yoghis berichtet, die sich aus religiösen Gründen lebendig begraben lassen, erwartet der Zuschauer Außerordentliches. »Wird der Yoghi aus diesem Todesschlaf erweckt, so muß er seinem Erwecker den tiefsten Wunsch erfüllen, um ihn über die Sinnlosigkeit alles irdischen Begehrens durch die Erfüllung zu belehren.«42 Diese Sequenz sei im Rahmen der mystischen Vorgänge des Films »wahrscheinlich das Vollendetste, was deutsche Regiekunst bisher geleistet«43 habe, kolportiert die Presse, aber auch in einem Kulturperiodikum wie Die Weltbühne werden bei dieser Gelegenheit klischeeträchtige Attribute wie »indisch-langsam, unheimlich und fremd«44 aufgerufen. Im Kontext des Vorstellungsbildes asiatischer Regierungsgewalt wird so der Yoghi Ramigani, der sich auf dem Weg der Erleuchtung sogar von seinem eigenen Leben befreien will, zu einem willfährigen Werkzeug despotischer Rachsucht. Die katalepsieaähnliche Körperhaltung Ramiganis und der

der Opferung von Menschen aus obskuren religiösen Motiven wie beispielsweise in Die Spinnen oder in Lebende Buddhas. 42. Zensurentscheid: Indische Grabmal (1. Teil). 43. R.: »American Films«, S. 201. 44. Siemsen: »Noch immer Kino«, S. 511. 127

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Somnambulismus Cesares in Das Cabinet des Dr. Caligari können dabei als verwandte Phänomene auf der Schwelle zwischen Leben und Tod betrachtet werden, die sich durchaus im Zusammenhang mit der Weltkriegserfahrung 45 deuten lassen. Als willenlose Objekte eines despotischen Herrscherwillens verdeutlichen beide Figuren die vielfach im Krieg erfahrene Empfindung individueller Ohnmacht und das Gefühl des Ausgeliefertseins.46 Nicht immer findet jedoch eine mit großem finanziellen Aufwand lancierte Werbekampagne eine uneingeschränkte fachwissenschaftliche Unterstützung. Ein im Film-Kurier als Sachverständiger vorgestellter Legationsrat Prof. Dr. Sievers widmet sich der »Echtheitsfrage« und setzt sich in seinem Beitrag zu Das indische Grabmal durchaus kritisch mit dem Film auseinander. Entgegen der inkriminierten fehlenden »sachliche[n] Treue«47 wird in dem Aufsatz von Sievers jedoch ausdrücklich die ›Echtheit‹ im Atmosphärischen gelobt. Doch auch der sich kritisch gebende Legationsrat stimmt in die Lobeshymnen so vieler anderer Rezensionen ein, wenn es um

45. Siehe hierzu die Studie von Hans Binneveld und den Aufsatz von Anton Kaes. [Binneveld, Hans: From Shellshock to Combat Stress. A Comparative History of Military Psychiatry, Amsterdam: Amsterdam UP 1997; Kaes, Anton: »War – Film – Trauma«, in: Mülder-Bach, Inka (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien: Wiener Universitätsverlag, 2000, S. 121-130.] Obgleich beide Figuren Schwellenphänomene verkörpern, neigen sie doch eher in das Bedeutungsfeld des Todes denn in das des Lebens. Sie verweisen somit auf die speziell nach dem Weltkrieg häufig narrativ durchgearbeitete Todeserfahrung und sind in diesem Sinne Figurationen eines radikal Anderen. [Vgl. Macho: Todesmetaphern] 46. Dieses bildmächtige Motiv wird in vielen Filmen der Zeit mit dem Imaginationsraum Asien verbunden und als okkulter Teil der bürgerlichen Salonkultur gezeigt. So kündigt beispielsweise einer der filmhistorisch paradigmatischen Filme der Weimarer Republik – der zweite Teil von Dr. Mabuse, der Spieler – in einem Zwischentitel mit folgenden Worten ein sensationelles Ereignis an: »Experimenteller Abend. Sandor Weltmann. Experimente über Massensuggestion, Wachhypnose, Trance, natürlichen Magnetismus, Geheimnisse der indischen Fakire. Die Geheimnisse des Seelenlebens. Das Unterbewußtsein bei Menschen und Tieren! Im großen Saal der Philharmonie.« Dem Verschwörungsplan des Großverbrechers Dr. Mabuse alias Sandor Weltmann steht in dieser Situation lediglich der Staatsanwalt von Wenk im Wege, der freilich noch nichts von der Personalunion Mabuse/Weltmann ahnt. Dem ›Mystiker auf der Bühne‹ gelingt es, den Anklagevertreter in seine Bühnenshow zu integrieren und mittels eines Diamanten und der vielsagenden Formel »Tsi – Nan – Fu!« in Hypnose zu versetzen und von Wenk somit seines Willens zu berauben. 47. Vgl. Sievers, Prof. Dr.: »›Das indische Grabmal‹ und die Echtheitsfrage«, in: Film-Kurier, Nr. 260, 07.11.1921. 128

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die Beschreibung der Anfangssequenz geht. So erklärt er deren Wirkung – »in denen der Zug [der Brahmanen, W.K.] mit dem Körper des Yoghi über Felsentreppen hinabsteigt« – mit dem »Schimmer jener unheimlichen Stimmung der mitternächtlichen Räume indischer Höhlentempel mit ihren im Fackellicht aufglühenden Skulpturen.«48 Ungeachtet aller von Sievers aufgelisteten Schwächen des Films konzediert er jedoch generös – und nicht ohne eine Spur genereller Skepsis gegen die Kinematographie – »daß in dem doch immer nur matten Spiegel, den das Lichtbild von der Wirklichkeit bietet, eine gewisse Vorstellung der indischen Welt dem Zuschauer vermittelt wird.«49

»Durch die phantastische Halle mit den tausend Säulen, durch das von Grauen aller Art erfüllte Büßergemach das auf ihre gereizten Sinne wie die Ausgeburt einer höllischen Phantasie wirkt, stürzt Irene immer weiter«50, beschreibt der Illustrierte Film-Kurier die Suche Irenes nach ihrem Verlobten, auf die sie sich ungeachtet des zuvor ergangenen Verbots durch den Fürsten Ahan begibt. Der auf das Außergewöhnliche, Sensationelle zielende Film läßt die Gele-

48. Ebd. 49. Ebd. 50. Anonym: »Grabmal (Illustrierter Film-Kurier)«, S. 7. 129

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genheit nicht aus, in dieser ›Wunderkammer‹ fremder Praktiken »indischen Fakirfanatismus mit europäischer Zivilisation zusammenstoßen zu lassen«51 – wie Siemsen spitz bemerkt – und führt sogleich eine Reihe bizarr erscheinender körperlicher Bußen vor. Die fantastische Imagination attribuiert den Büßern überdies die Zauberkraft, Menschen mit grauenerregenden Strafen zu überziehen. So tritt Rowland bei dem Versuch, die nach ihm suchende Irene im Palast des Radschas von Eschnapur zu treffen, in der von Büßern unterschiedlicher Couleur angefüllten Kammer aus Unachtsamkeit auf einen lebendig Begrabenen, von dem lediglich der Kopf aus der Erde schaut.

Daraufhin schleudert ihm der in seiner Ruhe Gestörte mit ›wutverzerrtem‹ Gesicht den – sich wenig später verwirklichenden – Fluch »Aussatz soll Deine weiße Haut zerfressen!«52 entgegen. Dies gibt dem Film Gelegenheit, mit einer Reihe von Bildern ein weiteres

51. [Siemsen: »Noch immer Kino«, S. 511] »Der Monumentalfilm ›Das indische Grabmal‹ hat uns in ausgezeichneter Weise mit den Wundern des Fakirismus, besonders dem Scheintod und den Zauberkräften eines Yoghi, bekannt gemacht«, lobt dagegen Kalbus aus der zeitlichen Distanz. [Kalbus: Filmkunst, S. 94.] 52. Zensurentscheid: Indische Grabmal (1. Teil). 130

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Klischee von Asien als Ort des Aussatzes und der Pestilenz vorzuführen, das zu den festen Versatzstücken europäischer Vorstellungen vom Orient gehört. In dieses Klischee fließt die Ansicht ein, daß

gemäß des westlichen Fortschrittsdenkens53 eine verbesserte Hygiene als zivilisatorische Weiterentwicklung zu bewerten und damit eine Kultur, die den erreichten Standards nicht genügt, auf einer temporalen Achse in einem Stadium früherer Entwicklung zu positionieren ist.54 Die Logik des Fortschrittsdiskurses ist aber besonders dort evident, wo Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen mit verschiedenen Techniken assoziiert werden. So wird der Auftritt Irenes mit dem Flugzeug schon in den Vorberichtserstattungen eine prominente Rolle zugewiesen. »Plötzlich ein allgemeines Staunen, etwas noch nie gesehenes, ein Flugzeug zeigt sich. Alles ist starr vor Staunen […]. Alle Augen richten sich auf das fliegende Unge-

53. Zum Fortschrittsbegriff siehe den Basistext von Reinhard Koselleck. [Koselleck, Reinhard: »Fortschritt«, in: Brunner, Otto, u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 351-423, bes. S. 407-423.] 54. Siehe dazu den von Frank Beat Keller herausgegebenen Ausstellungskatalog des Dresdner Hygiene-Museums. [Keller, Frank Beat (Hg.): Krank – warum? Vorstellungen der Völker, Heiler, Mediziner, Ostfilden-Ruit: Cantz 1995.] 131

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heuer, der Bazarhändler hat das Feilschen vergessen und der Barbier das Rasieren. Ein Passant, der stieren Blicks nach oben schaut, tritt in die Auslagen des Topfhändlers, es gibt Scherben, Keilerei, blutige Köpfe. […] Alles ist Leben, unverfälschtes Leben.«55 Westliche Überlegenheit wird hier deutlich mit Hilfe avancierter Technik in Szene gesetzt, die bei einem nicht über diese Technik verfügenden Volk lähmendes Erstaunen hervorruft, das überdies für komische Effekte ausgenutzt wird. Auf solche Zeitkonzepte des Fremden – in denen nicht zuletzt Hegels Vorstellungen zur geschichtlichen Entwicklung außereuropäischer Kulturen nachwirken – rekurrieren auch andere Rezensionen. So wird Mays Regie gelobt, sie habe es verstanden, »stoische Ruhe und Unbeweglichkeit in die Bilder zu zaubern«56, oder aber das Tempo des Films wird als Verkörperung des ›indischen Stoizismus gedeutet, »als die an keine Zeit gebundene Ruhe im Gegensatz zur Hast Europas«.57 Wie sehr derartige Imagines zum festen Repertoire der Vorstellungsbilder von Indien gehören und ihnen Glauben geschenkt wird, läßt sich mit einer Rezension der Zeitschrift Film-Echo belegen, die über diese Stätte der Siechen – an der der bedauernswerte Rowland nach dem Fluch des Büßers vom Aussatz befallen wird und scheinbar nur noch ein jammervolles Ende seiner Tage zu erwarten hat – mit einem leichten Tadel anerkennend ausführt: »Vielleicht ein sehr glücklich getroffenes Regiekunststück, aber mehr medizinisches Objekt als Ausschnitt eines Unterhaltungsfilms.«58

Sehnsuchtsbild eines Baumeisters Wie Bilder des Eigenen im Kontakt mit dem Anderen modelliert werden, läßt sich exemplarisch anhand der Sequenz belegen, in der sich Ramigani langsam im Salon des Architekten materialisiert. Bei aller von dem Yoghi ausgehenden Faszination manifestiert sich hier eine Form des Fremden inmitten der umhegten Wohnstube des Eigenen, die aufgrund ihrer Fähigkeit, nach Belieben in Erscheinung zu treten, ein besonderes Unbehagen hervorruft. Mit Hilfe einer Überblendung wird der vom Radscha von Eschnapur als Bote

55. 56. 57. 58.

Oly.: Film-Indien. R.: »American Films«, S. 201. Anonym: »B.Z. am Mittag«. -n-: »Das indische Grabmal. Zweiter Teil«, in: Film-Echo, 21.11.1921. 132

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geschickte Ramigani vor unseren Augen langsam sichtbar. Merklich erschreckt, aber gleichwohl gefaßt, erblickt Rowland wenig später den statuarisch auf einem üppigen Fauteuil Sitzenden, der seine Herkunft deutlich erkennbar durch seine Kleidung zur Schau trägt. Weisungsgemäß übergibt nun dieser Abgesandte einer fremden geheimnisvollen Macht die schriftliche Botschaft seines Auftraggebers. Dieser Brief hatte sich zusammen mit der Überblendung materialisiert, mit der der Yoghi sein Büßergewand gegen den ›indischen Sonntagsstaat‹ getauscht hatte.

Nebenbei bemerkt werden die telekinetischen Kräfte Ramiganis oder dessen Wanderungen als Astralleib selbstverständlich auch genutzt, um kinematographische Tricks einzusetzen, die freilich so spektakulär auch 1921 nicht mehr gewirkt haben dürften. Die fremden religiösen Praktiken sind in Joe Mays Film vornehmlich Anlaß zu fantastischer Spekulation über das Ausmaß spiritistischer Kräfte, die immer in einer Mischung aus Attraktion und Abscheu betrachtet werden. Magie und Archaik tritt hier in Konfrontation zu den technischen Apparate des Transports und der Kommunikation und figuriert als deren Störung. Bemerkenswerterweise funktionieren in Das indische Grabmal magische und spirituelle Kräfte sprachlos und sind damit deutlich von deren Verwendungsweise beispielsweise in Der Golem unterschieden, wo der magische Akt immer der drei Komponenten Zauberer, Zauberutensilien und Zauberspruch59 bedarf. Nach anfänglichem Widerstand Rowlands gegen die ungewöhnliche Forderung des Maharadschas, er möge ohne weitere Vorbereitung und ohne Abschied zu nehmen nach Indien aufbrechen, ist aufschlußreich wie dieser den Argumenten des Inders folgt. Ramigani läßt Rowland im Moment des Zögerns wissen, daß nie-

59. Vgl. dazu Stockhammer, Robert: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur. 1880-1945, Berlin: Akademie 2000, S. XI. 133

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mand »die ungeborenen Schöpfungen seiner Seele«60 zu töten vermag. In einem eilends verfaßten Brief, mit dem er seiner Verlobten die Gründe seiner überstürzten Abreise zu erklären versucht, wendet sich Rowland appellativ an Irene: »Ich halte mich als Mensch und Künstler nicht für berechtigt, die Aufgabe, die sich mir bietet, zurückzuweisen. Ich darf die ungeborenen Schöpfungen meiner Seele nicht töten.«61 Ohne weitere Absicherungen verläßt hier ein abenteuerlich gesinnter Mensch sein Heim, um seine ›wahren‹ Fähigkeiten in der Fremde unter Beweis zu stellen. Darüber hinaus wird jedoch auch – wie noch zu zeigen sein wird – in der Konfrontation mit dem außereuropäisch Fremden das Bild des Eigenen, wenn nicht entdeckt, so doch konturiert. Wie ein Nachfahre jenes Genueser Entdeckungsreisenden, der einst zu Beginn der Neuzeit mit dem Ziel Indien aufbrach, begibt sich Rowland auf die lange Seereise, um auf dem Subkontinent seinen Lebenstraum zu realisieren. »Was den Menschen auf die hohe See treibt, ist zugleich die Überschreitung der Grenze seiner natürlichen Bedürfnisse«62, die ihn in die Nähe des

60. Zensurentscheid: Indische Grabmal (1. Teil). 61. Ebd. 62. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 30. 134

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nicht Geheueren und Unheimlichen bringt. Wenngleich sich der Seefahrende übermächtigen Gewalten und damit sowohl dem metaphorischen wie realen Risiko des Schiffbruchs ausliefert, wäre ein Daheimbleiben im befriedeten Gefilde des Hafens keine Alternative, sondern würde letztlich ein versäumtes Lebensglück bedeuten. Deshalb blendet die lapidare – die oben geschilderte Szene aus Das Indische Grabmal betreffende – Bemerkung, Rowland erläge »der suggestiven Kraft Ramiganis«63, die Potentiale latenter Sehnsuchtsbilder des Architekten aus, die lediglich nach einer Gelegenheit verlangen, sich in großer Geste – gleichsam im Spenglerschen Sinne ins Unendliche ausgreifend – zu verwirklichen. Zwischentitel führen die Figur des Architekten mit dem Hinweis auf dessen Leistung als Baumeister ein. Zunächst sehen wir ihn, wie er seiner Verlobten Irene schwärmerisch die Abbildung eines indischen Grabmals zeigt. Irene stimmt zwar mit seiner Bewunderung überein, wendet aber mit Hinweis auf Rowlands eigene Leistung als Erbauer des ›Hauses auf dem roten Hügel‹ und einer Kirche (»das Haus der Mater Immaculata«64, heißt es im Roman) ein, daß dieses Grabmal unter seiner Ausführung noch schöner geworden wäre. Der weihevolle Name des Hauses, dessen Situierung auf einem Hügel und die Kirche lassen an die Theaterreformbewegung der letzten Jahrhundertwende denken, in deren Tradition auch die architektonische Avantgarde steht, die sich um ein expressionistisches Bauen bemüht. Indien figuriert für viele Kulturschaffende der Weimarer Republik bekanntermaßen als gemeinsamer geographischer »Wunschtraum einer Pilgerfahrt zum eigenen Ich«.65 Uneingeschränkt wurde das sehnsüchtige ›Kokettieren‹ mit östlichem Gedankengut und insbesondere mit der indischen Kunst in intellektuellen Kreisen jedoch nicht gutgeheißen. So merkt der Kunstkritiker Alfred Salmony an: »Früher war diese Kunst unbeliebt. Sie riecht nach Frauenopfer und Selbstvernichtung, nach Blut und Orgie. Sie hat eine fremde Ästhetik ohne unser Maß und proportionale Abmessungen. Jetzt pirscht man sich vorsichtig an sie heran, möglichst mit

63. Anonym: »Grabmal (Illustrierter Film-Kurier)«, S. 5. 64. Harbou: Das indische Grabmal (1921), S. 11. 65. Kathöfer, Karin: »Auf der Suche nach Indien – eurozentristischer Superlativ und ästhetischer Imperialismus«, in: Theye, Thomas (Hg.), Der geraubte Schatten. Photographie als ethnologisches Dokument, München, Luzern: C.J. Bucher 1989, S. 286-304, 321-329, hier S. 289. 135

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›kosmisch‹, ›magisch‹ und ›dynamisch‹ bewaffnet. Bis zum Wesen reicht europäischer ›Geschmack‹, die billige Aneignung nicht.«66 Ein gemeinsamer Bezugspunkt von Kritikern und Liebhabern indischer Kunst ist die attestierte ›ausschweifende‹ indische Fantasie; freilich oftmals unter gegensätzlichen Vorzeichen. Besonders Filmarchitekten scheinen im indischen Sujet ein ideales Betätigungsfeld zu finden und ergehen sich in exuberanten Fantasien, da sie hier weit weniger als in der ›Gebrauchsarchitektur‹67 dem Gebrauchszweck, Material, der Konstruktion und Ökonomie der Realisation unterworfen sind. Im Verbund mit der Kamera werden so ausschweifende Raumfantasien in Szene gesetzt. »Indische Kunst bedeutete für die Architekten Mitteleuropas […] eine Lockerungsübung für die Phantasie«68, bemerkt der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt und verweist auf Redenotizen von Walter Gropius aus dessen früher Zeit am Bauhaus: »›Bauen! Gestalten! Gotik – Indien‹«.69 Bezieht man diese im Diskurs um ein expressionistisches Bauen hergestellte enge Verbindung zwischen gotischer und indischer Kunst mit in die Überlegungen ein70, so kann das durch den Subkontinent repräsentierte Vorstellungsbild als Schaltstelle zwischen den fantastischen, kunstambitionierten Filmen und den in den expliziten Genrefilmen ausagierten okkultistischen Fantasien betrachtet werden. In beide fließen gleichermaßen die im Bildungsbürgertum weit verbreiteten Vorstellungen eines Orients ein, dem man sich in Deutschland traditionell auf eine sehr eigenständige Weise einer transkulturellen Beziehungsgeschichte verpflichtet und wesensverwandt fühlt. So behauptet Hans Poelzig – später Architekturprofessor und Filmarchitekt von Wegeners zweitem Golem-Film – in einer programmatischen Rede, in der er dem 1917 gegründeten

66. Salmony, Alfred: »Gupta Plastik«, in: Der Querschnitt, Jg. 3, Nr. 3/4, 1923, S. 118. 67. Auf den anhaltenden Streit, das zwar unter Architektur Bauwerke zu verstehen, jedoch nicht alle Bauwerke als Architektur zu bezeichnen sind, kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Auf einer basalen Ebene sollen unter Gebrauchsarchitektur alle im realen Leben in jeglicher Form genutzten Bauwerke im Gegensatz zur fiktionalen Welt verstanden werden. 68. Pehnt, Wolfgang: Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart: Hatje 1998, S. 48. 69. Gropius zit. n. ebd., S. 47. 70. Zur Popularisierung orientalischer Themen in anderen Künsten siehe beispielsweise die Aufsätze Peter Wollens und Linda Nochlins. [Wollen: »Fashion«; Nochlin: »Imaginary Orient«.] 136

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Verein Salzburger Festspielhaus-Gemeinde die künstlerischen Absichten seines Entwurfs eines Opernhauses erläutert, daß »die Scheide zwischen Ost und West«71 mitten durch Deutschland geht.72 »Wir [die Deutschen, W.K.] verstehen beide Welten, aber immer, wenn wir uns vom Westen abwandten, wenn wir uns eher der mystischen Art des Ostens näherten, waren wir stärker und eigener.«73

