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German Pages 300 [292] Year 2014
Gertraud Marinelli-König, Alexander Preisinger (Hg.) Zwischenräume der Migration
Kultur und soziale Praxis
Gertraud Marinelli-König, Alexander Preisinger (Hg.)
Zwischenräume der Migration Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF, Wien) und gefördert durch die Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien.
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Inhalt
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MIGRATION ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE I DENTITÄTSFORSCHUNG Komplexe Vielfalt und Identitätspolitik in Europa Peter A. Kraus (Helsinki) | 19 Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung Paul Mecheril (Innsbruck) | 37 Differenzachsen und Grenzziehungsmechanismen Zum Verständnis des Einflusses gesellschaftlicher Prozesse auf SchülerInnen mit Migrationshintergrund Barbara Herzog-Punzenberger (Wien) | 55 Transnationalität als Herausforderung für die soziologische Migrationsforschung Katharina Scherke (Graz) | 79 Nähe auf Distanz Transnationale Familien in der Gegenwart Karen Körber (Marburg) | 91
HISTORISCHE P ERSPEKTIVE Migration − Kultur Urbane Milieus in der Moderne Moritz Csáky (Wien) | 115
Migration und Verbürgerlichung Das Beispiel der jüdischen Uhrmacher in der Schweiz im 19. Jahrhundert Stefanie Mahrer (Basel) | 141 Migration und konfessionelle Pluralität an der nordöstlichen Peripherie des Königreichs Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert Peter Šoltés (Bratislava) | 157 Migration der Zeichen und kulturelle Interferenz Jánošíks „Konversion“ zum slowakischen Nationalhelden Ute Raßloff (Leipzig) | 177
MIGRATION UND KUNST Spiegel im fremden Wort Die Erfindung des Lebens als Literatur Vladimir Vertlib (Salzburg) | 211 Mimikry, Groteske, Ambivalenz Zur Ästhetik transnationaler Migrationsliteratur Eva Hausbacher (Salzburg) | 217 Migration, Exil und Diaspora in der neuesten Literatur Michael Rössner (Wien, München) | 235 Zwischen den Kunstwelten von Buenos Aires und Ljubljana Die Pluralisierung von Ideen, kulturellen Praktiken und Kunstformen Kristina Toplak (Ljubljana) | 249 Zerstörte Instrumente Verlust und Gewinn durch musikalische Migration Christa Brüstle (Berlin) | 269
Personenregister | 279 Abbildungsverzeichnis | 283 Autorinnen und Autoren | 285
Einleitung
Das Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Teil des Zentrums Kulturforschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, veranstaltete 2009 seine 11. Internationale Konferenz im Rahmen der Forschungsprogramme „Orte des Gedächtnisses“ und „Translation“ (7.10.–9.10.2009). Die Wahl des Themas der Konferenz wurde vom Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Csáky angeregt, der von 1999–2009 die gleichnamige Forschungskommission leitete, welche vor drei Jahren in ein Institut umgewandelt wurde, dem nun Michael Rössner, Ordinarius für Romanische Philologie an der Universität München, als Direktor vorsteht. Für Moritz Csáky, der an der Universität Graz den Spezialforschungsbereich „Wien und Zentraleuropa um 1900“ initiiert und geleitet hat, erweisen sich Migration, Mobilität, Pluralisierung/Hybridisierung als aufeinander bezogene Phänomene, die im zentraleuropäischen Raum keineswegs neuartig sind.1 Zu diesem Aspekt wurden Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Disziplinen eingeladen, um, erstens, die aktuellen Debatten, Diskurse und Forschungsansätze zu Migration und Mobilität zu präsentieren, zweitens die historische Dimension dieser Prozesse exemplarisch zu analysieren und drittens Phänomene, welche künstlerisches und literarisches Schaffen vor dem Hintergrund von migrantischen Prozessen erklärbar machen, aus der Gegenwartsperspektive heraus darzustellen.
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Vgl. die aktuelle Publikation: Moritz CSÁKY, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010.
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Vergleicht man den akademischen Diskurs über Nation, Migration und Staat mit dem öffentlichen, so zeigt sich, dass das kulturwissenschaftliche Verständnis kultureller Differenz längst nicht populär ist: Während sich die wissenschaftliche Perspektive von einer statisch-ontologischen zu einer prozessualen verschoben hat und Nationsbildung und -inszenierung als wirkmächtiges Narrativ behandelt werden, zeigt sich der öffentlichmassenmediale Diskurs davon nur zum Teil beeinflusst: Das Boulevard, insbesondere in Österreich, vergisst die Nationszugehörigkeit von Straftätern ebenso wenig anzugeben, wie die an einer Renationalisierung interessierten rechtskonservativen Parteien mit diversen symbolischen Codes vermeintlich christlich-europäische Werte einfordern. Auch wenn uns die, inzwischen nicht mehr ganz so neuen Neuen Medien eine schrankenlose Kommunikation ermöglichen, wir als Konsumenten auf die Internationalisierung des Warenverkehrs nicht verzichten möchten und unsere Kinder bereits ab der Sekundarstufe im Rahmen internationaler Bildungsprogramme problemlos ein Semester im Ausland verbringen können, weisen die Wahlerfolge rechtskonservativer Parteien unter anderem auch auf eine anscheinend asynchrone Renationalisierung hin. Die Gleichzeitigkeit der ungleichen Zugänge zum Thema Migration stellt bei näherem Hinsehen jedoch auch die Wissenschaften selbst vor Herausforderungen: So ist die Umsetzung von Hybriditätskonzepten in einigen Disziplinen, nicht zuletzt aus methodologischen Gründen, deutlich schwerfällig. Insbesondere die Sozialwissenschaften, vor allem dann, wenn sie quantitativ arbeiten, geraten in Gefahr, unreflektiert jene Strukturen zu reproduzieren, die gerade diesen massenmedial rezipierten common sense delegitimieren oder zumindest relativieren sollten: Fragebögen erwarten vom Subjekt „mit Migrationshintergrund“ eindeutige nationalstaatliche Zuordnungen, während subjektive Selbsteinschätzungen, die möglicherweise längst solche Kategorien als Verortungsmuster hinter sich gelassen haben, nicht wiedergegeben werden können. Vor Denkstrukturen, die sich binär am Eigenen und Fremden, an einem homogenisierten „Wir“ und einem konstruierten „Anderen“ orientieren, die klare Demarkationslinien zwischen Kategorien und den durch sie verorteten Menschen ziehen, sind freilich weder Wissenschafter noch Menschen mit „globalen“ Biografien gefeit. Es zählt zu den Verdiensten der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte, Konzepte und Begriffe bereitzustellen, die Binarität zwar nicht über-
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winden, denn eine solche Überwindung ist schlichtweg nicht möglich, sehr wohl aber Reflexion bei der Grenzziehung einmahnen und diese nicht als fixe Verortungen, sondern als stets auszuverhandelnde Prozesse problematisieren. Daraus wird bewusst, dass ein Konzept wie jenes der Hybridität nicht nur ein theoretisches Konstrukt darstellt, sondern mit Machtfragen, sozialer Praxis, Lebensstil und Selbstwahrnehmung verbunden ist. Die Probleme und Möglichkeiten im Umgang mit dem in vielerlei Hinsicht verschiedenen Formen des „Dazwischen“ – künstlerisch, biographisch, stilistisch, historisch – verbindet die Beiträge dieses Sammelbandes. Sie lassen sich auf zwei Arten lesen: sie dokumentieren zum einen Migrationsphänomene in ihrer historischen, politischen oder künstlerischen Dimension, zum anderen lassen sie sich auch als Beispiele für die theoretische und methodologische Umsetzung von Forschung über Migrationsprozesse lesen. Gegliedert werden die Beiträge in drei Kapitel. Der erste Abschnitt behandelt „Migration als Herausforderung für die Identitätsforschung“ und enthält sozialwissenschaftliche Beiträge: Der Politikwissenschafter PETER A. KRAUS konstatiert zunächst die Popularisierung der Vielfalt in der Europäischen Union und weist dieser den Rang eines Schlüsselkonzepts zu. Darauf aufbauend beschäftigt sich sein Beitrag vor allem mit der ambivalenten EU-Identitäspolitik: Einerseits spielt sie eine zentrale Rolle beim Wandel von einer an nationalstaatlicher Homogenität orientierten Identitätspolitik hin zu einer „Domestizierung des Nationalismus“ und bedeutet nicht zuletzt einen Gewinn von Minderheitenrechten. Diese Politik ist jedoch auch widersprüchlich; Konzepte wie transnationale oder interkulturelle Zugehörigkeit spielen eine untergeordnete Rolle, eine europäische Identität scheint sich, wenn überhaupt, nur langsam zu etablieren. Integration bedeutet in der EU vor allem wirtschaftliche Integration. PAUL MECHERIL verhandelt die kulturelle Vielfalt entsprechend seiner Disziplin aus pädagogischer Sicht: Die anerkennungstheoretische Perspektive von kultureller Identität/Differenz, wie sie in der interkulturellen Pädagogik zur Anwendung kommt, ist in vielerlei Hinsicht nicht problemlos. Der Autor stellt als Ersatz die Bezeichnung „natio-ethno-kulturelle“ Zugehörigkeit ins Zentrum seiner Überlegungen: In ihm treffen sich nicht nur bewusst diffus gehaltene Zuschreibungen (emotionale Bindung, Aspekte moralischer Verpflichtung usw.), die Bezeichnung Zugehörigkeit berücksichtigt zugleich die Selbstzuschreibung sowie uneindeutige – hybride –
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Zugehörigkeiten. Mecheril fordert eine Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeit, die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten ernst nimmt und im Rahmen eines angemessenen, kontextsensiblen Verhaltens anerkennt. Die Politikwissenschafterin BARBARA HERZOG-PUNZENBERGER beschäftigt sich mit der Funktion von Schule in einer Gesellschaft, in der Vielfalt zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das schulische System spielt eine ambivalente Rolle: Einerseits soll es Chancengleichheit herstellen und Differenzen ausgleichen, andererseits kann es zu jenem Ort werden, an dem Ausgrenzungsprozesse stattfinden und Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund sich als fremd erfahren. Schule liegt am Schnittpunkt mehrerer Spannungsfelder und divergierender Funktionszuschreibungen, die sie nicht auf einmal einlösen kann. Insbesondere Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund bringen zusätzlich neue Differenzachsen ein, die die vorhandenen Spannungen erhöhen. Den Abschluss des ersten Abschnittes bilden zwei soziologische Beiträge, die sich beide mit unterschiedlichen Aspekten des „Dazwischen“ beschäftigen: KATHARINA SCHERKE stellt die methodologischen Herausforderungen für die Soziologie ins Zentrum ihres Aufsatzes. Charakteristisch für transnationale Lebensverläufe ist ein „Sowohl-als-Auch“, also sowohl das Festhalten an Traditionen und Verhaltensweisen des Herkunftslandes, als auch die Übernahme neuer Muster des Ankunftslandes. Es entstehen „BastelIdentitäten“, die sich je nach Kontext zu definieren wissen und die Soziologie vor methodologische und theoretische Herausforderungen stellen. Hier gelte es, Identität nicht mehr an der nationalstaatlichen Zugehörigkeit festzumachen, sondern Fremd- und Selbstzuschreibungen von Migrantinnen und Migranten in mikrosoziologischen Studien zu untersuchen. KAREN KÖRBER präsentiert die Ergebnisse einer Studie zu transnationalen Familien: Die Dynamisierung von Biografien setzt auch die Sozialbeziehungen der Migrantinnen und Migranten einem Veränderungsdruck aus, neue familiale Formen müssen gefunden werden. Eine zentrale Rolle spielen für die transnationalen Familiennetzwerke die neuen Kommunikationstechnologien, die mitunter Distanz in Nähe verwandeln, zugleich aber die Beteiligten vor neue Herausforderungen stellen, wie die Autorin an Einzelfällen illustriert. Transnationale Familienentwürfe lassen sich jedenfalls nicht als gescheiterte Integration interpretieren, sondern sind flexible Formen von Identitätsmanagement in einem globalen Zeitalter.
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Der zweite Abschnitt geht auf die historische Dimension von Migration ein: MORITZ CSÁKY zeigt in seinem Beitrag, dass durch Binnenmigration im zentraleuropäischen Raum, d. h. der ehemaligen Habsburgermonarchie, beginnend im 19. Jahrhundert, bedingt durch Wirtschaftsfaktoren, in den urbanen Milieus eine heterogene „Vielsprachigkeit“ entstand und überlappende kulturelle Kommunikationsräume geschaffen wurden. Infolge von Zuwanderung kam es zu performativen kulturellen Interaktionen, es entstanden kulturelle „Zwischenräume“ und Hybridbildungen, individuelle und kollektive Mehrfachidentitäten; dies bildete eine Chance für Kreativität, war aber auch die Ursache von permanenten Krisen und Konflikten. Eine kritische Reflexion und Beschäftigung mit diesen historischen Prozessen könne für einen emotionsfreieren, rationaleren Umgang mit ähnlichen Erfahrungen in der Gegenwart von einer gewissen Relevanz sein. STEFANIE MAHRER behandelt den ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg von jüdischen Zuwanderern und deren Nachkommen, die aus dem agrarischen Elsass in das Zentrum der schweizerischen Uhrenindustrie La Chaux-de-Fonds wanderten, von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Diese Entwicklung, quasi „vom Viehhändler zum Firmenbesitzer“, könne einerseits als eine Erfolgsgeschichte erzählt werden, bedingt war diese Entwicklung jedoch durch eine Reihe gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Veränderungen. Das Fallbeispiel von La Chaux-de-Fonds zeige eindrücklich, dass Tradition und Religion keine statischen Größen und dass Tradition keinen Bremsklotz für gesellschaftlichen Wandel darstellt, sondern dass Traditionen dynamischen Prozessen gegenüber offen sein können. Der Beitrag von PETER ŠOLTÉS widmet sich Migrationsbewegungen im Osten des ehemaligen Ungarischen Königreiches an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Seine Fallstudie konzentriert sich dabei auf das Zempliner Komitat, heute Teil der Slowakischen Republik. In ein entvölkertes Gebiet wurde durch Ansiedlung von ruthenischen Bauern aus der gebirgigen Karpatengegend eine neue Konfession, nämlich die griechischkatholische, „importiert“, und es musste ein Modus vivendi mit den einheimischen katholischen und protestantischen Gemeinden gefunden werden. In der Folge sei ein hohes Maß an religiöser Toleranz und Resistenz gegenüber konfessionellen, nationalen und staatlichen Homogenisierungstendenzen beobachtbar, wobei die ökonomischen Faktoren zur Zeit der An-
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siedlung die Position der Neuankömmlinge gegenüber den Einheimischen begünstigt hatten. Auch UTE RASSLOFF verweilt mit ihrem Beitrag „Migration der Zeichen und kulturelle Interferenz. Jánošíks ‚Konversion‘ zum slowakischen Nationalhelden“ im ostmitteleuropäischen Geschichts- und Erinnerungsraum. Der historische Karpatenräuber Juraj Jánošik, der für seine Untaten an einer Rippe aufgehängt wurde, war Gegenstand lebhaftester Legendenbildung, welche nicht nur mündlich tradiert und in der Volkskunst dargestellt, sondern auch in der Dichtung ihren Niederschlag fand. Seine Person entwickelte sich zu einer spektakulären Projektionsfigur für nationale Gefühlslagen, die bis ins 21. Jahrhundert wirkmächtig ist. Zu Beginn des letzte n Abschnittes, in dem es um das Verhältnis von Migration und Kunst geht, werden Passagen aus dem Werk Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur (Dresdner ChamissoPoetikvorlesungen 2006) des österreichischen Autors russisch-jüdischer Herkunft VLADIMIR VERTLIB abgedruckt, der mit einer Lesung die Eröffnungsveranstaltung bei der Konferenz 2009 bestritt. Er zählt zu jener Kategorie von Autorinnen und Autoren, in deren Werk EVA HAUSBACHER in ihrem Beitrag zur Ästhetik transnationaler Migrationsliteratur Stilmittel ausmacht, welche Attitüden von Mimikry, Groteske und Ambivalenz evozieren. Sie analysiert im Besonderen Texte von Julia Kissina, einer Autorin, welche, in Kiev geboren und aufgewachsen, seit 1990 in Deutschland lebt und in deutscher Sprache zu schreiben begonnen hat. Um Migration, Exil und Diaspora in der neuesten lateinamerikanischen Literatur und das komplexe Phänomen territorialer Verortung literarischer Texte geht es MICHAEL RÖSSNER. Seine Diagnose ist, dass der US-amerikanische und europazentristische Blick auf die Literatur Lateinamerikas in den Jahren ihres durchschlagenden Erfolges auf den heimischen Buchmärkten zwischen 1960 und 1980 – Stichwort „Magischer Realismus“ – bemerkenswerter Weise mit der Phase der Etablierung großer Militärdiktaturen in den wichtigsten Ländern des Subkontinents und der dadurch verursachten starken Präsenz von lateinamerikanischen Exil-Intellektuellen im Ausland zusammenfällt. Mit dem Ende der Diktaturen ließ das Interesse an lateinamerikanischer Literatur in der literarischen Weltöffentlichkeit nach. Durch das lange Exil seien viele lateinamerikanische Autoren um 2000 in anderen Ländern „angekommen“. Was folgte war der Schritt von Exil zu Diaspora im Sinne einer „Entortung“ von Literatur. In einer generalisierenden
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Schlussfolgerung wird konstatiert, dass der Literatur zusehends die Aufgabe zufalle, Medium der Translation zwischen Kulturen zu sein. Auf einen Wandel in der transnationalen Kunstpraxis weist KRISTINA TOPLAK im Kontext der darstellenden Kunst hin: Am Beispiel von Nachfahren slowenischer Einwanderer und deren Nachkommen in Argentinien illustriert sie, wie die Erfahrung des „in-between“ von Künstlerinnen und Künstler genutzt werden kann. Für die aus politischen Gründen Ausgewanderten war die Gruppenzusammengehörigkeit im Aufnahmeland Argentinien von existenzieller und essenzieller Bedeutung. Geänderte politische Verhältnisse – der Zerfall des kommunistischen Staates Jugoslawien und die zeitliche Distanz zu den Verstrickungen und Parteinahmen während des Zweiten Weltkrieges, ermöglichten den Nachfahren eine Rückkehr in die alte Heimat ihrer Eltern, was den sozio-kulturellen Kontext von Kunstschaffenden aus dieser Gruppe veränderte und bereicherte. In dem Beitrag der Musikwissenschaftlerin CHRISTA BRÜSTLE steht die migrantische Praxis auf dem Gebiet der Musik, der ja umgangssprachlich der Status einer internationalen Sprache zukommt, im Vordergrund: Das Leben von Musikerinnen und Musikern stand, aus historischer Perspektive betrachtet, schon immer in einem Naheverhältnis zur Migration, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen. An einem gegenwartsbezogenen Beispiel der in Berlin lebenden und in Brasilien aufgewachsenen Künstler Silvia Ocougne und Chico Mello illustriert die Autorin, wie Migrationsprozesse kreatives Potenzial und hybride musikalische Formen entfalten.
Migration als Herausforderung für die Identitätsforschung
Komplexe Vielfalt und Identitätspolitik in Europa P ETER A. K RAUS (H ELSINKI)
D ER AUFSTIEG DER V IELFALT Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte ist die Vielfalt zu einem zentralen Topos im europäischen politischen Diskurs geworden. Das Konzept wird insbesondere dann bemüht, wenn es darum geht, größere transeuropäische Initiativen normativ abzufedern. So lautet das Motto, das sich die Europäische Union (EU) selbst offiziell gegeben hat, bekanntlich „In Vielfalt geeint“. Ebenso bezeichnend ist der Slogan, den die EU zur Verbreitung ihres von 2001 bis 2006 laufenden Aktionsprogramms gegen Diskriminierungen wählte: „Für Vielfalt. Gegen Diskriminierungen.“ Diese beiden Beispiele umreißen die zwei Hauptbereiche, auf die sich der Einsatz des Vielfaltkonzeptes in der europäischen Politik in der jüngsten Vergangenheit gerichtet hat: Zum einen geht es um den Integrationsprozess und die sukzessiven Osterweiterungen der EU, zum anderen um Fragen der Einwanderung und um die Lebenschancen der vielen Millionen „neuer“ Europäer, die afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Wurzeln haben. Bezeichnenderweise ist im selben Zeitraum der Aufstieg der Vielfalt keineswegs auf die Welt der europäischen Tagespolitik beschränkt geblieben. Die Frage des Umgangs mit der Vielfalt ist zugleich zu einem Schlüsselthema in der politischen Theorie und in der Gesellschaftstheorie geworden. Die von Charles Taylor 1992 angestoßene Debatte um den „Multi-
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kulturalismus und die Politik der Anerkennung“1 ist noch längst nicht abgeschlossen. Vielmehr hat sie angesichts der wachsenden Bedeutung religiöser Differenzierungslinien in westlichen Gesellschaften neuen Auftrieb erhalten. Alle Zeichen deuten gegenwärtig darauf hin, dass die Vielfalt ihre Stellung als elementaren Bezugspunkt theoretischer Diskussionen weiter festigen wird. Das heißt nun nicht, dass die Vielfalt fortan als neuer paradigmatischer Kern sozialwissenschaftlichen Denkens zu gelten hätte. Dennoch lässt sich davon ausgehen, dass die Karriere des Begriffs für grundlegende soziale und politische Veränderungen steht, die von einschneidenden ideologischen und theoretischen Brüchen begleitet werden. Die politische Vorstellungswelt der Moderne begegnete der Vielfalt überwiegend mit Ambivalenz, wenn nicht mit offener Skepsis. Soweit sie Unterschiede wertbehafteter kultureller Zugehörigkeiten ausdrückte, galt Vielfalt als Problem für die politische Einheit und den sozialen Zusammenhalt abgeschlossener Gesellschaften. Die tonangebenden normativen Strömungen der Hochmoderne räumten der Herstellung eines Minimums an kultureller Homogenität klaren Vorrang gegenüber dem Schutz der Vielfalt ein. Für Liberale wie John Stuart Mill beinhaltete Vielfalt in dem Maße, wie sie mit dem Fehlen gemeinsamer kultureller Bande einherging, eine schwerwiegende Belastung für die Entstehung einer demokratischen Öffentlichkeit. Für Sozialisten wie Karl Marx wiederum wirkte ethnisch-kulturelle Differenzierung in erster Linie als ein Faktor, der die Klassensolidarität aushöhlte und die Bildung starker Arbeiterorganisationen behinderte.2 Unter den politischen Eliten, die die Konsolidierung nationalstaatlicher Strukturen anstrebten, waren die Vorbehalte gegenüber der Vielfalt noch ausgeprägter als in Theoretikerkreisen. Dabei wird im historischen Rückblick deutlich, dass die Dynamik der Modernisierung eine Richtung einschlug, die mehr dem liberalen Nationalismus eines Mill als dem sozialistischen Internationalismus eines Marx entsprach. Die Welt der Nationalstaaten ist weitaus stärker von Homogenität innerhalb von Grenzen als von so-
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Charles TAYLOR, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2009 [1992]. John Stuart MILL, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, Paderborn 1971 [1861]; Karl MARX, „Marx an Sigfrid Meyer und August Vogt in New York“ in: DERS., Friedrich ENGELS, Werke, Band 32 (Briefe Januar 1868–Mitte Juli 1870), Berlin 1965 [1870], S. 665–670.
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zialer Integration jenseits von Grenzen gekennzeichnet. Intensive Bemühungen, territoriale Integration mit kultureller Standardisierung zu verknüpfen, flankierten vor allem in Europa die Ausbreitung des nationalstaatlichen Prinzips. Wie Therborn3 zeigt, erreichte ein langanhaltender Prozess ethnischer und kultureller Homogenisierung um das Jahr 1950, nach den Bevölkerungsversschiebungen des Zweiten Weltkriegs, seinen vorläufigen Höhepunkt. In Mittel- und Osteuropa erwies sich der Preis der Übernahme dessen, was im Westen des Kontinents als „Normalstandard“ politischer Integration betrachtet wurde, als außerordentlich hoch. Die rigide Orientierung am nationalstaatlichen Modell führte zu schweren Konflikten, häufigen Grenzstreitigkeiten, ethnischen Säuberungen und der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen aus mehreren Ländern. Soweit kulturelle Homogenität als ein dominantes Paradigma der europäischen Moderne zu betrachten ist, das lange Zeit als eine wichtige Antriebskraft für das Handeln nationaler Eliten fungierte, muss die Anpreisung der Vielfalt in vielen politischen Diskursen der Gegenwart als Indiz eines durchaus signifikanten Wandels gelten. Doch was verbirgt sich hinter diesem Wandel? Wie ich argumentieren werde, ist der ubiquitäre Rekurs auf die Vielfalt, auf den wir in der europäischen Politik neuerdings stoßen, nicht immer unproblematisch. Dies hängt vor allem mit der diffusen normativen Besetzung des Begriffs zusammen. An dieser Stelle seien aber zunächst einige wichtige Begriffsklärungen vorausgeschickt. Wenn im Folgenden von Vielfalt die Rede ist, ist kulturelle Vielfalt gemeint. Bezeichnet wird damit die Vielfalt grundlegender Identifikationsmuster, die unsere kollektiven Orientierungen prägen und dadurch nachhaltigen Einfluss auf die Informationskreisläufe und die Interaktionsstrukturen im sozialen Alltag haben. Als in diesem Sinne besonders wichtige Identifikationsmuster sind Ethnizität, Sprache oder Religion anzusehen. Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, eine scharfe analytische Trennlinie zwischen Vielfalt und Ungleichheit zu ziehen. Ungleichheit begründet Formen von Differenz, die durchaus ungerecht sein können, und die es in solchen Fällen zu überwinden gilt. Der Begriff der Vielfalt hingegen richtet sich auf Spielarten von Differenz, die toleriert oder sogar geschützt werden müssen.
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Göran THERBORN, Die Gesellschaften Europas 1945–2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt a. M. 2000.
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Die Unterscheidung von Vielfalt und Ungleichheit erfolgt, wie bereits erwähnt, primär in analytischer Absicht. In der Praxis werden viele Fälle nicht leicht einzustufen sein und intensive Debatten darüber auslösen, wo die Grenzen zwischen legitimer und nicht legitimer Anerkennung von Differenz zu ziehen sind. Die Schwierigkeiten treten rasch zutage, wenn wir uns daran machen, Richtlinien zur Integration von Einwanderern festzulegen, den Rechtsstatus indigener Gruppen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu regeln oder die Lage der Frauen in partikularen Kulturen zu beurteilen. Häufig stellt sich dann heraus, dass die Entscheidung darüber, was jeweils auf der kulturellen und was auf der sozialen Seite der Grenze zwischen Vielfalt und Ungleichheit liegt, nichts anderes ist als eine Frage der Politik. Die Ausstattung immer größerer Segmente der Bevölkerung mit bürgerlichen und politischen Rechten begründete den modernen Staatsbürgerstatus. Soziale Rechte kamen als ein drittes Element hinzu, das verhindern sollte, dass Bürger aufgrund der ungleichen Verteilung von Ressourcen von der Teilnahme am öffentlichen Leben dauerhaft ausgeschlossen blieben.4 Erst in neuester Zeit ist die Erweiterung dieser Triade um ein weiteres und häufig noch umkämpftes viertes Element auszumachen, nämlich die kulturellen Rechte. Sie sollen verhindern, dass erzwungene Assimilation zur Vorbedingung für die Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten gemacht wird.5 Vor diesem Hintergrund besteht ein wesentlicher Schritt in der Politik, die um Fragen der Vielfalt kreist, darin zu definieren, was die Vielfalt konstituiert, und die Typen kollektiver Zugehörigkeit zu benennen, denen institutioneller Schutz zukommen soll, in Abgrenzung zu Bindungsmustern, die privaten Präferenzen Ausdruck verleihen und daher dem Markt oder anderen „nicht politischen“ Regulierungsmechanismen überlassen bleiben können.
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Thomas H. MARSHALL, Bürgerrechte und soziale Klassen: zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a. M. 1992. Jan PAKULSKI, Cultural Citizenship, in: Citizenship Studies, 1/1 (1997), S. 73–86; Bryan S. TURNER, Postmodern Culture/Modern Citizens, in: Bart VAN STEENBERGEN (Hg.), The Condition of Citizenship, London 1994, S. 153–168.
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Komplexe Vielfalt und Europäisierung Die Analyse lässt sich vertiefen, wenn wir unser Augenmerk nun auf das weite Feld der ethnischen Beziehungen richten und solche Identitäten in den Blickpunkt rücken, die einen „ethnokulturellen“ oder „ethnonationalen“ Zuschnitt haben. Im europäischen Kontext lassen sich drei grundlegende Gruppentypen ausmachen, die drei spezifische Sedimente von Vielfalt repräsentieren: •
• •
„Mehrheiten“ (die im Allgemeinen den Namen der Titularnationen der europäischen Staaten tragen: so etwa Rumänen in Rumänien, Deutsche in Deutschland, Finnen in Finnland oder Spanier in Spanien) „alte“ Minderheiten (nationale bzw. indigene Minderheiten: so etwa Ungarn in Rumänien, Sami in Finnland oder Sorben in Deutschland) „neue“ Minderheiten (Immigranten und deren Nachkommen: so etwa „Deutsch-Türken“ oder Bürger mit maghrebinischen Wurzeln in Frankreich)
Wenn wir uns grob an dieser Aufteilung orientieren, geht es bei der Politisierung von Vielfalt in Europa wie anderswo nun um Folgendes: Wo Vielfalt artikuliert wird, werden in unseren Gesellschaften Forderungen nach Anerkennung erhoben, und in der Regel werden die hier skizzierten Schichten von Vielfalt als Basis für unterschiedliche (meistens klar abgestufte) Formen institutioneller Anerkennung betrachtet.6 Sobald es um die Konkretisierung der Reichweite einer solchen Anerkennung geht, geraten wir allerdings rasch auf das Terrain intensiver Dispute: Warum sollten die identitätspolitischen Prärogativen nationaler Minderheiten nicht den Standards entsprechen, die von Mehrheitsangehörigen beansprucht werden? Warum hat etwa das Ungarische in Rumänien eine zweitrangige Stellung gegenüber der Staatssprache, dem Rumänischen? Über welche Zeiträume müssen Migranten und deren Nachfahren, soweit sie sich nicht assimilieren, in einem bestimmten Territorium ansässig gewesen sein, um ähnliche Rechte einfordern zu können, wie sie nationalen Minderheiten zukommen? Warum wird dem Türkischen in Kreuzberg nicht offiziell ein Status zugestanden,
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Will KYMLICKA, Multicultural Citizenship, Oxford 1995, insbesondere S. 26– 33.
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der mit demjenigen des Sorbischen in der Niederlausitz vergleichbar wäre? Das sind Fragen, über die in der politischen Philosophie ausgiebig diskutiert wird. In der politischen Realität bringen die Antworten bezeichnenderweise vor allem die faktische Gestaltungsmacht nationalstaatlicher Souveränität zum Vorschein. Wenn wir die politische Spannweite der Artikulation von Vielfalt im heutigen Europa voll erfassen wollen, müssen wir einen weiteren wichtigen Faktor in Rechnung stellen. Er wirkt sich sowohl darauf aus, wie sich einzelne „Vielfaltsedimente“ innerhalb eines gegebenen Ordnungszusammenhangs politisch aufladen, sowie auch darauf, wie die verschiedenen Sedimente einander gegenübertreten: Mit der EU ist im Zuge des Prozesses der „Europäisierung“ ein neuartiger Herrschaftsverband oder zumindest ein politisch hochsignifikantes Institutionengefüge jenseits der Nationalstaaten entstanden. Auch wenn der Prozess bislang noch nicht zur Herausbildung einer robusten zusätzlichen Identitätsschicht geführt haben mag, ist er im Hinblick auf die Artikulations- und Interaktionsdynamik der übrigen drei Schichten durchaus relevant.7 Transnationale Integration und Europäisierung haben überall in Europa die Parameter von Identitätspolitik nachhaltig verändert. Diese Veränderung lässt sich entlang zweier großer Achsen nachzeichnen. Einerseits hat die Integration Europas die Zähmung des Nationalismus in einem interdependenten Netzwerk kollektiver Identitäten und Interessen mit sich gebracht. Auch wenn ihre Grundlagen weiterhin als prekär gelten müssen: Interdependenz in der EU hat eine lange Periode der Konflikte zwischen Nationalstaaten und der von ihnen verkörperten Identitäten beendet. Andererseits hat der normative Diskurs der europäischen Einigung „Nebenwirkungen“, die nicht zuletzt alten und neuen Minderheiten zugutekommen. In jedem Fall verschaffen die Domestizierung des Nationalismus und die Emergenz eines europäischen Bürgerrechteregimes Minderheitengruppen neue Möglichkeiten, ihren Forderungen inhaltlichen Rückhalt zu geben. So hebt das Konzept der Unionsbürgerschaft, das der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zugrundeliegt, die Bedeutung eines Kanons gemeinsamer europäischer Grundwerte hervor, betont aber zu-
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Liesbet HOOGHE, Gary MARKS, Multi-Level Governance and European Integration, Lanham, MD, 2001; Reinhold VIEHOFF, Rien T. SEGERS (Hg.), Kultur. Identität. Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, Frankfurt a. M. 1999.
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gleich ausdrücklich die Selbstverpflichtung der Union auf den Schutz der kulturellen Vielfalt.8 Es erweist sich als zunehmend schwierig zu argumentieren, dass dieser Schutz strikt auf Identitätstypen beschränkt bleiben sollte, wie sie von den Mitgliedstaaten repräsentiert werden, ohne auch solche Gruppen einzuschließen, die über keine „eigenen“ staatlichen Institutionen verfügen. Die Politik der Vielfalt ist aus einem weiteren wichtigen Grund eng an die Dynamik der Europäisierung gekoppelt. Die europäische Integration lässt sich als fortgeschrittene Manifestation tiefgreifender Umbrüche interpretieren, die mit der sukzessiven Entgrenzung ökonomischer und politischer Räume einhergehen. Wie in anderen Teilen der Welt verändern diese Umbrüche – die oft pauschal unter der Kategorie der „Globalisierung“ subsumiert werden – auch in Europa den Rahmen, in dem wir unsere Identitäten als Individuen und Bürger entwickeln. Sie machen die Schichten von Vielfalt, die unseren Alltag strukturieren, mehrdimensional und fluide. Auf der soziopolitischen und soziokulturellen Seite versuchen Begriffe wie „Postnationalismus“, „Kosmopolitismus“ und „Supervielfalt“ das hier umrissene Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven einzufangen.9 Mir fehlt der Platz, um diese Konzepte im gebührenden Umfang zu diskutieren; zur Bezeichnung der veränderten Rahmenbedingungen von Identitätspolitik spreche ich im skizzierten Zusammenhang von „komplexer“ Vielfalt. Komplexe Vielfalt meint nicht nur, dass unsere Gesellschaften überall vielfältiger geworden sind, und dass wir die Vielfalt bewusster wahrnehmen, als es noch vor einiger Zeit der Fall war. Das Konzept soll auch dazu beitragen, herkömmliche Vorstellungen, die von der Existenz mehr oder
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Für eine Übersicht institutioneller Regelungen, die veranschaulichen, wie diese Selbstverpflichtung auf europäischer Ebene ihren Niederschlag gefunden hat, siehe Peter A. KRAUS, A Union of Peoples? Diversity and the Predicaments of a Multinational Polity, in: Lynn DOBSON, Andreas FOLLESDAL (Hg.), Political Theory and the European Constitution, London 2004, S. 40–55. Einschätzungen der empirischen Tragweite und der normativen Konsequenzen des Phänomens geben, neben vielen anderen, Rainer BAUBÖCK, Why European Citizenship? Normative Approaches to Supranational Union, in: Theoretical Inquiries in Law, 8/2 (2007), S. 453–488; Gerard DELANTY, The Idea of a Cosmopolitan Europe, in: International Review of Sociology 15/3 (2005), S. 405–421; Thomas FAIST, Towards a Political Sociology of Transnationalization. The State of the Art in Migration Research, in: Archives Européennes de Sociologie XLV/3 (2004), S. 331–366; Steven VERTOVEC, Transnationalism, Milton Park 2009.
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weniger klar abgrenzbarer „Schichten“ von Zugehörigkeit ausgehen, zu hinterfragen. Zur Disposition steht mithin, was treffend als „Billardkugeln“-Perspektive10 auf die Vielfalt (und die Menschheit schlechthin) bezeichnet worden ist. Aus dieser Perspektive erschienen Kulturen als abgeschlossene, fest umrissene und nach innen hin gleichförmige Einheiten. Mittlerweile herrscht jedoch ein Verständnis vor, nach dem die vormaligen Billardkugeln zu einer Art Cocktail gerührt worden sind, der auf individueller wie kollektiver Ebene serviert wird. Letztlich kommt es so zu einem weitreichenden Wandel solcher Kategorien wie „Deutsch“, „Finnisch“, „Britisch“, „Kurdisch“ und letztlich „Europäisch“. Man denke nur an das Beispiel der „Deutsch-Türken“, das hier stellvertretend für die vielen Gruppen, deren Mitglieder einen interkulturellen Horizont teilen, genannt sei. Es ist zu vergegenwärtigen, dass sich auch die Ausbildung der Mehrheitsidentität mittlerweile in einem nicht unerheblichen Ausmaß vor einem derartigen Horizont vollzieht. Wer kann heute als „deutscher“ gelten: Margot Hellwig oder Mesut Özil? Wer nicht mit Stereotypen auf eine solche Frage reagieren möchte, wird konzedieren, dass es nahe liegt, von einer zunehmend „unterdeterminierenden“ Wirkung ethnischer und nationaler Identitäten zu sprechen. Das Konzept der komplexen Vielfalt richtet sich auf eine Konstellation, in der kulturelle Identitäten und soziale Spaltungslinien in veränderlichen Formen als sich überlappend und ineinander verflochten erscheinen. Zum einen sind die europäischen Gesellschaften dadurch vielfältiger geworden, dass sie neue Schichten von Vielfalt aufgenommen haben. Zum anderen weisen die einzelnen Segmente oder Schichten von Vielfalt ihrerseits ein wachsendes Maß an Binnenheterogenität auf. Dementsprechend sollten keine Identitäten mehr als starr vorgegeben und politisch „selbstverständlich“ angesehen werden. Ebenso wenig werden Ansätze, die mit einer einfachen Addition der verschiedenen Bestandteile von Vielfalt in einem gegebenen soziokulturellen Zusammenhang operieren, dem schillernden Charakter von Identitätspolitik gerecht. Dies darf wiederum nicht zu dem Schluss verleiten, dass deren Herausforderungen dadurch beizukommen wäre, dass wir die politischen Implikationen kultureller Vielfalt ignorieren und den Rufen nach Anerkennung kein Gehör mehr schenken.
10 James TULLY, Strange Multiplicity: Constitutionalism in an Age of Diversity, Cambridge 1995, S. 10.
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Europas Politik der Vielfalt Europa ist gegenwärtig noch weit davon entfernt, das normative Potenzial einzulösen, das der Integrationsprozess in sich birgt, um neuartige Ansätze im Umgang mit der Vielfalt zu erproben. Ungeachtet der regelmäßigen Beschwörung der Vielfalt, die im offiziellen Diskurs der EU auszumachen ist, kennzeichnen tiefe Widersprüche die europäische Politik der Anerkennung. Wie bereits bemerkt wurde, trifft es zwar zu, dass die europäischen Institutionen einige Anstrengungen unternommen haben, um kulturellen Rechten eine eigenständige Qualität zu verleihen. Auch sind diese Anstrengungen nicht ohne Auswirkungen auf die Aushandlung des Status von Minderheitengruppen in verschiedenen Teilen Europas geblieben. Nichtsdestoweniger ist die institutionelle Anerkennungspraxis in der Union bislang einseitig auf etablierte nationalstaatliche Identitätsmuster ausgerichtet. Subnationale, transnationale oder interkulturelle Zugehörigkeiten spielen eine klar untergeordnete Rolle, wenn die Organe der EU sich mit Fragen der Vielfalt befassen. Die Union ist eine politische Ordnung, in der die Mitgliedstaaten den Ton angeben; es sind letztlich deren Identitäten, die im europäischen Institutionengeflecht privilegierte und dauerhafte Geltung beanspruchen. Es ist insofern nicht allzu überraschend, dass der Schutz von kultureller Vielfalt in Europa primär denjenigen Identitätstypen zugutekommt, die Strukturen von Nationalstaatlichkeit repräsentieren. Damit bleibt die europäische Perspektive in einem hohen Maße weiterhin eine Billardkugel-Perspektive, wobei die Billardkugeln die Mitgliedstaaten sind: Zwar hat jede Kugel ihre eigene Farbe, aber alle Kugeln sind gleichartig geformt und machen die gleiche Art von Krach, wenn sie bei intergouvernementalen Verhandlungen aufgrund gegensätzlicher Prioritäten aufeinanderprallen. Der Rekurs auf die kulturelle Vielfalt erweist sich auf der politischen Bühne so häufig als wenig mehr als ein taktisches Mittel, das bevorzugt dann eingesetzt wird, wenn den spezifischen Interessen von Nationalstaaten im harten Geschäft transeuropäischen Regierens besonderes Gewicht verschafft werden soll. Die Erweiterung der EU nach Osten hat dieser Tendenz zusätzlichen Auftrieb gegeben und die Spielräume für diejenigen Akteure in der Union, die eine größere Bereitschaft zur Stärkung einer genuin europäischen Identitätskomponente zeigen, enger gemacht.11
11 Jürgen HABERMAS, Ach Europa, Frankfurt a. M. 2008.
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Zu erwarten, dass die Dynamik transnationaler Integration Europa gleichsam automatisch in ein Reich exuberanter Vielfalt verwandeln würde, wäre daher recht naiv. Die Hauptantriebskräfte für das Projekt der Europäisierung speisten sich gewiss nicht aus der Absicht, eine Art neobabylonisches Eldorado zur ungehinderten Pflege sich in Vielfalt überkreuzender kultureller, sprachlicher und ethnonationaler Identitäten unter modernen Bedingungen aufzubauen. Seit der Zeit der Römischen Verträge spiegelt die Politik der europäischen Einigung vielmehr den Primat, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen. Europäische Integration und Marktintegration haben sich als über weite Strecken gleichsam austauschbare Konzepte erwiesen. Nach dem Übergang zur Wirtschafts- und Währungsunion ist die anfängliche Vision eines integrierten Marktes mittlerweile in der EU zu einer Realität geworden. Es ist landläufig bekannt, dass Europa als integrierter Markt auf vier Hauptsäulen ruht: dem freien Warenverkehr, dem freien Dienstleistungsverkehr, dem freien Kapitalverkehr und schließlich dem freien Personenverkehr. Die vier Freiheiten sollen gewährleisten, dass die weiterhin bestehenden Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu keinen ernsthaften Hürden für ökonomische Aktivitäten innerhalb des Gemeinsamen Marktes werden. Freilich lässt sich diesen Aktivitäten nicht ohne kulturelle Vermittlungsleistungen nachgehen. Nehmen wir als Beispiel die Sprache: In einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verursacht Vielsprachigkeit Transaktionskosten, die in einer sprachlich einheitlichen Umgebung nicht auftreten würden. Darüber hinaus bringt sie zusätzlichen rechtlichen Regelungsbedarf mit sich: Ist zu erwarten, dass ein irischer Automechaniker, der in Österreich eine Werkstatt eröffnet, fließend Deutsch beherrscht? Welches Niveau an Schwedischkenntnissen hat eine polnische Krankenpflegerin nachzuweisen, die in einem Krankenhaus in Stockholm arbeiten will? In welchen Sprachen ist die Information auf italienischen Lebensmitteln, die in EU-Länder exportiert werden, zu etikettieren? In welchem Umfang sollten Dienstleistungen im Medienbereich, die sich im Allgemeinen als kulturelle Dienstleistungen betrachten lassen, von einer rigiden Durchsetzung der Marktfreiheiten ausgenommen bleiben? Die Dynamik der Marktintegration lässt sich mit dem Gebot des Schutzes der kulturellen Vielfalt oft nicht leicht in Einklang bringen. Wo entsprechende Konflikte auftreten, fällt dem Europäischen Gerichtshof die Rolle des Schiedsrichters zu, der im Einzelfall zu entscheiden hat, ob der Schutz der kulturellen und sprachlichen Viel-
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falt schwerer wiegt als die Geltung der vier Marktfreiheiten, oder ob umgekehrt der freie Markt die Oberhand gegenüber der Kultur zu behalten hat.12 In Wirklichkeit greift die Problematik noch viel tiefer, denn der Prozess der Marktintegration hat seine eigene Metasprache. Es handelt sich um eine Sprache, die auf stille, aber nicht weniger effektive Weise gegen die Vielfalt arbeiten kann: Es ist die Sprache der Einsparungen durch Produktionserweiterung und der Standardisierung. In unseren Rollen als Wirtschaftsbürger und Verbraucher haben wir in der Regel für die Botschaft, die in dieser Sprache übermittelt wird, ein offenes Ohr. So stattet etwa der freie Güterverkehr in der EU deutsche Supermärkte Tag für Tag mit einer breiten Palette verschiedenster europäischer Produkte aus. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren zwischen den Alpen und der Nordsee allenfalls Insiderkreise mit dem Genuss solcher Waren wie Chupa Chups, San Daniele Schinken oder schwedischer Schokolade vertraut. Von Portugal bis Finnland erfreuen sich die Europäer von heute an den zahlreichen Vorteilen eines Güterverkehrs, der weiterhin stetig expandiert. Gleichzeitig ist die Palette von Produkten, die Europas Supermärkte in ihren Regalen stehen haben, um Kunden anzulocken, von Ort zu Ort zunehmend austauschbar geworden. Je nach unseren finanziellen Möglichkeiten treffen wir unsere Wahl aus immer breiteren und bunteren Sortimenten. Gleichzeitig werden wir uns im Zuge dieser Wahl hinsichtlich unserer Konsumgewohnheiten überall immer ähnlicher. Bei der Ausgestaltung des gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums stoßen wir auf dieselben Mechanismen, die den Prozessen der Marktintegration im Allgemeinen anhaften. In variierenden Abstufungen ist Marktintegration immer mit Standardisierung verknüpft. Daher sollte auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Ausbreitung der Metasprache des Gemeinsamen Marktes in Europa Folgen zeitigt, die denjenigen ähneln, die der ebenso eloquente wie polemische Kulturkritiker Pier Paolo Pasolini in einem kleineren Maßstab im Italien der 1960er- und 1970er-
12 Zur Rechtsprechung des EuGH in Sprachenfragen vgl. Richard L. CREECH, Law and Language in the European Union: The Paradox of a Babel United in Diversity , Groningen 2005; Bruno DE WITTE, Cultural Legitimation: Back to the Language Question, in: Soledad GARCÍA (Hg.), European Identity and the Search for Legitimacy, London 1993, S. 154–171; John A. USHER, Languages and the European Union, in: Malcolm ANDERSON, Eberhard BORT (Hg.), The Frontiers of Europe, London 1998, S. 222–234. ‘
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Jahre anprangerte. Pasolini13 reagierte mit einem Aufschrei der Empörung auf die Transformationen, die er in der italienischen Gesellschaft beobachtete. Aus seiner Sicht hatte der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit dem Triumph des Konsumismus in seinem Land die Bahn geebnet. In Italien hatte demnach eine regelrechte anthropologische Mutation stattgefunden, die eine unaufhaltsame Auslöschung kultureller Differenz bewirkte. In der düsteren Beurteilung des radikalen Abweichlers führte die mit Wucht vordringende Kultur des Massenkonsums in eine Welt der Gleichförmigkeit, in der alle partikularen, nicht standardisierten sprachlichen, regionalen und sozialen Identitäten zum Verschwinden verdammt sein würden. Sie hätten keine Chance, der uniformierenden Kraft der Marktintegration standzuhalten, wie der Beobachter einer Periode rapiden Wandels mit Bitterkeit registrierte. Die harsche Diagnose, die der italienische Intellektuelle vor nunmehr vierzig Jahren vortrug, nimmt viele der Motive vorweg, die der auf die Verteidigung kultureller Pluralität abzielende Flügel der globalisierungskritischen Bewegung heute ins Feld führt. Man braucht den Kulturpessimismus, der Pasolinis Analysen durchtränkt, keineswegs rundum zu teilen, um dennoch zuzugestehen, dass der Sprache des Marktes nicht immer und uneingeschränkt die Rolle eines harmonischen Gegenparts zur Sprache der Vielfalt zukommt. Prozesse der Marktintegration in einer entgrenzten Ökonomie haben notgedrungen homogenisierende Konsequenzen. Ihr Sinn für die Vielfalt geht selten über die Perspektive hinaus, wie sie vor einigen Jahren auf United Colors of Benetton-Werbebildern vorzufinden war: Man erinnere sich an die Fotos von kleinen Kindern, die verschiedene Kontinente repräsentieren und sich in fröhlicher Eintracht die Hand reichen, während sie zugleich ihren Beitrag zur Vermarktung ein und desselben hippen Logos leisten. Wir sollten uns dessen bewusst bleiben, dass der Weg zur EU über die Etablierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft führte. Auch in der Gegenwart ist der Gemeinsame Markt ein entscheidender Aspekt des Bildes, das die Europäer von Europa und von sich selbst als Europäer haben. Die Identität der Unionsbürger überschneidet sich dementsprechend in erheblichen Bestandteilen mit der Identität von Marktteilnehmern und Verbrauchern.14 Der funkti-
13 Pier Paolo PASOLINI, Freibeuterschriften: Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 2006 [1975]. 14 J. H. H. WEILER, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, Salzburg 2004.
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onale Primat der Marktintegration in der Konstruktion Europas korrespondiert mit einem Verständnis von Legitimation, in dem die Bürger vorrangig als Konsumenten politischer Produkte erscheinen. Sie bleiben damit von der aktiven Teilnahme an politischen Prozessen „befreit“, in denen sie den Herausforderungen komplexer Vielfalt gleichsam aus der Graswurzelperspektive gegenüber treten müssten. Die Semantik der Vielfalt sprengt somit nur selten das rhetorische Korsett offiziöser Europa-Diskurse. Die prominente Stellung, die die Vielfalt darin eingenommen hat, hängt mit zwei Hauptursachen zusammen: Einerseits dient die Beschwörung der Vielfalt dazu, das institutionell festgeschriebene Gewicht und die Persistenz der Identitäten der Mitgliedstaaten in Europa zu garantieren. Andererseits eignet sich das Konzept der Vielfalt gut dazu, auf der transnationalen Ebene mit Emphase als genuin „europäischer“ Wert, der den Rahmen nationalstaatlicher Souveränität transzendiert, ins Feld geführt zu werden. Es ist nicht schwer zu sehen, dass zwischen diesen zwei wesentlichen Konnotationen von Vielfalt im institutionellen Kontext der EU ein Spannungsverhältnis besteht. Freilich hat sich die Spannung aufgrund der starken Kontrollbefugnisse, die den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der europäischen Agenda nach wie vor zukommen, bislang als politisch wenig produktiv erwiesen. Zwar hat der ubiquitäre Verweis auf den Schutz der Vielfalt bei der Rechtfertigung europäischen Regierens ein Gelegenheitsfenster für viele Gruppen geöffnet, die auf den Schlachtfeldern der Politik der kulturellen Identität antihegemonische Ziele verfolgen. Im Vergleich mit dem Gewicht der Vorkehrungen zur Steigerung technokratischer Effektivität in der EU erweisen sich die Bemühungen zur Entwicklung einer transnationalen Ordnung, in der Wege zu einer neuartigen Politik der Vielfalt erschlossen werden könnten, allerdings als eher marginal.15 Daher besteht die Gefahr, dass komplexe Vielfalt in Europa letztlich in eine permissive und eindimensionale Vielfalt verwandelt wird.
15 Eine ausführliche Darlegung dieser Sichtweise enthält Peter A. KRAUS, A Union of Diversity: Language, Identity and Polity-Building in Europe, Cambridge 2008, insbesondere S. 180–198.
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Die Anerkennung der Vielfalt Ungeachtet der Slogans, die die europäischen Organe vollmundig in ihren offiziellen Verlautbarungen verwenden, sind innovative institutionelle Antworten auf die Herausforderungen komplexer Vielfalt in der Union eine Mangelware geblieben. Die europäische Politik hat noch einen langen Weg vor sich, wenn sie das symbolische Strickmuster einiger der Fußballvereine, die zu Stammgästen in den Endrunden der Champions League geworden sind, adaptieren und eine tragfähige Balance zwischen globalen und lokalen Elementen herstellen will. Wie der Soziologe Manuel Castells in einem Zeitungsbeitrag plausibel argumentiert hatte, dürfte der FC Barcelona ein paradigmatisches Exempel für eine solche Balance bieten, die zu gleichen Teilen Zugehörigkeit nach innen und Offenheit nach außen zu vermitteln vermag.16 Europa ist dringend darauf angewiesen, sich neue Ansätze im Umgang mit der Vielfalt zu erarbeiten. Nun müssen Versuche, zu solchen Ansätzen zu gelangen, mit einem scheinbaren Paradox zurechtkommen: Selbst dann, wenn uns daran gelegen ist, jenseits der Billardkugeln-Rezepturen Cocktails zu mischen, die nach vielfältigen Identitätskombinationen schmecken, werden wir nicht umhin können, die verschiedenen Zutaten – also die verschiedenen Schichten von Vielfalt – zu pflegen, die wir brauchen, um den Cocktail vorzubereiten. Befürworter einer Politik der Anerkennung sehen sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, sie verkehrten den wandelbaren und hybriden Charakter kultureller Identitäten mit der Festschreibung kollektiver Zugehörigkeitsmerkmale in sein Gegenteil. Ihr Verständnis von Kultur sei „essentialistisch“ und presse die Mitglieder kulturell definierter Gruppen in ein ehernes Gehäuse der Gemeinschaftlichkeit, das die Spielräume für die Entfaltung individueller Freiheit auf nicht zumutbare Weise einschränke.17 Dieser Kritik liegt häufig eine Fehldeutung zugrunde, die der sozialen – und damit definitionsgemäß kollektiven – Dimension kultureller Bindungen die Qualität einer politisch-kognitiven Zwangsjacke zuschreibt. Es ist an der Zeit, die
16 Manuel CASTELLS, Fútbol, globalización, identidad, in: La Vanguardia, 6.5.2006. 17 Siehe stellvertretend für viele andere die heftige Polemik, die Brian Barry gegen Autoren wie Will Kymlicka, Charles Taylor und James Tully führt: Brian BARRY, Culture and Equality: an Egalitarian Critique of Multiculturalism, Cambridge 2001.
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sterile Gegenüberstellung von „Essentialismus“ und „Konstruktivismus“ zu überwinden, wenn wir uns daran machen, kulturelle Identität und an sie gekoppelte Phänomene wie Ethnizität oder Nationalität zu analysieren. Dass kulturelle Identitäten Konstrukte sind, ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden: Welche sozialen Identitäten wären nicht konstruiert? Eine solche Sicht zu teilen, lässt freilich noch lange nicht den Schluss zu, soziale Konstrukte ließen sich nach Belieben aus dem Boden stampfen, auseinanderbauen und wieder neu zusammenfügen. In der Tat soll das Konzept der komplexen Vielfalt, wie ich bereits ausgeführt habe, vor allem auch anzeigen, dass unsere Identitäten auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene schillernder und durchlässiger geworden sind. Die Rohmaterialien, die wir in sie einspeisen, sind aber in der Regel durchaus zäh, wie all diejenigen erfahren haben, die durch verschiedene Prozesse der Akkulturation gegangen sind. Kulturelle Kompetenzen zu erwerben und zu transformieren erfordert erhebliche Anstrengungen, umso mehr, wenn diese Kompetenzen ein vielfältiges Identitätsrepertoire bedienen sollen. Unter den Kritikern einer Politik der Anerkennung besteht die Neigung, Essentialismus und Holismus zu verwechseln. Anders als eine essentialistische Sichtweise impliziert eine holistische Auffassung von Kultur jedoch keineswegs, dass kulturelle Identitäten als abgeschlossene, statische und homogene Größen anzusehen wären. Vielmehr ist eine kategorische Ablehnung des Essentialismus mit schwachen Formen des Holismus, die uns erlauben, kulturelle Unterschiede zu erkennen, ohne dass wir sie verdinglichen, durchaus kompatibel.18 In der politischen Praxis spiegelt Anerkennung von Vielfalt letztlich nichts Anderes wider als das Bemühen, über die Imperative eines schlichten methodologischen Nationalismus hinauszugelangen, der institutionell eingefrorene nationalstaatliche Mehrheitskulturen als vorgegebene Größen betrachtet, ohne wahrhaben zu wollen, dass es sowohl unterhalb als auch jenseits etablierter Nationalstaaten andere wichtige und achtenswerte kulturelle Identifikationsmuster gibt. Entgegen den Befürchtungen mancher Beobachter19 muss ein solcher Blickwinkel nicht notgedrungen in die Sackgasse einer starren Gruppensoziologie führen, nach deren Lehrbüchern mo-
18 Nikolas KOMPRIDIS, Normativizing Hybridity/Neutralizing Culture, in: Political Theory 33/3 (2005), S. 318–343, hier S. 324. 19 Siehe etwa Rogers BRUBAKER, Ethnicity without Groups, Cambridge, MA, 2004.
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nolithisch verdichtete und gleichförmige kollektive Identitäten als konstitutive Einheiten des Sozialen erscheinen würden. Was der Ansatz, für den hier plädiert wird, lediglich beinhaltet, ist ein Verständnis von Freiheit, wofür deren soziokulturelle Verankerung keine abstrakte Rahmenbedingung bleibt. Soweit Freiheit der Verankerung – in Sprache, Historizität und anderen kulturellen Deutungsmustern – bedarf, wird Vielfalt zu ihrer Voraussetzung. Die Freiheit des „Anderen“ schließt nämlich nicht zuletzt dessen Recht ein, frei verankert zu sein. In diesem Zusammenhang erweist sich Assimilation in der Tat als eine Form der Herrschaftsausübung, die mit ebenso großem Nachdruck zurückzuweisen ist wie Exklusion.20 Eine Deutung von kultureller Vielfalt, die entschieden nichtinstrumentell ist und die Eigenwertigkeit kultureller Orientierungen ernst nimmt, wird hier zum Ausgangspunkt der Politik der Anerkennung. Allein die Zugrundelegung eines solchen Maßstabs gibt uns die Möglichkeit, den Einsatz einer Rhetorik der kulturellen Identität zu primär taktischen Zwecken zu hinterfragen. Im Bestreben, der Vielfalt den Platz zuzugestehen, der ihr gebührt, sollten wir uns nicht dazu verleiten lassen, rigide nationale Identifikationen durch einen gut gemeinten und „offenen“, aber letzten Endes oberflächlichen Kosmopolitismus zu ersetzen, der darauf abhebt, den Nationalismus zu überwinden, sich über seine eigene Kontextgebundenheit jedoch im Unklaren bleibt. In kosmopolitischer Absicht präsentierte Lesarten des Projekts europäischer Einigung geraten bisweilen in eine gefährliche Nähe zu einer Inszenierung von Vielfalt, wie wir sie in der United Colors of Benetton-Werbung vorfinden. Wer jemals in das Kreuzfeuer tiefer identitätspolitischer Konflikte geraten ist, hat erfahren müssen, wie aufreibend und schmerzhaft die Artikulation von Vielfalt sein kann. Die soziokulturelle Verankerung unserer Identitäten anzuerkennen ist nur ein erster Schritt in Richtung einer reflexiven Politik der Vielfalt. Im Zuge der Europäisierung haben sich die Anerkennungsverhältnisse sowohl im binnenstaatlichen Kontext als auch auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen in der Union nachhaltig verändert. Europa hat sich in eine Drehbühne der Identitätspolitik verwandelt, auf der alte Formen der kollektiven Bindung weiterhin Geltung beanspruchen und gleichzeitig neue Zugehörigkeitsmuster artikuliert werden. Dem Motto „In Vielfalt geeint“
20 James TULLY, Public Philosophy in a New Key, Volume II: Imperialism and Civic Freedom, Cambridge 2008, S. 116–119.
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ist auf dieser Bühne eine eigentliche Bedeutung erst noch zu geben. Dabei geht es um nicht wenig: Unsere Zukunft als Europäer hängt ganz erheblich davon ab, dass wir Wege finden, gleich und verschieden miteinander zu leben, und Disparitäten auf eine Weise zu reduzieren, die die Vielfalt nicht negiert. Andererseits ist unsere Situation in dieser Hinsicht wohl weniger exzeptionell, als wir manchmal zu denken neigen, und es gibt durchaus Vergleichsmöglichkeiten, mit denen wir uns befassen sollten, um zu einem feinkörnigeren Bild der Herausforderungen einer Politik der komplexen Vielfalt zu gelangen. Ein solches Beispiel ist Kanada, ein auf „tiefe Vielfalt“21 gebautes Land, in dem unter dem politischen Dach der Föderation eine ausgeprägte Pluralität kultureller Identitätsmuster – von Kulturen, Gesellschaften und „Völkern“ – und unterschiedliche Formen der Einbindung in den Gesamtstaat koexistieren. Ein weiteres Beispiel ist Indien, wo die sich überkreuzenden Traditionen von Pluralismus, dialogischer Praxis und Heterodoxie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, eine von hochgradiger Vielfalt gekennzeichnete politische Ordnung auf demokratische Grundlagen zu stellen.22 Ungeachtet der vielen weitreichenden strukturellen Unterschiede, die es zwischen ihnen gibt, stehen Europa, Kanada und Indien gemeinsam vor der Herausforderung, ihre politische Identität mit dem Respekt gegenüber der Differenz und dem Willen zur Anerkennung des „Anderen“ eng verklammern zu müssen. Gerade in Europa ist das in Anbetracht des Verlaufs der Integrationspfade, die für das Zeitalter der Moderne dominant scheinen, keine geringfügige Aufgabe.
21 Charles TAYLOR, Reconciling the Solitudes: Essays on Canadian Federalism and Nationalism, Montreal–Kingston 1994, S. 183. 22 Amartya SEN, The Argumentative Indian: Writings on Indian History, Culture and Identity, London 2006.
Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung1 P AUL M ECHERIL (I NNSBRUCK )
E INLEITUNG Mit Ansätzen, die sich für die Anerkennung von kultureller Differenz, Pluralität und für die Achtung kultureller Identität aussprechen, ist eine interessierte Öffentlichkeit etwa in den letzten drei Jahrzehnten vertraut geworden. Dies kann mit zumindest drei sich wechselseitig hervorbringenden Momenten in Zusammenhang gebracht werden. Auf einer empirischen Ebene werden, erstens, moderne Gesellschaften als Zusammenhänge beschrieben, für die, nicht zuletzt auch durch weltweite Wanderungsbewegungen angestoßen, in zentralen gesellschaftlichen Bereichen soziale Wandlungsprozesse, diachrone und synchrone Diversifikationen sowie Pluralisierungen der Lebensformen charakteristisch sind. Diese Pluralisierung sozialer Kontexte und Stile, sozialer Selbstverständnisse und Beziehungen imponiert empirisch als Vielfalt kultureller Phänomene. Mit der empirischen Zunahme der Relevanz „des Kulturellen“ verknüpft ist eine diskursi-
1
Der hier veröffentlichte Text ist bereits an anderem Ort erschienen: Paul MECHERIL, Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung, in: Gerhard MERTENS, Ursula FROST, Winfried BÖHM, Hildegard MACHA, Monika WITZKE (Hg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft, Teilband III/2 (2009), Umwelten, hg. von Christina AllemannGhionda, Paderborn, S. 1085–1096.
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ve Tendenz innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften, der prinzipiellen Bedeutung der kulturellen Dimension gesellschaftlicher Realität ein größeres Gewicht beizumessen. Auf der analytisch-methodologischen Ebene findet sich zweitens mithin eine kulturelle und kulturalisierende Auffassung von Gesellschaft und ihren Teilbereichen, von sozialen Beziehungen und Interaktionen, von Organisationen und Institutionen, welche sich so sehr ausgebreitet hat, dass von einem cultural turn in den Sozialwissenschaften die Rede ist. Drittens muss die Aufmerksamkeit für die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse im Zusammenhang einer Verschiebung verstanden werden, die auf einer politisch-normativen Ebene für Orientierungen und Auseinandersetzungen sowie für die Beschreibung dieser Auseinandersetzung (etwa in wissenschaftlichen oder journalistischen Texten) im postsozialistischen Zeitalter charakteristisch ist. Diese Verschiebung zeichnet sich dadurch aus, dass nicht mehr das Klasseninteresse als Hauptmedium politischer Mobilisation begriffen wird, sondern viel eher Gruppenidentität die zentrale Bezugsgröße der Beschreibung von Missachtungsverhältnissen und des Einforderns von spezifischen (kulturellen) Rechten darstellt. Ansprüche auf Teilhabe und Selbstbestimmung werden von Gruppen, die politisch minorisiert und sozial marginalisiert sind, in vielfältig von Differenzlinien durchzogenen (post-)modernen Gesellschaften im Zeichen der kulturellen Differenz, des kulturellen „Andersseins“ formuliert. Das Einfordern von Rechten für Schwule und Lesben, das Ringen um Anerkennung seitens ethnisch-kultureller Minderheiten und die Frauenbewegung sind hier die bekanntesten Beispiele politisch kraftvoller Bewegungen. Für die Pädagogik als Diskursfeld wie als Handlungszusammenhang sind alle drei Momente von Bedeutung. Nachfolgend soll der Diskurs über kulturelle Differenz/Identität, so wie er an dem Ort der Erziehungswissenschaft geführt wird, der sich besonders für „das Kulturelle“ interessiert, die Interkulturelle Pädagogik, skizziert werden (I.). Die kulturelle Perspektive, dies ist das Resultat des ersten Abschnitts, reicht nicht aus, um Differenzund Identitätsverhältnisse der Migrationsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff der Zugehörigkeit als alternativer Grundbegriff vorgestellt (II.). Mit dem Zugehörigkeitsbegriff wird es möglich, Phänomene zu untersuchen, die für Migrationsgesellschaften empirisch von Bedeutung sind und für Institutionen, die mit Einfachzugehörigkeiten rechnen, eine große Herausforderung darstellen, nämlich Phä-
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nomene multipler und hybrider Zugehörigkeit (III.). Ein Rahmenverständnis einer Pädagogik, die auf Mehrfachzugehörigkeiten bezogen ist, wird abschließend skizziert (IV.).
I. Z WEI P ERSPEKTIVEN AUF KULTURELLE D IFFERENZ /I DENTITÄT Die Forderung nach Achtsamkeit für kulturelle Differenzen, die Ansicht, dass es wichtig sei, unterschiedliche kulturelle Identitäten in der pädagogischen Arbeit zu respektieren, ist eine der wichtigsten Grundhaltungen der Interkulturellen Pädagogik.2 Die Interkulturelle Pädagogik, ihr Name macht dies bereits deutlich, beschäftigt sich mit kulturellen Differenzen und tut dies im Wesentlichen, indem sie kulturelle Unterschiede nicht nur erfasst, sondern auch bejaht. Diese Identifikation und Achtung von Individuen als einem bestimmten sozial-kulturellen Kontext zugehörig ist zentrales Anliegen vieler sich interkulturell verstehender Ansätze; implizit und zuweilen explizit gehen diese Ansätze von einer Idee der Anerkennung aus.3 Menschen sind soziale Wesen. Im Rahmen sozialer Kontexte entwickeln sie Selbstverständnisse und Praxen der Selbstdarstellung. Die Zugehörigkeit von Individuen zu sozialen Gemeinschaften ist der Hintergrund, vor dem Individuen das werden, was sie sind. Wer im Rahmen eines sozialen Zusammenhangs eine Sprache erlernt, Vorlieben entwickelt oder normative Verständnisse ausbildet, ist darauf angewiesen, will er oder sie diese Sprache, Vorlieben und Verständnisse pflegen, auf diesen Rahmen zurückgreifen zu können. Unter einer anerkennungstheoretischen Perspektive4 ist es somit erforderlich, für differenzsensible Strukturen einzutreten, in denen es Individuen möglich ist, ihren sozial-kulturellen Subjektstatus leben zu können.
2 3
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Vgl. Georg AUERNHEIMER, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. 3., neu bearb. u. erw. Aufl., Darmstadt 2003. Vgl. Paul MECHERIL, Pädagogik der Anerkennung. Eine programmatische Kritik, in: Franz HAMBURGER, Tarek BADAWIA, Merle HUMMRICH (Hg.), Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 311–328. Vgl. Benno HAFENEGER, Peter HENKENBORG, Albert SCHERR (Hg.), Pädagogik der Anerkennung, Schwalbach/Ts. 2002.