Diese Orientierung nationaler Identitätsbildung am Orient ist nicht ohne Vorbilder. So konstruiert beispielsweise Richard Wagner zur Erörterung seiner Frage Was ist deutsch? eine geheime Seelenverwandtschaft der Deutschen mit dem »allerhöchst begabten Indus-

71. [Poelzig, Hans: »Festspielhaus in Salzburg. Vorprojekt und eine Ansprache von Hans Poelzig«, in: Das Kunstblatt, Jg. 5, Nr. 3, 1921, S. 77-88, hier S. 83.] Dem Kunstrat, der mit der Auswahl des eingereichten Entwürfe für ein Salzburger Mozart-Festspielhaus betraut war, gehörten so illustere Mitglieder wie Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt, Alfred Roller, Franz Schalk und Richard Strauß an. 72. Auch an dem schmalen Filmschaffen des Architekturprofessors Hans Poelzig läßt sich die von Gropius‹ Redenotiz angesprochene Verbindung zwischen Gotik und Indien ablesen. Neben seiner Arbeit an den gotisch inspirierten Bauten zu Arthur von Gerlachs Zur Chronik von Grieshuus baute er für Paul Wegeners Lebende Buddhas – Eine Phantasie aus dem Schneeland Tibet in der ehemaligen Zeppelinhalle von Staaken eine fantastisch-tibetanische Landschaft. Zu Poelzigs Arbeiten für die deutsche Kinematographie siehe den instruktiven Aufsatz von Claudia Dillmann. [Dillmann, Claudia: »Die Wirkung der Architektur ist eine magische. Hans Poelzig und der Film«, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/M. (Hg.), Hans Poelzig – Bauten für den Film, Frankfurt/M.: Deutsches Filmmuseum 1997, S. 20-75.] 73. Poelzig: »Festspielhaus in Salzburg. Vorprojekt und eine Ansprache von Hans Poelzig«, S. 83. 137

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volke«74, die er in der Fähigkeit des deutschen Geistes ausmacht, »sich innerlich zu versenken, und vom Innersten aus klar und sinnvoll die Welt zu betrachten.«75 In der Weimarer Republik konstruieren besonders Vertreter der Konservativen Revolution, indem sie sich auf Herders Auffassung von Kultur als vermeintlichen Gegenentwurf zur Zivilisation zurückbeziehen, das Deutsche gleichsam als das Andere der zivilisatorischen Ordnung Westeuropas. An solchen historischen Beispielen wird deutlich, daß eigene – gemeinhin transparente – kulturelle Normen oftmals erst über den Umweg ihrer Relation zu fremdkulturellen Phänomenen zu Bewußtsein gelangen. Nebenbei sei bemerkt, daß indische Motive auch in Zusammenhängen zitiert werden, die nicht vordergründig durch das Sujet motiviert sind. So amalgamieren etwa in der Konstruktion des zentralen Hochhauses in Metropolis modernistische Elemente mit solchen, bei denen der expressionistischen Architektur Imaginationen des Mittelalters Pate stehen. Vermittelt über die bei einigen Vertretern expressionistischen Bauens populäre Konzeption einer mittelalterlichen Stadtkrone und eines am Vorbild der Kathedrale orientierten zentralen Kultbaus fließt beispielsweise in Bruno Tauts Kristallhaus-Entwürfen von 1920 eine indische Formensprache ein, deren architektonischen Elementen man in Joh Fredersens Residenz in Metropolis wiederbegegnet, wie die Abbildungen auf der vorhergehenden Seite zeigen.

Masken und Verstellungen »Irene bittet um Gnade für Mac Allan. Höflich, kalt, mit tückischem Lächeln sagt ihr der Fürst Erfüllung ihrer Bitte zu.«76 Der Illustrierte Film-Kurier greift mit dieser Beschreibung einer ›perfiden asiatischen Maske‹ eines der hartnäckigsten Klischees westlicher Asienimaginationen77 auf, das auch in Joe Mays Film in aller Deutlich-

74. Wagner: »Was ist Deutsch«, S. 98. 75. [Ebd.] Diese Tendenz zur Verinnerlichung macht Theodor W. Adorno bekanntlich für die späteren zeitgeschichtlichen Katastrophen verantwortlich. »[D]as Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll […] hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen«. [Adorno: »Auf die Frage«, S. 695.] 76. Anonym: »Grabmal (Illustrierter Film-Kurier)«, S. 11. 77. Lionel Trilling weist darauf hin, daß im kolonialen Diskurs Aufrichtigkeit zur moralische Überlegenheit garantierenden Charaktereigenschaft wird, mit der letztlich auch europäische Dominanz über die Kolonisierten gerechtfertigt wird. Im 138

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keit ausagiert wird, wenn Conrad Veidt als Reaktion auf diese Bitte ein verkniffenes Lächeln über das Gesicht huschen läßt. Auf den ›humanistischen‹ Appell – oder besser: auf den christlich geprägten kategorischen Imperativ –, trotz des Ehebruchs, den Mac Allen mit der Maharani begangen hat, Milde walten zu lassen, da kein Mensch »Richter und Henker seines Feindes sein«78 darf, reagiert der Maharadscha mit einer nur allzuleicht zu durchschauenden Geste des Einlenkens. »Gut! … […] Kein Mensch soll ihm ein Haar krümmen.«79 Mac Allan wird daraufhin versprochen, nach Durchschreiten eines Hofes frei zu sein.

Daß es sich hierbei um den bereits in die Narration eingeführten Tigerhof (einem Circus Maximus en miniature) handelt, den Irene zuvor nur mit Hilfe der übersinnlichen Fähigkeiten Ramiganis

19. Jahrhundert wird dieser Charakterzug beispielhaft von den Engländern verkörpert. So läßt R.W. Emerson in seinem 1856 erschienenen English Traits seine Leser wissen: »Wir wollen mit einem Menschen, der eine Maske trägt, nichts zu schaffen haben. […] Wir wollen die Wahrheit wissen. Zieht eine gerade Linie, weicht nirgends und niemandem aus.« [Zit. n. Trilling: Aufrichtigkeit, S. 108.] 78. Zensurentscheid: Indische Grabmal, Das (2. Teil), 1921 (BAFA; Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 4537). 79. Ebd. 139

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durchschritten hat und in dem nun die großen Raubkatzen an Menschen Statt das Mörderwerk vollbringen werden, das erkennt wohl der Zuschauer, nicht aber der englische Offizier, der so zum »Opfer der wilden Bestien«80 wird. Die Inszenierung Joe Mays läßt Conrad Veidt als Maharadscha – der seine Frau zwingt, »von ihrem Fenster aus Zeugin des furchtbaren Todes ihres Geliebten«81 zu sein – den Genuß über die Ermordung des Nebenbuhlers und das Leiden der Maharani deutlich ausagieren.

Die unkontrollierte Rachsucht des Fürsten wird jedoch bereits an verschiedenen Stellen des Films in Szene gesetzt. Schon der Prolog des Films verbindet den Maharadscha visuell mit der aus zahllosen

80. Anonym: »Grabmal (UFA-Blätter)«. 81. Ebd. 140

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Indienimaginationen bekannten, vielarmigen Schreckensgöttin Durgha, die ihr Reich in Mays Film – wie sollte es anders sein – in einer Höhle hat. Schatteneffekte des mittels Fackeln beleuchteten Raums verstärken darüber hinaus die mysteriöse Erscheinung des Fürsten. Auch bei der Ankunft Rowlands im Reich des Maharadschas wird Conrad Veidt reichlich Gelegenheit gegeben, die Unberechenbarkeit der von ihm verkörperten Figur mimisch zu unterstreichen. Mittels einer Vielzahl von Signalements zeigt der Film den Genuß des Potentaten an der von seiner Macht ausgehenden Bedrohung und läßt mit dem kurzen Auftauchen der Maharani erste Zweifel des europäischen Baumeisters entstehen.

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Auch als der indische Fürst später Irene – die ihrem Bräutigam auf den Subkontinent gefolgt ist – in seinem Palast begrüßt, wird die Freundlichkeit, mit der er ihr begegnet, durch Veidts Minenspiel als vordergründige betont und physiognomisch als verschlagene denunziert. Zugleich ist die Attraktion zu spüren, die für den Inder von der tatkräftigen europäischen Frau auszugehen scheint. Neben den unkontrollierten Gefühlsaufwallungen charakterisiert ein von Vergeltung und Opfer geprägtes Denken den Potentaten. Als Buße für eine mögliche Heilung Rowlands von der Lepra verlange der »Gott der Büßer, der beleidigt wurde, […] sein Opfer«82, gibt er vor. Wenig später erkennt der Zuschauer jedoch, daß es einzig in der Macht des indischen Fürsten liegt, sein willfähriges Instrument Ramigani anzuweisen, diese Wunderheilung zu vollbringen. Als ›liebende, treue Gefährtin‹ ihres Bräutigams willigt Irene, nachdem sie outriert seelische Qualen durchlitten hat, in das grausame Tauschhandel ein. Mit diesem Tausch wird dem Kinopublikum daraufhin ein weiteres Mal das maskenhafte Täuschung des Maharadschas verdeutlicht. Nicht die indische Religion, sondern der weltliche Herrscher verlangt dieses Opfer, und zwar in einem durchaus fleischlichen Sinn. Voraussetzung für dessen Auftritt ist der plötzliche Wechsel des Lichts. Von einer taghellen Beleuchtung schlägt das Licht in mystische Dunkelheit um, und schafft so die idealen Auftrittsbedingungen für die folgende Szene, in der Irene kostümiert als Tempeldienerin auf ihr baldiges Ende wartet. Eingehüllt in mysteriös fließendes Licht – tritt der als Hohepriester gekleidete Fürst aus der Tiefe des dunklen Raumes aus einer unter einer riesigen Buddhastatue [sic!] befindlichen Kammer voller Begehren an Irene heran. Das in den geweihten Hallen des Tempels plakativ ausgestellte Begehren des Inders wurde bereits vordem im Verlauf des Films angedeutet.

82. Zensurentscheid: Indische Grabmal, Das (2. Teil), S. 4. 142

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Die ›tapfere‹ – aber hilflose – Europäerin versucht daraufhin mit dem eigens zu diesem Zweck in ihrem Hosenbund befindlichen Dolch – höchst effektvoll – mit einem gegen ihren Bauch geführten Stich freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Im Angesicht dieser Entschlossenheit gibt der indische Machthaber sein Ansinnen auf und gebietet ihr Einhalt.

Auf einem der Filmplakate zu Das indische Grabmal wird dieser Opferdiskurs in blutroter Färbung in Szene gesetzt. Tatsächlich bezieht sich die auf dem Plakat dargestellte Szenerie auf eine Situation des Films, in der Irene vom Maharadscha auf die hohe, den Hof der Aussätzigen umsäumende, Mauer geleitet wird. Als diese dort ihren siechenden Bräutigam entdeckt, sinkt sie ohnmächtig vor Schmerz danieder. Die Affiche verändert jedoch im Verhältnis zum 143

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Film den Blickwinkel, wodurch die Armpartie des kordelverzierten Kleides der niedergestreckt liegenden Irene mit Fesseln assoziiert werden könnten und überdies die intensive Rotfärbung an Tod und Opfer gemahnt.

Die letztendlich ihr gegenüber gezeigte Nachsichtigkeit; wird der loyalen Dienerin der Maharani, Mirrjha, dagegen nicht zuteil. Er versichert gegenüber den beiden Europäern zwar, der sympathischen Zofe keinen Schaden zufügen zu wollen; beide hätten es aber besser wissen müssen. Mirrjhas letzter Auftritt bietet Gelegenheit, eines der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildmächtigsten populärkulturellen Indienimagines, das der tanzenden Bajadere83 in ihrer »Grundfiguration von Bekleidung und Nacktheit«84, darzubieten.

83. Lediglich erwähnt sei, daß Richard Schechner in seiner Theater-Anthropologie auf die Rekodierung des indischen Tempeltanzes im 20. Jahrhundert hinweist. »Es ist tatsächlich nicht bekannt, wann das klassische Bharatanatyam ausstarb oder ob es überhaupt jemals existiert hat.« Einzige Quellen des rekodierten Tanzes seien demnach der die Tanzschritte vorgebende Theatertext des Natyasastra (2. Jahrhundert v. Chr. – 2. Jahrhundert n. Chr.) sowie »jahrhundertealte Tempelschnitzereien, die ebenfalls diese Tanzschritte zeigen.« [Schechner, Richard: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 179.] 84. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 240. 144

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Freilich gewährt der Film dem Zuschauer nicht lange Gelegenheit, sich an diesem bekannten – an die Inszenierungen von Ruth St. Denis85 erinnernden – Motiv zu erfreuen. Bereits nach einigen Tanzschritten wird die treue Dienerin Opfer der sinistren Machenschaften des blind rachsüchtigen Maharadschas und stirbt am Biß einer eigens zu diesem Behufe herbeigeschafften Kobra.

Im Roman von Thea von Harbou muß Ramigani – das hilflos dem Maharadscha ausgelieferte Instrument einer maßlosen Rachsucht – gegen seinen Willen noch die Position des Schlangenbeschwörers einnehmen, durch dessen Wirken die sympathische Dienerin der Maharani getötet wird. Dieser – in der Tradition orientalisierender Kunst stehenden – Repräsentationspraxis, die bevorzugt das Exotische, Fremdartige der gezeigten Strafen ausstellt, ist das Konzept eines gütigen europäischen Humanismus gegengezeichnet, das freilich den gesamten Komplex kolonialistischer Gewalt vollkommen unterschlägt. Nicht nur in Das indische Grabmal, sondern in einer Vielzahl weiterer Filme – stellvertretend seien Harakiri oder Der Flug um den Erdball genannt – greifen Europäer ein, um die Gewalt, die sich die Orientalen untereinander antun, zu unterbinden. Bisweilen kann die scheinbar uneigennützige humanitäre Mission eines Europäers – wie die von Eduard v. Winterstein verkörperte Figur des Drogenforschers Prof. Gesellius in Robert Reinerts Opium zeigt – sogar zur handlungstragenden Komponente eines Films werden. Die in diesem Zusammenhang verwandten Ikonographien sind dabei nachdrücklich von fürsorglicher Anteilnahme geprägt. Letztlich wird

85. Zu Ruth St. Denis siehe Ochaim/Balk. [Ochaim, Brygida/Balk, Claudia: Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt/M, Basel: Stroemfeld (Roter Stern) 1998.] 145

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mittels eines solchen Repräsentationsverfahrens das Vorstellungsbild bestätigt, daß orientalische Gesetzespraxis durch irrationale und willkürliche Gewalt geprägt ist, denen der Einzelne rechtlos

ausgeliefert ist, während westliche, durch Gesetze geregelte und von Richtern exekutierte, Gewalt im Gegensatz dazu Recht ist. 86 Selbst wenn in der zeitgenössischen Fachwissenschaft eine Position eingenommen wird, die die Beziehungen zwischen Islam und Europa als »Berührungen verschiedenartig weitergebildeter Auswirkungen eines und desselben kulturellen Mutterbodens«87 verstehen, so markiert diese Form des Humanismus ungeachtet des gemeinsamen

86. Vgl. Nochlin, Linda: »The Imaginary Orient (1983)«, in Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart: Canzs 1987, S. 172-179, hier S. 176f. 87. Becker, C. H.: »Der Islam in Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Jg. 76, Nr. 1, 1922, S. 18-35, hier S. 25. 146

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kulturellen Erbes dennoch die Zäsur, die den Orient von Europa trennt. »Der Begriff des freien Bürgers ist im Orient nie erlebt, ja nicht einmal gedacht worden. […] Die abendländische Demokratie hat den Humanismus und, auf ihm fußend, den Individualismus zur Voraussetzung; die orientalische Demokratie ist Kollektivismus […].«88

88. Ebd., S. 31. 147

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›Moderne‹ physiognomische Lesbarkeitskonzepte und visuelle Anthropologie Verschiedentlich wurden in dieser Arbeit – wie beispielsweise im Zusammenhang mit sogenannten Exoten-Schauspielern oder aufs fantastische Rollenfach abonnierten Leinwandgrößen wie Bernhard Goetzke, Conrad Veidt, Paul Wegener, Lil Dagover oder Pola Negri – Fragen des typecasting, der Mimik, Gestik und der den Akteuren attribuierten physiognomischen Qualitäten angesprochen. Das Spiel und die Körpersprache dieser Darstellerinnen und Darsteller entspricht, wie die überwiegend lobenden Erwähnungen der Filmkommentatoren belegen, den oftmals stereotypisierenden zeitgenössischen Vorstellungen fremder Ethnien. Wenn, wie im Stummfilm, dem Körper des Schauspielers und seinen Artikulationen in Raum und Zeit eine entscheidende Rolle zugeschrieben werden, so rückt damit auch die Frage nach der Tradition und Konzeption von Lesbarkeit in den Vordergrund, mit deren Hilfe die als zeichenhaft angenommene äußere menschliche Gestalt dechiffriert wird. Diese Traditionslinie soll im folgenden nun eingehender untersucht werden, zumal deren Prinzipien beim Erkennen eines Anderen als anders und fremd gemeinhin transparent bleiben. In der deutschen Filmtheorie kann das gleichermaßen traditionsreiche wie umstrittene Konzept der Physiognomie wohl mit einem ihrer bekanntesten Protagonisten der 20er Jahre in Verbindung gebracht werden: mit Béla Balázs. In der Schrift eines dem Selbstverständnis nach marxistischen Autors, der sich in Der sichtbare Mensch mit dem »Mut zu Kolumbusfahrten« 1 nichts geringeres zur Aufgabe gemacht hat, als den Versuch einer »Kunstphilosophie des Films«2 zu unternehmen, und als Verkünder einer »neu-

1. Balázs, Béla: »Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 43-142, hier S. 45. 2. Ebd. 149

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e[n] Wendung [der Kultur] zum Visuellen«3 auftritt, erscheint das – zumal in Deutschland gründlich diskreditierte – Konzept der Physiognomie auf den ersten Blick verwunderlich. Versucht man jedoch die begriffsstrategischen Implikationen der Verwendung des Konzepts auszuleuchten und weitet die Perspektive auf andere intellektuelle Projekte der deutschen Zwischenkriegszeit aus, die nach dem Verlust metaphysischer Sicherheiten nach neuen Orientierungsund Selbststabilisierungsformen Ausschau halten, so zeigt sich, daß eine vorwärtsweisende Beschäftigung mit Phänomenen der Moderne nicht selten mit einem Rekurs auf ein traditionsreiches Programm verbunden ist. Der Rückgriff auf tradierte Denkfiguren ist jedoch nicht zwangsläufig als ›Wiederkehr des Immergleichen‹ zu verstehen. Neukontextualisierungen traditioneller ideengeschichtlicher Konzepte eröffnen die Möglichkeit, schon in deren Ausgangskonzeption angelegte Aspekte deutlicher zu konturieren und sind nicht selten Beginn eines grundlegenden Umkodierens. Was mir ein Nachspüren des von Balázs thematisierten Konzepts sowohl in seinem Wandel als auch seiner Kontinuität lohnenswert erscheinen läßt, ist die Verbindung, die sich mit Hilfe eines erweiterten Lesbarkeitskonzepts gekoppelt mit der Idee des Archivs4 zwischen dem Projekt der Ikonographie und der Physiognomie herstellen läßt. Alan Sekula merkt an, daß das fotografische Projekt innerhalb der bürgerlichen Kultur nicht nur immer schon mit dem Traum einer universellen Sprache verbunden sei, sondern auch mit der Etablierung globaler Archive, die denen von Bibliotheken, Enzyklopädien, zoologischen und botanischen Gärten, Museen, polizeilichen Akten und Banken bereitgestellten Modellen folgen. »As for the truths, their philosophical basis lies in an aggressive empiricism, bent on

3. [Ebd., S. 52.] Diese Vorstellung wird »nicht als formales, sondern als qualitativ bestimmtes Verhältnis des Menschen zu seiner sozialen und gegenständlichen Umwelt gedacht«. [Heller: Literarische Intelligenz, S. 233.] 4. [Alan Sekula, zit. nach Baker, George: »Photography between Narrativity and Stasis. August Sander, Degeneration, and the Decay of the Portrait«, in: October, Nr. 76, 1996, S. 73-113, hier S. 83.] Hier wäre auf Bernd Busch zu verweisen, der auf die Verbindung von Lesbarkeit mit mittelalterlichen Modellen aufmerksam macht, wie sie beispielsweise durch den Sieneser Dom als Zeitenraum, als »Ort des liturgischen Gedächtnisses der Zeiten« repräsentiert werden. [Busch, Bernd: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie (1989), Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 46ff.; und immer noch lesenwert und instruktiv Ohly, Friedrich: »Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena«, in: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 171273, hier besonders S. 155.] 150

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archiving a universal inventory of appearance. Archival projects typically manifest a compulsive desire for completeness, a faith in an ultimate coherence imposed by the sheer quantity of acquisitions. In practice, knowledge of these sort can only be organized according to bureaucratic means.« Die Tendenz apparativer Bildmedien zur Inventarisierung der sichtbaren Welt läßt sich bereits zu einem Zeitpunkt nachweisen, zu dem es die Fotografie noch gar nicht gab. So preist bereits der französische Politiker und Astronom Dominque François Arago in seiner Rede vor den versammelten Akademien der Wissenschaften und der Schönen Künste am 19. August 1839 die Vorzüge der Daguerreotypie, indem er deren Nutzen für Expeditionen hervorhebt. Hätte die französische Expedition nach Ägypten im Jahre 1798 über diese Technik verfügt, so hätten damit eine Unzahl nun unwiederbringlich vernichteter Hieroglyphen anstatt von einer Legion von Zeichnern von einem einzigen Daguerreotypisten kopiert werden können. Die Reaktion des französischen Bildungsministeriums läßt nicht lange auf sich warten. Nur einen Tag später wird der Gründung der Société ethnologique de Paris zugestimmt, eine Gründung, die einer Reihe vergleichbarer Institutionen in Europa als Vorbild dient und aufzeigt, wie sich bereits frühzeitig »die Vorstellung auch eines ethnographischen imaginären Museums«5 abzeichnet. In diesem Zusammenhang wäre auch Susan Sontags Kritik des fotografischen Programms als »akquisitives Verhältnis zur Welt«6 zu nennen. Bei dieser »Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart«7 muß beachtet werden, daß der primäre Untersuchungsgegenstand von Ikonographie und Physiognomie zunächst grundsätzlich unterschieden erscheint. Während sich ikonographische Studien immer schon mit semiotisierten Objekten beschäftigen, unterstellt das Projekt der Physiognomik die Les- und Interpretierbarkeit ›natürlicher‹ Gegenstände. Diese scheinbar prinzipielle Differenz schwindet jedoch, bedenkt man, daß in der durch die Physiognomik Lavaterscher Prägung inaugurierten Perzeptionsschule der Lesbarkeit die an Abbildungen von Kupferstichen und Zeichnungen einzuübende Dechiffrierfähigkeit einen herausragenden Platz einnimmt und infolgedessen mit der Bedeutungsproduktion vermittels semiotisierter Objekte verwoben ist. Darüber hinaus ist eine der Forderungen an den ›vollkommnen Physiognomisten‹ seine »nicht

5. Wiener: Ikonographie, S. 49. 6. Sontag, Susan: Über Fotografie (1977), Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 109. 7. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. V: Das Passagenwerk, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 588. 151

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gemeine Fertigkeit im Zeichnen und Mahlen.«8 Lavater führt zu der an Artefakten geschulten Fähigkeit des Detaillesens aus: »Ein Mahler kann zwar oft, wie der Verfertiger eines Skeletts, Glieder von verschiedenen Körpern in einen zusammen setzen; nur das ungeübte Auge wird dies nicht bemerken; aber der feinere Kenner wird sagen: Eine Hand von Vandyk paßt nicht zu einer Figur von Rubens.«9 Lavaters Bemerkung klingt dabei fast wie ein Vorgriff auf die im 19. Jahrhundert die Kunstgeschichte revolutionierende Morelli-Methode, von der aus Carlo Ginzburg eine Linie zu oberflächenorientierten Wissenschaftsmodellen des 20. Jahrhunderts zieht.10 Unschwer läßt sich anhand von graphein in Ikonographie und gnomein in Physiognomie auch methodisch über den unterschiedlichen Untersuchungsgegenstand hinaus eine weitere Differenz feststellen, die an dieser Stelle jedoch lediglich erwähnt sein soll. Daß die Konzentration der Ikonographie auf die Deskription im kunsthistorischen Diskurs zunehmend in die Kritik gerät, läßt sich an Karl Künstles Ausführung von 1928 ablesen: »Ikonographie ist derjenige Zweig der Kunstwissenschaft«, merkt er an, »der die Bildwerke lediglich nach ihrem Vorstellungsinhalt untersucht.«11 Diese im 20. Jahrhundert zum Problem werdende Selbstbeschränkung einer vorwiegend deskriptiv verfahrenden Ikonographie wurde beispielsweise in Panofskys Studies in Iconography von 1939 korrigiert. Im Unterschied zu späteren Fassungen dieses Essays heißt die dritte Interpretationsebene seines bekannten dreischrittigen Modells hier noch ›ikonographische Interpretation›12 und wird von Panofsky als eine »interpretative Wende der Ikonographie«13 bezeichnet.

8. Lavater, Johann C[asper]: Von der Physiognomik (1772) und Hundert physiognomische Regeln, Frankfurt/M.: Insel 1991, S. 59. 9. Ebd., S. 26. 10. Vgl. Ginzburg, Carlo: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Freibeuter, Nr. 3 + 4, 1980, S. 7-17 + 11-36. 11. Künstle, Karl: »Symbolik und Ikonographie der christlichen Kunst. Zur Methodologie der christlichen Ikonographie, (1928)«, in: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem 1: Ikonographie und Ikonologie. Theorien. Entwicklung. Probleme, Köln: DuMont 1994, S. 64-80, hier S. 64. 12. Vgl. Turner, Jane: The Dictionary of Art, New York: Grove 1996, Bd. 15, S. 90. 13. Meine Übersetzung von Panofsky. [Panofsky, Erwin: »Iconography and Iconology. An Introduction to the Study of Renaissance Art«, in: ders.: Meaning in 152

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Der nun folgenden begriffsgeschichtlichen Skizze möchte ich einschränkend vorausschicken, daß hier weder die hinlänglich bekannte und berechtigte Kritik14 an Lavaters Physiognomischen Fragmenten15 noch der etwaige direkte Einfluß der Fragmente auf Balázs’ Überlegungen thematisiert wird. Vielmehr wird zunächst in groben Zügen die Entwicklung der Physiognomie nachgezeichnet, um sodann einige ihrer – in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Moderne zu neuer Prominenz gelangenden – Potentiale zu benennen. Physiognomie ist – allgemein gesprochen – in Zusammenhang mit einem kulturgeschichtlich durchgängig anzutreffenden Wunsch zu sehen, aus beobachtbaren Fakten Bedeutungen zu extrahieren oder diesen bestimmte Werte zuzuschreiben.16 Geistesgeschichtlich ist der Begriff heute – wie schon angedeutet – eng mit dem Schweizer Johann Casper Lavater verbunden. Lange Zeit vor der Abfassung der Fragmente gilt jedoch die Aristoteles zugeschriebene Schrift Physiognomica als das Referenzwerk dieser mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auftretenden Lehre. In Aristoteles’ Werk finden sich bereits die späterhin so häufig verwandten Vergleiche zwischen Menschen und Tieren17, wie sie besonders in G. B. della Portas De humanua physiognomia (1586) oder den kunstgeschichtlich bedeutsamen Untersuchungen des französischen Hofmalers Charles Le Brun – Conférence … sur l’espressione géné-

the Visual Arts. Papers in and on Art History, Garden City, N.Y.: Doubleday 1957, S. 26-54, hier S. 32.] Auch über den Begriff des Ausdrucks ließe sich eine Verbindung von Physiognomie und Ikonologie herstellen. In Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wird Ausdruck bekanntlich zu einer zentralen Kategorie. 14. Ungeachtet dieser Kritik läßt sich zunächst einmal festhalten, daß die Fragmente den Beginn einer sich entwickelnden Wissenschaft markieren, die verschiedene Ausdrucksformen des Menschen – wie Bewegung und Gesichtsformen – mit geistig-sittlichen und psychologischen Eigenschaften verbindet. 15. Lavater, Johann C[asper]: Physiognomik. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vollständig neue Auflage der verkürzt hg. Physiognomischen Fragmente, hrsg. v. Ch. Jenantzky, Halle 1916, Zürich: Orell Füsseli Verlag 1969. 16. Vgl. dazu Graham, John: »Contexts of Physiognomic Description: Ut Pictura Poesis«, in: Shookman, Ellis (Hg.), The Faces of Physiognomy: Interdisciplinary Approaches to Johann Caspar Lavater, Camden House: Camden House 1993, S. 139160, hier S. 141. 17. Vgl. Shortland, Michael: »The Power of a Thousand Eyes: Johann Caspar Lavater’s Science of Physiognomical Perception«, in: Criticism. A Quarterly for Literature and the Arts, Jg. 28, Nr. 4, 1986, S. 379-408, hier S. 381ff. 153

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rale et particulière (1698) fortgesetzt und popularisiert werden. Weitergeführt werden solche Abhandlungen beispielsweise durch den Niederländer Petrus Camper, der aus der Schädelform den Grad menschlicher Intelligenz ermessen zu können glaubt.18 An diese Vorläufer knüpft Lavater an, wenngleich sich dessen Hauptbemühen im Grunde auf eine reine Temperamentphysiognomie richtet, die vornehmlich aus dem Gesicht den Charakter des Menschen zu erschließen sucht. »Der Mensch […] besteht aus Oberfläche und Inhalt. Etwas an ihm ist äußerlich, und etwas innerlich. Dies Äußerliche und Innere stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusammenhange. Das Äußerliche ist nichts als die Endung, die Gränzen des Innern – und das Innere eine unmittelbare Fortsetzung des Äußeren.« 19 Der in den philosophischen Spekulationen des Mittelalters behaupteten Korrespondenz von Wesen und Erscheinung verpflichtet, geht Lavater von einer subtilen Harmonie von Körper und Geist aus, die jede Erscheinung der Natur als einen Eintrag »ins große Alphabeth [sic!] der Physiognomik«20 betrachtet. Aus der hybriden Vorstellung von der Dechiffrierbarkeit aller Erscheinungen für das geübte Auge resultiert aber auch der unreflektierte Größenwahn, der Lavater zum ersten Mal »das Ideal des gläsernen Menschen«21 formulieren

18. Auch kriminalanthropologische Schriften wie Cesare Lombrosos L’Uomo delinquente (1876) gehören in diesen Zusammenhang proleptischen Lesens der Körperoberfläche, um den realen Gefährdungen und Desorientierungen der Moderne prophylaktisch zu begegnen. Lombroso »who formulated the science of criminal anthropology, contended that there is a bodily structure, which is knowable, measurable, and predictable, and that this structure defines the criminal«. [Bruno: »Spectatorial Embodiments«, S. 252.] Die kriminalanthropologisch-physiognomische Vermessung der bürgerlichen Schreckfigur des Verbrechers hat grundlegend Peter Strasser analysiert. [Strasser, Peter: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen, Frankfurt/M., New York: Campus 1984.] Max Nordau macht diese Lehre dann zum Ausgangspunkt seiner kulturkonservativen Untersuchung Entartung, die mit Hilfe einer an Lombroso geschulten Lektüre beabsichtigt, gleichsam eine ›physiognomische Bestandsaufnahme‹ des Jahrhunderts vorzulegen. [Vgl. Nordau, Max (d.i. Max Simon Südfeld): Entartung, Berlin: Duncker 1892-1893.] 19. Lavater zit. nach Hart Nibbrig, Christian L.: Die Auferstehung des Körpers im Text, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 146. 20. Lavater: Physiognomik, Bd. IV, S. 56. 21. [Böhme, Hartmut: »Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermeneutische Tradition«, in: Kamper, Diet154

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läßt. Sehr viel vorsichtigere Argumentationen sind jedoch selbst unter den Beiträgern zu den Fragmenten zu finden. Einer ihrer populärsten – der junge Goethe – faßt seinen Begriff von Physiognomie sehr viel komplexer: »Diese Wissenschaft«, führt Goethe zur Physiognomik aus, »schließt vom Äußern aufs Innere. Aber was ist das Äußere am Menschen? […] Stand, Gewohnheiten, Besitztümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn. […] Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren läßt, modifiziert er wieder rings um sich her. […] Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem Bilde.«22 »Ich hoffe, es wird niemand sein, der mir verdenken wird«, so schließt er, »daß ich das Gebiet des Physiognomisten also erweitere.«23 Physiognomie ist in dieser Perspektive nicht ausschließlich auf die Lesbarkeit unwandelbarer Merkmale aus, auf die Lavater seine ›Wissenschaft‹ beschränkt wissen wollte24, sondern wird auf die semiotischen Aspekte des gestalteten menschlichen Milieus ausgeweitet und schließt darüber hinaus bereits das ein, was in der lebensphilosophisch inspirierten Soziologie Georg Simmels mit dem Konzept der Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur begrifflich gefaßt wird. Auch die Position des Physiognomiekritikers Georg Christoph Lichtenberg weist große Nähe zu der von Goethe vorge-

mar/Wulf, Christoph (Hg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin: Reimer 1989, S. 144-184, hier S. 169.] Eine Verbindung zwischen Lavater, Swedenborg und dem Kino ließe sich über den von Hartmut Böhme erwähnten »Traum des esoterischen Lichtkörpers und einer vollkommenen Ausdruckssprache« herstellen. [Ebd.] Hartmut Böhme zufolge drückt sich hier das Begehren der Poesie in der Folge der Sturm- und-Drang-Zeit aus, »das absolute Wort und den absoluten Leib zu finden, goldenes Zeitalter der Menschen, die – im Dreiklang von Natur, Körper und Sprache – die Wahrheit des nackten Wortes und des sprechenden Leibes träumend leben«. [Ebd.] 22. Goethe, Johann Wolfgang: »Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten«, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hrsg. v. Karl Richter, Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757-1775, München, Wien: Hanser 1987, S. 457-489, 863-867, hier S. 458. 23. Ebd., S. 461. 24. Vgl. Lavaters Abgrenzung zur Pathognomik in Band IV der Fragmente. [Vgl. Lavater: Physiognomik, S. 39ff.] 155

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schlagenen Erweiterung des Konzepts auf, wenn er den Lavaterschen Physiognomikern entgegen hält: »Also Du, der du glaubst die Seele schaffe ihren Körper, horche auch du auf das, was sie dir auf einem anderen Weg, als dem ihres Geschöpfs offenbart: halte den für weise, der weise handelt, und den für rechtschaffend, der Rechtschaffenheit übt, und laß dich nicht durch Unregelmäßigkeit in der Oberfläche irren, die in einen Plan gehören, den du nicht übersiehst …«25 Obgleich sich dieser Satz in erster Linie gegen die Lavatersche Grundorientierung an der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes wendet, die bekanntermaßen in dem Diktum »je moralisch besser, desto schöner, je moralisch schlimmer, desto häßlicher«26 kulminiert, verändert Lichtenbergs Bemerkung vor allem grundlegend den Fokus dieser ›Beobachtungslehre‹, ohne jedoch deren Grundorientierung aufzugeben. Einerseits scheint dem an der Wahrnehmungsproblematik moderner Metropolen geschulten Lichtenberg27 die Perzeption und Interpretation des habituellen Verhaltens verläßlicher als das von Lavater präferierte Verfahren, Auskunft über den Charakter eines Menschen zu geben28, anderseits gemahnt die

25. Lichtenberg, Georg Christoph: »Über Physiognomik, wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis (1778)«, in: Bd. 2: Schriften und Briefe, Frankfurt/M.: Insel 1983, S. 78-116, hier S. 96. 26. In der Entsprechungslehre Emanuel von Swedenborgs wird diese Grundannahme bekanntermaßen zur Leitthese erhoben. Bei Balázs findet sich eine entsprechende Stelle. »Beim Film wirkt die Schönheit der Gesichtszüge als physiognomischer Ausdruck. […] Der Held ist äußerlich schön, weil er es innerlich ist«. [Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 74.] Wenngleich Balázs im nächsten Satz dieses Urteil wieder relativiert, zeigt sich hier doch ein Fortleben der ausgrenzenden und diskriminierenden Kalokagathielehre. 27. Vergleiche hierzu Lichtenbergs ›London-Text‹, der im Kontext seiner Zeit in der deutschen Literatur ohne Beispiel ist. [Lichtenberg, Georg Christoph: »Brief an Ernst Gottfried Baldinger, 10.Januar 1775«, in: ders.: Briefwechsel, Bd. 1, München: Beck 1983, S. 486-495.] 28. Auch den Poeschen ›Mann der Menge‹ kann man als Physiognomiker bezeichnen. So ist beispielsweise Kracauers Erwähnung von Poes Novelle in der Theorie des Films mit Bedacht gewählt. In ihr verdichten sich einige Aspekte, die für Kracauers Stadterkundungen von Belang sind. Zum einen nimmt der nach langer Krankheit genesene, namenlose Ich-Erzähler seine Umwelt mit sensibilisierten Sinnen auf und verweist somit auf das Wahrnehmungskonzept des fremden Blicks. Als scharfsinniger Analytiker schließt er nicht nur von den äußeren Zeichen einer Person auf deren Herkunft, sondern er durchschaut darüber hinaus auch die verdeckte Kommuni156

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Bemerkung zur Vorsicht und unterstellt einen Rest von Inkommensurabilität. Von Lichtenberg, der das Studium menschlicher Erscheinungen – wie etwa in seiner Studie Ausführliche Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche29 – lebensweltlich eingebunden wissen will, läßt sich eine Linie zur Methodik der modernen – dem Leitsatz ›study ritual – not belief‹ folgenden – Ethnologie sowie zu Studien etwa von Bourdieu, Barthes, de Certeau oder zu Danto ziehen. Der Kunstphilosoph Arthur C. Danto nimmt beispielsweise in bezug auf die Stiche Hogarths das Konzept der Lesbarkeit piktorialer Artikulationen auf und spricht von der »Logik von Texten«, die die Unterscheidung zwischen »bildlichen Texten […] und Texten, die tatsächlich aus Sätzen und letzten Endes aus Wörtern bestehen, kreuzen.«30 Er argumentiert, daß »die Beziehungen zwischen Wörtern sowie die zwischen Sätzen in dem Zusammenhang eines Textes über die Grammatik und die Syntax hinausgehen. Zwischen bildlichen und sprachlichen Darstellungen gibt es Unterschiede, die eindeutig gegen die Möglichkeit einer rein bildlichen Sprache sprechen, wie Wittgenstein sie sich im Tractatus erträumt. Aber auf der Ebene des Textes verlieren sich diese Unterschiede, und darum ist es auch keine überzogene Metapher, wenn man sagt, daß man Hogarths Stiche lesen muß.«31

kationsabsicht der verwandten Zeichen. Zum anderen verwandelt sich dieser Beobachter des großstädtischen Lebens – vom Erkenntnisdrang getrieben – wider Willen in einen Detektiv. Er gibt die sichere Distanz und theaterhafte Rahmung seines Kaffeehausplatzes auf, um inmitten des großstädtischen Lebens der Spur eines Unbekannten zu folgen. Das aufklärerische Moment der detektivischen Motive des Nachspürens und der Suche nach Wahrheit – denen Kracauer später in der Theorie des Films eigene Abschnitte widmet – ist evident. Durch den detektorischen Blick wird potentiell gerade das unscheinbare, vermeintlich nebensächliche Detail zum Zeichen oder zur Spur verwandelt. 29. Lichtenberg, Georg Christoph: Ausführliche Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche, Frankfurt/M.: Insel 1983. 30. [Danto, Arthur C.: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München: Fink 1995, S. 103.] Der Gebrauch der Textmetapher im Feld des Ästhetischen ist vornehmlich in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt als Folge der Semiotik gleichsam ubiquitär geworden. Grundlegend sind dabei die Texte von Morris, Langer und Goodman. [Morris, Charles William: »Ästhetik und Zeichentheorie (1939)«, in: ders.: Grundlagen der Zeichentheorie, Frankfurt/M.: Fischer 1988 ; Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie (1968), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 sowie Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuen Wegen. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (1942), Frankfurt/M.: Fischer 1965.] 31. Danto: Entmündigung, S. 103. 157

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Die Kunst ist somit das Übungsfeld, auf dem der ›forschende Blick‹ eingeübt wird, um sodann von äußeren Anzeichen individuelle und soziale Urteile abzuleiten.32 So liest der Ethnologe Fritz Kramer die Kunstgeschichte Winkelmanns als »ästhetische Anthropologie«, da hier das Ideal und Maß entworfen wurde, »an dem das Bürgertum die Physiognomie der menschlichen Rassen gemessen hat«.33 Doch dieses Phänomen ist nicht als eine Obsession des physiognomiebegeisterten 18. Jahrhunderts zu werten, sondern ist schon seit dem 13. Jahrhundert zu verzeichnen. Maler und Bildhauer hatten im Auftrag der Kirche »einen Kanon von Abbildungsmustern entwickelt, der es den Gläubigen ermöglichte, nicht nur bestimmte Heilige oder andere Gestalten aus Bibel und Kirchengeschichte zu identifizieren, sondern auch den Charakter und die Gemütsverfassung dargestellter Personen zu erfassen. […] Für die Darstellung weniger offenkundiger Eigenschaften […] hatte man im Lauf der Zeit ebenfalls gewisse Formeln gefunden, die von den Gläubigen auf Anhieb verstanden wurden.«34 Auf diese Weise entstand eine Bildersprache, in der bestimmte Sehgewohnheiten eine enge Verbindung mit Denkmustern eingingen, die die Wahrnehmung außereuropäischer Ethnien nicht unwesentlich prägten. Peter Martin stellt in seiner Studie die enge Verbindung von Physiognomie und Anatomie im Zusammenhang einer hierarchisierenden Eingliederung heraus.