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Allerdings ist der Anerkennungsansatz in seinem Bezug auf Differenz ambivalent. Denn einerseits ermöglicht er die Berücksichtigung und Respektierung kultureller Unterschiede, andererseits schreibt er Differenzen und Identitäten fest. Diese Fixierung kultureller Differenz und Identität ist einer der Hauptkritikpunkte, die an Ansätzen formuliert werden, die kulturelle Identitäts- und Differenzverhältnisse erstens per se als gegeben annehmen (analytisch-methodologische Ebene), und zweitens diese Verhältnisse an sich für bewahrenswert halten (normative Ebene). Das Grundproblem Differenz bejahender Ansätze besteht darin, dass der Versuch, kulturelle Differenzen anzuerkennen, Differenzen immer schon voraussetzt, dass „Kultur“ die zentrale Differenzdimension sei, auf der die relevanten Unterschiede etwa von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund zu beschreiben, zu untersuchen und zu behandeln seien. Diese aktive Wirkung des Differenz bejahenden Ansatzes wird da, wo sie als unangemessen gilt, Kulturalisierung genannt. Die Unangemessenheit des kulturalisierenden Gebrauchs der Perspektive kulturelle Identität/Differenz in „interkulturell“ genannten Ansätzen hängt unter anderem mit folgenden Aspekten zusammen: • •
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die Differenzperspektive wird häufig (und dann ausschließlich) eingesetzt, wenn es darum geht, die Anderen zu bezeichnen; die Perspektive auf kulturelle Identität/Differenz vernachlässigt und verkennt oftmals die Spielräume, die Menschen prinzipiell sowie in konkreten biografischen und interaktiven Zusammenhängen zukommen, sich von kulturellen Einbindungen abzusetzen; kulturelle Identität/Differenz wird häufig mit ethnischer, nationaler und kultureller Identität gleichgesetzt, wodurch suggeriert wird, dass die Differenz zwischen ethnischen oder nationalen Gruppen in erster Linie eine Frage kultureller Zugehörigkeit sei und umgekehrt kulturelle Differenz in erster Linie dann relevant sei, wenn ethnische oder nationale Differenz vorliegt; die Perspektive kulturelle Identität/Differenz tendiert zur Festlegung auf eine Identität und vernachlässigt Mehrfachzugehörigkeiten oder betrachtet sie nicht als Normalfall; die Perspektive kulturelle Identität/Differenz ermöglicht autochthon dominierten Bildungsinstitutionen die problemzuschreibende Sicht auf andere (etwa in der rhetorischen Figur: Schüler „anderer“ kultureller
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Zugehörigkeit würden aufgrund ihrer kulturellen Identität in ihren Schulleistungen schlechter abschneiden); die Perspektive kulturelle Identität/Differenz verkennt vielfach die Heterogenität innerhalb „kultureller“ Gruppen, vernachlässigt die Dynamik der Identitätsveränderungen und die Kämpfe um Identität, das Neues generierende Zusammenspiel von Dissensen und Konsensen, das eine „kulturelle“ Gruppe charakterisiert; die Perspektive kulturelle Identität/Differenz fokussiert häufig einseitig kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse und vernachlässigt die multidimensionale Beschaffenheit (Alter, gender, race, Klasse, Staatsangehörigkeit, sexuelle Orientierung etc.) des gesellschaftlichen Raumes, der vielfältige Unterschiede und Ungleichheiten produziert und beinhaltet; mit der Perspektive kulturelle Identität/Differenz wird „Kultur“ und „kulturelle Identität“ eher als Erklärung und in der Regel nicht als zu erklärendes Phänomen betrachtet; dadurch wird die Tendenz bestärkt, nicht mehr zu fragen, aufgrund welcher Bedingungen etwa in der Interaktion zwischen ethnischen Minderheitenangehörigen und Mehrheitsangehörigen die Akteure auf das Deutungsmuster kulturelle Identität zurückgreifen und wie es erklärbar ist, dass dies in anderen Akteurskonstellationen nicht geschieht.
Aus dem Wissen um die kulturalistische Gefahr des Gebrauchs der Kulturperspektive ergeben sich zumindest drei auch für die (Interkulturelle) Pädagogik bedeutsame Perspektiven, die: • •
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neben kultureller Differenz weitere Differenzdimensionen berücksichtigen, ein Verständnis von kultureller Differenz präferieren, das Dissens, Dynamik und die Gestaltbarkeit von Kultur durch die „Angehörigen“ dieser Kultur als charakteristisch für „Kultur“ betrachtet, und kulturelle Differenz nicht als per se bestehenden Sachverhalt verstehen.
Wenn kulturelle Differenz nicht als an sich bestehender und selbstverständlich existenter Unterschied verstanden wird, sondern als eine Praxis des Unterscheidens, die unter bestimmten Bedingungen von Akteuren in pädagogischen Situationen eingesetzt wird, um diese interaktiven Situationen mit Sinn zu versehen (interpretativer Ansatz), praktisch zu meistern (hand-
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lungstheoretischer Ansatz), oder weil dies an vorherrschende Wissensformen (diskurstheoretischer Ansatz) oder an funktionale Kalküle (systemtheoretischer Ansatz) anschließt, dann verschiebt sich die Bedeutung, welche kultureller Differenz/Identität zugesprochen wird. So unterschiedlich die exemplarisch angeführten Ansätze sind, eines haben sie gemeinsam: Sie beziehen sich alle auf eine Vorstellung von kultureller Identität/Differenz, die diese als von bestimmten Bedingungen abhängige oder auf bestimmte Zusammenhänge zielende Konstruktion versteht. „Kultur“ kann als Konstrukt verstanden werden,5 bei dem es Sinn macht, es auf die Wirkungen und Effekte seines Gebrauchs/Einsatzes zu untersuchen. Wenn man davon ausgeht, dass kulturelle Identität/Differenz per se gegeben ist – eine Auffassung, der man beispielsweise in Konzeptionen der „multikulturellen Gesellschaft“ begegnet –, dann wird pädagogisch vor allem als angemessen herausgestellt (zum Beispiel in Ansätzen wie der „multikulturellen Pädagogik“), unterschiedliche kulturelle Identitäten zu verstehen und zu respektieren. Bei dem Ansatz jedoch, der kulturelle Identität/Differenz als Konstruktion versteht, gründet Angemessenheit zunächst auf einer Urteils- und Beobachtungskompetenz, die es vermag, Situationen, in denen es pädagogisch angemessenen ist, kulturelle Identitäten und Unterschiede wahrzunehmen und von solchen zu unterscheiden, in denen es unangemessen ist.6 Die Kritik an dem Kulturalisierungspotenzial muss also nicht zwangsläufig zum Verzicht auf die Perspektive „Kultur“ führen. Denn „Kultur“ ist nicht nur (unter solchen terminologischen und theoretischen Klärungen, die Kultur als (Beschreibung von) Praxis zur Geltung bringen, als ein Muster des Handelns, ein Muster, das aus spezifischen Erfordernissen, handeln zu müssen, resultiert)7 eine fruchtbare Analysedimension. Zudem ist es so, dass, wenn wir den Begriff „Kultur“ zur Seite legen, wir zugleich auch eine wesentliche Dimension des Selbstverständnisses und der Erfahrungen derer ignorieren, die an pädagogischen Handlungssituationen beteiligt sind. Wenn somit der Bezug auf kulturelle Identität einerseits er-
5 6 7
Vgl. z. B. Ingrid GOGOLIN, Marianne KRÜGER-POTRATZ, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Opladen 2006. Vgl. z. B. Thomas EPPENSTEIN, Einfalt der Vielfalt? Interkulturelle pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. Paul MECHERIL, Das Besondere ist das Allgemeine. Überlegungen zur Befremdung des „Interkulturellen“, in: Tarek BADAWIA, Helga LUKAS, Heinz MÜLLER (Hg.), Das Soziale gestalten. Über Mögliches und Unmögliches der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, Wiesbaden 2006, S. 311–326.
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forderlich und wichtig ist, weil Handlungsfähigkeiten und Bildungsperspektiven der Einzelnen (auch) mit kulturellen Identitäten zusammenhängen, wenn andererseits die An-Erkennung kultureller Identität zu einer Art Identitätsfixierung tendiert, dann bietet sich als pädagogische Maxime ein reflexiver Umgang mit kultureller Identität an.8 Hierbei ist der reflexive Rückgriff auf die Perspektive kulturelle Identität pädagogisch vor allem dann angemessen, wenn die Verwendung der Kulturkategorie einen Beitrag zur Klärung und Stärkung der Bildungsaussichten und Handlungsfähigkeiten der einzelnen Individuen leistet. Auch ist die Kulturperspektive bedeutsam und erforderlich, um kulturelle Zugangsbeschränkungen (der Bildungsinstitutionen) zu untersuchen und zu kommunizieren. Eine Kritik der kulturellen Einseitigkeit von Schule zum Beispiel bedarf eines Kulturbegriffs. Auf den Kulturbegriff zu verzichten hieße also: diese Kritik(-möglichkeit) und das Nachdenken über Möglichkeiten der Veränderungen aufgeben.
II. Z UGEHÖRIGKEIT
ALS
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Wer im angesprochenen reflexiven Verständnis von Kultur auf Identitäten und Unterschiede in der Migrationsgesellschaft schaut, wird sicher feststellen, dass kulturelle Differenz/Identität zwar eine bedeutsame Dimension ist, die Beschränkung pädagogischen Deutens und Handelns auf diese Dimension allerdings unangemessen ist. Nicht „Kultur“ (und „kulturelle Differenz“) ist damit der zentrale Bezugspunkt einer Pädagogik der Migrationsgesellschaft, sondern Zugehörigkeit (und Zugehörigkeitsverhältnisse), genauer „natio-ethno-kulturelle“9 Zugehörigkeit. In diesem Ausdruck kommt ein in der Migrationsgesellschaft bedeutsamer Typ von Selbst- und Fremdverstehen in seiner Diffusität zum Ausdruck. Natio-ethno-kulturelle Kontexte der Zugehörigkeit sind imaginierte Räume mit territorialer Referenz. Sie sind vorgestellte Räume, in denen Personen ein handlungsrelevantes Verständnis ihrer selbst erlernen. Sie er-
8
9
Vgl. z. B. Albert SCHERR, Interkulturelle Bildung als Befähigung zu einem reflexiven Umgang mit kulturellen Einbettungen, in: neue praxis, 31/4 (2001), S. 347–357. Paul MECHERIL, Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-) Zugehörigkeit, Münster 2003.
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fahren sich – idealtypisch gesprochen – als Gleiche unter Gleichen, entwickeln und verwirklichen Handlungsmächtigkeit und sind schließlich mit diesen Kontexten biografisch verbunden. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit verweist also auf Strukturen, in denen symbolische Distinktionsund Klassifikationserfahrungen, Erfahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit, wie auch biografische Erfahrungen der kontextuellen Verortung nahegelegt sind. In politischen und alltagsweltlichen Auseinandersetzungen um das Thema Migration geht es immer um die Frage, wie und wo ein nationalstaatlicher Kontext seine Grenze festlegen und wie er innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgehen will. Migration problematisiert Grenzen. Dies sind nicht so sehr die konkreten territorialen Grenzen, sondern eher symbolische Grenzen der Zugehörigkeit. Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit – nicht nur die der sogenannten Migrantinnen und Migranten – individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Differenzlinie problematisiert wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört. Sie scheidet das „Innen“ von dem „Außen“. Zugehörigkeitserfahrungen Einzelner sind nur denkbar, weil es eine politische, interaktive und semantische Ordnung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit gibt. Die sozialisierende Wirkung von Zugehörigkeitsordnungen besteht darin, dass sie Selbstverständnisse vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln, so wie sie ein Verständnis der sozialen Welt vermitteln, in dem sich die eigene Stellung in ihr darstellt. In Zugehörigkeitsordnungen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus, die den eigenen Platz in einer nicht unveränderlichen, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch angeordneten Positionen wiedergeben. Zugehörigkeitserfahrungen werden in Zugehörigkeitsordnungen gemacht, die durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse gekennzeichnet sind. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen operieren mit Vorstellungen und Regeln, die Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit betreffen und regulieren. Diese sind die konstitutiven Elemente natio-ethnokultureller Zugehörigkeit.10 Konzepte, die Mitgliedschaft, Wirksamkeit und
10 Vgl. MECHERIL, Prekäre Verhältnisse, S. 118–251.
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Verbundenheit in einem Zugehörigkeitskontext dominant regulieren, haben disziplinierende und subjektivierende Funktionen. Mitgliedschaftskonzepte regeln, wer zugehörig ist und wer nicht. Die häufig an Menschen mit nicht verhüllbarem Migrationshintergrund gerichtete Frage: „Woher kommen Sie?“ ist zum Beispiel eine informelle Praxis der Kommunikation über Mitgliedschaft (die zugleich das dominante Mitgliedschaftskonzept bestätigt). Eine wichtige Voraussetzung dessen, dass Menschen sich sozialen Kontexten fraglos zugehörig verstehen, besteht darin, dass sie nach ihrem eigenen Verständnis und nach dem bedeutsamer Anderer, Mitglied dieses Zusammenhangs sind. Zugehörigkeit setzt den symbolischen Einbezug in ein Wir auf formeller und informeller Ebene voraus. Um von Zugehörigkeit zu sprechen, reicht diese symbolische Einbezogenheit freilich nicht aus. Zugehörigkeit hat etwas damit zu tun, dass bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden, andere verhindert werden (Wirksamkeit). Jeder Zugehörigkeitsraum ist ein Wirksamkeits- und Handlungsraum, für den Machtverhältnisse, also differenzielle Ermöglichungen kennzeichnend sind. Bestimmte Handlungsweisen und bestimmte Routinen des Handelns, bestimmter Habitus finden in dem Zugehörigkeitsraum eine Entsprechung und können somit „erfolgreich“ gelebt werden, andere nicht. Das letzte analytische Element der Zugehörigkeitsordnung, Verbundenheit, bringt zum Ausdruck, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Kontext nicht allein eine optionale Beziehung darstellt. Zugehörigkeit ist ein Verhältnis, das durch Bindungen ermöglicht wird und sich in Verbundenheiten konkretisiert. Natio-ethno-kulturelle Verbundenheit umfasst neben emotionaler Bindung Aspekte moralischer Verpflichtung, kognitivpraktischer Vertrautheit und materieller Gebundenheit. Das Moment der Verbundenheit verknüpft den und die Einzelne biografisch in und mit dem Zugehörigkeitskontext. Für den Prozess, in dem Verbundenheit entsteht, ist das Wechselspiel von Identifikation und Identifiziert-Werden bezeichnend.
III. U NEINDEUTIGE Z UGEHÖRIGKEITEN : H YBRIDITÄT Allgemein können legitime und illegitime Zugehörigkeiten unterschieden werden. Legitime natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit hat eine zweifache Bedeutung. Unter den Bedingungen der hierarchischen Anordnung natioethno-kultureller Zugehörigkeiten – und wir können von der Gegebenheit
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einer solchen Hierarchie für die migrationsgesellschaftliche Wirklichkeit Deutschlands ausgehen – heißt legitime Zugehörigkeit, erstens, dass ich der anerkannten natio-ethno-kulturellen Gruppe zugehöre, dass ich als Mitglied der Gruppe gelte und mich selber so wahrnehme, dass ich in dem durch die natio-ethno-kulturell dominante Gruppe strukturierten Handlungsraum wirkmächtig und handlungsfähig bin, sowie dass ich mit dem Zugehörigkeitskontext verbunden bin. Wenn ich ein alternatives Zugehörigkeitsverständnis aufweise, z. B. nicht als „Deutscher“, sondern „Ausländer“ erkannt werde (Mitgliedschaft), z. B. in der deutschsprachigen Öffentlichkeit nur eingeschränkt handlungsfähig bin (Wirksamkeit) und auch biografisch nicht mit dem Kontext positiv verbunden bin (Verbundenheit), wird es, wenn ich in Deutschland meinen Lebensmittelpunkt habe, schwierig, als legitim zugehörig zu gelten und mich selbst so zu verstehen. Zweitens meint legitime Zugehörigkeit, dass ich in der Praxis natioethno-kultureller Fremd- und Selbstpositionierung prinzipiell identifizierbar bin, dass ich also kraft einer sozial erkennbaren Zugehörigkeit in den symbolischen Raum inkludiert bin, in dem das Positionieren stattfindet und möglich ist, dass ich also beispielsweise eindeutig und fraglos als „deutsch“, „italienisch“ etc. erkannt werde und mich selbst aufgrund entsprechender natio-ethno-kultureller Mitgliedschafts-, Wirksamkeits- und Verbundenheitserfahrungen so verstehe. Hybride Zugehörigkeit und Mehrfachzugehörigkeit ist in diesem Sinne eine „illegitime“ Zugehörigkeit, weil sie aus dem eindeutigen Schema der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung fällt. Eine der prominentesten und bald schon umstrittenen Kategorien in der „frühen“ pädagogischen Beschäftigung mit – um den Jargon der Zeit zu bemühen – „Ausländerkindern“ war der sogenannte Kulturkonflikt. „Ausländerkinder“, so die noch bis weit in die 1990er-Jahre hineinreichende Vorstellung, befänden sich zwischen sich ausschließenden kulturellen Räumen und dadurch in einer Dauerkrise. Die Kritik an dieser Vorstellung kann mit Ansätzen in Zusammenhang gebracht werden, die zu einer Achtung des Mehrwertigen beitragen wollen. Die Anerkennung von sozialen Praxen und Identitätsformen, die nicht eindeutig einer einzigen Zugehörigkeitsform zuzuordnen sind, die Anerkennung beispielsweise von sprachlichem Grenzgängertum, multiplen Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten, stellt eine mehr und mehr in das Zentrum des interkulturell pädagogischen Nachdenkens rückende Themenstellung, aber auch eine Herausforderung dar.
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Die Vorstellung, dass kulturelle Vermischung, Kreuzung, Neuschöpfung und Rekreation, Vermengung und Kombination von Traditionen und performativen Modellen, Verknüpfungen von zeitlich und räumlich Disparatem auf der Ebene von Kunst und Alltagskultur, Bewusstseins- und Identitätsformen denkbar und lebbar sind, hat in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum im wissenschaftlichen, aber auch in einigen weiteren gesellschaftlichen Bereichen eine immense Konjunktur erfahren. Ein Indiz dessen ist die Karriere des Begriffs Hybridität.11 Hybridität ist beispielsweise eine technologische Leistungssuggestion und eine medizinische Heilsofferte, weil in dem Begriff die nichtfunktionale Beharrung auf der Reinheit verwandter Materialien, Programme und Systeme leistungssteigernd überwunden zu werden scheint. In diesem technisch-medizinischen Sektor steht Hybridität für Intelligenzsteigerung durch kalkulierte Unreinheit. In anderen eher alltagskulturellen Zusammenhängen, dem Internet, der Werbung, der auf ein junges Publikum gerichteten ästhetischen Industrie, eröffnet Hybridität ein anderes Spiel mit Differenz. Hier wird Hybridität als Identitäts- und Beziehungsform gefeiert, als performatives Darstellungsbild und Inszenierungsmodus. Hier ist hybrid, um es kurz zu machen, sexy; so zumindest suggerieren es die Bilder des globalen Kapitalismus, der nicht nur gelernt hat, kulturelle Synergien zu nutzen, sondern die betörende Inszenierung der Differenz als Code einzusetzen, der Waren mit Bedeutung und Bedeutungen mit Produkten versieht. Diese Hinweise machen bereits deutlich, dass mit Hybridität nicht bereits eine positive Orientierung für pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft gewonnen ist. Es kann weder darum gehen, Hybridität zu bejubeln, noch darum, sie zu ächten; es geht vielmehr darum, die Bejahung des Hybriden ebenso wie seine Zurückweisung auf damit verknüpfte Machtwirkungen zu betrachten. Was aber heißt hybride Zugehörigkeit? Um dieser Frage näher zu kommen, soll hier in einem ersten Schritt ein Verständnis von Hybridität skizziert werden, wie es im Bereich der postcolonial studies12 nicht unüblich ist. Hybridität und hybrides Handlungsvermögen stellen Phänomene der Überschreitung und Zurückweisung binärer Unterscheidungen dar, die in zweierlei Hinsicht widerständig sind. Zum einen widersetzt sich Hybridi-
11 Vgl. Kien Nghi HA, Der Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005. 12 Vgl. etwa Maria do Mar CASTRO VARELA, Nikita DHAWAN, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005.
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tät dem universellen Anspruch binär unterscheidender Schemata, sie verweigert sich der allein oppositionellen Repräsentation und Konstruktion sozialer Prozesse und Antagonismen. Das widerständige Potenzial von Hybridität besteht weiterhin darin, dass es die hegemoniale Praxis der dominanten Kultur unterwandert und unterläuft. Weil die dominante Kultur darauf angewiesen ist, sich etwa durch Bildung und Pädagogik auf die Anderen zu beziehen und sich sozusagen an und in den Anderen zu wiederholen, stellt sie ein Einfallstor für Veränderungen bereit, die Machtverhältnisse nachträglich destabilisieren. In diesem Sinne weist Hybridität auf Phänomene der Zusammensetzung hin, denen aufgrund einer im doppelten Sinne des Wortes unmöglichen Überschreitung der Geruch des Unzusammengehörigen anhaftet. Hybridität beschreibt einen Mischzustand, eine Art Zusammensetzung aus Unvereinbarem, eine Zusammenfügung aus als unvereinbar Angesehenem, die die Trennung der Identitäten durch Neuformierung überwindet. Möglich sind hybride Phänomene letztlich nur unter den Bedingungen einer Zugehörigkeitsordnung, in der die Unterscheidung des Unterschiedenen (z. B. „kulturelle Differenz“) für erforderlich oder natürlich gehalten wird und in der unter bestimmten gesellschaftlich-historischen und biografischen Bedingungen das Getrennte spannungsreich, gleichwohl einen Zusammenhang bildend, zueinander kommt.
IV. M ULTIPLE Z UGEHÖRIGKEITEN UND PÄDAGOGISCHE P ERSPEKTIVEN Migrationsforschung bezog und bezieht sich häufig auf ein bestimmtes Modell von Wanderung, nämlich den einmaligen und unidirektionalen Wechsel des Wohn- und Aufenthaltsortes. Etwa seit Mitte der 1980er-Jahre werden in der Migrationsforschung neue, transnationale Ansätze13 mehr und mehr diskutiert, die den Übergang, der mit Wanderungen verbunden ist, nicht als vorübergehendes, transitorisches Phänomen verstehen. Vielmehr machen diese Ansätze deutlich, dass für einen in gegenwärtigen Zei13 Vgl. Ludger PRIES, Verschiedene Formen der Migration – verschiedene Wege der Integration, in: Hans-Uwe OTTO, Mark SCHRÖDTER (Hg.), Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, neue praxis, Sonderheft 8, Lahnstein 2006, S. 19–28.
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ten verbreiteten Typ von Migration kennzeichnend ist, dass das faktische und symbolische Wandern eine dauerhafte Daseinsform darstellen kann. Das transnationale Paradigma betont die (Möglichkeit der) Gleichzeitigkeit von Verbundenheit und Zugehörigkeit zu zwei nationalen Kontexten, in der neue, transnationale Räume entstehen. Das Entstehen solcher Räume wird durch legale Bestimmungen, die das Überschreiten von nationalen Grenzen einfacher ermöglichen (z. B. durch die Bestimmungen der Europäischen Union), durch die neuen Kommunikationsmedien und Verkehrsmöglichkeiten, schließlich aber auch durch die Gewöhnlichkeit des Migrierens erleichtert. Personen, die in transnationalen Räumen leben, sind gleichzeitig mehreren nationalen Kontexten verbunden. Die in der Terminologie von Assimilations- und Integrationsansätzen nicht mehr angemessen erfassbare Art von gleichzeitiger Zugehörigkeit zu zwei oder mehreren nationalen Kontexten hat zwangsläufig Konsequenzen auf die Art von Identität. Diese hybride Form von Identität ist in der deutschsprachigen Diskussion lange Zeit nicht beachtet worden. Auch die deutschsprachige Pädagogik hat diese kreativen Formen des kulturellen und auch sprachlichen Grenzgängertums spät entdeckt. Erst in den letzten Jahren mehren sich Studien, die auf die prinzipielle Würde von hybriden Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten aufmerksam machen und die Anerkennungsbedingungen untersuchen, unter denen Mehrfachzugehörigkeiten praktiziert werden können.14 Bei der Frage, was aus einer pädagogischen Perspektive für die Anerkennung von hybriden und multiplen Zugehörigkeiten spricht, muss zunächst festgehalten werden, dass lebensweltliche natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeit eine immer bedeutender werdende gesellschaftliche Realität darstellt. Soll diese lebensweltliche Mehrfachzugehörigkeit, die beispielsweise von immer mehr Kindern und Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem eingebracht wird, nicht in einen Mangel verwandelt werden, ist es erforderlich, dass sich die Bildungsinstitutionen, etwa die Schule, so verändern, dass sie den eingebrachten multiplen und hybriden Mitgliedschaftsverständnissen, Wirksamkeitsvermögen und Verbundenheitserfahrungen entsprechen. Der Umstand, dass für immer mehr Menschen die biografische Einbeziehung in mehrere natio-ethno-kulturelle Kontexte relevant
14 Vgl. z. B. Tarek BADAWIA, „Der dritte Stuhl“. Eine Grounded TheoryAnalyse zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz, Frankfurt a. M. 2002.
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ist (Mehrfachverbundenheit), dass die Frage nach der eigenen Handlungsund Wirkmächtigkeit mit Bezug auf mehrere natio-ethno-kulturelle Räume thematisiert wird (Mehrfachwirksamkeit) und dass die Frage nach der natio-ethno-kulturellen Mitgliedschaft und der verwehrten Mitgliedschaft ihre Bedeutung erst im Zusammenspiel multipler Zugehörigkeit gewinnt (z. B. „in Deutschland nicht deutsch, in der Türkei nicht türkisch“), hat unmittelbare pädagogische Konsequenzen, weil die Adressatinnen und Adressaten pädagogischer Handlungen ihre aus Zugehörigkeiten resultierenden und diese Zugehörigkeiten anzeigenden Dispositionen (also Bereitschaften und Vermögen des Denkens, Fühlens und Handelns) in die pädagogische Situation einbringen. Erst unter der Bedingung, dass lebensweltliche natioethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten beispielsweise nicht durch politische und schulische Praktiken, die davon ausgehen, dass nicht Mehrfachzugehörigkeiten den statistischen Normalfall und das normativ Wünschenswerte darstellen, in ein Defizit verwandelt werden, können sie Ressourcen darstellen. Zu diesen Zusammenhängen liegen allerdings kaum Überlegungen, Untersuchungen und noch weniger Erfahrungen vor. Eine gewisse Ausnahme – in den letzten Jahren auch im sogenannten deutschsprachigen Raum – stellt der Bereich der Mehrsprachigkeit dar.15 Sprachliche Disponiertheiten, die ihre Existenz und Bedeutung durch die alltagsweltliche Relevanz zweier oder mehrerer Sprachen gewinnen, werden dann prekär, wenn in eher monolingual verfassten Bildungszusammenhängen die bilingualen Kinder mit einer Realität konfrontiert sind, in der sie gleichsam einen Teil ihrer selbst entweder nicht oder nur in wenig angesehenen Bereichen des öffentlichen Raumes leben können, die den „Anderen“ oder „Fremden“ vorbehalten sind. Die einsprachige Schule, die die Pflege anderer, nichtdeutscher Sprachen nicht nur unterlässt, sondern zuweilen sogar explizit sanktioniert, drängt die Zweisprachigkeit der Schüler und Schülerinnen und damit diese selbst ins Abseits. Mehrsprachigkeit wird in der gegenwärtigen Situation durch schulische Bildung in ein Defizit
15 Vgl. Hans-Joachim ROTH, Mehrsprachigkeit als Aufgabe für die institutionelle Bildung, in: Gerhard MERTENS, Ursula FROST, Winfried BÖHM, Hildegard MACHA, Monika WITZKE (Hg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft, Teilband III/2 (2009), Umwelten, hg. von Christina Allemann-Ghionda, S. 1113– 1126.
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verwandelt.16 Die Kritik an dieser Produktion eines Mangels durch Schule und das Einfordern des „Rechtes aller Kinder, die in Deutschland in zwei Sprachen leben, auf Alphabetisierung in beiden Sprachen“17 müssen im Zusammenhang damit verstanden werden, dass der bi- oder multilinguale Sprachbesitz als ein Gesamtprodukt aufzufassen ist, „das nur dann adäquat weiterentwickelt werden kann, wenn es in allen seinen Teilen schulisch gefördert wird“.18 Die linguale Eingangsdisponiertheit der Schüler und Schülerinnen bildet, so die Argumentation, einen Gesamtzusammenhang aus, der erkannt und geachtet werden muss, soll die Sprachkompetenz als solche weiterentwickelt werden. Die im Kontext der Auseinandersetzung um die Beschulung von Kindern nichtdeutscher Herkunft vehement vorgetragene Forderung nach Deutschkenntnissen kann eine schulische Praxis der Nichtberücksichtigung der Erstsprache der Migrantenkinder begünstigen. Diese Ausblendung der sprachlichen Disposition errichtet dann – mit Bezug auf die Förderintentionen: paradoxerweise – auch im Hinblick auf die Sprachentwicklung dieser Personen im Deutschen eher Barrieren. Angebote wie Sprachtrainings und Förderunterricht, welche die Erstsprache nicht einbeziehen oder deren Gebrauch sogar untersagen, vertiefen nicht nur künstlich die Differenz zwischen den sprachlich-kulturellen Räumen, in denen sich viele Menschen mit mehr als einer natio-ethno-kulturellen Referenz selbstverständlich zugleich aufhalten, und werden der alltagsweltlichen Zweisprachigkeit der Adressaten nicht gerecht, sondern es gelingt häufig auch nicht, eine zufriedenstellende sprachliche Entwicklung der Kinder im Deutschen anzuregen und zu begleiten. Diskrepanzen zwischen den Dispositionen der Schülerinnen und Schüler und den Vorgaben und der Logik des schulischen Kontextes sind nicht allein auf die sprachliche Dimension beschränkt, sondern finden sich auch auf der Ebene religiöser, moralischer, insgesamt kultureller Praktiken. Es ist also wichtig, eine pädagogische Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln,
16 Vgl. Ingrid GOGOLIN, Die Verantwortung der Grundschule für Bildungserfolge und -misserfolge, in: Bildung und Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten. Anhörung des Forum Bildung am 21. Juni 2001 in Berlin. Online im Internet: http://www.forum-bildung.de/bib/material/gogolin.pdf (Zugriffsdatum: 18.8.2006, S. 11). 17 GOGOLIN, Die Verantwortung, S. 12. 18 Ebenda, S. 6.
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dass für die Disponiertheit einer großen Zahl an Jugendlichen und Kindern im deutschen Bildungssystem der Umstand natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit bedeutsam und habituell relevant ist. Eine Ansprache dieser Jugendlichen und Kinder durch die Schule, die ihre Mehrfachzugehörigkeit (z. B. hybride Selbstbeschreibungen, bikulturelle Fertigkeiten und Mehrfachloyalitäten) ernst nimmt, ermöglicht angemessene Bildungsprozesse. Um es allgemein zu formulieren: Anerkennung der mehrfachzugehörigen Disposition von Menschen, für die lebensweltlich zwei natio-ethnokulturelle Zugehörigkeitskontexte von subjektivierender Relevanz sind, ermöglicht ihre Handlungsfähigkeit in dem vorherrschenden Zugehörigkeitskontext (und verändert diesen). Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, über Strukturen pädagogischer Institutionen und Orte nachzudenken, die hybriden und multiplen Zugehörigkeiten anerkennend begegnen. Wichtige Aspekte einer Pädagogik natioethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit sind hierbei: •
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Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeit bedarf einer Einbettung in eine allgemeine Sensibilität für „das Uneindeutige und Mehrwertige“ und seine Wertschätzung. Mehrfachzugehörigkeit stellt eine „Lese“-Perspektive dar und ermöglicht die Erkundung von (natio-ethno-kulturellen) Mehrfachmitgliedschaften, Mehrfachwirksamkeiten, Mehrfachverbundenheiten. Es ist wichtig, die Grenzen der Angemessenheit der Perspektive Mehrfachzugehörigkeit zu erkennen und andere Differenzlinien zu berücksichtigen (gender, Klasse, Behinderung, Sexualität u.s.w.). Es ist sinnvoll, Unterschiede nicht so sehr als gegebene Differenzen anzuerkennen, sondern als Praktiken der Unterscheidung aufzuklären. An-Erkennung von Verschiebungen von Differenzschemata. An-Erkennung national-kultureller Mehrdeutigkeiten, Uneindeutigkeiten, Neuschöpfungen, Dynamiken. Mehrfachzugehörigkeit eher als Innovation, denn als doppelte Wiederholung ermöglichen. (Hybride) Alternativen zum Entweder-Oder-Denken erkunden. Widersprüche, Ambivalenzen, Paralogien, Phänomene des Nichtverstehens als soziale und personale „Intra“-Phänomene erkennen und anerkennen.
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Reflexion der verwendeten Mehrfachzugehörigkeit-Kategorien im Hinblick auf ihre Angemessenheit und die Angemessenheit ihrer Effekte.
Unter der Bedingung einer angemessenen Ansprache der mehrfachzugehörigen Disposition kann die Förderung natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit als Beitrag zur Anerkennung der Disponiertheit beispielsweise vieler Schüler und Schülerinnen in deutschen Schulen, die sich in einer natio-ethno-kulturellen Hinsicht „halb-halb“ oder „bistabil“19 wahrnehmen und darstellen, verstanden werden und zur Kultivierung eines flexiblen und kontextsensiblen Habitus beitragen. Dieser Habitus stellt eine gesellschaftliche Ressource in einer globalisierten Welt dar. Er weist aber auch, was pädagogisch noch wichtiger ist, auf ein Bildungsziel hin – zumindest solange wir einen angemessenen kognitiven, affektiven und sozialen Umgang mit und in natio-ethno-kultureller Differenz, Vielfalt und Veränderung als wünschenswert verstehen. Die Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeiten ist pädagogisch sinnvoll, weil die Anerkennung hybrider Zugehörigkeiten in einer nachdrücklicheren Weise der Anerkennung des Nichteindeutigen, dem Differenten, dem Ungewissen verpflichtet ist. Dies mag zwar administrativ-bürokratischen Ansinnen abträglich sein (z. B. bei der statistischen Erfassung von „Migranten“ und „Nichtmigranten“), aber unter einer bildungstheoretischen Reflexion zeigt sich die Bedeutung des „dekonstruktiven Potenzials“ der Mehrfachzugehörigkeit.20 So sich die Anerkennung von natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit auf das Verhältnis zwischen den „störenden“ dritten Elementen bezieht, die nicht eindeutig werden („deutsch“ oder „türkisch“, „russisch“, „portugiesisch“ u.s.w.), ist sie mit Bezug auf binär strukturierte Zugehörigkeitsordnungen („wir“ oder „nicht-wir“) immer schon irritierend, verändernd und dekonstruktiv.
19 Vgl. MECHERIL, Prekäre Verhältnisse. 20 Zur Strategie der Dekonstruktion und zum pädagogischen Sinn der Dekonstruktion vgl. z. B. Melanie PLÖSZER, Dekonstruktion – Feminismus – Pädagogik. Vermittlungsansätze zwischen Theorie und Praxis, Königstein 2005.
Differenzachsen und Grenzziehungsmechanismen Zum Verständnis des Einflusses gesellschaftlicher Prozesse auf SchülerInnen mit Migrationshintergrund1 B ARBARA H ERZOG -P UNZENBERGER (W IEN )
1. E INFÜHRUNG Grenzziehungsprozesse sind jene sozialen Mechanismen, durch die Gruppen gebildet werden und ihr Fortbestand sichergestellt wird. Diese Prozesse finden aber nicht nur unter Erwachsenen statt, sondern auch unter Kindern etwa ab dem vierten Lebensjahr. Wachsen Kinder von Einwanderern auch in der Gesellschaft ihrer Zukunft auf, sind sie dennoch nicht mit denselben Lebens- und Lernumständen konfrontiert wie Kinder „eingeborener“ Eltern, mit denen sie gemeinsam die zukünftige Gesellschaft bilden. Aufgrund zahlreicher Mechanismen, die in der nationalstaatlichen Ideologie begründet liegen, ist ihre Entwicklung und ihr Zugang zu Wissen in besonderer Weise strukturiert. Der gesetzliche Rahmen, das nationale Selbstverständnis und das Bildungswesen zählen zu den wichtigsten institutionellen
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Die ursprüngliche Version dieses nun leicht veränderten Artikels ist in englischer Sprache unter folgendem Titel erschienen: Learning While Transgressing Boundaries. Understanding Societal Processes Impacting on Students with Migration Background, in: Tanja TAJMEL, Klaus STARL (Hg.), Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunity in Learning Science, Münster–New York 2009, S. 49–63.
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Parametern, welche die aus der Migration resultierenden Gruppengrenzen häufig noch verstärken, statt diese durchlässiger zu machen oder zu transzendieren. Schulen sind nicht nur Orte des Lernens, sondern erfüllen in den modernen Nationalstaaten noch andere Funktionen, die weiter unten dargestellt werden. Das Wissen um die widersprüchlichen Logiken dieser Funktionsbereiche erleichtert das Verständnis der spezifischen Probleme von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Die in weiterer Folge angeführten praktischen Beispiele sind vor allem dem österreichischen Kontext entnommen. Ausgehend von der Hypothese, dass der Zugang zu Wissen und die persönliche Entwicklung auf eine besondere, von der sozialen Stellung des Einzelnen abhängige Weise strukturiert ist, können SchülerInnen mit Migrationshintergrund bei der Entfaltung ihres Potenzials auf spezifische Hindernisse stoßen. Die soziale Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft wird im Wesentlichen von den sozial konstruierten Kategorien Rasse, Geschlecht (männlich/weiblich), Ethnizität (deutsch/türkisch/jugoslawisch …), Klasse (sozioökonomischer Hintergrund der Familie) und legaler Status (der von einem undokumentierten Status bis zu StaatsbürgerInnen reicht) bestimmt. Derzeit sind wir noch weit von einem umfassenden Verständnis der Prozesse entfernt, wie materielle und diskursive Kategorien das Leben und Lernen von Schülern prägen, wie sie im Alltag entstehen, erlebt, immer wieder hergestellt oder auch abgewandelt und abgewehrt werden. Dazu schreibt James A. Banks: „Für die Behandlung der Frage der Benachteiligung von Minderheiten gibt es zu wenige Theorien, sie erfordert umfassendere und differenziertere Erklärungen und Theorien als die bislang existierenden.“2 Im folgenden Beitrag werde ich mich auf den Ansatz der Intersektionalität stützen, der in der feministischen Forschung Anfang der 1980er-Jahre entwickelt wurde und Eingang in viele Forschungsbereiche gefunden hat.3 In sehr verkürzter Form dargestellt, wird davon ausgegangen, dass nicht nur Kategorien wie die oben erwähnten einzeln Einfluss auf das Leben nehmen, sondern diese Kategorien zusammen und zwar in ihrer Verknüpfung wirken, d.h. das Individuum befindet sich an einer bestimmten Schnittstelle
2
3
James A. BANKS, Foreword. Migration, Education and Change, in: Sigrid LUCHTENBERG, Migration, Education and Change, London–New York 2004, S. XIII–XVI, S. XV. Leslie McCALL, The Complexity of Intersectionality, in: Signs Journal of Women in Culture and Society 30/ 3 (2005), S. 1771–1800.
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(engl. „intersection“) von unterschiedlichen Kategorien/Differenzachsen. In unserem Fall bedeutet das, dass sich jedes Individuum an einem bestimmten symbolischen Ort befindet, der den Lernkontext in einer spezifischen Situation beeinflusst bzw. mitkonstituiert. Anstatt zu zeigen, wie sich dies in bestimmten Lernsituationen auf individueller Ebene auswirkt, werde ich im Folgenden auf einer allgemeineren und abstrakteren Ebene versuchen, den Einfluss der verschiedenen Kategorien zu rekonstruieren. Betrachtet man die symbolischen Orte, an denen sich die folgenden zwei gleichaltrigen SchülerInnen befinden, so ist leicht nachvollziehbar, dass ihr Lernen unter unterschiedlichen Voraussetzungen stattfindet: ein Mädchen aus einer armen Familie mit unsicherem legalen Status und „rassisierten“ Merkmalen (also einer Kategorie in einem Schema von „Rassen“), die eine Hauptschule in einer benachteiligten Nachbarschaft besucht, und ein weißer Junge aus einer Mittelschichtfamilie mit sicherem legalen Status, der den naturwissenschaftlichen Zweig einer Schule in einer wohlhabenden Gegend besucht.4 Um die diesen Unterschiedskoordinaten zugrunde liegenden Mechanismen auf gesellschaftlicher Ebene zu erklären, werde ich vorwiegend auf Erkenntnisse aus der Sozial- und Kulturanthropologie, der Politikwissenschaft, der Geschichte und der Soziologie zurückgreifen und darlegen, inwiefern sich die Chancen für Schülerinnen und Schüler, die Angehörige einer benachteiligten Minderheit sind, von jenen der Mehrheitsgruppe einer Gesellschaft unterscheiden.
2. C HANCENGLEICHHEIT Eine der entscheidenden Fragen im Zusammenhang mit kultureller Vielfalt in der Schule ist, wie mit dem Faktum umgegangen wird, dass Kinder aus völlig unterschiedlichen familiären Verhältnissen in das Schulsystem kommen und dort eine mehr oder weniger große Distanz zur vorherrschenden Schulkultur erleben. Von Schule in einer demokratischen Gesellschaft wird die Herstellung von Chancengleichheit gefordert. Was aber ist Chancengleichheit? Chancengleichheit ist ein schwer zu definierender Begriff.
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In einer komplexen sozialen Situation wie in einer Schulklasse ist die Position der anderen Akteure (MitschülerInnen, LehrerInnen …) von ebenso großer Bedeutung wie die eigene Position.
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Er wird seit den 1970er-Jahren immer wieder verwendet, um eine soziale Umgebung zu beschreiben, in der die Entfaltung von Talenten auf individueller Ebene sowie das Prinzip der Leistungsgesellschaft auf gesellschaftlicher Ebene weder durch unveränderliche Merkmale – wie die physischen Eigenschaften einer Person – noch durch ererbte Merkmale – wie den sozialen Status – beeinträchtigt werden. Ethnizität, Religion, soziale Klasse und legaler Status sollten keinen Einfluss auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten haben.
3. L EGALE Z UGEHÖRIGKEIT Beschäftigt man sich mit dem Begriff Chancengleichheit, so ist eine der wichtigsten Fragen jene der Relationalität: „Gleich“ in Bezug auf was? Im Kontext von Einwanderung/Migration ist die Referenzgruppe die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Dies soll anhand des österreichischen Kontexts kurz veranschaulicht werden. Viele EinwohnerInnen mit Migrationshintergrund sind – so lange sie nicht eingebürgert sind – vor allem aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen ihres neuen und im Fall der Kinder ersten und einzigen Heimatlandes benachteiligt. Im Fremdenrecht, aber auch in anderen Gesetzestexten ist festgelegt, wie weit die Ungleichbehandlung von NichtstaatsbürgerInnen zugelassen wird. In Österreich ist diese sehr weitreichend: Zunächst einmal sind Nicht-StaatsbürgerInnen nicht zum Aufenthalt berechtigt; ihr Aufenthaltsrecht wird durch die Verfügbarkeit von Vertragsarbeit (Arbeitsmigration) oder sonstiger finanzieller Ressourcen (Selbstständige oder finanziell Unabhängige) eingeschränkt. Sie dürfen nicht uneingeschränkt arbeiten – um eine Arbeitsbewilligung zu erlangen, muss der Arbeitergeber mit dem Arbeitsmarktservice klären, ob Personen mit einem besseren rechtlichen Status, allen voran mit österreichischer Staatsbürgerschaft, für diese Arbeit zur Verfügung stünden. Solange zugewanderte Personen bzw. ihre Nachkommen nicht eingebürgert sind, sind sie auch nicht zur Teilhabe an politischen Prozessen berechtigt – weder zum aktiven noch zum passiven Wahlrecht. Zahlreiche Sozialleistungen waren oder sind ihnen verwehrt (Wohnbeihilfe, Aus- und Weiterbildungsstipendien, Altersfürsorge …), ebenso sind sie auf beruflicher Ebene von bestimmten Positionen (z. B. vom öffentlichen Dienst) ausgeschlossen.
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3.1 Rechtlicher Status als Differenzachse Vorgeschlagen wird daher, den Rechtsstatus als eine weitere Differenzachse in das Geflecht von Differenzachsen gemäß der Theorie der Intersektionalität einzuführen. Die Hinzufügung einer weiteren Differenzachse ist vor allem dadurch begründet, dass ein Rechtsstatus, der von einem regulären Staatsbürgerstatus abweicht, den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Positionen, somit die Handlungen und Vorhaben von Individuen, tiefgehend strukturiert und einschränkt. So kann die lange Zeit vorherrschende Rückkehrorientierung unter den angeworbenen Arbeitskräften in Österreich in Verbindung gebracht werden mit der jahrzehntelangen rechtlichen Unsicherheit. Dieser unsichere Rechtsstatus sollte es möglich machen – so die staatliche Logik – bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit jene angeworbenen Arbeitskräfte, die nicht mehr gebraucht würden, wieder auszuweisen. Da die „GastarbeiterInnen“ aus Ex-Jugoslawien und der Türkei in Branchen tätig waren, die schneller und stärker von konjunkturellen Schwankungen betroffen waren und sie tendenziell vor den „einheimischen“ MitarbeiterInnen gekündigt wurden, war die Unsicherheit unter ihnen besonders groß – dies ist für die angeworbenen Arbeitskräfte in gewissem Ausmaß heute noch immer der Fall. Allerdings gibt es eine Vielzahl von Abstufungen je nach Herkunftsland bzw. staatlicher Zugehörigkeit, Aufenthaltsdauer, familiärem Status u. Ä. Zum einen sind viele AusländerInnen in der EU auch StaatsbürgerInnen anderer EU-Staaten, was bedeutet, dass sie nahezu gleich behandelt werden müssen wie StaatsbürgerInnen und daher im Vergleich zu Drittstaatsangehörigen stark bevorzugt sind. Auch wurden viele StaatsbürgerInnen aus Drittstaaten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte eingebürgert, was dazu führte, dass die nachgeborenen Kinder bereits als StaatsbürgerInnen jenes Landes geboren wurden, in das ihre Eltern eingewandert sind. Trotzdem sollte weder vergessen werden, dass vergangene Benachteiligung und ein über längere Zeit unsicherer Rechtsstatus in der Familie Langzeitfolgen hat, noch, dass immerhin zehn Prozent der österreichischen Schülerinnen und Schüler nach wie vor ausländische StaatsbürgerInnen sind. Bedenkt man also, wie unterschiedlich der legale Status und die damit einhergehenden Rechte und Pflichten sind, so wird aufgrund der unterschiedlichen Situationen deutlich, dass es wenig Sinn macht, von „SchülerInnen mit Migrationshintergrund“ als einer Kategorie zu sprechen, sondern die jeweiligen Posi-
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tionen in unterschiedliche Differenzachsen, wie oben beschrieben, zu differenzieren. Eine Möglichkeit, die rechtliche Achse zu veranschaulichen, ist eine mehrteilige Skala, welche folgende Abstufungen umfasst: (1) Der positivste Status wäre ein unbeschränkter rechtlicher Zugang durch die Staatsbürgerschaft. (2) Einen nahezu gleichgestellten Status genießen EUBürgerInnen in einem anderen EU-Mitgliedsstaat. (3) Eine niedrigere Stufe auf dieser Skala nähmen BürgerInnen mit einem eingeschränkteren, aber durch bilaterale Abkommen noch immer privilegiertem Zugang ein. (4) Es folgt ein für Drittstaatsangehörige ohne Bevorzugung geschaffener „limitierter“ Zugang und schließlich (5) der Status von undokumentierten bzw. illegalisierten BürgerInnen, als eingeschränkteste Stufe der Skala. 3.2 Unterschiede in den fremdenrechtlichen Systemen in verschiedenen Ländern Die rechtlichen Regelungen der einzelnen Länder weichen drastisch voneinander ab und schaffen damit sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen für die Betroffenen. Der 2011 zum dritten Mal veröffentlichte Migrant Integration Policy Index MIPEX veranschaulicht die unterschiedlichen Regelungen in sieben Bereichen.5 In Schweden beispielsweise sind die Unterschiede zwischen drittstaatsangehörigen AusländerInnen mit langfristiger Aufenthaltsgenehmigung aus Nicht-EU-Ländern und StaatsbürgerInnen beim Zugang zu Ressourcen und bei den Partizipationsmöglichkeiten ziemlich gering (88 von 100 Punkten), in Österreich hingegen vergleichsweise groß (42 von 100 Punkten). 3.3 Legaler Status und Bildung Was haben aber all diese Fragen mit Bildung zu tun? Die Folgen der Exklusion durch gesetzliche Mechanismen können sich, selbst wenn die Nachkommen sofort die Staatsbürgerschaft erhalten wie in jus-soliSystemen, noch in der nächsten Generation zeigen.6 Ein anschauliches Bei-
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Vgl. Migrant Integration Policy Index (MIPEX) (http://www.mipex.eu) (Zugriffsdatum: 6.5.2011). Jus soli bedeutet „Recht des Bodens“, d.h. die Verleihung der Staatsbürgerschaft des Geburtslandes, unabhängig von der Staatsbürgerschaft der Eltern, wie im Falle der USA.
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spiel sind die unterschiedlichen Schulerfolge von SchülerInnen mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, deren Eltern irreguläre Einwanderer in den USA sind, im Vergleich zu jenen, deren Eltern von Beginn an einen regulären legalen Status hatten, sonst aber die gleichen Merkmale – z. B. sozioökonomischer Hintergrund, Herkunftsland und Zeitpunkt der Einreise7 – aufweisen. Zu den kumulativen Auswirkungen auf das Selbstkonzept von Kindern bzw. SchülerInnen in einer unsicheren legalen Situation, bei sozioökonomischer Benachteiligung, geringer Bildungserfahrung der Eltern und Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die als am unteren Ende der sozialen Leiter stehend wahrgenommen wird, gibt es in einigen Ländern, darunter auch Österreich, nur wenige Forschungsarbeiten.8
4. G RENZZIEHUNG Wie individualistisch unsere Gesellschaften und unsere Zeit auch sein mögen, so ist doch niemand eine Monade, die nur für sich allein existiert, schon gar nicht während der Kindheit und Jugend. Daher sind Schülerinnen
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Michael FIX, Margie McHUGH, Aaron Matteo TERRAZAS, Laureen LAGLAGARON, Los Angeles on the Leading Edge. Immigrant Integration Indicators and Their Policy Implications, Washington D.C. 2008; Frank BEAN, Susan BROWN, Mark LEACH, James BACHMEIER, Becoming Stakeholders: The Structure, Nature and Pace of U.S. Integration Among Mexican Immigrants and Their Descendants, Report to the Merage Foundation for the American Dream Symposium on Immigrant National Leaders, University of Irvine, Mai 2007. Einen Ausgangspunkt bieten Robert Rosenthal und Lenore Jacobson die in ihrem wichtigen Buch Pygmalion in the Classroom: Teacher expectation and pupils’ intellectual development (1968) die grundlegenden Mechanismen erklären; für die deutschsprachige Leserschaft gibt Schofield einen Überblick über die Ergebnisse im Hinblick auf stereotype Bedrohungen sowie über die Auswirkungen einer Einteilung der SchülerInnen nach Leistungsgruppen und der Erwartungen des Lehrers. (Janet Ward SCHOFIELD, Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungserfolg. Forschungsergebnisse der pädagogischen, Entwicklungs- und Sozialpsychologie, AKI-Forschungsbilanz, Berlin 2006). Nicht zu vergessen die Klassenreproduktion durch das Erziehungssystem, die sich auf Bourdieu, Boudon und Bernstein stützt. (Vgl. Pierre BOURDIEU, Reproduction in Education, Society and Culture, London 1977; Raymond BOUDON, Education, opportunity and social inequality. Changing Perspectives in Western Society, New York 1974; Basil BERNSTEIN, Pedagogy, Symbolic Control and Identity, Theory, Research, Critique, 2. überarb. Aufl., Lanham/Md. 2000).
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und Schüler nicht nur Individuen; sie erleben sich selbst als Angehörige von Gruppen oder Kategorien und werden auch von anderen so erlebt (weiblich/männlich; Katholik/Protestant/Moslem/Atheist …; unteres Proletariat/Proletariat/Kleinbürgertum …; städtisch/ländlich usw.). Die großteils unbewusst ablaufenden Prozesse der Kategorisierung sind dem Bemühen des menschlichen Verstands geschuldet, Ordnung in eine beängstigend komplexe Welt zu bringen.9 Wir teilen unsere gesamte Umgebung, nahezu alles, was wir erleben, in Kategorien ein. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass wir dazu neigen, mit Menschen, je nach Zugehörigkeit zu einer in unserem Denken etablierten Kategorie, wenn auch unbewusst, so doch unterschiedlich umzugehen. Kinder lernen durch den Umgang mit anderen Menschen – mit anderen Kindern am Spielplatz, im Kindergarten, in der Schule, mit Erwachsenen im privaten und öffentlichen Raum – nicht nur etwas über ihre Umgebung, sondern auch etwas über sich selbst und ihre Fähigkeiten. Viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund machen irritierende Erfahrungen, gerade weil ihre Zugehörigkeitsmuster von den als „normal“ geltenden Mustern abweichen. Darüber hinaus werden Zugehörigkeitskategorien meist dichotom gesehen, als würden sie einander ausschließen. Erwartet wird häufig, dass man entweder Österreicher/Deutscher/Schweizer oder Türke/Kurde/Serbe/Kroate ist. Ein TurkoÖsterreicher zu sein, ist noch nicht „normal“, es irritiert die InteraktionspartnerInnen zumeist. Es ist also nicht besonders angenehm, zu einer neuen Kategorie zu gehören, denn dies braucht mehr Aufmerksamkeit und Kraft. Kategorien, wie sie für den Großteil der zweiten Generation passend wären, sind erst im Begriff, sich zu etablieren und müssen daher um ihr Recht auf Normalität kämpfen. Normalität besteht dann, wenn man sich weder zu erklären noch zu rechtfertigen braucht, wenn man also einer etablierten Gruppe angehört, insbesondere der in vieler Hinsicht privilegierten Mehrheit. Offensichtlich bestehen Gruppen nicht per se, sondern entstehen durch Interaktion und Diskurs, durch politische Steuerung und gesellschaftliche Institutionen. Diese Erkenntnis gilt sowohl für ethnische und nationale Gruppen als auch für jede andere Art von Gruppen.
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Vgl. Claudia STRAUSS, Naomi QUINN, A Cognitive Theory of Cultural Meaning, Cambridge 1997.
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4.1 Ethnizität und Kultur Lange Zeit hindurch wurden ethnische Gruppen mit „kulturellen“ Gruppen gleichgesetzt. Man ging davon aus, dass Angehörige derselben ethnischen Gruppe dieselbe Kultur teilen würden, gerade so als ob „Kultur“ eine genau identifizierbare Entität wäre. Im Zuge anthropologischer Forschungen wurde immer deutlicher, dass kulturelle Grenzen nicht scharf gezogen sind und nur wenige kulturelle Merkmale, gerade bei benachbarten Gruppen, die Gruppengrenzen nicht überschreiten. Außerdem unterscheiden sich Angehörige derselben ethnischen oder nationalen Kategorie ganz offenkundig in vielerlei Hinsicht voneinander, abhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund, ihrer regionalen Ansässigkeit, ihrem Geschlecht, ihrer Religion, ihrer Ideologie und anderen Differenzachsen. Wenn wir ein Beispiel aus Österreich nehmen, so ist es ziemlich schwierig, die gemeinsame Kultur einer konservativen katholischen Bergbäuerin in Tirol, eines atheistischen sozialistischen Stahlarbeiters in einer mittelgroßen Stadt wie etwa Linz und eines liberalen protestantischen Bürgerlichen, das heißt Angehörigen der oberen Mittelschicht, im großstädtischen Wien auszumachen. Abgesehen von ihrem Tagesablauf, ihrem Wertesystem und ihren Ritualen, die stark voneinander abweichen, würden auch ihre Dialekte und Soziolekte einige Schwierigkeiten für die Kommunikation mit sich bringen, obwohl sie sich alle als Vertreter der österreichischen „Kultur“ verstehen. In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation zwischen VertreterInnen einer „Kultur“ jedoch sehr begrenzt, da die Menschen vor allem in ihren sozialen „Kreisen“ bleiben. Ein großer Teil dessen, was als gemeinsames kulturelles Verständnis angesehen wird, wird erst in der Schule erlernt und durch administrative Strukturen und zugehörige Abläufe als auch durch Medien und andere Diskurse konstruiert. 4.2 Unterschiede und Gleichheiten Die „objektive“ Summe der Unterschiede oder Übereinstimmungen ist daher für die Existenz einer ethnischen Gruppe ebensowenig entscheidend wie für die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer ethnischen Gruppe. Die Existenz einer ethnischen Gruppe hängt vielmehr von den Grenzziehungsmechanismen ab. Reale oder imaginierte Unterschiede werden im diskursiven Prozess zum Unterscheidungsmerkmal zwischen Gruppen.
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Diese Kennzeichen können winzige Unterschiede in der physischen Erscheinung, bei der Kleidung oder bei Gewohnheiten sein, sie können sich aber auch auf Unterschiede in der Einstellung oder im Wertesystem beziehen. Die Bedeutung bestimmter Kennzeichen verändert sich über die Zeit ebenso wie sich Gruppengrenzen verschieben. Wie AnthropologInnen,10 PolitikwissenschaftlerInnen11 und SoziologInnen12 festgestellt haben, ist es genau dadurch möglich, Grenzen zu überschreiten und Gruppenzugehörigkeiten zu wechseln; es können die Grenzen zwischen vormalig distinkten Gruppen aber auch verschwimmen, indem beispielsweise Unterschiede an Bedeutung verlieren. Schließlich kann sich die gesamte Grenze verschieben und das Selbstbild der Gruppe umfasst dann auch Gewohnheiten, Werte usw., die zuvor als Kennzeichen der anderen Gruppe gesehen wurden. Ebenso kann es vorkommen, dass eine komplett neue Gruppe entsteht, wie z. B. die Kreolen in der Karibik, die als Hybridgruppe aus der Vermischung der einheimischen Bevölkerung und den nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven entstanden. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, vor allem Erben der „Gastarbeiterpolitik“, erleben genau diese Prozesse. Diese können auf einem Kontinuum eingeordnet werden, an dessen einem Ende die totale Assimilation steht, die Kinder distanzieren sich also von der Herkunftskultur ihrer Eltern und werden quasi zu einem ununterscheidbaren Teil der Mehrheitsgesellschaft. Am anderen Ende des Kontinuums wäre die möglichst weitgehende Persistenz, die Fortführung oder „Rückkehr“ zu einer eventuell imaginierten Herkunftskultur der Eltern. Dazwischen finden all die anderen Spielarten individueller Verortung und Patchworkprozesse statt, die aus beiden Identitätsquellen – die der elterlichen Herkunftskultur und die der Mehrheitsgesellschaft – schöpfen. Dies kann einerseits ein situationsabhängiges Pendeln zwischen den beiden Gruppen und ihren kulturellen Formen sein – Zugehörigkeitsgefühle, Loyalität und Gewohnheiten –, andererseits ist es möglich, dass mehr oder weniger bewusst eine neue Ka-
10 Vgl. Fredrik BARTH, Introduction, in: Fredrik BARTH, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, Oslo 1969, S. 9–38. 11 Vgl. Rainer BAUBÖCK, The Integration of Immigrants, Council of Europe, Strassburg 1994. 12 Vgl. Tamotsu SHIBUTANI, Kian M. KWAN, Robert H. BILLIGMEIER, Ethnic Stratification: A Comparative Approach, New York 1965; Richard ALBA, Victor NEE, Remaking the American Mainstream. Assimilation and Contemporary Immigration, Cambridge 2003.
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tegorie geschaffen wird, indem aus beiden Gruppen bestimmte Aspekte herausgegriffen, verbunden und neue Praktiken geschaffen und benannt werden. Nicht nur Nachkommen von EinwanderInnn, aber besonders diesen stellen sich folgende Fragen mitunter sehr nachdrücklich: Gehöre ich zu dieser Gesellschaft? Akzeptiert sie mich als vollwertiges Mitglied? Und will ich überhaupt zu dieser Gesellschaft gehören? Selbst wenn ein junger Mensch die letzte Frage mit einem klaren Ja beantwortet, bedeutet das noch nicht, dass sein eigenes Zugehörigkeitsgefühl von den etablierten Mitgliedern der Gruppe akzeptiert wird. So können die vorherrschenden Diskurse in Politik und Medien eindeutig signalisieren, dass neue Mitglieder solange nicht erwünscht sind, als sie sich nicht voll assimilieren, nur in der Mehrheitssprache kommunizieren und sich äußerlich und „innerlich“ völlig anpassen. Und selbst bei einer vollständigen Anpassung kann die elterliche Herkunft als Grenzmerkmal gesehen und von anderen als Hinweis auf die Zugehörigkeit zur elterlichen Gruppe gedeutet werden. 4.3 Religionszugehörigkeit, Genderbeziehungen und Sprachkompetenz Zu Beginn dieses Beitrags wurde die Positionierung des Subjekts am Schnittpunkt der in einer Gesellschaft signifikanten Differenzachsen beschrieben.13 Dabei geht es aber nicht um ein simples Addieren, sondern vielmehr um eine Multiplikation – die Differenzachsen überschneiden sich und beeinflussen einander. Die Frage, welche Unterschiede in der Schule jenseits der Leistungsparameter am entscheidendsten sind, muss jeweils kontextabhängig, also vom unmittelbaren sozialräumlichen Schulkontext,
13 Die Frage, welche Unterschiede am wichtigsten sind, wenn es tatsächlich nur eine begrenzte Zahl von Kategorien gibt, die für die Intersektionalität von Bedeutung sind, und wenn unter diesen eine gewisse Hierarchie festgelegt werden kann (wobei Gender, „Rasse“ oder Ethnizität die wichtigsten Unterschiede sind), kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. (Siehe auch: Hakan GÜRSES, Barbara HERZOG-PUNZENBERGER, Karl REISER, Sabine STRASSER, Dilek CINAR, The Necessary Impossibility: Dynamics of Identity among Youth of Different Backgrounds, in: Journal of International Migration and Integration 2/1 (2001), S. 27–54, hier: S. 33–35). Dieses analytische und praktische Problem ist im Grunde nicht gelöst.
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und situationsabhängig beantwortet werden. Dennoch können seit Ende der 1990er-Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung, einige allgemeine Entwicklungen beobachtet werden, die für nahezu alle europäischen Länder relevant sind. Religionszugehörigkeit, Genderbeziehungen und Sprachkompetenz haben bei der Grenzziehung zwischen Gruppen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Das kann auch als Reaktion auf die abnehmende Bedeutung des legalen Status für Zugewanderte und deren Kinder verstanden werden, da viele eingebürgert wurden und die gesetzliche Diskriminierung, etwa innerhalb der Europäischen Union für EU-BürgerInnen, relativ gering ist. 4.3.1 Religionszugehörigkeit In den letzten Jahren erlebten SchülerInnen, die sich dem Islam zugehörig fühlen oder von anderen so wahrgenommenen werden, besonders offenkundige Grenzziehungen seitens der Mehrheitsgesellschaft. Alltagsdiskurse, Medien und politische Parteien schaukelten sich gegenseitig hoch in der Abgrenzung und Ausgrenzung des Islam. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Aktivitäten von Terroristen, welche versuchten, eine binäre Sicht der Welt zu konstruieren, in der einerseits der fundamentalistische Islam die Lösung aller (politischen) Probleme und die letztgültige Wahrheit und andererseits alles andere ein Übel wäre und zerstört werden müsse. Dabei ist auch nicht zu übersehen, dass manche (west)europäische und USamerikanische PolitikerInnen oft eine komplementäre Rolle einnehmen, indem sie sich nahtlos in dieses binäre Muster einfügen. Die Definition von Freunden und Feinden, die Charakterisierung einiger Länder als „Achse des Bösen“ und Aussprüche wie „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ sind beste Beispiele für eine vom „Westen“ geförderte binäre Weltsicht. 4.3.2 Wir sind jetzt alle Feministen! Wie Österreich ein feministisches Land wurde Bei der diskursiven Unterscheidung zwischen europäischen Gesellschaften und muslimischen EinwanderInnen – in der Mehrzahl Arbeitsmigranten mit einem niedrigen sozialen Status – wurden in den meisten europäischen Ländern nicht nur die Unterschiede in der Religionszugehörigkeit hervorgehoben, sondern auch Unterschiede in den Genderbeziehungen. Besonders deutlich zeigte sich die Intersektionalität im Fall muslimischer Frauen. Innerhalb sehr kurzer Zeit war Gendergleichheit keine nur feministische Frage mehr. Die gesamte (österreichische/deutsche/niederländische....) Gesell-
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schaft definierte sich mit einem Mal über die Gendergleichheit und setzte sich in Gegensatz zu den muslimischen oder türkischen EinwanderInnen, die als anachronistisch rückwärtsgewandt beschrieben wurden.14 Die jeweilige „Kultur“ der Anderen wurde zum Symbol für Genderungleichheit. Bei einer solchen Gegenüberstellung kommt es zu Verallgemeinerungen und Homogenisierung auf beiden Seiten – alle „türkischen“ Frauen werden gleichsam zu unterdrückten, benachteiligten, unfreien Objekten, während im Gegensatz dazu die österreichischen (deutschen/niederländischen ...) Frauen zu freien, gleichberechtigten, selbstbestimmten Subjekten werden. Die sachlichen Widersprüche werden beiseite geschoben oder als vergleichsweise unwichtig dargestellt: Tatsache ist, dass auch in der österreichischen Gesellschaft das Einkommen von Männern und Frauen immer noch beträchtlich auseinanderklafft, Hausarbeit immer noch weitgehend ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt und die Obsorge für Kinder und ältere Verwandte immer noch vor allem eine weibliche Aufgabe ist.15 Oft wird der Hinweis auf wissenschaftliche Daten, die ein viel komplexeres Bild der Mehrheitsgesellschaft wiedergeben, unterlassen.16 Selbst die konservativsten politischen Parteien haben in dieser Situation ihre Mission für Gendergleichheit erkannt, auch wenn sie ihr Profil noch vor wenigen Jahren auf Familienwerten aufbauten, die an die traditionellen Genderrollen gebunden waren, denen zufolge die Frauen zu Hause bleiben, sich um Heim und Kinder kümmern und für den Ehemann sorgen sollten.17 4.3.3 Sprachkompetenz wird immer wichtiger Eine ähnlich deutliche Verschiebung hat sich im Bereich der Sprachkompetenz vollzogen. Im Zuge der Transformation von einer Industrie- zu einer
14 Vgl. Heinz FASSMANN, Ursula REEGER, Sonja SARI, migrantinnen bericht 2007, Wien 2007. 15 Bundesministerium für Frauen und öffentlicher Dienst: Österreichischer Frauenbericht 2010 (http://www.frauen.bka.gv.at/site/7207/default.aspx , Zugriffsdatum: 6.5.2011). 16 In einer kürzlich veröffentlichten Studie über Jugendliche in Österreich wurde gezeigt, dass mehr als die Hälfte der 16- bis 25-jährigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund nicht an Gendergleichheit glaubt. (Vgl. Regina POLAK, Ingrid KROMER, Christian FRIESL, Lieben. Leisten. Hoffen. Die Wertewelt junger Menschen in Österreich, Wien 2008). 17 Die gleiche Dynamik lässt sich in Bezug auf Homosexualität beobachten, vor allem in den Niederlanden, wo ein Foto, auf dem zwei Männer einander küssten, Teil des Tests zur Erlangung der Staatsbürgerschaft war.
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Dienstleistungsgesellschaft hat sich auch die Rolle der Sprache am Arbeitsmarkt gewandelt. Zur Zeit der Gastarbeiterrekrutierung kümmerten sich die meisten Gesellschaften nicht darum, wie die ungelernten Arbeiter sich verständigen konnten.18 Sie mussten nur die wenigen Worte lernen, um in der von ihren Arbeitgebern erwarteten Weise zu „funktionieren“. Für die meisten Einheimischen war die Verständigung mit „Gastarbeitern“ nicht von großem Interesse. Die Arbeitskollegen waren oft Nichteinheimische mit derselben oder einer anderen nichtdeutschen Muttersprache. Die Einheimischen sprachen mit den ausländischen Arbeitskräften fallweise in einem „restringierten Code“, der dann konsequenter Weise als „GastarbeiterDeutsch“ von den Lernenden repliziert wurde. Typische Ausdrucksmittel waren die Nennform anstelle des konjugierten Verbs und eine falsche Satzstellung, die an eine früher übliche Kommunikation mit Kleinkindern erinnerte. So darf es nicht verwundern, dass sich die Sprachkompetenzen der langfristig angeworbenen Arbeitskräfte im Laufe der Zeit nicht deutlich verbessert haben. Für viele ausländische Arbeiterskräfte gab es wenige Anreize oder Gelegenheiten, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern, umso mehr galt dies für Familienangehörige, die später nachzogen und vor allem zu Hause arbeiteten, wie z. B. Hausfrauen mit mehreren Kindern. Gleichzeitig waren auch die eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten der einheimischen Bevölkerung im vergleichbaren Arbeitsmarktsektor nicht von großem Interesse. Lange Zeit hindurch wurde der sekundäre Analphabetismus unter den einsprachig deutschsprachigen Österreicherinnen und Österreichern vernachlässigt und in vielen Ländern gab es kaum Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Erst als die PISA-Studie aufzeigte, dass z. B. im Falle Österreichs mit 72 % die Mehrheit der gefährdeten 15-jährigen Schüler (geringe Lese- und Schreibfähigkeiten) tatsächlich einsprachig deutschsprachige Einheimische sind, war klar, dass Sprachprobleme nicht das exklusive Problem von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sind.19
18 Das gilt für verschiedene europäische Länder in unterschiedlichem Maße. Eines der frühen Beispiele eines anderen Ansatzes war Schweden. Als Ergebnis von Verhandlungen zwischen der Arbeitgebervereinigung und den Gewerkschaften hatten Einwanderer in den 1990er-Jahren ein Recht auf Sprachunterricht. 19 U. SCHWANTNER, C. SCHREINER (Hg.), PISA 2009: Internationaler Vergleich von Schülerleistungen, Graz 2010, S. 48–49.