32. Vornehmlich die antike Kunst gilt den ›Klassifikatoren‹ der Zeit als harmonisches Ebenmaß und physische Schönheit ausdrückender Referenzpunkt. Petrus Camper dient bekanntermaßen der unterschiedliche Winkel einer Gesichtslinie als klassifikatorische Größe. Aus dem Vergleich des Schädels eines ›afrikanischen Mohrens‹ mit dem eines Europäers folgert er: »Wegen dieses Unterschieds von 10 Graden ist der Europäer Kopf schöner, weil die höchste Schönheit an der Antiken in einem Winkel von 100 Graden bestehet.« [Camper zit. nach Sömmerling, Samuel Thomas: Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, Frankfurt/M. 1785, S. 5f.] Vergleiche auch den im Titel der wichtigsten Camperschen Schrift angesprochenen Konnex von Physiognomie und antiker Kunst. [Camper, Peter: Über den natürlichn Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine; nebst Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von seinem Sohne Adrian Gilles Camper, Berlin: Voss 1792.] 33. Kramer: Verkehrte Welten, S. 15. 34. Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren, Hamburg: Junius 1993, S. 218. 158

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»Auf jeden Fall war die Differenzierung der Menschen nach biologischen Unterscheidungsmerkmalen nicht das finstere Werk der Gegenaufklärung, und sie läßt sich auch nicht unmittelbar auf den beginnenden Kolonialismus und transatlantischen Sklavenhandel zurückführen. Sie war vielmehr das schon in Konventionen der kirchlichen Kunst und in den Voraussetzungen und Verfahren der bürgerlichen Neuordnung des Universums angelegte Resultat.«35 Pierre Bourdieu gibt hinsichtlich der ›Lektüre‹ eines Kunstwerks zu bedenken, daß sich die »Fähigkeit des Sehens […] am Wissen [bemißt], oder wenn man möchte, an den Begriffen, den Wörtern mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen.«36 Als verborgene Voraussetzung dieser Erkenntnisform kann mit Bourdieu die »bewußte oder unbewußte Anwendung des Systems der mehr oder minder expliziten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata«37 verstanden werden, das künstlerischer Bildung zugrunde liegt. Auch die ›Beredsamkeit des Körpers‹ wird auf dieser Basis ästhetischer Erfahrungen mit all ihren Voraussetzungen erschlossen.38 Vornehmlich im 19. Jahrhundert dienen dann Physiognomien unterschiedlichster Provenienz als Reservoir bildkünstlerischer Arbeit.39 Ungeachtet der aus heutiger Sicht antiquiert erscheinenden ›frommen‹ Grundorientierung der Lavaterschen Fragmente lassen

35. [Ebd., S. 219.] So bezieht beispielsweise der Patriziersohn Johann Wolfgang Goethe – wie wir aus Dichtung und Wahrheit erfahren – sein Wissen von der Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder nicht aus literarischer Überlieferung, sondern vermittelt über die ›gräßlichen‹ Abbildungen »in Gottfrieds Chronik.« [Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, München, Wien: Hanser 1985, S. 163.] 36. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 19. 37. Ebd. 38. Giovanni Gurisatti geht soweit zu behaupten, daß es kein spezifisch ästhetisches Problem gebe, »das gleichzeitig nicht auch ein physiognomisches Problem wäre, und umgekehrt. Das Bild des Menschen wird zum selbständigen Gegenstand der ästhetisch-physiognomischen Betrachtung.« [Gurisatti, Giovanni: »Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 67, Nr. 3, 1993, S. 393-416, hier S. 395.] 39. Das von Lavater angehäufte ›physiognomische Kabinett‹ umfaßt im übrigen geschätzte 22300 Blätter. 159

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sich hier einige Aspekte finden, die in Tendenzen der Moderne zu neuer Prominenz zu gelangen scheinen. Zum einen wäre der von Lavater fortwährend betonte Fragmentcharakter des Textes zu nennen. Er weist darauf hin, weder Lust noch Kraft zu haben, eine Physiognomik oder irgendeine Art physiognomischem System zu schreiben. Einerseits ist eine solche Bemerkung wohl als rhetorische Figur – als eine captatio benevolentiae – zu bewerten, andererseits wird eine geschlossene Systematik nicht zuletzt durch die Integration aus der Feder vieler Autoren stammender Beiträge aufgebrochen. Daher lassen sich die Fragmente als ein gleichsam (montiertes) Kollektivwerk verstehen. Eingeschränkt wird der Fragmentcharakter des Textes jedoch durch sein Spannungsverhältnis zum visuellen Diskurs der Illustrationen, der einen weitgehend homogenen Charakter aufweist. Einem Grundproblem der Physiognomik, daß die von ihr zu beobachtenden Körperpartien häufig nur sehr flüchtig betrachtet werden können, begegnet Lavater mit dem bevorzugten Studium mittels eines Sonnenmikroskops40 hergestellter Silhouetten. »Wer diese [die Schattenrisse, W.K.] verachtet« heißt es dazu kategorisch, »verachtet die Physiognomik.«41 Mit Hilfe der Silhouettenherstellung wird die Reduktion und Stillstellung der Beobachtungsfläche erreicht, um somit eine präzisere Wahrnehmung zu ermöglichen. Ein Verfahren also, das gewissermaßen auf die Fotografie und die an ihr theoretisch erörterten Potentiale vorausweist.42 Lavater empfiehlt neben dem erwähnten optischen Hilfsmittel zur Beobachtungsschulung des Physiognomikers vornehmlich das Studium von Toten oder von an diesen abgenommenen Gipsabdrücken. »Die Bestimmtheit ihrer Züge ist viel schärfer, als an Lebenden oder Schlafenden. Was das Leben wankend macht, setzt der Tod fest. Was unbestimmt ist, wird bestimmt.«43 Der Wahrnehmungsproblematik ephemerer Phänomene wird im 19.

40. Vgl. Lavater: Physiognomik, Bd. IV, S. 151. 41. Ebd., Bd. IV, S. 150. 42. Darüber hinaus läßt sich eine Verbindung von Fotografie und vorfotografischer Bildproduktion aus dem Schlußwort der schon erwähnten Rede Aragos herleiten, in dem die Daguerreotypie mit Bleistiftzeichnungen und Kupferstichen verglichen wird: »Das Verfahren erzeugt also Zeichnungen und nicht farbige Bilder«, schließt er seinen Bericht. [Zit. nach Busch: Belichtete Welt, S. 207.] Zu dieser besonders im Hinblick auf die frühe Kinematographie immer wieder theoretisch erörterte Tendenz zur Abstraktion führt Giuliana Bruno aus: »[T]he filmic text transforms the human body and the body of things into a geometry of shapes, surfaces, volumes, and lines« [Bruno: »Spectatorial Embodiments«, S. 241f.] 43. Lavater: Physiognomik, Bd. IV, S. 154. 160

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Jahrhundert zunehmend mit Verfahren konventionalisierter und formelhafter Perzeption begegnet. Jonathan Crary arbeitet in seiner Studie Techniken des Beobachtens Charakteristika des nicht einfach nur sehenden Beobachters heraus. Der Etymologie von ›observare› folgend ist der Beobachter »jemand, der in ein System von Konventionen und Beschränkungen eingebettet ist und innerhalb dieses Rahmens von vorgeschriebenen Möglichkeiten sieht.«44 Erwähnenswert erscheint mir auch, daß Lavater seine zentrale Argumentationsfigur des Augenscheins, der tiefenhermeneutisch angelegten Dechiffrierung der Oberfläche gegen den Vorwurf der Oberflächlichkeit verteidigt45 und somit den Weg für eine Lesekunst ebnet, die in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts Oberflächenerscheinungen aufwertet und mit dem Anspruch auftritt, aus der Lektüre von Epiphänomenen die Signatur der Epoche zu bestimmen. Letztlich ist es jedoch die religiös-schwärmerische Grundorientierung, die die Fragmente nach einer kurzen euphorischen Phase der Rezeption rasch in Vergessenheit geraten lassen. Der Begriff erlebt in der Folge vornehmlich in den beschreibenden Natur- und Kulturwissenschaften eine Bedeutungsausweitung auf belebte und unbelebte Gegenstände. In Literatur und bildender Kunst gehen im 19. Jahrhundert Kenntnisse der Physiognomie und Phrenologie zunehmend auch in das Alltagswissen der Künstler46 ein und stehen zudem im Zusammenhang der Entwicklung einer ›neuen Wissenschaft vom Menschen‹, wie sie beispielsweise im Umfeld der neu gegründeten Ethnological Society of London und

44. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 17. 45. Zu verweisen ist fernerhin auf das religiös-moralische Wortfeld besonders der mittelalterlichen Verwendung des Bildbegriffs. Verwandte Termini wie ›speculum‹, ›symbolum‹, ›pictura‹, ›hieroglyphium‹, ›figura‹ oder ›typus‹ verweisen neben ›signum‹ auf das universelle göttliche Prinzip der analogia entis. 46. Das Interesse an den Beobachtungswissenschaften Physiognomie und Phrenologie wurde durch das in Literatur und Genremalerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen anzutreffende Bestreben nach Glaubwürdigkeit und psychologischem Realismus unterstützt. »In the words of one ethnologist and phrenologist, investigations into man’s physical nature would, hopefully, provide ›a master key wherewith to unlock the mystic treasure house of his soul.‹ Physiognomy and phrenology offered to act as keys of this kind: as more or less instantly decipherable signs of hidden character.« [Cowling, Mary: The artist as anthropologist. The representation of type and character in Victorian art, Cambridge: Cambridge UP 1989, S. 91.] 161

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ihrer Folgeorganisationen47 oder auch vergleichbarer, fast parallel verlaufender, europäischer Gründungen entwickelt wurde. Darüber hinaus läßt sich beobachten, wie sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts im Phänomen der Wachsfiguren wissenschaftliche und medizinische Diskurse verschränken48 und damit ein weiteres Anschauungsfeld erschlossen wird, auf dem – in Maßen popularisiert – die Lesbarkeit menschlicher Erscheinungsweisen trainiert werden kann. Im 20. Jahrhundert schließlich erhält die Physiognomie eine besondere Bedeutung im analytisch-visuellen Körperdiskurs des Kinos.49 In einem physiognomischen Zusammenhang ließe sich auch – um ein prominentes Beispiel aus der Fotografie zu erwähnen – August Sanders Antlitz der Zeit50 rücken. Im ersten Teil des auf zwanzig Bände angelegten Projekts Menschen des 20. Jahrhunderts rückt Sander nicht die individuelle Persönlichkeit in den Mittelpunkt, sondern interessiert sich vielmehr für Gestalten, die für verschiedene Berufs- und Gewerbezweige repräsentativ sind und für ›typische‹ Angehörige verschiedener gesellschaftlicher und politischer Gruppen. Gemäß einer Selbstanzeige setzt sich Sanders Programm aus dem Dreischritt von »Sehen, Beobachten und Denken« zusammen. Damit beabsichtigt er »[m]it Hilfe der reinen Photographie […] Bildnisse zu schaffen, die die Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiedergeben.«51

47. Dieser Zusammenhang von sich konstituierendem und institutionalisierendem Wissen der Anthropologie und anthropologischer Bildung der Künstler helfe zu erklären – so Mary Cowling – »how the human type was conceived as a physical, psychological and moral entity, and how those same conceptions conditioned the realization and interpretation of its artistic equivalents«. [Ebd., S. 4.] 48. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts fungieren Wachsfiguren oder Moulagen als unverwesbares Anschauungsmaterial in der chirurgischen oder feldmedizinischen Ausbildung, überschreiten aber aufgrund ihrer aufwendigen Präsentation auf Atlaskissen in Rosenholzvitrinen in Florenz, Wien oder Budapest die Grenze zur Kunst und orientieren sich darüber hinaus an der Haltung berühmter antiker Plastiken (beispielsweise Idolo, mediceische Venus). 49. Siehe hierzu beispielsweise Balázs’ Forderung nach einer vergleichenden Physiognomik und Benjamins Bemerkung zum Sammler als »Physiognomiker der Dinge«. [Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 217; Benjamin: Passagenwerk, S. 274.] 50. Sander, August: Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen, mit einem Text von Alfred Döblin, München: Transmare/Kurt Wolf Verlag 1929 [Reprint: München: Schirmer/Mosel 1976/1984]. 51. Sander, August: Köln wie es war, Köln: Köln. Stadtmuseum 1988, S. 11, zit. nach Becker, Jochen: »Passagen und Passanten. Zu Walter Benjamin und August 162

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In der Filmtheorie Balázs’ drückt sich dann bekanntlich mit der Utopie einer neuen visuellen Kultur die Hoffnung aus, daß die avancierteste Technik moderner, kapitalistischer Vergnügungsindustrie »the (imaginary) return to a preindustrial culture and an idealized definition of folklore«52 realisierbar werden lasse. Film als »die Volkskunst unseres Jahrhunderts« 53 versteht Balázs nicht lediglich als Extension menschlicher Sinne wie Teleskop oder Mikroskop, sondern sieht durch die Kinematographie den Menschen gleichsam um ein »neues Sinnesorgan«54 erweitert. Balázs erhebt den Film zu dem zentralen Gegenstand einer fürderhin zu schreibenden »Kulturgeschichte oder Völkerpsychologie«55 und lädt diesen religiös als eine »von Grund auf neue Offenbarung des Menschen«56 auf. Diese rückwärtsgewandte Utopie ist verbunden mit der Konzeption einer Körpersprache, der gleichstellende und vereinigende57 Qualitäten zuerkannt werden, die aber überdies den insbesondere in den lebensphilosophischen Kulturanalysen Georg Simmels fortwäh-

Sander«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 9, Nr. 32, 1989, S. 37-47, hier S. 41. 52. [Hake, Sabine: The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany, 1907-1933, Lincoln: U of Nebraska P 1993, S. 228.] Heinz-B. Heller nennt diese Konzeption eine »konstruierte[] Volkstümlichkeit« und erkennt darin den Versuch eines Teils der literarischen Intelligenz, »durch den Rückgriff auf Erzählstoffe und -motive des vorindustriellen Zeitalters, denen die historischen Gattungskonventionen der Schauergeschichte, Legende, Sage oder des Märchens populäre Gestaltung gegeben haben, deren Aura des volkstümlich Klassenjenseitigen auf den Film zu übertragen«. [Heller: Literarische Intelligenz, S. 93 u. 92.] 53. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 46. 54. Ebd., S. 47. 55. Ebd. 56. Ebd. 57. Letztlich impliziert diese Konzeption einer über Landesgrenzen hinweg gleichsam ›unvermittelt‹ zu erfassenden – überdies noch mit der Hoffnung auf eine völkerverständigende communio aufgeladenen – kinematographischen Körpersprache die Nichtwillkürlichkeit des Zeichens. Ein solches – unter den säkularen Bedingungen der Moderne auftauchendes – Modell hat sein Vorbild in den sogenannten ›heiligen Sprachen‹, die als ›Wahrheitssprachen‹ nicht als arbiträre Entsprechungen der Wirklichkeit, sondern als ihre Emanationen gedacht wurden. Auch diese Sprachen – etwa das Arabische, Chinesische oder Lateinische – waren wie die ›Lichtschrift‹ der kinematographischen Körpersprache von der partikularisierenden, lebendigen Rede weit entfernt und somit in der Lage, große, übernationale Gemeinschaften zu stiften. Vergleiche hierzu das Kapitel Die religiöse Gemeinschaft in Benedict Anderson wegweisender Studie zum Nationalismus. [Anderson: Die Erfindung der Nation, S. 19-25.] 163

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rend thematisierten Konflikt von Kultur und Natur58 zu versöhnen in der Lage zu sein scheint. Die Kinematographie als das Medium der Moderne wird so Balázs zufolge zum Remedium gegen die in seiner Perspektive in der Gutenberggalaxie herrschende Separation von Körper und Geist. Hier vollzieht sich die Wendung zur adamitischen Utopie einer wortlosen, jenseits der Begriffe liegenden universellen Sprache, eines visuellen Esperantos. »Der Film hat den Fluch des Babeler Turmbaus überwunden«, verkündet er 1928 in der Zeitschrift Film und Volk, »und das Weltesperanto der international verständlichen Gebärdensprache geschaffen.«59 Somit bekommt – ungeachtet einer in der Zwischenkriegszeit anzutreffenden Renaissance apokalyptischer Mythen, zumal als Symbolisierungen der Großstadt – die in Fritz Langs Metropolis von der Protagonistin Maria erzählte Geschichte vom Turmbau zu Babel im Kontext der mit der Kinematographie verbundenen adamitischen Sprachutopie gleichsam selbstreflexive Züge. In der Gebärdensprache erkennt Balázs bereits in seinem ersten filmtheoretischen Entwurf »die eigentliche Muttersprache der Menschheit«60 Die Gebärde ahistorisch als »Urmitteilung«61 fixierend, geht im übrigen bereits Carl Hauptmann in seinem Essay Film und Theater von einer internationalen Gebärdensprache aus. »Indianer aus Amerika verstanden sich grundsätzlich durch Gebärden

58. Helmut Lethen verweist auf das lebensphilosophische Paradox des polaren Denkens. »Diese Weltanschauung geht davon aus, daß in der Tiefenperspektive ein Lebensstrom absolute Kontinuität verkörpert, wenn auch auf der Oberfläche starre Formen, widersprüchlich und diskontinuierlich, erscheinen.« [Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 42.] Festzuhalten ist jedoch, daß sich die dieser Ausprägung der idealistischen Philosophie zuzuordnenden Intellektuellen mit ihrer am Simmelschen Deutungsverfahren orientierten, ›zerpflückenden Betrachtungsweise‹ problemlos und adäquat auf die Disparatheit und Komplexität der Moderne einlassen, wobei die Orientierung an Versöhnungskonzepten von ihren einzelnen Vertretern zunehmend zurückgedrängt bzw. lediglich indirekt vertreten wird. Auch Balázs’ Gegenüberstellung von authentischem, nicht entfremdetem Leben und kapitalistischer Verdinglichung ist diesem Schema verpflichtet. 59. Balázs, Béla: »Der Film arbeitet für uns! (1928)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931, Berlin: Henschel 1984, S. 228-231, hier S. 228. 60. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 52. 61. Hauptmann, Carl: »Film und Theater (1919)«, in: Güttinger, Fritz (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, Frankfurt/M.: Deutsches Filmmuseum 1984, S. 369-375, hier S. 373. 164

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mit den Taubstummen in einer Anstalt Berlins«, konstatiert er.62 Hauptmann betrachtet die Kinematographie ausdrücklich als Instrument, »die lebendige Gebärde aller Dinge urreinlich wahr zu objektivieren«.63 Hauptmanns Text operiert mit einem Ausdrucksbegriff, der vor dem Hintergrund der seit Lessing immer wieder diskutierten Unterscheidung von Poesie und Malerei zu betrachten ist. Gebärden versteht Hauptmann als wortlosen Ausdruck, als »Ausdrucksmittel der Seele«.64 Darüber hinaus verbindet er das Gestische mit einem Universalismus, der sich nicht nur auf das Humanum beschränkt. »Das Reich der Gebärde ist ein kosmisches Reich. Es ist das [sic!] Urbereich aller seelischen Mitteilung überhaupt.«65 Weiter kritisiert er eine intellektuell überfeinerte Sprache und fordert eine neue Sinnlichkeit ein, die mit Hilfe der Rückbesinnung auf die »Urmitteilung« der Gebärde zu erreichen sei.66 Nebenbei bemerkt übersehen Balázs und Hauptmann gleichermaßen – indem sie nicht ausreichend zwischen Gebärde und Gebärdensprache differenzieren –, daß sich im Bereich der letzteren über längere Zeiträume hinweg gewachsene international sehr unterschiedliche Sprachen ausgebildet haben. Ludwig Jäger weist darauf

62. Ebd., S. 375. 63. Ebd., S. 371. 64. Ebd. 65. Ebd., S. 372. 66. Heinz-B. Heller stellt der Konzeption Hauptmanns die von Victor E. Pordes an die Seite: »Für Carl Hauptmann stellte der Film angesichts einer ›sanktionierte[n] Kultur‹ vor allem ›an den Dichter eine Mahnung‹ dar, eine Herausforderung an seine ›logisch hochzugespitzte, hochintellektuelle Sprache, die sich dem sinnlichen, leiblichen Ausdruck allzu abgezogen entrückte‹; für Pordes erschloß sich mit der Gebärdensprache des Films eine mythische Kommunikationsweise, die über den in den Revolutionsereignissen offenen Klassenkampf und die im Krieg manifesten nationalen Gegensätze ›unterschiedslos alle‹ einigte. ›Nicht berührt vom Babelgewirr der Sprachen, von ihrem gehässigen, nationalen Streit, bildet es [das Lichtspiel, H.B. H.] die einzige wahrhaft allen verständliche Sprache, ist das Verständigungsmittel der Nationen. Es wird als erstes befugt sein, diesem alles umfassenden Wirken nachzugehen, wenn es sich einst darum handelt, die Wunden, die der Weltkrieg dem Menschheitsgedanken geschlagen hat, zu heilen. […] Es ist wie ein Gefühl der Befreiung, das sich hier einstellt.‹ Im Mythos der Gebärde des Stummfilms kündigte sich literarischen Intellektuellen nicht nur die Harmonisierung gesamtgesellschaftlicher Verkehrsformen an, sondern auch die ›Befreiung‹ von der eigenen, im Sprachlichen manifesten sozialen Entfremdung, von dem auf Kommunikationsprobleme verkürzten Öffentlichkeitsverlust.« [Heller: Literarische Intelligenz, S. 179.] 165

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hin, daß auch »Gebärdensprachen […] eine ausdifferenzierte Struktur auf allen linguistischen Ebenen [besitzen]«67 und fährt fort: »Der wesentliche Unterschied zwischen Laut- und Gebärdensprachen besteht also nicht in den unterschiedlichen Graden ihrer gattungsgeschichtlichen Entwickeltheit, sondern in ihrer verschiedenen Medialität. Während Lautsprachen zeitlich-linear organisiert sind, unterliegen Gebärdensprachen räumlich-simultanen Organisationsprinzipien«.68 Die schon von Carl Hauptmann vorgebrachte und in Balázs’ Filmtheorie erneuerte Kritik an einer abstrakten, arbiträren Sprachkultur korrespondiert mit den auf dem Feld zeitgenössischer Tanztheorien entwickelten – auf menschliche Urgründen und Reinheit zielenden – Thesen. »Die Menschen heute werden mit dem Wort abgespeist. Aber das Wort tönt nicht mehr aus dem Reich der Mütter, es ist nicht mehr aus der lebendigen Produktionsquelle genährt, sondern ist gesetzt und verhaftet, ist starr. Das Wort ist Stein geworden.«69 Im Umfeld dieser Theorien werden »Gesten und Bewegungen […] als eine Art Metasprache angesehen«70, die als mit der Tiefenordnung des menschlichen Bewußtseins verknüpft gedacht wurden. Diese und vergleichbare Konzeptionen einer Körpersprache knüpfen implizit an neuzeitliche diachrone Sprachmodelle an und radikalisieren auf der Suche nach einem ›Heilmittel‹ gegen die wortreich beklagte Abstraktionstendenz der Moderne das dort angelegte Zeichenkonzept. So entwickelt Giambattista Vico in seiner Studie Nuova Scienza, mit der er die ›wirklichen‹ Verhältnisse des mythischen Zeitalters historisch zu rekonstruieren beabsichtigt, beispielsweise ein Sprachmodel, das – wenngleich historisch auf die frühe Menschheitsentwicklung eingegrenzt – auch körperhaftdingliche Äußerungsmomente in die Kategorie der Zeichen aufnimmt. Diese Zeichenkonzeption ist Walter Busch zufolge an Fran-

67. Jäger, Ludwig: »Linguistik als transdisziplinäres Projekt. Das Beispiel der Gebärdensprache«, in: Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 300-319, hier S. 310. 68. Ebd., S. 311. 69. Böhme, Friedrich: Tanzkunst, Dessau: C. Dünnhaupt 1926, S. 39f., zit. n. Baxmann, Inge: »›Die Gesinnung ins Schwingen bringen‹. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie der zwanziger Jahre«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 360-373, hier S. 362. 70. Baxmann: »Die Gesinnung«, S. 363. 166

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cis Bacons Philosophie orientiert, für die Denken nicht notwendig an Sprache gebunden ist.71 Mit dem Rekurs auf die Physiognomie und ihre Zentralkategorie des Ausdrucks steht Balázs offensichtlich in der oben skizzenhaft angedeuteten Traditionslinie. Sein Rückgriff auf das Konzept des Physiognomischen in Der sichtbare Mensch wird eingeleitet durch die – geistesgeschichtlich Autorität verbürgende – Referenz auf Aristoteles, der nach den Goethischen ›Lavater Beiträgen‹ zitiert wird. In diesem zum Motto erhobenen Zitat wird die Analogie von Charakter und Körper behauptet: »Denn es ist nie ein Tier gewesen, das die Gestalt des einen und die Art des anderen gehabt hätte, aber immer seinen eigenen Leib und seinen eigenen Sinn. So notwendig bestimmt jeder Körper seine Natur. Wie denn auch jeder Kenner die Tiere nach ihrer Gestalt beurteilt. Wenn das wahr ist, wie’s denn ewig wahr bleibt, so gibt’s eine Physiognomie.«72 Aus der in den Stand ewiger Wahrheit entrückten Übereinstimmung von äußerer Erscheinung und Charakter zieht Balázs Schlußfolgerungen für die schauspielerische Besetzung: »Auf dem Film ist es ihr Aussehen [das der Darsteller, W.K.], welches vom ersten Moment an ihren Charakter für uns bestimmt. […] Da der Filmschauspieler alles, Rassencharakter sowie individuellen, mit seinem Äußern darzustellen hat, muß sein Spiel dadurch entlastet werden, daß man einen Schauspieler wählt, der den Rassencharakter nicht erst zu spielen braucht, sondern ihn von vornherein besitzt und sich ganz und unbefangen auf das persönliche Detail konzentrieren kann.« 73 Besonders das Gesicht des Menschen – der bevorzugte Artikulations- und Lektüreort der Physiognomie – zeige nicht nur Individuelles: »Nein, nicht unser ganzes Gesicht ist unser eigen. Was in unseren Zügen Gemeingut

71. »[I]t is not necessity that cogitations be expressed by the medium of words. For whatever is capable of sufficient differences, and those perceptible by the sense, is in nature competent to express cognitations.« [Francis Bacon zit. nach Busch, Walter: »Archaische Mentalität und kollektives Gedächtnis in Giambattista Vicos Nuova Scienza«, in: Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 250-273, hier S. 264.] 72. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 71. 73. Ebd. 167

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der Familie, der Rasse und der Klasse ist, das ist bei bloßem Anschauen gar nicht zu unterscheiden. […] Dieses Verhältnis in der Seele […] ist […] in der Physiognomie und in den Gebärden des Menschen viel deutlicher sichtbar und mittels des Films viel präziser und klarer zu erfassen als mit den feinsten Worten. Und hier hat der Film eine Mission, die weit über das Künstlerische hinausgeht und der Anthropologie und der Psychologie unschätzbares Material liefern kann.«74 Für Balázs ist die Kinematographie mächtige ›Missionarin‹ einer die Völkerverständigung unterstützenden visuellen Anthropologie. Mit dieser Aussage wertet er eine – besonders im anthropologischen Feld gängige – Einschätzung um, die jedwede piktoriale Repräsentation geringer als eine schriftliche Ausdrucksform achtet. Eine solche Beurteilung geht davon aus, »daß Bildprodukte von Natur aus verbalen Gebilden gegenüber minderwertig seien«75, daß sie gleichsam schaustellerisch einzig oberflächlicher Unterhaltung dienten. Von anthropologischen Erkenntnisinteressen geleitet, fragt sich Balázs, wieviel Typus und Individualität, Rasse oder Persönlichkeit im Menschen sei.76 Dennoch bleibt ihm die Frage, wie es denn möglich sei, ein Mienenspiel zu verstehen, »das man nie vorher gesehen hat«77, das größte Geheimnis. Aus diesen Fragen leitet er die Forderung ab, daß analog zur vergleichenden Sprachforschung »mit Hilfe des Films Material für eine vergleichende physiognomische Forschung herbeigeschafft werden (müßte)«.78 Dieses Ansinnen ist rückbezogen auf das dem Film zugeschrieben utopische Potential, daß Balázs »eine Erlösung von dem babelschen Fluch zu versprechen (scheint)«.79 Mit prophetischem Gestus führt er weiter aus: »Denn auf der Leinwand der Kinos aller Länder entwickelt sich jetzt die erste internationale Sprache: die der Mienen und Gebärden. […] Und heute spricht schon der Film die einzige gemeinsame Weltsprache. Ethnographische Spezialitäten, nationale Intimitäten werden dann und wann noch als Lokalkolorit, als Ornamentik eines stilisierten Milieus verwendet.«80

74. Ebd., S. 75. 75. Oppitz: »Die visuelle Anthropologie«, S. 12. 76. Vgl. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 75. 77. Ebd. 78. Ebd., S. 76. 79. Ebd., S. 57. 80. [Ebd.] Das Kino als Gebärdenarchiv beerbt damit gewissermaßen das Theater. Vergleiche zum Theater den Abschnitt in Gabriele Brandstetters Tanz-Studie. [Brandstetter: Tanz-Lektüren, hier S. 90-93.] 168

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Balázs entwickelt jedoch auch einen durchaus problematischen Begriff von Normalismus81, der – obgleich positiv universalistisch intendiert – dennoch in der Konsequenz Differenzen negieren und auslöschen würde. »Die Gebärdensprache wurde im Film sozusagen normalisiert. Dementsprechend hat sich aber auch eine gewisse Normalpsychologie der weißen Rasse herausgebildet. […] Der Kinematograph ist eine Maschine, die, auf ihre Art, lebendigen und konkreten Internationalismus schafft: die einzige und gemeinsame Psyche des weißen Menschen. Und mehr noch. Indem der Film ein einheitliches Schönheitsideal als allgemeines Ziel der Zuchtwahl suggeriert, wird er einen einheitlichen Typus der weißen Rasse bewirken. Die Verschiedenheit des Gesichtsausdruckes und der Bewegung, die schärfere Grenzen zwischen den Völkern gezogen hat als Zoll und Schlagbaum, wird durch den Film allmählich wegretuschiert werden. Und wenn der Mensch einmal ganz sichtbar wird, dann wird er trotz verschiedenster Sprachen immer sich selbst erkennen.«82 Balázs nimmt hier ein bereits in der Kino-Debatte und anderenorts vorgebrachtes Argument auf und wertet es positiv um. So warnen national gesinnte Kinoreformer vor dem gefährlichen Einfluß importierter Filme. »Denn die Lichtbilder aus der Fremde tragen zum großen Teil […] durchaus nicht das Gepräge der reizvollen Fremdartigkeit, aus der wir Genuß und Erweiterung unseres Weltverstehens schöpfen können; sie schmuggeln uns öfters vielmehr fremde Unart, fremde Verkommenheit oder auch undeutsche Physiognomien und Manieren als sozusagen normalmenschliche oder gar undeutsche Dinge auf.«83

81. Balázs wendet sich mit seiner Position zur Kategorie des Normalen implizit gegen die moderne (und romantische) Verklärung der Normenüberschreitung. Zum Problem der Normalität/Normalismus siehe neben dem Standardwerk von Georges Canguilhem auch Jonathan Crary und die Studie von Bernhard Waldenfels. [Crary: Techniken, bes. S. 20; Waldenfels: Grenzen.] Jürgen Link bestimmt in seiner Untersuchung dieser Kategorie speziell seit ›Achtundsechzig‹ Normalität als Statistik und Durchschnittskalkül zur Selbstregulierung der Subjekte mit dem Ziel quantifizierbarer Durchschnitte. [Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdt. Verl. 1996.] 82. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 57f. 83. [Rath, Willy: »Emporkömmling Kino (1912/13)«, in: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, hrsg. und kommentiert von Jörg Schweinitz, Leipzig: Reclam 1992, S. 75-89, hier S. 78.] Nach 1918 wird aus dem ›Kinoverächter‹ und ›Filmgegner‹ Willy Rath ein vielbeschäftigter Drehbuchautor und ›Kinofreund‹, der für mehr als dreißig Stummfilme und einige Tonfilme die Skripts 169

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Weiter beklagt Rath die in einigen ausländischen Filmen vorgeführten »wildfremden Fratzen und exotische[] Unmanier.«84 Die Sorge um eine vorgebliche Nivellierung nationaler Kultur treibt aber auch in den 20er Jahren bedeutende Vertreter des kulturellen Lebens um. Stefan Zweig beklagt in seiner im Berliner Börsen-Courier veröffentlichten Jeremiade gegen die Homogenisierung, daß »[a]lles […] gleichförmiger in den äußeren Lebensformen (wird), alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich. […] [I]mmer mehr verdunstet das feine Aroma des Besonderen in den Kulturen.« 85 Wie schon in den ersten Jahren der Republik wird vornehmlich der amerikanische Film für die Zerstörung nationaler Kulturen und deren spezifische Physiognomien verantwortlich gemacht. Herbert Jhering sieht das Filmpublikum »dem amerikanischen Geschmack unterworfen […] gleichgemacht, uniformiert. […] Der amerikanische Film ist der Weltmilitarismus. […] Er verschlingt nicht Einzelindividuen. Er verschlingt Völkerindividuen.«86 In Opposition zu den angeführten kulturkonservativ gefärbten Klagen ist Balázs’ Konzeption einer neuen Kinokultur mit der Hoffnung verbunden, mit Hilfe der Kinematographie zu einer radikalen Demokratisierung eines ursprünglich zur Herrschaftssicherung eingesetzten Wissens zu gelangen. Eine entscheidende Differenz zu den Techniken des Beobachtens besteht – trotz der dispositiven Struktur des Kinos – in der Offenheit der ›Sehanordnung‹, im ›Neuen Sehen‹, das durch den Kamerablick ermöglicht wird. »Wir sind mitten drin!«87 In diesem Ausspruch Balázs’ ist das Neue des

liefert. [Vgl. dazu den biographischen Eintrag in Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, hrsg. und kommentiert von Jörg Schweinitz, Leipzig: Reclam 1992, S. 442.] 84. Rath: »Emporkömmling«, S. 79. 85. Zweig, Stefan: »Die Monotonisierung der Welt«, in: Berliner BörsenCourier vom 1.2.1925. 86. Jhering, Herbert: »UFA und Buster Keaton«, in: ders.: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film, Bd. 2: 1924-1929, Berlin: Aufbau 1961, S. 508-509, hier S. 509. 87. Balázs, Béla: »Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 2, München: Hanser 1984, S. 49-205, hier S. 56. 170

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kinematographischen Sehlabors gleichermaßen wie der Verlust eines allgemeingültigen – von einem archimedischen Punkt aus betrachteten – Weltbildes benannt. Neben der Kinematographie sind die technischen und ästhetischen Entwicklungen im Bereich der Fotografie und des Fotojournalismus an einer Veränderung der Sehweise beteiligt. »Wir sehen nicht nur andere Dinge um uns als früher, wir sehen die Dinge selbst auch anders. Innerlich wie äußerlich. […] [A]us einer wesentlich anderen Einstellung heraus betrachtet die neue Zeit ihre Umwelt. Auch mit dem Auge des Filmund Foto-Apparats: dem Objektiv.«88 Im Gegensatz zu diesen Klagen begrüßt Balázs vor dem Hintergrund des als traumatisierend erfahrenen Weltkriegs diese Einebnung der nationaltypischen Charakteristika und träumt davon, »mit Hilfe des Kinematographen das Lexikon der Gebärden und der Mienen zusammenzustellen. Das Publikum wartet aber nicht auf diese neue Grammatik künftiger Akademien, sondern geht ins Kino und lernt von selbst.«89 Diese pathetische Begeisterung für den Film als neue Möglichkeit der Wissensvermittlung wird auch von Kurt Pinthus geteilt. Wie viele seiner filmbegeisterten Zeitgenossen schwärmt er beeindruckt von Robert Flahertys Nanook of the North: »Stundenlange Vorträge, gut und gelehrt geschriebene Bücher können niemals dies Wissen so intensiv und einprägsam vermitteln wie diese eine Stunde des Schauens. […] Im Film werden sie [künftige neue Geschlechter, W.K.] schnell und herrlich lernen, was von der Erdoberfläche und ihren Bewohnern wissenswert ist.«90 Das Kino wird somit als der Ort imaginiert, an dem ein emanzipiertes Publikum im Selbststudium die altehrwürdigen Bildungsinstitutionen überflüssig macht91, die letztendlich so wenig Antworten auf die

88. Zit. nach Pohl, Klaus: »Die Welt für Jedermann. Reisephotographie in deutschen Illustrierten der zwanziger und dreißiger Jahre«, in: ders. (Hg.), Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850 – heute, Gießen: Anabas 1983, S. 102f. 89. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 54. 90. [Pinthus, Kurt: »Der Eskimo-Film«, in: Das Tage-Buch, Jg. 5 (1. Halbjahr), 1924, S. 228-229, hier S. 229.] Daß die Fotografie in propagandistischer Indienstnahme von Willy Striewe 1933 als »Hochschule des Volkes« bezeichnet wird, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Stiewe bringt den Repräsentationsaspekt der Fotografie gänzlich zum Verschwinden und behauptet: »Die Kamera reist für uns, sie berichtet in der Illustrierten Presse […] derart ausführlich, daß der Leser zum Augenzeugen wird.« [Striewe, Willy: Foto und Volk, Halle: Knapp 1933, S. 3 + S. 20 zit. nach Pohl: »Welt für Jedermann«, S. 98.] 91. In den 20er Jahren wird auch für den Film im Unterricht geworben. »Der Unterrichtsbetrieb mit Film wendet sich nicht nur an den Verstand, sondern 171

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drängenden Zeitfragen der Zwischenkriegszeit zu bieten hatten. In Balázs’ Konzeption einer international verständlichen Gebärdensprache fließen zudem popularisierte ethnographische Kenntnisse ein. Sie bieten die Folie, vor der eine Denkfigur entwickelt wird, die einen primitivistischen Zustand als Ausgangspunkt setzt, von dem im Durchgang durch die negativ konnotierte ›abstrakte‹ Moderne die Utopie einer hochentwickelten »visuellen Kultur« prognostiziert wird. Wenn Balázs verkündet: »Der Film arbeitet […] mit neuen Urformen der Menschlichkeit«92, so knüpft sich daran die Hoffnung auf ein in Relation zum schriftkulturellen weniger vermitteltes zwischenmenschliches Kommunikationsverhältnis. In diese Denkfigur eingetragen ist ein paradoxales – gleichermaßen evolutionäres wie zirkuläres – Kulturverständnis, das die beklagten europäischen Verhältnisse auf einer hochentwickelten Stufe ansiedelt und mit Hilfe avancierter Kulturtechniken das Erreichen weniger abstrakter Umgangsformen im Sinne einfordert. Damit folgt sie einer Vorstellung, die Heinrich von Kleist in Über das Marionettentheater vom Erreichen des Paradieses entwickelt hat. »Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. […] ›Mithin‹, sagte ich ein wenig zerstreut, ›müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?‹ ›Allerdings‹, antwortete er, ›das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.‹.« 93 Eine ganz andere Stoßrichtung hat dagegen die Gesellschaftsutopie, die im Umkreis der Tanztheorie entwickelt wird. Den Bestrebungen der Theaterreformer der letzten Jahrhundertwende vergleichbar – jedoch auch die Erfahrung des Weltkrieges mit einbeziehend – wird hier die oftmals beklagte Separation von Körper und Geist mit Hilfe der Rehabilitierung ekstatischer – von den Derwischen abgeschauter – rhythmisch-kollektiver Bewegungen eine kultische Kommunion angestrebt. Mit einem Blick zurück in die Menschheitsgeschichte auf sogenannte ›primitive‹ Gesellschaften entfaltet Friedrich Böhme seine sozialkompensatorische Argumentationsfigur: »Die Ekstase

auch an das Gefühl. Wenn irgendwo vom Einfühlen die Rede sein kann, so hier. Der Unterrichtsbetrieb mit Film läßt den Studierenden die Vergangenheit erleben. Er gibt kein totes Wissen wie die Vorlesung […]«. [Eller, Paul: »Geschichtsstudium und Film«, in: Der Kinematograph, Nr. 752, 17.6.1921.] 92. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 50. 93. Kleist, Heinrich v.: »Über das Marionettentheater«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München: Hanser 1984, S. 338-345, hier S. 342, 345. 172

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diente dazu, die Feindschaft der Menschen zu mildern und ihnen die Richtung auf Gemeinschaft, wenigstens im Unbewußten zu verankern und damit wirksam werden zu lassen.«94 Bei Balázs dagegen steht die Kinematographie als Kind der industriellen Moderne gewissermaßen für einen ›paradiesischen Fortschritt‹, der die entfremdeten Individuen – indem er den Menschen wieder sichtbar macht – auf einem höher entwickelten Niveau zu sich selbst kommen läßt. Nicht der ekstatische, vormoderne Weg, sondern der Durchgang durch die Moderne selbst führt zu diesem Ziel. Betrachtet man hingegen Balázs’ Denkfiguren genauer, so schwindet die Differenz zu rückwärts gewandten Utopien. Selbst wenn man Balázs schreibstrategische Gründe zugesteht, scheint mir seine Orientierung an der linguistischen Philologie die imaginierte visuelle Kultur jedoch allzu problemlos wieder zurückzubinden an ein sprachorientiertes Wissenschafts- und Archivierungsmodell. Die Forderung nach einer vergleichenden Physiognomik verbindet Balázs mit einem Errettungsgestus: »es wäre vielleicht kein nutzloses Unterfangen, die Physiognomie wirklich systematisch zu untersuchen und die Intuitionen einzelner Menschen durch eine fortsetzbare, systematische Wissenschaft zu retten.«95 »Wie oft ist der Gebärdenschatz ganz primitiver Völker reicher als der eines hochentwickelten Europäers.«96 Analog zum ›Gefängnis der Sprache‹ sieht Balázs »eine große Mission«97 des Films in der »vergleichende[n] physiognomische[n] Forschung«98, die nicht zuletzt die ›exotischen‹ Gebärdensprachen fokussiert. Über den Umweg des Vergleichs mit dem Fremden – einen gewissermaßen temporären going primitive – wird somit der Hoffnung Ausdruck gegeben, vorgeblich verlorenes gestisches Vermögen kompensatorisch für vermeintliche eigene Defizite wiederzuerlangen. Der edukative Gestus läßt dabei an die Tradition der durch die Völkerschauen massenwirksam gewordenen Schaustellungen fremder Ethnien denken. In gewisser Weise läßt sich der Versuch der Lesbarkeit des

94. Böhme: Tanzkunst, S. 67, zit. nach Baxmann: »Die Gesinnung«, S. 368. 95. Balázs, Béla: »Physiognomie (1923)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 205-208, hier S. 208. 96. Balázs: »Der sichtbare Mensch«, S. 54. 97. Balázs, Béla: »Nanuk der Eskimo (1923)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 217-218, hier S. 217. 98. Ebd. 173

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menschlichen Körpers auch als das Gegenstück zu einer Anthropologie verstehen, in der die Maskerade »in einer Sphäre der Gewalttätigkeit«99 zum »Lebenselexier der Existenz in der Öffentlichkeit«100 wird, so Helmut Lethen in seinen Verhaltenslehren. Balázs versucht mit Hilfe des Films einen sich aus den Konzepten der Lebensphilosophie herleitenden Dualismus von Körper und Geist zu lösen, den Plessner in seiner Anthropologie mit dem Satz »der Mensch ist von Natur aus künstlich«101 scheinbar zum Verschwinden bringt. In einer Zeit, da von (metaphysischen) »Überwölbungen […] nichts zu erwarten [ist], außer, daß sie einstürzen«102 , wird die Konzentration auf Sichtbarkeiten zu einer Dominante avancierter, intellektueller Interpretationsverfahren des Gesellschaftlichen. Es ist allerdings zu fragen, ob sich Balázs mit der Verkündung einer neuen ›Kultur des Visuellen‹, die als Abkehr von der Abstraktionstendenz der Moderne konzipiert ist, letztlich nicht zu sehr an dem die Moderne vorantreibenden paradigmatischen Naturwissenschaftsmodell orientiert, das schon längst nicht mehr einem idealistischen Grundsatz von ingeniöser Erfindung folgt, sondern auf der Grundlage akkurater Beobachtung einem radikalen Empirismus folgend seine Entdekkungen vorantreibt.