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5. N ATIONALE I DENTITÄT Während im Abschnitt über Grenzziehung anthropologische Erkenntnisse diskutiert wurden, soll im Folgenden der historische Hintergrund des Nationalstaats, seine Rolle als homogenisierende Kraft und seine Verbindung zu Unterricht und Ausbildung behandelt werden. Nationale (oder ethnische)20 Identität wird oft als Hauptkoordinate der Unterschiede wahrgenommen. Die nationale Identität ist ein Konstrukt, das von Eliten eines Kollektivs hergestellt und gepflegt werden muss. Eine Nation wird als eine sich politisch selbst verwaltende, territorial verbundene Einheit verstanden, deren Bevölkerung idealerweise eine bestimmte Kultur (Sprache, Religion) teilt und die sich auf einen gemeinsamen Ursprung und daher eine gemeinsame Geschichte beruft. Es wurde oft versucht, die Legitimität dieses Konstrukts durch Erzählungen herzustellen, in denen die Nation als Schicksalsgemeinschaft mit Wurzeln „bis in die graue Vorzeit“ dargestellt wurde.21 Erfolgreiche Unterdrückungsmechanismen und gewalttätige Auseinandersetzungen, mithilfe derer andere Kulturen, Sprachen und Religionen verdrängt oder ausgelöscht wurden und die vorherrschende Kultur gefestigt und damit allen Untertanen aufgezwungen werden konnte, wurden oftmals in der Geschichtsschreibung verschwiegen oder verzerrt dargestellt.22 Aufgrund des latenten, d. h. nicht bewussten Konstruktionscharakters kollektiver Identitäten ist es sogar möglich, eine nationale oder ethnische Identität zu naturalisieren. In der Geschichte hat dies zu einer Verbindung von Kultur/Sprache und Körper/Blut/Genen geführt, die im 20. Jahrhundert mit der Vorstellung einherging, dass bestimmte Gruppen von Menschen nicht assimiliert werden könnten.
20 Da Nationen multiethnisch oder Staaten multinational sein können, ist die Grenze zwischen Nation und ethnischer Gruppe nicht so eindeutig, wie dies auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Während der Begriff „Nation“ stets den Willen zur politischen Selbstverwaltung z. B. eine staatliche Struktur, impliziert (es gibt aber auch Nationen ohne Staat wie die Kurden oder Palästinenser), sind ethnische Gruppen üblicherweise solche, die alle anderen Merkmale mit den Nationen teilen außer der Machtposition. 21 Vgl. Eric HOWSBAWM, Terence RANGER, The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 22 Ein Beispiel aus Österreich: Die Tatsache, dass weite Teile Österreichs vor der Gegenreformation protestantisch waren – in einigen Ländern sogar die Mehrheit der Bevölkerung –, wurde unter dem Mythos begraben, Österreich sei seit der Christianisierung das katholische Land.
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Migration wird oft als die vorrangige Kraft bei der Diversifizierung heutiger Gesellschaften gesehen. Diese Gesellschaften wiederum werden jeweils als weitgehend homogene Einheit, eben „Nationen“, gedacht. Einige wurden schon früher als Nation bezeichnet – wie die französische Nation bereits Ende des 18. Jahrhunderts –, andere erst später – die österreichische Nation beispielsweise erst nach dem Ersten Weltkrieg, eine Auffassung, die von der Mehrheit der Bevölkerung dieses Staatsgebildes überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde. Während das institutionelle Gedächtnis dazu neigt, nur jene Aspekte hervorzuheben, die in den vorherrschenden Rahmen passen, erzählen die historischen Fakten oftmals eine ganz andere Geschichte. In vielen städtischen Gebieten gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende sprachliche, religiöse und kulturelle Heterogenität. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurde Österreich als Deutsch sprechendes, katholisches Land konstruiert, ohne die Homogenisierungsversuche und den Assimilationsdruck im Verlauf seiner Geschichte zu reflektieren, beginnend mit der Gegenreformation im 16. Jahrhundert bis hin zur nationalsozialistischen Auslöschung aller Gruppen und Minderheiten, die nicht zum germanischen Ideal im 20. Jahrhundert passten. Auch wenn es in einigen Epochen der Geschichte besonders gewaltsame Homogenisierungsprozesse gab, so erfolgten diese häufig sehr subtil, nahezu unbemerkt, wobei die monistische Normalität einfach durch alltägliche Praktiken und Gewohnheiten, Massenmedien und Erziehung geschaffen wurde. Eine der wichtigsten Einrichtungen für die kulturelle Homogenisierung ist die Schule.
6. D AS S CHULSYSTEM Die schulische Ausbildung hat in einer modernen Gesellschaft mehrere Funktionen. Ernest Gellner23 beschrieb in seiner Theorie des Nationalismus, warum Nationalstaaten ohne Schulen nicht funktionieren würden. Im Gegensatz zu den agrarischen Gesellschaften beruht die moderne industrielle Wirtschaft auf Arbeitsteilung, die Arbeitskräfte benötigt, die in der Lage sein müssen, mit anonymen Anderen über komplexe Dinge zu kommunizieren. Das ist einer der Gründe, warum eine Grundausbildung oder ver-
23 Ernest GELLNER, Nations and Nationalism, Oxford 1983.
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pflichtende Erziehung für einen Staat mit moderner Wirtschaft notwendig ist. Dem füge ich noch hinzu, dass der Schulbesuch in den heutigen Gesellschaften vier unterschiedliche Funktionen hat: •
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Individuell-persönlichkeitsbildende Funktion: Die Schule stellt bestimmte Bedingungen für die Entwicklung von Fähigkeiten und Begabungen der einzelnen SchülerInnen im kognitiven, emotionalen, sozialen und physischen Bereich zur Verfügung. Ökonomische Funktion: Die Schule bereitet den Einzelnen auf das Arbeitsleben bzw. bestimmte Positionen am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft vor und versucht, die Bevölkerung nach den Erfordernissen der Wirtschaft zu formen und so bestimmte Qualifikationen zur Verfügung zu stellen. Politische Funktion: Die Schule sichert die Aufrechterhaltung der Stabilität des politischen Systems, in Österreich eben des demokratischen Rechtsstaates. Sie formt das Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Auffassung von Rechten und Pflichten. Kulturelle Funktion: Die Schule reproduziert eine spezifische (oft regionalisierte) Variante der nationalen Hochkultur. Sie ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, die Sprache, Symbole und Codes der nationalen Hochkultur zu verstehen und zu verwenden.
Im Gegensatz zu anderen Lernumgebungen hat die schulische Ausbildung in der Zeit, in der sie für Kinder verpflichtend ist, nicht nur eine individuellpersönlichkeitsbildende und wirtschaftliche,24 sondern auch eine eindeutig politische Funktion, die in engem Zusammenhang mit der kulturellen Funktion, nämlich der Reproduktion des Nationalstaates mit seiner spezifischen kollektiven Identität, steht.25 Dabei gibt es zwei Dimensionen: Zum einen die Schule als Institution, die sicherzustellen versucht, dass der Einzelne sich mit dem politischen Gemeinwesen, dem Land, dem Nationalstaat, in dem die Schule beheimatet ist oder zu dem sie gehört, identifiziert. Neben dieser Identifizierung, d.h. der emotionalen Dimension der politischen
24 Das gilt auch für die meisten formellen und informellen Ausbildungen, die nicht an die Schule gebunden sind. 25 Vgl. Werner SCHIFFAUER, Gerd BAUMANN, Riva KASTORYANO, Steven VERTOVEC (Hg.), Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern, Münster 2002.
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Funktion, gibt es zum anderen auch eine kognitive Dimension: Damit die BürgerInnen untereinander und mit dem Staat kommunizieren können, nicht nur im wörtlichen, sondern auch im symbolischen Sinne, müssen sie die Sprache und die Entschlüsselung der „Zeichen“ lernen. Jede nationale Identität zeigt sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen, räumlich in Zeichen, Namen, Symbolen, Denkmälern und anderen Bauten – vor allem im öffentlichen Raum – sowie in Landkarten,26 zeitlich durch die Einteilung der Tage, Wochen (freie Sonntage) und des Jahres sowie durch Feiertage (z. B. christlicher Kalender), administrativ durch Datenerhebungen wie Volkszählungen, Register und, nicht zuletzt, durch professionelles Gedenken in Museen und historischen Schriften. Warum aber fällt es der Schule so schwer, auf die veränderte Realität in der Migrationsgesellschaft, die durch ein neues Maß an Heterogenität oder, wie es Steven Vertovec27 genannt hat, „Superdiversität“, geprägt ist, zu reagieren? Eine mögliche Erklärung liegt in den Spannungsfeldern, die gesellschaftlich ohnehin grundlegend vorhanden sind, sich aber in der Schule als Kerninstitution, durch die alle BürgerInnen durchgehen müssen und daher geformt werden, kristallisieren. In folgender Tabelle wird ein Modell der Schule, ihrer vier Funktionen und die ihnen zugeordneten Codes und Prinzipien vorgestellt. Es soll die grundlegenden Spannungen zwischen den Funktionsfeldern veranschaulichen: Links liegt die individuell-persönlichkeitsbildende und kulturell-nationale Funktion und rechts die ökonomische und politische Funktion. Beide sind auf der Gleichheitsachse einander gegenüberliegend positioniert. In der linken Spalte stehen sich ein familiär-partikualistischer Code mit dem Prinzip der Ungleichheit einem kollektivistisch-vereinheitlichendem Code mit dem Prinzip der Gleichheit gegenüber. Während unter Verweis auf die Menschenrechte argumentiert wird, dass jedes Kind das Recht hat, gemäß seinen Fähigkeiten, Talenten und Vorerfahrungen in der Schule optimal gefördert zu werden,28 orientiert sich die Schule gleichzeitig an einer
26 Die nationale Wettervorhersage in den österreichischen öffentlichen TVSendern ORF1 und ORF2 beispielsweise umfasst auch Südtirol, das zu Italien gehört, dessen EinwohnerInnen aber als Nachkommen von Österreichern gesehen werden. 27 Vgl. Steven VERTOVEC, The Emergence of Super-Diversity in Britain. Center on Migration, Policy and Society, University of Oxford, Working paper 25, 2006. 28 Vgl. K. TOMAŠEVSKI, Human Rights Obligations: making education available, accessible, acceptable and adaptable. Right to Education Primer 3, Stock-
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Tabelle 1: Modell der Funktionen der Schule, der ihnen zugeordneten Codes und Prinzipien Funktion Beschreibung
individuellpersönlichkeitsbildend Entfaltung der individuellen Talente und Fähigkeiten für die Selbstverwirklichung
Code
familiär-partikularistisch
Prinzip
ungleich
Funktion Beschreibung
kulturell nationalsprachlichsymbolische Reproduktion des Gemeinwesens kollektivistischvereinheitlichend gleich
Code Prinzip
ökonomisch Vermitteln von Kenntnissen und Fertigkeiten für den Arbeitsmarkt, Zuweisungsfunktion gesellschaftlicher Statuspositionen marktgesteuert, hierarchisch ungerecht politisch Wertereproduktion der rechtsstaatlichen Demokratie egalitär gerecht
kulturellen Vereinheitlichung, die vor allem durch ihre Bewertungssysteme durchgesetzt wird und so die Kinder ständigen Auf- und Abwertungsprozessen aussetzt. So kann der Dialekt des einen Kindes wie auch seine allmorgendliche Tätigkeit (z. B. im elterlichen Stall) negative Bewertung erfahren, während der statushohe Soziolekt und das morgendliche Klavierspiel des anderen Kindes positiv bewertet werden. Beide Kinder sind für diese Fähigkeiten und Tätigkeiten nicht verantwortlich, erfüllen familiäre Vorgaben und Notwendigkeiten und müssen zudem, der kindlichen Psychohygiene folgend, loyal zu ihren Eltern sein. In der Schule aber begegnen sie einem Bewertungssystem, das ihre Tätigkeiten und Fertigkeiten vermittelt durch die Autorität der Lehrkraft in einem hierarchischen System sehr
holm: SIDA 2001 (http://www.right-to-education.org/sites/r2e.gn.apc.org/files/ B6g%20Primer.pdf , Zugriffsdatum: 16.7.2011).
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unterschiedlich positioniert. Ähnlich ist es mit dem Widerspruch zwischen den Prinzipien in der Wirtschaft und im demokratischen Rechtsstaat in der rechten Spalte. Während Schulabschlüsse verschiedenste berufliche Positionen zugänglich machen und, damit verknüpft, Arbeitstätigkeiten sehr unterschiedliche monetäre Bewertung erfahren, zählt bei der Wahl der VolksvertreterInnen in einer Demokratie jede Stimme gleich viel und vor dem Recht sollte jede/r BürgerIn gleich behandelt werden. Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund bringen neue Differenzen mit sich. Die Erhöhung der ungleichen Eingangsvoraussetzungen erhöht auch die ohnehin vorhandene Spannung zwischen den widersprüchlichen Prinzipien der Funktionen der Schule. Es kann hier nicht im Detail diskutiert werden, welche Maßnahmen und Prozesse für die Schulentwicklung an diesem Punkt notwendig wären. Ein wesentlicher Schritt zum Abbau der Spannung wäre, wenn sich die national-kulturelle Selbstbeschreibung der realen Vielfalt anpassen würde und so die Reproduktion die hinzugekommenen Elemente neuer Sprachen, Religionen, Kulturen berücksichtigen würde. Ist das nicht der Fall, wird für die Institution Schule die Spannung beträchtlich erhöht. 6.1 Primär- und Sekundärsozialisation Hochbewertete Verhaltensweisen und ebensolches Wissen werden in der Schule als sekundärer Sozialisationsinstanz vermittelt. Es hängt von den Ressourcen und der Einstellung der Familie – und nicht zuletzt von deren sozialem Hintergrund – ab, ob Kinder mit dem schulischen Wissen, Kommunikationsformen und vielen Verhaltensweisen, die sie in der Schule erleben, vertraut sind. Vor allem bei Schuleintritt können Kindern aus einem bildungsfernen Milieu29 viele Dinge mehr oder weniger fremd erscheinen. Die erste Sozialisation der Kinder erfolgt in der Familie. Diese Erfahrungen und Fähigkeiten werden dann bei der zweiten Sozialisation in öffentlichen Einrichtungen, wie Kindergärten oder insbesondere Pflichtschulen transformiert. Kinder lernen nicht nur Mathematik und Naturwissenschaften, Lesen und Schreiben sowie sich künstlerisch und physisch auszudrücken,
29 Vgl. Matthias GRUNDMANN, Daniel DRAVENAU, Uwe H. BITTLINGMAYER, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraxen und ihrer Ungleichheitsrelevanz, Berlin u. a. 2006.
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sie lernen auch, inwieweit sie einer bestimmten Gemeinschaft, Nation, oder einer bestimmten sozialen Klasse angehören. Sie lernen auch, was es bedeutet, ein/e gute/r BürgerIn zu sein und was „normal“ in dieser Gesellschaft ist. Deshalb ist die Schule ein entscheidender Ort für Kinder, ihre Selbsteinschätzung zu entwickeln und ein Gefühl für ihren Platz in der Gesellschaft zu erlangen. Abhängig von den Lehrenden und der Klassenzusammensetzung sowie von der Einstellung der Eltern können Kinder die Herausforderungen, mit denen sie in der Schule konfrontiert werden, entweder als ein natürliches Hineinwachsen in die Gesellschaft oder aber als eine Reihe kleinerer oder größerer Provokationen erleben, die schließlich in dem Bedürfnis der Selbstverleugnung ihres familiären Hintergrunds und letztlich in einer tiefen Verunsicherung münden können. Ein Gefühl der Entfremdung kann aus Unterschieden der sozialen Klasse, der Sprache (einschließlich Soziolekt oder Dialekt), der Religionszugehörigkeit, des kulturellen Hintergrunds und auch der sexuellen Orientierung resultieren. 6.2 Sozioökonomischer Hintergrund Bislang haben wir uns mit Unterschieden in Hinblick auf Gender, Nation/ Ethnizität, Sprache, Religion und legalen Status beschäftigt – der wichtigste Unterschied ist aber immer noch der sozioökonomische Hintergrund. Obwohl es hinsichtlich der Mechanismen der zwischen den Generationen ablaufenden Prozesse bei der Weitergabe von Bildungserfolg noch viel zu erforschen gibt, wissen wir doch um die Macht des „sozialen Erbes“. Wichtig auf der gesellschaftlichen Ebene und der Ebene der politischen Gestaltung ist, dass die unterschiedlichen Schulsysteme der intergenerationellen Vererbung in unterschiedlichem Ausmaß entgegenwirken können. Vor allem dank PISA (Program for International Student Assessment)30 und PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) ist es möglich geworden, Populationen von SchülerInnen des selben Geburtenjahrgangs in verschiedenen Ländern zu vergleichen und die Wirkmächtigkeit unterschiedlicher Faktoren statistisch zu analysieren. Bildung und Beruf der El-
30 OECD, School Factors Related to Quality and Equity. Results from PISA 2000, Paris 2004; OECD, Where Immigrant Students Succeed. A comparative review of performance and engagement, in: PISA 2003, Paris 2005.
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tern, ihr soziales und kulturelles Kapital, aber auch der Migrationshintergrund und die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, spielen jeweils eine unterschiedlich große Rolle, um die gemessenen Kompetenzen in den naturwissenschaftlichen Fächern, in Mathematik und beim Lesen, zu erklären. In den besonders erfolgreichen Ländern der PISA-Studie wirkt sich (mit Ausnahme Belgiens) der sozioökonomische Hintergrund weniger auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Mathematik aus als es im OECD-Durchschnitt der Fall war. Diesen Ländern gelingt es somit vergleichsweise gut, die Unterschiede im sozioökonomischen Hintergrund der Schüler und Schülerinnen auszugleichen und umfangreichere Spitzengruppen sowie kleinere Risikogruppen zu „produzieren“. Besonders interessant ist, dass überdurchschnittliche Leistungen und geringe Auswirkungen des sozioökonomischen Hintergrunds kein Privileg von Ländern sind, die einen sehr geringen Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund haben – ein Argument, das oft zur Erklärung des Erfolgs von Finnland in der PISAStudie herangezogen wird. Kanada zum Beispiel ist eines jener Länder mit dem höchsten Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund und solchen, die zu Hause nicht die Unterrichtssprache sprechen. Dennoch weist Kanada nur einen kleinen Prozentsatz von Risiko-SchülerInnen auf und zählt bei allen PISA-Tests und in allen Kompetenzbereichen zu den bestgereihten Ländern. Die Unterschiede in den durchschnittlichen Kompetenzen zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund sind in Kanada vergleichsweise gering. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Verteilung des sozioökonomischen Hintergrunds der eingewanderten Familien ähnlich ist wie unter denen, die schon (mindestens) in dritter Generation im Land leben. Darüber hinaus profitieren die SchülerInnen in Kanada von einem Erziehungssystem, dem es gelingt, das sozioökonomische Gefälle der Herkunftsfamilien vergleichsweise gut auszugleichen.
7. Z USAMMENFASSUNG Ich habe in diesem Beitrag versucht zu beschreiben, wie unterschiedlich sich gesellschaftliche Strukturen auf SchülerInnen und deren Bildung auswirken. Nach dem konstruktivistischen Verständnis von Lernen baut jeder
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Mensch sein Wissen in einem aktiven Prozess auf. Dieser Prozess wird durch die Stellung im gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst. Zur besseren Anschaulichkeit könnte man auch sagen, jeder befindet sich an einem anderen symbolischen Ort, der am Schnittpunkt der für ihn relevanten Differenzachsen liegt und gleichzeitig von der jeweiligen Situation und der dort gültigen Normalitätserwartungen geprägt ist. Nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die Zusammensetzung der Schulklasse und die Erwartungen des Lehrers spielen beim schulischen Lernen eine wichtige Rolle. Durch die Beschreibung der aktuell bedeutsamen Grenzziehungsprozesse wollte ich sichtbar machen, wie Zugehörigkeitsmuster entstehen und welchen politischen Prozessen sie von der lokalen bis zur globalen Ebene ausgesetzt sind. Während noch vor Kurzem Gender-Verhältnisse für die Grenzziehungen zwischen ideologischen Gruppierungen innerhalb des parteipolitischen Spektrums in Österreich ein wichtiges Merkmal waren, wurden sie innerhalb des letzten Jahrzehnts zu einem Bestandteil des Abgrenzungsmechanismus zwischen dem Islam und einem als nichtislamisch definierten Europa. Im Falle von Österreich wurden sie zur Grenzziehung zwischen „eingeborenen“ Österreichern und zugewanderten „Türken“ herangezogen. Dem Theorieansatz der Intersektionalität sollte der rechtliche Status als wichtige Differenzachse, der bislang nicht viel Beachtung geschenkt wurde, hinzugefügt werden. Schließlich sollten die vier wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen der Schule im modernen Nationalstaat veranschaulicht werden. Anhand der widersprüchlichen Prinzipien, die den jeweiligen Funktionslogiken zugrunde liegen, lässt sich das Spannungsverhältnis, in welchem Schule in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft steht, besser verstehbar und Elemente, die diese Spannung erhöhen, konkretisierbar machen. Zu klären, wie das auf allen Ebenen des Bildungssystems zum Ausdruck kommt – von der strukturellen bis zur didaktischen Ebene –, ist Aufgabe zukünftiger Forschung.
Transnationalität als Herausforderung für die soziologische Migrationsforschung K ATHARINA S CHERKE (G RAZ )
Ausgangspunkt des folgenden Beitrages ist das Phänomen transnationaler Identitäten, das Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge der Globalisierung zunehmend virulent wird. Die traditionelle Form der Auswanderung, welche zumeist ein dauerhaftes Verlassen des Herkunftslandes und eine – mehr oder weniger gelungene – Eingliederung in das Zielland vorsah, weicht zunehmend Formen der Mischidentitäten oder – um mit Heinz Fassmann zu sprechen – den hybriden Identitäten des „Sowohl-da-als-auch-dort-Zuhauseseins“.1 Blieb in früheren Jahrhunderten eine ambivalente, durch das „Zuhausesein in mehreren Kulturen“ geprägte Lebensweise einer kleinen Elite vorbehalten, so werden transnationale Befindlichkeiten im 21. Jahrhundert zunehmend zur Regel – dies gilt vorwiegend für Migrantinnen und Migranten, aber nicht nur für diese.2 Die soziologische Migrationsforschung wird
1
2
Vgl. Heinz FASSMANN, Transnationale Pendelwanderung. Polen in Wien, in: Karl ACHAM, Katharina SCHERKE (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen in Zentraleuropa um 1900 und um 2000, Wien 2003, S. 72; vgl. auch: Nikos PAPASTERGIADIS, The Turbulance of Migration. Globalization, Deterritorialization and Hybridity, Cambridge 2000, S. 1–10. Vgl. zum Folgenden auch Katharina SCHERKE, Kulturelle Aspekte der Lebenssituation von MigrantInnen der zweiten und dritten Generation aus Sicht neuerer soziologischer Forschungsansätze, in: Willibald POSCH, Wolfgang SCHLEIFER (Hg.), Rechtsfragen der Migration und Integration. 6. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2008, S. 143–148; DIES., Eine fruchtbare Begegnung? Anmerkungen zum Ver-
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durch die Zunahme dieses Phänomens vor Herausforderungen gestellt, die in der Tradition ihrer klassischen Ansätze nicht bewältigt werden können. Hinter diesen klassischen Ansätzen steht zumeist ein tendenziell essentialistisch ausgerichtetes Kulturkonzept, das nicht nur eine klare Linearität des Migrationsprozesses vom Herkunfts- in das Zielland voraussetzt, sondern auch entweder kulturelle Assimilationsprozesse (etwa bei Park / Burgess) oder das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen (etwa bei Glazer / Moynihan) als Resultat des Migrationsprozesses behauptet.3 Sowohl Assimilations- als auch Multikulturalismusansätze können das Phänomen transnationaler Identitäten nicht adäquat fassen. Bevor näher auf diese Problematik eingegangen wird, sollen einige Aspekte des Phänomens Transnationalität kurz skizziert werden. Das Kontakthalten zum Herkunftsland ist für Migrantinnen und Migranten dank moderner Telekommunikationseinrichtungen und Verkehrsmittel immer leichter möglich. Als Beispiel hierfür kann auf transnationale Pendelwanderungen verwiesen werden: Man denke etwa an die Pflegekräfte aus Osteuropa, die in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern regelmäßig mehrere Wochen lang einem Broterwerb nachgehen, um danach für einen bestimmten Zeitraum in ihre Heimatländer zurückzukehren. Der Spagat zwischen ihrer Arbeit in Österreich und ihren Familienbindungen im Heimatland macht diese Personen – zumeist Frauen – zu Paradebeispielen der sich im Zuge aktueller Arbeitsmigration ergebenden Identitäts-
3
hältnis von soziologischer Migrationsforschung und postkolonialer Theoriebildung, in: Beatrix MÜLLER-KAMPEL, Helmut KUZMICS (Hg.), LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, Nr. 2: recherchierte authentizität, 2009, S. 114–121. Während Park/Burgess noch vom klassischen „Schmelztigel-Konzept“ ausgingen, d. h. der Annahme, dass sich Migranten nach Durchlaufen mehrerer Anpassungsstadien in die Aufnahmegesellschaft eingliedern und somit Unterschiede des kulturellen Hintergrundes nivelliert würden, steht die Arbeit von Glazer/ Moynihan für das Konzept der „salad-bowl“, d. h. der Idee, dass Migranten unterschiedlicher kultureller Herkunftskontexte in den USA ihre Traditionen und kulturellen Praktiken beibehalten werden und somit ein Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen, weitgehend ohne Veränderung derselben, möglich sei. Beide Konzepte bieten keinen Raum für die Erklärung transnationaler Phänomene. Vgl. Robert E. PARK, Ernest W. BURGESS, Introduction to the Science of Sociology, Chicago 1921; Nathan GLAZER, Daniel Patrick MOYNIHAN, Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, Cambridge, Mass. 1963.
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fragen.4 Transnationale Identitäten spielen jedoch nicht nur bei Pendelwanderungen eine Rolle, sondern auch bei den Angehörigen der sogenannten zweiten und dritten Generation. In soziologischen Arbeiten der letzten Jahre wurde vor allem die Lebenswelt dieser Gruppen einer näheren Analyse unterzogen, um jenseits von Stereotypen Einblick in ihren Alltag und in ihre kulturellen Selbstverortungen zu erhalten. Von Elisabeth Beck-Gernsheim wird etwa die Frage behandelt, welche Effekte Diskriminierungen auf die Lebenswelt von Migrantinnen und Migranten haben und inwiefern manche der Reaktionen der Migranten und ihrer Nachkommen – etwa der von Gastarbeitern in Umfragen immer wieder geäußerte Rückkehrwunsch in das Herkunftsland bzw. der mehr oder weniger intensive Kontakt mit Familienangehörigen und Freunden in diesem Herkunftsland – nicht als reale Rückkehrabsicht und damit Integrationsunwilligkeit zu deuten sind, sondern viel eher eine sprachliche Reaktion auf reale Probleme der Chancenungleichheit im Aufnahmeland darstellen. Das Festhalten an der Überzeugung heimzukehren, biete Migrantinnen und Migranten, so die Sicht Beck-Gernsheims, einen „Identitätsanker“, der ihnen den Umgang und das Ertragen realer Probleme des Lebensalltags erleichtere, jedoch nicht als realer Wunsch heimzukehren missdeutet werden dürfe. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen anderen Phänomenen, die in der zweiten und dritten Generation der Migranten festgestellt werden können. Einige Beispiele: Das Interesse an der Religion des Herkunftslandes der Eltern oder an dort üblichen Bräuchen und Traditionen wird in der öffentlichen Debatte immer wieder gerne als Hinweis auf die misslungene Integration der Migrantinnen und Migranten gedeutet. Betrachtet man derartige Phänomene näher, so wird jedoch deutlich, dass eine Mischung unterschiedlicher Motivlagen hinter solchem Verhalten stehen kann, weshalb die ausschließliche Deutung als Resultate einer nichtintegrierten Lebensweise diesen Phänomenen nicht gerecht wird. In diesem Zusammenhang ist etwa auch die Frage des Kopftuchtragens bei muslimischen Frauen einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. In einigen Arbeiten der letzten Jahre –
4
Vgl. auch Sigrid METZ-GÖCKEL, Senganata MÜNST, Dobrochna KALWA, Migration als Ressource. Zur Pendelmigration polnischer Frauen in Privathaushalte der Bundesrepublik, Opladen u. a. 2010.
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etwa von Sigrid Nökel5 oder Gritt Klinkhammer6 – wurde deutlich, dass das Kopftuchtragen bei jungen muslimischen Frauen, die bereits in Deutschland geboren wurden und keineswegs aus Familien stammen, die durch eine traditionelle Lebensweise gekennzeichnet sind, nicht als Rückfall in eine traditionelle Lebensweise oder als Zeichen der Unterdrückung in der Familie zu verstehen ist, sondern als Resultat der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld im Aufnahmeland. Die Entdeckung der eigenen muslimischen Identität, die aktive Auseinandersetzung mit der Religion und ihren Texten usw. und damit auch die Entdeckung des Kopftuchs kann in Reaktion auf ein Umfeld erfolgen, das einerseits durch das Bildungssystem zu einer reflektierenden Auseinandersetzung mit Texten jeder Art ermuntert und andererseits immer wieder im Hinblick auf die muslimische Herkunft der Frauen Zuschreibungen vornimmt, die von den Betroffenen aktiv verarbeitet werden müssen. Das Resultat dieser Verarbeitung kann auch darin bestehen, dass junge Frauen durchaus bewusst die Entscheidung treffen, den Koran zu lesen und das Kopftuch zu tragen. Eine derartige Entscheidung hindert sie jedoch keinesfalls daran, parallel dazu andere Praktiken und Lebensgewohnheiten, die sich nicht von denen ihrer österreichischen oder deutschen Schulkolleginnen unterscheiden, aufrechtzuerhalten. Diese Studien zeigen, dass die Bandbreite der Motive, das Kopftuch zu tragen, breiter und vielschichtiger ist als die in der Öffentlichkeit im Vordergrund stehende Haltung, die das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau sieht. Im Hinblick auf die kulturelle Verortung der Migrantinnen und Migranten lässt sich aus den genannten soziologischen Studien ableiten, dass ein „Sowohl-als-Auch“, d.h. die gleichzeitige oder je nach sozialem Kontext auch sukzessive Zuordnung zu mehreren Kulturen feststellbar ist. Diese „Bastelidentitäten“, wie derart unterschiedlich zusammengesetzte Identitätsentwürfe in Anlehnung an soziologische Gegenwartsdiagnosen7 bezeichnet werden können, sind ein typisches Phänomen unserer Gegenwart,
5 6
7
Vgl. Sigrid NÖKEL, Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam: Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld 2002. Vgl. Gritt KLINKHAMMER, Moderne Formen islamischer Lebensführung: Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Türkinnen der zweiten Generation in Deutschland, Marburg 2000. Vgl. etwa Ulrich BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 217.
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das bei Migrantinnen und Migranten besonders ausgeprägt vorkommt. Die Vielschichtigkeit ihrer Identitätsentwürfe geht jedoch in einer öffentlichen Debatte unter, die sie etwa auf die Position als „Türkin“ oder „Bosnierin“ festlegen und andere Aspekte ihrer Identitätsbildung ausklammern möchte. Die Individualisierung der Lebenslagen hat in der Moderne generell zu einem Abrücken von als „Normalbiografie“ beschreibbaren Lebensläufen geführt. Man muss nicht zu Georg Simmels anschaulicher Beschreibung des Großstadtlebens um 1900 und der „Kreuzung sozialer Kreise“ zurückgehen,8 um festzustellen, dass in den Industrienationen im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an Sozialbezügen die Orientierung des Einzelnen zu prägen begonnen haben. Die dadurch bedingte Individualisierung ist nicht nur begleitet von einer De-Standardisierung von Lebensläufen, sondern auch von der Notwendigkeit für jeden Einzelnen, sich aus der Vielzahl an möglichen Bezugsgruppen jene auszuwählen, die als zentral für die individuelle Identitätsbildung angesehen werden. Wie die Auswahl dieser Bezugsgruppen erfolgt, wie Identitätsbildung unter diesen Umständen stattfindet und welche Widersprüche dabei zu bewältigen sind, das sind Fragestellungen, welche in der neueren Identitätsforschung eingehend bearbeitet werden.9 In der Alltagspraxis von Migrantinnen und Migranten finden sich Bezüge zu auf den ersten Blick sehr unterschiedlich anmutenden kulturellen Kontexten. Das parallele Vorhandensein und die kreative Mischung derartiger Bezugspunkte in der Alltagspraxis der Akteure werden durch die Anwendung eines hybriden Kulturbegriffs, wie er in den Kulturwissenschaften Verwendung findet und auch in den Sozialwissenschaften zunehmend Beachtung erfährt, leichter nachvollziehbar und erscheinen somit tendenziell weniger fremdartig. Wird der Fokus hingegen auf die Unterschiede zwischen den Kulturen gelegt, so müssen viele der Alltagsroutinen von Migrantinnen und Migranten als tendenziell konfliktträchtig und die Herausbildung einer kohärenten Identität – im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung – bei ihnen notgedrungen als problematisches Projekt erscheinen, wodurch auch ihre Integrationsfähigkeit in die Aufnahmegesellschaft in Frage
8
9
Vgl. Georg SIMMEL, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Klaus LICHTBLAU (Hg.), Georg Simmel. Soziologische Ästhetik, Darmstadt 1998, S. 124– 130. Vgl. etwa Heiner KEUPP, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 32006, S. 189–271.
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gestellt wird. Hierbei wird außer Acht gelassen, dass die Vorstellung von strikt unterscheidbaren Kulturen der realen Lebenssituation vieler Migrantinnen und Migranten nicht gerecht wird und dass auch bei den sogenannten Einheimischen aufgrund der oben skizzierten Prozesse „Bastelidentitäten“ mittlerweile zur Normalität gehören. Wie kann die empirische soziologische Forschung diesen Phänomenen gerecht werden? An dieser Stelle kann kein umfassender Überblick über die soziologische Migrationsforschung gegeben werden, es soll lediglich auf einige methodische Probleme bei der Erforschung von Migrationsprozessen und Integrationsfragen hingewiesen werden. Wie anhand der oben genannten Beispiele deutlich gemacht werden sollte, ist in jüngeren Studien zum Thema Migration eine zunehmende Konzentration auf qualitative Methoden feststellbar. Diese scheinen besser geeignet als quantitative Methoden, um jene Phänomene des „Dazwischens“, der kulturellen Übergänge und Entgrenzungen zu erfassen, die mit Prozessen der Transnationalisierung einhergehen. Lebensgeschichtliche Interviews, teilnehmende Beobachtungen und ethnografische Studien erlauben die detaillierte Nachzeichnung der Alltagspraxis von Akteuren. Im Gegensatz zu klassischen quantitativen Verfahren der Fragebogenkonstruktion und statistischen Auswertung, die an sich bereits sehr viel Wissen der Forschenden über ihren Forschungsgegenstand zur Voraussetzung haben, sind die qualitativen Verfahren wesentlich stärker auf die Exploration von Phänomenen ausgerichtet und somit besser geeignet, überkommene Denkschemata zu durchbrechen.10 Insbesondere die ausführliche Rekonstruktion von Prozessen der Identitätsbildung, die eben nicht durch eindeutige Zugehörigkeiten zu distinkten Kategorien, die in einem Fragebogen ankreuzbar wären (wie etwa „Türke“, „Österreicher“ etc.), gekennzeichnet sind, ist eine Möglichkeit, den Relevanzsetzungen der Akteure besser gerecht zu werden. Jedoch ist Vorsicht geboten, denn essentialisierende Kategorien können auch in der auf deren Überwindung ausgerichteten qualitativen Sozialforschung ein Problem darstellen. Wenn es um Fragen der Ethnizität oder Identität geht, werden automatisch sprachliche Ausdrücke verwendet, die tendenziell Zuschreibungen der Interviewer zum Ausdruck bringen. So gestaltet sich in Interviews die Frage nach der Herkunft der Interviewten oftmals problematisch, da hierbei
10 Zu den Grundzügen der qualitativen Methodologie vgl. Siegfried LAMNEK, Qualitative Sozialforschung, 4. vollst. überarb. Aufl., Basel 2005, S. 3–31.
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klare Kategorien, wie etwa „türkisch“, „bosnisch“ usw., Verwendung finden, die jedoch nicht der Selbstwahrnehmung der Betroffenen entsprechen müssen, die bereits – etwa als Mitglieder der zweiten Generation – Zugehörigkeitsgefühle zum Aufenthaltsland entwickelt haben und auch eine transnationale Alltagspraxis aufweisen, in der Bezüge zu unterschiedlichen nationalen bzw. kulturellen Kontexten bestehen. Allein durch die Äußerung der Kategorien „türkisch“, „bosnisch“ etc. im Interview wird Realität und Faktizität geschaffen und sei es nur in der Weise, dass die Interviewten sich aufgefordert sehen, gegen diese Zuschreibungen und Identitätszumutungen anzukämpfen und ihre andere Sicht der Dinge darzulegen. Das Problem dabei ist, dass neben der Herkunft und der im Interview stattfindenden aktuellen Verhandlung nationaler Zugehörigkeiten andere, möglicherweise relevantere Themen der Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten außer Sicht geraten können und hierbei auch die Gemeinsamkeiten ihrer Lebenssituation mit jener der sogenannten Einheimischen unterbeleuchtet bleiben. Die bereits erwähnten „Bastelidentitäten“, d.h. die aktive Gestaltung von Identitäten durch Bezugnahme auf unterschiedliche soziale und kulturelle Kontexte, sind beispielsweise ein generelles Phänomen hochdifferenzierter moderner Gesellschaften und müssen sich keineswegs nur auf nationale Zugehörigkeitsgefühle beziehen. Die soziologische Migrationsforschung hat sich lange Zeit vor allem auf die Nachzeichnung der Strukturen und Muster von Migrationsprozessen und Fragen der sozialstrukturellen Integration der Migrantinnen und Migranten in die Aufnahmeländer konzentriert.11 In aktuellen Studien kann man insofern eine Schwerpunktverlagerung feststellen, als die Frage, wie sich kulturelle Praktiken im Rahmen von Migrationsprozessen konkret verändern, auch innerhalb des Faches Soziologie aufgegriffen wird. Kulturelle Unterschiede werden somit nicht mehr entweder als durch gelungene Assimilationsprozesse aufhebbar dargestellt – so wie im Schmelztiegelkonzept (Park / Burgess)12 – oder als eigentlich nicht veränderbar – so wie im Multikulturalismuskonzept (Glazer / Moynihan),13 – sondern zum Gegenstand ein-
11 Vgl. auch PAPASTERGIADIS, The Turbulance of Migration, S. 17–21. 12 Vgl. PARK, BURGESS, Introduction to the Science of Sociology; vgl. auch: Petrus HAN, Theorien zur internationalen Migration. Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und deren zentrale Aussagen, Stuttgart 2006, S. 8–28. 13 Vgl. GLAZER, MOYNIHAN, Beyond the Melting Pot; vgl. auch: HAN, Theorien zur internationalen Migration, S. 65–86.
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gehender, zumeist mikrosoziologischer Analysen. In einigen neueren Arbeiten werden nicht nur die Rollen religiöser und kultureller Traditionen im Lebensalltag von Migranten thematisiert, sondern auch die Phänomene der sogenannten „Ethnisierung“ und des „ethnic revival“ in der zweiten und dritten Generation einer näheren Betrachtung unterzogen, wobei das Wechselverhältnis zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung bei der Identitätsbildung von Migrantinnen und Migranten besondere Beachtung findet. Es findet hier eine Anknüpfung an postkoloniale Theorien statt. Das geschah bisher jedoch noch ohne ausführliche Reflexion der methodologischen Konsequenzen für die empirische Sozialforschung. Überhaupt lässt sich feststellen, dass erst allmählich Methodenfragen im Zusammenhang mit der Migrationsforschung innerhalb der „scientific community“ eingehender diskutiert werden.14 Neuere kulturwissenschaftliche Konzepte versuchen durch die Verwendung eines nicht essentialistischen Kulturbegriffs auf die Dynamik kultureller Phänomene Bedacht zu nehmen und aufzuzeigen, inwieweit jede Kultur – also auch diejenige der sogenannten Einheimischen – einem ständigen Wandel unterliegt. Kulturen zeichnen sich dieser Sichtweise zufolge dadurch aus, dass sie in ständiger produktiver Auseinandersetzung miteinander stehen und von daher jede Kultur eigentlich als Mischphänomen zu betrachten ist.15 Die sozialwissenschaftliche Erforschung der Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten unter der Verwendung eines solchen dynamischen Kulturbegriffs stößt, wie eben dargelegt, jedoch auch in ihren qualitativen Varianten auf eine Reihe methodischer Probleme, die hier anhand der Arbeit von Clemens Dannenbeck nochmals hervorgehoben wer-
14 Ein Beispiel für die beginnende Diskussion von Methodenfragen im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung und Migration stellt die kürzlich erschienene Schwerpunktausgabe des Forum Qualitative Sozialforschung – des maßgeblichen online Publikationsforums für Fragen qualitativer Sozialforschung – zum Thema: „Biografie und Ethnizität“ dar. Vgl. Michaela KÖTTIG, Julia CHAITIN, J. P. LINSTROTH, Gabriele ROSENTHAL, Einleitung: Biografie und Ethnizität. Entwicklungen und Veränderungen der Wahrnehmung der sozial-kulturellen Zugehörigkeit von Migrant/innen in den USA und Deutschland, in: Biografie und Ethnizität 10/3 (2009) (http://www.qualitative-research.net/index. php/fqs/issue/view/32) (Zugriffsdatum: 6.2.2011). 15 Vgl. auch Katharina SCHERKE, Kulturelle Transfers zwischen sozialen Gruppierungen, in: Federico CELESTINI, Helga MITTERBAUER (Hg.), Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen 2003, S. 99–115.
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den sollen:16 Von ihm wurden Tiefeninterviews mit Jugendlichen aus Migrantenfamilien reanalysiert, die zu ihrer Haltung zum Heimatland ihrer Eltern, ihren eigenen Perspektiven in Deutschland und zu Problemen ihrer aktuellen Lebenssituation befragt wurden. Zu beachten ist, dass auch in sozialwissenschaftlichen Interviews kulturelle Festschreibungen vorgenommen werden, obwohl diese eigentlich vermieden bzw. deren Hintergründe aufgedeckt werden sollten. Das Bemühen der qualitativen Sozialforschung, durch ein möglichst offenes Vorgehen den Relevanzsetzungen der Befragten Rechnung zu tragen, stößt, wie die Arbeit von Dannenbeck zeigt, durchaus an seine Grenzen, wenn kulturelle Zugehörigkeiten thematisiert werden sollen. Schon die Auswahl der Befragten erfolgt, wie oben bereits beschrieben, gemäß vorab getroffener Zuschreibungen, die auf den vermeintlich anderen kulturellen Hintergrund der Jugendlichen abzielen. Diese Zuschreibungen setzen sich im Interview fort, wenn die kulturelle Zugehörigkeit der Jugendlichen zu erfragen versucht wird und hierbei die Kategorien „deutsch“ und „türkisch“ vom Interviewenden als einander ausschließend dargestellt werden. Dannenbecks Analyse der Interviewtranskripte zeigt jedoch, dass die Betroffenen selbst ein differenzierteres Bild von sich zeichnen und damit die ihnen von den Interviewern zugemuteten Kategorien tendenziell hinterfragen, was als Beleg für die Komplexität kultureller Zugehörigkeiten und identitärer Selbstverortungen gelesen werden kann.17 So wird die Frage: „Woher kommst du?“ unter Umständen mit einer Stadtteilzugehörigkeit beantwortet, d.h. es ist nicht zuerst die deutsche oder türkische Identität, die von den Befragten thematisiert wird, sondern ihre Verortung in einem lokalen Umfeld. Sichtbar wird, dass unterschiedliche Bezüge das Selbstbild der Jugendlichen prägen; darunter befinden sich teils nationale, teils regionale oder sogar stadtteilbezogene Zugehörigkeiten und auch Geschlechtsidentitäten, die je nach dem im Interview zur Debatte ste-
16 Vgl. Clemens DANNENBECK, Selbst- und Fremdzuschreibungen als Aspekte kultureller Identitätsarbeit. Ein Beitrag zur Dekonstruktion kultureller Identität, Opladen 2002. 17 Ebenda, S. 81–108. Ein ähnliches Problem berichtet auch Elisabeth BeckGernsheim bei der Analyse der Probleme klassischer Umfragestudien mit der Erfassung/Festschreibung kultureller Unterschiede. Vgl. Elisabeth BECKGERNSHEIM, Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten, Frankfurt a. M. 2004, S. 107–111.
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henden Thema aktiviert werden.18 Das Beharren der Interviewerinnen und Interviewer auf den nationalen Kontext verschleiert dies allerdings bei oberflächlicher Analyse. Ein anderes Problem für die qualitative Sozialforschung im Zusammenhang mit Migrationsphänomenen stellt die Frage nach der Sprache dar, in der ein Interview geführt wird. Die Lebenspraxis von Migrantinnen und Migranten weist häufig eine ausgeprägte Mehrsprachigkeit auf. Je nach Kontext kommt es zum spontanen Wechsel zwischen Sprachen bzw. werden auch Mischformen entwickelt.19 Vielfach fehlt es jedoch an entsprechend qualifizierten Interviewern, die in der Lage sind, diesem Phänomen Rechnung zu tragen. Dies liegt unter anderem auch an vorhandenen strukturellen Benachteiligungen der Mitglieder der zweiten und dritten Generation von Migranten in den Aufnahmeländern, da ihr Weg an die Hochschulen nach wie vor sehr schwierig ist bzw. sie auch nur in geringem Ausmaß sozialwissenschaftliche Studienfächer belegen. Qualitative Interviews erfordern jedoch ein intensives Eingehen auf das Gegenüber, d.h. in einer fremden Sprache geführte Interviews erzeugen entweder bei dem bzw. der Interviewten Hemmschwellen oder beim Interviewenden Probleme dahingehend, dass nicht spontan genug auf die Äußerungen des Gegenübers eingegangen werden kann. Die Problematik kann im Hinblick auf die Notwendigkeit, größtmögliche Sensibilität im Umgang mit Sprache und mit kulturellen Kategorien im Rahmen von Interviews an den Tag zu legen, zusammengefasst werden. Nicht vergessen werden darf hierbei schließlich, dass essentialisierende Kategorien den Lebensalltag der Migrantinnen und Migranten durchaus prägen und einseitige Identitätszumutungen ihrer Umwelt in Form von realen Diskriminierungen weitreichende Konsequenzen für sie haben können. Auch dies gilt es bei allem Interesse an der Rekonstruktion von subjektiven Zugehörigkeitsgefühlen im sozialwissenschaftlichen Blick zu behalten.20
18 Vgl. DANNENBECK, Selbst- und Fremdzuschreibungen als Aspekte kultureller Identitätsarbeit, S. 110. 19 Vgl. auch Jürgen ERFURT (Hg.), Mehrsprachigkeit und Migration. Ressourcen sozialer Identifikation, Frankfurt a. M.–Wien u. a. 2003. 20 Insofern ist auch Steinberg zu folgen, der die nach wie vor vorhandene Benachteiligung der Migranten und ihrer Kinder in den USA kritisiert, die trotz der Begeisterung für Multikulturalismuskonzepte der Fall ist. Vgl. Stephen STEINBERG, The Ethnic Myth. Race, Ethnicity, and Class in America, Boston, Mass. 1989. Vgl. auch: HAN, Theorien zur internationalen Migration, S. 87–105.
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Quantitative Erhebungen der Bildungschancen oder des Arbeitsmarktzugangs von Migrantinnen und Migranten, die auf das möglicherweise vorhandene differenzierte transnationale Selbstbild der Betroffenen keine Rücksicht nehmen können, sondern sie gemäß ihrer Staatszugehörigkeit bzw. ihrer Herkunft erfassen, sind der einzige Weg, um derartige Benachteiligungen aufzeigen zu können. Die Verwendung essentialisierender Kategorien ist für die sozialwissenschaftliche Forschung in diesem Fall unvermeidlich, aber sinnvoll, da sozialstrukturelle Benachteiligungen nur unter Missachtung der Komplexität subjektiver Befindlichkeiten der Migranten sichtbar gemacht werden können. Herkunft und Staatsangehörigkeit werden auch von der Umwelt oftmals als dominantes Kennzeichen der Identität von Migrantinnen und Migranten wahrgenommen bzw. vermutet und haben insofern auch reale, von der Forschung aufzuzeigende Konsequenzen.21 Insofern kommt auch soziologischen Modellen, wie der „Unterschichtung“ oder der „Etablierten-Außenseiter-Figuration“, im Zusammenhang mit der Erforschung der Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten nach wie vor erhebliche Bedeutung zu. Im Rahmen der „Unterschichtung“22 kommt es zu einer Überlagerung ethnischer Kategorien mit Schichtgrenzen, ein Phänomen, dessen Mechanismen auch gut mit der bereits von Norbert Elias und John L. Scotson beschriebenen „Etablierten-Außenseiter-Figuration“23 erklärt werden können: Im Prinzip stellt das Verhältnis zwischen Migranten und der sogenannten einheimischen Bevölkerung nur einen Sonderfall von Gruppenbeziehung dar, die sich rund um den Faktor der gemeinsam miteinander verbrachten Zeit und der daraus folgenden Nähe-Distanz-Relation darstellen lassen.24 Der Wunsch nach dem Erhalt von einmal eingenommenen Status- und Machtpositionen sorgt für Konflikte zwischen Einheimi-
21 Vgl. Helena FLAM, Daniel SCHÖNEFELD, Die Perspektive der MainstreamSoziologie zu Migranten und Schule, in: Helena FLAM (Hg.), Migranten in Deutschland. Statistiken – Fakten – Diskurse, Konstanz 2007, S. 35–63, hier S. 35–43; vgl. auch Merle HUMMRICH, Bildungserfolg und Migration. Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft, Opladen 2002. 22 Vgl. Hans-Joachim HOFFMANN-NOWOTNY, Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz, Stuttgart 1973. 23 Vgl. Nobert ELIAS, John L. SCOTSON, The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry into Community Problems, London 1965. 24 Vgl. hierzu auch: Annette TREIBEL, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, Weinheim–München 3 2003, S. 209–217.
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schen und Zugewanderten. Im Zuge der Konfliktaustragung können sodann kulturelle Unterschiede in den Vordergrund der Auseinandersetzung rücken, sie stellen jedoch nur Überformungen der eigentlich zugrunde liegenden, zumeist sozioökonomischen Konfliktlage dar. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass ein Dilemma zwischen dem Versuch der Anerkennung des hybriden Charakters von Kulturen einerseits und der notwendigen Verwendung essentialistischer Begrifflichkeiten im Rahmen soziologisch-empirischer Studien andererseits besteht. Die Orientierung an dem in der postkolonialen Theorie gängigen hybriden Kulturbegriff kann für die Soziologie daher gewissermaßen nur als eine Art Denkübung erfolgen, die dabei helfen kann, Vorabfestlegungen vorzubeugen und eine Sensibilisierung für den Konstruktcharakter des Sozialen zu stärken. Oder wie Dannenbeck es ausdrückt: Denken in Differenzen heißt, den Blick auf die unaufhebbare Ambivalenz zu richten, die einer kulturellen/ethnischen Erklärung – als Versuch, eben diese Ambivalenz aufzuheben – zwangsläufig anhaftet: auf das, was nicht aufgeht in der Binarität, auf das Irritierende, nicht Deckungsgleiche, nicht Passförmige, auf die Kontamination – und dies als Ausgangspunkt für Bedeutungsverschiebungen zu erkennen.25
Eine Haltung, für die es auch innerhalb der soziologischen Tradition zahlreiche Ansatzpunkte gibt – man denke etwa an die verschiedenen Spielarten des interpretativen Paradigmas in der Nachfolge von Max Weber, Alfred Schütz oder dem Symbolischen Interaktionismus.26 Gleichzeitig gilt es, die realen Lebensverhältnisse der Subjekte im Blick zu behalten, die, wie Studien zeigen, sich durchaus durch klare identitäre Zumutungen und mitunter auch Selbstverortungen auszeichnen, auch wenn diese nicht die Dauerhaftigkeit und Einseitigkeit aufweisen, wie sie ein essentialistischer Kulturbegriff nahelegt. Es gilt also die Waage zu halten zwischen wissenschaftlich sinnvoller Hinterfragung essentialistischer Kategorien einerseits und soziostrukturellen Analysen andererseits.
25 DANNENBECK, Selbst- und Fremdzuschreibungen als Aspekte kultureller Identitätsarbeit, S. 291. 26 Vgl. etwa Heinz ABELS, Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, Wiesbaden 42007.
Nähe auf Distanz Transnationale Familien in der Gegenwart K AREN K ÖRBER (M ARBURG)
Prominente Zeitdiagnosen prognostizieren unter den gegenwärtigen Bedingungen einer weltweit agierenden Modernisierung seit einigen Jahren die Zerstörung sozialer Bindungspotenziale und – damit einhergehend – die Krise der Familie. Mobilität als eines der zentralen Narrative globalisierter Gesellschaften erscheint in diesen Ausführungen im Wesentlichen als Mobilitätsdruck, der tradierte Lebensformen belastet und private Beziehungen destabilisiert. So diagnostiziert Richard Sennett bereits Ende der 1990er-Jahre, dass die Zeitdimension des „Neuen Kapitalismus“ die Werte einer flexiblen Gesellschaft bestimmen würde, deren wichtigste Maxime – „bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer“1 –, die Institution Familie massiv unter Druck setzte. Diesen Schilderungen zufolge scheinen hier zwei kontrastierende gesellschaftliche Leitbilder aufeinanderzutreffen: Das Leitbild der autochthonen Kernfamilie, welches auf Dauer und Stabilität, Wiederholung und Routine, Verantwortung und Solidarität setzt, gerät in Konflikt mit den vom Arbeitsmarkt geforderten flexiblen und mobilen „Arbeitsnomaden“ der Gegenwart, die auf verbindliche, langfristige private Beziehungen verzichten.2 Eingelassen in solche Krisen-
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Richard SENNETT, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, hier S. 29. Vgl. Norbert F. SCHNEIDER, Ruth LIMMER, Kerstin RUCKDESCHEL, Mobil, flexibel, gebunden. Familie und Beruf in der mobilen Gesellschaft, Frankfurt a. M.–New York 2002.
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szenarien ist ein Verständnis von Familiarität, zu dessen zentralen Elementen räumliche Nähe und direkte Gemeinschaft gehören; die Erfahrung also, von geteilter Zeit an einem gemeinsamen Ort, die gegenseitige Unterstützung sowie Fürsorge ermöglicht und eine wichtige Grundbedingung dafür bildet, dass sich Familien als gemeinschaftliches Ganzes erfahren können. Vor diesem Hintergrund erscheint insbesondere jener Strukturwandel als problematisch, der sich in den letzten Jahren mit dem enormen Bedeutungszuwachs von Mobilität verband. Den britischen Soziologen Scott Lash und John Urry3 zufolge gilt Mobilität als das zentrale, alle gesellschaftlichen Lebensbereiche durchdringende Charakteristikum der Gegenwart. Lash und Urry beziehen sich dabei auf Anthony Giddens’ Überlegungen zu einer globalisierten Spätmoderne, wonach diese wesentlich durch den Mechanismus der „Entbettung“, d.h., das „‚Herausheben‘ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen“,4 gekennzeichnet ist. Wenn nun an die Stelle fester oder auch starrer Strukturen flexible Formen der sozialen Integration bzw. Koordination treten, bleibt dies nicht ohne Folgen für die gesellschaftlichen Akteure und ihre Sozialbeziehungen. Unter den Bedingungen einer fortschreitenden Modernisierung ist das freigesetzte Individuum mit erweiterten räumlichen, zeitlichen und sozialen Flexibilitätszumutungen konfrontiert. Familie wird zunehmend zu einer Gemeinschaft von Einzelpersonen mit ihren je eigenen Interessen und Erfahrungen, deren gemeinsame familiale Lebensführung das Ergebnis eines komplexen Gestaltungsprozesses darstellt, in dem nicht allein die Herstellung zeitlicher Synchronisierung, sondern auch sachliche, soziale und sinnhafte Integrationsleistungen gefordert sind.5 Findet der Begriff „Familie als Herstellungsleistung“6 zunehmend Eingang in die wissenschaftlichen Debatten um die Angemessenheit des autochthonen Familienkonzepts als Analysekategorie, so bahnt sich ein weiterer Perspektivenwechsel an, wenn nun auch jene familiären Formen in den
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Scott LASH, John URRY, Economies of Signs and Space, London 1994. Anthony GIDDENS, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, hier S. 33. Vgl. Maria S. RERRICH, Zusammenfügen, was auseinanderstrebt: Zur familialen Lebensführung von Berufstätigen, in: Ulrich BECK, Elisabeth BECKGERNSHEIM (Hg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994. Michaela SCHIER, Karin JURCZYK, „Familie als Herstellungsleistung“ in Zeiten der Entgrenzung, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte 34 (2007), S. 1–11, hier S. 1.
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Blick genommen werden, die über nationale Grenzen hinweg hergestellt werden. Eine Definition von Familie, die wesentlich durch „Face-to-FaceBeziehungen“ und eine kulturelle Norm der Sesshaftigkeit7 gekennzeichnet ist, kann dann möglicherweise selbst wiederum als Ausdruck eines „methodologischen Nationalismus“8 interpretiert werden, der den Blick auf jene grenzüberschreitenden, mobilen Praxen verstellt, die konstitutiv für eine Vielzahl von transnationalen Familienformen der Gegenwart sind. Unter den Bedingungen transnationaler Migration setzt seit einigen Jahren ein tiefgreifender Gestaltwandel ein, der längst nicht mehr nur einzelne, sondern immer mehr Familien erfasst. In den weltweiten, institutionell gelenkten und beschränkten Wanderungsströmen gewinnen zunehmend solche Lebensformen an Gewicht, die sich gerade durch die Mobilität ihrer Akteure auszeichnen oder, anders gesagt, in denen Mobilität eine oftmals notwendige Voraussetzung für den Erhalt von Familien darstellt. Elisabeth Beck-Gernsheim weist darauf hin, dass diese Entwicklung auch eine Redefinition dessen zur Folge hat, „was weiterhin Familie genannt wird“.9 Obgleich an die Stelle von Nähe und direkter Gemeinschaft die Erfahrung von Trennung und räumlicher Distanz tritt, bleibt die Familie dennoch als „imagined community“10 als zentraler Orientierungs- und Bezugspunkt virtuell erhalten. Während die familiale Realität und Praxis fragmentiert wird, gewinnt Familiarität nicht nur als ökonomische Einheit, sondern als Wert, Sehnsucht und Mythos an Bedeutung und wird sequenziell in verschiedenen Gelegenheitsstrukturen auch gelebt. Nun stellt transnationale Migration historisch keineswegs ein neues Phänomen dar.11 Zu Recht verweisen Forschungen auf zurückliegende
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Ina MERKEL, Außerhalb von Mittendrin. Individuum und Kultur in der zweiten Moderne, in: Zeitschrift für Volkskunde II (2002), S. 229–256. 8 Ulrich BECK, Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Generation global und die Falle des methodologischen Nationalismus. Für eine kosmopolitische Wende in der Jugend- und Generationssoziologie, in: Dirk VILLANYI, Matthias WITTE, Uwe SANDER (Hg.), Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim 2007, S. 236. 9 Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Wir und die Anderen, Frankfurt a. M. 2004, hier S. 46. 10 Ulla VUORELA, Transnational Families: Imagined and Real Communities, in: Deborah F. BRYCESON, Ulla VUORELA (Hg.), The Transnational Family: New European Frontiers and Global Networks, Oxford–New York 2002, S. 63. 11 Vgl. William I. THOMAS, Florian ZANIECKI, The Polish Peasant in Europe and America, Chicago 1984 [1918].
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Formen zirkulärer Arbeitsmigration sowie auf mehrortige Alltagspraktiken früherer Migrantengruppen in Europa und den USA.12 So berichteten Immigranten aus der „Alten Welt“ in Briefen über die neue Heimat, schickten Geld für die Schiffspassagen und organisierten, wie etwa im Falle Irlands, gelegentlich sogar den Freiheitskampf „daheim“.13 Dennoch unterscheiden sich gegenwärtige Migrationsprozesse von den Wanderungsbewegungen zurückliegender Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht allein durch ihre quantitative Zunahme, sondern auch durch qualitative und strukturelle Veränderungen. Die Vertiefung der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierungsprozesse sowie der Ausbau einer mittlerweile weltweiten Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur haben dazu geführt, dass Migranten global über den Zugang zu einer „space-and-time-compressing technology“ verfügen. Eine Entwicklung, die, wie Steven Vertovec schreibt, transnationale Netzwerke alltagspraktisch andere Erfahrungen in Raum und Zeit machen lässt: „[T]hey function in real time while being spread around the world“.14 Die US-Sozialanthropologinnen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc beschrieben bereits Anfang der 1990erJahre solche Prozesse, „by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-sited social relations that link together their societies of origin and settlement“.15 Transnationalisierung, so die Autorinnen, finde dabei sowohl auf der Ebene der ökonomischen, sozialen und kulturellen Alltagspraktiken von Migranten statt als auch bei der Formierung von Subjektpositionen und Identitätsartikulationen. Diese gewissermaßen praxeologische Neuausrichtung in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung fordert zu einem Perspektivwechsel auf, in dessen Fokus jetzt nicht mehr die jeweiligen Folgewirkungen der Migration für Ankunfts- und Herkunftsre-
12 Virginia YANS-McLAUGHLIN, Immigration Reconsidered: History, Sociology, and Politics, Oxford 1990. 13 Vgl. John HIGHAM, Charles BROOKS, Ethnic Leadership in America, Baltimore 1978. 14 Steven VERTOVEC, Conceiving and Researching Transnationalism, in: Ethnic and Racial Studies 22/2 (1999), S. 447–462, hier S. 447. 15 Nina GLICK SCHILLER, Linda BASCH, Cristina SZANTON BLANC, From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration, in: Ludger PRIES (Hg.), Transnationale Migration. Soziale Welt, Sonderband 12, BadenBaden 1997, S. 121–140, hier S. 121.
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gion stehen, sondern die Frage, so etwa Ludger Pries, „welche neuen transnationalen sozialen Wirklichkeiten sich dazwischen aufspannen“.16 Waren es anfangs insbesondere US-amerikanische Autoren, die anhand von Untersuchungen in den Ländern der Karibik, Mittel- und Lateinamerikas sowie Asiens beobachteten, wie sich unter den Voraussetzungen transnationaler Mobilität verstärkt plurilokale Haushalts- und Familienformen herausbildeten,17 so folgten bald auch für den europäischen Raum Forschungen, in denen die Auflösung traditioneller Familienstrukturen nachgezeichnet und auf eine Entwicklung aufmerksam gemacht wird, in der Migration ein zentrales Muster der familiären Lebensführung darstellt.18 Sichtbar wird dabei, dass diese grenzüberschreitenden Familiennetzwerke ein materielles Rückgrat haben, welches längst zu einem wesentlichen ökonomischen Faktor nicht nur für die betroffenen Familien vor Ort, sondern für die Volkswirtschaften der zumeist weniger entwickelten Herkunftsländer geworden ist. So stiegen nach Schätzungen der Weltbank die offiziell registrierten „Remittances“, – d.h. jene Rücküberweisungen, die Emigranten in ihre Heimatländer transferieren, – in den sogenannten Entwicklungsländern seit Beginn der 1970er-Jahre bis ins Jahr 2005 auf 167 Milliarden USDollar.19 Eine Zahl, die das Volumen internationaler Entwicklungshilfe bei Weitem überschreitet und dafür sorgt, dass transnationale Familien gelegentlich in den Blickpunkt öffentlichen und politischen Interesses geraten. Die neue Aufmerksamkeit richtet sich jedoch nicht allein auf eine gleichsam finanzielle Globalisierung von unten, sie reagiert auch auf einen Wandel im Migrationsgeschehen seit den 1980er-Jahren, der in der öffentlichen Wahrnehmung eng mit der symbolischen Ordnung der Familie ver-
16 Ludger PRIES, Neue Migration im transnationalen Raum, in: DERS. (Hg.), Transnationale Migration. S. 15–46, hier S. 33. 17 Vgl. beispielsweise Pierette HONDAGNEU-SOTELO, Gendered Transitions: Mexican Experiences of Migration, Berkeley–Los Angeles 1994; Mary CHAMBERLAIN, Narratives of Exile and Return, London–Basingstoke 1997; Nancy FONER, The Immigrant Family: Cultural Legacies and Cultural Changes, in: International Migration Review 31/4 (1997), S. 967–974. 18 Vgl. Nadje AL-ALI, Khalil KOSER (Hg.), New Approaches to Migration? Transnational communities and the transformation of home, London–New York 2002; Deborah F. BRYCESON, Ulla VUORELA, The Transnational Family: New European Frontiers and Global Networks, Oxford–New York 2002. 19 Vgl. Barbara FRITZ, Globalisierung von unten. Familienkasse und Finanzkrise. (http://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/2007_02/07_02_fritz/index. html, 2007) (Zugriffsdatum: 22.1.2009).
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knüpft ist: Es sind die Frauen, die sich auf den Weg machen. Entgegen den dominanten Bildern und Diskursen vom Migranten als männlichen „Brotverdiener“ nimmt seit zwei Jahrzehnten die Zahl an Migrantinnen zu, die in wohlhabendere Regionen abwandern, um die Daheimgebliebenen zu ernähren. Nun ist Transnationalität im reproduktiven Bereich historisch keineswegs eine neue Erscheinung, wie beispielsweise an Untersuchungen über die Migrationswege im europäischen Raum von Mädchen und Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich wird.20 Insbesondere aus den verarmten Regionen Polens, Rumäniens oder des Balkans, aber auch aus Deutschland und aus Österreich machten sich Frauen alleine oder mit ihren Familien auf den Weg, der sie in bäuerliche Betriebe auf dem Land und in die wachsende Zahl bürgerlicher Haushalte der Städte führte oder aber in Kolonien brachte, wohin sie – von den Regierungen als bevölkerungspolitische Maßnahme gefördert – als „Bräute“ und „Haushaltshilfen“ auswanderten.21 Etablierte sich demzufolge bereits im vorvergangenen Jahrhundert die geschlechtsspezifische Praxis der Migration, wie Heiratsmigration, selbsttätige und erzwungene Prostitution sowie die Migration als Dienstmädchen, so scheint das Phänomen migrierender Frauen gegenwärtig an neuer Brisanz gewonnen zu haben. Saskia Sassen konstatiert bereits in ihren Untersuchungen zu den „Global Cities“22, dass die hohe Konzentration hoch spezialisierter professionals in den westlichen Zentren die Nachfrage an Niedriglohn-Serviceleistungen steigern würde, und benennt damit einen wesentlichen Auslöser für die weiblichen Migrationsströme, die vor allem in die globalisierte Haushaltsarbeit münden – einen Tätigkeitsbereich, der heute weltweit als wichtigster Arbeitsmarkt für Frauen gilt und in Bezug auf Anstellungs- und Rekrutierungspraktiken besser denn je organisiert ist.23 Da ein wesentliches Merkmal dieser weiblichen Migration die hohe Zahl
20 Vgl. Christiane HARZIG, Peasants Maids – City Women: From the European Countryside to Urban America, Ithaca 1997; Barbara HENKES, Heimat in Holland. Deutsche Dienstmädchen 1920–1950, Straelen 1998. 21 Claudia HARASSER, Von Dienstboten und Landarbeitern: eine Bibliographie der (fast) vergessenen Berufe, Innsbruck–Wien 1996; Marianne FRIESE, Dienstbotin. Genese und Wandel eines Frauenberufs, in: Claudia GATHER, Birgit GEISSLER, Maria RERRICH (Hg.), Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Hausarbeit im globalisierten Wandel, Münster 2002, S. 223–237. 22 Vgl. Saskia SASSEN, Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M.–New York 1996 [1994]. 23 Vgl. Janet HENSHALL MOMSEN, Maids on the Move, in: DIES. (Hg.), Gender, Migration and Domestic Service, London–New York 1999, S. 5.