99. Lethen: Verhaltenslehren, S. 74. 100. Ebd., S. 85. 101. Plessner, zit. nach ebd., S. 9. 102. Plessner, Helmuth: »Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931)«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 135-234, hier S. 147. 174

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Schluß: Erfundene Eilande oder Aloha Oé in Moll »Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert, unsere Nahrung und Lebensweise ist ohne die rechte Natur, und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. […] Man sollte oft wünschen auf einer der Südsee-Inseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein, ohne falschen Beigeschmack durchaus zu genießen.«1 »Ma bella più di tutte l’Isola Non-Travata.«2 »Das Bild der unentstellten Natur entspringt erst in der Entstellung als ihr Gegensatz.«3 Die Darstellung topographischer Fremde und fremdkultureller Lebensformen erfreut sich seit der Erfindung bewegter Bilder beachtlicher Popularität und erhält mit der Filmproduktion der Gebrüder Lumière, die Bilder aus allen Winkeln der Welt in Europa verbreiten, ein bemerkenswertes, bis dahin nicht gekanntes Ausmaß und eine beachtliche Massenwirksamkeit. Vordem spielen neben einer weitgefächerten exotistischen Literatur, populäre Reise- und Abenteuerromane und illustrierte Gazetten4 mit ihrem Anspruch auf

1. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 19: J.P. Eckermanns Gespräche mit Goethe, München, Wien: Hanser 1986, S. 617. [Gespräch vom 12.März 1828.] 2. Gozzano, Guido: »La più bella«, in: Fröhlich, Anne Marie (Hg.), Inseln in der Weltliteratur, München: dtv, Manesse 1993, S. 396-399, hier S. 396. 3. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 119. 4. Zu nennen wären hier beispielsweise Westermanns Monatshefte. Illustrierte Zeitschrift der Gebildeten, Die Gartenlaube, Nord und Süd sowie Atlantis. Länder, Völker, Reisen. [Vergleiche hierzu u. a. Schöberl, Joachim: »Verzierende und erklärende Abbildungen. Wort und Bild in der illustrierten Familienzeitschrift des neun175

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Bildung bürgerlicher Schichten bei der Verbreitung der Bilder des Fremden ebenso wie Reiseführer und -handbücher für die unterschiedlichsten Reiseformen (von der touristischen Ferienreise über Forschungsreisen bis hin zur Auswanderung) eine wichtige Rolle. Diese – von verschiedenen literarischen Gattungen popularisierte – Fremde wird dem Publikum auf den Leinwänden der Kinos fast greifbar nahe gerückt. In den ersten Jahren der Weimarer Republik erscheinen fremdkulturelle Phänomene dort in faszinierender, oftmals auch bedrohlicher Weise, führen die Zuschauer in ferne, historische oder fantastische Zeiten oder sind in märchenhaften Räumen angesiedelt. Konfliktträchtige Einbrüche auch eines innereuropäisch Anderen, das gleichsam in die ›Wohnstube des Eigenen‹ vordringt, werden etwa in Das Cabinet des Dr. Caligari und in Murnaus Nosferatu in Szene gesetzt oder die Kontakte unterschiedlicher Kulturen erscheinen als dramatische Auseinandersetzungen in den Narrationen. Doch in den ersten Jahren der Republik weht durch die Imaginationen fremdkultureller Welten oftmals märkischer Sand. Die entlegenen Landschaften der Filmwelt erstrecken sich in dieser Zeit in den Weiten der Rüdersdorfer Kalkberge, entstehen in den Produktionsstätten der Kalikowelt5 oder atmen den Geist von Woltersdorf. Auf der Suche nach Gegen-, Sehnsuchts- und Fluchtbildern erscheint in vielen Narrationen unter allen Topographien exotischer Fernen die Insel mit ihrem speziellen räumlichen Gepräge des exponierten, gegen seine Umgebung abgegrenzten Schauplatzes als besonderer Imaginationsraum. So läßt sich die Präsenz des Vorstellungsbildes einer Insel als letzter Zufluchtsstätte, beispielsweise an der literarischen Figur Ulrich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften zeigen, der seiner Schwester Agathe die Flucht »[a]uf eine Insel in der Südsee«6 vorschlägt, um sich auf diese Weise nach der Testamentsfälschung einer drohenden Gefängnisstrafe zu entziehen. Die Geographie der Inseln ist jedoch verräterisch. »Die ›seligen

zehnten Jahrhunderts am Beispiel der ›Gartenlaube‹«, in: Segeberg, Harro (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München: Fink 1996, S. 209-236; Belgum, Kirsten: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in ›Die Gartenlaube‹, Lincoln, NE: U of Nebraska P 1998.] 5. Kracauer, Siegfried: »Kaliko-Welt. Die Ufa-Stadt zu Neubabelsberg«, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 271-278. 6. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 1477. 176

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SCHLUSS: ERFUNDENE EILANDE ODER ALOHA OÉ IN MOLL

Eilande‹ liegen auf der anderen Seite der Erde, bei den Antipoden, und damit in einer dem Europäer konträren Welt.«7 Im Sinne Urs Bitterlis sind exotische Inseln »für die Reisenden aller Zeiten zuerst Zielorte gesteigerter Erwartung, Anlege- und Ankerplätze nach langer und oft mühseliger Fahrt«.8 Er verweist auf die Widersprüchlichkeit der geographischen Natur insularer Regionen, die »sich einerseits als kleine Einheiten […] rasch erfassen ließen, während sie andererseits in der Weite der Weltmeere nur sehr schwer präzis zu lokalisieren waren.«9 Dem Vorstellungsbild von Inseln, besonders jenen der Südsee, kommt in der Diskursivierung des Fremden eine besondere Rolle zu. Heitere Schönheit, ein sorgloses Leben im Einklang mit der Natur, in einem Klima, daß die Sorge um das Morgen überflüssig werden läßt, … Die Aufzählung von Imaginationen, die sich seit den frühen Berichten aus der Südsee endlos in Schichten ablagern, ließe sich mit zahllosen weiteren Beispielen fortschreiben. Seit der aufgeklärten Anthropologie bildet diese Diskurstopographie das »Scharnier, das die zivilisatorische Entwicklung an eine glückliche Herkunft bindet und die Hoffnung auf eine ebenso glückliche Zukunft erschließt«.10 Kinematographische Aufzeichnungen dieser scheinbar seligen Breiten bezaubern in dieser Traditionslinie stehend auch weiterhin das heimische Publikum der Weimarer Republik. »Ein beglückender Film«, wie Lotte Eisner schwärmt. »Beglükkend, weil es irgendwo in der Welt noch Menschen gibt, edel wie Griechenstatuen, Menschen, der Natur selbstverständlich verwachsen.«11 Dieser Eloge der Filmkritikerin ungeachtet scheint zu Beginn der dreißiger Jahre das verbreitete Vorstellungsbild unbeschwerter Südseeschönheit immer mehr als Projektion verstanden zu werden. Selbst wenn nun das Unberührte »zur ideologischen Mystifikation«12 gewinnt, wird damit indes der Traum vom prämodernen Glück des

7. Mesenhöller, Peter: »Kulturen zwischen Paradies und Hölle. Die Fotografie als Mittler [sic!] zwischen den Welten«, in: Theye, Thomas (Hg.), Der geraubte Schatten. Photographie als ethnologisches Dokument, München, Luzern: C.J. Bucher 1989, S. 350-379, hier S. 350. 8. Bitterli: »Die exotische Insel«, S. 11. 9. Ebd., S. 13. 10. Schütze, Jochen K.: Gefährliche Geographie, Wien: Passagen 1995, S. 113. 11. Eisner, Lotte H.: »Die Insel der Dämonen«, in: Film Kurier, Nr. 42, 17.02.1933. 12. Enzensberger, Hans Magnus: »Eine Theorie des Tourismus (1958)«, in: ders.: Einzelheiten I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S. 149-168, hier S. 158. 177

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Unangetasteten, der reinen, unberührten Umwelt nicht ausgelöscht. »In jedem von uns steckt eine Jack-London-Sehnsucht nach den Inseln der Seligen, wir sind glücklich, träumen zu dürfen.«13 Aus den überlieferten Reaktionen prominenter Reisender läßt sich jedoch entgegen Lotte Eisners Abenteuersehnsucht entnehmen, daß – nicht ohne Melancholie – von der Hoffnung Abschied genommen wird, ein leibhaftiges Südseeparadies auffinden zu können. Als Wunsch- und Traumgebilde leben die ›seligen Inseln‹ indessen fort, wenngleich sich ein aufmerksamer Spurensuchender wie Henri Matisse angesichts der Tropennatur sogleich an die Wohnungsüppigkeit bereits sattsam vertrauter Zimmerpflanzen erinnert sieht.14 Imaginär wird in dieser Hinsicht die (groß)bürgerliche – oftmals den Charakter einer Wunderkammer aufweisende – Wohnstube zum ständigen Begleiter des nunmehr touristischen Voyageurs. Doch ungeachtet des ›kulturellen Gepäcks‹ des modernen Reisenden, zeigt für Kurt Pinthus der Deutsche immer noch »Züge des Zugvogels: Sehnsucht nach Süden: im Mittelalter nach dem Morgenland; dann jahrhundertelang nach Italien; jetzt, große Mode, nach den Inseln der Südsee, geweckt durch Bücher von Bruuns und Gauguin und durch Bilder von der Insel Bali. Diese Bali-Bilderbücher zeigten paradiesisch-untätiges Leben immer festlich-froher Bevölkerung mit sanften Seelen und Sitten, in Harmonie mit sich, miteinander und dem All, und vor allem von edelstem Leibeswuchs.«15 Was hier lapidar als Charakteristikum eines Zugvogels bezeichnet wird, markiert vielmehr en passant Stationen einer Freiheitssehnsucht und verweist auf die Transformation einer andauernden, traditionsreichen Suchbewegung, die in den 20er Jahren nicht zuletzt durch die bildmächtige Kinematographie beerbt wird. Bei der imaginären Ausformulierung paradiesischer Inseltopographien spielen neben der machtvollen literarischen Tradition auch Veröffentlichungen wie die von Paul Gauguins Noa Noa16 – das 1920 erstmals in deutscher Übersetzung bei Bruno Cassirer in Berlin erschien – oder das populäre, in mehreren Auflagen verlegte, reich

13. Eisner, Lotte H.: »Tabu« (Rezension Film-Kurier, Nr. 201, 28.08.1931), in: dies.: Murnau, Frankfurt/M.: Kommunales Kino. Frankfurt am Main 1979, S. 329331, hier S. 330. 14. Siehe hierzu Metken, Günter: »Einleitung«, in: Gauguin in Tahiti. Die erste Reise. Gemälde 1891-1893, München: Schirmer-Mosel 1989, S. 7-24, hier S. 15. 15. Pinthus, Kurt: »Der Bali-Film«, in: Das Tage-Buch, Jg. 8 (1. Halbjahr), 1927, S. 522-523, hier S. 522. 16. Gauguin, Paul: Noa Noa, München: Metamorphosis 1992. 178

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bebilderte zweibändige Bali-Fotobuch17 des im Dienst der niederländischen Kolonialverwaltung stehenden Arztes Gregor Krause eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese ›Bilderbücher‹ der besonderen Art lassen im Ensemble mit anderen einflußreichen Bildagenturen aus ›Bali‹ mehr als eine einfache geographische Bezeichnung werden. Diese Ausprägung des Idealbilds einer tropischen Insel wird auch hier durch wirksame Authentisierungsstrategien unterstützt. So versucht Karl Wirth – Herausgeber der Schriftenreihe Geist, Kunst und Leben Asiens des Folkwang Verlages und oft zu Rate gezogener Experte für südostasiatische Fragen – im Vorwort zu Krauses Fotobuch den Wahrheitsgehalt der Fotografien mit dem Hinweis auf deren Aufnahmesituation zu erhöhen: »Der Wert dieser Bilder liegt rein objektiv darin, daß sie lückenlos das gesamte Dasein dieser Insel mit ihren Menschen widerspiegeln. Fällt dabei das immer sich gleichbleibende Maß von Schönheit, Ausdruck und Stimmung auf, so liegt das an der ununterbrochenen Schönheit dieser Menschen und dieser Natur, nicht daran, daß mit der Kamera bewußte Momente und Situationen gesucht wurden. Es ist dabei der seltene und besondere Reiz der Aufnahmen, daß die Menschen nicht gestellt sind, nicht einmal merkten, daß sie aufgenommen wurden.«18 Ungebrochenes Vertrauen in den dokumentarischen Wert fotografischer Bilder, dem jeglicher Einblick in die Problematik des fotografischen Beutemachens fehlt, spricht aus diesen Bemerkungen. Die Taxonomie der Bilder und besonders der Einleitungstext von Karl Wirth stehen in der Tradition der Bilderlust des 19. Jahrhunderts, die »vor allem das Exotische in der anderen Kultur zu fixieren [suchte], das Andersartige, um sich entweder danach zu verzehren, oder aber in vermeintlicher Überlegenheit darin zu spiegeln.«19 Ganz Kind seiner Zeit lobt Alfred Salmony in Das Kunstblatt dieses Fotobuch, weil es einen Ausweg aus den Bibliotheken weise, »in die

17. Krause, Gregor: Bali, Teil 1: Land und Volk, Teil 2: Tänze, Tempel, Feste, Hagen: Folkwang Verlag 1920. 18. Wirth, Karl: »Vorwort«, in: Krause, Gregor: Bali, Teil 1: Land und Volk, Hagen: Folkwang Verlag 1920, S. 7. 19. [Mesenhöller: »Kulturen«, S. 353.] Peter Mesenhöller macht in bezug auf die frühe Fotografie weiter darauf aufmerksam, daß »[d]ie oft gepriesene Objektivität […] sich ganz den Erwartungen der Käufer« unterordnet. [Ebd., S. 352.] Zum Beutegestus des dokumentarischen Films siehe den Aufsatz von Jan Berg. [Berg, Jan: »›Der Beute-Gestus‹. Dokumentarische Exotik im Film«, in: Koebner, Thomas/Pickerodt, Gerhart (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt/M.: Athenäum 1987, S. 345-362.] 179

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uns Müdigkeit und Verzweiflung getrieben hatten«.20 Ausdrücklich hebt er die Qualität des Einleitungsessays von Karl Wirth mit dem Titel Bali und wir hervor, den er als »umwertende Arbeit«21 bezeichnet. »Nicht die sehnsüchtige Gebärde, die Klage um das verlorene Glück einer menschlichen Kindheitsstufe, sondern Fortschritt zu dem kühnen Eingeständnis unserer Zerrissenheit«22 fände sich hier ausgedrückt. Daß es sich bei dieser ›Umwertung‹ gewissermaßen um einen ins Positive gewendeten readers digest der Spenglerschen Kulturmorphologie handelt, der überdies typologisch Balinesen auf ihre Körperhaftigkeit festschreibt, sei hier nur am Rand erwähnt. Bedeutender ist der Gestus, mit dem fremdkulturelle Phänomene dem heimischen Publikum vorgestellt werden. Die fremde Kultur wird als eine sich stetig wandelnde präsentiert und in eben dieser Veränderlichkeit als vom Untergang bedroht dramatisiert. Sinn und Bedeutung dieser Bilder sei es, führt Wirth aus, »in der Sprache des Lebens das große Bild einer Lebenseinheit uns vor Augen«23 zu führen. »Diese Leiber stehen in ihrer Schönheit an jener letzten Grenze, wo die Unwirklichkeit von Traum und Bild beginnt. […] Und vielleicht ist diese Grenze schon überschritten. Vielleicht läßt sich morgen schon nicht mehr von der glücklichen Insel Bali sprechen, nur noch in Erinnerung von ihr träumen.«24 Betrachtet man die Motive, die Krauses Bilduniversum dem heimischen Publikum aus der fernen Inselwelt Bali entgegenhält, so scheint es zumindest, als schreibe er mit seinen fotografischen Bildern diejenigen der Südseeliteratur weiter. Krauses Fotografien und die in der Südsee spielenden Filme der 20er und frühen dreißiger Jahre zeigen jedenfalls auffällige ikonographische Übereinstimmungen, bei denen Herman Melvilles Typee (1846) Pate gestanden haben könnte.25 Auch der endgültig hollywoodmüde Murnau mag ein sol-

20. Salmony, Alfred: »[Rez.] Insel Bali«, in: Das Kunstblatt, Jg. 5, 1921, S. 189-190, hier S. 190. 21. Ebd. 22. Ebd., S. 189. 23. Wirth, Karl: »Bali und wir«, in: Krause, Gregor: Bali, Teil 1: Land und Volk, Hagen: Folkwang Verlag 1920, S. 9-16, hier S. 10. 24. Ebd., S. 16. 25. »Melville’s story is rich in scenes of native girls bathing in cascading water, of life lived ›in an atmosphere of perpetual summer, and nurtured by the simple fruits of the earth, enjoying a perfect freedom from care and anxiety‹.« [Spurr, David: The rhetoric of empire. Colonial discourse in journalism, travel writing and imperial administration, Durham, London: Duke UP 1993, S. 127.] 180

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chermaßen geprägtes Vorstellungsbild vor Augen gehabt haben, als er sich auf den Weg in die Südsee begab, um »auf der Suche nach Bildern […] eine Bilderwelt zu retten«.26 Murnaus Fahrtziel wird auch zum Taufnamen von dessen Jacht: Bali. »Murnau ist mit seiner eigenen Segeljacht Mitte März aus Amerika weggefahren in Richtung Bali (!)«.27 Bei dem Schreiber der eben angeführten Zeilen handelt es sich um Walter Spies, einen alten Freund Murnaus aus Berliner Tagen, der inzwischen dem Balinesischen Fürstenhaus als Hofkapellmeister dient. Auf der Suche nach Beispielen für Wechselwirkungen zwischen eigen- und fremdkulturellen Phänomenen erwiese sich die schillernde Persönlichkeit von Walter Spies als Fundgrube. In den frühen 20er Jahren zieht es ihn nach Südostasien, wo er sich als Maler, Komponist, Choreograph und Dirigent javanischer und balinesischer Sujets einen Namen macht und den klangvollen Titel ›Wedono Musik di Kraton‹ verliehen bekommt. Für viele Balireisende fungiert Spies gewissermaßen als Cicerone in der fremden Inselwelt, die er beispielsweise einem ›Forschungsreisenden‹ wie Victor Baron von Plessen näher bringt.28 Dieser engagiert Spies – der in der Folgezeit immer häufiger auch zum Berater in ethnologischen Fragen wird29 – daraufhin als künstlerischen Beirat für das Filmprojekt Insel der Dämonen von Friedrich Dalsheim. Die Perspektive, die dem deutschen Publikum in Friedrich Dalsheims Film offeriert wird, kann demnach als eine doppelt gefilterte betrachtet werden. Für das heimische Publikum ist die oft bemühte Grenze zwischen Spiel- und Kulturfilm hier nicht mehr auszuma-

26. Schütze: Gefährliche Geographie, S. 145. 27. Walter Spies, zit. nach Rhodius, Hans: Walter Spies (Maler und Musiker auf Bali 1895-1942). Schönheit und Reichtum des Lebens, eine Autobiographie in Briefen, Den Haag: L.J.C. Boucher 1964, S. 266-267, hier S. 267. [Brief vom 8.4.1929.] 28. 1928 arbeitet Walter Spies zusammen mit André Roosevelt an einem ›Dokumentarfilm‹ mit dem Titel Der Kris, der 1931 in Paris auf der großen Kolonialausstellung gezeigt wird. Für die Geschichte und die Choreographien der zeremoniellen Tänze zeichnet Walter Spies verantwortlich. Nebenbei sei erwähnt, daß auch heute noch auf Bali Choreographien von Walter Spies in touristischen Veranstaltungen als ›traditionelle‹ Tänze aufgeführt werden. 29. So publiziert er etwa mit Beryl de Zoete ein umfangreiches Buch über Tanz und Drama in Bali. [Zoete, Beryle de/Spies, Walter: Dance and Drama in Bali, London: Faber & Faber 1938.] Auch die Bali-Studie von Gregory Bateson und Margaret Mead, die erstmals in der Ethnographie umfangreiches Fotomaterial verwendet, ist Walter Spies verpflichtet. [Bateson, Gregory/Mead, Margaret: The Balinese Character. A Photographic Analysis, New York: New York Academy of Sciences 1942.] 181

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chen.30 Der Illustrierte Film-Kurier vermerkt, neben den oben genannten deutschen Filmschaffenden seien ein Hindupriester und ein Eingeborenenfürst31 für die Arbeit am Manuskript gewonnen worden. Was im Fall der großen Filmproduktionen nur mit einigem Aufwand an Werbemitteln zu erreichen war, gelingt hier scheinbar mühelos. Dieser »Spielfilm von einem fernen Volk wird zum Kulturfilm im edelsten Sinn […]«32, lobt Lotte Eisner ›beglückt‹.

Der einleitende Kommentar von Die Wunderinsel Bali rekurriert auf einen nicht erst seit dem Bali-Buch Gregor Krauses sattsam bekannten Topos und entspricht so den präsupponierten Erwartungen des Publikums: »Die Menschen der Insel Bali leben glücklich mit ihren Göttern. Doch ihr Glück wird oft beschattet durch das Wirken

30. Für die Zeit der Weimarer Republik steht eine detaillierte Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen der Rezeption von ›Kulturfilmen‹ mit dokumentarischem Gestus und der Rezeption fiktionaler Filme mit fremdkulturellen Sujets noch aus. Hinweise wie das von mir im Kapitel Verlusterfahrungen oder Suchbilder der Ordnung angeführte Beispiel zu Lebende Buddhas lassen jedoch ein solches Wechselverhältnis vermuten, durch das die die Wahrnehmung fremdkultureller Phänomene prägenden Rezeptionserwartungen gewissermaßen imaginär umgeschrieben werden. Ein aufschlußreiches Studienobjekt bietet in diesem Zusammenhang die Doku-Fiktion – etwa Filme wie Wunderinsel Bali oder Insel der Dämonen –, bei der die Grenzen zwischen den Ansprüchen des ›Kulturfilms‹ und des Spielfilms sowohl auf Seiten der Produzenten als auch auf der der Rezipienten durchlässig sind. Zum deutschen Expeditionsfilm der Zwischenkriegszeit vergleiche die Dissertation von Hedwig Preuk. [Preuk, Hedwig 1985: Deutsche Expeditionsfilme der 20er und 30er Jahre. Studien zu einem Genre aus der Entwicklung des Kulturfilms, Diss. Ludwig-Maximilians-Universität, FB 15, Institut für Kommunikationswissenschaft, München 1985.] 31. Vgl. anonym: »Inseln der Dämonen, Die«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 1930, 1933. 32. Eisner: »Insel«. 182

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feindlicher Dämonen, die als Naturgewalten oder sogar in Menschengestalt ihr Paradies heimsuchen.«33 Was für fiktionale Filmproduktionen mit fremdkulturellen Sujets evident erscheint, und zwar daß sie auf einen heimischen Markt und den dort vorhandenen Erwartungshorizont des (zahlenden) Publikums bezogen bleiben, gilt demnach gleichermaßen für Filme mit dokumentarischen Gestus. Wenngleich Pinthus in der weiter oben angeführten Rezension das deutsche Bali-Bild implizit als idyllisch verklärtes kritisiert, so wird diesem Entwurf durch den Film Lola Kreutzbergs – wie schon die reißerisch geratene Titelgebung Die Wunderinsel Bali kenntlich macht – eine weitere Imagination zur Seite gestellt. Der ›fanatischen Sachlichkeit‹ dieses Films gibt Pinthus bereitwillig mehr Glaubwürdigkeitskredit als den »ausgewählten Fotos schönheitsdurstiger Reisender«.34 Pinthus’ Kommentar läßt erkennen, wie nun die Atmosphäre dämonischer Dunkelheit die bislang dominierende heitere Unbeschwertheit des deutschen Bali-Bildes überlagert. Dennoch kommen Pinthus auch – kulturrelativistisch getönte – Zweifel am eigenen Wahrnehmungsfilter des nunmehr faszinierend-abschreckenden Bildes düsterer Rituale auf: »Aber wir sehen solcherlei vielleicht mit zu sentimentalen Augen.«35 Auch Herbert Jhering erscheint der Kreutzberg-Film als ein »Märchen der Wirklichkeit«36, das Bali als eine »paradiesische heitere und barbarisch götzenhafte Welt«37 zeigt. Das idealisierte heitere Bild wird durch sein dämonisches Spiegelbild ergänzt. Diese »wirre, kindlich unschuldige und betäubend schmerzliche Welt«38 wird Jhering zum Ereignis. Die »Molltöne[] des Aloha Oé«39 bestimmen in der Moderne zunehmend die Suche nach Ursprünglichkeit und Einfachheit, die alle Berichte über Tahiti oder andere Eilande des Imaginationsraums der Südsee durchzieht, und lassen diese somit vollends zur wehmütigen Archäologie werden. »Wir begriffen, daß es Zeit, Beharrlichkeit, Liebe, harte Arbeit und Forschen erfordern würde, um

33. Zensurentscheid: Inseln der Dämonen, 1935 (SDK; Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 40946). 34. Pinthus: »Bali-Film«, S. 522. 35. Ebd., S. 522f. 36. Jhering, Herbert: »Lola Kreuzberg«, in: ders.: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film, Bd. 2: 1924-1929, Berlin: Aufbau 1961, S. 530. 37. Ebd. 38. Ebd. 39. Eisner: »Tabu (Rezension)«, S. 329. 183

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das Bild des Paradieses wieder herzustellen.«40 Versteht Murnau die Suche nach den ›Seligen Inseln‹ als harte Arbeit, so hatte sich vor ihm schon einer der bekanntesten Südseereisenden, Paul Gauguin, zu Beginn seines – in der fiktiven Reiseerzählung Noa Noa literarisch überlieferten – going native die bange Frage gestellt: »Wird es mir gelingen, eine Spur dieser so fernen, so mysteriösen Vergangenheit wiederzufinden?«41 Wie unzählige sehnsuchtsvoll nach Ursprünglichkeit Suchende vor ihm, die ein gewisses Unbehagen in der Kultur42 verspüren, beginnt Murnau das in der Südsee Vorgefundene nach seinen eigenen Wunschfantasien zusammenzusetzen und einem Traumbild anzugleichen. Im Bordgepäck die »Werke, die geeignet waren, unsere Sehnsucht nach den leuchtenden Inseln zu verstärken«43, inszeniert sich Murnau in Tagebuch und Briefen als ethnologischer Archäologe, der die fast vergessenen Tänze der Inselbewohner wiederentdeckt, indem er ihnen anderenorts aufgezeichnete Südseemusik mit dem Grammophon vorspielt. »Sie begannen einen wilden Gesang, zu welchem sie ihre Körper im Rhythmus bewegten. Sie erschienen wie lebendig gewordene Bilder von Gauguin … Sie fühlten sich zurückversetzt in die herrlichen heidnischen Tage, als ihre Rasse noch stolz und frei war.«44 Diese von Murnau proklamierte Zurückversetzung verweist darauf, daß in utopischen Entwürfen immer wieder auf ein gleichbleibendes Muster rekurriert wird: Es ist, wie Michael Rössner schreibt, »der Mythos von einer idealen, aber verloren gegangenen Vorzeit, zu der es – in gewandelter Form natürlich – auf dem einen oder anderen Weg zurückzukehren gelte. Solcherart verbindet sich ›regressives, primitivistisches Erinnern mit progressivem, grenzüberschreitendem Denken und Fühlen zu einer widersprüchlichen, aber doch auch komplementären Verschränkung‹«. 45 Das Modell dieser Erzählung utopischer Entwürfe, dem ein annähernd zykli-

40. Murnau zit nach Eisner, Lotte H.: Murnau, Frankfurt/M.: Kommunales Kino. Frankfurt am Main 1979, S. 338. 41. Gauguin: Noa Noa, S. 23. 42. Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur (1930)«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIV: 1923-1931, Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 419-506. 43. [Murnau, zit. nach Eisner: Murnau, S. 337.] In Murnaus Tagebüchern und Briefen werden Joseph Conrad, Robert Louis Stevenson, Pierre Loti, Herman Melville, Frederick O’Brien, Hall und Nordhoff genannt. 44. Murnau, zit nach ebd., S. 341. 45. Rössner: Auf der Suche, S. 17. Zit. wird Börner, Klaus H.: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie, Frankfurt/ M.: Wörner 1984, S. 9. 184

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scher Geschichtsbegriff zugrunde liegt, stammt bekanntermaßen aus der Paradieserzählung der Genesis, gilt aber mutatis mutandis gleichermaßen für den Geschichtsentwurf des historischen Materialismus und findet sich in poetischer Essenz in dem am Ende des letzten Kapitels angeführten Kleist-Diktum als Heimkehr ins Paradies durch die rückwärtige Pforte ausgedrückt. Die Denkfigur, die einen unversöhnlichen Gegensatz von Kultur und Natur in der realen Welt konstruiert und paradiesische Zustände als vorzivilisatorische imaginiert, ist vom Unbehagen an der Kultur deutlich geprägt. Die diesen Denkmustern folgenden Erwartungshaltungen perspektivieren den Blick und prägen maßgeblich die Bewertung des Gesehenen. Ein Kommentar Ernst Kallais zu Murnaus Tabu läßt dies deutlich werden. Der Rezensent der Sozialistischen Monatshefte sieht sich in der Erwartung, »den geheimnisvollen Zauber einer jungfräulichen Natur und ihrer primitiven Menschenkinder«46 offenbart zu bekommen, angesichts des Films enttäuscht. Statt dessen kommt dem Kritiker eine andere Einsicht: »[D]er einzige lebenswahre Eindruck geht von den Bildern aus, die das Südseeparadies bereits im Schatten der weißen Zivilisation zeigen: mit proletarisierten, in europäisch-amerikanisches Lumpenzivil gekleideten Perlenfischern, die in einer üblen Kneipe Foxtrott tanzen.«47 Für Kallai ist der Grund für das Mißlingen des Films neben der alles überschattenden Bemerkung, daß hier einer »sein europäisches Geisteserbe vertan hat«48, schnell ausgemacht. Das den Film prägende fade Theater erkläre sich, so Kallai, »[n]icht zuletzt wohl auch aus dem Grund, weil die Eingeborenen, die uns den paradiesischen Zustand vor die Augen führen sollten, offenbar ebenfalls schon längst von den Früchten der Zivilisation gegessen haben.«49 Kallai versteht also die Zivilisation als Sündenfall, ein Paradies mit Spuren des Zivilisatorischen erscheint in solcher Perspektive undenkbar. Rudolf Arnheim, der mit scharfsinnigem Spott über diesen letzten Film Murnaus nicht eben sparsam ist, kritisiert die Repräsentation des Ökonomischen von einer anderen Seite her: »Sehr lehrreich, wie sich auch in einen solchen, am andern Ende der Welt spielenden Film die Ideologie der bürgerlichen Filmproduktion einschmuggelt.

46. Kallai, Ernst: »Bewegungskunst. Rastelli …. Gruppentanz. Film«, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 8, Nr. 2, 1932, S. 186-187, hier S. 186. 47. Ebd., S. 186f. 48. Ebd., S. 187. 49. Ebd. 185

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[…] Das Wirtschaftliche erscheint nur als dämonisches Motiv.«50 Wenn Thomas Koebner im zweiten Teil von Tabu die Fortsetzung einer im 19. Jahrhundert befestigten Denktradition an den chinesischen Kaufleuten festmacht, die die beiden Protagonisten Matahi und Reri betrögen und in die Enge trieben, so ist auch hier das Argument des Ökonomischen zentral. Die »unendlich traurige Fabel […] einer Geschichte des unvermeidlichen Beraubt- und Beherrschtwerdens« lasse die Liebesgeschichte in Tabu zugleich eine »Art mythischer Menschheitsgeschichte«51 reflektieren, heißt es bei Koebner weiter. Auf einer abstrakteren Repräsentationsebene betrachtet und zurückgebunden an das, was im vorangegangen Kapitel zur Filmtheorie Béla Balázs’ ausgeführt wurde, reflektiert der Film mit seinen beiden Teilen »Paradise« und »Paradise Lost«52 die Separation von Körper und Geist, von Geste und Sprache. Damit schreibt Tabu die in der Filmtheorie der Weimarer Republik oftmals thematisierte Zwei-Weltenlehre fort.53 Wie hartnäckig die einmal konstituierten Bilder des Anderen sind, läßt sich an einer Begebenheit am Rande des Filmgeschäfts zeigen. Reri, die Protagonistin aus Murnaus Tabu, beginnt im Zuge ihres Filmerfolgs eine Karriere als Ziegfield-Girl in New York und besucht auf einer Europatournee auch die Hauptstadt der Republik. Reri, das Naturkind, raucht …54 titelt die Presse. Die Irritation, die in der Schlagzeile mitschwingt, wird jedoch schon im Untertitel des Artikels zurechtgerückt: »Am liebsten ginge sie barfuß und schliefe auf dem Fußboden« heißt es dort. Welchen Wahrheitsgehalt die in dieser Zeitungsnotiz wiedergegebenen vorgeblichen Äußerungen Anne Chevaliers – wie die Filmfigur Reri mit bürgerlichem Namen heißt – haben, muß Spekulation bleiben. Es scheint aber, als sei die

50. Arnheim, Rudolf: »Tabu«, in: ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film (1927-1964), München: Hanser 1974, S. 237-238, hier S. 237. 51. [Koebner, Thomas: »Der romantische Preuße«, in: Prinzler, Hans Helmut (Hg.), Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films, Berlin: Bertz 2003, S. 9-52, hier S. 51.] Zur erwähnten Argumentationsfigur vergleiche ebd., S. 49. 52. Der Titel ist eine deutliche Anspielung auf John Miltons wirkungsreiches Versepos von 1674. 53. Vgl. dazu Koch, Gertrud: »Mimesis, Mimikry, Simulation. Film und Modernität«, in: Neue Rundschau, Jg. 100, Nr. 1, 1989, S. 119-134, bes. S. 124f. sowie Oksiloff, Assenka: Picturing the Primitive. Visual Culture, Ethnography, and Early German cinema, New York: Palgrave 2001, bes. 135-158, 169-177. 54. A.C.L.: Reri, das Naturkind, raucht… Am liebsten ginge sie barfuß und schliefe auf dem Fußboden, 1931 (BAFA-File: Tabu; Rezension o. Quellenangabe) 186

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in Erich Scheurmanns Der Papalagi55 vorgeführte Umkehrung des ethnographischen Blicks hier ein weiteres Mal verkehrt worden.56 Daß Fremdheit als ein polydimensionales, gleichermaßen innere wie äußere Komponenten umfassendes Phänomen verstanden werden kann und darüber hinaus zwischen innerer und äußerer Dimension von Fremdheit »transformative[] Beziehungen« bis hin zum »Wechsel zwischen Imagination und Realität«57 bestehen, haben die einzelnen Kapitel aus ihren je unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Wenngleich mit den Materialien58, die Gegenstand meiner Arbeit waren, Wissen über fremdkulturelle Phänomene fabriziert wird, so bleibt deren Verstehenshorizont doch auf die eigene Kultur bezogen. Die den Filmbildern und ihren begleitenden Diskursen eines historischen Zeitabschnitts eingeschriebenen anthropologischen Bilder des Anderen verraten somit auch immer, wie der Bilderproduzent sich nicht sieht: eine Umkehrung des Rimbaudschen Ichbin-ein-Anderer. Daß die kinematographischen Bilder des Anderen dabei in einem komplexen Geflecht verschiedener Diskurse produziert, authentisiert, moduliert, kodiert, rezipiert und gedeutet werden und bei der Entwicklung einer nationalen Identität gewissermaßen ex negativo an eigenen Selbstverständigungsprozessen teilhaben, hat diese Arbeit zu zeigen versucht.

55. [Scheurmann, Erich: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Buchenbach, Baden: Felsen (erneut: Zürich: Tanner & Staehelin 1978ff.) 1920.] Diese Umkehrung wird auch noch bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in esoterisch gestimmten Kreisen aufgrund der fiktiven Herausgeberschaft des Verfassers oftmals als ›wahrer‹ Bericht eines Südseeinsulaners rezipiert. 56. »Es hat auch lange gedauert, bis sie sich an Schuhe gewöhnen konnte, oft wollte sie barfuß ins Theater gegen. Auch Handschuhe machten ihr furchtbar zu schaffen und weil ihr das An- und Ausziehen zu beschwerlich schien, wusch sie sich einfach die Hände mit den Handschuhen.« [A.C.L.: Reri, das Naturkind.] 57. Nothnagel, Detlev: Der Fremde im Mythos. Kulturvergleichende Überlegungen zur gesellschaftlichen Konstruktion einer Sozialfigur, Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Lang 1989, S. 413. 58. Dazu die einleitenden Worte in das Kapitel Das Kino als Agent des Eskapismus?. 187

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) vakat 188.p 17893197620

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Filmographie Die Filmographie dokumentiert lediglich die in der Arbeit erwähnten Titel deutscher Filme, die mit dem Thema des Anderen/Fremden in Verbindung stehen (Ausnahme: Tabu). Da auch die im folgenden aufgelisteten, bei der Zusammenstellung der Daten verwandten einschlägigen Handbücher oftmals lückenhaft sind, ist auch hier keine Vollständigkeit zu erreichen gewesen. Daneben wurden die im BAFA, in der SDK und im DIF, Frankfurt/M. in Konvoluten gesammelten filmbegleitenden Materialien, die Ausgaben des Illustrierten Film-Kuriers, verschiedener Fachzeitschriften sowie Zensurkarten ausgewertet. Ergänzend wurden – soweit vorhanden – einschlägige monographische Darstellungen zu einzelnen Filmschaffenden herangezogen.1 Die Angaben sind – soweit vorhanden – nach folgendem Muster aufgebaut: Titel [Land : Jahr] / Originaltitel / Zensur- u. a. Titel – R.: Regie; B.: Buch; K.: Kamera; Sch.: Schnitt; T.: Ton; M.: Musik; Ba.: Bauten; Ko.: Kostüme; D.: Darsteller; P.: Produktionsfirma; Pd.: Produzent; Dz.: Drehzeit; DO: Drehort; Z.: Zensur; F.: Format; UA: Uraufführung; L.: Länge/Originallänge/Zensurlänge Abenteuer des Prinzen Achmed, Die [D 1925] – R.: Reiniger, Lotte; P.: Comenius G.m.b.H.; L.: 60.

1. Bauer, Alfred: Deutscher Spielfilmalmanach 1929-1950, München: Filmladen 1976; Birett, Herbert: Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. Entscheidungen der Filmzensur Berlin, Hamburg, München, Stuttgart 1911-1920, München, London, New York, Paris: Saur 1980; Bock, Hans Michael (Hg.): CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film, München: edition text + kritik 1984ff; Klaus, Ulrich J.: Deutsche Tonfilme. Lexikon der abendfüllenden deutschsprachigen Spielfilme, chronologisch geordnet nach den Daten der Uraufführungen in Deutschland sowie der in Deutschland produzierten, jedoch nicht zur Uraufführung gelangten Spielfilme, Berchtesgaden: Klaus 1988ff.; Lamprecht, Gerhard: Deutsche Stummfilme 1903-1931, Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek 1967-1970. 189

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Augen von Jade, Die [D 1918] – R.: Raffay, Iwa; D.: Hella Moja, Henri Peters-Arnold, Takka-Takka (Halbjapanerin); P.: Hella MojaFilm GmbH, Berlin im Verleih der Decla. Cabinet des Dr. Caligari, Das [D 1919/20] – R.: Wiene, Robert; K.: Hameister, Willy; Ba.: Hermann Warm; Walter Reimann; Walter Röhrig; Ko.: Walter Reimann; D.: Werner Krauss (Dr. Caligari); Conrad Veidt (Cesare); Friedrich Feher (Francis); Lil Dagover (Jane); Hans von Twardovski (Alan); Rudolf Lettinger (Dr. Olsen); Rudolf Klein-Rogge (Mörder); P.: Decla; Pd.: Rudolf Meinert; Erich Pommer; DO: Film-Atelier (Lixi) in Berlin-Weißensee; Z.: B. 43 802, März 1920, Jugendverbot; F.: 35mm, s/w (viragiert), 1:1.33; UA: 26.2.1920, Marmorhaus (USA: 3.4.1921, Capitol, NYC; franz.: 3.3.1922, Ciné-Opera, Paris; brit. 17.3.1924); L.: 74. Flug um den Erdball, Flug – 1. Von Paris nach Ceylon – 2. Indien – Europa [D 1924] – R.: Wolff, Willi; K.: Brandes, Werner; Ba.: Sohnle und Erdmann; D.: Ellen Richter; Reinhold Schünzel; Anton Pointer; P.: Ellen-Richter-Filmgesellschaft im UniversumFilmverleih G.M.B.H.; UA: U.T. Kurfürstendamm. Frauengasse von Algier, Die [D 1927] / Musa Samarra – R.: Hoffmann-Harnisch, Wolfgang; B.: Robert Reinert; K.: Hoffmann, Carl; Ba.: Bruno Krauskopf; Hans Jacoby; Ko.: Hans Jacoby; Bruno Krauskopf; D.: Warwick Ward (Nicola Molescu, der »Street Wolf«); Maria Jacobi (Madame Brisson/Musa Samara); Camilla Horn (Adrienne); Elizza la Porta (Mira Aldero, algerische Fabrikarbeiterin); Jean Bradin (René Cadillac); Hans Adalbert Schlettow (Bruder Miras, ein Seemann); Paul Otto (Oberst Guignard); Karl Etlinger (Notar Bernasquez); Georg John (Portier); Frigga Braut (1. Wärterin); Maria Forescu (2. Wärterin); Lydia Potchina (Gesellschafterin); Egon Erwin Kisch (Bettler); Franz Schfheitlin; Vicky Werkmeister; P.: Universum-Film AG (Ufa) im Verleih der Parufament; Dz.: Nov./Dez. 1926 (Atelier); DO: Ufa-Atelier Berlin-Tempelhof, Algier; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 15610, Jugendverbot; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 10.5.1927 Ufa-Palast am Zoo; L.: 7 Akte, 2342 m, 63 Min. Geheimnis von Bombay, Das. Das Abenteuer einer Nacht [D 1920] – R.: Holz, Artur; B.: Rolf E. Vanloo; Paul Beyer; K.: Waitzenberg, A.O.; Ba.: Robert Herlth; Walter Röhrig; D.: Lili Dagover (Gabriela Farnese, italienische Sängerin/Concha, eine Tänzerin); Conrad Veidt (Dichter Tossi); Bernhard Goetzke (Hobbins, ein Abenteurer); Nien-Sön-Ling (Rikachaführer); Lewis Brody (Neger); K.A. Römer (Teehausbesitzer); Hermann Oberg (Chef der Eingeborenen-Polizei); P.: Decla-Bioscop AG, Berlin; Dz.: ab Nov. 1920; DO: Decla-Bioscop-Atelier Neubabelsberg; Z.: Filmprüf190