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undokumentierter und illegaler Arbeitsverhältnisse ist, liegen nur Schätzungen über die Anzahl an weiblichen Migranten vor. Demnach machen Frauen inzwischen weltweit die Hälfte der Wandernden aus, eine Entwicklung, die die „Global Commission on International Migration“ nach dem „brain drain“ vom „care drain“ sprechen lässt, d.h. dem Abfluss von Fürsorge aus Staaten, wie beispielweise den Philippinen, wo der Anteil an Migrantinnen inzwischen bei rund 70 Prozent liegt.24 Angesichts dieser neuen internationalen Arbeitsteilung „of reproductive labor“25 diagnostiziert die US-amerikanische Soziologin Arlie Hochschild eine „global care chain“26, d.h. eine weltweite Fürsorgekette, in der Frauen migrieren, um Kinder berufstätiger Eltern in euro-amerikanischen Gesellschaften großzuziehen, während ihre eigenen Kinder in ihren Herkunftsländern wiederum von anderen Frauen – entweder aus der eigenen Verwandtschaft oder von bezahlten Kräften – betreut werden. Fordert uns das transnationale Paradigma also dazu auf, angesichts der hier skizzierten Entwicklungen unsere Vorstellungen von Familiarität als nahräumliche „Face-to-Face-Beziehungen“ zu überdenken, so zeichnet sich vor diesem Hintergrund in neueren Untersuchungen auch ein Perspektivenwechsel ab, was das Verständnis von der „Migrantenfamilie“ betrifft. Zum einen lässt sich ein Wandel der Bilder und Konzepte von Elternschaft, und insbesondere von Mutterschaft feststellen. Begriffe wie „transnational parenting“27 oder „long-distance-mothering“28 wurden eingeführt, um neue Formen familiärer Bindung zu beschreiben, in die das veränderte Verhältnis von Raum und Zeit eingelassen ist. Sie beschreiben zugleich einen Bruch im Hinblick auf grundlegende Erwartungen, die sich vor allem mit neuen Entwürfen von Mutterschaft verbinden. Zum anderen tritt die Vorstellung von der Migrantenfamilie als einer homogenen Einheit in den Hintergrund, welche kollektive, im Einverständnis geschlossene Entscheidungen trifft –
24 Vgl. Das globalisierte Dienstmädchen, in: Die Zeit, 19. August 2004, Nr. 35, S. 24. 25 Rhacel S. PARRENAS, Servants of Globalization. Women, Migration and Domestic Work, Stanford 2001, S. 62. 26 Arlie R. HOCHSCHILD, Love and Gold, in: DIES., Barbara EHRENREICH (Hg.), Global Woman. Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York 2004, S. 15–30, hier S. 19. 27 PARRENAS, Servants of Globalization, S. 26. 28 Michelle R. GAMBURD, The Kitchen Spoon’s Handle. Transnationalism and Sri Lanka’s Migrant Housemaids, Ithaca–London 2000, S. 15.
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wie etwa, wer für den familiären Verband emigrieren sollte; vielmehr überwiegt mittlerweile eine Konzeption, wonach diese Lebensform vor allem durch die konfligierenden Bedürfnisse und Interessen ihrer Mitglieder geprägt ist.29
T RANSNATIONALE F AMILIARITÄT Auch unsere eigene Forschung über grenzüberschreitende Familien zeigt, dass diese Lebensform in den untersuchten Familien mitunter zu Brüchen und Konflikten führt, sich daneben aber auch bei dem Versuch, Familiarität über weite Distanzen hinweg zu gestalten, Spielräume und Optionen beobachten lassen. Das im Folgenden präsentierte Material ist einem Forschungsprojekt an der Philipps-Universität Marburg entnommen.30 Im Zentrum der Untersuchung stand die Frage nach der Bedeutung und dem Wandel von Familiarität in Familien, die in verschiedener Weise plurilokal zwischen den jeweiligen Herkunftsregionen und den Ankunftsländern organisiert sind. In das Untersuchungssample wurden zum einen Interviewpartner aus Familien aufgenommen, deren grenzüberschreitende Konstellationen im Zuge der Arbeitsmigrationen nach Deutschland und Österreich in den 1960er-Jahren entstanden sind. Den damaligen Anwerbeabkommen entsprechend handelt es sich bei den Herkunftsländern der befragten Familien um Italien, Griechenland, die Türkei, das ehemalige Jugoslawien und, als ein Beispiel für außereuropäische transkontinentale Beziehungen, Südkorea. Zum anderen wurden solche Familien ausgewählt, deren transnationale Lebensform erst nach 1990 beginnt. Dazu zählen Familien aus der Ukraine, Weißrussland, Russland, Litauen und, wiederum als ein Beispiel für transkontinentale Migrationen, Peru und Kolumbien. Damit befinden sich im Sample zwei Gruppen von transnationalen Familien, die sich hinsichtlich
29 Rhacel S. PARRENAS, Children of Global Migration. Transnational Families and Gendered Woes, Stanford 2005; Ninna NYBERG SORENSSEN, Transnational Family Life across the Atlantic: The experience of Colombian and Dominican migrants in Europe. (http://www.nias.knaw.nl/en/news_forthcoming_activities/ lutz/new_3/sorensen.pdf, 2005) (Zugriffsdatum: 27.7.2007). 30 Das Forschungsprojekt „Transnationale Familiarität“ (Prof. Dr. Ina Merkel, Dr. Karen Körber) wird am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg durchgeführt. Das Projekt wird finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
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der Dauer des Migrationsprozesses und der jeweiligen migrationsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie dahingehend voneinander unterscheiden, welche Möglichkeiten an Kommunikations- und Transportmitteln für den Versuch zur Verfügung stehen, das familiäre Projekt über die staatlichen Grenzen hinweg zu gestalten. Im Folgenden soll nun exemplarisch auf jene Praktiken transnationaler Familiarität verwiesen werden, die in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung jener „time-and-space-compressingtechnologies“ stehen. Anhand von Fallbeispielen wird dargestellt, welche Bedeutung der massenhaft möglich gewordene Zugang zu den neuen Technologien für die Art und Weise der familiären Kommunikation hat und in welcher Weise er die Wahrnehmung von Nähe und Distanz in den befragten Familien verändert. Dabei verweisen die Schilderungen unserer Interviewpartner auf Dimensionen eines familiären Wandels, der getragen ist von einer neuen Erfahrung der virtuellen Nähe auf Distanz. Ein Wandel, der das Familienleben über Grenzen hinweg erleichtert, aber auch neue Anforderungen und Erwartungen an die einzelnen Familienmitglieder stellt.
V ERDICHTUNG
VON
R AUM
UND
Z EIT
Der israelische Schriftsteller Amos Oz beschreibt in seinem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis31 eine wiederkehrende Szene aus seiner Kindheit im Jerusalem der 1940er-Jahre. Minutiös schildert er, wie seine Eltern jene Telefonate vorbereiten, die alle paar Monate mit den Verwandten in Tel Aviv geführt werden: Wie sie das Ferngespräch per Brief ankündigen, darin den Tag und die genaue Uhrzeit festlegen, wie ihnen die Verwandten die Daten wiederum postalisch bestätigen und er sich gemeinsam mit seinen Eltern zum verabredeten Zeitpunkt in der nahe gelegenen Apotheke einfindet, um vom dortigen Apparat ein Ferngespräch anzumelden, das schließlich von seiner Tante und seinem Onkel in Tel Aviv angenommen wird. Das Gespräch verlief in etwa wie folgt: „Hallo Zvi?“ „Am Apparat“ „Hier ist Arie, aus Jerusalem.“ „Ja, Arie, shalom, wie geht es euch?“ „Bei uns ist alles in Ordnung,
31 Amos OZ, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, Frankfurt a. M. 2006 [2002].
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wir sprechen von der Apotheke aus mit euch.“ „Wir auch. Was gibt’s Neues?“ „Es gibt nichts Neues. Wie ist es bei euch, Zvi, was hast du zu erzählen?“ „Alles in Ordnung. Nichts Neues. Man lebt.“ „Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Auch bei uns gibt es nichts Neues. Bei uns ist alles völlig in Ordnung. Und was ist bei Euch?“ „Auch alles völlig in Ordnung.“ „Sehr gut.“ […] Das war das ganze Gespräch.32
In Amos Oz’ Erzählung wird nicht nur das besondere Schicksal des jüdischen Volkes und des Staates Israel am Beispiel seiner eigenen Familiengeschichte geschildert. Der Autor lässt in seiner Rückblende noch einmal lebendig werden, wie eine Distanz, die aus heutiger Sicht einem Katzensprung gleicht – nämlich die zwischen Jerusalem und Tel Aviv –, aus damaliger Perspektive schier unüberwindbar scheint. In den Augen des kleinen Amos kommt es einem Wunder gleich, dass es möglich ist, mit Menschen zu sprechen, die dort, „[h]inter den Bergen und in weiter Ferne“33 leben, in Tel Aviv, auf einem anderen „Kontinent“.34 Der Moment, in dem das Telefon schließlich läutet, ist in seiner Erinnerung ein „magischer Augenblick“.35 Die aufwendige Vorbereitung der Telefonate, die sich in der immer gleichen Weise wiederholen, trägt Züge einer rituellen Handlung, der wenigstens so viel Bedeutung zukommt wie dem tatsächlich geführten Gespräch. Schilderungen wie diese, in denen der Organisation eines Telefonats ebenso viel Aufmerksamkeit beigemessen wird wie dem Gesprächsinhalt, finden sich vielfach auch in unseren Interviews mit Familienangehörigen von Menschen, die der Arbeitsmigration der 1960er-Jahre entstammen. In unserem Sample handelt es sich dabei um solche Familien, in denen die Eltern als junge Erwachsene im Verlauf der 1960er-Jahre aus Griechenland, der Türkei, Italien und Südkorea nach Deutschland und aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich eingewandert waren, während ihre Kinder in den Dörfern der Herkunftsregionen von Tanten und Onkeln oder den Großeltern aufgezogen wurden. Alle Gesprächspartner, die dieser Arbeitsmigration entstammen, berichten darüber, dass es in den privaten Haushalten der jeweiligen Herkunftsländer bis in die 1980er-Jahre hinein keine Te-
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Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 20.
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lefonanschlüsse gegeben habe, und, dass auch diejenigen, die ausgewandert waren, nur in seltenen Fällen über eigene Telefone verfügt hätten. Der Kontakt lief über Briefe und später, als ich ein bisschen größer war, als ich in die fünfte Klasse kam, da bin ich dann so im Dorf nebenan, also, das war sechs Kilometer weiter weg, (…) es war auch ein etwas größerer Ort, da gab es die Post und auf der Post das Telefon, da konnte ich die Eltern anrufen. So ein Mal oder zwei Mal im Monat hab ich dann mit denen telefoniert.36 Damals gab's in der ganzen Ortschaft ein gemeinschaftliches Telefon, und dort hat meine Mutter angerufen. Meine Mutter hat immer Fünfmarkstücke gesammelt. Wenn sie mit uns telefoniert hat, ist sie immer zu einem Automaten [Telefonzelle, K. K.] gegangen und hat die Fünfmarkstücke reingeworfen und hat dann angerufen, damit uns jemand benachrichtigt. Und dann sind wir gekommen und dann hat sie noch mal angerufen. Und dann hat es sich meist um das Nötigste gedreht. „Was machst du?“, Neuigkeiten, und so weiter, und das war’s. Auf jeden Fall, ich hatte dadurch den Kontakt. Also, mit einem Brief kannst du schon kommunizieren, aber mit dem Telefon ist das lebendiger. Du merkst, aha, ich hab den anderen an dem anderen Ende und hab mit dem gesprochen, ich weiß, wie es ihm geht.37
Das Ferngespräch ist ein öffentlicher und kostspieliger Akt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ermöglicht, sich der Abwesenden zu vergewissern, aber in der Regel sind die Gespräche kurz gehalten und dienen dazu, die anderen über das Wichtigste in Kenntnis zu setzen. Das eigentliche Medium der Verständigung in dieser Zeit ist der Brief, die Postkarte, gelegentlich das Paket mit Tonbändern oder Kassetten. Alle Gesprächspartner berichten von den „vielen Briefen“, die sie erhalten und geschrieben haben. Briefe dienten dem regelmäßigen und ausführlichen Austausch, sie waren wesentlich preiswerter und weniger aufwendig als ein Telefonat. Allerdings war mit der Post immer auch eine längere Wartezeit verbunden. Nicht jeder erhaltene Brief wurde sofort beantwortet; außerdem verging einige Zeit bis der Brief, einmal abgeschickt, seine Adressaten erreicht hat. „Das dauerte ja dann auch immer, ja, eine Woche, bis der Brief da war, eine Woche, bis
36 Interview mit Ana P. am 23.11.2009 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 8. 37 Interview mit Wassilis K. am 11.05.2009 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 5.
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der vielleicht dann irgendwie beantwortet wurde. So rund drei bis vier Wochen konnte das dauern, bis du da irgendwie mal eine Antwort hattest.“38 Der lange Zeitraum, den es braucht, um sich miteinander zu verständigen und auszutauschen, scheint der großen geografischen Distanz zu entsprechen, die zwischen den Familienangehörigen liegt. Im Medium des Briefes manifestiert sich somit selbst noch einmal die Erfahrung der Trennung: Die neuen Nachrichten aus der Ferne stellen für die Absender bereits Vergangenes dar. Ähnlich wie das öffentliche Telefonat tragen auch die Besuche der Arbeitsmigranten bei ihren Herkunftsfamilien Züge eines kollektiven Rituals. „Wir waren nicht die einzige Familie [in der Angehörige emigriert waren, K. K.]. Die Ausnahme waren die, die unten geblieben sind“,39 erinnert sich Ana P. an ihre Kindheit im ehemaligen Jugoslawien. Einmal im Jahr, zumeist im Sommer, kehrten die Arbeitsmigranten zurück in ihre Herkunftsdörfer. Die Anreise dauerte oft mehrere Tage, viele Migranten kamen mit dem Zug, später gelegentlich mit dem Auto. Selten kamen sie allein, meistens wurden sie von Verwandten und Nachbarn begleitet, die ebenfalls ihre Familien besuchten. Unsere Interviewpartnerinnen erinnern sich an die vielen „Geschenke, Kleider, Süßigkeiten“,40 die die Mütter und Väter mitbringen, aber auch daran, in welcher Weise die langen Phasen der Abwesenheit der Eltern die kurzen Momente der Begegnung und des Zusammenseins strukturieren. Und dann sind sie im Sommer gekommen. Und Weihnachten hab ich während dieser Trennungszeit zwei Mal mit meinen Eltern gefeiert. Die waren nur zwei Mal Weihnachten da. In diesen vierzehn Jahren.41 Ich habe schon gewusst, dass meine Eltern, dass wir nicht so (.) normal zusammen waren. Wenn sie gekommen sind im Sommer, dann haben die Tante und der Onkel mir gesagt: „Papa und Mama sind da“, und ich habe gesagt: „O.k., haben sie was mitgebracht? “ „Ja.“ „O. k., dann sind's die Eltern.“ Dann nach zwei bis drei Wochen bin ich mit denen ein bisschen vertraut geworden. Aber dann waren sie wieder
38 39 40 41
Interview mit Sophia W. am 10.02.2010 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 10. Interview mit Ana P. am 23.11.2009 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 7. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 6.
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weg für eine lange Zeit. Und sprechen konnten wir nicht, es gab kein Telefon, zwischendrin haben wir gar nichts gehört.42
Diese Aussagen zeugen nicht nur vom emotionalen Leid der Kinder, der empfundenen Enttäuschung und den wiederkehrenden Gefühlen von Verlust und Entfremdung, sondern auch von der Realität einer Migration, in der die räumliche Distanz groß ist und die Zeit der Trennung lange andauert. Wer migriert war, „war einfach weg, in der Fremde“,43 resümiert Sophia W. stellvertretend für viele unserer Interviewpartnerinnen die familiäre Erfahrung dieser Jahre. Zu diesen Erfahrungen gehört das unmittelbare Erlebnis der Trennung sowie die schrittweise Erkenntnis, dass aus einer Migration, die als eine zeitlich befristete Ausnahmesituation geplant war, ein „dauerhaftes Provisorium“44 wird, welches sich in vielen Familien über Jahre verstetigt und neue Entwürfe fordert, das Familienleben über weite Entfernungen hinweg zu gestalten. Die Familie von Sophia W. ist ein solcher Fall. Sophia kommt aus einer griechisch-stämmigen Familie, die im Zuge der Gastarbeitermigration nach Deutschland migriert ist. Sie ist Mitte Vierzig, geschieden und seit zwanzig Jahren Inhaberin eines Friseursalons in Frankfurt am Main, den sie mittlerweile gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter führt. Sophias Familie kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Thessaloniki; sie hat zwei Brüder, die vier und acht Jahre älter sind als sie. Sophias Vater migriert bereits vor Sophias Geburt nach Deutschland, als Sophia drei Jahre alt ist, folgt ihm die Mutter. Die Eltern planen, gemeinsam in möglichst kurzer Zeit Geld für eine erfolgreiche Rückkehr zu erwirtschaften, während die drei Kinder im Dorf bei der Großmutter mütterlicherseits bleiben, umgeben von weiteren Verwandten, die vor Ort leben. Als die Eltern nach einem Jahr feststellen, dass sich der Zeitpunkt der Rückkehr weiter verschiebt, holen sie ihre drei Kinder nach Deutschland. Wenig später wird der mittlere Sohn zurück nach Griechenland geschickt, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen, einige Jahre darauf folgt der ältere Bruder, um seinen Militärdienst abzuleisten.
42 Interview mit Dragica S. am 24.03.2009 in Wien, Transkript, S. 4. 43 Interview mit Sophia W. am 18.10.2010 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 4. 44 Abdelmalek SAYAD, Santé et équilibre social chez les immigrés, in: Psychologie medicale XIII/11 (1983), S. 1747–1775, hier S. 1749.
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Also, das waren immer so bestimmte Jahre und dann immer wieder 'ne Trennung. Gut, so ging das eigentlich so die ganzen Jahre und, natürlich, die haben versucht, immer so viel Urlaub wie möglich im Sommer zu nehmen, dass wir eben dort [in Griechenland, K. K.] sind. Und es war dann auch, ja, es war dann auch sehr schön. Also, waren wir dann dort und die ganze Familie und sehr engen Kontakt dann mit den anderen Familienmitgliedern. Und, ja gut, und dann hieß es wieder: ins Auto und zurück. Und gibt's halt immer Tränen, ja, immer Abschied und Tränen und Abschied und Tränen.45
Das Familienleben von Sophia W. ist über einen langen Zeitraum hinweg bestimmt vom Mythos einer Rückkehr nach Griechenland.46 Diese Vorstellung prägt auch die Entscheidungen der Eltern, vorübergehende Trennungen von Angehörigen in Kauf zu nehmen, da jeder Schritt dazu dient, dass in einer nicht näher definierten Zukunft alle wieder gemeinsam in Griechenland leben werden. Tatsächlich beginnen jedoch alle drei Kinder, sich in Deutschland eigene Existenzen aufzubauen und Familien zu gründen. Anfang der 1980er-Jahre verunglückt Sophias Vater tödlich bei einem Autounfall in Griechenland. Die Ehe von Sophia scheitert, kurz darauf trennt sich auch der mittlere Bruder von seiner Frau. Sophia besteht ihre Meisterprüfung als Friseurin und macht sich selbstständig. Ihr Bruder eröffnet mit seiner neuen Frau nahe der holländischen Grenze ein eigenes Restaurant. Als das Familienleben sich nach Deutschland zu verlagern scheint, beschließt die Mutter, alleine nach Griechenland in das Dorf ihrer Herkunft zurückzukehren. Sophia reagiert einerseits fassungslos auf diese Entscheidung, schließlich leben sämtliche Kinder und Enkelkinder in Deutschland, andererseits vollzieht die Mutter einen Schritt, der geplant war. „Ja, und das war immer ganz klar, dass es mal immer irgendwie, es nach Griechenland geht. Eben diese Familiengeschichte so.“47 Die Rückkehr der Mutter nach Griechenland wirft noch einmal die Fragen auf, wo und in welcher Weise die Familie ihr gemeinsames Leben gestalten will und ob die nachfolgende Generation an der Rückkehrorientierung der Eltern festhält. Während der älteste Bruder vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Thessaloniki ge-
45 Interview mit Sophia W. am 10.02.2010 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 3. 46 Zum Mythos der Rückkehr am Beispiel der türkischen Arbeitsmigration vgl. auch Barbara WOLBERT, Der getötete Pass. Rückkehr in die Türkei. Eine ethnologische Migrationsstudie, Berlin 1995. 47 Interview mit Sophia W. am 10.02.2010 in Frankfurt a. M., Transkript, S. 5.
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zogen ist, bleiben Sophia und ihr Bruder in Deutschland. Sophia bettet ihre Entscheidung gegen eine Rückkehr in einen Prozess ein, der sich, ihrer eigenen Wahrnehmung nach, von den Erfahrungen ihrer Eltern grundsätzlich unterscheidet. Hafteten der Migration in den Erzählungen der Mutter, aber auch in Sophias eigenen Kindheitserinnerungen Züge eines unvermeidbaren „Entweder-Oder“ an, so erlebt sie ihr eigenes Familienleben auf Distanz eher als ein „Sowohl-als-auch“, indem die alltägliche Praxis ein müheloses Überwinden der Entfernungen ermöglicht. In Sophias Erkenntnis über diese neuen Erfahrungen ist auch eine Differenz eingeschrieben, die sich darauf bezieht, unter welchen Voraussetzungen sie ihre Entscheidung für einen Verbleib in Deutschland getroffen hat: An die Stelle von Schicksal tritt ein Akt der Wahl. Aber es ist halt total anders bei uns jetzt geworden. Und das, irgendwann wurde mir das halt bewusst. In dem Moment, wo ich mir dessen bewusst geworden bin, hab ich gesagt: „O.k., ganz weg kann ich hier [aus Frankfurt, K. K.] nicht, will ich nicht, was hab ich für ne Möglichkeit? Öfters hinzufliegen. Und dann hab ich das eben so, da hab ich das zu meiner Mutter auch gesagt, also: „Du wirst damit jetzt irgendwie, das verstehen müssen, dass deine Kinder kommen und gehen. (…)“ Ja, und jetzt hat sich das so eingependelt, dass wir im Grunde, ja, so versuchen, so oft wie möglich uns zu sehen und, natürlich, durch diese ganzen Möglichkeiten, Telefon, Internet, also, es ist ja alles sehr viel einfacher geworden, so, miteinander zu kommunizieren. Das ist eine gute Form, auch dass man eben die weite Reise mit dem Auto nicht mehr machen muss, weil man fliegt und so. Das ist jetzt alles etwas näher geworden. Und das Ganze ist ja dadurch etwas entspannter.48
Das Interview verweist nicht nur darauf, wie aus einer ursprünglich als zeitlich begrenzt geplanten und rückkehrorientierten Migration der ersten Generation oftmals eine langlebige, flexible und generationenübergreifende familiale Lebensform geworden ist, die sich sozial und kulturell an mehreren Orten situiert, sondern spiegelt auch im Hinblick darauf, wie der Kontakt familiär aufrecht erhalten wird, den technologischen Wandel in der Kommunikationsinfrastruktur der 1990er-Jahre wider. Ein Wandel, der sich in unterschiedlicher Weise auch bei anderen Familien in unserem Sample zeigt. So herrscht bei allen Gesprächspartnern Übereinstimmung darüber,
48 Ebenda, S. 5.
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dass die sinkenden Kosten häufigere und längere Telefonate sowie den spontanen Anruf „einfach nur so“ erlauben. Eine Entwicklung, die von allen Interviewpartnern einhellig als Erleichterung für ihr Familienleben auf Distanz bewertet wird. Die fortschreitende Schwangerschaft der Tochter kann per Webcam begleitet werden und Cousins und Cousinen können zwischen Sidney, Frankfurt und Chicago im Internet miteinander „chatten“. Doch nicht alleine die Art und Weise der Kommunikation hat sich verändert. Die Möglichkeit, sich häufig, spontan und informell auszutauschen, erzeugt bei den Beteiligten das Gefühl von Nähe und Verbundenheit über große geografische Distanzen hinweg und trägt dazu bei, dass die physische Abwesenheit wenigstens zeitweise an Bedeutung verliert. Der Kommunikationswissenschaftler Christian Licoppe kommt in seinen Studien zu ähnlichen Ergebnissen, wenn er schildert, dass “communication technologies, instead of being used (however unsuccessfully) to compensate for the absence of our close ones, are exploited to provide a continuous pattern of mediated interactions that combine into ‘connected relationships’, in which the boundaries between absence and presence eventually get blurred.”49 Die Vielzahl vermittelter Interaktionen hat also nicht nur eine Verdichtung von Raum und Zeit zur Folge, vielmehr lässt sie den Eindruck entstehen, trotz der physischen Entfernung, gemeinsam Raum und Zeit zu teilen50 – eine Wahrnehmung, die das Empfinden familiärer Zusammengehörigkeit über Grenzen hinweg erheblich stärkt. Diesem, historisch betrachtet, einmaligen Ausmaß an kommunikativ hergestellter Nähe entspricht jedoch auch die Einsicht, dass das eigene Handeln im Verhältnis dazu stets nur ein über Medien vermitteltes bleibt und – etwa im familiären Krisenfall – Kopräsenz nicht ersetzen kann. Diese Erfahrung produziert für Angehörige transnationaler Familien auch neue Dilemmata, die sich aus der Verfügbarkeit der neuen Technologien ergeben. Anders gesagt, die gesteigerten Chancen auf Erreichbarkeit wecken auch die Erwartung, erreichbar zu sein. Wenn Distanz in vielen Fällen keine unüberwindbare Barriere mehr darstellt, dann trägt die eigene Abwesen-
49 Christian LICOPPE, “Connected” presence: The emergence of a new repertoire for managing social relationships in a changing communication technoscape, in: Environment and Planning D: Society and Space 22 (2004), S. 135–56, hier S. 136. 50 Vgl. Raelene WILDING, Virtual Intimacies, in: Global Network 6/2 (2006), S. 125–142.
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heit nicht länger nur schicksalhafte Züge, sondern wird zunehmend zu einem Akt der Entscheidung. Ob, wann und unter welchen Voraussetzungen Familienmitglieder zusammenkommen, ist damit auch Gegenstand von Verhandlungen darüber, was familiäre Pflichten und Verantwortlichkeiten sind.51 Ein Beispiel dafür ist die folgende Episode mit einer unserer Interviewpartnerinnen aus Peru: Maria P. ist Anfang zwanzig und lebt seit drei Jahren in Österreich. Sie ist als Au-pair aus Lima nach Wien gekommen und hat anschließend eine Ausbildung als Pflegehelferin begonnen. Während eines Interviews erhält Maria auf ihrem Handy einen Anruf ihres in Lima lebenden, älteren Bruders, der über ernsthafte Magenprobleme klagt und sie um Geld für weitere Arztbesuche bittet. Maria reagiert kurz angebunden, verspricht jedoch, ihn am späteren Abend zurückzurufen. Nach dem Telefonat teilt sie mir mit, dass sie sich große Sorgen um den Bruder mache, da er nicht das erste Mal erkrankt sei und bereits ihr Großvater und ihr Vater an Magenkrebs gestorben wären. Gleichzeitig reagiert sie verärgert darauf, dass ihre Familie selbstverständlich von ihr erwartet, in Notsituationen finanziell einspringen zu können. Maria hatte, so lange es ihr möglich war, regelmäßig Geld nach Hause geschickt. Seitdem sie jedoch nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auch ihre Ausbildung finanzieren muss, reicht ihr monatliches Einkommen kaum aus, um größere Überweisungen nach Peru zu tätigen. Bei unserem nächsten Treffen berichtet mir Maria, dass sie noch am selben Abend dem Bruder ins Gewissen geredet hat: „Ich habe ihm gesagt, dass er mit dem Junkfood aufhören muss und mit dem scharf gewürzten Essen, das muss er lernen“.52 Außerdem hat sie ihre zwei älteren Schwestern angerufen: „Sie haben versprochen, auf ihn zu schauen. Er lebt ja noch allein, sie sagen, er kann auch bei ihnen mitessen“.53 In den folgenden Wochen setzt ein intensiver Telefon- und E-Mail-Kontakt mit den Geschwistern ein. Aus den monatlichen Telefonaten werden wöchentliche, gelegentlich auch tägliche Gespräche. Maria beginnt, wieder regelmäßig Geld nach Hause zu schicken, da ihr eine Schwester mitteilt, dass der Bruder nicht mehr arbeiten kann und teure Medikamente braucht. Nach
51 John URRY, Networks, Travel and Talk, in: British Journal of Sociology 54/2 (2003), S. 155–175, hier S. 169f. 52 Zum Mythos der Rückkehr am Beispiel der türkischen Arbeitsmigration vgl. auch WOLBERT, Der getötete Pass. 53 Interview mit Maria P. am 30.03.2009 in Wien, Transkript, S. 2.
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drei Monaten scheint die Krise überstanden, dem Bruder geht es besser und er kann seine Arbeit wieder aufnehmen. Maria resümiert: Ich konnte ihm [dem Bruder, K. K.] von hier aus besser helfen. Er brauchte das Geld, nur ich kann das machen, nur ich kann Geld schicken, meine Geschwister in Peru können das nicht. Aber ich habe Angst um meine Tante, die, bei der ich aufgewachsen bin. Sie hat Arthritis und es geht ihr immer schlechter. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn es noch schlimmer wird. Soll ich mehr arbeiten, um Geld zu schicken, oder? Ich weiß es nicht.54
Marias Geschichte steht beispielhaft für eine strukturelle Erfahrung, die auch andere Interviewpartner teilen. Über Medien, wie das Mobiltelefon und das Internet, ist sie in eine schwierige familiäre Situation kommunikativ involviert, die sich gleichwohl anderswo abspielt. Sie ist zwar unmittelbar erreichbar, kann aber nur vermittelt handeln – eine Situation, die emotional ambivalent erlebt wird und wiederholt Gefühle der Anspannung hervorruft. Die neuen Technologien ermöglichen es ihr, das zu tun, was sie in Übereinstimmung mit ihrer Familie als notwendig erachtet: Sie kann binnen kürzester Zeit eine Überweisung tätigen und damit finanziell denen „vor Ort“ helfen. Sie kann sich mit dem Betroffenen selbst und mit beteiligten Dritten telefonisch oder per E-Mail über die Probleme austauschen, ihre Meinung kundtun und gewissermaßen Empfehlungen aussprechen, aber sie ist nicht präsent. Daraus erwächst ein Gefühl der Anspannung, das auch einer empfundenen Ungleichzeitigkeit entspringt, nämlich virtuell den Abwesenden nahe zu sein, während das eigene Handeln in „weitreichende Handlungsketten“ eingebunden ist, die sich im Zuge transnationaler Verflechtungszusammenhänge über nationalstaatliche Grenzen hinweg „verlängert“ haben.55 Wie Marias Beispiel zeigt, hat sich ihr Handlungsspielraum zwar erheblich entgrenzt, gleichzeitig aber kann sie das Ergebnis ihrer Handlung nicht vorwegnehmen. Eine Erkenntnis, die, wie Norbert Elias schreibt, die Einzelnen zunehmend dazu drängt, die „Wirkungen (ihrer) Handlungen oder die Wirkung der Handlungen von Anderen über eine ganze Reihe von Kettengliedern hinweg zu denken“,56 ohne damit jedoch der
54 Interview mit Maria P, am 30.03.2009 in Wien, Transkript, S. 6. 55 Norbert ELIAS, Über den Prozess der Zivilisation, Band II, Frankfurt a. M. 1997, S. 332. 56 Ebenda, S. 332.
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Einsicht zu entgehen, dass ihnen die Kontrolle ihrer intendierten Handlungen schlussendlich entzogen bleibt. Marias Erfahrung, dass die Verdichtung von Zeit und Raum Nähe stiftet, aber auch veränderte Problemlagen mit sich bringen kann, teilt auch Jannis K. Ähnlich wie Sophia W. stammt er aus einer Familie griechischer Herkunft, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland eingewandert ist. Während die Eltern nach Jahren des Pendelns mittlerweile nach Griechenland zurückgekehrt sind, lebt Jannis weiterhin in Deutschland. Im Interview betont er den engen Kontakt zur Herkunftsfamilie; durch die günstigen Telefontarife und das Internet kann er problemlos mit Eltern und Verwandten kommunizieren, wenn nötig täglich. Zudem hat der Ausbau des Transportwesens – insbesondere der verbilligte Flugverkehr – die Möglichkeiten vervielfältigt, innerhalb sehr kurzer Zeit in den Heimatort nach Griechenland zu reisen. Vor diesem Hintergrund schildert Jannis den Kontakt zu seinen Eltern folgendermaßen: Gut, dadurch, dass man jeden Tag telefoniert, geht es, ist es einfacher und dann mit dem Flieger, die Entfernungen haben sich total minimiert, sozusagen. Jetzt war er krank, mein Vater. […] Erstens durch das Telefon kannst du sagen: „Na, ich ruf mal an, jetzt gleich. Mal sehen, wie es denen geht.“ Und zweitens: Wenn er mich braucht, o.k., dann bin ich morgen da. Oder heut noch. […] Also ich hatte wirklich ein Horrorszenario für mich gebildet, wenn ich ganz schnell da sein muss. Also ich meine, sagen wir so, der letzte Flug geht um 21 Uhr abends hier weg nach Zürich und dann nehm’ ich den Flieger von Zürich nach Saloniki. Und dann bin ich um 1 Uhr nachts oder um 2 Uhr nachts da. Es geht also. Das heißt nicht, dass ich heute schon weg müsste. Also, es geht immer halt, es gibt die Möglichkeit. Wenn ich sage, „o. k., du musst heute da sein“, dann bin ich das auch.57
Das Szenario von Jannis gibt auf den ersten Blick darüber Auskunft, wie sehr sich die Reisewege verkürzt haben. Anders als seine Eltern, die höchstens einmal im Jahr zurück nach Griechenland reisen konnten, um dann mit dem Zug rund vierzig Stunden unterwegs zu sein, benötigt er für dieselbe Strecke heutzutage nur wenige Stunden: Er kann fliegen und sich dann ein Auto leihen, schließlich ist auch die Straße zum Dorf mittlerweile gut ausgebaut. Doch nicht nur die Reisewege haben sich verkürzt, auch seine eige-
57 Interview mit Jannis K. am 16.03.2010 in Frankfurt a. M., Transkript S. 23.
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ne finanzielle Lage sowie seine berufliche Selbstständigkeit erlauben es ihm, flexibel und individuell darüber zu entscheiden, im Notfall sofort aufzubrechen. Gleichzeitig trägt das beschworene Szenario unausgesprochen ein Problem in sich: Die Erkrankung des Vaters bedeutet, dass sich ein solcher Krisenfall wiederholen kann und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit auch wiederholen wird. Jannis und seine beiden Geschwister aber leben mit ihren Familien in Deutschland. Keines der Kinder ist in der Nähe, wenn wirklich etwas passiert. Die täglichen Anrufe bei den Eltern und die detaillierten Kenntnisse der verschiedenen Flugverbindungen stehen auch für das Versprechen, schnellstmöglich präsent zu sein. Gleichzeitig aber handelt es sich bei dem beschriebenen „Horrorszenario“ um ein Planspiel, das immer auch scheitern kann. Was passieren kann, wenn aus einem solchen Planspiel Realität wird, schildert Sophia W. Sie erfährt am Telefon, dass ihre Großmutter in Griechenland im Sterben liegt. Und da hat meine Mutter mich angerufen und gesagt: „Ja, schön dass du kommst, der Oma geht's nicht gut, sieht aus, als wenn wir die Oma verlieren.“ Und dann ist sie [die Großmutter, K. K.] einen Tag, bevor wir geflogen sind, gestorben, äh, beerdigt worden. Und ich hab versucht, noch ein Ticket zu bekommen und das war einfach nicht möglich. Und ich hatte mich innerlich aber schon so darauf eingestellt, „ok, es kann sein, dass ich da bin und mit dabei bin, wenn die Oma stirbt“ und so, und das war für mich so, ich hatte mich so darauf vorbereitet, auch von ihr Abschied zu nehmen und es war einfach nicht möglich, egal, welches Ticket ich genommen hätte, obwohl wir in Frankfurt sind, ich hätte über Athen, dann wiederum, also, ich hätte es überhaupt nicht geschafft. […] Und das hat mich voll wahnsinnig gemacht, weil ich dachte: Das gibt’s doch nicht, ein Tag später wär ich da, ja?58
Auch Sophia ist unmittelbar involviert in das familiäre Geschehen in Griechenland und bereitet sich bereits in Frankfurt darauf vor, dass sie die Großmutter möglicherweise nur noch ein letztes Mal sehen wird, erhofft sich aber, an ihrer Beerdigung teilnehmen zu können. Doch obgleich auch Sophia verschiedene Reisewege prüft und sich flexibel zeigt, schafft sie es nicht, rechtzeitig vor Ort zu sein. Ihre ohnmächtige Wut ist Ausdruck eines Dilemmas, das sich aus dem Zugang zu „time-and-space-compressingtechnologies“ ergibt. Der technologische Wandel und die erleichterten Zu-
58 Interview mit Sophia W. am 10.02.2010 in Frankfurt a. M., Transkript S. 17.
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griffsmöglichkeiten steigern zum einen den Grad an wechselseitigen Erwartungen und Verbindlichkeiten innerhalb transnational organisierten Familien. Diese Entwicklung hat zum anderen zur Folge, dass die einzelnen mit der gelegentlich schmerzhaften Einsicht konfrontiert sind, nicht in allen Fällen über ausreichende Mittel, den ungehinderten Zugang oder die individuelle Kompetenz zu verfügen, die neuen Technologien uneingeschränkt und effektiv zu nutzen.59 Der technologische Wandel hat demnach nicht nur eine Verdichtung von Raum und Zeit zur Folge, er kann auch zu einer veränderten Bewertung des Migrationsprozesses selbst führen. Wenn an die Stelle von langfristigen Prozessen der Ein- und Auswanderung virtuelle und räumliche Wechselbewegungen treten, die zunehmend individuell und flexibel gestaltet werden können, ändern sich damit schrittweise auch die Maßstäbe der Beurteilung dessen, was das Leben auf Distanz betrifft. Das schlechte Gewissen, das sowohl aus Jannis wie aus Sophias Schilderungen spricht, geht insofern auf eine Selbstzuschreibung zurück, in der die eigene Abwesenheit als Ergebnis einer individuellen Entscheidung gewertet wird, die man auch anders hätte treffen können. Die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung hat die hier geschilderten grenzüberschreitenden familialen Entwürfe lange Zeit als ein Merkmal für das Scheitern von Integration interpretiert. Diese Wahrnehmung hängt vor allem damit zusammen, dass der Prozess der Migration selbst als ein unilinearer Vorgang gedeutet wurde, der mit der Ankunft im Aufnahmeland an sein Ende kommen würde. Betrachtet man solche Lebens- und Familienformen dagegen aus einer transnationalen Perspektive, so können sie auch als ein aktiver und autonomer Umgang mit multilokalen Ortsbezügen verstanden werden, die sich eindeutigen, national begrenzten Formen der Zugehörigkeit entziehen. Die Motive für solche transmigratorischen Lebensstrategien erwachsen aus dem Umstand, dass eine Vielzahl der sozialen, materiellen wie identifikatorischen Ressourcen, die im Lebensverlauf an Bedeutung gewonnen haben und genutzt werden, sich in unterschiedlicher Weise auf das Herkunfts- und Ankunftsland verteilen.60 Eine solche
59 Loretta BALDASSAR, Transnational Families and Aged Care: The Mobility of Care and the Migrancy of Ageing, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 33/2 (2007), S. 275–297. 60 Vgl. Helen KRUMME, Fortwährende Remigration: Das transnationale Pendeln türkischer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten im Ruhestand, in: Zeitschrift für Soziologie 33/2 (2004), S. 138–153.
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Betrachtung unterstellt jedoch weder das „postnationale“ Zeitalter noch ein Verständnis, wonach Transnationalität vor allem in imaginären und virtuellen Räumen stattfindet.61 Vielmehr müssen sich transnationale Praktiken mit den spezifischen ökonomischen, kulturell durchwirkten und staatlich regulierten Lokalitäten in den Herkunfts- und Zielgebieten auseinandersetzen. Je nach Herkunft und Status können familiale Netzwerke dabei vor allem nach Gesichtspunkten der Optimierung von Bildungs- und Einkommenschancen organisiert sein und darauf abzielen, Aufenthaltsrechte und Pässe in bestimmten Ländern zu erwerben, um für alle Wechselfälle des politischen und wirtschaftlichen Lebens gerüstet zu sein. Oder aber sie dienen dazu, wie etwa das Beispiel der weiblichen Pflegekräfte in Deutschland und Österreich zeigt, auf die nationalstaatlich organisierten Grenzregime zu reagieren, die allein der jeweiligen Arbeitskraft einen temporären Aufenthaltsstatus gewähren und damit die alltägliche Sorge um deren Familienangehörige innerhalb des eigenen Territoriums ausschließen. Überspitzt formuliert wird die Migrantenfamilie somit zur Zielgruppe staatlicher Administration, die über die Vergabe unterschiedlicher Aufenthaltsrechte an der Konstruktion transnationaler Familienformen beteiligt ist.
61 Vgl. Arjun APPADURAI, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996.
Historische Perspektive
Migration − Kultur Urbane Milieus in der Moderne M ORITZ C SÁKY (W IEN )
Migrationen gehören ohne Zweifel zu den großen Herausforderungen der Gegenwart. Sie werden als das Ergebnis der Globalisierung angesehen, die nicht nur von einer wirtschaftlichen Vereinheitlichung, vielmehr auch von jeder Art von Kommunikation und einer zunehmenden Mobilität gekennzeichnet ist, die in den vergangenen Jahrhunderten nicht zu existieren schien. Obwohl aus ökonomischen und demografischen Gründen viele Länder auf Zuwanderung angewiesen wären, wird diese in der Öffentlichkeit vornehmlich negativ und emotional diskutiert und als Bedrohung für die lokale Bevölkerung dargestellt. Einer solchen Einschätzung, die Migrationen und Mobilitäten fast ausschließlich als das Ergebnis der gegenwärtigen Globalisierung ansieht, ist freilich entgegenzuhalten, dass Migrationen bereits in der Vergangenheit zur Realität des alltäglichen Lebens gehört haben. So waren die urbanen Milieus in den Jahrzehnten um 1900, zum Beispiel in Wien, Prag oder Czernowitz, pluriethnische, plurikulturelle und mehrsprachige Städte, in denen aufgrund massiver Zuwanderungen unterschiedliche verbale und nonverbale Kommunikationsräume der zentraleuropäischen Region aufeinandertrafen, ineinander übergingen und zur Dynamik urbaner kultureller Prozesse beitrugen. Obwohl die Zuwanderer das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Geschehen wesentlich mitbestimmt haben und obwohl mit ihrer Hilfe die städtebaulichen Erweiterungen erst möglich wurden, wie in Wien, wo ihnen deshalb die Zerstörung von „Alt-Wien“ zur Last gelegt wurde (etwa in
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zahlreichen Wienerliedern), bezeichnete man sie freilich schon seit dem 19. Jahrhundert ganz allgemein als „Fremde“; man begegnete ihnen daher mit argwöhnischer Skepsis und mit ähnlichen Abwehr- und Ausgrenzungsstrategien, wie man sie Migranten gegenüber in der Gegenwart anwendet. Auslöser für Migrationen in der Vergangenheit waren vor allem die großen wirtschaftlichen Transformationen, die auch die traditionalen gesellschaftlichen Strukturen veränderten. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatte die Industrialisierung und Technisierung unter anderem zur Folge, dass die Menschen, die bislang im agrarischen Sektor tätig waren, der nun nicht mehr den nötigen Unterhalt bot, entweder in den industriellen Produktionsstätten Arbeit suchten, die nahe an den urbanen Ballungszentren angesiedelt waren, oder ganz allgemein sich in den rasch expandierenden Städten nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umsahen. Das belegen auch Statistiken, die diese rasanten gesamteuropäischen demografischen Veränderungen veranschaulichen: Im Jahre 1800 hatte Berlin 175.000 Einwohner, im Jahre 1900 bereits 1,9 Millionen; die Bevölkerung Wiens erhöhte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von 240.000 auf 1,7 Millionen; die bevölkerungsreichsten Städte im Jahre 1900 waren London mit 4,5 Millionen und Paris mit 2,8 Millionen Einwohnern. Eine solche Entwicklung war auch für die zentraleuropäische Region kennzeichnend, in welcher die sozioökonomischen Transformationen nicht nur die innergesellschaftlichen Unterschiede vertieften und zu einer beschleunigten vertikalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, zu innergesellschaftlichen Fremdheiten beitrugen, sondern auch zu beträchtlicher Binnenmigration führten. Die Modernisierung, die industrielle Warenproduktion oder die Einführung neuer Kommunikationsformen wirkten sich zwar auf eine höhere Lebensqualität aus, die vor allem in den Städten erfahrbar wurde, sie führte aber gleichzeitig zu sozialem Elend und zur Vertiefung gesellschaftlicher Unterschiede. Die Umorientierung auf den neuen Dienstleistungssektor ging sehr oft mit einem sozialen Abstieg einher und ließ traditionelle Orientierungsmuster als obsolet erscheinen. Sowohl die modernen Massenparteien als auch die (neuen) nationalen Ideologien können als Re-Aktionen auf eine solche Situation verstanden werden. Die nationale Ideologie versprach eine neue, gesicherte Existenz innerhalb eines zunehmend demokratisch-politischen Systems, eingebettet in einer imaginierten, „konstruierten“, homogenen Sprach- und Kulturgemeinschaft, der Nation. Karl Jaspers spricht von der nationalen Ideologie als
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einem „Gedanken- oder Vorstellungskomplex, der sich dem Denkenden zur Deutung der Welt und seiner Situation in ihr als absolute Wahrheit darstellt, jedoch so, daß er damit eine Selbsttäuschung vollzieht zur Rechtfertigung, zur Verschleierung, zum Ausweichen, in irgendeinem Sinne zu einem gegenwärtigen Vorteil“.1 Von Interesse sind freilich in diesem Zusammenhang nicht so sehr die Prozesse der Nationsbildung, sondern, erstens, das Problem der Dynamik von kulturellen Prozessen, konkret: von individuellen und kollektiven Identitätsbildungen, die im Kontext einer brüchigen Welt kulturelle Mehrfachorientierungen, das heißt Mehrfachidentitäten, als selbstverständlich erscheinen ließen; zweitens die Verunsicherung, die solchen Prozessen inhärent war und die daher zu individuellen und kollektiven Krisen und Konflikten führen konnte. In der Tat schuf die akzelerierte innergesellschaftliche Differenzierung innerhalb der sozialen Stratigrafie eine Vielzahl von neuen Differenzen, von Fremdheiten. Damit wurden auch die Referenzsysteme als Orientierungsmuster für Individuen und ganze soziale Gruppen nicht nur komplexer, sondern auch vielfältiger und beliebiger. Die bewusste oder unbewusste Reflexion dieser Situation, die von Differenzen und Heterogenitäten geprägt war, ist eines der hervorstechenden Merkmale der Moderne um 1900.
K RISENSYMPTOME
DER
O RIENTIERUNGSLOSIGKEIT
Die kulturelle Lebenswelt insgesamt wurde in der Folge als zunehmend inkonsistent erfahren. Im Bereich der repräsentativen Kultur (Literatur, Musik, Kunst) wurden kulturelle Elemente mit unterschiedlichen, widersprüchlichen Symbolen aufgeladen und durch diese Mehrfachkodierung mehrdeutig, zuweilen beliebig. Auch die „Sprache“ − im wörtlichen und im übertragenen Sinne − wurde als brüchig erfahren. Ein literarisches Produkt erweckte, wie Friedrich Nietzsche 1888 zur Charakterisierung der „Décadence“, das heißt der Moderne, feststellen zu können glaubte, den Eindruck, kein Ganzes mehr zu sein: „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence?“, fragt Nietzsche. „Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus,
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Karl JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt a. M.–Hamburg 1957, S. 129.
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der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen − das Ganze ist kein Ganzes mehr“.2 Diese Beobachtung, die bereits das „Ende der Erzählung“ im Lyotard’schen Sinne anzudeuten scheint, ist nichts anderes als die Reflexion jener krisenhaften Veränderungen, die eine Folge der sozioökonomischen Transformationen waren. „Wir haben“, notierte beispielsweise in diesem Zusammenhang der junge Hugo von Hofmannsthal in einem seiner ersten Essays, „gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher.“3 Und 1910 meinte der junge Philosoph Georg Lukács im Nyugat (Westen), der renommierten Zeitschrift der ungarischen Moderne: „Mit dem Verlust der Stabilität der Dinge ging auch die Stabilität des Ichs verloren; mit dem Verlust der Fakten gingen auch die Werte verloren. Es blieb nichts außer Stimmungen“.4 Es sind dies insgesamt Benennungen jener Krisensymptome von Orientierungslosigkeit, die aus der modernisierungsbedingten inneren, vertikalen Differenziertheit der Gesellschaft resultierten; sie waren von gesamteuropäischer Relevanz. Diese Krisensymptome wurden in Wien und in anderen urbanen Milieus Zentraleuropas jedoch aufgrund komplexerer Heterogenitäten deutlicher wahrgenommen als anderswo, so dass man hier, nicht nur der Beobachtung Lyotards, sondern auch anderen Analysen folgend, zu einer ganz bewussten Delegitimierung, das heißt, zu einer bewussten Infragestellung von herkömmlichen Identifikatoren kommen konnte.5 Es waren vor allem die aus der umliegenden Großregion in die Städte Zugewanderten, die ein neues Element in der städtischen Bevölkerung darstellten. Abgesehen von den innergesellschaftlichen Veränderungen und
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Friedrich NIETZSCHE, Der Fall Wagner [1888]. In: Friedrich NIETZSCHE, Kritische Studienausgabe 6, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, S. 9–53, hier S. 27. Es ist dies ein indirektes Zitat aus Paul BOURGET, Essai de psychologie contemporaine, Paris 1883. Vgl. dazu Friedrich NIETZSCHE, Kritische Studienausgabe 14, S. 405. Hugo von HOFMANNSTHAL, Gabriele D’Annunzio [1893], in: Hugo von HOFMANNSTHAL, Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I: 1891–1913, hg. von Bernd Schöller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. M. 1979, S. 174–184, hier S. 175. Georg (György) LUKÁCS, Die Wege gingen auseinander, in: Aranka UGRIN, Kálmán VARGHA (Hg.), „Nyugat“ und sein Kreis 1908–1941, Leipzig 1989, S. 64–70, hier S. 66. Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 122.
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ihren sozialen Folgen wurden sie zunehmend als „Fremde“ wahrgenommen, die, so argumentierte man, die gewohnte städtische Ordnung zerstören und zur sozialen und kulturellen Destabilisierung beitragen würden. Und diese Zuwanderer kamen nicht, um später wieder zu gehen, sondern um zu bleiben, und wurden so, wie der Soziologe Georg Simmel festgestellt hatte, als „Fremde“ angesehen: Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt − sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Er ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises − oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. […] Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen ‚inneren Feinde‘ – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.6
D IE B INNENMIGRATION
UM
1900
Während in der Gegenwart Mobilitäten und Migrationen globale Phänomene sind, waren es im 19. Jahrhundert und in den Jahrzehnten um 1900 Binnenmigrationen, Wanderbewegungen von Personen und sozialen Gruppen aus der umliegenden Großregion, die zur Vergrößerung der urbanen Zentren beitrugen. Im Konkreten hieß dies, dass Migranten aus der zentraleuropäischen, ländlichen Region in die Städte zogen und diese durchmischten und veränderten. Damit wurde die Peripherie, aus der diese kamen, die „Grenze“, plötzlich in den Zentren sichtbar und erfahrbar. Im Unterschied zu vergleichbaren Urbanisierungsprozessen im westlichen Teil Europas kam die Mehrheit der Migranten hier nicht aus einem sprachlich relativ homogenen Raum, sondern aus einer Region, die ethnisch und sprachlich6
Georg SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: Georg SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt (Georg Simmel – Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M. 1992, S. 764– 771, hier S. 765.
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kulturell äußerst heterogen war. Dieser traditionalen horizontalen Differenziertheit der zentraleuropäischen Region war man sich zwar auch schon früher bewusst, sie wurde aber erst jetzt in den rasch anwachsenden städtischen Ballungszentren tagtäglich sichtbar, erfahrbar und zum Problem, das heißt zunehmend als existenzgefährdend empfunden, denn die Präsenz ethnisch-kultureller „Fremdheiten“ in der Dichte des urbanen Raumes war keineswegs beruhigend, stabilisierend, sondern trug ganz wesentlich zur Orientierungslosigkeit ihrer Bewohner bei. Die modernisierungsbedingte Differenziertheit der Gesellschaft und die sich daraus ergebende Fragmentiertheit des individuellen und kollektiven Bewusstseins wurden also in den urbanen Zentren der zentraleuropäischen Region durch diese ethnisch-kulturelle Differenziertheit zusätzlich potenziert. Freilich: Die Erfahrung von ethnisch-kulturellen „Fremdheiten“ betraf zwar auch andere europäische Städte. Die Industrialisierung versprach vielen eine wirtschaftliche Besserstellung und löste seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts europaweit große Migrationen aus. Nach Gérard Noiriel betrug im ausgehenden 19. Jahrhundert der Anteil der Immigranten unter der französischen Arbeiterschaft 15 Prozent; überhaupt wäre die Bevölkerung Frankreichs auch in der Gegenwart die am meisten durchmischte, mehr noch als jene der Vereinigten Staaten.7 Dennoch betrug der Anteil von „Fremden“ − hier im Sinne von Nichtfranzosen − in Paris um 1900 nur 6,3 Prozent, während es in Wien mehr als 60 Prozent waren. Die Hauptund Residenzstadt zählte damals 1,7 Millionen Einwohner. Unter ihnen befanden sich mehr als 500.000 Zuwanderer aus Böhmen und Mähren (30 Prozent der Gesamtbevölkerung), von denen 44 Prozent aus rein tschechischsprachigen, 28,6 Prozent aus überwiegend tschechischsprachigen und nur 11,4 Prozent aus deutschsprachigen Gebieten stammten. 140.000 Immigranten kamen aus den vielsprachigen Ländern der ungarischen Krone (8,4 Prozent), ca. 100.000 − nicht zuletzt jüdische Zuwanderer − aus Galizien, der Bukowina und anderen Teilen der Monarchie und 250.000 aus den ehemaligen, teilweise ebenfalls gemischtsprachigen Erblanden, die zum
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„ La population française est l’une de celle qui, dans le monde entier, a été la plus renouvellée au XXe siècle par immigration; plus même qu’aux Etats-Unis“ . Vgl. La Tyrannie du National. Entretien avec Gérard Noiriel. In: Jean-Claude RUANO-BORBALAN (éd.), L’histoire aujourd’hui, Auxerre 1999, S. 114; Dazu auch Gérard NOIRIEL, Le Creuset français, histoire d’immigration XIXe– XXe siècles, Paris 1988.
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Teil den heutigen österreichischen Bundesländern (15,2 Prozent) entsprechen.8 Bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde aufgrund der vielen nichtdeutschsprachigen Zuwanderer empfohlen, Wien in Nationalitätenbezirke aufzuteilen.9 In der 1872/3 aus Pest, Ofen (Buda) und Alt-Ofen (Ó-Buda) zu Budapest vereinten Hauptstadt des Königreichs Ungarn wies im Jahre 1851 Pest eine Gesamteinwohnerzahl von 83.868 auf, von diesen waren 33.884 Deutsche, 31.965 Ungarn, 12.642 Juden und 4.187 Slowaken. In Ofen (Buda) verhielt es sich ähnlich: 22.122 Deutsche, 6.182 Ungarn, 1.537 Juden, 1.145 Serben und 1.124 Slowaken. 1890 hatte Budapest bereits 500.000 Einwohner, doch nur 39 Prozent waren in Budapest geboren, 52 Prozent stammten zumeist aus dem ethnisch und sprachlich heterogenen ungarischen Königreich.10 Der Anteil der in sich heterogenen jüdischen Einwohner Wiens erhöhte sich aufgrund von Zuwanderungen 1910 auf 7,8 Prozent, in Budapest auf ca. 24 Prozent, in Krakau auf ca. 27 Prozent und in Czernowitz, einer Kleinstadt im Osten der Monarchie, der Hauptstadt der Bukowina, auf über 30 Prozent der Gesamtbevölkerung,11 während in Prag sowohl das Bekenntnis zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsteil stetig abnahmen, von 6,5 Prozent im Jahre 1880, 5,9 Prozent im Jahre 1890, auf 4,7 Prozent im Jahre 1910,12 was zu einer allgemeinen Verunsicherung unter den deutschsprechenden Juden Prags, so auch Franz Kafkas, beigetragen haben mag.
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Michael JOHN, Albert LICHTBLAU, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien–Köln 1990, S. 14–18. 9 Rudolf TILL, Ein Plan der Gliederung Wiens in Nationalitätenviertel, in: Wiener Geschichtsblätter 10 [70] (1955), S. 73–76. 10 GEREVICH László (Hg.), Budapest története [Geschichte von Budapest] 3, hg. von Kosáry Domokos, Budapest 1975, S. 399; Budapest története [Geschichte von Budapest] 4, hg. von Vörös Károly, Budapest 1978, S. 378f. 11 PÁNDI László (Hg.), Köztes Európa 1763–1993 [Zwischeneuropa 1763–1993], Budapest 1997, S. 76–83. 12 Jan HAVRÁNEK, Structure sociale des Allemands, des Tchèques, des chrétiens et des juifs à Prague, à la lumière des statistiques des années 1890–1930, in: Maurice GODÉ, Jacques LE RIDER, François MAYER (éd.), Allemands, Juifs et Tchèque à Prague. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924, Montpellier 1996, S. 71–81, hier S. 72–73.
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D ER P ROZESS
DER
„ INNEREN K OLONISIERUNG “
Von den Einwohnern Wiens waren im Jahre 1880 nur 38 Prozent, im Jahre 1900 46 Prozent in Wien geboren. Die anderen, die „Fremden“, waren, wie schon erwähnt, aus ökonomischen Gründen oder um hier von der höheren Kultur und Bildung zu profitieren, in die Stadt gekommen. Sie waren gezwungen, wollten sie Erfolg haben, sich an das neue städtische Milieu und vor allem an die dominante Gruppe oder Sprache anzugleichen, zu assimilieren. Dieser Prozess einer „inneren Kolonisierung“ konnte vonseiten der dominanten Gruppe zwar als die Akzeptanz des Fremden beziehungsweise als Toleranz den Fremden gegenüber gedeutet werden, sie vermochte aber dennoch Unterschiede (Differenzen) nicht völlig aufzuheben und veränderte unversehens auch die dominante Gruppe der „Kolonisatoren“. Unterschiede, auch wenn es nur geringe Abweichungen waren, wurden auch weiterhin wahrgenommen, sie wurden zum Vorwand für Stereotypisierungen, mit denen man Fremdbilder gewissermaßen konstruierte und festschrieb. Dennoch war die Assimilation auch ein Versuch, solchen Stigmatisierungen zu entkommen. Für jene, die minoritären Gruppen angehörten, erforderte die Assimilation eine kontinuierliche Delegitimierung von traditionellen Bindungen oder zumindest das Wechseln zwischen unterschiedlichen kulturellen Ordnungsmustern und Wertvorstellungen. Es wurden dadurch die durch die Modernisierung verursachten Verunsicherungen und Krisen nur noch verstärkt. Auch die schichtspezifisch unterschiedliche Intensität von Assimilation beziehungsweise Akkulturation trug zu einer Vervielfältigung und kulturellen Differenzierung im städtischen Raum bei. Freilich waren die urbanen Milieus, unabhängig von dieser ethnischkulturellen und sprachlichen Vielfalt, äußerst differenziert: Dies wird beispielsweise sichtbar in den unterschiedlichen Ausformungen der Alltagssprache, die von einer Vielfalt von Dia- oder Soziolekten13 geprägt war, in unterschiedlichen Ess- und Speisentraditionen, in unterschiedlichen Umgangsformen und Alltagsgewohnheiten. Dazu kam noch die spezifische identitätsstiftende Funktion einzelner städtischer Bezirke, die sich zum Teil
13 Für die Wiener Sprache, die „eines der komplexesten und interessantesten Idiome Europas“ sei, vgl. Maria HORNUNG, Sprache, in: Peter CSENDES, Ferdinand OPPL, Friederike GOLDMANN (Hg.), Die Stadt Wien. Österreichisches Städtebuch 7, hg. von Othmar Pickl, Wien 1999, S. 85–95; Maria HORNUNG, Leopold SWOSSIL, Wörterbuch der Wiener Mundart, Wien 1998.
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aus eingemeindeten Vororten zusammensetzten; sie ist in Wien bis in die Gegenwart von nicht unerheblicher Relevanz geblieben. Aufgrund solcher unterschiedlicher kultureller Vorgaben konnten sich beispielsweise zwei einheimische Wiener mehr voneinander unterscheiden, als „fremdsprachige“ Zuwanderer und gebürtige Wiener, die etwa einer gleichen Berufsgruppe angehörten.
D IE
ZENTRALEUROPÄISCHE
R EGION
Für eine Analyse von Migrationen um 1900 ist nicht nur ihr quantitativer, vielmehr auch ihr qualitativer Aspekt von Interesse. Um ihre qualitative Dimension zu begreifen, scheint es mir wichtig, einen Blick auf Zentraleuropa zu richten, woher die Migranten kamen. Die zentraleuropäische Region war in der Tat seit Jahrhunderten von einer Vielfalt an Völkern, Sprachen und Kulturen bestimmt. Es war dies ihr charakteristisches Merkmal und man könnte sagen, dass die Übereinstimmung, die „Einheit“ der Region gerade in dieser ihrer Vielfalt beziehungsweise Heterogenität begründet war. Die Pluralität der zentraleuropäischen Region lässt sich in den verschiedensten Bereichen nachweisen. Sie bestand in der ethnischen Vielfalt und in der Polyglossie ihrer Bewohner, in einer reichen kulturellen Differenziertheit oder in der Tatsache, dass hier drei monotheistische Weltreligionen, nämlich das Christentum, das Judentum und der Islam in ihren unterschiedlichsten Ausformungen präsent waren. Sie bestand in unterschiedlichen politischen und Verwaltungstraditionen der Königreiche und Länder, die zu einem Staat, der Habsburgermonarchie vereinigt und trotz verschiedener Zentralisierungsbestrebungen nicht beseitigt werden konnten. Diese vielfach pluralistische Situation begünstigte zwar einerseits die Chance von Austauschprozessen, von Ethnogenesen, von Akkulturationen, sie inkludierte jedoch auch die ständige Präsenz von Differenzen und folglich von Gegensätzlichkeiten. Diese Heterogenität betraf nicht nur das Reich als Ganzes, sondern ebenso Regionen, einzelne Länder, Provinzen und Städte. Im Grunde genommen ist das nichts Außergewöhnliches. Selbst in einem so zentralistisch verfassten Staat wie Frankreich ist die Heterogenität größer als man annehmen möchte. Fernand Braudel hatte bei seinen Überlegungen über die Identität Frankreichs von „les Frances“, im Plural, gesprochen und darauf hingewiesen, dass das soziokulturelle Bewusstsein der
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Bewohner Frankreichs bis in die Gegenwart nicht einheitlich und übereinstimmend, sondern vielfältig wäre, nicht zuletzt beeinflusst durch die auch sprachlich markante Trennlinie zwischen der „France d’oc“ und der „France d’oïl“.14 Eine ähnliche Feststellung gilt erst recht sowohl für Zentraleuropa als Ganzes als auch für seine Subregionen. Es wurde zwar in der Vergangenheit auf diese Faktoren immer wieder hingewiesen, sie verloren aber mit dem Erstarken nationaler, das heißt „holistischer“ kultureller Konzepte auch im intellektuellen Diskurs zunehmend an Bedeutung. Angesichts von aktuellen kulturtheoretischen Fragestellungen, die sich vergleichbaren, weltweit konstatierbaren kulturellen Prozessen verdanken, hat die wissenschaftliche Analyse dieser Heterogenität beziehungsweise Pluralität der zentraleuropäischen Region jedoch erneut an Bedeutung gewonnen. Man könnte diese Heterogenität Zentraleuropas unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachten: unter dem Gesichtspunkt einer exogenen und einer endogenen Pluralität.
E XOGENE UND ENDOGENE P LURALITÄT Z ENTRALEUROPAS Unter exogener Pluralität verstehe ich die Summe all jener kulturellen Elemente, die von „außen“ eingewirkt und zu einer spezifischen kulturellen und sprachlichen Konfiguration Zentraleuropas beigetragen haben. Solche kulturellen Diffusionsprozesse gesamteuropäischer und außereuropäischer (zum Beispiel osmanischer) Relevanz waren oft an bestimmte soziale Schichten gebunden, dennoch vermochten sie, das kulturelle Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise und damit auch jenes von Einzelindividuen nachhaltig zu beeinflussen. Interessanter scheint mir jedoch in unserem Zusammenhang der Blick auf die endogene Pluralität der Region zu sein. Sie stellt sich dar in der seit Jahrhunderten nachweisbaren Vielzahl an Völkern, Volksgruppen, Kulturen, Religionen, Gebräuchen und den zumindest sechzehn Sprachen, die hier bis in die Gegenwart in Gebrauch geblieben sind. Der Diskurs über diese pluralistische Verfasstheit der Region erfolgt aber meist, ohne dass man es sich eingesteht, bis heute überwiegend von einer
14 Fernand BRAUDEL, L’identité de la France I: Espace et Histoire, Paris 1990, S. 80–86.
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einseitigen national-ideologischen Perspektive aus, die den Zerfall dieser heterogenen Region beziehungsweise des Vielvölkerstaates als eine teleologische Notwendigkeit erscheinen lässt. Dieses „nationale Narrativ“, das erst im 19. Jahrhundert entstanden war, blieb in der Tat bis heute auch in der Historiografie eine der dominanten Leitfiguren. Tatsächlich bestand hier in der Vergangenheit eine Kohabitation von Heterogenitäten, eine Interaktion zwischen unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Während die meisten Historiker des 20. Jahrhunderts überwiegend aus einem „Erfahrungshorizont“ argumentieren, der den tatsächlichen Zerfall dieser Pluralität vor Augen hat, befanden sich beispielsweise die Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einer Erwartungshaltung, in der neben der nationalen Position, dem nationalen Narrativ, das auf radikale Separationen setzte, auch andere mögliche Varianten einer zukünftigen Entwicklung vorhanden waren, nämlich solche, die sich für die Möglichkeit der Realisation unterschiedlicher Kohabitationsweisen aussprachen. Selbst ein so profunder Kritiker der Donaumonarchie wie der französische Historiker und Slawist Louis Eisenmann meinte noch 1910, dass die „Voraussagen“ nun „ganz anders“ lauten würden: Die akute Krise wurde allein durch die Lebenskraft der Monarchie gelöst [...]. Der gewaltsame Nationalitätenkonflikt besteht nach wie vor, aber die unvermeidliche Lösung ist in Sicht [...]. Es scheint, daß alle österreichischen, ungarischen und austroungarischen Fragen aus eigener Kraft beigelegt werden können. Hierin liegt der Fortschritt, hier liegt die große Sicherheit für die Zukunft.
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In der Einleitung seines ethnografisch-statistischen Handbuchs der Monarchie machte der Wiener Geograf Friedrich Umlauft 1876 nachdrücklich und in einer, vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt äußerst modern anmutenden Weise auf die negativen und positiven Seiten der in dieser Region vorhandenen ethnisch-kulturellen Heterogenität aufmerksam. Es handelt sich dabei um eine nüchterne Analyse, die sich auch in vergleichbaren zeitgenössischen Untersuchungen, zum Beispiel in dem vierundzwanzig Bände umfassenden Werk Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild vorfindet. Freilich: Während das Kronprinzenwerk sich des staats-
15 Zitat in: Alan SKED, Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreiches, Berlin 1993, S. 274.
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politischen Narrativs bedient und neben der möglichst wertneutralen ethnografischen Darstellung aller Völker und Volksgruppen der Region das Bild eines friedlichen, konfliktfreien Zusammenlebens unter der Schirmherrschaft der Dynastie vermitteln möchte, konzentriert sich die Darstellung Umlaufts auf eine kritischere Analyse, die auch die Differenzen innerhalb der Region hervorhebt. Umlauft charakterisiert daher die Monarchie (Zentraleuropa) als „einen Staat der Contraste“: Wie unser Vaterland den Uebergang vom gegliederten und gebirgigen Westen des europäischen Continents zu dessen ungegliedertem und ebenen Osten bildet, so schließt es in Folge seiner bedeutenden Längen- und Breitenausdehnung auch die grellsten Gegensätze in Beziehung auf physische Verhältnisse, Bevölkerung und geistige Cultur in sich, weshalb man die Monarchie auch einen Staat der Contraste zu nennen berechtigt ist.
Umlauft meint also, dass allein aufgrund ihrer geografisch-topografischen Unterschiede die Monarchie ein Staat der Gegensätze sei. Und auch „in ethnographischer Hinsicht [...]“ befänden sich „auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie alle Haupt-Völkergruppen Europa’s und zwar durch bedeutende Massen vertreten: Germanen im Westen, Romanen im Süden, Slaven im Norden und Süden; dazu kommt noch die Gesammtheit der Magyaren zwischen diesen Hauptvölkern.“ Diese Vielfalt sei auch für die kollektive Erinnerung, für das historische Gedächtnis, von Bedeutung. „Daher fließt“, argumentiert Umlauft weiter, „auch Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarns und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.“ Eine klare Abgrenzung der Völker, die hier wohnen und kontinuierlichen Prozessen von Ethnogenesen unterworfen wären, sei nur schwer möglich: Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen, sondern sich in vielen Gegenden gegenseitig durchdringen, so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden. Ja die Vermischung der verschiedenen Nationalitäten lässt sich nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten, wie eben in unserem Vaterlande.
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Schließlich setze sich die Monarchie „aus einer großen Anzahl von Königreichen und Ländern“ zusammen, was auch ihre einheitliche wissenschaftliche Darstellung erschwere.16 Umlaufts kritische Bestandsaufnahme der Monarchie − in einem weiteren Verständnis der zentraleuropäischen Region − skizziert eine Problemlage, die aufgrund von Binnenmigrationen, denen sich die rapide Vergrößerung der Städte verdankte, auch in den Mikrokosmen der Städte sichtbar wurde. Die Differenzen, die sprachlichen und kulturellen Heterogenitäten, die sich in der Region vorfanden, das Chaos von Grenzsituationen in der Provinz übertrug sich auch auf das metropolitane Zentrum, in das, wie Joseph Roth treffend ausführt, „von den Kronländern der Monarchie unaufhörlich gespeiste Wien“, das einer „verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen schwarz-gelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog“,17 wodurch die „chaotische“ Heterogenität der Kronländer unversehens in das metropolitane Zentrum übertragen wurde. Roth unterstreicht auch an einer anderen Stelle die koloniale Machtattitüde, von der sich dieses Zentrum und selbst die Dynastie leiten ließen: Ausgelöscht ist jede Erinnerung an das Österreich Habsburgs, jener großen, satten, unheimlichen schwarz-gelben Kreuzspinne, die in der Mitte ihres schon reichlich beschädigten Netzes in der Wiener Hofburg saß, immer neue Fäden mit ihrem Speichel erzeugend, um die alten zerrissenen zu flicken, und die mit ihren langen, dürren und raffigen Beinen Individuen, Völker, Nationen umspann, um die Beute dann auszusaugen.18
Gerade durch solche kolonialen Machtanstrengungen wurden die Grenzsituationen, in denen sich die Kolonisierten befanden, ins Zentrum übertragen. Die Folge war, dass das Netzwerk, in das die „Kolonisatoren“ die
16 Friedrich UMLAUFT, Einleitung, in: Friedrich UMLAUFT, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien– Pest 1876, S. 1–4. 17 Joseph ROTH, Die Kapuzinergruft, in: Joseph ROTH, Werke 6: Romane und Erzählungen 1936–1940, hg. von Fritz Hakert, Köln 1989, S. 225–346, hier S. 270. 18 Joseph ROTH, Österreich atmet auf (Typoskript vom Frühjahr 1938), in: Joseph ROTH, Werke 3: Das journalistische Werk 1929–1939, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 845–849, hier S. 845.
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„Kolonisierten“ zu verstricken suchten, unversehens brüchig wurde, das heißt, auch zur Veränderung der Kolonisatoren beitrug. Welchen Aussagewert hat eine solche Feststellung für kulturelle Prozesse im Allgemeinen? Um diese Frage zu beantworten, scheint es mir wichtig, vorweg eine Klärung darüber herbeizuführen, was unter Kultur zu verstehen sei. Ich konzentriere mich auf einen Kulturbegriff, der beispielsweise weder, wie so oft, vornehmlich die repräsentative Kultur im Auge hat noch sich auf eine holistische, essentialistische Vorstellung von Kultur bezieht, die dem Konzept einer Nationalkultur zugrunde liegt. Ich konzentriere mich vielmehr auf einen möglichst umfassenden Kulturbegriff, der gerade auch für die Analyse und Erklärung von solchen Prozessen von Relevanz sein kann, die sich Migrationen und Mobilitäten verdanken.
K ULTUR
ALS KOMMUNIKATIVER
P ROZESS
Folgt man der Argumentation des Kulturanthropologen Bronisław Malinowski, so ist unter Kultur „der umfassende Zusammenhang menschlichen Verhaltens“19 zu verstehen. Kultur ist ein Ensemble, „das sich zusammensetzt aus Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen“.20 Kultur ist folglich ein dynamischer, performativer Prozess von „Verhaltensweisen“, über die immer wieder neu verhandelt werden kann. Nach Malinowski haben sich auch andere, beispielsweise Clifford Geertz oder Stephen Greenblatt, diesem weiten Kulturkonzept angeschlossen. „Eine Kultur“, meint Greenblatt, „ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen (negotiations) über den Austausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und − durch Institutionen wie Sklaverei, Adoption oder Heirat − Menschen. […] In jeder Kultur gibt es einen allgemeinen Symbolhaushalt, bestehend aus
19 Bronislaw MALINOWSKI, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur [1941], in: Bronislaw MALINOWSKI, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, Frankfurt a. M. ²2004, S. 45–172, hier S. 47. 20 MALINOWSKI, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, S. 74–75.
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den Myriaden von Zeichen, die Verlangen, Furcht und Aggression der Menschen erregen.“21 Kultur kann demnach als ein kommunikativer Prozess verstanden werden. Sich gegenseitig in einer verständlichen Weise zu verhalten, heißt nichts anderes, als miteinander zu kommunizieren. Es ist dies, wie Zygmunt Bauman weiterführend meint, ein Verständnis von Kultur als eines „spontanen Prozesses, der frei ist von administrativen oder leitenden Zentren.“22 Ich selbst schließe mich diesen Überlegungen an. Ich verstehe unter Kultur ein Ensemble von Elementen, Zeichen, Symbolen und Codes, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren. In einem übertragenen Sinne könnte Kultur daher als ein Kommunikationsraum definiert werden, als ein Raum, wie Doris Bachmann-Medick meint, von „vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess(en), […] eine Dynamik sozialer Beziehungen“,23 in dem durch die Setzung oder Verwerfung von Elementen Lebenswelten konstituiert und Machverhältnisse ausgehandelt werden. Kultur ist folglich ein Kommunikationsraum mit durchlässigen Grenzen, da immer wieder neue Elemente hinzukommen, andere an Aussagekraft verlieren, umgedeutet oder ausgeschieden werden. Kultur ist somit ein Geflecht von Anhaltspunkten, von sprachlichen oder mimetischen Verhaltensformen und Ausdrucksweisen, das heißt ein „Inventar“ von Bedeutungsmustern, mit deren Hilfe Individuen und soziale Gruppen sich in einem umfassenden sozialen „Raum“ zu orientieren versuchen. Die Einübung in ein (kulturelles) Zeichensystem, das auf bestimmte Codes oder Inhalte verweist, erfolgt, vor allem in Schriftkulturen, weniger durch rituelle Verfahren oder Feste als durch performative schriftliche oder „bildliche“, mediale Vergegenwärtigungen. Inhalte werden nicht nur medial geschaffen oder medial vermittelt, sie können gleichermaßen auch kritisiert, infrage gestellt oder verworfen werden, nicht selten durch
21 Stephen GREENBLATT, Kultur, in: Moritz BASSLER (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995, S. 48–59, hier S. 55. 22 Zygmunt BAUMANN, Gesetzgeber und Interpret: Kultur als Ideologie von Intellektuellen, in: Hans HAFERKAMP (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 452–482, hier S. 479. 23 Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 2006, S. 289.
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die Setzung von subversiven, „karnevalesken“ Gegenpositionen im Michail Bachtin’schen Sinne.24 Kultur als Kommunikationsraum ist dynamisch, performativ und nicht „authentisch“, folglich vermischt, hybrid und mehrdeutig. Der Schriftsteller Salman Rushdie hat aus seiner indischen postkolonialen Erfahrung der Vorstellung von einer homogenen, authentischen Kultur eine klare Absage erteilt und auf die Mehrdeutigkeit von kulturellen Prozessen, Praktiken und Inhalten verwiesen. Rushdies Kritik richtet sich nicht zuletzt gegen das eurozentrische Konstrukt von Nationalkultur: „Einer der absurdesten Aspekte dieser Suche nach nationaler Authentizität“, so Rushdie, „ist die vollkommen falsche Annahme, es gäbe so etwas wie reine, unverfälschte Traditionen, aus denen wir schöpfen könnten. Die einzigen Menschen, die ernsthaft daran glauben, sind die religiösen Extremisten.“25 Das bedeutet, folgt man Überlegungen von Walter Benjamin, dass das, was wir als eine authentische Tradition, als eine kontinuierliche, verbindliche Überlieferung, als ein fixes kulturelles Erbe erachten, ein künstliches Konstrukt ist und dass daher der Rekurs auf eine solche Tradition einer katastrophalen Fehleinschätzung entspricht: „Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“,26 denn sie spiegelt nur die kulturelle Position von Herrschenden und nicht die der vielen Beherrschten wider. Daher, so Benjamin, gehe es darum, dass „der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs herausgesprengt“27 werden muss, einem Kontinuum, das nur wir, seine Interpreten, in die Geschichte eingeschrieben haben. Kultur als Kommunikationsraum unterscheidet nicht zwischen Hochund Alltagskultur, Kultur berücksichtigt gleichwertig das gesamte lebensweltliche Umfeld. Kultur als Kommunikationsraum beinhaltet eine deutliche Absage an eine essentialistische Vorstellung von Kultur, da (kulturelle) Kommunikationsräume als Zeichensysteme, als „Semiosphären“ (Jurij M. Lotman) oder als „Texte“ aufgefasst werden können, die immer aufs Neue
24 Vgl. Michail BACHTIN, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. 1995. 25 Salman RUSHDIE, Es gibt keine „Commonwealth-Literatur“, in: Salman RUSHDIE, Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991, München 1992, S. 81–92, hier S. 88–89. 26 Walter BENJAMIN, Das Passagenwerk. Aufzeichnungen und Materialien, in: Walter BENJAMIN, Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 21982, S. 591. 27 BENJAMIN, Das Passagenwerk, S. 594.
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„gelesen“ und interpretiert werden, die also nicht in sich abgeschlossen sind, vielmehr einerseits flüssige, flüchtige, heterogene Übergänge − „Grenzen“ im Lotman’schen Sinne − gegenüber anderen Kommunikationsräumen aufweisen. Sie hinterlassen Spuren, durch die sie mit jenen auf eine vielfältige, dynamische Weise verwoben sind, wie das Haus Ulrichs in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder [Hervorhebung M. Cs.].28
Andererseits erweist sich Kultur als Kommunikationsraum auch in sich als dynamisch, als ein sich kontinuierlich verändernder, hybrider, performativer Prozess.29 Spezifische kulturelle Konfigurationen mit ihren Unterschieden werden durch das Konzept von Kultur als Kommunikationsraum nicht zugunsten einer vagen Transkulturalität aufgeweicht. Vielmehr wird sowohl auf die dynamischen Interaktionen als auch auf die „offenen“, jedoch immer noch sichtbaren Unterschiede zwischen kulturellen Kommunikationsräumen geachtet. Differenzen, die sich beispielsweise durch die Verwendung unterschiedlicher Sprachen ergeben und kulturelle Kontexte nachhaltig determinieren, können nicht einfach geleugnet werden. Sprachliche Unterschiede sind freilich keine ideologischen Kampfmittel an sich, sie werden vielmehr erst im Kontext des nationalen Narrativs zu ideologischen Symbolen. Hierbei gilt es auch zu beachten, dass Individuen oder Gruppen sich gleichermaßen in zwei oder in mehreren „Sprachen“ verständigen können, das heißt, dass sie sich abwechselnd oder gleichzeitig in unterschiedlichen Kommunikationsräumen − nach Malinowski in „Institutionen“ − bewegen können und dadurch kommunikative Abgrenzungen durch kontinuierliche translatorische Aktionen sprengen. Daher ist auch eine konkrete Sprache nicht das primär differenzierende Merkmal, nicht primär identitätskonstitutiv, wie es die nationale Ideologie vorgibt. Vielmehr be-
28 Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1983, S. 12. 29 Jurij M. LOTMAN, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Frankfurt a. M. 2010, S. 165–173.
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sitzt, nach Lotman, jede Kultur „Mechanismen für die Schaffung eines inneren Polyglottismus, und jede Kultur existiert realiter nur im Kontext anderer Kulturen, wobei die Beherrschung von deren Sprachen die Situation eines äußeren Polyglottismus schafft.“30
„O FFENE G RENZEN “ „Offene Grenzen“ werden dann erfahrbar, wenn sich Individuen und soziale Gruppen abwechselnd oder gleichzeitig in mehreren Kommunikationsräumen, im Lotman’schen Sinne in „äußeren Polyglottismen“, vorfinden. Zudem können sich Gruppen oder Personen, wenn sie auch nur eine Sprache sprechen, in differenten Kommunikationsräumen bewegen, die differenten sozialen Schichten entsprechen, also innerhalb eines inneren, nicht sprachlich determinierten Polyglottismus. Beide Formen des Polyglottismus verweisen auf gemischte, hybride Verfasstheiten, die nicht „rassisch“, ethnisch oder national bestimmt werden. Allerdings bleibt „so gesehen […] offensichtlich“, meint Elisabeth Beck-Gernsheim, „daß diejenigen, die die Grenzen nationaler beziehungsweise kultureller Zuordnung sprengen, schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaftliches Ordnungsproblem darstellen. Sie sind der Störfaktor im gesellschaftlichen Getriebe, weil sie in den gewohnten, den einfachen und eindeutigen Kategorien sich nicht abbilden lassen.“31 Kultur als Kommunikationsraum ist also stets eine „hybride Melange“, die jedoch nicht Multikulturalität als Totalmelange bedeutet, in welcher Differenzen aufgehoben werden und verschwinden. Personen und Gruppen können gemeinsame Erfahrungen haben und sich bedeutender historischer Ereignisse gemeinsam, übereinstimmend erinnern. Sie können sich, auch wenn sie derselben Gruppe angehören, ihrer jedoch auch in durchaus unterschiedlicher Weise erinnern. Das heißt, unterschiedliche Erinnerungen
30 DERS., Zur Struktur, Spezifik und Typologie der Kultur, in: Jurij M. LOTMAN, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronberg 1974, S. 320–436, hier S. 431. 31 Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 125–167, hier S. 127.
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können nicht nur jene haben, die unterschiedlichen Kulturen angehören, sondern auch jene, die sich in demselben soziokulturellen Kontext vorfinden. Geschichte wird, im Sinne der „histoire croisée“,32 insofern mehrdeutig, als es über eine kollektive historische Erfahrung nicht nur die eine verbindliche Erinnerung und die eine verbindliche historische Erzählung (im Singular) gibt, sondern mehrere Erinnerungen, Geschichten beziehungsweise Erzählungen (im Plural), das heißt unterschiedliche, jedoch gleichermaßen gültige Varianten von Deutungen. Es sind dies Geschichten des Dazwischen, Geschichten von „Zwischenräumen“, Geschichten von Diasporen, die die Existenz von kontinuierlichen Migrationen und Mobilitäten voraussetzen. Solch hybride kulturelle Gemengelage oder „kulturelle Transiträume“ sind in Zentraleuropa vor allem urbane Milieus, in denen sich Personen aus und in unterschiedlichen Kommunikationsräumen vorfinden. Es sind dies grenzüberschreitende Prozesse von Kreolisierungen, in denen der regionale Polyzentrismus im metropolitanen Zentrum, der Stadt, gebündelt erscheint, dieses Zentrum sich jedoch unversehens durch assimilatorische Tendenzen verändert und destabilisiert wird, was einem subversiven Protest gegenüber anscheinend stabilisierenden Machtkonstruktionen durch das Zentrum entspricht. Kultur ist demnach ein hybrides, performatives Ensemble und zugleich translokal, transnational, transterritorial, entgrenzt, flüssig, fließend und eben nicht homogen und essentialistisch. Kultur als Kommunikationsraum blendet wirtschaftliche Aspekte nicht aus. Kommunikatives Verhalten zielt ursprünglich darauf ab, als Individuum in einer Gruppe und als Gruppe in einem weiteren sozialen Umfeld biologisch, das heißt auch ökonomisch, zu überleben. Im Marx’schen Sinne könnte man die Elemente, Zeichen, Symbole und Codes in einem übertragenen Sinne auch als Waren auffassen, die zwischen Personen und Gruppen zirkulieren. Der Fetisch dieser Waren bestünde dann einerseits darin, dass sie sich einem übergreifenden gesellschaftlichen Kontext, gesellschaftlichen Vorgaben verdanken und diese reflektieren. Sie erweisen sich, wie Marx sich ausgedrückt hat, „als sachliche Verhältnisse der Personen und
32 Vgl. Michael WERNER, Bénédicte ZIMMERMANN, Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: Michael WERNER, Bénédicte ZIMMERMANN (éd.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, S. 15–49.
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gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“33 Andererseits verlieren manche dieser Waren ihren ursprünglichen Gebrauchswert, ihren eigentlichen kommunikativen Tauschwert. Sie können daher in der kulturellen Warenzirkulation überbewertet oder ideologisch aufgeladen werden, wie bestimmte Symbole, die zum Beispiel für die nationale Identitätsstiftung instrumentalisiert, also mit einem realitätsfernen pathetischen Mythos umgeben werden. Sie verwandeln sich zu Phantasmagorien im Benjamin’schen Sinne. Kommunikationsräume werden von Individuen und Gruppen gebildet, die sich von ökonomischen und sozialen Zielvorstellungen leiten lassen. Kultur als Kommunikation beinhaltet folglich auch die Konkurrenz von sich rivalisierenden Personen und Gruppen und weist Sieger und Verlierer auf; solche, die sich ein ökonomisches und symbolisches Kapital anzueignen vermögen, und solche, denen das nicht gelingt.
T HEMATISIERUNG
VON
K OMPLEXITÄTEN
Schließlich impliziert Kultur als performativer, dynamischer, entgrenzter Kommunikationsraum auch, diesen als ein komplexes System zu begreifen. Komplexitäten, das heißt Koinzidenz vielfältiger Komponenten, begegnet man beispielsweise auch in biologischen Systemen oder bei psychischen Störungen. Die Ergründung und Deutung solcher Komplexitäten erfordert, wie die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell meint, einen „integrativen Pluralismus“ von Methoden, das heißt von theoretischen Sichtweisen und Erkenntnisebenen. Die Thematisierung von Komplexitäten eröffnet nicht nur neue Untersuchungsfelder, die vorher nicht beachtet wurden, sie impliziert auch eine pluralistische Herangehensweise, die sich nicht einzig von dem Modell „Ursache – Wirkung“ leiten lassen kann. Daraus folgt, dass es nicht nur einen Weg gibt, sondern dass es mehrere richtige Wege gibt, Komplexitäten zu analysieren. Komplexitäten sind nicht nur im biologischen Bereich vorhanden, sie lassen sich in analoger Weise auch im gesellschaftlichen Gefüge nachwei-
33 Vgl. Karl MARX, Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in: Karl MARX, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie 1, Berlin 1989, S. 85–98, hier S. 86.
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sen.34 Folglich kann dieses Modell von Komplexitäten zu Recht auch auf die Kultur übertragen werden. Auch für kulturelle Phänomene und Prozesse gilt dann, dass Ursache und Wirkung nicht eindeutig bestimmbar werden, dass beispielsweise die performative, dynamische Inklusion oder Exklusion von Elementen und Zeichen, die zu neuen, zuweilen unerwarteten performativen kulturellen Konfigurationen, Bricolagen vergleichbar,35 führen, zwar wahrnehmbar sind, jedoch nicht auf nur eine Deutungsebene reduziert und von einer Deutungsebene aus erklärt werden können. „Das Verhalten mancher komplexer Systeme ist gekennzeichnet durch Pluralismus der Ursachen, Pluralismus der Ebenen und Pluralismus bei der Zusammenführung.“36 Eben dies trifft auch auf kulturelle Kommunikationsräume zu, wenn man sie aus der Perspektive von komplexen Systemen zu begreifen versucht. Kultur ist nicht einfach oder eindeutig, Kultur darf nicht als essentialistische oder holistische Formation aufgefasst werden, so wie es das nationale Narrativ suggeriert und umzusetzen versucht, Kultur ist vielmehr stets dynamisch und performativ, komplex und mehrdeutig. Was leistet nun ein solcher Kulturbegriff in Bezug auf die Analyse einer heterogenen Region? Zunächst ganz offenkundig, dass er künstliche Differenzierungen wie die Vorstellung von Nation, Ethnie, Nationalkultur und von nationaler Geschichte überwindet, Differenzierungen also, die durch das nationalkulturelle Modell erst implementiert werden. So erweist sich die vielfältige sprachlich-kulturelle Heterogenität Zentraleuropas historisch gesehen, unter dem Aspekt von Kultur als Kommunikationsraum, als die Summe einer Vielzahl von differenten, sich kontinuierlich konkurrenzierenden und sich überlappenden performativen kulturellen Kommunikationsräumen. Das führt jedoch auch dazu, dass sich aufgrund des kontinuierlichen Flottierens vor allem von nonverbalen Elementen, Zeichen und Codes auch ein übergeordneter, hybrider kommunikativer Metaraum herausbildet, eine, trotz der Differenz von konkreten Sprachen, allen verständliche „Textur“. Zum Beispiel kann eine Stadt, auch wenn man sie nicht kennt, aufgrund ihrer Struktur oder aufgrund von ähnlichen oder analogen architektonischen Codes ohne Schwierigkeit „gelesen“ werden und Orien-
34 Vgl. Niklas LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. ³1988. 35 Claude LÉVI-STRAUSS, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 91994, S. 29–48. 36 Sandra MITCHELL, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt a. M. 2008, S. 139–140.
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tierung bieten. Die deutlichsten differenzierenden Merkmale bleiben freilich die verschiedenen Sprachen. Es kann daher nicht verwundern, dass die kontinuierliche Konkurrenzierung von kulturellen Kommunikationsräumen seit dem 19. Jahrhundert unter einer nationalpolitischen Perspektive fast immer zu Sprachenkonflikten führte und bis in die Gegenwart dazu führt.
D IE „V IELSPRACHIGKEIT “
URBANER
M ILIEUS
Der Makrokosmos der Region spiegelt sich vor allem im Mikrokosmos ihrer urbanen Milieus, die von Migrationen und Mobilitäten bestimmt werden. Eine Geschichte dieser urbanen Mikrokosmen wäre daher zu Recht, wie Jan Neverdeen Pieterse meint, „eine Geschichtsschreibung der Hybridbildung von metropolitanen Kulturen, das heißt eine alternative Geschichtsschreibung, die sich gegen die imperiale wendet.“37 Die wörtliche und metaphorische „Vielsprachigkeit“ Wiens, ein Spiegelbild der Heterogenität des Habsburgerreiches, hatte einen prägenden Einfluss auf die Mentalität seiner Bewohner. Denn hier wurde neben der modernisierungsbedingten „vertikalen“, vor allem durch die zahlreichen Migranten, die aus der umliegenden Großregion in die Städte zogen, die traditionale „horizontale“ Differenziertheit der Region wahrnehmbar und täglich erfahrbar. Die sich konkurrenzierenden Kommunikationsräume wurden hier deutlicher; sie waren nicht nur für ein kreatives Potenzial mitverantwortlich, das beispielsweise für Wien um 1900 kennzeichnend war, sie führten, wie bereits angedeutet, auch zu Mehrdeutigkeiten, zu Spannungen, Krisen und Konflikten und folglich zu individuellen und kollektiven Verunsicherungen, wie sie kulturellen Prozessen insgesamt eingeschrieben sind. Mehrdeutigkeiten bestimmten auch den Alltag, zum Beispiel Vergnügungen im Wiener Wurstelprater, einer kulturellen Schnittstelle beziehungsweise „Grenze“, die vor allem von Angehörigen der unteren sozialen Schichten besucht wurde, neben Einheimischen auch von zahlreichen Zuwanderern, die differenten sprachlich-kulturellen Räumen angehörten, die sich nun hier überlappten, vermischten und gegenseitig beeinflussten. Felix Salten (1910) be-
37 Jan NEVERDEEN PIETERSE, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124, hier S. 119.
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schreibt diese Mehrdeutigkeit anhand einer Tanzmelodie, die ganz unterschiedlich decodiert, das heißt gleichzeitig als Ländler und als Walzer verstanden werden konnte: Ein Ländler begann […]. Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zugereisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war’s eben nur wieder ein Walzer, die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wiegen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Arbeit traktieren, und das Bauerng’wand schien unter mancher Uniform jetzt sichtbar zu werden.38
Die „Vielsprachigkeit“ der Stadt empfanden vor allem jene, die eine nationalideologische Position einzunehmen versuchten, ausschließlich als einen Störfaktor, wie zum Beispiel der Schriftsteller Eduard von Bauernfeld (1873): „Ich empfinde mich nun einmal weit mehr als Landsmann Lessings und Goethes“, so Bauernfeld, „denn irgend eines ‚Wenzel‘ oder ‚Janos‘ oder sonst eines Menschen auf ‚inski‘, ‚icki‘ und ‚vich‘, mit denen mich ein politisches Schicksal zusammenschweißt und die im Grunde so wenig mit mir zu schaffen haben wollen, als ich mit ihnen“.39 Die „fremden“ Elemente verbaler und nonverbaler Kommunikationsräume mussten freilich nicht nur zu Krisen und Konflikten führen, sie konnten sich auch, wie bereits angedeutet, zu einem gemeinsamen, „kreolisierenden“ Metaraum zusammenfügen. Das betrifft ganz konkret auch die Wiener Umgangssprache, von der die Sprachwissenschaftlerin Maria Hornung festgestellt hat: So zahlreiche fremdsprachige Einflüsse sind im Dialekt keiner anderen europäischen Großstadt festzustellen wie hier. Bemerkenswert ist, wie Wien alle diese Beeinflussungen zu verarbeiten verstand und versteht, man denke nur an den ungeheuren Zustrom von Tschechen, der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingesetzt hat und bis zum 1. Weltkrieg anhielt [...]. Ein Blick ins Wiener Telefonbuch zeigt die Fülle fremder Namen: diese tschechischen, slowakischen, polnischen, ungarischen, kroatischen, italienischen und friaulischen Familiennamen haben aber
38 Felix SALTEN, Fünfkreuzertanz, in: Felix SALTEN, Das österreichische Antlitz. Essays, Berlin 1910, S. 49–58, hier S. 57. 39 Eduard von BAUERNFELD, Aus Alt- und Neu-Wien [1873], in: Bauernfeld’s ausgewählte Werke 4, hg. von Emil Horner, Leipzig o. J., S. 90.
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nichts Fremdartiges, und deren Träger sprechen einer wie der andere unverfälscht den Wiener Dialekt.40
Die Krisenanfälligkeit, die kulturellen Prozessen inhärent ist, hat unter anderem auch Franz Kafka in Prag durchlitten. Der junge Kafka hatte einen Migrationshintergrund, der ihm zeit seines Lebens zu schaffen machte. Seine Eltern, tschechisch sprechende Juden,41 waren vom Land in die Stadt gezogen, so wie zahlreiche, vor allem tschechischsprachige Immigranten aus der umliegenden Region, die das „mehrsprachige“ Prag zunehmend zu einer „einsprachigen“, tschechischen Stadt umformten. 1843 hatten sich noch 40 Prozent der Prager Einwohner zur deutschen Umgangssprache bekannt, 1910 nur mehr 6,1 Prozent. Ähnlich schwand der jüdische Anteil von 12 Prozent im Jahre 1843 auf 4,7 Prozent im Jahre 1910. Die Mehrfachidentität Kafkas, die sich seinem Judentum, dessen er sich immer stärker bewusst wurde, seiner Zugehörigkeit zur deutschen Sprache, derer er sich als Schriftsteller bediente, und seinem alltäglichen Umgang mit Hausangestellten, Freunden und Kollegen in einem tschechischsprachigen Milieu verdankte, zwang ihn, der zunehmend von Krankheit geplagt wurde, immer wieder dazu, seine Position innerhalb dieser widersprüchlichen und sich überlappenden Kommunikationsräume mit immer größeren Angstgefühlen zu bestimmen: „Und all diese Angst, über die Sie mich so ausfragen“, schreibt er aus einer solchen Situation an seinen Freund Robert Klopstock, als ob sie Sie beträfe, betrifft ja doch nur mich […]. Aber ist denn etwas gar so Merkwürdiges bei dieser Angst? Ein Jude und überdies deutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen – das sind chemische Kräf-
40 HORNUNG, Sprache, in: CSENDES, OPPL, GOLDMANN (Hg.), Die Stadt Wien, S. 85. 41 Der junge Kafka. Erinnerungen von Leopold B. Kreitner, in: Hans-Gerd KOCH (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“. Erinnerungen an Franz Kafka, Berlin 2005, S. 54; Vgl. über das „gebrochene“ Deutsch von Franz Kafkas Eltern auch: Verena BAUER, Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch – reflektiert vor dem Hintergrund des städtischen Kontexts Prags, in: Marek NEKULA, Verena BAUER, Albrecht GREULE (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren Mittel- und Osteuropas. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Wien 2008, S. 45–78, hier S. 62–63.
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te, mit denen ich mich anbiete, sofort Gold in Kiesel oder Ihren Brief in den meinen zu verwandeln und dabei Recht zu behalten.42
Als ein Fluchtpunkt aus einer solchen fast ausweglosen Situation schien manchen nicht nur die Integration in einen mehrfachcodierten kulturellen Metaraum, sondern sogar die bewusste Negation der spezifischen, eigenen kulturellen Merkmale und die bewusste Assimilation an einen konkreten, dominanten Kommunikationsraum eine Option zu sein. Doch auch diese Option, die einer „Mimikry“ (Homi K. Bhabha) gleichkam, einem perfekten „Hineinschlüpfen“ in die kulturelle Identität einer dominanten Gruppe, war zum Scheitern verurteilt.43 Kafka, der deutschsprachige Schriftsteller jüdischer Herkunft in einer tschechischsprachigen Umgebung, wurde sich dessen durchaus bewusst. In einem Brief an seinen Freund Max Brod brachte er dieses Scheitern drastisch zum Ausdruck: Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […] also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.44
42 Franz KAFKA, Briefe 1902–1924, hg. von Max Brod, Frankfurt a. M. 1966, S. 430. 43 Vgl. u. a. Homi K. BHABHA, DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 149–194, hier S. 190–192. 44 KAFKA, Briefe 1902–1924, S. 337–338.
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S CHLUSS Migrationen sind nicht erst ein Phänomen der Gegenwart. Die Zunahme von Migrationen und Mobilitäten seit dem 19. Jahrhundert verdankte sich, wie ich anzudeuten versucht habe, den großen sozioökonomischen Transformationen, der Industrialisierung beziehungsweise Modernisierung, die die Menschen zwang, in anderen als in den ihnen bislang angestammten Lebensbereichen − gleichsam als Wirtschaftsflüchtlinge − nach neuen Erwerbs- und Überlebensmöglichkeiten zu suchen. Davon waren auch die Bewohner der zentraleuropäischen Region, im Konkreten: der ehemaligen Donaumonarchie, betroffen. Das hatte zumindest eine doppelte Folge: erstens einen quantitativen Aspekt, der an den Bevölkerungsverschiebungen beziehungsweise an dem raschen Bevölkerungszuwachs der Städte wahrnehmbar ist, und zweitens einen qualitativen Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck kommt, dass diese Städte durch die Zuwanderung von Personen und Gruppen aus der pluriethnischen, plurikulturellen und vielsprachigen zentraleuropäischen Großregion sich ebenfalls zu heterogenen, „mehrsprachigen“ Räumen verwandelten. Der Makrokosmos der Region wurde so plötzlich im Mikrokosmos der Städte wahrnehmbar und − zum Problem. Der in den Jahrzehnten um 1900 vorherrschende Nationalitätenkonflikt übertrug sich damit folglich auch in die Städte und es ist vornehmlich dieser Aspekt, von dem sich zahlreiche historische Untersuchungen heute noch immer leiten lassen. Für mich ist freilich der kulturelle Aspekt von Heterogenität von größerer Bedeutung und nachhaltigerem Interesse. Zentraleuropa stellt sich dar als eine Region von sich andauernd konkurrenzierenden und überlappenden kulturellen Kommunikationsräumen. Diese Situation wird infolge von Zuwanderungen in der Dichte soziokultureller urbanen Milieus sichtbar und erfahrbar; sie begünstigt performative kulturelle Interaktionen, kulturelle „Zwischenräume“ und Hybridbildungen, individuelle und kollektive Mehrfachidentitäten und die Chance für Kreativität; zugleich ist sie aber auch die Ursache von permanenten Krisen und Konflikten, die kulturellen Prozessen stets inhärent sind. Es sind dies empirisch verifizierbare Tatsachen, die ich in meinen Ausführungen nur andeuten konnte. Deren Analyse und kritische Reflexion könnte jedoch auch für einen emotionsfreieren, rationalen Umgang mit ähnlichen Erfahrungen in der Gegenwart von einer gewissen Relevanz sein.
Migration und Verbürgerlichung Das Beispiel der jüdischen Uhrmacher in der Schweiz im 19. Jahrhundert S TEFANIE M AHRER (B ASEL )
Im Jahr 1796 migrierten die ersten Juden als Händler aus den elsässischen Dörfern nahe der Grenze zur Schweiz in den damals noch kleinen, dörflich geprägten Ort La Chaux-de-Fonds in den Hügeln des neuenburgischen Juras. 1833 kam es zur Gründung der jüdischen Gemeinde, 1848 – die jüdische Bevölkerung belief sich inzwischen auf ungefähr 65 Personen – führte der Zensus der lokalen Uhrmacher den ersten Juden auf, und ca. vierzig Jahre später gründeten jüdische Uhrmacher die ersten Uhrenfabriken im Ort, der inzwischen zu einer Stadt mit reichem kulturellem Angebot angewachsen ist. Die jüdische Gemeinde wuchs weiterhin an und zählte um die Jahrhundertwende über 900 Personen. Die lebensweltlichen Veränderungen der jüdischen Bevölkerung La Chaux-de-Fonds’, die mit dem Anwachsen der Gemeinde und der sozialen Verschiebung im gesellschaftlichen Gefüge eng verknüpft war, führten nicht zuletzt zu Pluralisierung von Kultur. Die strukturellen Veränderungen in politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Belangen bewirkten Um- und Neuformulierung von individuellen und kollektiven Identitäten. Anhand des Verbürgerlichungsprozesses der Juden La Chaux-de-Fonds’ lassen sich die Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, also die neuen Identitätsentwürfe und deren Rezeption, befragen und darstellen. Dabei rückt in der folgenden Analyse die Darstellung der eigentlichen Migration in den Hintergrund, vielmehr sollen die Jahre der Etablierung (1860–1880) und des wachsenden Selbstbewusstseins
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(1880–1914)1 genauer betrachtet werden. Dennoch werden Rückgriffe auf die Anfangsjahre der Gemeinschaft an ausgewählten Punkten für das Verständnis notwendig sein, um so neue Handlungsorientierungen und -muster sichtbar zu machen, welche ebenso wie die Produktion von Normen diskursiv ausgehandelt werden und somit als dynamisch zu verstehen sind. Die gesellschaftliche und kulturelle Matrix der Stadt La Chaux-de-Fonds umfasst das Wirtschaftliche ebenso wie das Religiöse, eröffnet Kommunikationswege gleichermaßen wie sie Trennlinien formuliert. Das Sichbewegen in und das Einwirken auf ebendiese Matrix durch die jüdische Bevölkerung und die damit verbundenen Veränderungen der Gemeinschaft soll an dieser Stelle exemplarisch anhand dreier Fäden oder Ebenen dargestellt werden: erstens auf der Ebene der Profession, zweitens auf der Ebene der religiösen Sphäre und drittens auf der Ebene des öffentlichen Raumes. Diese drei Bereiche berühren sowohl das Leben des Einzelnen, der jüdischen Gemeinschaft als auch der Gesamtgesellschaft und bilden an mehreren Stellen, um beim Bild der Matrix zu bleiben, Berührungs- und Verknüpfungspunkte. Wenn wir nun aber die Veränderungen der jüdischen Gemeinschaft La Chaux-de-Fonds’ als „Pluralisierung von Kulturen und Identitäten“ verstehen, müssen wir nach den Realitäten vor diesem Pluralisierungsprozess fragen, denn die Begrifflichkeit scheint (implizit) zu suggerieren, dass vor dem Veränderungsprozess ein gleichsam homogener kultureller Block bestanden habe und dass Identitäten als einschichtig und stabil, wenn nicht gar als starr zu bewerten seien. Die folgende Skizzierung der lebensweltlichen Realität der elsässischen Juden, des Herkunftsorts der späteren jüdischen Uhrmacher La Chaux-deFonds’, soll dieser Annahme entgegentreten, gleichzeitig aber im Vergleich zu den Veränderungen am neuen Heimatort zeigen, dass in gewissen Punkten eine Pluralisierung tatsächlich erst nach der Migration einsetzte und somit das elsässische Landjudentum zwar nicht als statischer und homogener Block verstanden werden darf, jedoch als eine sich sehr langsam und behutsam verändernde Gemeinschaft wahrgenommen werden kann.
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Die Datierung und deren Benennung wurden von der Autorin vorgenommen. Die Geschichte der Juden und der jüdischen Uhrmacher La Chaux-de-Fonds’ sind, mit Ausnahme einiger Aufsätze, ein Desideratum in der Forschungslandschaft. Die Autorin arbeitet für ihre Dissertation an der Universität Basel an der ersten umfassenderen Studie zur Geschichte der jüdischen Uhrmacher im Jura.
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1. D IE LEBENSWELTLICHE R EALITÄT IM O BERELSASS
V ERBÜRGERLICHUNG
DER
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Das Elsass verzeichnet eine über tausendjährige Anwesenheit von Juden, welche nie nachhaltig unterbrochen wurde. Neben weiteren Vertreibungen aus eher kleinen städtischen Gebieten zählt die Verbrennung fast aller Strassburger Juden im Jahr 1349 zu den tragischsten antijüdischen Ereignissen im Elsass. Wie in Basel und in anderen Städten der Region wurden die ansässigen Juden beschuldigt, für die verheerende Pestepidemie verantwortlich zu sein. So fanden in Strassburg Kinder, Frauen und Männer den Tod auf einem riesigen Scheiterhaufen, der außerhalb der Stadt auf dem jüdischen Friedhof errichtet wurde. Diejenigen, denen die Flucht vor dem qualvollen Tod im Feuer geglückt war, ließen sich in den vielen kleinen elsässischen Dörfern nieder. In der Forschungsliteratur wird der Zeitpunkt der gänzlichen Vertreibung (respektive Verbrennung) der Juden aus den Städten als der Beginn des elsässischen Landjudentums betrachtet.2 Im Gegensatz zu den französischen Gebieten bestand im Elsass also eine ununterbrochene Anwesenheit von Juden. Diese war wohl geprägt durch mehrere und unterschiedlich motivierte Wellen von Antijudaismus, dennoch kam es nie zur gänzlichen Vertreibung, da Juden als Händler und Mittler zwischen Land und Stadt für die dörfliche Gesellschaft eine wichtige Rolle spielten.3 Wie in den meisten europäischen Gebieten standen die jüdischen Gemeinden außerhalb der feudalen Gesellschaftsordnung: Sie waren ganz oder teilweise autonom und werden oft als Pendant zur Bürgergemeinde der christlichen Mehrheitsbevölkerung verstanden. Religiöse, zivilrechtliche und kulturelle Belange wurden innerhalb der Gemeindestruktur geregelt und gelöst.4 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein veränderte sich die 2
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Siehe dazu u. a. André-Marc HAARSCHER, Histoire des Juifs en Alsace au Moyen Âge, in: Raphaël FREDDY, Le Judaïsme alsacien. Histoire, Patrimoine, Tradition, Strasbourg 2003, S. 143–145. Jean DALTROFF, Histoire des Juifs d'Alsace. Les grandes dates, in: FREDDY, Le Judaïsme alsacien, S. 40–42; Georges BISCHOFF, Le Moyen Age entre accueil et persécution, in: Raphaël FREDDY, Regards sur la culture Judeo-Alsacienne. Des identités en partage, Strasbourg 2001, S. 43–55. Siehe zur Berufsstruktur der Juden im Elsass: Paula E. HYMAN, The Emancipation of the Jews of Alsace. Acculturation and Tradition in the Nineteenth Century, New Haven 1991, S. 30–49. Siehe dazu z. B.: Vicki CARON, Between France and Germany. The Jews of Alsace-Lorraine, 1871–1918, Stanford (Calif.) 1988, S. 1.
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Sundgauer Siedlungsstruktur nur minimal und die Quellen und die Literatur überliefern einen hohen Grad an religiöser und kultureller Kontinuität. Die religiöse Sphäre umschloss das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Tendenzen zur Trennung von Sakralem und Profanem sind, mit wenigen Ausnahmen, in den Dörfern des Departements Haut-Rhin kaum spürbar. Die sozialen Aufbrüche der Gesamtgesellschaft, ausgelöst durch die Französische Revolution und die politisch-rechtlichen Veränderungen für die jüdische Bevölkerung, haben keine grundlegenden Umwälzungen bewirkt. Erst die große Abwanderung ab Mitte des Jahrhunderts löste, durch die Leerstellen, die sie hinterließ, und durch die durch die Rückkoppelung an die alte Heimat bedingten Einflüsse, einen Modernisierungsschub aus. Für die Migration in den Jura habe ich drei Wellen ausgemacht: eine erste, noch sehr beschränkte in den 1770er-Jahren, eine zweite um die 1830er- bis 1850er- und die größte und die am längsten anhaltende in den 1860er- bis 1880er-Jahren. Während für die erste Welle die Gründe für eine Migration in den Jura nicht mit Sicherheit bestimmt werden können, war die zweite klar wirtschaftlich bedingt. Die Einrichtung von einem, wenn auch rudimentären, Bankensystem im Elsass entriss den jüdischen Händlern ihre Lebensgrundlage. (Dazu eine kurze Randbemerkung: Auch wenn ein großer Teil der elsässischen Landjuden tatsächlich im Handel beschäftigt war, muss man dennoch anmerken, dass bis zu einem Drittel in handwerklichen Berufen tätig war. Die Forschung hat sich jedoch bis heute kaum von der gleichsam ikonografisch gewordenen jüdischen Händlerfigur lösen können.5) Die dritte Auswanderungswelle war weniger Push- als vielmehr Pullfaktoren geschuldet – der wirtschaftliche Erfolg der Glaubensgenossen im Jura hatte eine starke Anziehungskraft auf die Heimatgemeinden. Der wirtschaftliche Erfolg und der gesellschaftliche Aufstieg der Immigranten La Chaux-de-Fonds’, die rechtliche Gleichstellung der Juden in der Schweiz im Jahr 18666 und nicht zuletzt der deutsch-französische Krieg der Jahre 1870–1871 führten dazu, dass multiple Migrationsbewegungen zugunsten der Migration in eine Richtung abnahmen. Die jüdischen Gemeinden der elsässischen Dörfer verloren den größten Teil ihrer Mit-
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Archives Départementales du Haut-Rhin, Archives Moderne: série 6M19; série 6M74; série 6M102; série 6M136; série 6M164; série 6M194. 1866 wurde den Juden in der Schweiz die Niederlassungsfreiheit gewährt, das Recht der freien Religionsausübung wurde erst 1874 mit der Gesamtrevision der Bundesverfassung erreicht.
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V ERBÜRGERLICHUNG
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glieder, während in den städtischen Zentren neue Gemeinden aufgebaut wurden. Während also in den Dörfern des Elsass die über tausendjährige jüdische Anwesenheit zu Ende ging, wurden neue Räume zu Heimat – einer dieser neuen Räume waren die jurassischen Hügel, genauer La Chaux-deFonds.
2. D ER V ERBÜRGERLICHUNGSPROZESS 2.1 Die Berufswelt Die Juden der ersten und zweiten Einwanderungswelle gelangten größtenteils als Kleinwaren- und Edelmetallhändler in die Region und dies genau zur jener Zeit, als es zu einem Aufschwung der lokalen Uhrenproduktion kam. Über ihre Funktion als Händler kamen sie mit dem Wirtschaftszweig der Uhrmacherei in Berührung, zuerst als Einzelteilhändler, bald aber schon als Etablisseure, und so waren sie schnell in das äußerst enge Netzwerk der Uhrenhändler und Uhrmacher eingebunden. Während Kleinproduzenten die Anwesenheit der jüdischen Händler verteidigten, da sie so die Monopolstellung der führenden Familien zu unterbinden hofften, traten Letztere immer wieder vehement gegen die an sich rechtlosen Juden ein.7 Trotz Ausweisebeschlüssen kam es schlussendlich jedoch nie zu einer Vertreibung. 1844 vollzog sich der Wandel vom Händler zu Produzenten – der Zensus der Uhrenhändler und Uhrenfabrikanten führt vier Juden auf.8 Knapp vierzig Jahre später waren 41,8 % der ca. 550 Juden im Uhrengewerbe tätig – entweder im Handel oder als Fabrikanten. Diese Jahre markierten zwar den Beginn des wirtschaftlichen Aufstiegs der jüdischen Gemeinschaft, jedoch erst die letzten zwanzig Jahre des Jahrhunderts zeigten das Ausmaß dieses, in den Worten Pierre-Yves Donzés, „triumphalen Erfolges“ der jüdischen Patronage.9 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert war die Schweiz, insbesondere der Jura-Raum, führend in der weltweiten Uhrenproduktion. Da die Uhren-
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Achille NORDMANN, Les Juifs dans le Pays de Neuchâtel. Extrait du Musée neuchâtelois, Neuenburg 1923, S. 3. Pierre-Yves DONZÉ, Les patrons horlogers de La Chaux-de-Fonds. Dynamique sociale d’une élite industrielle (1840–1920), Neuchâtel 2007, S. 61. DONZÉ, Les patrons, S. 88.
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produktion in dieser Region weder zünftischen noch anderweitigen Regelungen unterworfen war und deswegen größtenteils ungelernte Frauen und Kinder in Heimarbeit die einzelnen Uhrenteile herstellten, bezahlte man für eine schweizerische Uhr bis zu zwei Drittel weniger als für eine englische. Die Heimarbeit blieb bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Produktionsweise für Uhrenteile. Gelernte Uhrmacher waren für den Zusammenbau der Werke zuständig, Spezialisten für die Herstellung der oft reich verzierten Zifferblätter und Gehäuse. Diese stark arbeitsteilige Produktionsweise war im Jura unter dem Begriff „Etablissage“10 bekannt. In den 1860erJahren kam mit der amerikanischen Uhrenindustrie ein ernstzunehmender Konkurrent am Weltmarkt auf: Die amerikanischen Hersteller produzierten maschinell und seriell. Preislich konnten die einzeln, in Handarbeit gefertigten schweizerischen Uhren mit den amerikanischen nicht mithalten.11 Verstärkt durch die Wirtschaftskrise brach der Absatz schweizerischer Uhren auf dem Weltmarkt drastisch ein. Jüdische Uhrenproduzenten waren unter den Ersten, welche die industrielle und maschinelle Produktion von Uhren in das bis anhin erfolgsverwöhnte La Chaux-de-Fonds einführten12 und somit der Branche möglicherweise das Überleben sicherten. Mit gewissen Einschränkungen kann dieser wirtschaftliche Aufstieg als Integration in die Mehrheitsbevölkerung verstanden werden. Als Einschränkung muss gelten, dass die Juden La Chaux-de-Fonds’ nicht vor in unregelmäßigen Abständen auftretenden antisemitischen Agitationen verschont blieben, welche in La Chaux-de-Fonds klar wirtschaftlich motiviert waren.13 Eben-
10 Für eine genauere Analyse dieser Produktionsweise siehe u. a.: David S. LANDES, Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World. Revised and Enlarged Edition with a New Preface, Cambridge (Mass.) 2000, S. 262–264. 11 Zur Geschichte der Uhrmacherei, insbesondere in Großbritannien, der Schweiz und der USA siehe: LANDES, Revolution in Time. Zur Geschichte der schweizerischen Uhrmacherei siehe auch: Pierre-Yves DONZÉ, Histoire de l’industrie horlogère suisse. De Jacques David à Nicolas Hayek (1850–2000), Neuchâtel 2009. Zur US-amerikanischen Konkurrenz siehe u. a.: Jean-Marc BARRELET, Jacques RAMSEYER, Les résistances à l'innovation dans l'industrie horlogère des Montagnes neuchâteloises à la fin du XIXe siècle, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 37 (1987), S. 394–411. 12 DONZÉ, Patrons, S. 89. 13 Siehe dazu: Jean-Marc BARRELET, Antisémitisme et révolte ouvrière. L'émeute Bièler à la Chaux-de-Fonds en 1861, in: Musée Neuchâtelois 1 (1983), S. 97–118; Marc PERRENOUD, Un rabbin dans la cité, Jules Wolff. L'antisémitisme et l'integration des Juifs à la Chaux-de-Fonds (1888–1928), in: Musée
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falls werden die starken innerjüdischen Netzwerke am nationalen und internationalen Uhrenmarkt als Momente der Segregation gelesen.14 Daraus aber auf eine Trennung von christlicher und jüdischer Uhrmacherei oder gar auf eine strikte Trennung zwischen der jüdischen und christlichen Lebenswelt zu schließen, greift zu kurz. Denn insbesondere auf den Ebenen der Religion und der religiösen Praktiken sowie der Gesellschaft kann man die durch den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg verbundenen kulturellen Veränderungen ablesen, welche wiederum eher auf eine Integration hindeuten. Während für Simone Lässig der Weg in die bürgerliche Gesellschaftsschicht und schließlich in die bürgerlichen Berufsgruppen für die deutschen Juden über Kultur und Bildung führte (also über die Aneignung kulturellen Kapitals), diente den Juden La Chaux-de-Fonds’ der Eintritt in das Berufsfeld der Uhrmacher und Uhrenhändler als Türöffner in die führende Gesellschaftsschicht.15 Das von Simone Lässig dynamisierte, von Pierre Bourdieu aber an sich statisch gedachte System von materiellem, kulturellem und sozialem Kapital16 dient der historischen Analyse des sozialen Aufstiegs der deutschen Juden ab Ende des 18. Jahrhunderts. Lässig bezeichnet das primär kulturelle Emanzipationsprojekt der deutschen oder vielmehr der deutschsprachigen Juden als einen Sonderweg, da nicht die Integration in die Gesamtbevölkerung, sondern vielmehr die Integration in die führende Gesellschaftsschicht angestrebt wurde. Der rasante gesellschaftliche Aufstieg der Juden von La Chaux-de-Fonds scheint die These des „deutschen Sonderwegs“ zumindest zu hinterfragen.17 Ausgelöst durch die Abwanderung aus dem Elsass, wo die jüdische Bevölkerung unteren sozialen Schichten angehörte, und durch das Eintreten in ein neues Berufsfeld gelang jedoch vielen die Integration in die gesellschaftliche Elite. Die Eliten in La Chaux-de-Fonds und diejenigen der deutschen großen städtischen Zentren wie Berlin, Dresden oder Hamburg sind nur schwer vergleichbar. Ein Großbürgertum wie in den europäischen Städten konnte
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Neuchâtelois. Revue d'histoire régional fondée en 1864, 1 (1989), S. 13–51, hier S. 20. So argumentiert z. B. DONZÉ, Patrons, S. 91–102. Simone LÄSSIG, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 74. Pierre BOURDIEU, Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Hamburg 1992, S. 49–69. LÄSSIG, Wege, S. 13–34 (insbesondere S. 15).
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sich aus historischen, kulturellen und lokalen Gründen nie entwickeln. Der Ort war bis Ende des 18. Jahrhunderts ärmlich und landwirtschaftlich geprägt und wuchs erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer eigentlichen Stadt an.18 Der wirtschaftliche Erfolg manifestierte sich alsdann aber in der Architektur, in der Stadtplanung und ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Anschluss an das nationale und ab 1884 an das internationale Eisenbahnsystem.19 Auch wenn nicht von einem Großbürgertum im engeren Sinne gesprochen werden kann, lässt sich die gesellschaftliche Oberschicht, welche sich aus Patrons und Uhrenhändlern sowie aus Ärzten, Anwälten und Lehrern zusammensetzte, als Bürgertum bezeichnen, welches einen distinktiv bürgerlichen Lebensstil pflegte. So lassen sich denn auch die innerjüdischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Veränderungen unter dem Begriff „Verbürgerlichung“ zusammenfassen. 2.2 Die religiöse Sphäre Wie weiter oben kurz umrissen, bestimmte die Religion im Elsass bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts das private und das gesellschaftliche Leben der Juden und Jüdinnen. Die vielen Gesetze und Gebote übten starken Einfluss auf das tägliche Leben, den sozialen Zusammenhalt und die individuelle Lebensplanung aus. Die unterschiedlichsten und elementarsten Bereiche des Lebens, wie die Wahl des Ehepartners, die Speisezubereitung oder die Arbeitszeiten, sind im traditionellen Judentum vorgegeben. Im Elsass waren die Strukturen und Einrichtungen, welche das Befolgen der Tradition erst ermöglichen, über Jahrhunderte gewachsen. Neben den Strukturen lokaler Bräuche und Traditionen entwickelte sich jedoch kaum Schriftgelehrtheit wie in anderen Zentren jüdischen Lebens. Mit der Migration in den Jura ging der Verlust der religiösen Strukturen einher. Denn zwischen der Einwanderung der ersten Juden um das Jahr 1770 und der Gründung
18 Einwohnerzahlen: 1712: 1925; 1800: 4927; 1850: 13.268; 1900: 35.971. Raoul COP, Histoire de La Chaux-de-Fonds, Le Locle 2006, S. 134; 213; 291. 19 Die erste Bahnlinie im Kanton Neuenburg verband ab 1857 die Uhrmacherorte La Chaux-de-Fonds und Le Locle. Im Jahr 1897 wurde die erste elektrische Straßenbahn des Kantons in La Chaux-de-Fonds eingeweiht. Oliver WILECZEK, Tramway La Chaux de Fonds (TC), 1897–1950, in: Tram 3 (1991).
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der ersten Gemeinde in La Chaux-de-Fonds im Jahr 183320 verstrichen sechzig Jahre. Wenn wir nun die Geschichte der neugegründeten jüdischen Gemeinde von La Chaux-de-Fonds betrachten, fallen folgende zwei Punkte auf: Erstens ist auf personeller Ebene eine starke Rückbindung an das Elsass feststellbar (so war zum Beispiel der Hegenheimer Rabbiner Moïse Nordmann für die Gemeinde verantwortlich), jedoch ist, zweitens, hinsichtlich der Observanz und des Ritus eine klare Emanzipation von den elsässischen Traditionen zu verzeichnen. Das Eintreten in die „Klasse“ der Uhrmacher und damit in die führende Gesellschaftsschicht des Ortes führte zu neuen Ansprüchen an die eigene Religion und verlangte dadurch nach neuen Ausdrucksformen. Das Judentum verlor seine Bestimmungsgewalt über das Leben des Einzelnen und entwickelte sich vermehrt zu einem Aspekt des bürgerlichen Lebensstils. Als Beispiel sei hier die Wahl des Rabbiners (als Nachfolger von Rabbiner Moïse Nordmann) im Jahr 1888 angeführt: Der Gemeindevorstand verlangte von den Kandidaten sowohl eine fundierte religiöse wie auch eine weltliche Ausbildung und das fließende Beherrschen von Französisch war ebenso wichtig wie gute Kenntnisse der hebräischen Sprachen, denn der Vorstand wünschte sich für jeden ShabbatGottesdienst eine bildungserzieherische Predigt in französischer Sprache. Schon vor Einführung einer Predigt wurde durch den Erlass einer Synagogenordnung im Jahr 187921 die Gemeinde zu würdigem Auftreten und gesittetem Verhalten während des Gottesdienstes angehalten: Gebete sollten mit leiser Stimme gesprochen werden, das Wiegen mit dem Oberkörper war zu unterlassen ebenso Geplauder und Gespräche mit dem Nachbarn und auch das Lesen profanerer Texte war strengstens untersagt. Zuwiderhandlung gegen diese und weitere Gesetze wurde mit Bußen geahndet, wer in Zahlungsschwierigkeiten geriet konnte gar gänzlich von der Teilnahme
20 Das Gründungsjahr 1833 bezeichnet an sich nur den ersten, überlieferten Gottesdienst, welche die Juden La Chaux-de-Fonds’ gemeinsam zu den hohen Feiertagen im Herbst abhielten, dass es sich dabei um eine geplante Gemeindegründung handelte, ist zu bezweifeln. Das Datum wurde wohl aus der Retrospektive konstruiert. Zur Anfangszeit der jüdischen Gemeinschaft siehe u. a. André R. WEIL, Communauté israélite de La Chaux-de-Fonds. Centcin quantième anniversaire, 1833–1983, La Chaux-de-Fonds 1983. 21 Règlement de police pour la Synagogue (27. Oktober 1879); Privatarchiv.
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am Gottesdienst ausgeschlossen werden.22 Während die führenden Familien einen jüdisch geprägten bürgerlichen Lebensstil pflegten und somit erfolgreich Judentum und Bürgerlichkeit zu verbinden wussten, fühlte sich die kleine orthodoxe Gemeinschaft von dieser Lebens- und Religionspraxis gleichermaßen abgestoßen wie ausgeschlossen. Um die Jahrhundertwende waren einige „Russen“,23 wie sie in der Korrespondenz der „Société des Dames“ genannt werden, in den Uhrmacherort gekommen. Gemeinsam mit früher eingewanderten deutschen Juden lebten sie ein traditionelleres und observanteres Judentum, der bürgerliche Stil in der großen Synagoge, nicht zuletzt das Harmonium und der Chor,24 veranlasste sie, eigene Gottesdienste außerhalb der Gemeinde abzuhalten. Der Unwille zur Integration in die moderne Gemeinde schlug sich in Konflikten nieder. Ein Brief aus dem Jahr 1906 vermerkt die letzte wohltätige Spende der „Société des Dames“ zugunsten einer russischen Familie: 200,- Franken Unterstützung und eine Einwegsfahrkahrte nach Wien.25 Im Falle der jüdischen Uhrmacher im Jura kann Tradition nicht als Hindernis für Wandel gelten. Die Ausformulierung einer neuen kulturellen Praxis schuf neue Traditionen auf dem Fundament einer viel älteren Tradition. Ausgelöst durch Migration und Eintreten in ein anderes Berufsfeld war das fromme Leben des Herkunftsortes nicht länger kompatibel mit dem neuen Lebensstil. Die Internalisierung des „Bildungsprimates“ für einen erfolgreichen sozialen Aufstieg (was bei Bourdieu als Akkumulierung von kulturellem Kapital bezeichnet wird) schlug sich im religiösen Bereich nieder. Nicht nur die schon erwähnten Predigten im Shabbat-Gottesdienst, sondern auch die Initiierung von und Mitarbeit in erzieherisch-kulturellen Vereinen (wie zum Beispiel den Theaterfreunden La Chaux-de-Fonds’)26 stehen in der jüdischen Tradition von Gemeinnützigkeit und Philanthropie.
22 Aus den Quellen der Gemeinde kann nicht geschlossen werden, dass diese Androhung jemals umgesetzt wurde, obschon einige Briefwechsel Auseinandersetzungen zwischen Gemeindeleitung und säumigen Zahlern überliefern. 23 Der Sammelbegriff „Russen“ umfasste sämtliche jüdischen Einwanderer und Flüchtlinge aus dem östlichen Europa und dem Zarenreich. Die oftmals pejorativ aufgeladene Bezeichnung definiert eine klare Abgrenzung zwischen den seit Längerem anwesenden Juden und den Neuzuwandereren. 24 Ron EPSTEIN-MIL, Die Synagogen der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, Zürich 2008, S. 197. 25 Archivmaterial der jüdischen Gemeinde La Chaux-de-Fonds. 26 PERRENOUD, Jules Wolff, S. 20.
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Der Wandel der Selbstperzeption schlägt sich nicht nur in internen Strukturen nieder, sondern er beeinflusst ebenso stark das Eintreten in den und Auftreten im öffentlichen Raum. 2.3 Der öffentliche Raum Das Eintreten und Sichtbarwerden im öffentlichen Raum führt oft zu Kontroversen, denn er ist weder neutral noch wertfrei, sondern, meist implizit, mit Ansprüchen und Besitzdenken besetzt. Die ständige Niederlassung von Juden in La Chaux-de-Fonds, ihr wirtschaftlicher Erfolg, vermischt mit tradierten Vorurteilen, führten in der Uhrenstadt zu einigen, teilweise heftigsten antisemitischen Ausschreitungen.27 An dieser Stelle möchte ich jedoch nicht auf antisemitische Agitationen eingehen, sondern das Heraustreten in den öffentlichen Raum aus jüdischer Innenperspektive beleuchten und dies anhand von vier Beispielen aus den Bereichen Religion, Wirtschaft und Gesellschaft. Das anhaltende rasante Wachstum der jüdischen Gemeinde durch verstärkte Migration aus dem Elsass erforderte 1883 einerseits aus Platzgründen, andererseits aus dem Willen heraus, die gesellschaftliche Stellung im städtischen Gefüge mit einem entsprechenden Bau sichtbar zu machen,28 den Bau einer eigenen Synagoge. Die ersten Gottesdienste fanden ab 1833 in einer privaten Wohnung statt. 1843, die jüdische Bevölkerung belief sich zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 60 Personen, stellte die Gemeinde den Antrag, eine Synagoge einrichten zu dürfen. Während der Gemeinde der Erwerb einer Immobilie zu diesem Zweck nicht gestattet wurde, war die Anmietung einer geeigneten Wohnung von der Regierung bewilligt worden.29 1883 beauftragte nun die Gemeinde Sylvius Pittet, einen ansässigen
27 Siehe dazu u. a. Marc PERRENOUD, Problèmes d'integration et de naturalisation des Juifs dans le canton den Neuchâtel, in: Pierre CENTLIVERS, Devenir Suisse. Adhésion et diversité culturelle des étrangers en Suisse, Genf 1990, S. 63–94; BARRELET, Antisémitisme, S. 97–118. 28 EPSTEIN-MIL, Synagogen, S. 192. 29 Die Literatur widerspricht sich in diesem Punkt. Während Jules Wolff angibt, dass die Regierung die Anmietung von Räumlichkeiten eigens für religiöse Zwecke gestattete, bemerkt Achille Nordmann, dass Gottesdienste in Privatwohnungen wie bisher geduldet würden, die Anmietung einer Wohnung nur für diesen Zweck jedoch nicht. Da beide Autoren ihre Quellen nicht angeben und die Autorin diese noch nicht gefunden hat, kann dieser Punkt noch nicht als abgeschlossen behandelt gelten. Jules WOLFF, Histoire de la Communauté 1833–
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Architekten, Entwürfe zu erstellen. Antisemitische Ausschreitungen im Jahr 1885 veranlasste aber die Gemeindeleitung, auf den Bau zu verzichten. Das weitere Anwachsen der Gemeinde machte in den 1890er-Jahren jedoch einen Neubau unumgänglich: Die Gemeinde erwarb im Zentrum der Stadt30 ein Grundstück und schrieb einen öffentlichen Wettbewerb aus. Wie Ron Epstein in seiner Dissertation zum Synagogenbau in der Schweiz feststellt unterstrich die Ausschreibung eines Konkurrenzverfahrens die Absicht, Öffentlichkeit zu suchen und zu einem Teil der urbanen Kultur zu werden.31 An der Einweihungsfeier der im byzantinischen Stil erbauten Synagoge am 13. Mai 1896 nahmen mehr als 800 Personen, darunter Vertreter der Politik und der Kirchen, teil. Die Lage der Synagoge, der Architekturwettbewerb und schließlich die Einweihungsfeierlichkeiten zeugen von einer selbstbewussten Selbstdarstellung im öffentlichen Raum. Die eigene Religion wurde nicht länger als Ausschlussfaktor empfunden, sondern zum Anlass genommen, die neue gesellschaftliche Stellung zu präsentieren und zu festigen. Die wirtschaftliche Präsenz der jüdischen Uhrmacher manifestiert sich nicht zuletzt ebenfalls in Bauten. Als Pioniere der industriellen Fertigung von Zeitmessern in La Chaux-de-Fonds errichteten einige Patrons die ersten Firmen innerhalb des urbanen Raumes. Später, als das Bedürfnis nach mehr Platz für die Produktion aufkam, verlagerten sich die Fabriken an die Peripherie der Stadt. Neben der baulichen Präsenz waren die jüdischen Uhrmacher mit ihren Marken an zahlreichen nationalen und internationalen Uhrenwettbewerben erfolgreich vertreten. Neben der Anerkennung, welche sich auch in der Präsenz von jüdischen Firmenbesitzern in Uhrmachervereinigungen niederschlug, gab der Erfolg auch Anlass zu Neid, der sich in unterschiedlichem Ausmaß in antisemitischen Agitationen manifestierte. Der Stadtplan (Abb. 1) ist aufschlussreich für die gesellschaftliche Integration und das Niederlassungsmuster der jüdischen Bevölkerung:32 Der
1933, in: WEIL, Communauté, 1983 [Original: 1933], S. 5–30, hier S. 7; NORDMANN, Les Juifs, S. 25. 30 Siehe Abbildung 1. 31 EPSTEIN-MIL, Synagogen, S. 193. 32 Abbildung; Die Datenerhebung und -auswertung sowie die Idee, die Wohnpräferenz genauer zu betrachten, verdanke ich der Arbeit von Véronique Meffre: Véronique MEFFRE, Les Juifs de La Chaux-de-Fonds 1879–1912 de la forma-
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Abbildung 1: Historischer Stadtplan La Chaux-de-Fonds’ eingeteilt nach Wohnquartiere33
tion à l’enraciment d’une communaute, Mémoire de diplôme, Universität Genf 2003. 33 Victor ATTINGER, Maurice BOREL, Charles KNAPP, Dictionnaire Géographique de la Suisse, Bd. 1, 1902, S. 465.
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urbane Raum La Chaux-de-Fonds’ lässt sich grob in vier, respektive fünf Stadtteile aufteilen: Der erste, hier mit 1 bezeichnete, im Südosten der Stadt, definierte sich durch stattliche Häuser, welche von der bürgerlichen Oberschicht bewohnt wurden. Das Quartier 2a benennt das wirtschaftliche Zentrum der Stadt, was sich unter anderem dadurch zeigte, dass in jedem dritten Haus ein Geschäft untergebracht war; 2b wiederum bezeichnet die neueste Wohngegend des Ortes. Im Quartier 3 im Osten der Stadt lebten die Arbeiter und ihre Familien, einige führten kleine Ateliers. Die Wohngegend der Arbeiterschaft war in sich nochmals geteilt, der eine Teil wurde von gelernten und künstlerisch tätigen Handwerkern bewohnt, der andere von ungelernten und hatte eine äußerst schlechte Reputation. Quartier 4 war das kleinste der Stadt und hatte keine charakteristische Prägung. Erwähnenswert ist aber, dass am Rande dieses Viertels die jüdische Gemeinde 1872 ihren Friedhof einrichten durfte. Wenn man nun die Wohnpräferenzen der jüdischen Einwohner La Chaux-de-Fonds’ betrachtet, stellt man fest, dass ein bedeutender Teil in bester Wohnlage lebte, also im Quartier der bürgerlichen Oberschicht (1) oder im Geschäftszentrum (2a). Ein klar kleiner werdender Teil hatte seinen Lebensmittelpunkt in der Arbeitergegend. Interessant dabei ist, dass es sich bei dieser jüdischen Unterschicht fast ausschließlich um Immigranten aus dem östlichen Europa, respektive Russland handelte. Also um diese „Russen“, welche in den Akten der Philanthropie auftauchten, bevor man sie, etwas plakativ ausgedrückt, zurück nach Wien schickte. Dass ein bedeutender Teil der während des 19. Jahrhunderts nach La Chaux-de-Fonds migrierten Juden in besserer und bester Lage wohnte, spricht für die These, dass der Aufstieg in die örtliche bürgerliche Klasse gelungen war. Wenn man die Zahlen der Wohnlage weiter auseinanderdividiert, lässt sich diese These gar noch erhärten. Ein Beispiel dafür: Wenn man die berufliche Tätigkeit mit der Wohnlage in Verbindung setzt, stellt man fest, dass viele der erfolgreichen Uhrmacher und ihre Familien in den Stadtteilen 1 und 2a lebten. Auch ist die Dichte an Hausmädchen und an weiterem Personal in jüdischen Familien vergleichbar mit christlichbürgerlichen Familien in derselben Wohngegend. Welche Schlüsse lassen sich nun aus dieser kurzen Betrachtung des Stadtplanes ziehen? Erstens ist sicherlich nochmals die geografische Lage der Synagoge erwähnenswert: Sie wurde nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum der Stadt erbaut. Die Wohnlage der jüdischen Bevölkerung in Quartier 1 und 2a lässt sich mit der Nähe zur Synagoge erklären; da aber die halachischen Gebote nicht
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mehr mit absoluter Strenge eingehalten wurden, müssen weitere Erklärungsmuster herangezogen werden. Einerseits war wirtschaftlicher Erfolg nötig, also die Akkumulierung von ökonomischem Kapital, um sich an bester Lage niederlassen zu können, andererseits muss bereits genügend kulturelles Kapital vorhanden gewesen sein, um den Status der einzelnen Quartiere zu verstehen. Es lässt sich daraus aber auch das Selbstverständnis, der lokalen Oberschicht anzugehören, ablesen. Als letztes Beispiel für die Verbürgerlichung auf gesellschaftlicher Ebene sei hier wiederum ein Rückgriff auf die religiösen Gebote angebracht. Die jüdischen Speisevorschriften, welche nicht nur verlangen, dass das Tier gemäß dem religiösen Gesetz geschlachtet wird, sondern auch die konsequente Trennung von Fleisch und Milch (und des jeweiligen Geschirrs), hatten zur Folge, dass das Einnehmen von Mahlzeiten, wenn kein koscheres Restaurant verfügbar war, eine häuslich-private Angelegenheit darstellte. Im Jahr 1904 versammelten sich jedoch die fünfzehn Vorstandsmitglieder der Philanthropischen Vereinigung von Saint-Imiers, einem Nachbarort La Chaux-de-Fonds’, im Restaurant „du Gare“ zu einem Essen und zu Wein. Zwei Aspekte fallen bei diesem Treffen auf: Erstens konsumierten die Herren 35 Flaschen Wein, zweitens können wir davon ausgehen, dass weder Essen noch Getränke den jüdischen Speisevorschriften entsprachen, dies, obwohl aus anderen Quellen hervorgeht, dass im häuslichen Umfeld die Kashrut (religiöse Speisegesetze) eingehalten wurden. Die Versammlung in der Öffentlichkeit unterstreicht die Präsenz der führenden Eliten in der Gesellschaft. Das Agieren im öffentlichen Raum, die Integration in die gesellschaftlichen Handlungsnormen sind im öffentlichen Kontext wichtiger als die Einhaltung der eigenen Gebote. Der Konsum von großen Mengen an Alkohol spricht nicht nur für die Annahme dieses elitären Habitus, sondern auch für eine erfolgreiche Integration Saint-Imiers – lautes Auftreten im Alkoholrausch, also Sichtbarkeit im öffentlichen Raum, wurde nicht länger vermieden.