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FILMOGRAPHIE

stelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 999, Jugendverbot; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 6.1.1921, Marmorhaus. Golem, wie er in die Welt kam, Der [D 1920] – R.: Wegener, Paul/ Boesse, Carl; B.: Paul Wegener und Henrik Galeen nach dem Roman von Gustav Meyrink; K.: Freund, Karl; Ba.: Hans Poelzig; Kurt Richter; Ko.: Rochus Gliese; D.: Paul Wegener (der Golem), Albert Steinrück (Rabbi Löw), Lyda Salmonova (Mirjam), Ernst Deutsch (der Rabbi Famulus), Otto Gebühr (Kaiser); Lothar Müthel (Ritter Florian), Loni Nest (kleines Mädchen); Hanns STURM (alte Rabbi); Max KRONERT; Dore PAETZOLD; Greta SCHRÖDER;; P.: Projektions-Union, Berlin/Universum-Film AG (Ufa); Z.: 21.10.1920; B.00613; Jugendverbot; 1922 m, 5 Akte. 04.06.1931; Jugendfrei. 14.02.1995; 72727; ohne Altersbeschränkung, feiertagsfrei; 1961 m; UA: 29.10.1920, Berlin (Ufa-Palast am Zoo); L.: 86; Drehort: Ufa-Union-Atlier Berlin-Tempelhof. Harakiri/Madame Butterfly [D 1919b] – R.: Lang, Fritz; B.: Max Jungk nach dem Bühnenstück ›Madame Butterfly‹ von John Luther Long und David Belasco; K.: Faßbender, Max; Ba.: Hermann Warm; Otto Hunte; Karl Ludwig Kirmse; Heinrich Umlauff; D.: Paul Beinsfeldt (Daimyo Tokujawa), Lili Dagover (O-Take-San, seine Tochter), Georg John (Bonze), Neils Prien (Olaf J. Andersson, Seeoffizier), Meinhard Maur (Fürst Matahari), Rudolf Lettinger (Karan, der Tempelwächter), Käte Küster (Hanake, die Dienerin O-Take-Sans), (Eva Andersson); P.: Decla; Pd.: Erich Pommer; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 1400, 24.2.1921; F.: 35mm, s/w (viragiert), 1:1.33, stumm; UA: 3.10.1919, Richard Oswald-Lichtspiele; L.: 2525 m. indische Grabmal, Das: I. Die Sendung des Yoghi. Ein Mysterium in einem Vorspiel und 5 Akten, II. Der Tiger von Eschnapur. Mysterium in sieben Akten [D 1921] – R.: May, Joe; B.: Thea von Harbou, Fritz Lang nach dem Roman von Thea von Harbou; K.: Brandes, Werner; Ba.: Martin Jacoby-Boy; Otto Hunte; Erich Kettelhut; Karl Vollbrecht; Ko.: Martin Jacoby-Boy; D.: Condrad Veidt (Ayan, Maharadscha von Eschnapur); Mia May (Irene Amundsen, Rowlands Verlobte); Olaf Föss (Herbert Rowland); Erna Morena (Savitri, Maharani); Paul Richter (Mac Allen); Bernhard Goetzke (Ramigani, ein Yoghi) Lya de Putti (Mirrjha); Lewis Brody (schwarzer Diener); P.: May-Film GmbH, Berlin für E.F.A., Berlin; DO: Jofa-Atelier Berlin-Johannisthal; May-Atelier Berlin-Weißensee; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf= Nr. 4517, Jugendverbot + 4737, Jugendverbot; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 22.10. und 17.11. 1921 im Ufa-Palast am Zoo; L.: 2957 m / 2534 m.

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Insel der Verschollenen, Die [D 1921] – R.: Gad, Urban; D.: Lewis Brody; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33. Lebende Buddhas. Eine Phantasie aus dem Schneeland Tibet [D 1924] / Götter von Tibet. Erlebnisse einer Expedition – R.: Wegener, Paul; B.: Paul Wegener, Hanns Sturm; K.: Seeber, Guido; Kuntze, Reimar; Rona, Josef; Ba.: Hans Poelzig; Botho Höfer; Ko.: Beti Rosenberg; D.: Paul Wegener (der Großlama), Asta Nielsen (eine Tibeterin), Käte Haack (Frau Campbel), Gregori Chmara (JebSun, der junge Lama, Schüler und Adept des Großlamas), Carl Ebert (Prof. Smith, Expedionsleiter und Sprachforscher), Friedrich Kühne (I. Lama), Max Pohl (II. Lama), Heinrich Schroth (Smith, Arzt), Hans Sturm (Prof. Campbel, Geograph), Eduard Rothauser; P.: Paul Wegener-Film AG, Berlin; Dz.: 1923; DO: Zeppelinhalle Staaken; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 8294, Jugendverbot, 28.3.1924 + Prüf=Nr. 9810, Jugendverbot, 9.2.1925 (gekürzte Fassung); F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: (gekürzte Fassung) 25.5.1925 Theater am Nollendorfplatz; L.: 5 Akte, 2547 m. Liebe der Jeanne Ney, Die [D 1927] – R.: Pabst, Georg Wilhelm; K.: Wagner, Fritz Arno; Ba.: Otto Hunte; Trivas, Victor; D.: Edith Jehanne; Brigitte Helm; Hertha von Walter; Uno Henning; Fritz Rasp; L.: 105. Metropolis [D 1927] – R.: Lang, Fritz; K.: Karl Freund; Günter Rittau; Lerski, Helmar (Schüfftan Tricktechnik); Ba.: Otto Hunte, Mitarbeit: Erich Kettelhut; Karl Vollbrecht; D.: Brigitte Helm (Maria/ künstliche Maria), Alfred Abel (John Fredersen), Gustav Fröhlich (Freder Fredersen), Rudolf Klein-Rogge (Rotwang), Heinrich Georg (Groth, Vorarbeiter und Wärter der Herzmaschine), Fritz Rasp (Grot), Theodor Loos (Josaphat), Erwin Biswanger (Nr 11811), Olaf Strom (Jan), Hans Leo Reich (Marinus), Heinrich Gotho (Zeremonienmeister), Margarete Lanner (Dame), Max Dietze, Georg John, Walter Köhle, Arthur Reinhard, Erwin Vater (Arbeiter), Grete Berger, Olly Böheim, Ellen Frey, Lisa Gray, Rose Lichtenstein, Helene Weigel (Arbeiterin), Beatrice Garga, Anny Hintze (Frau in den ›ewigen Gärten‹), Helen von Mönchhofen (Frau in den ›ewigen Gärten‹), Hilda Woitscheff (Frau in den ›ewigen Gärten‹); P.: Universum-Film AG (Ufa); Dz.: 22.5.1925-30.10.1926; DO: Ufa-Atelier Neubabelsberg, Zeppelinhalle Staaken; Z.: 13.11. 1926, Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 14171, Jugendverbot; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 10.1.1927 Ufa-Palast am Zoo; L.: 111 [ursprünglich 4189, im August auf 3241 m gekürzt]. Mit dem Kurbelkasten um die Erde [D 1925] – R.: Ross, Colin; B.: Colin Ross; K.: Ross, Colin; P.: Neumann Produktion GmbH, Berlin; 192

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FILMOGRAPHIE

Pd.: Hans Neumann; Dz.: ab 13.12.1923 bis 1924; DO: u. a. Hawaii, Sumatra, Korea, Indien, Bali, Suezkanal; Z.: 29.12.1924, Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 9591, Jugendfrei (Rein belehrend); F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 2.1.1925 Kammerlichtspiele. müde Tod, Der [D 1921] – R.: Lang, Fritz; B.: Fritz Lang, Thea von Harbou; K.: Wagner, Fritz Arno (VENIZIANISCHER, ORIENTALISCHER, CHINESISCHER TEIL), Erich Nitzschmann (ALTDEUTSCHER TEIL), Hermann Saalfrank (ALTDEUTSCHER TEIL), Bruno Mondi; Ba.: Walter Röhrig (deutscher Teil, mit Ausnahme des Weidenhügels); Hermann Warm (venezianischer Teil, orientalischer Teil, chin. Kaiserpalast, Weidenhügel); D.: Bernhard Goetzke (der Tod); ALTDEUTSCHER TEIL: Lil Dagover (das Mädchen), Walter Janssen (ihr Liebster), Georg John (Bettler); ORIENTALISCHE EPISODE: Bernhard Goetzke (el Mot), Lil Dagover (Zobeide), Walter Janssen (Franke), Eduard von Winterstein (Kalif), Rudolf Klein-Rogge (Derwisch); VENIZANISCHE EPISODE: Lil Dagover (Fiametta), Walter Janssen (Francesco), Lewis Brody (Mohr), Rudolf Klein-Rogge (Girolamo); CHINESISCHE EPISODE: Lil Dagover (Tiaotsien), Walter Janssen (Liang), Bernhard Goetzke (Bogner), Paul Biensfeldt (Ali, der Zauberer); Pd.: Erich Pommer; DE: 7.10.1921, Mozartsaal am Nollendorfplatz (Musik: Guiseppe Becce) und U.T. Kurfürstendamm, Berlin; L.: 110. Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens [D 1922] – R.: Murnau, F.W.; B.: Henrik Galeen nach Bram Stokers Roman DRACULA; K.: Wagner, Fritz Arno; Ba.: Albin Grau; Ko.: Albin Grau; D.: Max Schreck (Graf Orlok, Nosferatu); Gustav von Wangenheim (Hutter); Greta Schröder (Ellen Hutter); Alexander Granach (Knock); John Gottowt (Bulwer, ein Paracelsianer); P.: Prana-Film GmbH, Berlin; DO: Jofa-Atelier Berlin-Johannisthal, Wismar, Lübeck (Salzspeicher), Lauenbur, Rostock, Schloß Oravsky/Karpaten, Dolin Kubin auf dem Vratna-Paß, Schlesische Hütte, auf dem Fluß Waag, Tegler Forst; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 4960 16.12.1921; Jugendverbot; 1967 m, 5 Akte; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: 15.03.1922, Berlin (Primus-Palast); L.: 95. Opium [D 1919] – R.: Reinert, Robert; B.: Robert Reinert; K.: Lerski, Helmar; D.: Eduard v. Winterstein (Gesellius); Hanna Ralph (Maria Gesellius); Werner Krauß (Nung-Tschang, Besitzer einer Opiumhöhle); Sybill Morell (Sin, später Magdalena); Friedrich Kühne (Dr. Armstrong); Conrad Veidt (Dr. Richard Armstrong, sein Sohn); Alexander Delbosq (Ali); Sigrid Hohenfels (Opiummädchen); P.: Monumental-Filmwerke GmbH, Berlin; Pd.: Ro193

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bert Reinert; Dz.: Sept.-Okt. 1918; DO: Bioscop-Atelier Neubabelsberg; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 42663, Jugendverbot; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm; UA: Feb. 1919, Marmorhaus [Interessentenvorführung: 29.1.1919, Düsseldorf (Residenz-Theater)]; L.: 96, OL: 6 Akte, 2486 m. Spinnen, Die. 1. Teil: Der goldene See [D 1919] / Die Abenteur des Kay Hoog in bekannten u. unbekannten Welten. Ein Filmcyklus in 4 Abteilungen – R.: Lang, Fritz; B.: Fritz Lang; K.: Schünemann, Emil; Ba.: Hermann Warm; Otto Hunte; Karl Ludwig Kirmse; Heinrich Umlauff; D.: Carl de Vogt (Kay Hoog); Georg John (der Meister Dr. Telphas); Ressel Orla(Lio Sha); Lil Dagover (Naëla); Georg John (Dr. Telphas); P.: Decla; Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 1400, 24.2.1921; UA: 3.10.1919, Richard Oswald-Lichtspiele; L.: 1900 m (56). Spinnen, Die. 2. Teil: Das Brillantenschiff [D 1920] – R.: Lang, Fritz; B.: Fritz Lang; K.: Freund, Karl; Ba.: Hermann Warm; Otto Hunte; Karl Ludwig Kirmse; Heinrich Umlauff; Ko.: A. Römer; D.: Carl de Vogt (Kay Hoog); Georg John (der Meister Dr. Telphas); Ressel Orla (Lio Sha); Rudolf Lettinger (Diamantenkönig Terry); Thea Zander (seine Tochter); Edgar Pauly (Vierfinger-John); Friedrich Kühne (All-hab-mah, der Yoghi); Meinhard Maur (ein Chinese); Paul Morgan (Ein Jude); Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf=Nr. 651, 3.11.1920; UA: 13.2.1920, AdmiralsKino; Obelisk-Kino (Potsdam); L.: 85. Spione [D 1927] – R.: Lang, Fritz; B.: Thea v. Harbou nach ihrem Roman; K.: Wagner, Fritz Arno; Ba.: Otto Hunte; Karl Vollbrecht; D.: Rudolf Klein-Rogge (Hagi); Gerda Maurus (Sonja Barranikowa); Lien Deyers (Kitty, eine weitere Mitarbeiterin Haghis); Louis Ralph (Morrier); Willy Fritsch (Nr. 326); Paul Hörbiger (Franz, Chauffeur); Hertha von Walter (Lady Leslane); Lupo Pick (Masimoto); Fritz Rasp (Oberst Jellusic); Craighall Sherry (Polizeichef Jason); Z.: Filmprüfstelle Berlin, Zensurkarte Prüf= Nr. 18662, 3.4.1928; UA: 22.3.1928; L.: 88 OL: 4.364. weisse Geisha, Die [D 1926] – R.: Heiland, Heinz Karl/Anderson, Valdemar; B.: Maurice Krol; Valdemar Andersen; D.: Lo(o) Holl (Eva Lang), Carl W. Tetting (Ingenieur Oluf Berg), La Jana, Irene Ambus (Lisa Wangen), Hans W. Petersen (Preben). Philip Bech (Konsul Wangen), Axel Ström (Direktor Sturm), (Williams, der Mann Sturms in Colombo), (Allen Park), (Li, ein Helfer Williams), Peter Nielsen (Sanders, Bergwerksbesitzer); P.: Deutsche Nordische Film-Union G.M.B.H.; DO: Indien, China, Japan, Dänemark. Yoghi, Der [D 1916] – R.: Wegener, Paul; B.: Wegener, Paul; D.: Paul Wegener; F.: 35 mm, s/w, 1:1.33, stumm. 194

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FILMOGRAPHIE

Bibliographie Die Bibliografie weist allein die Texte aus, die in den Kapiteln dieses Buches zitiert oder auf die verwiesen wurde. A.C.L.: Reri, das Naturkind, raucht… Am liebsten ginge sie barfuß und schliefe auf dem Fußboden, 1931 (BAFA-File: Tabu; Rezension o. Quellenangabe). Adler, Max: »Masse und Mythos«, in: Die Neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film, Jg. 2, Nr. 9, 1920, S. 229-233. Adorno, Theodor W.: »Auf die Frage: ›Was ist Deutsch?‹«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichwort. Anhang, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 691-701. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Allen, Richard: »Film, Fiktion und psychoanalytische Theorie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 4, Nr. 3, 1995, S. 507-530. Allen, Richard: Projecting Illusion. Film Spectatorship and the Impression of Reality, Cambridge, New York: Cambridge UP 1995. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1993. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin: Ullstein 1998. Anonym: »Spinnen, Die«, in: Film-Tribüne, Jg. 1, 04.07.1919. Anonym: »Spinnen, Die. Der goldene See«, in: L. B. B., Nr. 37, 1919. Anonym: »Spinnen, Die. Der goldene See (Der Film)«, in: Der Film, 12.10.1919. Anonym: »Spinnen, Die: Der goldene See«, in: Der Kinematograph, Jg. 13, Nr. 665, 01.10.1919. Anonym: »Spinnen, Die: Der goldene See«, in: Der Kinematograph, Jg. 13, Nr. 666, 08.10.1919. Anonym: »Indien in Berlin«, in: Die Wochenschau, Nr. 23, 1920, S. 374-375. Anonym: »Spinnen, Die: Das Brillantenschiff«, in: Berliner BörsenCourier vom 15.02.1920, S. 8. 195

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IMAGERIE DES ANDEREN IM WEIMARER KINO

Anonym: »8-Uhr-Abendblatt, zit. n. Urteile der Presse über Das Indische Grabmal«, in: Der Film, Nr. 45, 6.11.1921, S. 75. Anonym: »B.Z. am Mittag, zit. n. Urteile der Presse über Das Indische Grabmal«, in: Der Film, Nr. 45, 6.11.1921, S. 74. Anonym: »indische Grabmal, Das«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 74, 1921. Anonym: indische Grabmal, Das, 1921 (SDK-File: Indische Grabmal, Das; Hausprogramm UFA-Palast am Zoo). Anonym: »indische Grabmal, Das«, in: UFA-Blätter. ProgrammZeitschrift der Theater des UFA-Konzerns, 1921, S. 9. Anonym: »Müde Tod, Der«, in: Münchner Filmkurier, 6.11.1921. Anonym: »Die Götter von Tibet«, in: Der Film, Nr. 20, 17.05.1925, S. 20. Anonym: »Lebende Buddhas«, in: Der Kinematograph, Nr. 952, 15.5.1925, S. 20. Anonym: »Die Geschichte [sic!] des Prinzen Achmed«, in: Der Kinematograph, Nr. 1003, 9.5.1926, S. 14. Anonym: »Spione«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 871, 11.5.1928. Anonym: »Inseln der Dämonen, Die«, in: Illustrierter Film-Kurier, Nr. 1930, 1933. Anonym: »Wiedersehen mit alten Filmen. Die Augen der Mumie Mâ in der Kamera«, in: Der Kinematograph, Nr. 164, 25.8.1933, S. 2. Apke, Bernd/Loers, Veit (Red.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 [Ausstellungskatalog Kunsthalle Schirn, Frankfurt], Ostfildern: Edition Tertium 1995. Arnheim, Rudolf: »Tabu«, in: ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film (1927-1964), München: Hanser 1974, S. 237-238. Aros.: »Kunst oder Nichtunst [sic!] – das ist hier die Frage«, in: Der Montag, Sonderausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, Nr. 10 vom 6.3.1922. Asendorf, Christoph: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen: Anabas 1984. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C. H. Beck 1992. Attridge, Derek: »Innovation, Literature, Ethic: Relating to the Other«, in: Publications of the Modern Language Association of America [PMLA], Jg. 114, Nr. 1, 1999, S. 20-31. BAFA-File Nr. 7918: Das Indische Grabmal. Baker, George: »Photography between Narrativity and Stasis. August Sander, Degeneration, and the Decay of the Portrait«, in: October, Nr. 76, 1996, S. 73-113. Balázs, Béla: »Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films 196

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BIBLIOGRAPHIE

(1924)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 43-142. Balázs, Béla: »Nanuk der Eskimo (1923)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 217-218. Balázs, Béla: »Physiognomie (1923)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Kritiken und Aufsätze 1922-1926, München: Hanser 1982, S. 205-208. Balázs, Béla: »Der Film arbeitet für uns! (1928)«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 19261931, Berlin: Henschel 1984, S. 228-231. Balázs, Béla: »Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931«, in: ders.: Schriften zum Film, Bd. 2, München: Hanser 1984, S. 49-205. Banks, Gaia: Imagining the other and staging the self. German national identity and the Weimar Exotic Adventure Film (1918-1924), Ann Arbor/Michigan: UMI 1996. Bateson, Gregory/Mead, Margaret: The Balinese Character. A Photographic Analysis, New York: New York Academy of Sciences 1942. Bauer, Alfred: Deutscher Spielfilmalmanach 1929-1950, München: Filmladen 1976 Bauman, Zygmunt: »Moderne und Ambivalenz«, in: Bielefeld, Uli (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt?, Hamburg: Junius 1992, S. 23-49. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M.: Fischer 1995. Baxmann, Inge: »›Die Gesinnung ins Schwingen bringen‹. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie der zwanziger Jahre«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 360-373. Becker, C. H.: »Der Islam in Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Jg. 76, Nr. 1, 1922, S. 18-35. Becker, Carl Heinrich: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig: Quelle & Meyer 1919. Becker, Jochen: »Passagen und Passanten. Zu Walter Benjamin und August Sander«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 9, Nr. 32, 1989, S. 37-47. Becker, Jörg: »Momentfotografie im Film«, in: Jacobsen, Wolfgang

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IMAGERIE DES ANDEREN IM WEIMARER KINO

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Abbildungsverzeichnis S. 22 S. 23 S. 24

S. 26 S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

27 48 92 96 102 121 124 127 129 130 131 133 134 137

S. S. S. S. S. S. S.

139 140 141 142 143 144 145

S. 146

S. 182

Screenshot aus »Die Büchse der Pandora« links: Screenshots aus »Die Büchse der Pandora« rechts: Setfotografien aus »Die Büchse der Pandora« obere Reihe: zensiertes und freigegebenes Filmplakat aus »Sumurun« untere Reihe: anti-französisches Propagandamaterial (nach 1923/ca. 1920) Buchumschlag Colin Ross: Mit dem Kurbelkasten um die Erde Filmplakat aus »Mit dem Kurbelkasten um die Erde« Rolltitel aus » Die Augen der Mumie Mâ« Drehbuchdeckblatt aus »Das Cabinet des Dr. Caligari« Setfotografie aus »Das Cabinet des Dr. Caligari« Plakat Umlauffs Welt-Museum (1885/84) Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Bruno Taut »Kristallhaus-Entwurf« (1919) Foto »südindische Tempelanlage« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Screenshot aus »Das indische Grabmal« Screenshots aus »Das indische Grabmal« Filmplakat aus »Das indische Grabmal« Filmplakat aus »Das indische Grabmal« und Foto von Ruth St. Denis Screenshot aus »Der Flug um den Erdball« und aus »Harakiri« Filmplakate aus »Opium« Setfotografie aus »Die Insel der Dämonen« 223

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