3. S CHLUSSBETRACHTUNGEN Der wirtschaftliche Erfolg der elsässisch-jüdischen Einwanderer im JuraRaum möchte dazu verführen, ihre Geschichte als lineare Erfolgsstory, im Sinne von „vom Viehhändler zum Firmenbesitzer“, zu erzählen, denn die
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Entwicklung ist in der Tat bemerkenswert. Bemerkenswert, weil die Gemeinschaft innerhalb eines Jahrhunderts in die Region migrierte, dort in ein für sie neues Berufsfeld eintrat und dies mit schlagendem Erfolg. Hinter diesem Erfolg verstecken sich aber einerseits auch Misserfolge und anderseits eine Reihe von gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Veränderungen. Der Habitus des Uhrmachers verlangte nach neuen Interpretationen der religiösen und öffentlichen Identitäten. Die Juden von La Chaux-deFonds haben sich nicht assimiliert, sondern eine selbstbewusste Integration angestrebt, ein Unterfangen, welches von der Mehrheitsgesellschaft nicht immer wohlwollend aufgenommen wurde. Wobei auch die jüdische Elite der Uhrmacher ihrerseits Ausschlüsse vornahm: Die in ihren Augen „rückständigen Russen“ passten nicht länger in das Bild des modernen, am gesellschaftlichen Leben teilhabenden Judentums. Das Fallbeispiel La Chauxde-Fonds zeigt eindrücklich, dass Tradition und Religion keine statischen Größen sind und dass Tradition per se kein Bremsklotz für gesellschaftlichen Wandel darstellt, sondern dass Traditionen dynamischen Prozessen gegenüber offen sind, neue Institutionen darauf fußen und Änderungen von kulturellen Praktiken zulassen – denn Traditionen sind Produkt derer, die sie leben, und müssen immer wieder neu ausgehandelt werden.
Migration und konfessionelle Pluralität an der nordöstlichen Peripherie des Königreichs Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert P ETER Š OLTÉS (B RATISLAVA )
Seit dem Mittelalter entwickelte sich der nordöstliche Teil des Königreiches Ungarn (heute östliche Slowakei, nordöstliches Ungarn und westliche Teile der Karpaten-Ukraine) als ein Grenzgebiet, in dem drei ethnischsprachliche Gruppen lebten; die ruthenisch/russinische, slowakische und ungarische. Gleichzeitig war dies auch ein Raum des Zusammentreffens von westlichen lateinischen und der östlichen byzantinisch-slawischen kirchlichen und rituellen Traditionen. In Folge dieser Konstellation etablierten sich in diesem Gebiet im Zuge der Konfessionalisierung fünf Konfessionskirchen. Zusätzlich bewirkten zahlreiche Migrationsprozesse innerhalb dieses relativ kleinen geografischen Raums eine Veränderung der konfessionellen und oft auch der ethnischen Struktur. Nach den ständischen Erhebungen von Emerich Thököly (1678–1685) und Franz II. Rákóczi (1703–1711) und der Verdrängung der Osmanen aus Ungarn blieben weitläufige Teile der nordöstlichen Komitate entvölkert. Eine große Migrationswelle aus dem gebirgigen, wirtschaftlich und kulturell rückständigen Norden in südlichere, landwirtschaftlich viel günstiger gelegene Gegenden veränderte am Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Siedlungsstruktur tiefgreifend. Das Ausmaß dieser Migrationsbewegung prägt in der Literatur
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die Metapher von der „Ausuferung des ruthenischen Flusses“ („Разлив русcкой реки“)1. Die Belebung der Wirtschaft war von einer Neubesiedlung abhängig. Die einzigen Gebiete, in denen es einen Bevölkerungsüberschuss gab, befanden sich in den Tälern beidseits der Ostkarpaten, in den ruthenischen Dörfern. Die in der ersten Phase spontane, später durch die landesherrliche Initiative ausgelöste und geregelte Migration der Bevölkerung aus den nordöstlichen Gebieten Ungarns und Galiziens, die in den Quellen Ruthenen/Rusnaken (deutsch), Rutheni (lateinisch), Oroszok (ungarisch), Rusnáci (slowakisch) und Руснаки (ruthenisch, ukrainisch) bezeichnet werden, führte zur Erweiterung der griechisch-katholischen Kirchenorganisation auf dem Gebiet der katholisch-protestantischen Konkurrenz.2 Damit etablierten sich die Ruthenen auf dem Gebiet der slowakischen und ungarischen Ethnien.3 Vor dieser Bewegung war das nordöstliche Ungarn horizontal in drei relativ kompakte, ethnisch-konfessionelle Gebiete geteilt. Am deutlichsten sichtbar wird dies am Zempliner Komitat, das sich von der polnischen Grenze bis zum Tokajer Gebirge erstreckte. In seinem nördlichen Drittel überwog die ruthenische und konfessionell griechisch-katholische Bevölkerung, im mittleren Teil dominierten die Slowaken, die konfessionell zwischen römisch-katholischer, lutherischer und teilweise auch calvinistischer Konfession geteilt waren. Den südlicheren Teil bewohnte eine ungarischsprachige Bevölkerung, die zunächst überwiegend der reformierten Kirche angehörte, sich aber zunehmend der römisch-katholischen Kirche zuwandte. Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich das religiöse Leben als Folge der Migration neu gestaltete.
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Алекcей ПЕТРОВ [Aleksej PETROV], Материалы до истории Угорской Руси VI. [Materialien zur Geschichte der Karpathen-Ukraine], Санкт Петербург [Sankt Peterburg] 1911, S. 150. Zu neugegründeten griechisch-katholischen Pfarreien im Zempliner Komitat siehe: Peter ŠOLTÉS, Odkedy sú gréckokatolíci na strednom a južnom Zemplíne? [Seit wann sind die Griechisch-katholischen im mittleren und südlichen Zemplin?], in: Verba Theologica 3/1 (2004), S. 12–22, hier S. 16–18. Attila PALÁDI-KOVÁCS, Ukrainische Streusiedlungen in Nordostungarn im 18.–19. Jahrhundert, in: Acta Ethnographica Academiae Scientiarum Hungaricae 22/3–4 (1973), S. 371–415.
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UND KONFESSIONELLE
P LURALITÄT
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1. H ISTORISCHER H INTERGRUND Das Ausmaß der Ansiedlung in vormals römisch-katholische bzw. protestantische Ortschaften kann man aus den Angaben der Visitation des Munkatscher Bischofs Michael Olsavszky aus den Jahren 1750–1752 ersehen. Von den 1129 Ortschaften waren 40 % (453) rein griechisch-katholisch und 60 % (676) konfessionell gemischt. Es gibt keine Belege über die Migration in umgekehrter, südöstlicher Richtung bzw. über Konversionen der griechisch-katholischen Ruthenen in ihren ursprünglichen Gebieten. Bei den konfessionell gemischten Ortschaften handelte es sich also eindeutig um das Produkt ruthenischer Migration.4 Die schnelle Etablierung der neuen Kirchengemeinde, der griechischkatholischen Kirche, wurde durch die komplizierten Machtverhältnisse ermöglicht, die infolge der Konfiskationen der Besitztümer von vielen Adeligen nach der Niederlage des ständischen Aufstands von Franz II. Rákóczi (1703–1711) geherrscht haben. Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Zeitperiode, in der auf dem Gebiet des nordöstlichen Ungarns viele protestantische Kirchengemeinden aufgelöst wurden, es war auch die Zeit des allmählichen Wiederaufbaus der katholischen Kirchenorganisation. Die griechisch-katholische Kirche verfügte, im Vergleich zu den anderen Konfessionskirchen, über einige wichtige Vorteile. In den Priesterfamilien etwa wurde der Vaterberuf auf den Sohn bzw. Schwiegersohn vererbt, sodass für die neugegründeten Pfarreien ausreichend Priester vorhanden waren. Die Priesterkandidaten erwarben elementare Kenntnisse und Fertigkeiten vom Vater. In seltenen Fällen hatte ein griechisch-katholischer Priester auch eine kurze pastorale und geistliche Vorbereitung in einem Kloster zu absolvie-
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Василий ГАДЖЕГА [Vasilij GADŽEGA], Додатки до исторії русинов и руских церквей в Ужанской жупе [Beiträge zur Geschichte der Ruthenen im Ungwarer Komitat], in: Науковый Зборник Товариства Просвита 2 (1923), S. 1–64, hier S. 53. Zum Anteil der konfessionell gemischten griechischkatholischen Gemeinden der Munkatscher Diözese siehe auch István UDVARI, A munkácsi görögkatolikus püspökség lelkészségeinek 1806. évi összeírása [Konskription der griechisch-katholischen Diözese von Munkatsch im Jahre 1806], Nyíregyháza 1990, S. 140–154; István BENDÁSZ, István KOI, A Munkácsi Görögkatolikus Egyházmegye lelkészségeinek 1792. évi katalógusa [Katalog der Parochien der Griechisch-katholischen Diözese von Munkatsch im Jahre 1792], Nyíregyháza 1994.
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ren.5 Ein weiterer Vorteil waren die viel kleineren Aufwendungen für die Gründung und ökonomische Sicherung der Pfarrei. Die griechisch-katholischen Ansiedler bauten ihre Gotteshäuser im Einklang mit ihrer Tradition der sakralen Architektur ausschließlich aus Holz. Die neue konfessionelle Gemeinde holte die Zustimmung des örtlichen Landesherrn ein, benötigte darüber hinaus keine Kirchengüter, Pfründe und andere Formen der ökonomischen Sicherstellung. Es wurden Holzkirchen gebaut und die Priester vorwiegend aus der Umgebung des Heimatortes gewonnen. Das gesamte Jahreseinkommen der griechisch-katholischen Pfarrer, das heißt, die Erträge aus den Pfarrgrundstücken, dem Zehenten und der Stola, waren noch in den 1750er-Jahren nur selten höher als 30 Rheinische Florene.6
2. D AS K ONFESSIONALISIERUNGSPARADIGMA Die Festsetzung von Grenzen zwischen den einzelnen Konfessionskirchen, die Betonung der gegenseitigen Verschiedenheit und die Formgebung einer ausgeprägten konfessionellen Identität als Resultat eines erfolgreichen Verlaufs der Konfessionalisierung7 verliefen auf den ersten Blick rasch und erfolgreich. Das Konfessionalisierungsparadigma arbeitet mit der Vorstellung einer systematischen Einheit und dogmatischen Geschlossenheit der einzelnen Konfessionen zueinander. Es ist ein soziales Konstrukt einer Einheit von Gläubigen, das durch den extensiven Kommunikationsprozess innerhalb der eigenen Konfessionsgemeinschaft erzielt wird.8 Die Konstruktion ho-
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Peter ŠOLTÉS, Peter ŽEŇUCH, Sociálne postavenie gréckokatolíckeho duchovenstva a veriacich na východnom Slovensku a v podkarpatskej Rusi v 18. a 19. storočí, jazykové a kultúrne podmienky I. [Soziale Stellung des griechisch-katholischen Klerus und der Gläubigen in der Ostslowakei und in der Karpathoukraine im 18. und 19. Jahrhundert, sprachliche und kulturelle Bedingungen I], in: Slavica Slovaca 36/2 (2001), S. 133–146, hier S. 141. Die statistischen Daten stammen aus: AACass [Archivum Archidioecesis Cassoviensis], Graeci ritus, nicht signiert, Tabella representans, Districtus Homonensis 1746; Tabella representans, Districtus Ujhelyiensis 1746. Richard van DÜLMEN, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie Aufklärung 16.–18. Jahrhundert, München 1994, S. 56. Anton SCHINDLING, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: Anton SCHINDLING, Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien
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mogener Konfessionszugehörigkeit reduziert aber die Möglichkeit, die transkonfessionelle Kommunikation, die Prozesse der Adaptation und Interaktion wahrzunehmen.9 Die Tauglichkeit des Konfessionalisierungsparadigmas in einem mehrkonfessionellen Milieu, das durch umfangreiche Migration und in komplizierten politischen Verhältnissen geformt wurde, scheint zumindest problematisch zu sein. Man hat es nicht mit geschlossenen konfessionellen Blöcken, sondern mit einem komplizierten Netz von Verbindungen, Beziehungen und Figurationen zu tun. Deswegen sollte man die Aufmerksamkeit auf die Regionalebene und auf die alltägliche soziale Praxis der Inter- und Transkonfessionalität lenken. Unter Interkonfessionalität verstehe ich Austauschprozesse zwischen Einzelpersonen und Gruppen, die zu verschiedenen konfessionellen Gemeinschaften gehören. Diese Austauschprozesse sind in Bezug auf die Wahrnehmung und Reflexion der anderen Konfession relevant. Die Transkonfessionalität ist eine bewusste Überschreitung von existierenden Grenzen zwischen Konfessionen, deren Form und Motive variabel und breitgefächert sein können.10 Am häufigsten hatten diese Übertretungen die Relativierung der im Rahmen der Konfessionalisierung und sozialen Disziplinierung fixierten Schranken und Grenzen, die im Widerspruch zu lokalen Machtverhältnissen oder lokalen Normen standen, zum Ziel. Die Fokussierung auf die Mikroebene ist im Rahmen unserer Fragestellung auch deswegen notwendig und erforderlich, weil das Gebiet des historischen Ungarns, ebenso wie die Habsburgermonarchie, aus transkonfessioneller Perspektive lange Zeit unzureichende Aufmerksamkeit geschenkt wurde und zum Teil immer noch wird.11
des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1550–1650, Bd. 7, Münster 1997, S. 9–45, hier S. 13. 9 Thomas KAUFMANN, Einleitung. Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität – Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, in: Kaspar von GREYERZ, Manfred JAKUBOWSKI-THIESSEN, Thomas KAUFMANN, Hartmut LEHMANN (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2001, S. 9–16, hier S. 14 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201). 10 Vgl. Nicole GROCHOWINA, Grenzen der Konfessionalisierung. Dissidententum und konfessionelle Indifferenz im Ostfriesland des 16. und 17. Jahrhundert, in: GREYERZ, JAKUBOWSKI-THIESSEN, KAUFMANN, LEHMANN (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität, S. 48–72, hier S. 48. 11 Robert J. W. EVANS, Die Grenzen der Konfessionalisierung. Die Folgen der Gegenreformation für die Habsburger Monarchie (1650–1781), in: Joachim
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Soziologische und kulturanthropologische Forschungen haben erwiesen, dass soziale Gruppen einschließlich konfessionelle und ethnische, einander hierarchisch verorten. Die Gruppen in der Minoritäts- oder Subordinationsstellung werden als uninteressant, minderwertig und unterentwickelt wahrgenommen.12 Eine soziale Gruppe, die über größere Macht verfügt und im ökonomischen sowie symbolischen Sinn mehr Kapital besitzt, schafft ein positives Selbstbild, das zugleich mit der Abwertung der Minorität verbunden ist. Bei den Mitgliedern festigt sich die Überzeugung, dass sie nicht nur stärker, sondern auch entwickelter und wertvoller seien. Norbert Elias hat dies als Etablierten-Außenseiter-Figuration bezeichnet.13 Die Quelle der Macht, die diese Dominanz ermöglicht, kann unterschiedlicher Art sein. Die Zugehörigkeit zu einer Konfessionskirche war bis zur Säkularisierung einer der wichtigsten Faktoren bei der Verteilung und Verteidigung von Macht, sozialem Prestige und symbolischem Kapital.14 Ein oft übersehener Faktor ist auch die Tatsache, dass durch die Migration traditionelle Siedlungsgebiete verändert wurden. Wie sieht es also mit der Plausibilität des Etablierten-AußenseiterParadigmas in der nordöstlichen Peripherie des Königreichs Ungarn aus? Existierte diese Figuration in lokalen Gemeinschaften, welche aus drei, vier oder mehr konfessionellen und ethnischen Gruppen zusammengesetzt waren, oder führten die spezifisch historischen Bedingungen zur Entkräftung des Exklusivitätsanspruchs, zur Relativierung und Marginalisierung der Unterschiede, was in weiterer Folge die Grundlage zur Entstehung eines konfessionell pluralistischen Milieus geschaffen hat?
BAHLCKE, Arno STROHMEYER (Hg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, Stuttgart 1999, S. 395–412, hier S. 399 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 7); Eva KOWALSKÁ, Die ungarischen Städte und das Problem der Konfessionalisierung aus kulturpolitischer Sicht, ebenda. S. 351–366. 12 Thomas Hylland ERIKSEN, Ethnicity & Nationalism. Antropological Perspektives, London–Boulder/Col. 1993, S. 48–58. 13 Norbert ELIAS, John Lloyd SCOTSON, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 2000, S. 9–14 [engl. Original 1965]. 14 Pierre BOURDIEU, Jean-Claude PASSERON, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt a. M. 1973, S. 13–64 [franz. Original 1970].
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3. D AS Z EMPLINER K OMITAT 18. J AHRHUNDERT
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3.1 Die Stellung der griechisch-katholischen Kirche Schon in der zweiten Migrantengeneration war die Kommunikation zwischen den Mitgliedern einzelner Konfessionskirchen sehr intensiv. Dies betraf sogar solche Aktivitäten, die üblicherweise mittels sozialer Strategien wie Distanzierung und Stigmatisierung ausgeschlossen sein sollten. Ich denke vor allem an Formen der Transkonfessionalität wie Mischehen, Konversionen, nach der zeitgenössischen Terminologie Apostasien genannt, oder in einer „fremden“ Kirchengemeinde praktizierte Frömmigkeit.15 Bei der Suche nach Ursachen der leichteren Durchlässigkeit von interkonfessionellen und nach einigen Generationen auch interethnischen Grenzen muss ein Faktor besonders hervorgehoben werden, der von Anfang an die sozialen Bindungen zwischen den Alteingesessenen und den Zugewanderten geprägt hat: Es ist dies die große Entvölkerung des ungarländischen Randgebiets in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Zum Beispiel war im Zempliner Komitat bei der Konskription im Jahre 1715 nur jede dritte Bauernschaft bewohnt, etliche Dörfer fanden die Komitatsbeamten vollkommen leer.16 Die Depopulation hat in diesem Raum die Desintegration der Familien- und Nachbarbindungen sowie der sozialen Netzwerke in den lokalen Gemeinschaften bewirkt. Die Begünstigung, über die eine sozial geschlossene, miteinander verbundene Gruppe von Altbewohnern gegenüber der meist heterogenen Gruppe der Zugewanderten normalerweise verfügt, war damit nicht gegeben. Bei der Wiederher-
15 Unter diesen Termini versteht man die Prozesse der Eingliederung oder Ausgliederung aus einem bestimmten religiösen System, im engeren Sinne Eintritt oder Austritt aus einer religiösen Gemeinschaft. Vgl. Hubert CANCIK, Burkhard GLADIGOW, Karl-Heinz KOHL (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. III, Stuttgart–Berlin–Köln 1993, S. 436. 16 Ján SIRÁCKY, Sťahovanie poddaných z východného Slovenska v 18. a v prvej polovici 19. storočia, [Umsiedlung der Untertanen aus der Ostslowakei im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts], in: Príspevky k dejinám východného Slovenska [Beiträge zur Geschichte der östlichen Slowakei], Bratislava 1964, S. 49–134; Ignác ACSÁDY, Magyarország Budavár visszafoglalása korában [Ungarn im Zeitalter der Zurückeroberung Ofens], Budapest 1886, S. 25.
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stellung der Siedlungsstruktur war eine konsequente, distanzierte Einstellung der „Ursprünglichen“ zu den „Neuen“ oder den „Ankömmlingen“ trotz der ausgeprägten Unterschiede, betreffend Religion, Sprache, traditionelle Formen der Landwirtschaft, Architektur, die materielle Kultur usw., durch welche sich die ruthenischen Ansiedler von den Einwohnern der einzelnen Lokalgemeinschaften eine bestimmte Zeit lang unterschieden, sehr schwer aufrechtzuerhalten. Differenzen prägten auch das religiöse Leben, vor allem die Art und Weise der materiellen Sicherstellung der Pfarrer und der Kirchen. Die griechisch-katholischen Priester waren bis zur Religionsreform Maria Theresias und ihrer Politik der kirchenrechtlichen und ökonomischen Emanzipation der östlichen Kirchen in einer zum Klerus anderer Konfessionskirchen unterschiedlichen Stellung. Innerhalb der griechisch-katholischen Kirche des nordöstlichen Ungarns verlief der Prozess der Disziplinierung mit beträchtlicher Verzögerung. Das spätmittelalterliche Modell der theologischen Erziehung in Priesterseminaren und der seelsorgerischen Betreuung wurde erst seit den 1720er-, im größeren Ausmaß seit den 1750er-Jahren durch das neue nachtridentinische Modell ersetzt. Diese Rückständigkeit war der Hauptgrund der kirchenrechtlichen Unterordnung der Munkatscher Eparchie unter das Erlauer Bistum bis 1771, mit großen Folgen für die Beziehung zwischen Priesterschaft und Gläubigen. Der Prozess der Disziplinierung des Munkatscher Klerus wurde von mehreren Seiten und mit unterschiedlicher Intensität angeregt, gesteuert und sanktioniert. Den größten Einfluss übten der absolutistische Staat mit seiner Bürokratie aus sowie die Erlauer Bischöfe und, auf dem Gebiet der Komitate Zips und Gömör, die Zipser Pröpste. Auf dem ganzen Gebiet des Munkatscher Bistums entwickelte sich die griechisch-katholische Kirche (ebenso wie die orthodoxe Kirche vor der Ungwarer Union 1646) unter den Bedingungen einer wenig differenzierten Sozialstruktur. Unter den Gläubigen mangelte es fast vollkommen an Adel und Bürgertum, es fehlte jene politische und ökonomische Elite, welche sich für ihre Förderung, ähnlich wie bei der römisch-katholischen und bei beiden protestantischen Konfessionen, eingesetzt hätte.17 Die wenigen, meist armen griechisch-katholi-
17 Ľudovít HARAKSIM, K sociálnym a kultúrnym dejinám Ukrajincov na Slovensku do r. 1867 [Soziale und kulturelle Geschichte der Ukrainer in der Slowakei bis 1867], Bratislava 1961, S. 83; Hermann BIDERMANN, Die ungari-
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schen Adeligen spielten bei der politischen Verwaltung der Komitate eine sehr geringe und an den Landtagen gar keine Rolle. Voraussetzung für eine relativ konfliktfreie Etablierung der ecclesia ruthenica18 in den neuen Gebieten war die erfolgreiche Durchsetzung des Unionsprojekts. Die Ungwarer Union aus dem Jahre 1646 hat die kirchenrechtlichen und theologischen Grenzen zwischen den Gläubigen des lateinischen und des byzantinisch-slawischen Ritus abgeschafft. Sie war die Voraussetzung auch für die Relativierung und Milderung des kulturellen und mentalen Gegensatzes und reduzierte Konfliktpotenzial.19 Am deutlichsten zeigt sich die Tendenz zur Entgrenzung der konfessionellen Identität an der Zahl der konfessionell gemischten Ehen und an unterschiedlichen Modellen der Kindererziehung in konfessionell heterogenen Haushalten. Die Einstellung des Staates, dessen Initiative und Unterstützung gegenüber der griechisch-katholischen Kirche war ein entscheidender Faktor. Der Staat war bemüht, die zwischenrituellen Auseinandersetzungen zu entschärfen. Öfters hat er sich auf die Seite des „Schwächeren“ gestellt und eine Politik der positiven Diskriminierung betrieben. Außer der Bemühung, das Risiko größerer Konflikte, wie etwa in Siebenbürgen, gering zu halten, war die „Zuneigung“ der Kaiserin Maria Theresia für die griechisch-katholische Kirche auch durch die Politik begründet, die unierte Kirche, die ecclesia ruthenica, im gesamten Gebiet der Habsburgermonarchie zu etablieren. Nach der Teilung Polens hatte sich nämlich der Anteil der Bewohner des östlichen Ritus wesentlich erhöht. Die schwächere Position der griechisch-katholischen Konfession hing auch mit der, im Vergleich zu anderen konfessionellen Gemeinschaften, niedrigeren sozialen Stellung ihrer Anhänger zusammen. Besonders in einer Minderheitenposition waren sie oft mit der Wahrnehmung ihres Glaubens
schen Ruthenen, ihr Wohnort, ihr Erwerb und ihre Geschichte I., Innsbruck 1862, S. 128. 18 Bezeichnung für die örtlichen Kirchen des byzantinisch-slawischen Ritus auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie und des Polnischen Königreichs. Den dominanten Anteil bildeten bis zum 19. Jahrhundert die Ruthenen/Russinen. Vgl.: Joachim BAHLCKE, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790), Stuttgart 2005, S. 302; vgl. auch: Eduard WINTER, Der Kampf der ecclesia ruthenica gegen den Rituswechsel, in: Martin GRANMANN, Karl HOFMANN (Hg.), Festschrift Eduard Eichmann zum 70. Geburtstag, Paderborn 1940, S. 237–243. 19 Mehr über die Bedingungen der Ungwarer Union siehe: Michal LACKO, Die Užhoroder Union, in: Ostkirchliche Studien 8 (1959), S. 3–30.
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als „neu“ und „nicht autochthon“ konfrontiert. Zusammen mit der verspäteten Reglementierung der Ausbildung des Klerus und seiner Disziplinierung wurde die späte Etablierung der griechisch-katholischen Kirchengemeinde bei den kirchenrechtlichen Streitigkeiten zwischen römisch-katholischem und griechisch-katholischem Klerus instrumentalisiert, indem sich die griechisch-katholische Kirchengemeinden kirchenrechtlich unterordnen mussten und auch in ökonomischer Hinsicht Diskriminierung erfuhren. Als Konsequenz aus der zunehmenden Ausbreitung der griechisch-katholischen Mutterkirchen und ihrer Filialen wuchs beim lateinischen Klerus die Überzeugung, dass sich dies in Hinsicht auf die ökonomische Sicherstellung der eigenen Gemeinden sich negativ auswirkt und somit unter Kontrolle gebracht werden müsste. Es erfolgte zunächst eine Einschränkung der seelsorgerischen Tätigkeit der griechisch-katholischen Popen. In den 1740erJahren bekam diese einen neuen rechtlichen Rahmen. Auch wurden durch die Erlauer Bischöfe die griechisch-katholischen Priester zu Kaplanen der lateinischen Priester degradiert.20 Dies hatte negative Konsequenzen nicht nur auf die ökonomische Sicherstellung der Priester, sondern auch auf die Beziehung zwischen ihnen und den Gläubigen. Im Endeffekt hat es den Prozess der Emanzipation des griechisch-katholischen Klerus beschleunigt, wobei die paternalistische Einstellung des Staates und dessen positive Diskriminierung der griechisch-katholischen Konfession maßgebliche Faktoren waren.21 In den darauffolgenden Generationen lockerte sich die asymmetrische soziale Schichtung in den gemischten lokalen Gemeinschaften, denn unter den wohlhabenden Bauern waren auch zunehmend Griechisch-
20 Michael LUTSKAY, Historia Carpato-Ruthenorum, Sacra, et Civilis, antiqua et recens usque ad praesens tempus. Tomus 3-ius, 1843, in: Miroslav SOPOLIGA (Hg.), Науковий збірник Музею Української культури у Свиднику [Wissenschaftlicher Sammelband des Museums für ukrainische Kultur in Svidník] 16 (1990), S. 29–256, hier S. 173–177; Peter ŠOLTES, Vizitácia Michala Manuela Olšavského 1750–1752 a jej dôsledky na unifikáciu cirkevnej správy a sociálnu emancipáciu gréckokatolíckeho kléru [Visitation von Michal Manuel Olšavský 1750–1752 und seine Folgen auf die Unifizierung der Kirchenverwaltung und soziale Emanzipation des griechisch-katholischen Klerus], in: Verba Theologica 6/1 (2007), S. 155–169. 21 Julian PELESZ, Geschichte der Union der Ruthenischen Kirche mit Rom, von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 2. Bd., Wien 1880, S. 1033–1038; Aтанасій ПЕКАР [Atanasij PEKAR], Нариси історії церкви Закарпаття [Geschichte der Kirche in der Karpathen-Ukraine], Bd. II, Рим–Львив [Rom– L’viv] 21997, S. 157.
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katholische vertreten. Zur gleichen Zeit, etwa seit den 1780er-Jahren, haben sich auch die Qualität der theologischen Ausbildung und die ökonomische Sicherstellung der Pfarrer lateinischen Klerus, wenn nicht angeglichen, so doch zumindest wesentlich angenähert. 3.2 Die Reverspflicht Die Reverspflicht war die gesetzliche und kirchenrechtliche Norm, die interkonfessionelle Beziehungen regeln sollte. Sie wurde in die ungarländische Rechtspraxis durch die Resolutio Carolina im Jahre 1731 eingeführt.22 Vor der Eheschließung musste der nicht katholische Partner einen Revers unterschreiben, in dem er der katholischen Erziehung aller Kinder zustimmte. Obwohl die Verletzung einer strengen Strafverfolgung unterlag, war der Staatsapparat in vielen Gebieten, unter anderem im Zempliner und Scharoscher Komitat, nicht imstande, die Einhaltung dieser Norm konsequent durchzusetzen. Davon zeugen die regelmäßigen Berichte der Bischöfe und der Komitatsverwaltung an die Statthalterei, in welchen die Verletzungen dieser Verordnung aufgelistet waren.23 Die Möglichkeiten, den Revers zu umgehen, waren vielfältig und reichten von der Akzeptanz einer gemeinsamen Konfession für alle Kinder, welche aber nicht immer die katholische war, über die unterschiedliche Erziehung der Töchter und Söhne bis hin zur Erziehung des ältesten oder mindestens eines Sohns in der Religion des Vaters. Manche Eltern haben die Reverspflicht noch spektakulärer umgangen: Sie ließen ihre Kinder nur taufen, während alle anderen Sakramente (Kommunion, Firmung, Konfirmation usw.) auf die Zeit nach der Volljährigkeit verlegt wurden, damit die Kinder selbst die Entscheidung treffen konnten, welcher Konfessionskirche sie angehören wollten. Die Einhaltung des Reverses und die Wahl der Konfession haben Faktoren wie die Fähigkeit der protestantischen Altbewohner, ihre „Dominanz“ im Bezug auf ihr ökonomisches und symbolisches Kapital ge-
22 Heinrich Moritz Gottlieb GRELLMANN, Beeintraechtigte Religionfreyheit der Protestanten in Ungern seit 1792, in: DERS., Statistische Aufklärungen über wichtige Theile und Gegenstände der österreichischen Monarchie, 3. Bd., Göttingen 1802, S. 50. 23 Erzbischöfliches Archiv in Košice (AACass), Districtualia, vol. 3, Fasc 2. Protocollum Canonicae Visitationis 1749, Comitatus Zempliniensis, Districtus Homonensis; AACass, Districtualia, vol. 4, fasc. 1, Protocollum Canonicae Visitationis 1772, Comitatus Zempliniensis, Districtus Homonensis, Districtus Ujhelyiensis.
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genüber dem griechisch-katholischen Teil der Lokalgemeinschaft zu behaupten, beziehungsweise die Aktivität und das soziale Prestige der Geistlichen und der Ehepartner geprägt.24 Das Ausmaß an Revers-Verletzungen und die Zahl der „Abtrünnigen“ war im Zempliner und in anderen Komitaten an der Peripherie der Stephanskrone so hoch, dass die königliche Statthalterei mehrmals die Aufarbeitung ihrer Evidenz anordnete. Neben den häufigen Mischehen spielte dabei auch die starke Machtposition der protestantischen und vor allem der reformierten Adeligen eine große Rolle. Der Disziplinierungsdruck des Staates stieß oft auf den Widerstand der auf ihren lokalen Konventionen beharrenden Bevölkerung und die Interessen der Landesherren. In gemischten Ehen strebten die Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder nach einem Konsens, der den lokalen Usus, die soziale Stellung der Partner, das Glaubensbekenntnis des Landesherrn usw. berücksichtigte. Wie weit normative konfessionelle Vorgaben akzeptiert und eingehalten wurden, war davon abhängig, durch welche Mittel und in welchem Ausmaß der bürokratische Staatsapparat und die Repräsentanten und Machtträger der katholischen Kirche in der Lage waren, Verstöße zu ahnden. Die Verletzung des Reverses war oft der erste Schritt, gleichsam ein Tabubruch, der in weiterer Folge in der Konversion des katholischen Ehepartners zum Protestantismus mündete. Die Apostasie wurde dabei bis zum Toleranzpatent von der Kirchenadministration aufmerksam verfolgt. Nach den geltenden Rechtsnormen sollte sie mit Verbannung und Konfiskation des Vermögens bestraft werden.25 Zu derartigen Vorkommnissen kam es in unterschiedlicher Intensität in den konfessionell heterogenen Lokalgemeinschaften des nordöstlichen Ungarns. Am häufigsten betraf dies Gegenden mit calvinistischer Dominanz, viel seltener jene Landstriche, in denen die Evangelischen A. B. in der Überzahl waren. Eine besondere Situation herrschte dort, wo, wie zum Beispiel im Districtus Submontanus in der Umgebung des Tokajer Gebirges, die Reformierten die zahlenmäßig stärks-
24 Peter ŠOLTÉS, Tri jazyky, štyri konfesie. Etnická a konfesionálna pluralita na Zemplíne, Spiši a v Šariši [Drei Sprachen, vier Konfessionen. Ethnische und konfessionelle Pluralität im Zemplin, Zips und Scharos], Bratislava 2009, S. 124–125. 25 Eva KOWALSKÁ, Evanjelické a. v. spoločenstvo v 18. storočí. Hlavné problémy jeho vývoja a fungovania v spoločnosti. [Evangelische Gemeinschaft A. B. im 18. Jahrhundert. Hauptprobleme ihrer Entwicklung und Funktionieren in der Gesellschaft], Bratislava 2001, S. 26.
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te Kirchengemeinschaft bildeten und das Patronatsrecht über die Gotteshäuser die reformierten Landesherrn ausübten.26 Bei den individuellen Entscheidungen für eine Konvertierung spielten unterschiedliche Faktoren eine Rolle: Dazu gehörte etwa das Überzeugungspotenzial der geistlichen Autoritäten – Pfarrer, Lehrer und Kantoren –, ihr Prestige, das Verhältnis zu den Landesherren und ihre materielle Lage. Diese Faktoren konnten variieren und zur Revision der konfessionellen Identität von Einzelpersonen und ganzen Gruppen führen. In Zeiten von Unruhen, Aufständen und Naturkatastrophen, die über viele Lokalgemeinschaften an der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts hereingebrochen waren, kann man eine größere Affinität zur Revision der konfessionellen Identität vermuten.27 Neben den negativen Folgen des ständischen Aufstandes von Franz II. Rákóczi und der lange andauernden Destruktion der wirtschaftlichen Grundlagen sind die große Pestepidemie (1708–1711), Hungersnöte sowie die hohe Steuerlast und die ständige Bedrohung durch Konfiskationen zu nennen. Eine stärkere Tendenz zur Konversion ist bei den Griechisch-Katholischen nachzuweisen. Wenn ein Ruthene in eine calvinistische Familie einheiratete, brach er unter dem Druck seiner Umgebung die Kontakte zu seiner Kirchengemeinde ab und begann, am religiösen Leben der reformierten Gemeinde teilzunehmen. So fand zum Beispiel in der Stadt Tokaj, im Herzen des berühmten Weingebiets, im Jahre 1750 die Kirchenvisitation sechs Apostaten zum Calvinismus, in der Stadt Serencs fünf, im Dorfe Felső Regmécz drei usw.28 Die Schwächung der konfessionellen Identität und die größere Tendenz, dem Druck zur Konversion nachzugeben, war bei den griechisch-katholischen Ruthenen in den ersten zwei bis drei Generationen nach der Migration durch das Abbrechen oder zumindest Nachlassen der sozialen
26 Siehe: AACass, Districtualia, vol. 4, fasc. 1, Protocolum Canonicae Visitationis 1772, Comitatus Zempliniensis. 27 François ETIENNE, Seuchen, Hungersnot, Krankheit, Tod. in: Hartmut LEHMANN, Anne-Charlot TREPP (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 129–134, hier S. 131 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152). 28 Василий ГАДЖЕГА [Vasilij GADŽEGA], Додатки до исторії русинов и руских церквей в був. жупе Земплинской [Beiträge zur Geschichte der Ruthenen und der ruthenischen Kirchen im ehemaligen Komitat Zemplin], in: Науковый Зборник Товариства Просвита 11 (1935), S. 17–182, hier S. 99– 104, 166, 182.
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Bindungen untereinander bedingt. Untersuchungen im deutschen Milieu haben gezeigt, dass Voraussetzung und Antrieb der meisten Konversionen die Desintegration der Familie war.29 Im entvölkerten und neu besiedelten Raum des nordöstlichen Ungarns hatte sie ein enormes Ausmaß erreicht. Ein weiterer wichtiger Faktor war die fehlende oder mangelhafte seelsorgerische Betreuung. In der Zeit unmittelbar nach der Ansiedlung war sie durch die Absenz der Kirchenorganisation und des Pfarrnetzes verursacht, seit den 1720er-Jahren bis zur kanonischen Bestätigung der Existenz des Munkatscher Bistums waren diskriminierende Maßnahmen der römisch-katholischen Hierarchie und der protestantischen Landesherrn die Ursachen dafür.30 3.3 Das Josephinische Toleranzpatent (1781) Das Toleranzpatent und die nachfolgenden kaiserlichen Intimaten sowie der Gesetzesartikel 26/1791 regelten die Frage der Erziehung der Kinder in Ehen mixtae religionis gesetzlich neu. Die männlichen Nachkommen eines protestantischen Vaters konnten dessen Glauben behalten. In allen anderen Fällen war der staatlichen Religion der Vorzug vorbehalten.31 Einerseits war das Gesetz ein Schritt vorwärts auf dem Weg Richtung einer rechtlichen Emanzipation, auf der anderen Seite kodifizierte es ein Modell, das für die Funktionsfähigkeit einer Familie etliche Komplikationen und potentielle Konfliktsituationen mit sich brachte. Die Mutter und ihre Töchter besuchten eine andere Kirche als der Vater mit seinen Söhnen, die Kinder gingen in unterschiedliche Schulen, die oft an verschiedenen Orten standen. Die Abweichungen und Verschiebungen im Kirchenkalender hatten zur Folge, dass an bestimmten Tagen ein Teil des Hauses feierte, während der andere einem gewöhnlichen Werktag nachging. Dieses Modell hat sich in
29 Frauke VOLKLAND, Konfession, Konversion und soziales Drama. Ein Plädoyer für die Ablösung des Paradigmas der konfessionellen Identität, in: GREYERZ, JAKUBOWSKI-THIESSEN, KAUFMANN, LEHMANN (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität, S. 91–104. 30 Peter ŠOLTÉS, Tri jazyky, štyri konfesie, S. 39–60. 31 Peter F. BARTON, „Das“ Toleranzpatent von 1781. Edition der wichtigsten Fassungen, in: DERS. (Hg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und Folgen, Wien 1981, S. 152–202, hier S. 181. Gesetzartikel XXVI/1791, § 1 siehe in: Corpus Iuris Hungarici, 1740–1835, évi törvénycikkek, Budapest 1901, S. 178.
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konfessionell heterogenen Lokalgemeinschaften bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts behauptet.32 Weitere Probleme entstanden bei der Abgabe der Kirchenzehenten, auf den zwei Pfarrer Anspruch erhoben. Einige Eheleute haben aus erwähnten Gründen auf dieses „gerechte“ Modell verzichtet und alle Kinder in einer Konfession erzogen. Wenn eine Konfession in der Gemeinde dominierte und über ein Gotteshaus verfügte und damit auch ein größeres Prestige genoss oder im Falle ausgeprägter sozialer Asymmetrien bei den Eheleuten sind die Kinder, im Gegensatz zum Toleranzpatent und Gesetzesartikel 26/1791, im Glauben der „stärkeren“ Konfession erzogen worden. Eine Vorstellung über das Ausmaß der vor einem römisch-katholischen Pfarrer geschlossenen Mischehen kann man anhand des Beispiels einer Pfarrei im mittleren Zemplin, Trhovište (ung. Vasárhely) erhalten. Die Mutterkirche hatte im Jahre 1842 folgende konfessionelle Struktur: Römisch-Katholische 31 % (2.030), Griechisch-Katholische 20 % (1.307), Reformierte 29 % (1.901), Evangelische A. B. 13 % (903), Juden 7 % (434). Die Zahl der Mischehen in der römisch-katholischen Pfarrei Trhovište in den Jahren 1797–1846 zeigt die folgende Tabelle.33 Ehemann/ Ehefrau 1797– 1806 1807– 1816
r.k./ r.k.
r.k./ gr.k.
r.k./ ref.
ev. A.B/ r.k. 10 5% 8 5%
ref./ r.k.
gr.k. /r.k.
zusammen
9 4% 10 6%
r.k./ ev. A.B 12 6% 7 4%
127 61% 92 57%
2 1% 0
9 2% 8 5%
44 21% 37 23%
213 100% 162 100%
1817– 1826
125 51%
1 0%
7 3%
8 3%
24 10%
18 8%
61 25%
244 100%
1827– 1836
151 52%
0
10 3%
15 5%
18 6%
24 8%
73 25%
291 100%
1837– 1846
155 52%
9 3%
14 5%
7 2%
17 6%
23 8%
75 26%
300 100%
32 Michal KAĽAVSKÝ, Jazyková a etnická totožnosť v zmiešanom prostredí [Sprachliche und ethnische Identität im gemischten Milieu], in: Národopisný zborník 12 (1998), S. 23–37, hier S. 32–33. 33 Staatsarchiv in Prešov (ŠA PO), Fond cirkevné matriky, rímskokatolícka farnosť Trhovište, Consignatio Copulatorum in Parochia Vasárhelyiensi ad Anno 1797 [Kirchenmatrikel der römisch-katholischen Pfarre Trhovište 1797].
172 | PETER ŠOLTÉS
Der Anteil der homogenen römisch-katholischen Ehen schwankte zwischen 51 % und 60 %, jener der rituell gemischten (römisch- und griechischkatholisch) bewegte sich zwischen 22 % und 26 %. Etwa jede fünfte Ehe war konfessionell gemischt, wobei ihr Anteil mit der Zeit tendenziell stieg.34 In dieser Zahl nicht enthalten sind jene Mischehen, bei welchen ein Partner griechisch-katholisch war. Die Häufigkeit der Mischehen bei den griechisch-katholischen Bewohnern war an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beträchtlich. In Dekanaten des mittleren und südlichen Zemplins (Humenné, Sečovce, Sátoraljaujhély, Bodrogkeresztúr und Tokaj) bewegte sich der Anteil an gemischten griechisch- und römischkatholischen Ehen zwischen 20 % und 26 %. Im Vranover (slow. Vranov) Dekanat gab es einen hohen Anteil an Evangelischen A. B. Außerdem gab es neben einigen rituell gemischten Ehen (etwa 18 %) auch rund 4 % griechisch-katholische und lutherische Mischehen. In Städten und Marktflecken war der Anteil an Mischehen am höchsten.35 Im Kaschauer (slow. Košice) Dekanat war im Jahre 1806 nur die Hälfte der Ehen „rein“ östlichen Ritus, 45 % der Ehen waren von Katholiken beider Riten gebildet, 3 % der Ehen mit einem Lutherischen und 2 % mit einem reformierten Partner. Im Preschauer (slow. Prešov) Dekanat wurden 56 % der Ehen von griechischkatholischen Partnern geschlossen, in 41 % war ein Partner römischkatholisch und in 3 % lutherisch.36
34 Der Terminus „konfessionell gemischte Ehen“, lat. matrimoniae mixtae religionis, entstammt dem katholischen Kirchenrecht. Kanon 1124 CIC/1983 definiert ihn als eine zwischen zwei getauften Personen geschlossene Ehe, von welchen eine Person Mitglied der katholischen Kirche ist und die andere Person in eine Kirchengemeinschaft gehört, die nicht in voller Einheit mit der katholischen Kirche steht. Siehe: Evangelisches Kirchenlexicon. Internationale theologische Enzyklopädie, 3. Bd., 3. Aufl. (Neufassung), Göttingen 1992, S. 417–418; Lexikon für Theologie und Kirche, 6. Bd., Freiburg–Basel u. a. 1997, S. 238–240. 35 Ich nenne an dieser Stelle nur einige Beispiele. Die erste Zahl steht für rein griechisch-katholische, die zweite für rituell gemischte Ehen: Humenné 12/30, Michalovce 42/54, Staré 23/29, Budkovce 29/22, Vranov nad Topľou 12/13, Sečovce 105/41. Vgl. Istvan UDVARI, A munkácsi görögkatolikus püspökség lelkészségeinek 1806 évi összeírása [Konskription der griechisch-katholischen Diözese von Munkatsch im Jahre 1806], Nyíregyháza 1990, S. 140–154. 36 Ebenda, S. 109–154.
M IGRATION
UND KONFESSIONELLE
P LURALITÄT
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3.4 Hybridisierung von Konventionen Die Unterschiede zwischen dem julianischen und dem gregorianischen Kalender sowie bei den kirchlichen Feiertagen stellten eine besondere Herausforderung für die interkonfessionelle Kommunikation dar. Die lokalen Gemeinden versuchten, ihr Zusammenleben so zu regeln, dass die religiöse Identität keiner der betroffenen Kirchengemeinden verletzt werden würde. „Schmutzige“ und grobe Feld- und Hausarbeiten hat man an Feiertagen, egal welcher Kirchengemeinde, vermieden, um Provokationen auszuweichen. Die Unterschiede im kirchlichen Kalender wurden auch zur demonstrativen Präsentation der symbolischen Dominanz und der religiösen Überlegenheit instrumentalisiert. Dabei konnte es sich um individuelle Aktivitäten von Einzelnen handeln oder aber auch um eine gemeinsame Demonstration der Übermacht von Seiten der ganzen Kirchengemeinde mit dem Pfarrer und dem Landesherrn an der Spitze. Es bildeten sich verschiedene lokale Konventionen heraus, die die demografische und soziale Schichtung der Gemeinde, die Einstellung der Pfarrer, der Landesherren, die Häufigkeit der Mischehen und andere Faktoren berücksichtigten. Oft standen die religiösen Bedürfnisse der Dorfgemeinde im Widerspruch zu den Interessen der Landesherren, für welche die doppelte Zahl an Feiertagen einen wirtschaftlichen Effektivitätsverlust bedeutete.37 Seit den 1780er-Jahren unternahm der Staat Maßnahmen zur Regulierung dieses Problems. Die josephinischen Verordnungen sowie die späteren Versuche von Kaiser Franz II., den gregorianischen Kalender auf dem ganzen Gebiet der Monarchie einzuführen, gehörten allerdings zu den Vorhaben, die nicht durchgesetzt werden konnten. Die leichte Durchlässigkeit von konfessionellen Grenzen äußerte sich auch darin, dass Elemente der barocken Frömmigkeit (wie Rosenkranzgebet, Litaneien oder Kreuzwegandachten) sich unter den Gläubigen des östlichen Ritus verbreiteten. Neben der Barockisierung der Ikonostasen fand man in griechisch-katholischen Kirchen oft Statuen oder Nebenaltäre. Der westlichen Tradition passte man zudem auch das liturgische Gewand,
37 Peter ZUBKO, Slávenie sviatkov gréckokatolíkmi na území spoločnom s rímskokatolíkmi podľa relácií z roku 1794 [Feiern der Feiertage durch die Griechisch-katholischen auf dem mit den Römisch-katholischen gemeinsam bewohntem Gebiet nach den Relationen aus dem Jahre 1794], in: Slavica Slovaca 40/1 (2005), S. 22–33.
174 | PETER ŠOLTÉS
die Länge von Bart und Haar an. Dieser Prozess der Akkulturation intensivierte sich nach der Synode von Zamość (1720), bei welcher die griechischkatholischen Bistümer im Königreich Polen die Dekrete des Tridentinums angenommen und dem östlichen Ritus angepasst hatten. Die Beschlüsse der Synode von Zamość wurden ein paar Jahre später auch für das griechischkatholische Bistum in Munkatsch obligatorisch.38 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts formte sich hier, an der Peripherie der Habsburger Monarchie, ein Zwischenraum, für welchen eine hohe Konzentration an lokalen Gemeinschaften der vier Kirchengemeinden und drei, in etlichen Fällen auch mehr ethnischen Gruppen (Polen, Juden, Roma und Kolonien von serbischen und griechischen Händlern) charakteristisch war. Werden ethnische Pluralität und Multikulturalität als konstitutive Elemente des geografischen und historischen Raums (Ost-)Mitteleuropas angesehen,39 so ist der nordöstliche Teil des Königreichs Ungarn aus dieser Sicht eine (ost-)mitteleuropäische Region par excellence. Die außergewöhnliche Intensität der interkonfessionellen Kommunikation, die im Kontext der Habsburgermonarchie vor dem Toleranzpatent, aber auch im breiteren ostmitteleuropäischen Raum eine Ausnahme darstellt, ist in erster Linie das Produkt der ausgedehnten Migrationsprozesse und durch die spezifischen politischen Machtverhältnisse der Peripherie zu erklären. Die disziplinierenden und homogenisierenden Maßnahmen des Staatsapparats und der katholischen Kirche konnten hier nur im beschränkten Ausmaß durchgesetzt werden. Die einzelnen Kirchengemeinden haben sich nicht nur im Rahmen einer eigenen rituellen, theologischen und kirchenrechtlichen Tradition entwickelt, sie verwendeten auch verschiedene liturgische Sprachen und unterschiedliche Schriften (kyrillische Schrift, Fraktur, Lateinschrift). Bei den Lutheranern war die liturgische Sprache und die Sprache der Administration das Tschechische, bei den Zipserdeutschen das Deutsche, in calvinistischen Kirchengemeinden das Ungarische und in etwa zwanzig Dörfern auch der ostslowakische Zempliner Dialekt mit ungarischer Ortho-
38 Vgl. Cyril VASIĽ, Kánonické pramene byzantsko-slovanskej katolíckej cirkvi v Mukačevskej a Prešovskej eparchii v porovnaní s Kódexom kánonov východných cirkví [Kanonische Quellen der byzantinisch-slawischen Kirche in der Munkatscher und Preschauer Eparchie im Vergleich mit dem Kanonischen Kodex der östlichen Kirchen], Trnava 2000, S. 137. 39 Harald ROTH (Hg.), Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, 2. überarb. u. aktual. Aufl., Köln–Weimar–Wien 2009, S. 20.
M IGRATION
UND KONFESSIONELLE
P LURALITÄT
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grafie. Die Griechisch-Katholischen beharrten weiterhin auf das Kirchenslawische und die Römisch-Katholischen auf das Lateinische. Markante Unterschiede bestanden auch in den Formen der Religiosität und Volksfrömmigkeit, im Kirchenkalender und bei den Feiertagen, im sozialen Status des Klerus, in der Form von dessen Rekrutierung und der Qualität von dessen theologischer und katechetischer Bildung.40
4. R ESÜMEE Während in den bikonfessionellen Lokalgemeinschaften die sozialen Normen und Strategien zur konfessionellen Homogenisierung geführt haben, war dies auf dem Gebiet des nordöstlichen Ungarns undurchführbar. Die intensive interethnische und interkonfessionelle Kommunikation, die infolge der massiven Depopulation und Migration fast eine demografische Notwendigkeit war, führte nicht nur zu einer schnellen Entgrenzung der kulturellen Unterschiede, sondern auch, wie man am Beispiel der slowakischund ungarischsprechenden Ruthenen, also der Angehörigen der griechischkatholischen Kirche, sehen kann, zu ihrer Hybridisierung. Infolge der sprachlichen Assimilation der ruthenischen Migranten hat sich auch der homogene ethnische Charakter der ecclesia ruthenica verändert. Der Zusammenhang von ethnischer und religiöser Identität wurde aber noch lange Zeit von den griechisch-katholischen Gläubigen aufrechterhalten. Die Tendenz der stärkeren sozialen Gruppe, die Kontakte ihrer Mitglieder zu den „Anderen“ zu stigmatisieren, war in dem vorgestellten Zwischenraum von Anfang an wesentlich schwächer. In langfristiger Perspektive führte dies zur Herausbildung einer Art von Mentalität, für die ein hohes Maß an religiöser Toleranz und Resistenz gegenüber den konfessionellen oder nationalen Homogenisierungsbestrebungen charakteristisch war.
40 Vgl. ŠOLTÉS, Tri jazyky, štyri konfesie, S. 85–113.
Migration der Zeichen und kulturelle Interferenz Jánošíks „Konversion“ zum slowakischen Nationalhelden U TE R ASSLOFF (L EIPZIG )
M IGRATION UND E RINNERUNG Migration gehört zu den Grunderfahrungen menschlicher Existenz. Wenn man nicht wie die Migrationssoziologie „Bewegungen von Personen und Personengruppen im Raum“1 als wichtigstes Kriterium zur Bestimmung ansieht, sondern den Eintritt der Akteure in eine neue Sprachgemeinschaft, dann kommt den kulturellen Konsequenzen von Migrationen eine erstrangige Bedeutung zu. Mit Recht formuliert der Autor des Buches Migration in Worlds History Patrick Manning: „For humans today, as for our earliest forbears, migration brings the task of learning new languages and customs. This learning is the most specific characteristic of human migration, and it is one of the principal sources of change and development in human ways of life“2 [Hervorh. P. M.]. Dieser Ansatz erlaubt es, die Migrationsforschung mit weiteren historischen Auslösern von Transkulturalität3 zu verknüpfen, wie es auch in den folgenden Überlegungen geschehen soll.
1 2 3
Petrus HAN, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle. Fakten. Politische Konsequenzen. Perspektiven, Stuttgart 2005, S. 7 [2000]. Patrick MANNING, Migration in World History, New York 2005, S. 4. Wolfgang WELSCH, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela SCHNEIDER, Christian W. THOMSEN (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67–90.
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Die von Manning apostrophierten Veränderungen und Entwicklungen durch kulturelles Lernen sind zeitgebunden. Sie finden nicht nur während aktueller Migrationsphasen statt, sondern lassen sich über die Jahrhunderte hinweg beobachten: And the changes in human society are measured not simply in events that can be traced to a crucial moment, but often in the complex interplay or forces over time. Thus, the long-term patterns of migration become not just a historical result but an influential factor in themselves, affecting the details of individual and group decisions in later times.4
Geschichte und Erinnerungskultur Ostmitteleuropas belegen diese Tatsache eindrucksvoll. Migrationen gehören zu den wichtigsten Ursachen der sprichwörtlich gewordenen kulturellen Heterogenität, Hybridität oder eben Transkulturalität dieses „komplexen kulturellen Systems“,5 welche ihrerseits oft den Anlass oder auch nur Vorwand für neuerliche Migrationen lieferte. In diesem Beitrag wird nach den kulturellen Langzeitwirkungen von Migrationen am Beispiel der Slowakei bzw. des ehemaligen Oberungarn gefragt. Sie beruhen auf der Tradierung von Folgen verschiedener Migrationen durch das kulturelle Gedächtnis der Menschen und erscheinen auf der Metaebene als Spur, als eine Migration der Zeichen. Dargestellt werden solche Zeichenbewegungen am Beispiel der langfristigen Transformationen eines Topos oder Erinnerungsortes und zwar an der Figur des Karpatenräubers Juraj Jánošík (1688–1713). Sie machte im 19. und besonders im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Karriere. Dabei ließ sie ihre anfängliche lokale bzw. regionale Verortung in Oberungarn hinter sich, wurde auch in Polen und Tschechien bekannt und erwarb in der Slowakei sogar den Kultstatus eines nationalen Volkshelden.6
4 5
MANNING, Migration in World History, S. 13.
6
Joanna GOSZCZYŃSKA, Mit Janosika w folklorze i literaturze słowackiej XIX wieku [Der Jánošík-Mythos im der slowakischen Folklore und Literatur des 19. Jahrhunderts], Warszawa 2001; Ute RASSLOFF, Ungar, Slawe, Gorale, Slowake. Jánošík als mythischer Volksheld, in: Osteuropa 12 (2009), S. 53–75.
Moritz CSÁKY, Mitteleuropa / Zentraleuropa. Ein komplexes kulturelles System, in: Österreichische Musikzeitschrift, 1–2, (2005), S. 9–16, hier S. 9.
M IGRATION
M IGRATIONEN IN DER S LOWAKEI
DER
DER
Z EICHEN
UND KULTURELLE I NTERFERENZ
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G ESCHICHTE O BERUNGARNS /
Wie ganz Ostmitteleuropa war auch die heutige Slowakei ein von beweglichen Grenzen durchzogenes Einwanderungs-, Auswanderungs- und Durchzugsgebiet. Hier kann nur kurz skizziert werden, wie sich dadurch ein multiethnisches bzw. mehrsprachiges und mehrkonfessionelles Gebiet entwickelte. Es wurde nach den Kelten und Germanen im 5. und 6. Jahrhundert durch Slawen besiedelt. Im 10. Jahrhundert gliederten die „landnehmenden Magyaren“7 die heutige Slowakei in den ungarischen Staat ein, der den Rahmen für die Entstehung des slowakischen Ethnikums8 und die Durchsetzung der lateinischen christlichen Liturgie lieferte. Seit dem 11. Jahrhundert gab es in dieser Gegend erste jüdische Gemeinden,9 seit dem 12. und 13. Jahrhundert halfen donauschwäbische und sächsische Kolonisten oder „hospites“ bei Stadtgründungen und der Entwicklung des Bergbaus, seit dem 14. Jahrhundert trafen die ersten Roma ein und aus dem heutigen Rumänien stießen die Walachen hinzu, die die Hirtenkultur beeinflussten. Im 16. Jahrhundert siedelten sich vor den Osmanen geflohene Serben, Kroaten und Slowenen im Südwesten der heutigen Slowakei an, im 17. und 18. Jahrhundert trieb die Rekatholisierung Österreichs Protestanten nach Oberungarn. Diese und weitere Migrationen führten zu einer ethnischen, konfessionellen und sprachlichen Vielfalt, ohne die der Gelehrte Anton Bernolák Ende des 18. Jahrhunderts wohl nicht auf die Idee gekommen wäre, ein Slowakisch-Tschechisch-Lateinisch-Deutsch-Ungarisches Wörterbuch10 zu verfassen. Im 19. Jahrhundert fanden auf dem Gebiet der Slowakei die ungarische und die slowakische politische Nationsbildung statt. Beide zeichneten sich durch sprachlich-kulturelle Normierungsbestrebungen aus, die eine Nivellierung der durch Einwanderung entstandenen Pluralität bezweckten. Die
7
Joachim von PUTTKAMER, Slowakei / Oberungarn, in: Harald ROTH (Hg.), Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 1, Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Weimar–Wien 1999, S. 379–386, hier S. 379. 8 Dušan KOVÁČ, Dejiny Slovenska [Geschichte der Slowakei], Praha 1998, S. 32. 9 Ebenda, S. 55. 10 Anton BERNOLÁK, Slowár Slowenskí Česko – Latinsko – Ňemecko – Uherski: seu Lexikon Slavicum Bohemico – Latino – Germanico – Ungaricum. Bd. 1–6, Buda 1825–1827.
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spezifischen Machtverhältnisse bestimmten oft die kulturellen Entscheidungen der Akteure. So „führte die nationale Privilegierung der magyarischen Kultur im vielkulturellen historischen Ungarn zur Benachteiligung von Slowaken und anderen ethno-kulturellen Gruppen“11. Eine strategische Reaktion darauf konnte der Übertritt zur ungarischen Sprache und Kultur sein. Diese „Konversion“ in eine andere Sprachgemeinschaft ließe sich dann als Migration ohne räumliche Mobilität beschreiben. Allerdings wurde die langjährige geografisch-politische Zugehörigkeit der Slowakei zu Ungarn im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die sprachliche Nähe der Slowaken zu den Tschechen und Mährern überboten – nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie „konvertierte“ das Gebiet nun selbst und wurde zu einem Teil der Tschechoslowakei. Das bewegte viele Menschen erneut zur „Konversion“ oder, im Falle früherer Konvertiten, gar zur „Re-konversion“ – beispielsweise wurden aus Ungarn wieder Slowaken. Eine Alternative zur Konversion war die Auswanderung. Seit der Moderne verließen Menschen die Slowakei meist aus ökonomischen Gründen. Landwirtschaftliche Saisonarbeiter zogen in die Ungarische Tiefebene, vor allem aber wanderte man in urbane Zonen Ungarns, Österreichs und nach Amerika aus. Da sich die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie im Grunde ethnisch definierten, häuften sich im 20. Jahrhundert die Versuche, die ethnischen Grenzen mit staatlichen Grenzen in Deckung zu bringen. Dies verursachte neue Menschenbewegungen, die schließlich in politisch forcierten Zwangsmigrationen eskalierten.12 Mindestens dreimal, einmal nach der Staatsgründung 1918, einmal nach den Grenzverschiebungen im
11 Hermann ZELTHOFER, Tschechien und Slowakei, in: Klaus J. BADE, Pieter C. EMMER, Leo LUCASSEN, Jochen OLTMER (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn–München– Wien–Zürich 2007, S. 272–287, hier S. 43. 12 Edita IVANIČKOVÁ, Die Zwangsmigration auf und aus dem Gebiet der Slowakei. Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren, in: Dieter BINGEN, Włodzimierz BORODZIEJ, Stefan TROEBST (Hg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen. Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen, Wiesbaden 2003, S. 144–149; Dušan KOVÁČ, Die „Aussiedlung“ der Deutschen aus der Slowakei, in: Detlef BRANDES, Edita IVANIČKOVÁ, Jiří PEŠEK (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938–1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, Essen 1999, S. 231–236; Katalin VADKERTY, Maďarská otázka v Československu 1945–1948. Trilógia o dejinách maďarskej menšiny [Die magyarische Frage in der Tschechoslowakei 1945–1948. Trilogie über die Geschichte der magyarischen Minderheit], Bratislava 2002.
M IGRATION
DER
Z EICHEN
UND KULTURELLE I NTERFERENZ
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Anschluss an die Wiener Schiedssprüche 1938 und einmal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn Slowaken und Magyaren im Rahmen von Bevölkerungstransfers ausgetauscht. Tschechische Beamte und Lehrer, die nach 1920 in die Slowakei gekommen waren, schob man nach 1938 von dort wieder ab. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Juden ins Deutsche Reich deportiert, Roma in Arbeits- und Sammellager gebracht. Nach 1945 vertrieb man die Deutschen, während Magyaren und Roma in die entvölkerten deutschtschechischen Grenzgebiete zwangsversetzt wurden. In den südslowakischen Grenzgebieten versuchte man durch Ansiedlung von Slowaken und Mährern die magyarische Bevölkerung zurückzudrängen. Während der kommunistischen Ära emigrierten Menschen in den Westen, um dem starken politisch-ideologischen Homogenisierungsdruck zu entgehen. Diese Zwangsmigrationen müssen im Zusammenhang mit den zuvor genannten Migrationen betrachtet werden, denn sie geben im Grunde ein Negativabbild jener gewachsenen sprachlich-kulturellen Durchmischung ab, die sie liquidieren sollten und zum großen Teil auch liquidiert haben.
K ULTURELLE C ODES
UND I NTERFERENZEN
Solche sprachlich und konfessionell durchmischten Kommunikationsräume wie die Slowakei bzw. Oberungarn, die sich durch eine „Verschränkung von divergierenden kulturellen Codes“13 auszeichnen, nenne ich kulturelle Interferenzräume. Mit kulturellen Codes sind nicht starre „AusdrucksInhalts-Zuordnungen“14 oder abstrakte kulturspezifische Strukturen gemeint, wie sie der klassische Strukturalismus beschrieb, und sie dürfen auch nicht homogen gedacht werden, weil sie in der Regel selbst eine durch Selektion und Kombination entstandene Komplexität aufweisen. Vorstellbar sind sie eher als „kodeähnliche Konzepte“ und „Konstellationen“15, als
13 Moritz CSÁKY, Pluralität. Bemerkungen zum „Dichten System“ der zentraleuropäischen Region, in: Neohelicon XXIII, 1, Budapest 1996, S. 9–30, hier S. 12. 14 Roland POSNER, Einleitung. Semiotik diesseits und jenseits des Strukturalismus: Zum Verhältnis von Moderne und Postmoderne, Strukturalismus und Poststrukturalismus, in: Zeitschrift für Semiotik 15/3–4 (1993), S. 211–233, hier S. 216. 15 Ebenda, S. 220.
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symbolische Ordnungen, Wissensordnungen oder, mit Umberto Eco gesagt, als „Verhaltens- und Wertsysteme“,16 die auf bestimmte Identifikationsangebote und Zugehörigkeiten verweisen, weil sie an eine Kommunikationsoder Wertegemeinschaft gebunden und bis zu einem bestimmten Grad konventionalisiert sind: „Es ist eine der Hypothesen der Semiotik, dass unter jedem Kommunikationsprozess diese Regeln – oder Codes – existieren und dass diese auf irgendeiner kulturellen Übereinkunft beruhen“.17 Kulturelle Interferenzen können dann als „Überlagerungen und Überschneidungen von Wissensordnungen und ihrer Sinnmuster“18 oder, anders gesagt, als die Schnittstellen kultureller Codes beschrieben werden. Solche Überschneidungen, die typisch sind für den „überlagernden, penetrierenden Bereich“,19 spielen eine zentrale Rolle in der Postkolonialismus-Debatte, deren Terminologie für die Reflexion kultureller Langzeitwirkungen von Migrationen nutzbar gemacht werden kann. So ist für Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius alles hybrid, „was sich einer Vermischung von Traditionslinien und von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft“20. In diesem Sinne sollen kulturelle Interferenzen vornehmlich als Zeichenprozesse verstanden werden. Wie lassen sich diese Prozesse nun spezifizieren? Ich schlage vor, verschiedene Modi von kultureller Interferenzialität zu unterscheiden. Zu den wichtigsten rechne ich Konversionen im Sinne von Codewechseln, Alternationen im Sinne mehrfacher Codewechsel im Verlaufe einer Zeitphase und Mehrfachcodierungen im Sinne einer simultanen Präsenz mehrerer Codes, die zu semantischen Dopplungen und Spaltungen führen können. Solche semiotischen Operationen zeigen sich am Verhalten von Akteuren, gerade wenn das Subjekt als „Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen,
16 Umberto ECO, Einführung in die Semiotik, München 1991 [1968], S. 25. 17 Ebenda, S. 20. 18 Andreas RECKWITZ, Vom Homogenitätsmodell der Kultur zum Modell kultureller Interferenzen und interpretativer Unbestimmtheiten, in: DERS., Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, S. 617–643, hier S. 629. 19 Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 1–29, hier S. 18. 20 Ebenda, S. 14.
M IGRATION
DER
Z EICHEN
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Ordnungen, Diskurse, Systeme“21 verstanden wird, sie materialisieren sich aber ebenso an der Beschaffenheit von Artefakten und an „transkulturell wirksamen Konstanzphänomenen“,22 zu denen Brigitte Schultze Mythen, Topoi, Kulturthemen und andere sinntragende Ordnungen zählt. Ein solches Konstanzphänomen ist auch die Erinnerungsfigur des Karpatenräubers Juraj Jánošík. Ich betrachte ihn als Topos, weil er nicht ganz so verfestigt ist wie ein Stereotyp, aber doch etwas stabiler als ein Motiv. Topoi sind konventionalisierte Elemente im kommunikativen Haushalt einer community, die sich durch vier Hauptmomente auszeichnen: „die kollektivhabituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität)“23. Diese mit Symbolkraft belegten „Merkformen“ sind als die ästhetisch-künstlerischen Realisierungen Jánošíks mein Untersuchungsgegenstand. An ihren Veränderungen soll gezeigt werden, dass die Vorprägungen des Topos im Verlauf seiner Tradierung durch situationsgebundene Argumentationskräfte immer wieder überschrieben wurden. Anders ausgedrückt, durch die jeweiligen Transformationen des Topos in den künstlerischen Darstellungen tritt zu Tage, auf welche Art und Weise kulturelle Langzeitwirkungen von Migrationen und jeweils aktuelle identitätsstiftende Diskurse miteinander interferierten. Vor allem sind Topos-Transformationen langfristige Zeichenprozesse. Die Konversion bzw. Umcodierung Jánošíks von einer marginalen regionalen Figur in einen slowakischen Nationalhelden erfolgte in mehreren Schritten und nahm fast hundert Jahre in Anspruch. Sie soll im Anschluss an eine kurze historische Lagebeschreibung an ausgewählten literarischen, bildnerischen und filmischen Darstellungen belegt werden.
21 Ebenda, S. 4. 22 Brigitte SCHULTZE, Mythen, Topoi, Kulturthemen und andere sinntragende Ordnungen in neueren Identitätsdebatten. Am Beispiel der russischen, polnischen und tschechischen Kultur, in: Horst TURK, Brigitte SCHULTZE, Roberto SIMANOWSKI (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998, S. 220–238, hier S. 229. 23 Lothar BORNSCHEUER, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 105.
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O BERUNGARN DER F IGUR
UND DAS HISTORISCHE
V ORBILD
Die meisten Jánošík-Realisierungen sind geografisch an die westlichen Karpaten und dort an das Umland der Hohen und Niederen Tatra sowie der Beskiden geknüpft. Sie spielen in einem Gebiet, das sich von der Westslowakei bis zu den großen Handelswegen im Südosten der Slowakei erstreckt, aber auch im südlichen Polen, vor allem in Podhale, sowie gelegentlich in Mähren und Schlesien. Gleich drei Grenzen durchzogen zu Lebzeiten des historischen Jánošík dieses Gebiet: erstens die Grenze zwischen dem Heiligen Römischen und dem Osmanischen Reich, zweitens die zwischen dem Habsburgerreich und Polen und drittens innerhalb der Habsburgermonarchie auch die Grenze zwischen Ungarn und Österreich, die bis 1850 eine Zollgrenze war. Sogar die Grenzen zwischen den Komitaten Trenčín / Trentschin, Liptov / Liptau und Gemer / Gömör spielten wegen der jeweils unterschiedlichen Gerichtsbarkeit eine Rolle. Wirtschaftlicher Niedergang, Rekrutierungen und Requirierungen für den Krieg gegen die Osmanen ebenso wie für die spanischen Erbfolgekriege, unübersichtliche Herrschaftsverhältnisse durch lokale Machtwechsel, Not, Armut, Pestepidemien und nicht zuletzt das Vorhandensein von schwer zugänglichen Gegenden wie Gebirgen oder unwegsamen Ebenen boten einen idealen Nährboden für das Aufkommen von Räuberbanden. Sie wurden in den westlichen Karpaten schon seit dem 11. Jahrhundert24 verzeichnet, doch als sich im 17. und 18. Jahrhundert ungarische Adelige wie Imre Tököly und Ferenc II. Rákóczi gegen die Habsburger erhoben, erlebten sie eine Blütezeit. Zu den Räubern stießen unverheiratete junge Männer aus den Randgruppen der Agrargesellschaft wie Hirten, entflohene Leibeigene oder Hörige und Knechte, Verschuldete, Flüchtlinge aus Priesterseminaren und Gefängnissen, entlassene Soldaten, Deserteure und Schmuggler. Ähnlich könnte es sich beim historischen Juraj Jánošík verhalten haben.25 Dieser Zeitgenosse Ludwigs XIV. wurde 1688 im Ort Terchová westlich der Hohen Tatra in einer Bauernfamilie geboren. 1707 schloss er
24 Viera GAŠPARÍKOVÁ, Jánošík. Obraz zbojníka v národnej kultúre [J. Das Bild des Räubers in der nationalen Kultur], Bratislava 1988, S. 10–11. 25 Jozef KOČIŠ, Neznámy Jánošík [Unbekannter J.], Martin 1986; Stanisław S. SROKA, Janosik. Prawdziwa historia karpackiego zbójnika [J. die wahre Geschichte des Karpatenräubers], Kraków 2004.
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sich den antihabsburgischen Kurutzen unter Rákóczi II. an. Nach deren Niederlage in der Schlacht bei Trenčín im August 1708 geriet er in die Gefangenschaft der kaiserlichen Truppen, die ihn aber bald „konvertierten“ und als Wachsoldat einsetzten. Von dort wurde er von den Eltern freigekauft oder wegen Ressourcenknappheit entlassen. Der sogenannte Frieden von Szatmary / Szatu Mare beendete 1711 mit einer Generalamnestie die Erhebungen, plündernde Uniformträger vagabundierten aber weiterhin durchs Land. Im selben Jahr ging auch Jánošík zu den „Räubern“. Dem seit Anfang des 19. Jahrhunderts tradierten Gerichtsprotokoll ist zu entnehmen, dass er mit seinem Trupp einige Stadtbürger und Adelige überfiel, wobei er Waffen, Perücken, Tuch, Damenkleider, geringe Geldsummen und Schmuck unblutig erbeutet haben soll. Nach dem Überfall auf die Witwe eines kaiserlichen Offiziers wurde er gefasst und im März 1713, im Jahr der Pragmatischen Sanktion, in der Stadt Liptovský Mikuláš verhört, gefoltert und vor Gericht gestellt. Wegen Gesetzesverletzung, Räuberei, Viehdiebstahl und des Beiseins beim Erschießen eines Pfarrers wurde er nach dem Tripartitium zum Tode verurteilt und, kaum 25-jährig, an der linken Rippe aufgehängt. Doch nicht der historische Jánošík ist hier von Interesse, sondern die Transformation seines Bildes und seiner Legende.
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Jánošík ist ein Held ohne Heldentaten. Sein früher Tod und die grausame Hinrichtung waren jedoch kompatibel mit Märtyrerlegenden. Denn die Mythogenese beruht auf der Wahrnehmung einer Übereinstimmung zwischen einer konkreten Person und bereits geläufigen Erzählmustern: Diese Interferenz trägt zur „Assimilation der individuellen Lebensgeschichte an ein bestimmtes Stereotyp aus jenem Stereotypenrepertoire bei, das zum sozialen Gedächtnis der jeweiligen Kultur gehört“.26 Universelle Narrative wurden durch kulturelle Übersetzung27 angeeignet und adaptiert. So griffen die frühesten Jánošík-Erzählungen auf den Christusmythos und den Hirten-
26 Peter BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida ASSMANN, Dietrich HARTH (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 289–304, hier S. 296. 27 Peter BURKE, R. Po-Chia HSIA (Hg.), Cultural Translation in Early Modern Europe, Cambridge 2007.
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mythos, auf Räubererzählungen, phantastische Märchenmotive und auf jene Volkstradition zurück, in der Räuber als „Sozialrebellen“28 erschienen, wie sie Eric Hobsbawm beschreibt. Mit John Neubauer charakterisiere ich Jánošík aber besser als „rural Outlaw“29, der mit dem deutschen Straßenräuber, dem englischen highwayman, dem italienischen bandito, dem ungarischen betyár oder dem südosteuropäischen hajduk verwandt ist. Wenn Legenden diese Banditen als „edle Räuber“, als Beschützer und Rächer der Armen und Wehrlosen wie im Falle Juraj Jánošíks besingen, dann verleihen sie ihnen Züge eines Helden: Er ist immer Opfer eines Unrechts, er tötet nur im Notfall, er ist unverwundbar und kann nur durch Verrat überwältigt werden. Das korrespondiert mit der Anatomie des klassischen Helden,30 zu der im Mythos außerdem der sichere Sieg, die Todesverachtung, die dunkle Herkunft, die verletzliche Ader, der frühe Tod und die ewige Jugend gehören, ferner körperliche Schönheit und Kraft und nicht zuletzt sexuelle Attraktivität. Doch der edle Räuber ist ein Held, der sich schuldig gemacht hat. Darum gehört zu seinen Vorbildern neben Prometheus auch Satan, der gefallene Engel aus John Miltons Paradise Lost, der wiederum zu einem Vorläufer des Byron‘schen Helden wurde.31 Die Räuberdramen von Lope de Vega und Friedrich Schiller, besonders aber die Romane von Christian Vulpius trugen sehr zur Popularität dieses Typus bei, der im 19. Jahrhundert an den Peripherien Zentraleuropas gut bekannt war. In der slowakischen mündlichen Tradition gibt es sogar Sagen, in denen Jánošík gemeinsam mit Rinaldo Rinaldini auftritt. Dieser Topos setzte sich demnach von Anfang an aus verschiedenen Diskursen und Traditionslinien zusammen.
28 Eric J. HOBSBAWM, Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1959; Eric HOBSBAWM, Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen, München 2007 [1959]. 29 John NEUBAUER, Joep LEERSSEN, Marcel CORNIS-POPE, Biljana
MARKOVIĆ, The Rural Outlaws of East-Central Europa, in: Marcel CORNIS-POPE, John NEUBAUER (Hg.), History of the literary cultures of East-Central Europe, Band 4, Amsterdam 2010, S. 400–440. 30 Wolfgang MÜLLER-FUNK, Anatomie des Helden, in: Wolfgang MÜLLERFUNK, Georg KUGLER (Hg.), Zeitreise Heldenberg. Lauter Helden. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung 2005, S. 3–13. 31 Mario PRAZ, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1963.
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R EGIONALE I DENTITÄT – J ÁNOŠÍK ALS U NGARLÄNDER
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L IPTAUER
Über das Aussehen des historischen Juraj Jánošík ist nichts bekannt; es wurde kein Porträt von ihm überliefert. Die älteste visuelle Räuberdarstellung, die mit dem Namen Jánošík operiert, datiert die Fachliteratur auf das späte 18. Jahrhundert. (Abb. 1) Dieser kolorierte Stich mit dem Titel Jánošíkova družina (Jánošíks Trupp) diente als Vorlage für eine Hinterglasmalerei. Im 17. und 18. Jahrhundert fanden in dieser Reproduktionstechnik erzeugte Heiligenbilder die größte Verbreitung, während Räuber zu den seltenen säkularen Motiven gehörten. Abbildung 1: Jánošík, der Volksheld und Rebell
Auf dem Stich sind sechs männliche Figuren vor einem naturlandschaftlichen Hintergrund mit hohen Nadelbäumen zu erkennen. Bekleidung und Requisiten verweisen auf unterschiedliche Zugehörigkeiten. So werden die Bundschuhe, die weißen Hosen mit gesteppter Verzierung und die abgedunkelten Hemden, die in der Vorlage rostrot, in den meisten Hinterglas-
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malereien aber in grüner Farbe erscheinen, der ländlichen Bergbevölkerung zugeschrieben.32 An den kegelförmigen, hohen, reichverzierten Kopfbedeckungen sind Agraffen und Zipfel zu erkennen. Mit ihrer Ähnlichkeit zum Kolpak erinnern sie an Militäruniformen von Heiducken, Panduren oder Husaren, die in Österreich-Ungarn und darüber hinaus ihren Dienst versahen. Die Figuren sind mit dunklen Schnauzbärten und Zöpfen, breiten verzierten Gürteln und über der Brust gekreuzten Riemen versehen, an denen Beutel oder Karabiner hängen. Jede Figur trägt eine Stielaxt und Pistolen, einige haben Schnapsflaschen, einer der Männer spielt auf dem Dudelsack. Bei der Figur rechts im Bild vor dem Weinfass, die sich mit der bestickten dunklen Hose und der langen Quaste am Kolpak von den anderen abhebt, soll es sich um den heytman Jánošík handeln, der den Aufnahmetest eines neuen Bandenmitglieds überwacht. Der Neuling musste aus dem Sprung die Spitze einer Tanne abschießen. Die gekreuzten Beine der Figur deuten den Sprungtanz an, der oft über einem Feuer oder Kessel dargestellt wird. Allein in der Slowakei kursieren dafür Benennungen wie odzemok, hajduk oder kozák, was einen beachtlichen Verbreitungsgrad dieses Tanzes verrät. Mögen diese Bildbestandteile nun der ländlichen Bevölkerung der Karpatenregion oder militärischen Truppen zugeschrieben werden, sie verweisen in jedem Fall auf eine lokale oder regionale Zugehörigkeit. Als ethnisch oder gar slowakisch ließen sich höchstens die Personennamen in der Bildunterschrift deuten: Janossik, Surowec, Ilčík, Adamčik, Reinoha, Potulčík. Sie treten bei den farbigen Hinterglasmalereien aber nicht mehr auf. Vergleichbare Elemente einer regionalen Ikonografie finden sich bereits vor Lebzeiten des historischen Jánošík im Ungarischen oder Dacianischen Simplicissimus (1683) des schlesischen Musikers Daniel Speer. Die Identität der darin beschriebenen Räuber ist auf einer ganz anderen Ebene unklar: Ich dorft aber nit fragen, ob sie Räuber (oder Stuhltrabanten, so auf die Räuber vom Lande hin und wieder verordnet, sie zu fahen) wären, weil in der Kleidung unter diesen beiden kein Unterschied, indem sie alle ungrische Hosen und Strümpf beisammen, ein Stuck Leder auf den Sohlen mit Riemen verstrickt und über den Knöcheln angebunden, so sie Kirpze nennen und ihnen selbst machen, in welchen sie gar leicht springen können. Am obern Leib tragen sie ein bis auf den Nabel langes
32 Irena PIŠÚTOVÁ, Ľudové maľby na skle [Volkstümliche Hinterglasmalerei], 2. Bd., Martin 1979, S. 19.
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Hemd mit weiten zweielligem Plunder offenen Ärmeln. Dieses tunken sie in Schafsoder Bocksunzlit, winden’s aus und rauchern es, bis es ziemlich schwarz wird.33
Diese Darstellung und weitere Attribute wie die „gezogenen Röhren, Dzakanen, Balten oder Äxtlein hinter dem Gürtel“ sowie „Bier, Wein und Branntwein“34 weisen zunächst sehr ähnliche ikonografische Merkmale auf wie die Hinterglasmalereien. Dass in den Kostümen Slawen stecken konnten, deutet auch hier nur eine zusätzliche Erklärung an, in der es heißt, der Anführer Janko habe „windisch und halb rusnakisch“35 gesprochen. Doch die ethnische Zugehörigkeit ist unerheblich angesichts der Frage, ob es sich nun eigentlich um Räuber oder um „Stuhltrabanten“, also deren Verfolger handelte. Damit ist die Dopplung als weiterer Modus von Interferenz angesprochen, insofern ein und dasselbe ikonografische Element je nach den Umständen einmal den Räuber und einmal den Häscher kennzeichnet. Diese Unsicherheit verändert den Code, indem sie seine Orientierungsfunktion untergräbt. Die Dopplung ist die Bedingung für die Möglichkeit nicht nur von Täuschung, Betrug und Verrat, sondern auch für die Alternation im Sinne eines wiederholten Seitenwechsels. Wie noch dargelegt werden wird, sind damit wiederkehrende Motive der Jánošík-Darstellungen genannt. Das zeigt sich auch in einem der ersten gedruckten literarischen Texte über den Outlaw. Der evangelische Theologe und Dichter Bohuslav Tablic, der während seines Studiums in Jena unter anderem die Vorlesungen Friedrich Schillers besucht hatte, erschloss ihn aus einer anonymen tschechischslowakischen Handschrift vom ausgehenden 18. Jahrhundert. Die etwa 200 Verse umfassende Moritat Jánossik Liptowský Laupežnjk (Janossik, ein Liptauer Räuber) prägte die gesamte Tradition. In einem ersten epischen Teil wird die Biografie des Helden erzählt, der einfacher Herkunft gewesen sei, als Soldat dem Kaiser, als Kapitän (Hauptmann) den Husaren gedient habe und nach der Heimkehr mit seinen Genossen die Reichen ausraubte, um die Armen für die unerträglich hohen Abgaben zu entschädigen. Für Trinkgeld und Alkohol doppelt verraten – durch den eigenen Dudelsackspieler, der zwischenzeitlich zu den Verfolgern der Räuber übergelaufen war, sowie durch den Gastwirt – habe man ihn im Wirtshaus ohne Waffen
33 Herbert GREINER-MAI, Erika WEBER (Hg.), Ungarischer oder Dacianischer Simplicissimus, Berlin 1978 [1683], S. 120. 34 Ebenda, S. 121. 35 Ebenda, S. 122.
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überrascht und auf Anraten einer bösen alten Frau auch noch Erbsen vor die Füße gestreut, was ihn schließlich zu Fall gebracht habe. Im zweiten eher lyrischen Teil, einem Wechselgesang von Ich und Du, erhebt Jánošík selbst die Stimme. Nun, da er im Kerker sitzt, beklagt er nicht nur den Verlust der Freiheit, sondern auch all seiner Attribute: Milý Jánossjku, kde máš swau ssawličku? Tam w městě Krupině, tam wisý na klině, Ted mi odebrali waľassku, paľossjk, S kterými sem chodil, gak sylný pacholik. [...] Milý Janossjku, kams klobauček svůg děl, Genž zlatem a střjbrem wykladaný bjl, Pérečko psstrosowé, krásné ozdobné Perlami, brilianty zhusta obložené.36 Lieber Jánošík, wo hast du deinen Säbel Dort in der Stadt Krupina, dort hängt er am Haken, Sie nahmen mir die Axt und den Pallasch, Mit denen ich ging, als starker Bursche. Lieber Jánošík, wohin legtest du deinen Hut, Der mit Gold und Silber beschlagen war, Mit Straußenfeder, schön verziert Mit Perlen, Brillanten dicht besetzt.
Auch seine gelben Stiefel, das grüne, golddurchwirkte Hemd, der Dolman aus rotem englischem Tuch, der seidene Gürtel und die zwei Pistolen, all die Dinge, die Jánošík als Strafe für das Räubern eingebüßt hatte, unterstreichen die prunkvolle Aufmachung, die eher an eine Herrscherfigur erinnert und den Räuber poetisch zum Helden verwandelt. Damit korrespondiert die Umcodierung des Gesetzesbruchs in einen sozialen Protest.
36 Jánossjk Liptowský Laupežnjk [Jánošík, der Räuber aus Liptau], in: Bohuslaw TABLIC (Hg.), Sľowenssti werssowcy [Slowakische Verseschmiede], Wacow 1809, S. 120–137, hier S. 132–135.
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Ky, ač sem y zbigeľ za nemnohá léta, Málo wssak sem lidi zklidil z toho sweta Wssak sem gá nezbjgeľ chudobných sedláků, Krom pánů, zemanů a pyssných maznáků.37 Mag ich auch geräubert haben einige Jahre, So räumte ich doch wenig Menschen aus dieser Welt Hab doch keine armen Bauern bestohlen, Nur Herren, Edelleute und stolze gerissene Kerle.
Die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit ist als weitere Konstante der Jánošík-Realisierungen ein zentraler Grund für den späteren Erfolg der Figur. Von Tablic übernahm sie in dieser Form schließlich 1829 Johann von Csaplovics in seine Landeskunde Gemälde von Ungern: Alle Nachrichten, deren es sehr viele von ihm gibt, stimmen darin überein, er sey ein Mann von ganz besonders edlem Wuchse, stark und flink gewesen. Sein Anzug war immer nett; er trug ein grünes weites, mit goldenen Borten besetztes Hemd, einen rothen mit goldenen Schnüren garnierten Dolmány, einen seidenen mit Gold und Silber gezierten Gürtel, auf dem Hut eine Straußfeder etc.38
Jánošík trug zwischen Barock und Aufklärung neben den universellen keine ethnische oder nationale, sondern vielmehr regionale „ungarländische“ Züge, zu denen der Kleidercode der Bergbevölkerung ebenso wie jener der Militärs gehörte. In dieser Verortung spiegelten sich die aktuellen Herrschaftsverhältnisse und die Adelskultur des 17. und 18. Jahrhunderts. Die politischen Autoritäten wurden, wenn überhaupt, als Deutsche wahrgenommen, weil die Habsburger in dieser Zeit die Integration des Königreiches Ungarn in ihr Imperium betrieben, wogegen sich (ober)ungarische Adelige widersetzten. Das zeigt sich auch in der ungarländischen Aufmachung der Figur. Als sich im 19. Jahrhundert die königliche Administration und spätestens nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 die gesamte Oberschicht Transleithaniens magyarisierten, taugte Jánošíks
37 Ebenda, S. 133. 38 Johann von CSAPLOVICS, Gemälde von Ungern. Erster Theil, Pesth 1829, S. 269.
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ungarisches Kostüm nicht mehr zur Kennzeichnung einer antiimperialen subversiven Haltung. Dafür musste die Figur „slawisiert“ werden.
S LAWISIERUNG DURCH D EKLARATION Zu den ersten Akteuren einer solchen „Slawisierung“ der Figur im frühen 19. Jahrhundert zählten die Verfechter der „slawischen Wechselseitigkeit“. Der spätere Prager Slawist Pavol Jozef Šafarík, der mit dem Werk Geschichte der slawischen Sprache und Literatur (1826) bekannt wurde, veröffentlichte als 18-Jähriger noch vor seinem Studium in Jena die Gedichtsammlung Tatranská Můza s lírou slovanskou (1814; Muse aus der Tatra mit slawischer Lyra) in tschechischer Sprache, die auch zwei JánošíkGedichte enthielt. Eine starke Anlehnung an weltliterarische Vorbilder zeigt sich in der Ballade Poslední noc (Die letzte Nacht), in der Jánošík und seine Liebste Marienka nach dem Muster von Romeo und Julia in den Tod gehen. Anders verhält es sich mit der aus achtzig Vierzeilern bestehenden Komposition Slávení slovanských pacholků (Lobpreisung der slawischen Jünglinge). Sie ist der Suche nach slawischen Helden gewidmet, die das lyrische Ich schließlich in den legendären Räubern erkennt: Mužnost nad mužností, zmužilých hlavo; udatný hrdino: Slovanů slávo; výborný zástupce svobodníků: tebe mním, tebe, ó Jánošíku! Veliký velikých zbojníků vůdce; schytralý schytralých pacholků svůdce; nejvyšší mistře při řemeslu svém líbezném, volném a utěšeném!39 Der mutigen Männer, der Wackren Haupt Tapferer Held: Der Slawen Ruhm,
39 Pavol Jozef ŠAFARÍK, Slavení slovanských pacholků [Lobpreisung der slawischen Recken], in: Básnické dielo [Dichterisches Werk], hg. von Peter Káša, Bratislava 2005, S. 40–63, hier S. 42.
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Vortrefflicher Anführer der Freien: Dich, oh Jánošík, hab ich im Sinn! Der großen Räuber noch größerer Führer Der schlauen Burschen pfiffigster Schelm; Der größte Meister seines Handwerks Das holdselig ist und frei und froh.
Die ausgiebige Apotheose der Helden endet ambivalent: Sie werden gefangen genommen und moralisch verurteilt, denn das Leben ist bei aller Freiheitsliebe nicht durch Spaß und Vergnügen und schon gar nicht durch Verbrechen zu meistern, sondern durch harte Arbeit – die stattlichen Recken gehören der Vergangenheit an. Wohl darum verzichtete Šafarík auf historische Anspielungen, Individualisierungen und die Ausarbeitung einer individuellen Narration. Vielmehr zog der junge Dichter – ganz im Geist des Klassizismus – das antike Heldenbild und die Hirtenidylle als Vorbilder heran. So kommt es, dass seine Helden nicht nur kerzengerade und baumhoch wie Pappeln, sondern glänzender als Gold, weißer als Milch, stärker als Löwen und kühner als Auerochsen sind, dass sie lange, goldene Locken, Marmorstirnen und Liliengesichter haben. Diese Figuren zitieren nicht die ungarische Panduren- oder Husarenikonografie, aber auch eine slawische Codierung erwies sich offenbar als problematisch. Šafarík realisiert sie lediglich durch die gehäufte Verwendung slawischer Eigennamen. Mit Personennamen wie Surovec, Ilčík, Hrajnoha, Vlček, Papřík, Pero, Harala „slowakisierte“ er die Handlung, mit der Wahl der Ortsnamen verlagerte er sie in die bergige Mitte der Slowakei: „Volovec, Radzim und Kráľová hoľa, / der Tatra, der Fatra, der Matra Gefild“,40 Damit gelang ihm zwar eine Regionalisierung und geografisch-sprachliche Verortung des JánošíkTopos, doch bis zum äußeren Erscheinungsbild der Räuberfiguren drang die im Gedichttitel angekündigte Slawisierung nicht vor. Noch schlechter kam Jánošík bei dem Pester evangelischen Pfarrer Ján Kollár weg, ab 1849 Professor für Slawische Archäologie an der Wiener Universität und Verfasser des Buches Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation (1837). Zum selben Zeitpunkt, als slowakische nationale Erwecker
40 Ebenda, S. 56.
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erstmals das dokumentarische Material O zbogstwj Gura Jánossjka (Über das Räubertum des Juraj Jánošík, 1831–1833) in einem Heimatkalender abdruckten, widmete er in der erweiterten Ausgabe seiner berühmten, aber nichtsdestotrotz papiernen und politisch tendenziösen Gedichtsammlung Slávy dcéra (Die Tochter der Slawa, 1832) die Sonette 600 und 601 dem Räuberhauptmann. Während Šafaríks Jánošík zumindest einmal so erhöht stehen darf, dass er fast den Himmel berührt, platzierte ihn Kollár verschämt in der slawischen Hölle, welche die Tochter der Slawa im Kapitel „Acheron“ in Augenschein nimmt. Neben anderen Figuren, die den Ruhm der Slawen beschädigt hätten, wie Mickiewicz oder Napoleon, hält sich hier eine ganze Bande von Räubern auf, die statt der Säbel Rechen tragen und Ziegen anstelle von Pferden reiten. Jánošík erscheint in diesem karikierten Bild zwar neutral, aber völlig gesichtslos. Obwohl die Figur hier zum Slowaken deklariert wird, trägt ihr Äußeres auch bei Kollár die traditionellen ungarischen und damit regionalen Merkmale: 601 Mezi nimi chlapík utěšený, v košilce se točí zelené, nohavice maje červené, čižmy žluté, klobouk opštrosený; zlatý pás a paloš operlený, pištolky dvě k boku připněné, za nim v dudy foukal kožené starý Kejdoš v hudbě vycvičený: Muž ten jedle, buky přeskakoval, neb ten soud mu věčnost vydala, bez přestáni aby hajduchoval; Slováka hned, na něm Jánošíka dle tvých roprávek jsem poznala, zdvořilého v Tatrách nákeřníka.41
41 Ján KOLLÁR, Slávy dcera [Tochter der Slawa]. Zlatý fond denníka SME 2007, (http://zlatyfond.sme.sk/dielo/142/Kollar_Slavy-dcera) (Zugriffsdatum: 28.9.2010).
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Unter ihnen ein prächtiger Bursche, im grünen Hemd er sich dreht, rote Hosen hat er an, gelbe Stiefel, Hut mit Straußenschmuck, goldner Gürtel und Pallasch mit Perlen besetzt, zwei Pistolen an die Seite geschnallt, hinter ihm blies den ledernen Dudelsack der alte Kejdoš, in der Musik geübt. Dieser Mann übersprang Tannen und Buchen, denn die Ewigkeit hatte ihm das Los erteilt, ohne Unterlass den Räubertanz zu tanzen; Einen Slowaken – Jánošík – hab ich sogleich nach deinen Erzählungen in ihm erkannt, Den höflichen Verbrecher aus der Tatra.
Der „höfliche Verbrecher“ ist eine Anspielung auf den romantischen Typus des edlen Räubers. Doch der vertrug sich nicht mit der Achtung vor dem Gesetz. Kollár wertete ihn ab, denn sein Jánošík ist als eine Art Hampelmann dazu verurteilt, ewig den Räubertanz zu tanzen (hajduchovat). So geriet dieser statt zum Stolz der Slawen zum abschreckenden Beispiel. Die Wortführer der slawischen Wechselseitigkeit deklarierten zwar Jánošíks Verortung in einem slawischen Kontext, gestanden ihm aber nur eine Nebenrolle zu und stellten ihn zum Teil sogar negativ dar. Sie hielten am traditionellen ungarischen, regional codierten äußeren Erscheinungsbild der Figur fest und führten sie in dieser Gestalt in die slowakische Hochkultur ein – dies allerdings mit weitreichenden Folgen.
H OCHKULTUR DER R OMANTIK : AUFWERTUNG ZUM SLOWAKISCHEN V OLKSHELDEN Der Status des Räuberhauptmanns änderte sich grundlegend in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die slowakische Nationalbewegung einen Aufschwung erlebte. Nach dem Vorbild des serbischen Marko Kraljević, des polnischen Tadeusz Kościuszko oder nach dem Muster der Kosakenlieder
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wollten nun auch die slowakischen Dichter einen eigenen Nationalhelden besingen. Ihre Wahl fiel auf Juraj Jánošík. Er schien geeignet, als Rächer des Volkes, Kämpfer gegen die Unterdrückung und Diener höherer Werte dargestellt zu werden.42 So erklärte Ján Botto, einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung: „Ich wollte keine Biografie des in Svätý Mikuláš verurteilten und hingerichteten Verbrechers schreiben, sondern jenen Jüngling der Freiheit malen, der auf den Lippen des slowakischen Volkes lebt“.43 Doch er vollendete sein Verspoem Smrť Jánošíkova (Jánošíks Tod, 1862) erst nach der Revolution von 1848, die aus Sicht der slowakischen Nationalbewegung mit einer Niederlage endete. Das erklärt die auffallend elegische Stimmung des Poems. Nicht die Aktivitäten des Helden stehen im Mittelpunkt, sondern dessen Märtyrertod. Der Dichter schildert nicht die kämpferischen, sondern die verlassenen Bergburschen, deren Anführer hinter finsteren Kerkermauern schmachtet. Doch der hält an seiner Sozialkritik fest: Die wahren Verbrecher sind jene Herren, die sich anmaßen, über ihn Gericht zu halten, obwohl sie doch selbst die eigentlichen Ausbeuter und Unterdrücker des Volkes sind. Jánošík geht in den Tod, weil er nicht bereit ist, seinen Traum von Recht und Freiheit zur Rettung des eigenen Lebens aufzugeben. Nur in seinen Erinnerungen schweift der bereits unter dem Galgen Stehende ein letztes Mal in die Kindheit, in die Heimat und zum fröhlichen Räuberleben zurück. Die Hinrichtung selbst sublimierte Botto in der metaphorischen Darstellung einer Gewitterszene. Nach einigen düsteren Landschaftsbildern, die zwar in der Romantik allgemein verbreitet waren, aber auch Assoziationen an den Berg Golgatha wecken oder sogar eine konkrete Anspielung auf das Lied Nad Tatrou sa blýska (Über der Tatra blitzt es) sein könnten, das 1844 während eines Studentenprotests gegen die ungarische Verwaltung entstanden war und heute als slowakische Nationalhymne dient, endet das Werk mit einer Vision: Der Held erscheint strahlend auf einem weißen Pferd und heiratet am „Tag der Slawa“ die Königin der Feen. Der jubelnde Duktus dieser Passagen verklärt Jánošíks Tod zum schillernden Mythos seiner künftigen Auferstehung. Damit formulierte der Dichter gleichnishaft den Gedanken der nationalen Wiedergeburt.
42 Ľudovít ŠTÚR, O poézii slovanskej [Über slawische Poesie], Martin 1987, S. 72. 43 Ján BOTTO, Básnické dielo [Dichterisches Werk], hg. von Ľubomír Kováčik, Bratislava 2006, S. 488.
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Dieses Poem gilt als Schlüsselwerk der slowakischen Romantik. Die Figur des Hauptmanns wird zur Herrscherfigur stilisiert, aber lediglich auf der allegorischen Ebene. Die wechselnde Namensgebung Jánošík, Janíčko und Janík verrät, dass der Dichter keine Konkretisierung, Historisierung oder gar Mimetisierung intendierte. Entsprechend erscheinen die Räuberfiguren im traditionellen ungarischen Outfit, wobei der Hauptmann unter allen hervorsticht: Košielky zelené, striebrom obrúbené, klobúčky obité, orlom podperené; valaška, karabín a pištoliek dvoje: to sa chlapci, to sa, potešenie moje! [...] A ten ich kapitán, to je len veľký pán! Perečko beľavé, červený dolomán; Keď ide po hore, ako ranné zore, Keď ide po lese, celý svet sa träsie!44 Grüne Hemden, silbergesäumt, beschlagene Hüte mit Adlerfeder, Stielaxt, Karabiner und zwei Pistolen: Das, ihr Burschen, ist mir eine Freude! Und ihr Hauptmann, das ist ein großer Herr! Weißer Federschmuck, roter Dolman, Geht er durch die Berge, leuchtet er wie das Morgenrot Geht er durch den Wald, bebt die ganze Welt!
Dass es sich um einen slowakischen Helden handelt, deutet der Dichter ebenso wie seine Vorgänger nur dezent mithilfe geografischer Benennungen wie Donau, Tatra, Waag oder Hron an, die das „verwunschene“ slowakische Land ein weiteres Mal territorial markieren. Höchstens der kunstvolle Sprachgebrauch, etwa in den zahlreichen Binnenreimen, bringt einen Kernpunkt slowakischer kultureller Identität ins Spiel. Es gehörte zum Programm der Romantiker, auf die Volkstradition zurückzugreifen, doch aus-
44 Ebenda, S. 194–195.
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gerechnet die Umsetzung dieses Programms schmuggelte automatisch wieder die ungarischen regionalen Konnotationen in den Text. Mit dieser Doppelcodierung stellte Botto eine Verbindung zwischen der Revolution von 1848 und den antihabsburgischen Adelsaufständen des 17. Jahrhunderts her. Inzwischen hatte sich aber die politische Orientierung der Slowaken verändert. Ein Teil schloss sich zwar zunächst den Ungarn unter Lajos Kossuth an. Doch die Repräsentanten der slowakischen Nationalbewegung konnten dessen Modell einer ungarischen politischen Nation „nicht akzeptieren“45, weil es die Assimilation der Nichtmagyaren vorsah. Darum ging das slowakische Freiwilligenkorps schließlich ein Bündnis mit den Habsburgern ein, was wiederum die ungarischen Politiker als Verrat ansahen. Obwohl Botto diesen Frontwechsel keineswegs thematisiert, bleibt selbiger durch das ungarische Outfit der Figur unterschwellig in sein Poem eingeschrieben. Zwischen ungarischen Lokalpolitikern und Habsburger Herrschern bekam Jánošík als slowakischer Volksheld schließlich einen dritten Ort des „Weder-Noch“ zugewiesen. Die slowakischen Romantiker erhoben ihn zum „national icon“46, sie rückten ihn in die Mitte ihrer nationalen Ideologie, was aber ein weiteres Mal nur durch verbale Erklärungen und emblematische Bilder geschah, ohne auch das Äußere der Figur zum Slawen oder Slowaken umzugestalten. Damit sollten sich die Künstler seit dem späten 19. Jahrhundert beschäftigen, als sich der Schwerpunkt von der Lyrik zur Prosa und zum Drama verlagerte. Außerdem entfalteten sich nun auch parallel zur slowakischen „Nationalisierung“ der Figur eine polnische und eine tschechische Jánošík-Tradition.
K ONVERSION IM S UJET Nach dem ungarisch-österreichischen Ausgleich von 1867 wuchs der Magyarisierungsdruck auf die nichtmagyarischen Einwohner Ungarns, sodass die slowakischen Intellektuellen ihre prohabsburgische Orientierung bekräftigten. Das zeigt sich auch in historischen Abenteuerromanen, die sich an das Vorbild von Christian Vulpius und Karl May, aber auch an den 45 Elena MANNOVÁ (Hg.), A Concise History of Slovakia, Bratislava 2000, S. 197. 46 Martin VOTRUBA, Hang Him High: The Elevation of Jánošík to an Ethnic Icon, in: Slavic Review 65 (2006), S. 24–44.
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Tschechen Alois Jirásek oder die Ungarn Mór Jókai und Kálmán Mikszáth anlehnten. Bei ihrem Versuch, den Stoff nun stärker zu historisieren, thematisierten Romanciers wie Pavol Beblavý die oberungarische Interferenzraumsituation durchaus: Unser Volk ist nicht undankbar, sondern es liegt darnieder, geprügelt und versklavt von den Eigenen und den Feinden. Kein Wunder, dass die Räuberei um sich greift, während die Leute von Frömmigkeit und dem rechten Glauben an Gott abfallen. Einer treibt sie zu dem einen, ein anderer zwingt sie zu einem anderen Glauben. Heute ist er Katholik, morgen Lutheraner, übermorgen kommt der Türke: Am Ende wird er Mohammedaner.47
Der Autor verlagerte die Romanhandlung in das 17. Jahrhundert, um sie mit den Türkenkriegen und den Kurutzenaufständen verbinden zu können. Für die Kräfteverhältnisse fand er eine etwas vereinfachte Formel: „Ganz Ungarn stellte sich in zwei Lagern auf. Das eine war das königliche, das andere das der Edelleute; im ersteren versammelten sich die Katholiken, im letzteren die Evangelischen.“48 Wer sich keiner der Seiten zugesellen wollte, zog sich in die Berge zurück. So auch Jánošík, der dann aber doch Hirtenkittel und breiten Gürtel gegen die ungarische Uniform eintauschte, um schließlich überraschend die Fronten zu wechseln. In Erwartung einer Begnadigung will er plötzlich für Vaterland und König kämpfen, weil er als die wahren Tyrannen die Adeligen vor Ort erkannt hat. Noch deutlicher wurde der aus der Vojvodina stammende, in Ungarn wegen seiner antimagyarischen Aktivitäten polizeilich verfolgte Gustáv Maršall-Petrovský. Er emigrierte in die Vereinigten Staaten und publizierte dort im Kontext slowakischer Auswanderer seinen mit phantastischen Motiven durchsetzten Abenteuerroman Jánošík, kapitán horských chlapcov (J., Hauptmann der Bergburschen, 1894). Der Held ist hier wieder nach antikem Vorbild blond gelockt, wird von einem Mönch in einer Höhle erzogen und von einer Wölfin gesäugt. Auch er kämpft nicht mehr mit den Kurutzen gegen die Habsburger, sondern im Gegenteil, im Bunde mit den Habsburgern gegen die ungarischen Kurutzen. Damit wurde ein entschei-
47 Pavol BEBLAVÝ, Janošík. Povesť zo XVIII. storočia [Sage aus dem 18. Jhdt.], 1. Teil, in: Slovenské pohľady 1–5 (1889), S. 5–21, hier S. 14. 48 Ebenda, S. 538.
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dender Wendepunkt erreicht, denn Jánošík büßte nun auch auf der Ebene des Sujets seine ungarisch-regionale Zugehörigkeit ein.
T SCHECHOSLOWAKISCHE „W ECHSELSEITIGKEIT “ Eine solche Hinwendung zu ethnisch-sprachlichen Identifikationskriterien traf sich mit dem Interesse tschechischer Intellektueller, die sich vor der Jahrhundertwende mit anderen Slawen Österreich-Ungarns solidarisierten, insbesondere mit den Slowaken. Aus der sprachlichen Nähe zu ihnen wurde schließlich die Idee der „tschechoslowakischen Wechselseitigkeit“ geboren. Damit dieser Gedanke geopolitischen Zielen wie etwa einem künftigen tschechoslowakischen Nationalstaat dienen konnte, musste die Slowakei aber auch territorial angeeignet werden. Die tschechischen nationalen Aktivisten erkundeten die Slowakei und die Slowaken durch Reisen, ethnologische Betrachtungen und Lektüre. Um die Slowaken als das Andere des Eigenen modellieren zu können, schrieben sie ihnen Eigenschaften zu, die sich komplementär zum tschechischen Selbstbild verhielten. Wiesen sie den Tschechen in dieser Konstruktion Urbanität, Geschichte, Tradition, Kultur, Disziplin zu, so „orientalisierten“ sie die Slowaken mit Merkmalen wie Ruralität, Körperlichkeit, Natur, Temperament, Exzess. Dass sich Jánošíks Legende hervorragend zur „Erweiterung der tschechischen nationalen Sphäre“49 eignete, belegt etwa die Tatsache, dass Alois Jirásek sie 1894 in seine populäre Sammlung Staré pověsti české (Alte tschechische Sagen) einreihte. Es ist auffällig, dass er ausgerechnet einem Slowaken die Rolle des Outlaw zuwies. Indem er den Stoff in das Genre der historischen Sage überführte, erhöhte er auch dessen weltliterarische Kompatibilität. Dies nutzte der tschechische Avantgardist Jiří Mahen in seinem Drama Janošík (J., 1910). Sein Held hat keine geheimnisvollen oder fantastischen Züge mehr, er ist ein Mann der Tat. Trotzdem wirkt er ambivalent. Einerseits schuf der Linke Mahen die Figur nach dem Vorbild des klassischen
49 Felix VODIČKA, Český literárny mýtus o Slovensku [Der tschechische literarische Mythos über die Slowakei], in: Ludvík PATERA, Rudolf CHMEL (Hg.), Kontext české a slovenské literatury. Antologie českých a slovenských textů [Der Kontext der tschechischen und slowakischen Literatur. Eine Anthologie tschechischer und slowakischer Texte], Praha 1997 [1968], S. 214–224, hier S. 223.
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Sozialrebellen, der sich durch Gerechtigkeitssinn, Kampfgeist und Aktivität auszeichnet, andererseits geriet sein Jánošík zu einer statischen Symbolfigur mit Hang zum Predigen und einem merkwürdig unterkühlten Verhältnis zu seiner Liebsten Anka. Obwohl von der Theaterkritik verspottet, feierte das Drama große Publikumserfolge. In slowakischer Übersetzung wurde es 1925 in Bratislava aufgeführt, Laientheater übernahmen es in ihr Repertoire und auch nach dem Zweiten Weltkrieg spielte man es noch. Damit trug gerade eine tschechische Dramatisierung entschieden zur Popularisierung der slowakischen Heldenfigur bei. Entsprechend der zeitgenössischen national aufgeheizten Ideologie konnotierte Mahen die Heiducken, Panduren und den Grafen Revay nicht mehr ungarisch, sondern ethnisch-sprachlich magyarisch. Parallel dazu betont er nun auch die ethnische Zugehörigkeit der Räuber, welche laut Regieanweisung50 Stielaxt, breiten beschlagenen Gürtel, Pistolen, den breitkrempigen schwarzen Hut der Hirten, weite Bauernhosen, Bundschuhe und neutrale Kittel oder Blusen tragen. Die Bühneninszenierung erforderte die ikonografische Umsetzung ethnisch-nationaler Zuschreibungen. So konvertierte der Topos Jánošíks zuletzt auch in seinem Erscheinungsbild: Die Zuschauer sollten ihn als Bergburschen, Hirten, Goralen oder Slowaken erkennen. Nicht nur die bereits erwähnten Romane, sondern auch der narrative Grundriss von Mahens Stück prägte die ersten Verfilmungen des Stoffes nachhaltig. Im Schlepptau slowakischer Auswanderer migrierte der Topos Jánošíks spätestens durch das Filmmedium nach Amerika. Der von Jaroslav Siakel in der Tschechoslowakei gedrehte und in Chicago durch die Tatra Film Corporation produzierte Stummfilm Jánošík gelangte 1921 in die Prager Kinos, wo er zwei Wochen lief. Anschließend besuchten in den USA slowakische Auswanderer den Streifen über zwei Jahre lang in mehreren Städten, darunter in Pittsburgh und New York. Erst 1922 kam er in die Slowakei. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs galt er als verschollen, und erst 1969 fand sich die amerikanische Kopie des belichteten Materials in der Garage des Produzenten in Chicago.51 Als der Film nach seiner aufwendigen Rekonstruktion 1975 in der Slowakei wieder aufgeführt wurde,
50 Jiří MAHEN, Janošík [J.], Praha 1952 [1910], S. 51. 51 Peter CABADAJ, Jánošík vo filme [J. im Film], in: Maria MADEJOWA (Hg.), Mýty a skutočnosť zbojníctva na poľsko-slovenskom pohraničí v dejinách, literatúre a kultúre [Räubermythen und -wirklichkeit im polnisch-slowakischen Grenzgebiet in Geschichte, Literatur und Kultur], Nowy Targ 2007, S. 415–430.
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fiel das genau in die Zeit einer großen Jánošík-Renaissance. Ethnischnationale Konnotationen werden in diesem Streifen zurückhaltend eingesetzt. Stark geschminkte Gesichter, Action-Szenen und eine geschickte Schnitttechnik deuten eher auf eine international verständliche moderne Filmsprache hin. Auch der beliebte tschechische Schauspieler Theodor Pištěk in der Hauptrolle, der mit seiner robusten Körperlichkeit den zeitgenössischen Heldentypus verkörperte, erschien nicht in einer ethnologisch verbrämten, sondern eher in einer universellen Räuberkluft (Abb. 2, Abb. 3). Die Ausstattung betont den sozialen Gegensatz zwischen Arm und Reich. Lediglich auf dem Filmplakat finden sich ethnisch-national codierte Zuschreibungen: „Jánošík ist das Symbol des Widerstandskampfes gegen den ungarischen Landadel, der das slowakische Volk unterdrückte und in Ketten hielt.“ Abbildungen 2 und 3: Theodor Pištěk als Jánošík, 1921
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Als fast zwanzig Jahre nach der Gründung der Tschechoslowakei der tschechische Regisseur Martin Frič die Hauptrolle des monumentalen, von der Brünner Lloydfilm-Gesellschaft produzierten Tonfilms Jánošík (1935) mit dem Zweimetermann Paľo Bielik besetzte, erschien auf der Leinwand ein jugendlich strahlender Held mit blonden Zöpfen, breitkrempigem dunklem Hut, weitem hellem Schäferumhang und breitem metallbeschlagenem Gürtel. Diese Elemente der Hirtenkultur, die in der Zwischenkriegszeit als archaische Elemente der slowakischen Tradition52 präsentiert wurden, unterschieden sich bereits diametral von den frühen Darstellungen der Hinterglasmalerei und vollendeten die Slawisierung und Slowakisierung des Äußeren der Figur. Einen Kontrast zu dieser ländlichen Ausstattung bildet die relativ moderne Filmsprache. Experimentelle Verfahren wie eine kühne Schnitt- und Montagetechnik, Überblendungen und Vervielfältigungen stellen das Uniformierte und Maschinenhafte der überlegenen gegnerischen Soldaten dar. Zur Monumentalisierung der Hauptfigur tragen die Froschperspektive und Nahaufnahmen des idealen, aktivistischen, unversehrten, reinen männlichen Körpers, die aufrechte Haltung und das strahlende Weiß der Kleidung bei. Obwohl der Held scheitert und hingerichtet wird, verwandelt er sich schließlich zum Siegeridol. Dazu trägt auch die grandiose Schlussszene bei. Jánošíks furioser letzter Tanz unter dem Galgen verkörpert die übermenschliche Vitalität und den Freiheitswillen des Helden (Abb. 4 bis Abb. 15). Nach der Urteilsverkündung erscheint plötzlich ein Zigeuner mit Geige. Beim Einsatz der Musik beginnt sich der Angekettete zu bewegen, zersprengt seine Fesseln und fällt bei immer schneller werdenden Rhythmen, betont durch immer kürzer werdende Schnittsequenzen, in einen ekstatischen Tanz, bis er plötzlich innehält. Voller Todesverachtung weist er die Begnadigung zurück, reißt heroisch das Hemd über der Brust auf und schleudert seinen Henkern den Satz entgegen: „Wenn ihr mich schon gebraten habt, so fresst mich auch auf“. Danach fliegt er an den Haken und verharrt in waagrechter Position. Vor dem Blick des Sterbenden erhebt sich
52 Rastislava STOLIČNÁ, Von einer „unverdaulichen Speise“ zum Nationalsymbol, in: Hannes STEKL, Elena MANNOVÁ (Hg.), Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, Wien 2003, S. 319–350.
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ein hoher Berg unter schwarzen Gewitterwolken, von dem reißende Wassermassen herabstürzen. Das ist ein Rückgriff auf das erwähnte romantische Versepos Smrť Jánošíkova (Jánošíks Tod) von 1862 und wiederum ein direktes Zitat der slowakischen Nationalhymne, die auch in der Musik angespielt wird. Das Schlussbild des Films zeigt die Blitze über der Tatra in Form eines Doppelkreuzes. Vermutlich war diese plakative Einblendung des slowakischen Staatssymbols die filmische Notlösung in einem finanziellen Engpass – im Ergebnis verknüpfte sie die Heldenfigur des Räuberhauptmanns definitiv mit der slowakischen politischen Nation. Der oberungarische Heiducke, Pandur oder Husar hatte sich zum slawischen Bauern, zum Hirten und zum slowakischen Nationalhelden verwandelt. Seine Konversion war vollzogen, und der Schauspieler Paľo Bielik verkörperte ein ganzes Jahrhundert lang den slowakischen Jánošík-Mythos. Abbildungen 4 bis 15: Pavol Bielik in der Schlussszene des Films Jánošík, 1935
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AUSBLICK Die modernen Massenmedien machten den Karpatenräuber Juraj Jánošík nicht nur zur erfolgreichsten slowakischen mythischen Figur, er gehört auch ostmitteleuropaweit zu den schillerndsten rural Outlaws. Geschmeidig zwischen Hoch- und Populärkultur fluktuierend, hat er fast jedes Kunstgenre infiltriert. In der Literatur bemächtigten sich nach den Romanciers die Kinderbuchautoren der Figur, in der bildenden Kunst reicht das Spektrum von Malerei, Illustration, Denkmal bis zu Performance und Comic, es entstanden weitere slowakische und polnische Verfilmungen, Animationsfilme und postmoderne Videoclips, eine slowakische Nationaloper und ein polnisches Musical. Jánošík gibt es in pathetischer und profaner, repräsentativer und subversiver, tragischer und komischer Gestalt. Intellektuelle unterzogen ihn der Kritik, und populistische Staatsmänner vereinnahmten ihn trotzdem wieder. Er wurde von Tourismus und Werbung kommerzialisiert und in Film, Theater und Karikatur parodiert. Als jüngstes Beispiel seiner Revitalisierung sei die Verfilmung Janosik. Prawdziwa historia (J. eine wahre Begebenheit, 2009) der polnischen Regisseurinnen Agniezska Holland und Kasia Adamik genannt. Die polnisch-slowakisch-tschechischungarische Koproduktion bringt wieder die regionale Identität des Karpatenräubers ins Spiel. Überraschend ist an all diesen mannigfaltigen Inszenierungen, dass Jánošík immer noch seine angestammten ikonografischen Merkmale trägt. Immer noch sieht man in den Realisierungen grüne Hemden, rote Umhänge und hohe Kolpaks, aber auch Leinenkittel, überbreite messingbeschlagene Hirtengürtel mit mehreren Schnallen und ausladende schwarze Hüte. Nicht selten wechseln die Räubergesellen in den Inszenierungen ihr Kostüm und sie können auch Elemente beider Zugehörigkeiten zugleich tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die regionalen oder nationalen, die ungarischen oder slowakischen Zuschreibungen der Figur ihre politische Brisanz. In der Ikonografie, auf der Zeichenebene, sind sie aber immer noch präsent, denn „die einzelnen Elemente, die sich zu einem kulturellen Kontext zusammenfügen, behalten, auch wenn sie mit anderen eine neue Konfiguration eingehen, ihre ursprüngliche Authentizität [...].“53 Die Alternationen und
53 Moritz CSÁKY, Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes: Viel-
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Doppelcodierungen sind dann nicht unbedingt ein Symptom postmoderner Beliebigkeit, sondern sie zeigen eine Bewegung an: die Migration der Zeichen im Reservoir eines kulturellen Palimpsests. Das spricht für die enorme Resistenz kultureller Codes und Zeichen, die auch dann noch durch die Welt migrieren, wenn ihre Urheber und politischen Bedeutungen längst vergessen sind.
fachkodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck–Wien–München 2000, S. 27–49, hier S. 43.
Migration und Kunst
Spiegel im fremden Wort Die Erfindung des Lebens als Literatur1 V LADIMIR V ERTLIB (S ALZBURG)
H OLPRIGKEITEN , L ÜGEN , N EUKREATIONEN 2 Wenige Tage nachdem im Frühjahr 1995 mein erstes Buch, die Erzählung Abschiebung, publiziert wurde, fand im Salzburger Literaturhaus die Buchpräsentation statt. Es war die zweite Lesung in meinem Leben. Einige Monate zuvor hatte ich im Rahmen eines Literaturfests in Wien eine Kurzgeschichte – meine erste literarische Veröffentlichung – vorgestellt. Bei meinem Auftritt hatte ich mehr gestammelt als vorgelesen. Kein Wunder also, dass ich nun sehr nervös war. Ich bewältigte den Text trotzdem. Größere Katastrophen blieben mir erspart. Die Stimme versagte mir nicht, ich übersprang keine Zeilen, hatte keine Freudschen Versprecher, warf das Wasserglas nicht um und scharrte nicht mit den Füßen. Meine Lektorin saß neben mir auf dem Podium. Sie stellte mir im Anschluss an die Lesung ein paar Fragen zur Entstehung des Buches. Danach eröffnete sie das Publikumsgespräch. Der Saal war voll. Niemand wollte sich zu Wort melden. Etwa eine halbe Minute lang blieb es still.
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Es handelt sich bei den folgenden Passagen um Ausschnitte aus dem Band: Vladimir VERTLIB, Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. Mit einem Nachwort von Annette Teufel und Walter Schmitz sowie einer Bibliographie, Dresden 2007. Ebenda, S. 45–47.
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Ich wurde immer nervöser. Jetzt kommt der Augenblick der Wahrheit, dachte ich. Jemand wird aufstehen und eine Frage stellen, die ich nicht beantworten kann. Ich hatte nie Germanistik oder Literatur studiert, doch ich wusste, dass einige Germanistikstudenten und sogar Professoren im Saal waren. Ich hatte Angst davor, mit Fachausdrücken konfrontiert zu werden, die ich nicht verstehen, oder mit kritischen Bemerkungen, denen ich nichts entgegnen würde können. Schließlich zeigte ein junger Mann in der hinteren Reihe auf. Er schaute nicht mich, sondern meine Lektorin an und fragte in einer Mischung aus Hochsprache und Dialekt: „Warum spricht denn der so gut Deutsch? Das ist ja nicht seine Muttersprache, aber er hat überhaupt keinen Akzent! Wieso ist das so?“ „Diese Frage reiche ich gleich an den Autor weiter“, meinte die Lektorin. Ich zögerte, holte tief Luft und sagte, zuerst unsicher, dann immer selbstbewusster: „Wissen Sie, das ist so: Wenn ein Zuwanderer die neue Sprache vor der Pubertät, bei Knaben – und das ist sehr wichtig – vor dem Stimmbruch, erlernt, dann macht er meist keine Grammatikfehler und hat keinen Akzent. Lernt er sie hingegen später, wird er sie nie wie ein Einheimischer beherrschen. Das ist eine Theorie, die von namhaften Ärzten und Linguisten vertreten wird. Ich persönlich kann sie nur bestätigen. Ich habe Deutsch im Alter von sechs, sieben und acht Jahren gelernt. Deshalb habe ich keinen Akzent, mache nur noch selten Fall- oder Zeitfehler und spreche sogar, wenn ich will, Dialekt.“ Zu meiner Überraschung gab sich der junge Mann aus der hinteren Reihe mit dieser Antwort zufrieden. Im ganzen Saal gab es weder Gelächter, noch regte sich Widerspruch gegen meine Behauptungen. Die Leute nickten. Später, beim Signieren der Bücher, meinten einige, sie hätten von meiner „Pubertätstheorie“, die ich doch selbst eben erst erfunden hatte, schon gehört. Jemand erklärte mir, dass auch Mädchen einen Stimmbruch hätten, nur dass dieser nicht so ausgeprägt sei wie bei Burschen, und er fügte hinzu, dass „das soziale Umfeld wohl auch eine gewisse Rolle spielen dürfte“. Die Frau, die bei ihm einmal in der Woche die Wohnung putze, sei im Alter von zehn Jahren von Ostanatolien nach Salzburg gekommen. Sie habe leider immer noch einen schweren türkischen Akzent …
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Vor einigen Jahren nahm ich an einem Literaturtreffen in einer deutschen Kleinstadt teil. Es war Hochsommer. Die Workshops, Lesungen und Seminare fanden meist im Freien, im weitläufigen Park einer Jugendstilvilla, statt. Dort nahmen die etwa zwanzig Teilnehmer des Treffens auch ihre Mahlzeiten ein. Die Verköstigung war im Stipendium mitenthalten. Die Veranstalter hatten sich sehr bemüht, ihren Gästen – allesamt „Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation“ – den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Für das leibliche Wohl wurde gut gesorgt, und so ist mir von diesem Treffen vor allem das gute Essen in Erinnerung geblieben. Eines Tages gab es ein besonderes Festessen: Spanferkel. Es lag auf einem großen, langen Tisch, der auf der Terrasse stand, und war äußerst kunstvoll mit Äpfeln, Gemüse und Grünzeug geschmückt. Doch kaum hatte ich mich dem Tisch genähert, zupfte mich einer der Veranstalter am Ärmel und meinte halblaut, da ich jüdisch sei, habe man für mich extra etwas anderes zubereitet. Daraufhin führte er mich zu einem etwas kleineren Tisch, auf dem zwei Töpfe standen. In einem von ihnen befanden sich Nudeln, in dem anderen, wie mir sogleich versichert wurde, „eine rein vegetarische Sauce“. Ich war überrascht, hatte ich doch während dieses Treffens weder nach koscheren Gerichten verlangt noch jemals behauptet, kein Schweinefleisch zu essen. Ich wurde auch nie danach gefragt. Wenn ich in den vorangegangenen Tagen auf meine jüdische Herkunft angesprochen wurde, hatte ich immer erklärt, kein gläubiger Mensch zu sein und das Judentum in erster Linie als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen. Da ich aber nicht unhöflich sein wollte, nahm ich mir einen Teller Nudeln. Inzwischen hatten andere Kollegen den Nudeltopf entdeckt und sich hinter mir angestellt. Doch auch diesmal erwies sich der stets höfliche, diskrete und wohl deshalb fast immer nur halblaut redende Veranstalter als konsequent. „Die Nudeln sind für Herrn Vertlib“, meinte er. „Wir haben nur für eine Person gekocht, da Herr Vertlib bekanntlich …“ Hier verstummte er für einen Augenblick. „Herr Vertlib ist Jude und ich bin Vegetarierin“, meinte eine Autorin. „Ich auch“, erklärte ein Autor. „Ach so“, murmelte der Veranstalter. „Dennoch – es tut mir Leid. Aber wir haben ja noch Gemüse. Brot und Aufstriche. Und natürlich die Nach-
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speise.“ Inzwischen hatte ich mich mit meinem Nudelteller am anderen Ende der Terrasse angestellt. „Vom Fleisch möchte ich wirklich nichts“, erklärte ich. „Aber von der Fleischsauce hätte ich gerne ein bisschen was.“ Ich hatte den Eindruck, die Veranstalter des Literaturtreffens seien danach nicht mehr so freundlich zu mir gewesen. Später verarbeitete ich das „Spanferkelerlebnis“ zu einer Szene in meinem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur.
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Vor einiger Zeit hielt ich an einem deutschen Gymnasium eine Lesung ab. Meine Zuhörerschaft, Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse, fanden Gefallen an meinen Texten. Noch mehr interessierten sie sich allerdings für meine Biographie. Ich erzählte bereitwillig von der Odyssee, die ich als Kind und als Jugendlicher durchmachen musste, erwähnte alle Orte, an denen ich mich aufgehalten hatte, und sprach darüber, was ich damals empfunden und welche Auswirkungen die Emigration auf mein späteres Leben hatte. Die Schülerinnen und Schüler schienen von meinen Worten beeindruckt zu sein. Einige von ihnen waren selbst als Immigranten nach Deutschland gekommen und berichteten, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich. Nachdem die Schulstunde zu Ende war, dankten mir die Lehrer für die „interessante und wichtige Veranstaltung“. Der stellvertretende Direktor meinte, er habe zwar viel Arbeit, bereue es aber trotzdem nicht, meine Lesung und das anschließende Gespräch miterlebt zu haben. Als ihn die Klassenlehrerin gebeten habe zu kommen, habe er geschwankt, ob er sich die Zeit dafür nehmen solle oder nicht. Nun sei er froh, dabeigewesen zu sein. „Sie haben eine so interessante Biographie!“, meinte er. „Was kann ich dem schon mit meiner behüteten Kindheit im Nachkriegsdeutschland entgegensetzen. Aber ich habe einen jüdischen Freund, der in den Dreißigerjahren nach Shanghai flüchten musste. Seine Erzählungen sind ähnlich spannend wie Ihre.“ Zuerst wollte ich widersprechen. Meine Kindheit und Jugend hatte ich keineswegs als „spannend“ in Erinnerung. Das Leben eines Emigranten ist
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neben allen Spannungszuständen, auf die er gerne verzichten würde, in erster Linie trostlos. Die vielen Stunden, die ich in den Warteräumen der österreichischen Fremdenpolizei oder diverser anderer Behörden verbracht habe, assoziiere ich vor allem mit Langeweile und vergeudeter Lebenszeit. Aber ich wollte nach der Lesung nicht wiederholen, was ich im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern ohnehin schon ausführlich erläutert hatte. Wenn jemand nur das hört, was er hören möchte, dachte ich, wird er seine Klischees zu verteidigen wissen. Heute bereue ich, dass ich damals geschwiegen habe. Manchmal ist Widerspruch eine Frage des Prinzips. Den äußerst bedenklichen Vergleich meiner Biographie mit der eines Verfolgten und Vertriebenen der NS-Diktatur hätte ich auf jeden Fall zurückweisen müssen. Während der Emigration ist mein Leben niemals bedroht gewesen. Als Kind wurde ich ausgegrenzt, manchmal beschimpft, einige Male geschlagen, aber ich wurde nicht misshandelt, und niemand hatte je gedroht, mich zu ermorden. Dennoch hätte ich gerne mein Leben gegen jenes mit einer so genannten „behüteten Kindheit“ ausgetauscht.
Mimikry, Groteske, Ambivalenz Zur Ästhetik transnationaler Migrationsliteratur E VA H AUSBACHER (S ALZBURG)
Als „russische Nomadin im Ausland“ bezeichnet sich Julia Kissina in dem Essay Friert ihr im Winter?1 1966 in Kiew geboren und dort aufgewachsen, lebt die Autorin seit 1990 in Deutschland. Die Erfahrung der „internen“ Differenz, die Kissina während ihrer Kindheit und Jugend als Russin in der Ukraine gemacht hat, wird in ihrem Text nicht reflektiert und spielt auch in den Erzählungen des 2005 erschienenen Bandes Vergiss Tarantino2 keine Rolle. In diesen Erzähltexten begegnet sie der Problematik des interkulturellen Miss-/Verstehens zwischen Ost und West auf großteils ironische Weise und unter Einsatz der Darstellungsstrategien Mimikry und Groteske. Zu ihren Protagonisten zählen russische Migranten, denen sie die Funktion von Katalysatoren zuschreibt, die das Eintönige und Normale unserer westlichen Alltagskultur verfremden und transformieren. In der plakativen Zurschaustellung stereotyper Unterschiede zwischen Russen und Deutschen zeigt sie mit Mitteln der Groteske die Entgegensetzung kultureller Systeme. Es gehe ihr um die Zerstörung von festgefahrenen Kulturwerten, meint Ju-
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Julia KISSINA, Friert Ihr im Winter?, in: Die Zeit, 5. Januar 2006, S. 54. Der Erzählband Vergiss Tarantino wurde – so die Autorin – ausschließlich für das deutschsprachige Lesepublikum geschrieben, das russische Original bleibt unpubliziert. Die ästhetische Wirkung ihrer Tarantino-Texte entfaltet ihr subversives Potenzial nur im Kontext unserer, d. h. der deutschsprachigen Kulturordnung.
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lia Kissina im Gespräch3, die sie durch das Eindringen von fremden Kultur(wert)en erreicht. Als Schleuse dafür dient ihr die groteske Darstellungsweise, im Modus des Grotesken treibt sie die De(kon)struktion der kulturellen Ordnungen voran. Einen Hinweis auf das Groteske als Schlüsselkategorie für das Verständnis der Texte gibt bereits die Umschlaggestaltung des Erzählbandes. Es handelt sich dabei um eine Fotoarbeit Julia Kissinas aus der Serie Toys (1998–2000),4 in der sie zwischen Schönheit und Schrecken situierte Misch- und Phantasiekörper darstellt, die durch partielle Metamorphosen zu anderen, phantastischen Wesen geworden sind. Das Bild trägt den Titel Geroinja (russ. Heldin) und zeigt eine in der freien Natur auf erdigbraunem Boden sitzende und mit grünen Blättern umrankte Figur vom Nabel abwärts, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß haltend. Das groteske Moment stellt sich durch die Dreibeinigkeit dieser Figur ein; zwischen den beiden Beinen, die Strümpfe mit ornamentalem Blumenmuster tragen,5 hat sich ein drittes, auf den ersten Blick identisches, beim genaueren Hinsehen allerdings nur ausgestopftes Puppenbein eingeschlichen. Kissinas groteske (Bild-)Ästhetik der Deformation ist hier durchaus rückgebunden an die altbekannte Semantik traditioneller ikonografischer Bildcodes (im Sitzen lesendes Mädchen in heimeliger Natur deutscher Waldeinsamkeit), sodass sich die Irritation lediglich durch das Detail der Dreibeinigkeit einstellt.6 Damit favorisiert Kissina eine ästhetische Kategorie, die Groteske, die als typisches Übergangsphänomen in der Kulturgeschichte immer schon als Motor für Kulturwandel, als Bewegung des (Anders-)Werdens wirksam war. Ich korreliere diese Einschätzung des Grotesken, wie sie Peter Fuß in seiner Studie Das Groteske. Ein Medium kulturellen Wandels7 vorschlägt, mit den durch Globalisierung und Migration ausgelösten kulturellen Veränderungen, für die Kissina als Russin in Deutschland in besonderem Maße sensibilisiert ist. Im Folgenden möchte ich an ihren Arbeiten beispielhaft
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Es handelt sich um ein Telefongespräch, das ich im März 2007 mit der Autorin geführt habe. Julia KISSINA, Toys, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2000. Die Wahl des Musters der Strümpfe ist sicher nicht zufällig, liegen doch die Ursprünge der Groteske in der ornamentalen Malerei. Vgl. Sybille EBERT-SCHIFFERER, Julia Kissina. Fotografie. Toys / 1998–2000, (http://kunsthalle-zoo.de/fotografie/toys_txt.html) (Zugriffsdatum: 29.3.2007). Peter FUSZ, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln–Wien u. a. 2001.
M IMIKRY, G ROTESKE, A MBIVALENZ
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zeigen, dass Mimikry und Groteske zwei Verfahren, zwei stilistische Posen bzw. Darstellungsmodi sind, die einer Poetik der Migration8 zugeschlagen werden können. Sie bietet uns in ihren Texten keine realistische Wiedergabe ihrer eigenen Migrationserfahrung und deren Aufarbeitung, sondern zeichnet mittels einer grotesken und mimikrierenden Dekonstruktion von Kulturklischees den aktuellen Wandel von monolithischen Kulturblöcken hin zu hybriden Kulturen nach. Im vorliegenden Aufsatz wird nach einer kurzen Klärung meines Verständnisses von Migrationsliteratur und einigen Hinweisen zu meinem Umgang mit postkolonialen Theoremen bei der Analyse von Migrationstexten das Konzept der Mimikry vorgestellt und am Beispiel der Erzählung Mystischer Heroismus von Julia Kissina exemplifiziert. Dieser Erzähltext wechselt im Schlussteil in den Darstellungsmodus des Grotesken, der im zweiten Abschnitt des Beitrags erläutert wird. Abschließend werde ich Kissinas Umsetzung grotesker Verfahren in der Erzählung Sieg der Wissenschaft aufzeigen.
1. M IGRATIONSLITERATUR UND L EKTÜRE
IHRE POSTKOLONIALE
Wenn hier die Rede von einer „Poetik der Migration“ ist, so geht es nicht darum, die Migrationstexte über Gemeinsamkeiten, sondern über ihre Orientierung an spezifischen Diskursen, die oft unterschiedlich literarisiert werden, zu fassen. Eine Poetik der Migration kann nur ein offenes Modell sein, das hervorstechende Strukturen in Variationen aufgreift. Für die Beschäftigung mit zeitgenössischer Migrationsliteratur aus dem russischen Kulturkontext erachte ich eine Abgrenzung von der klassischen Emigrationsliteratur für unerlässlich: Die eigentlich außerliterarischen Differenzfaktoren – politische Motiviertheit und Unfreiwilligkeit des Kulturwechsels bei den Emigrationsautoren vs. freiwillige und nicht primär politisch motivierte Migration – haben m. E. auch Auswirkungen auf die ästhetische Gestaltung dieser Literaturen. Bleibt die Emigrationsliteratur weitgehend 8
Vgl. Eva HAUSBACHER, Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur, Tübingen 2009 (Stauffenburg Discussion 25). Der vorliegende Beitrag ist die gekürzte Version eines Teilkapitels dieser Studie.
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einem nostalgischen Opferdiskurs verhaftet und strebt die Angliederung an die kanonische Nationalliteratur an,9 orientiert sich also stark an der Herkunftsliteratur oder passt sich – im Gegensatz dazu – weitgehend an die kulturellen Verhältnisse des Gastlandes bis hin zum Sprachwechsel an,10 so entwickelt die Migrationsliteratur neue, im Zeichen der Transkulturalität stehende ästhetische Paradigmen. Dieser Paradigmenwechsel wird auch in der Forschungslandschaft sichtbar, in der es vermehrt zu einer Abwendung von thematischen und inhaltlichen Untersuchungskriterien kommt, wie sie für die Exil- bzw. Emigrationsliteraturforschung kennzeichnend waren. Gegenwärtig werden ästhetische und poetologische Fragestellungen behandelt. Darüber hinaus muss die zeitgenössische, transnationale Migrationsliteratur auch von der sogenannten Migranten-, Gastarbeiter- oder Ausländerliteratur differenziert werden, die entweder unter dem Schlagwort der Betroffenheit oder der Kulturenvermittlung rezipiert wird, der aber Elemente der transkulturellen Hybridisierung fehlen.11
9
Diesen Typus verkörpert z. B. Sergej Dovlatov, vgl. Birgit MENZEL, Ulrich SCHMID, Der Osten im Westen. Importe der Populärkultur, in: Osteuropa 57/1 (2007), S. 3–21. 10 Diesen Typus verkörpert Vladimir Nabokov (vgl. ebenda). 11 Zur Definition von Migrationsliteratur siehe Heidi RÖSCH, Migrationsliteratur als neue Weltliteratur?, in: Sprachkunst XXXC/1 (2004), S. 89–109, insbesondere S. 97. Die Differenz- bzw. Klassifikationskriterien, die jeweils bestimmte Einzelaspekte stärker in den Vordergrund stellen und damit die Präferenz eines bestimmten Begriffes ausmachen, sind Produktions- und Rezeptionsparameter, Inhalte bzw. Sujets und natürlich auch ästhetische Verfahren. Es zeigt sich, dass die semantischen Akzentuierungen der verschiedenen Begriffe zum einen sehr differieren, zum anderen sich aber auch überschneiden und oftmals keine eindeutige Unterscheidung der verschiedenen kulturellen Ebenen möglich ist, weshalb ein Perspektivenwechsel nötig ist, der die verkürzende Binäropposition von politischem Engagement („Betroffenheitsliteratur“) vs. ästhetischer Komplexität auflöst. Wenn die Gattungsbestimmung die Produktionsseite betont, meint Migrationsliteratur die Literatur von Migranten und geht von der Autorenbiografie und den besonderen Umständen der Entstehung dieser Texte aus. Wird die Aufmerksamkeit auf die Rezeptionsseite gelegt, so setzen die Gattungsangaben „Migranten- bzw. Ausländerliteratur“ ähnlich wie andere Gattungsangaben, die Personengruppen benennen (Arbeiterdichtung, Jugendliteratur, Künstlerroman u. Ä.), die Texte zu einem als charakteristisch betrachteten „Klassenmerkmal“ ihrer Autoren, Adressaten, Stoffe oder Themen in Verbindung, das von der jeweiligen Klasse rezipiert wird. Heidi Rösch wendet in ihrer Reflexion über den Begriff der Migrationsliteratur ein, dass weder die Autorenbiografie noch die Eingrenzung auf ein bestimmtes Lesepublikum über die Zugehörigkeit zu Migrationsliteratur entscheiden, sondern in erster Linie die Texte und ihr Gehalt, d. h. thematische und ästhetische Kriterien. Sie plädiert für eine Öffnung der
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Häufig werden die transkulturellen Kennzeichen der zeitgenössischen Migrationsliteratur in einer metaphorischen Konzeption gefasst, wie sie z. B. das Rhizommodell von Gilles Deleuze und Félix Guatarri, die Bildlichkeit der Porösität bei Walter Benjamin, jene der Diversität bei Edouard Glissant oder der Vektorisierung bei Ottmar Ette bieten. Um aber über die bloß metaphorische Charakterisierung hinaus ein Werkzeug für die konkrete Textanalyse zu erhalten, nehme ich Anleihe an Theoremen der Postcolonial Studies – die drei Begriffe im Titel dieses Beitrags Ambivalenz, Mimikry, Groteske weisen darauf hin – und übertrage sie auf das Phänomen der transkulturellen Migrationsliteratur. Postkolonial verstehe ich hier als eine spezifische Lektüre- und Analysestrategie, mit deren Hilfe sich kulturelle Hybridisierungsprozesse als literarische Inszenierungen beschreiben lassen. Als Analysekategorien bieten sich bei entsprechender Akzentuierung alle Kategorien der klassisch-strukturalistisch ausgerichteten Narratologie an.12 Beispielsweise kann in Bezug auf die Figurenkonstellation gefragt werden, inwiefern dynamische, statische, mehrdimensionale oder typisierte Figuren entworfen werden; oder in Bezug auf die Perspektivenstruktur, welches Wirkpotenzial eine bestimmte Erzählsituation hervorruft, ob sie eine offene oder geschlossene, eine monologische oder dialogische Struktur anbietet. Narratologisch schwerer zu fassen – aber gerade deshalb besonders herausfordernd – sind solche Konzepte der postkolonialen Theorie, die sich im Anschluss an die poststrukturalistische Grundannahme einer permanenten Aufschiebung von Bedeutung bewusst einer eindeutigen Definition entziehen. Dies trifft z. B. für Homi Bhabhas dynamisch und prozessual konzipierte Kategorien der Mimikry und der Ambivalenz zu.13 In den beim Zusammentreffen von Kulturen sich öffnenden Räumen zwischen unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Überlieferungen ersetzt die de-
Migrationsliteratur hin zu einheimischen Autoren. Schwerpunkt der literarischen Darstellung von Migrationsautoren liegt demnach für Rösch nicht beim Akt der Migration und dem Migranten als handelnder Person. Vielmehr werden Folgen des Übergangs in eine fremde Situation gezeigt, in der das erzählte Subjekt sich und die Welt wahrnimmt. Diese Fokussierung geht in Richtung „interkulturelle Literatur“ als Literatur des Dialogs, des Austauschs, der Verschmelzung. 12 Zur Verbindung einer primär textimmanent und formal orientierten Narratologie mit den eher thematisch, kontextuell und ideologiekritisch ausgerichteten Postcolonial Studies siehe: Hanne BIRK, Birgit NEUMANN, Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie, in: Ansgar NÜNNING, Vera NÜNNING (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 115–152. 13 Ebenda, S. 145f.
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konstruktive bzw. poststrukturale Logik der Hybridität die dialektische Identitätslogik: Identität wird als konfliktiv und verhandelbar (negotiation) verstanden und in ihrer Beschreibung wird nicht mehr auf Ursprungserzählungen zurückgegriffen. Diese Ambivalenz in Bezug auf kulturelle und personale Identität wird in den Texten an den Kategorien Zeit, Raum und Figuren manifest. Sehr häufig arbeiten transkulturelle Texte mit der Duplizität von Zeit und Raum: Verschiedene Orte werden miteinander verschränkt, sodass sich sogenannte Mischorte bilden. Doppelte oder multiple Persönlichkeiten und Doppelgängerfiguren, wie sie auch das Freud’sche Unheimliche kennt, werden eingeführt, analeptische Erzählformen, die die Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart sichtbar machen, verwendet. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch auf der Ebene der rhetorischen Figuren: Hier sind es in erster Linie solche, die Gefühlsambivalenz, das unheimliche Oszillieren zwischen verschiedenen Positionen und verschiedenen Doppelungen ausdrücken, wobei alle diese Figuren dazu dienen, Fixierungen, Stabilitäten und eine transparente Selbstidentität zu unterlaufen.14 1.1 Mimikry Die Mimikry gilt als eine in der postkolonialen Theorie ganz zentrale Ambivalenzstrategie. Der Begriff Mimikry leitet sich vom griechischen Mimesis-Begriff ab und hat seine Konturen in verschiedenen Prozessen der Ausgrenzung gewonnen.15 Bhabha fasst ihn als Strategie zur Intervention gegen Mechanismen der identitären Festschreibung. Im vierten Kapitel seiner Verortung der Kultur (1994), das den Titel „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ trägt, beschreibt Bhabha Mimikry zunächst als Teil hegemonialer bzw. kolonialer Diskurse,16 inner-
14 Vgl. Elisabeth BRONFEN, Ein Gefühl des Unheimlichen. Geschlechterdifferenz und kulturelle Identität in Bharati Mukherjees Roman Jasmine, in: Michael KESSLER, Jürgen WERTHEIMER (Hg.), Multikulturalität: Tendenzen, Probleme, Perspektiven im europäischen und internationalen Horizont, Tübingen 1995, S. 9–30. 15 Vgl. Claudia BREGER, Mimikry als Grenzverwirrung. Parodistische Posen bei Yoko Tawada, in: Claudia BENTHIEN, Irmela Marei KRÜGER-FÜRHOFF (Hg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart und Weimar 1999, S. 176–206, hier S. 177. 16 Homi BHABHA, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [engl. Original: 1994].
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halb derer sie allerdings zur Widerstandsstrategie werden kann. In seinem Assimilationsstreben versucht der Einheimische (als mimic man) dem Kolonialherrn gleich zu werden, während der Kolonialherr seinerseits in Verfolgung seiner Machtausübung dem Einheimischen immer ähnlicher wird. Beide Angleichungsprozesse sind durch das Freud’sche Moment des Unheimlichen determiniert, bei dem die Ähnlichkeit sowohl vordergründig bestätigt als auch durch die unauflösbare Differenz ständig re- und dekonstruiert wird.17 Es ist gerade diese Ambivalenz, in der das subversive Potenzial der Mimikry liegt. Sie ist eine Form des Unangeeigneten, eine Verhaltensweise, bei der man nicht mehr zwischen Unterwerfung und Herrschaftsanspruch unterscheiden kann und wodurch Autorität unterlaufen wird. Mimikry bewegt sich also in einem Zwischenraum, der die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt aufbricht und verschiebt. Dass diesem Geschehen auch ein gewisses Maß an possenhafter Komik eignet und in der Imitation ein Sich-Lustig-Machen liegt, wird gerade in den literarischen Umsetzungen sichtbar. Als Gebiet zwischen Ernst und Posse18 wird literarische Mimikry zur Repräsentation, in der Figuren der Verdoppelung die Aneignung der kolonialen Haltung zum Teil umkehren, indem sie ihre partielle Präsenz wiederholen. Sie sind „fast dasselbe, aber nicht ganz“19 und kultivieren darin die Differenz. Das Mimikry-Konzept wird u. a. bei Kaja Silverman und Judith Butler aus dem kolonialen Kontext herausgenommen, was dessen Applizierung auf die transnationale Migrationsliteratur anschaulich macht: Silverman20 bezeichnet Mimikry als eine Pose, eine aktive Identifizierungshandlung, die – in der mimetischen Bezugnahme auf gesellschaftliche Vorgaben – dem Subjekt andere Grenzen gibt. Zentral bei Silverman ist die Forderung nach einer – nicht zuletzt durch Theatralisierung und Reflexion ermöglichten – Distanzierung von kulturellen Idealen und Normen, die in der künstlerischen Praxis gleichmachende Identifizierungen stören. Migrationstexte reflektieren die Theatralität kultureller Identität, deren Ausstellung Silverman als eine der Bedingungen mimischer Subversion nennt; sie machen die
17 Vgl. Monika FLUDERNIK, Grenze und Grenzgänger: Topologische Etüden, in: Monika FLUDERNIK, Hans-Joachim GEHRKE (Hg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999, S. 99–108, hier S. 106. 18 Vgl. BHABHA, Die Verortung der Kultur, S. 127. 19 Ebenda, S. 132. 20 Kaja SILVERMAN, The Threshold of the Visible World, New York u. a. 1996.
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herrschende Norm als solche sichtbar. Butler21 akzentuiert den Akt des Wiederholens: Da es keine identischen Wiederholungen geben kann, weisen diese nie ein nur reproduzierendes, sondern immer auch ein veränderndes Moment auf. Innerhalb dieses Nexus aus Konvention und Innovation, aus Wiederholung und Differenz ist für Butler ein auf Veränderung zielendes Agieren denkbar. An die Stelle einer Wirksamkeit, die im Bruch mit Konventionen liegt, tritt deren mimikrierender Gebrauch, dem immer auch ein transformatorisches Potenzial innewohnt. 1.1.1 Julia Kissinas subversive Mimikry Wie setzt nun Kissina diese Strategie der Mimikry ein? Die Erzählinstanz von Kissinas Texten bildet immer die diskursive Position der Russin, von der aus deutsche und russische Kulturstereotype artikuliert werden. Indem sie diese Stereotype und Klischees hyperbolisch, diminutiv, aber auch grotesk-dissoziierend und ver-rückend wiederholt, stellt sie sie ironisierend aus. Kissina „zerpflückt“ die gegenseitigen Kulturklischees nicht analytisch, im Gegenteil, ihre Protagonisten reproduzieren diese. Dadurch wird deren Artikulation verdoppelt, die Verdoppelung wiederum eröffnet den Zwischenraum für deren Subversion. Dieser Verdoppelungsmechanismus wird beispielsweise in der Erzählung Doppelter Jesus eingesetzt, die den Erzählband Vergiss Tarantino eröffnet. Er zieht sich durch die gesamte Textgestaltung und gipfelt in der finalen Jesus-Erscheinung als doppelte Figur, die die dichotome Textstruktur – hier die russische Seite, der Chaos und Irrationalität zugeordnet sind, dort die deutsche Seite der Ordnung und Vernunft – aufbricht. Ähnlich funktioniert auch die Erzählung Mystischer Heroismus, in deren Zentrum Madam steht, eine exzentrische russische Künstlerin, die mit ihren spektakulär-blutigen Performances in der Berliner Kunstszene Aufsehen erregt. Ihre Fangemeinde besteht hauptsächlich aus skurrilen Typen, die Russland bzw. ihr klischeehaft besetztes Bild davon lieben. Auf den Performances wird deren projektives Begehren auch bedient: Madam gibt sich mystisch, radikal und erotisch: Die Verehrer von Madam waren echt Besessene, fragile Berliner Intellektuelle, die auf Russen standen. Diejenigen, die im Westen wohnten, besaßen zu Hause einzig-
21 Judith BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 [engl. Original: 1990].
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artige Sammlungen Original-Matrjoschkas vom Flohmarkt. Bei der Begrüßung und beim Abschied nötigten sie jeden zum dreimaligen Küssen – „auf russisch“. Dabei spielte der „erotische Mehrwert“ keine geringe Rolle.22
Diese Exotik bringt frischen Wind in das Berliner Leben,23 wobei beide Seiten davon profitieren: Die Russen bekommen, indem sie die von ihnen erwarteten Klischees (Erotik, Irrationalität, Radikalität) ausspielen, Anerkennung und Aufmerksamkeit, die Deutschen jenen Kick, der ihren lähmenden Alltag belebt, es ist sogar von einer drogenähnlichen Wirkung der Russen die Rede.24 Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive einer russischen Migrantin, Mutter von vier Kindern, die gemeinsam mit ihrem Liebhaber Dietz – „[auch er] war eine Art Russomane“25 – an diesen Events teilnimmt und so zu dieser „russischen Sekte“26 gehört. Insbesondere Dietz ist sehr von Madam fasziniert und bietet sich ihr als Modell für künftige Performances an.27 Die Erzählerin ist zwar ins Geschehen involviert, sie kennt aber als Russin die hier nur inszenierte russische Welt wirklich, sodass sie – das Spiel durchschauend – eine Distanz in ihrer Erzählweise herstellt, die in der ästhetischen Wirkung des Textes jenen Zwischenraum eröffnet, in dem Kissinas mimikrierende Strategie greift. Höhepunkt bildet die Schilderung einer Kunstaktion, bei der Madam Klebstoff schnieft: „Vor unseren Augen vernichtete sie sich, und das war wunderschön!“28 Inszeniert ist diese Aktion als „heilige Handlung“29, die von der Erzählerin auch – zumindest nach außen hin – als solche angenommen, von Dietz allerdings, der die tödlichen Konsequenzen für Madam sieht, vehement abgelehnt wird. Der rationale Deutsche will die irrationale Russin retten. Als er die Performance stört, kommt es zu tumultartigen Handgreiflichkeiten, bis er schließlich von zwei „Hütern der Kultur“30 zusammengeschlagen wird. Das Ganze endet im Krankenhaus, wo Dietz’ Platzwunde am Kopf genäht werden muss. Dass die Verteidiger der Kunst nicht um der Kunst willen
22 23 24 25 26 27 28 29 30
Julia KISSINA, Vergiss Tarantino, Berlin 2005, S. 82. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 84. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 89.
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handgreiflich wurden, sondern damit nur ihre eigenen Russlandprojektionen schützen wollten, zeigt das Resümee der Erzählerin: Später begriff ich, dass die beiden selbsternannten Ritter, die Dietz den Schädel eingeschlagen hatten, nicht die heilige Kunst verteidigt hatten. O nein! Sie verteidigten in Madam Russland – das Bollwerk ihrer sexuellen Phantasien, ihre erste Berührung mit Emotionen, mit der Poesie der Gewalt, und ihrer verschwommenen lasterhaften Wünsche, in den verbotenen Kosmos des „Alles ist erlaubt“ einzutreten, dessen Türen Madam bei ihren Performances einen Spaltbreit öffnete. Als wäre Dietz mit seiner rationalen Art tatsächlich eine Bedrohung für Russland […].31
2. G ROTESKE Schon bei diesen Kunstaktionen treten Merkmale des Grotesken auf, beispielsweise wird deren Inszenierung als heiliges Ritual durch ihre karnevaleske Beschreibung invertiert (groteske Verkehrung der heiligen Welt). Vor allem aber im abschließenden Teil der Erzählung, der Szene im Krankenhaus, finden sich viele Elemente des grotesken Darstellungsmodus, den ich als zweite zentrale Textstrategie Kissinas vorstellen möchte. Hier wird die dichotomische Reihe deutsch-rational-ordentlich-blutleer vs. russisch-irrationalchaotisch-blutrünstig in umgekehrter Weise reinszeniert. Durch die groteske Darstellung des verwundeten bzw. verarzteten Dietz’ dringt die zuvor dem Russischen zugeordnete kulturelle Andersartigkeit ins Eigene, d. h. in die deutsche Kultur, ein. Die Inversion des Heiligen, wie sie bereits bei den Kunstaktionen stattfindet, wird fortgesetzt, als die Erzählerin den verletzten und blutenden Dietz für den eigentlichen Helden der gesamten Aktion hält und ein an einen Heiligenschein erinnerndes Leuchten um seinen Kopf wahrnimmt: „Ich trug ihn wie das reinste Wesen der Welt, und um seinen Kopf war ein Leuchten.“32 Weiters gehören die Beschreibung seiner offenen Wunde ebenso wie deren Aussehen nach der ärztlichen Behandlung der karnevalesken Konzeption der verkehrten Welt33 und deren grotesker Körperkon31 Ebenda, S. 92. 32 Ebenda, S. 93. 33 Vgl. Michail BACHTIN, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. 1987 [russ. Original: 1965].
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zeption an: Dietz’ Körperinneres quillt durch die offene Wunde nach außen; nachdem sie genäht wird, erinnert ihn die Narbe an das weibliche Geschlecht. Die Prozedur wird als Kriegsritual beschrieben; Dietz’ Lachen klingt dabei derart monströs, dass die Auswirkungen geradezu groteskes Ausmaß annehmen: „Da lachte er lauthals. Er lachte so, dass dem Chirurgen im ersten Stock das Skalpell aus der Hand fiel und ein halbes Dutzend unterlegene Schwestern aufschlitzte. Er lachte wie der Teufel oder wie Savonarola.“34 Ein besonders plakatives Bild, das die groteske Bildersprache zitiert, zeichnet die Erzählerin, als sie sich mit ihrem Helden in symbiotischer Verschmelzung als siamesische Zwillinge imaginiert – auch die Vereinigung des Russischen und des Deutschen nimmt groteske Züge an. Übergeordnete Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Akzentuierungen der Groteske35 ist das dynamische Prinzip. Gleichzeitig erklärt dieses Merkmal wohl auch die Schwierigkeit einer definitorischen Fixierung des Grotesken, das sich in seiner langen Geschichte mit den jeweiligen ästhetischen Paradigmenwechseln mitverändert hat. Das dem Grotesken inhärente dynamisch-schöpferische Prinzip geht einher mit Erneuerungsprozessen in den Künsten. In der Studie von Peter Fuß36 wird das Groteske als Motor und Medium des Kulturwandels eingeschätzt. Genau in dieser ästhetischen Funktion und Wirkungsweise deute auch ich groteske Elemente in der innovativen literarischen Praxis der Migrationsliteratur, die als ein Mosaikstein im Wandel von Emigrations- zu Migrationsparadigmen, von nationalen zu transnationalen Beschreibungs- und Schreibmustern bewertet werden können.
34 Julia KISSINA, Vergiss Tarantino, Berlin 2005, S. 92. 35 „Kayser gelangt zu der Auffassung: ‚Das Groteske ist die entfremdete Welt‘ und erkennt in der wiederkehrenden Präsenz des Monströsen, welches in grotesken Werken zu konstatieren ist, die Realisationsform dieser Entfremdung. […] Bachtin beschreibt das Groteske eher als Bestandteil eines Anti-Systems. Die karnevaleske Freude besteht in der Unterdrückung und Umkehrung der alltäglichen hierarchischen Strukturen.“ (Elisheva ROSEN, Grotesk, in: Karlheinz BRACK, Martin FONTIUS u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart und Weimar 2001, S. 876–900, hier S. 878f.). 36 Vgl. FUSZ, Das Groteske.
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Diese Rolle des Grotesken im Kulturwandel betont auch André Chastel37, der die dynamische Kraft des Grotesken mit dem ihm innewohnenden Prinzip der Regelwidrigkeit bzw. des Normbruchs betont: Ich bin überzeugt, dass man dabei [bei der kunst- und kulturhistorischen Untersuchung grotesker Formen, E. H.] unterschwellig sehr viel über die Modalitäten, die Konstanten und die Unbeständigkeiten unserer Kultur erfährt, wenn es sich auch um eine ambivalente und verschwommene „Kategorie“ handelt, die kein Gegenstück in der gewöhnlichen Gruppierung der Gattungen besitzt und ihrer Definition nach schon zwischen einem dekorativen Vergnügen, einer Darstellung des „Unwirklichen“ und reiner Unterhaltung schwankt.38
Für das Groteske in der bildenden Kunst stellt Chastel folgende Charakteristika heraus: Es ist gekennzeichnet durch eine besondere Raumgestaltung, die – zunächst vertikal, insgesamt aperspektivisch und mit einem großen Ausmaß an grafischem Spiel – auf eine Negation des Raums hinausläuft. Weiters ist die Mischung und Hybridisierung der Motive charakteristisch und ihre Nähe zum Unbewussten und zum Traum. Diese hier herausgestellten Merkmale korrelieren mit zentralen Paradigmen, an denen eine Poetik der Migration operationalisierbar wird: Raumnegation geht im Sinne einer Grenzauflösung durch Verschiebung und Verdichtung vor sich, wie beispielsweise bei den „Mischorten“, die die russische Migrationsautorin Marija Rybakova39 in ihren Texten entwirft; Hybridisierung treffen wir häufig in der Gestaltung von Raum, Figuren und Zeit an; die Nähe zum Unbewussten zeigt sich in den diversen Verdoppelungs- und Ambivalenzmechanismen, in der Internalisierung des Anderen/Fremden, wie sie Bhabha
37 André CHASTEL, Die Groteske: Streifzug durch eine zügellose Malerei, Berlin 1997. 38 Ebenda, S. 12. 39 Dieses Verfahren der Mischorte kennzeichnet Marija Rybakovas Essay Das Rauschen des Thyrrenischen Meeres (in: Gerhard MELZER (Hg.), Es liegt was in der Luft. Die Himmel Europas, Graz 2003, S. 143–152; [russ. Original: 2006]). Dieser Text ist eine literarische Annäherung an den Kulturraum Europa aus der Perspektive einer migrierenden Russin, für die die Problematik ihrer kulturellen Identität in erster Linie eine Orientierungsproblematik ist und über eine von Landschaften, Orten und Räumen geprägte Bildlichkeit entwickelt wird. Dabei wird ein Europa ohne innere und äußere Grenzen entworfen und eine transitorische Identität in der Überlappung und Überlagerung verschiedener Kulturräume entwickelt.
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unter dem Schlagwort der unhomeliness of home gefasst hat. Darüber hinaus benennt Chastel das Karnevalesk-Komische40, das Exotische41 und das Marginale42 als Platzierungen, an die das Groteske dauerhaft, d. h. an die kulturhistorische Entwicklung, gebunden ist und die auch am Beispiel der Erzählungen Kissinas für die Migrationsliteratur geltend gemacht werden können. Dass diese Bestimmungen des Grotesken auch für die Literatur Gültigkeit haben, bestätigt Chastel, wenn er zur Erklärung der grotesken Wandelfunktion auf Michel de Montaignes Analogiesetzung des Essayistischen und des Grotesken zurückgreift; auch ich habe bei meinen Untersuchungen festgestellt, dass die Migrationsautoren eine essayistische Schreibweise favorisieren.43 Peter Fuß stellt in seiner umfassenden Studie das Groteske – so seine Hauptthese – als ein Mittel der Transformation kultureller Formationen dar.44 Er beschreibt es als Ergebnis der Dekomposition, Permutation und modifizierten Rekombination symbolischer kultureller Ordnungsstrukturen.45 Als Objekte dieser Dekomposition nennt Fuß Sprach- und Verhaltensordnung, Erkenntnis- und Geschmacksordnung sowie das diesen Ordnungen zugrunde liegende dichotomische Raster verständlich vs. unverständlich, gut vs. böse, wahr vs. falsch, schön vs. hässlich.46 Das Groteske unterlaufe diese Dichotomien, so Fuß, und ersetze sie durch Ambiguität und Ambivalenz. Diese Einschätzung des Grotesken eröffnet jenen Zugang zur Textur Kissinas, der die transitorische Kraft ihrer Migrationspoetik aufzeigt. Indem Kissina die Kulturbegegnungen zwischen Russen und Deutschen in groteske Szenen kleidet, wird zum einen sichtbar, dass das kulturell Andere eigentlich im Eigenen angelegt ist, allerdings in marginalisierter, ausgegrenzter oder verdrängter Form. Das Groteske ist dabei derjenige Modus, in dem dieses internalisierte Andere an die Oberfläche gelangt. Zum anderen bestätigt sich in Kissinas Texten die von Fuß behauptete Bestimmung des Grotesken als das Nomadische. Die eigene Migrationsbiografie der Autorin
40 41 42 43 44 45 46
Vgl. CHASTEL, Die Groteske, S. 60f. und S. 97. Vgl. ebenda, S. 46. Vgl. ebenda, S. 46. Vgl. HAUSBACHER, Poetik der Migration, insbes. S. 117–122. Vgl. FUSZ, Das Groteske, S. 13. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 13.
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ebenso wie die nomadisch-migratorischen Verhältnisse, in denen ihre Protagonisten leben, bestärken diesen Zusammenhang. Ähnlich wie Kristeva47 und Bhabha48 überträgt auch Fuß seine Beschreibung der Internalisierung des Anderen von der individuell-psychologischen auf die gesellschaftliche bzw. kultursoziologische Ebene: Das aus einer Kultur Eliminierte, das von ihr Verdrängte bleibt als Mangel ständig in ihrem Inneren präsent. Dieser Mangel, dieses Vakuum entwickelt einen Sog, der das Marginalisierte ins Zentrum der Kulturordnung zurückzieht, einen Druck, der die Kulturordnung immer wieder an ihre Grenzen und über sie hinaus treibt. In diesem Sinne ist das Groteske die – nicht individualpsychologisch, sondern kultursoziologisch verstandene – Rückkehr des Verdrängten.49
Dem Grotesken schreibt Fuß in diesem Prozess der Inter- und Externalisierung – er nennt diesen Prozess „virtuelle Anamorphose“50 – die Funktion zu, Träger, Medium oder Ausdruck für dieses internalisierte Andere zu sein. Dass in Phasen, in denen der Kultur- und Gesellschaftswandel in verstärktem Maße vonstatten geht, wie dies zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Fall ist, auch Formen des Grotesken in erhöhtem Maße zu verzeichnen sind, können wir hier nicht nachweisen. Dass es aber gerade Migrationsautoren wie beispielsweise Kissina sind, die in der literarischen Umsetzung bzw. Ausgestaltung dieses Prozesses auf den Darstellungsmodus des Grotesken zurückgreifen, verstärkt die Argumentation von Fuß. In poststrukturalistischer Manier verknüpft er dieses Konzept des Kulturwandels aus dem Inneren mit einer Identitätskonzeption, die von flüssigen, sich ständig verändernden Identitäten ausgeht, wie auch das transkulturelle Modell sie favorisiert: Im Nomadischen verliert die Identitätslogik ihre Gültigkeit. An ihre Stelle tritt eine Logik des „Sowohl-als-auch“ und des „Weder-noch“. Sie manifestiert sich im Grotesken vor allem im Modus des Chimärischen. Während das Territoriale die Statik des Seins feiert, aktiviert das Nomadische die Dynamik des Werdens. Das Groteske
47 Julia KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990 [franz. Original: 1988]. 48 Vgl. BHABHA, Die Verortung der Kultur. 49 Vgl. FUSZ, Das Groteske, S. 61. 50 Ebenda, S. 13.
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aber gehört ins Register des Werdens, nicht in das des Seins. Die grotesken Gestalten sind imaginäre Gestalten des (Anders-)Werdens, nicht des (Identisch-)Seins, nomadische Gestalten des Übergangs und der Innovation an den Grenzen einer Kultur. Das Groteske ist ein „Zwischengefüge“ kultureller Formationen und als solches Medium des Kulturwandels.51
Fuß unterscheidet drei verschiedene Mechanismen der virtuellen Anamorphose: Die Verkehrung, die Verzerrung und die Vermischung, deren Produkte das Inverse, das Monströse und das Chimärische sind.52 Wir erinnern uns, dass wir bereits in der Kissina-Erzählung Mystischer Heroismus die grotesken Figuren der Inversion und des Monströsen festgestellt haben, die hier als Schaltstelle dienen, an denen das zunächst nur dem Russischen zugeordnete Andere als inhärentes Eigenes der deutschen Figuren im Text sichtbar wird. Weiters stellt Fuß (ähnlich wie Chastel) eine Relation des Grotesken zum Exotischen und Exzentrischen fest.53 Von der Exotik, die alles Russische auf die deutsche Kultur und ihre Träger ausübt, ist bei Kissina immer wieder die Rede. Wenn dadurch zunächst eine Abgrenzung bzw. Normbestätigung des Eigenen unterstützt wird, so ist jedoch durch die Rezentrierung des Exotischen im Medium des Grotesken auch der Normbruch gegeben. In nahezu allen Erzählungen des Bandes Vergiss Tarantino setzt Kissina Elemente des Grotesken ein, um damit das kulturell Andere bzw. Fremde in das Eigene zu transferieren.54 Dabei macht sie diesen Vorgang auch – ganz im Sinne der bei Fuß beschriebenen virtuellen Anamorphose – als Rezentrierung des eigentlich Eigenen, aber aufgrund seiner Normwidrigkeit und seiner Destabilisierungsfunktion Marginalisierten bzw. Verdrängten sichtbar. Die grotesken Figuren dienen Kissina als Scharniere, über welche das kulturell Fremde, Andere in die eigene Welt eindringt bzw. aus der Tiefenschicht des Eigenen aufscheint. Kissina setzt alle drei Mechanismen des Grotesken ein: Es kommen Verkehrungen bzw. inverse Fi-
51 52 53 54
Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 38. Auch in anderen Texten Kissinas finden sich groteske Elemente, allerdings findet hier die Funktion des Grotesken als Destabilisierung des kulturellen Ordnungssystems meist nicht in der Konfrontation zweier unterschiedlicher Kulturen statt, die dezidiertes Thema dieses Erzählbandes ist.
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guren vor, es gibt ins Monströse verzerrte Darstellungen und sehr häufig verschiedene Formen der (chimärischen) Vermischung.
3. J ULIA K ISSINAS
GROTESKE
S UBVERSIONEN
Auch in der Erzählung Sieg der Wissenschaft werden in grotesker Weise die Grenzen zwischen Kulturen, zwischen Dies- und Jenseits, Tod und Leben aufgehoben. Als skurrilen Einstieg outet sich die Erzählerin, die in Berlin lebende Künstlerin und Russin Julia, als Mumienfan: „Mumien waren die Freude und der Fluch meines Lebens. So seltsam es klingt – ich war von Kindheit an verrückt nach ihnen.“55 In einem Supermarkt lernt sie Christian, den Leiter der Obst- und Gemüseabteilung, kennen, der ähnliche Vorlieben hat. Sie planen gemeinsam eine völlig irrwitzige Kunstaktion; sie möchten den mumifizierten Lenin im Supermarkt, der für sie Tempel, „Ort religiöser Wallfahrten“56 und kultische Stätte des Kapitalismus ist, den Göttern als besonderes Opfer darbieten. Die Kunstaktion mit dem Titel „Der Supermarkt als Tempel“57 wird von langer Hand, unter Einbezug von höchsten Stellen und großem finanziellen Aufwand vorbereitet. Die Aktion findet in kleinem Kreis statt, offizielle Vertreter der deutschen und der russischen Nation sind anwesend ebenso wie ein russischer Wissenschaftler, der die Mumie geklont hat. Nach der Rede des russischen Botschafters vor dem Sarg, der die Aktion als wichtiges „Ereignis […] von kolossaler Bedeutung für die russisch-deutschen Beziehungen [und den] Kontakt der Kulturen“58 einschätzt, erwacht Lenin plötzlich. Michail Gorbatschow, ebenfalls Besucher der Aktion, erklärt ihm, dass es den Sowjetstaat nicht mehr gibt und er sich in einem „Tempel des Kapitalismus“ befindet. Das karnevaleske Spiel der Inversionen gipfelt in der Tatsache, dass sich durch den Transport Lenins Potenz wieder eingestellt hat und der russische Wissenschaftler Donzow nun eine anwesende Frau sucht, die sich von Lenin begatten lässt. Als sich Kissina – die Erzählerin trägt hier den Namen der Autorin – und die Frau des russischen Botschafters dazu bereit erklären und sich auszuziehen beginnen, stirbt Lenin ein zweites Mal. Am Ende steht 55 56 57 58
KISSINA, Vergiss Tarantino, S. 27. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 33.
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abermals die Dynamisierung: Nach der ganzen Aktion landet Christian in der Psychiatrie, ist aber zufrieden mit dem Ergebnis, denn er ist davon überzeugt, dass die Geister das Opfer angenommen haben.59 Aziz, der die Aktion gefilmt hat, erhält einen Filmpreis, nimmt diesen aber nicht an: „‚Ich protestiere‘, sagte er, ‚das ist nicht inszeniert! Die Aufnahmen mit Bin Laden sind echt. Die mit Lenin ebenfalls.‘“60 Der Wissenschaftler Donzow, der zwar wegen des zweiten Todes Lenins tief betrübt ist, setzt seine Arbeit fort: „Man hat mich nach Peking eingeladen, ich soll dort mit dem Körper des verstorbenen Mao Tsetung arbeiten.“61 Schließlich ist Kissina, als fiktionale wie reale Autorin,62 damit in karnevalesk-grotesker Inszenierung die Auflösung der Grenzen zwischen dem sowjetrussischen Osten und dem kapitalistischen Westen, dem Reich der Toten und dem der Lebenden gelungen: Zumindest für einen kurzen Moment erwacht Lenin, die Ikone des sowjetischen Kommunismus, in einem deutschen Konsumtempel zu neuem Leben.
59 60 61 62
Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 40. Die Namensgleichheit bewirkt eine Aufweichung der Grenze zwischen Autorin und Protagonistin.
Migration, Exil und Diaspora in der neuesten Literatur M ICHAEL R ÖSSNER (W IEN , M ÜNCHEN )
Vor einigen Jahren wurde ich in Wien im Rahmen einer Berufungskommission nach meinem Probevortrag gefragt: „Wo verorten Sie sich?“ Ich muss zugeben, dass mich diese Frage fürs Erste verblüfft hat, so sehr, dass ich darauf nicht mit der von Kandidaten für einen Lehrstuhl zu erwarteten Sicherheit zu antworten vermochte. Natürlich hätte ich einfach entgegnen können, dass es ja nicht meine Aufgabe, sondern die der Kommission sei, mich zu „ver-orten“. Aber mir war zugleich klar, dass es sich um eine Schein-Frage handelte, die eigentliche Botschaft lautete: „Aus Ihren Schriften geht nicht eindeutig hervor, welcher ‚Schule‘, welchem ‚Stamm‘, welcher methodischen Richtung Sie zuzuzählen sind, das ist inakzeptabel!“ Besagte Fragestunde ereignete sich zwar vor dem Siegeszug der „Cultural Studies“, der poststrukturalen und der postkolonialen Theorien in unseren Breiten. Aber die Anekdote zeigt doch, dass es in der traditionellen Literaturwissenschaft ein eminentes – und nicht hinterfragtes – Bedürfnis gab, die jeweiligen Objekte – seien es nun Werke oder Kollegen – zu „verorten“, also einem bestimmten Sektor im literarischen bzw. wissenschaftlichen Feld zuzuweisen, wobei sich aus dieser Zuweisung die Kriterien der Beurteilung wie auch der Beschreibung sozusagen von selbst ergaben. Ein solches Verfahren ist spätestens mit dem Erfolg von Homi K. Bhabhas Location of Culture (1994)1 problematisch geworden. Wenn man genau
1
Homi BHABHA, The Location of Culture, New York 1994.
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hinsieht, bedurfte es allerdings nicht erst des grundlegenden logozentrismuskritischen Ansatzes der Jahrtausendwende, um Alternativen zu einem Systemdenken in „verorteten“ Texten und Textproduzenten zu entwickeln, zumindest dann nicht, wenn man den Begriff Verortung/Localization „beim Wort“ nimmt und tatsächlich eine geografisch-territoriale und nichtideelle Verortung untersucht. Diese Geschichte von Ver- und Entortung literarischer Texte kann im Rahmen eines kurzen Statements natürlich nicht in umfassender und fundierter Form aufgearbeitet werden, dennoch will ich ein paar Hinweise geben.
1. T HE L OCATION OF L ITERATURE – V ERORTUNG UND E NTORTUNG DER L ITERATUR Eine territoriale Verortung literarischer Texte findet tatsächlich erst spät und zunächst in sehr ungleichmäßiger Form statt. Die mittelalterliche Literatur Europas scheint mir eine solche kaum zu kennen. Die mittelalterlichen Gedichtformen, die Epenstoffe und auch die Stoffe der matière de Bretagne wandern ziemlich frei durch Europa, selbst dort, wo eine Übersetzung in eine entfernte Sprachwelt wie die deutsche erforderlich ist – man vergleiche nur die deutschen Nachdichtungen der der Gattung „höfischer Roman“ zugeordneten Epen von Chrétien de Troyes (ca. 1140–1190). Für die Wiederaufnahme antiker Formen und Themen in der Renaissance gilt Ähnliches. Die Bearbeitung der antiken Mythen in der italienischen, französischen, spanischen oder englischen Literatur stellt keine „verorteten“ Werke bereit, sie führt allerdings zur Nobilitierung der eigenen Sprache, die nun – siehe etwa Sperone Speronis Dialogo delle lingue (1542) und auf seinen Spuren Joaquim du Bellays La Deffence et Illustration de la langue francoyse (1549) – dem Lateinischen gleichrangig wird, da sie dieselben Stoffe behandeln „darf“.2
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Zu dieser Funktion siehe unter anderen: John McCLELLAND, „Les Antiquitez de Rome, document culturel et politique“, in: Culture et politique en France à l’époque de l’Humanisme et de la Renaissance. Atti del convengno internazionale promosso dall’Accademia delle Scienze di Torino in collaborazione con la Fondazione G. Cini di Venezia, Accademia delle Scienze, Torino 1974, S. 341– 354, und Barbara VINKEN, Du Bellay und Petrarca. Das Rom der Renaissance, Tübingen 2001.
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Aber daraus folgt nicht überall eine geografische Zuordnung der Texte: Aufgrund der zentralen Stellung Italiens in der Renaissance ist das Italienische überall präsent; die Questione della lingua, die Frage nach der literarisch zu verwendenden Regionalvariante, wird sogar in einem im heutigen Bolivien entstandenen Text diskutiert, in Peru werden zwei-, drei- und viersprachige Gedichte (italienisch / spanisch / lateinisch / portugiesisch) geschrieben. Solchen Ansätzen ist gemeinsam, dass es eben nicht um eine „Ver-Ortung“ am Ort der Entstehung geht, sondern trotz des Orts der Entstehung und der schier unendlichen Entfernung der Peripherie um ein SichEinschreiben in das Zentrum, in die Diskussion der „Humanistischen Internationale“. Ausnahmen bilden bis zu einem gewissen Grad die französische und die portugiesische Literatur. Erstere ist unter Franz I. (1494–1547) ganz offensichtlich von dem zwischen Königtum und Hofadel akkordierten Wunsch getragen, der spanischen Übermacht auf politischem und der italienischen auf kulturellem Gebiet eine starke nationale Kultur entgegenzustellen und durch deren kulturelle Stärke, die eine translatio imperii et studii denkbar macht (siehe dazu Bellays Deffence und dessen Rom-Gedichte), letztlich Rom als altes Zentrum kulturell und in letzter Instanz wohl sogar machtpolitisch beerben zu können. Der portugiesische Fall ist anders gelagert, aber auch hier geht es letztlich um ein politisches Ziel, nämlich die Affirmierung der eigenen iberischen und christlichen, aber nichtspanischen Identität.3 Dagegen ist die spanische Literatur zu diesem Zeitpunkt nicht „national“ zuordenbar, wie sich etwa an Alonso de Ercillas Epos La Araucana (1569 / 1578 / 1589) zeigen lässt. Gewiss geht es dort um einen spanischen Kriegszug gegen die chilenischen Indios, aber letztlich ist das Werk Jahrhunderte später zu dem „Nationalepos“ Chiles geworden, gerade weil es die ritterlichen Tugenden der Indios lobt und die Spanier für ihren Machiavellismus tadelt. Trotz dieser selbstkritischen Haltung gilt es als das bedeutendste Epos des „Goldenen Zeitalters“ in Spanien und trägt seinem – sichtlich von Pater Las Casas, dem „Apostel der Indios“, beeinflussten – Autor höchste Ehren bei Hofe ein.
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Siehe dazu Cornelia SIEBER, Por mares nunca dantes navegados. Remodulationen im Eigenbild im Zuge der portugiesischen Expansion, Leipzig, HabilSchrift 2009 (noch unveröffentlicht).
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Die Affirmation der spanischen Sprache ist hier weniger als Ausdruck des Selbstbildes einer territorial lokalisierten Kultur (wie man es für die portugiesischen Lusiadas des Luis de Camões annehmen kann) zu verstehen, sondern als Reverenz an eine europäisch verbreitete imperiale Sprache, als die sie Antonio de Nebrija ebenso anpreist wie Juan de Valdés im Diálogo de la lengua (1535), wo das Spanische angesichts der Zersplitterung der italienischen volgari eben nicht als Identifikations- oder Verortungsmerkmal, sondern als überregionale Sprache empfohlen wird. Erst die steigende Dominanz der französischen Literatur, in der eine solche „Selbst-Verortung“ relativ früh stattgefunden hat, führt europaweit zu einer stärkeren nationalen und damit territorialen Zuordnung von Literatur bis hin zur Entwicklung des Nationalliteraturkonzepts im Gefolge Johann Gottfried von Herders und der deutschen Romantik. Von da an wird diese „Verortbarkeit“ geradezu als Qualitätsmerkmal propagiert, etwa wenn der Österreicher Ferdinand Wolf in seiner französisch verfassten Histoire de la littérature brésilienne (Berlin 1863) den Brasilianern zugesteht, sie hätten es nun bis zu einer „Nationalliteratur“ geschafft: „C'est à bon droit qu'on peut parler maintenant d'une littérature brésilienne“, der man nicht mehr ihren Platz im „ensemble des littératures du monde civilisé“4 absprechen könne. Ist dies bei Wolf als Qualitätsmerkmal gemeint, weil die Brasilianer die europäische Romantik übernommen und adaptiert hätten, so zeigt sich bald die Kehrseite einer solchen Verortung: Sie bedeutet eben auch ein In-die-Schranken-Weisen, die Zuweisung eines Themen- und FormenRepertoires, das selbst dann, wenn es nicht mit vagen klimatheoretischen Vorstellungen grundiert wird, wie in Hippolyte Taines Histoire de la littérature anglaise (1864), vor allem im 20. Jahrhundert und vor allem gegenüber Literaturen der Peripherie zu einer vom Zentrum ausgehenden Rollenverteilung führt: Man hätte über die eigene lokale Realität zu schreiben und sich damit allenfalls im Zentrum als „tropisches Elixier“ zur Kenntnis nehmen zu lassen, wie es Paul Valéry bei seinem berühmten Lob für Miguel Angel Asturias’ Leyendas de Guatemala ausdrückt5.
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Ferdinand WOLF, Histoire de la littérature brésilienne, Berlin 1863. Übersetzung des Zitats: „Mit vollem Recht kann man nun von einer brasilianischen Literatur sprechen, der man nicht mehr ihren Platz im Kreis der Literaturen der zivilisierten Welt streitig machen kann.“ Vgl. Miguel Angel ASTURIAS, Obras completas, Bd. I, Madrid 1969, S. 17.
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2. M IGRATION , E XIL UND D IASPORA : D AS B EISPIEL DER LATEINAMERIKANISCHEN L ITERATUR IM 20. J AHRHUNDERT MIT EINEM S EITENBLICK AUF Z ENTRALEUROPA Damit wollen wir uns einem konkreten Beispiel solcher Verortungsprobleme zuwenden: der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert und ihrer Wahrnehmung im „Zentrum“, also in Europa und zunehmend in den USA. Ich will hier – stark vereinfachend – drei repräsentative Konstellationen vorstellen, die mit Migration, Exil und Diaspora zu tun haben: die eine um die Jahrhundertwende von 1900, die zweite in den 1960er- bis 1980erJahren, die dritte um die Jahrtausendwende. 2.1 Die Rolle der Migration für die Identitätsfindung zu Beginn des Jahrhunderts Die erste Periode umfasst die Glanzzeit des hispanoamerikanischen „Modernismo“, einer erstmals seit der Unabhängigkeit den gesamten Kontinent umfassende Bewegung, die zwischen 1880 und 1920 für praktisch alle hispanoamerikanischen Literaturen prägend und mit der Figur von Ruben Darío, einem aus Nicaragua stammenden Lyriker, verknüpft ist. Darío ist zwar für die nicaraguanische Literatur bis heute ein „Säulenheiliger“, er war jedoch in erster Linie ein „migrierender“ Autor. Seine bedeutendsten Werke und seine Wirkung verdanken sich seinen Aufenthalten in Chile in den 1880er-Jahren, Argentinien in den 1890er-Jahren, in Paris und Madrid zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Daríos „Modernismo“ der ersten Phase ist eng mit der Ästhetik der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts verknüpft; die Ästhetik dieser Bewegung verbindet Elemente des Parnasse, des Symbolismus und der Décadence zu einer eigentümlichen Mischung, die wenige „lateinamerikanische“ Spezifika an sich hat. Die Lieblingsfarben Blau und Weiß und die verfremdende Farbgestaltung, das Emblem des Schwans und die Bezüge zur europäischen Antike scheinen wenig spezifisch für Lateinamerika; aber Darío schafft es, mit seiner Übernahme der ungewöhnlichen Metrik bis hin zum Freivers und mit der Adaptation des Baudelaire’schen Prosagedichts erstmals innerhalb der spanischsprachigen Literatur die lateinamerikanische Dichtung zum Modell für die europäischspanische zu machen, und leistet gerade dadurch einen wesentlichen Bei-
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trag zur hispano- und um 1900 auch schon „latein“amerikanischen Identitätskonstruktion.6 Dieser Leistung und seinen durch zahlreiche Reisen geknüpften Kontakten verdankt Ruben Darío, dass er in Spanien und in praktisch allen lateinamerikanischen Ländern als Vertreter des „Eigenen“ und zugleich als der Innovator wahrgenommen wird, der das Tor zur internationalen Moderne aufgestoßen hat. Diese „moderne Ästhetik“ wird in einer zweiten Phase des „Modernismo“ auch auf „eigene Traditionen“ wie die gaucheske Literatur oder die Beschreibung der amerikanischen Natur angewendet: Im gauchesken Roman eines Ricardo Güiraldes (Don Segundo Sombra, 1926), der in der argentinischen Pampa spielt, oder in den Landschaftsbeschreibungen verschiedener spätmodernistischen Kurzerzählungen mit lateinamerikanischem Schauplatz werden nun ebenfalls die von Darío für seine ästhetizistische Poesie entwickelten Verfremdungselemente eingesetzt. Als wir für die Lateinamerikanische Literaturgeschichte7 nach einem Autor für das Titelblatt suchten, der mit der gleichen symbolischen Kraft wie Goethe die deutsche, Dante die italienische oder Cervantes die spanische Literatur schlechthin verkörpern sollte, fiel die Wahl der lateinamerikanischen Kollegen daher fast einhellig auf Darío, weil er eben als „Migrant“ letztlich das Gemeinsame am besten zu repräsentieren schien. Dennoch ist Darío außerhalb des spanischen Sprachraums bis heute wenig bekannt. 2.2 Die Rolle des Exils und die Verortung von Literatur Die lateinamerikanische Literatur gewinnt durch die – mehr oder minder freiwillige und in Daríos Fall dazu noch unstet fortdauernde – Migration, aber vor allem durch das erzwungene Exil von Autoren an internationaler Präsenz. Das beginnt in der Phase der europäischen Avantgarde, als unter den Surrealisten sich zum Beispiel der Kubaner Alejo Carpentier findet, der
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An dieser Stelle müsste eine umfangreichere Diskussion des Terminus „lateinamerikanisch“ erfolgen, der im Rahmen des mittleren Modernismo vor allem von José Enrique Rodó aus Uruguay in seiner Schrift Ariel verwendet wird, die auf den Spuren französischer Denker des späten 19. Jahrhunderts eine „lateinische“ gegen eine „germanisch-angelsächsische“ Kultur ausspielt. Siehe dazu u. a. die entsprechenden Abschnitte in: Michael RÖSSNER (Hg.), Lateinamerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart ³2007. Hier ist noch die erste Auflage der in Fußnote 6 zitierten Literaturgeschichte gemeint.
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als Sohn eines französischen Vaters und einer russischen Mutter in Kuba aufgewachsen war und perfekt Französisch sprach (um genau zu sein, sprach er selbst Spanisch mit starkem französischem Akzent). Carpentier wird von einem Surrealisten, Robert Desnos, 1928 außer Landes geschmuggelt und beteiligt sich aktiv an den ästhetischen und politischen Auseinandersetzungen der Gruppe rund um Bretons Zweites Manifest. Mit Histoire de lunes (1933) steuert er einen Text bei, der der surrealistischen Suche nach der Verbindung von „rêve“ und „réalité“ in einer „surréalité“ in idealer Weise entgegenkam – und die Tatsache, dass der Text bereits in Französisch verfasst war, erwies sich durchaus nicht als nachteilig für dessen rasche Verbreitung.8 Allerdings war die „Wirklichkeit“, die hier mit dem Traum ein Bündnis einging, eben nicht jene europäische „AlltagsWirklichkeit“, die Louis Aragon vier Jahre zuvor in seinem Paysan de Paris für das Konzept des „merveilleux quotidien“ als „Wunderbar-Wirkliches“ beschworen hatte, sondern eine exotische Wirklichkeit, und Carpentier selbst hat sich, als er vor den einmarschierenden deutschen Truppen zurück nach Lateinamerika floh, diese Überlegung zunutze gemacht: Wenn er 1949 als Vorwort zu seinem Roman El reino de este mundo eine Art grundlegendes poetisches Manifest veröffentlicht, dann ist dort eben von „lo real maravilloso americano“, also dem Wunderbar-Wirklichen der amerikanischen Realität, die Rede, die, anders als die europäische, banale und profane Wirklichkeit, noch durch den Wunderglauben der Indios und Afroamerikaner sozusagen „magiegeschwängert“ sei. Dieses und ähnliche Konzepte prägen wiederum die Optik, in der die lateinamerikanische Literatur in Europa und den USA in den Jahrzehnten ihres durchschlagenden Erfolges (also in etwa zwischen 1960 und 1980) rezipiert wurde. Als gängigstes Etikett hat sich dabei der Magische Realismus durchgesetzt. An anderer Stelle9 habe ich gezeigt, wie diese Ästhetik sozusagen eine stellvertretende, in einen exotischen Raum projizierte Fortsetzung der ästhetischen Tendenzen der europäischen Avantgarde möglich
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Vgl. zu dieser Entwicklung Carpentiers das entsprechende Kapitel in: Michael RÖSSNER, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Studien zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1988. Siehe dazu u. a.: DERS., “Latin Literatures’ New Look” im „alten“ Europa. Zur Rezeption der neuesten lateinamerikanischen Literatur vor dem Hintergrund der alten Stereotypen aus der Boom-Zeit, in: Diana v. RÖMER, Friedhelm SCHMIDT-WELLE (Hg.), Lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum, Frankfurt a. M. 2007, S. 113–129.
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machte, dass sie aber auch in durchaus kolonialer Weise als „Rohmaterial“, als „erzählerische Urkraft“ rezipiert wurde, die der steril gewordenen europäischen Literaturlandschaft neue Impulse geben sollte. Diese massive Präsenz der lateinamerikanischen Literatur im US-amerikanischen und europäischen Raum fällt bemerkenswerterweise mit der Phase der Etablierung großer Militärdiktaturen in den wichtigsten Ländern des Subkontinents und der dadurch verursachten starken Präsenz von lateinamerikanischen ExilIntellektuellen im Ausland zusammen. Dieses Exil bewirkt einerseits innerlateinamerikanische Verbindungen, da, wie schon zu Daríos Zeit, die Exilanten z. B. aus Chile nach Mexiko kommen und sich dadurch unterschiedliche literarische Traditionen der hispanoamerikanischen Länder vermischen; vor allem kommt es dadurch im Gefolge der brasilianischen Militärdiktatur ab 1964 auch erstmals zu einer Begegnung zwischen der portugiesisch- und der spanischsprachigen Literatur des Kontinents – wie etwa bei dem Ethnologen und Romancier Darcy Ribeiro, der, wie er später schrieb, im Exil in Montevideo entdeckte, dass er eigentlich Lateinamerikaner sei. Andererseits führt es zu einer massiven Präsenz hispanoamerikanischer Autoren vor allem in Europa und den USA, wo sie im Verlagswesen, in den Medien und in den Universitäten eine immer wichtigere Rolle zu spielen beginnen. Dazu kommt der politische Aspekt: Rund um die gescheiterte revolutionäre Bewegung von 1968 bot sich die Möglichkeit, sozusagen die eigenen Träume „ins Exil zu schicken“. Das Engagement vieler Menschen für regimekritische Denker, Basiskirchen und Guerillabewegungen bildete einen geradezu idealen Rahmen für die Rezeption der zum Teil im Exil, aber fast zur Gänze für das Exil (also eigentlich für den Export) produzierten Literatur. Ein Buch von Ernesto Cardenal oder Isabel Allende in Europa oder Lateinamerika zu kaufen, stellte nicht nur einen Akt des Kunstkonsums, vielleicht sogar Genusses, dar, sondern zugleich eine ethisch positive Tat der Solidarität mit dem Kontinent, der sich selbst als „mestizisch“ präsentierte. So prägte eine bestimmte, von der erwähnten surrealistischen Ästhetik abgeleitete lateinamerikanische Literaturströmung ein Bild des „realen“ Lateinamerika, das wiederum eine Erwartungshaltung erzeugte, an der reale lateinamerikanische Werke gemessen wurden. Insbesondere die argentinischen Autoren, die sich bis 1976 kaum im Exil befanden, konnten dieser Erwartungshaltung nur selten gerecht werden. Jorge Luis Borges oder Adolfo Bioy Casares wurden als „zu wenig lateinamerikanisch“, „zerebral“
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und „europahörig“ abgetan, obwohl oder vielleicht eben weil Borges schon in den 1930er-Jahren für die lateinamerikanischen Schriftsteller das Recht eingefordert hatte, auch über die europäische Tradition zu verfügen: Creo que nuestra tradición es toda la cultura occidental, y creo también que tenemos derecho a esa tradición, mayor que el que pueden tener los habitantes de una u otra nación occidental. Recuerdo aquí un ensayo de Thorstein Veblen, sociólogo norteamericano, sobre la preeminencia de los judíos en la cultura occidental. Se pregunta si esta preeminencia permite conjeturar una superioridad innata de los judíos, y contesta que no; dice que sobresalen en la cultura occidental, porque actúan dentro de esa cultura y al mismo tiempo no se sienten atados a ella por una devoción especial; “por eso -dicea un judío siempre le será más fácil que a un occidental no judío innovar en la cultura occidental”; y lo mismo podemos decir de los irlandeses en la cultura de Inglaterra. [...] Creo que los argentinos, los sudamericanos en general, estamos en una situación análoga; podemos manejar todos los temas europeos, manejarlos sin supersticiones, con una irreverencia que puede tener, y ya tiene, consecuencias afortunadas. Ich glaube, dass unsere Tradition die gesamte abendländische Kultur umfasst, und ich glaube auch, dass wir ein Recht auf diese Tradition haben, ein größeres, als es die Bewohner der einen oder anderen abendländischen Nation haben könnten. Ich erinnere mich hier an einen Essay von Thorstein Veblen, einem nordamerikanischen Soziologen, über die Vorherrschaft der Juden in der abendländischen Kultur. Er fragt sich, ob diese Vorherrschaft den Rückschluss auf eine angeborene Überlegenheit der Juden zulässt und verneint dies; er sagt, dass sie in der abendländischen Kultur deshalb hervorstechen, weil sie innerhalb dieser Kultur agieren und sich gleichzeitig nicht durch irgendeine spezifische Verehrung an sie gebunden fühlen; „deshalb“, schreibt er, „wird es für einen Juden immer leichter sein als für einen nichtjüdischen Abendländer, eine Innovation in der abendländischen Kultur herbeizuführen“, und dasselbe könnten wir von den Iren in der Kultur Englands sagen. [...] Ich glaube, dass wir Argentinier, wir Südamerikaner im allgemeinen, uns in einer analogen Situation befinden; wir können alle europäischen Themen behandeln, wir können sie ohne Aberglauben behandeln, mit einer Unverschämtheit, die durchaus glückliche Folgen haben kann – und bereits hat.10
10 Jorge Luis BORGES, “El escritor argentino y la traducción”, in: “Discusión” (1932), zitiert nach: DERS., Obras completas I, Barcelona 2005, S. 272f. (Übersetzung M. R.).
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Das „Idyll“ der Symbiose von realem Exil der lateinamerikanischen Intellektuellen mit ideellem Exil des revolutionären Engagements der europäischen und nordamerikanischen Intellektuellen wurde freilich ab Beginn der 1970er-Jahre durch die zunehmende Exilierung kubanischer Intellektueller „gestört“. Es kam zugleich unter den lateinamerikanischen Exil-Intellektuellen zu einer Spaltung in Befürworter der Politik von Fidel Castro um Gabriel García Márquez und Castro-Gegner, die sich um dessen einstigen engen Freund Mario Vargas Llosa gruppierten. Im Nachhinein wurde das „Exil-Idyll“ von lateinamerikanischen Autoren der Post-Boom-Generation wie dem Peruaner Alfredo Bryce Echenique (La vida exagerada de Martín Romaña, 1981) und dem eine Generation jüngeren Mexikaner Jorge Volpi (El fin de la locura, 2003) mit beißendem Spott bedacht. Die Rückkehr der exilierten Autoren nach dem Ende der Diktaturen um 1990 bot zwar Stoff für zahlreiche interessante Werke, diese wurden wiederum in Europa kaum rezipiert. Mit dem Ende des politischen Engagements für den Kontinent der Diktaturen wandelte sich auch das Interesse und wurde zunehmend museal: Nachgefragt wurden vor allem García-Márquez-Epigonen, wie Isabel Allende, für die die Lateinamerikaner die abwertende Formel „Macondismo“ (nach dem imaginären Schauplatz von Hundert Jahre Einsamkeit) prägten. Das Interesse der literarischen Weltöffentlichkeit wandte sich anderen Gegenden zu, im spanischsprachigen Bereich liefen die Autoren Spaniens in der mit einiger Verzögerung auf das Ende der Diktatur von General Franco folgenden „Movida“ den ehemals oder immer noch exilierten Lateinamerikanern den Rang ab. Erst seit 2000 ist wieder ein vermehrtes internationales Interesse an neueren lateinamerikanischen Autoren bemerkbar, die sich öffentlichkeitswirksam mit dem Manifest Crack in Mexiko und der Anthologie McOndo zu Wort gemeldet hatten. Im Vorwort dieser Anthologie erzählt Alberto Fuguet die Geschichte der Ablehnung von Texten junger Lateinamerikaner durch eine amerikanische Zeitschrift mit dem verräterischen Argument, dass sie „genauso gut in jedem beliebigen Land der Ersten Welt geschrieben sein könnten“.11
11 “... el rechazo va por faltar al sagrado código del realismo mágico. El editor despacha la polémica arguyendo que esos textos ‘bien pudieron ser escritos en cualquier país del Primer Mundo’”. [„... die Ablehnung beruht auf dem Verstoß gegen das geheiligte Gesetzbuch des Magischen Realismus. Der Verleger tritt eine Polemik los, indem er argumentiert, diese Texte ‚könnten ja genauso gut in
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Damit wird klar, dass der durch das Exil ausgelöste Boom zugleich ein Exil im anderen Wortsinn auslöst, in dem der Verbannung: Die Literatur muss verortbar bleiben, und zwar draußen, ex-silium, wo sie herkommt und wo sie hingehört. Sie darf nicht in dem Sinne zur Weltliteratur werden, dass man ihr ihre Herkunft nicht mehr ansieht. Dagegen erheben die jungen Autoren nunmehr Protest und sie können sich dabei auf eine „reale“ Entwicklung stützen, die während der Jahre des massiven Exils stattgefunden hat. 2.3 Vom Exil zur Diaspora: die „Entortung“ von Literatur Die Einführung des Diaspora-Begriffs in die Literaturwissenschaft ist nicht allein Homi Bhabha zu verdanken, aber sie hat durch sein Werk Location of Culture einen wichtigen Impuls erhalten. Der dort verwendete DiasporaBegriff kann die historische Verknüpfung mit der jüdischen Diaspora zwar nicht ganz abschütteln, er wird aber nicht mehr als essentialistische Verknüpfung mit einer Gemeinschaft, die zwar ent-territorialisiert ist, aber ihren Zusammenhalt bewahrt, aufgefasst. Im Sinne von Jacques Derridas Begriff der différance wird Diaspora als ein dynamisches, hybrides und rhizomatisches Netzwerk verstanden, das in engem Zusammenhang mit Bhabhas Third-Space-Begriff steht. Realer Ausgangspunkt für Bhabha sind die indischen, pakistanischen und karibischen Mikrokosmen, z. B. im Großraum von London: Die Themen, aber auch die Formen der hier produzierten Literatur stehen in keinem exklusiven Zusammenhang mehr mit den Traditionen der „Heimat“ in Südasien, aber auch nicht mit der europäischen Tradition. Sie können –im Sinne von Borges’ Zitat – über mehrere Traditionen verfügen, ohne sich ihnen unterwerfen zu müssen. Dadurch werden sie eben nicht mehr im ursprünglichen Sinne „verortbar“ – man hat versucht, etwa Salman Rushdie den Konzepten des „Magischen Realismus“, der Tradition von Tausendundeiner Nacht oder der europäischen Avantgarde zuzuordnen und all das ist stets nur partiell möglich gewesen.12
jedem Land der Ersten Welt geschrieben sein‘“] – Alberto FUGUET, Sergio RAMIREZ (Hg.), McOndo, Barcelona 1996, S. 11. (Übersetzung M. R.). 12 Um nicht nur Zeitungsrezensionen zu nennen, die häufig mit diesen Begriffen arbeiten, vgl. die fundiertere Auseinandersetzung bei Sibylle PÄRSCH, Differenz und Interdependenz. Die Krise der Metaerzählungen und ihre Folgen in
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Ähnliches scheint für die lateinamerikanischen Autoren um 2000 zu gelten. Durch das lange Exil sind viele von ihnen in anderen Ländern „angekommen“, vielleicht auch schon geboren, als unfreiwillige Migranten, die eigentlich Exilanten waren und jetzt eine Art Diaspora bilden, die sich um die Verlagshauptstadt Barcelona schart. Noch eindrücklicher ist das Bild in den USA: Hier hat sich über die hispanic culture – der jahrhundertealten Tradition der Chicanos (der im Krieg zwischen den USA und Mexiko zwangseingegliederten Nordmexikaner) und der seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden Kolonien oder Semikolonien Puerto Rico und Kuba – im Gefolge des massiven Exils der lateinamerikanischen Intellektuellen eine Latin Literature gelegt (worunter keine neulateinische Prosa zu verstehen ist). Sie bildet eines der dynamischsten Segmente der USLiteratur.13 Für diese Literatur wird oft der Begriff Diaspora verwendet, wenngleich die meisten dieser Autoren zumindest in „Spanglish“, wenn nicht in Englisch schreiben und das Englische, im Unterschied zu den ehemaligen britischen Kolonien, in ihren Ursprungsländern nicht verstanden wird. So freute sich etwa der neue Star der US-Literatur Junot Díaz, dessen Familie aus der Dominikanischen Republik stammt, über eine Übersetzung seiner Bücher ins Spanische, weil seine Mutter nur dann „seine Generation verstehen kann“, wenn sie „Übersetzungen liest“.14 Man sieht also: Dieses Diaspora-Konzept hat wenig mit territoriumslosem Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft in einem idealen Raum zu tun, eher schon mit dem, was einer der Verfasser des Crack-Manifestes, Ignacio Padilla, frei nach Bachtin als den Chronotopos Null bezeichnet hat,15 den die jungen lateinamerikanischen Autoren für sich in Anspruch
Salman Rushdies The Satanic Verses und Don DeLillos Underworld, Phil. Diss., Augsburg 2007. 13 Vgl. dazu die Anthologie: Edmundo PAZ SOLDAN, Alberto FUGUET, Se habla español, Santillana USA, 2000. Der Band versammelt Texte der im anglophonen Umfeld und üblicherweise auf Englisch oder Spanglish schreibenden „Hispanics“. 14 Bericht über die Live-Diskussion mit Junot Diaz am 2. Februar 2009 in Cartagena, Kolumbien, beim Live-Festival „Hay Festival“ (http://dialogodigital.com/ index.php/Dialogo/Noticias/Aqui-y-Alla/La-normalidad-del-multiculturalismoen-la-obra-de-Junot-Diaz.html) (Zugriffsdatum: 21.12.2010). 15 Vgl. Manifiesto Crack (Volpi, Urroz, Padilla, Chávez, Palou) in: Lateral. Revista de Cultura. Nr. 70, Okt. 2000, im Internet unter: http://www.lateral-ed.es/ tema/070manifiestocrack.htm, III. Septenario del bolsillo. (Zugriffsdatum: 21.12.2010).
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nehmen: Die Nicht-Verortbarkeit, die auch die ganz unverfrorene Betrachtung des Zentrums von der Peripherie aus einschließt, wie sie in den Romanen über Themen der deutschen und österreichischen Vergangenheit zum Ausdruck kommt, die die Mitglieder der mexikanischen Crack-Gruppe wie Volpi, Padilla u. a., rund um 2000 in Spanien publiziert haben. Dies koinzidiert auch mit literarischen Prozessen der französischsprachigen Karibik (v. a. Edouard Glissant), die von „Métissage“ über „antillanité“ und „créolisation“ zu einem „Tout-Monde“-Konzept16 voranschreitet. Damit habe ich ein Fenster nach Zentraleuropa aufgemacht, auch wenn ich mich hier noch mehr auf Andeutungen beschränken muss. Die realen Grundlagen sind hier die massive Migration um die Jahrhundertwende (Zuzug nach Wien, Wien als intellektuelles Zentrum zahlreicher nichtdeutschsprachiger Kulturen) und das Exil der Intellektuellen und Schriftsteller in mehreren Wellen (zwischen 1933 und 1945, zwischen 1948 und 1989). Möglicherweise besteht die Besonderheit darin, dass wir, durch die erwähnte Präsenz migrierender Autoren anderer Sprachen in Wien um die Jahrhundertwende (s. o., Phase 1 in unserem Abfolgeschema) so stark an solche Phänomene gewöhnt waren, dass wir in der Nachkriegszeit viele dieser Exil-Autoren, die in Österreich auf Deutsch publizierten, gar nicht als solche zur Kenntnis genommen haben. Milo Dor, György Sebestyén oder Pavel Kohout sind wichtige Namen der österreichischen Nachkriegsliteratur geworden und wurden, anders als im lateinamerikanischen Kontext, eben nicht auf „ihre“ Themen reduziert. Phase 3, die Diaspora, erleben wir vielleicht in diesem Augenblick, vielleicht auch nicht. Es wäre wert, durch eine Untersuchung festzustellen, was aus vielen exilierten Autoren in einem neuen Umfeld nach 1989 geworden ist. Meine Vermutung geht dahin, dass die nach diesem Datum erwachenden Nationalismen in Zentraleuropa eher eine Essentialisierung der Zugehörigkeit zu einer Nation – sei es in der Diaspora oder auf dem realen Territorium – mit sich gebracht haben. Ob das durch eine einigermaßen relevante Tendenz zur Third Space-Diaspora im skizzierten Sinn aufgehoben wird, müsste Gegenstand einer detaillierteren Untersuchung werden.
16 Vgl. Edouard GLISSANT, Le Discours antillais, Paris 1997 [1981] und DERS., Traité du Tout-Monde. (Poétique IV), Paris 1997. Darin wird die Entwicklung der Begriffe „antillanité“ – „créolisation“ – „tout-monde“ nachgezeichnet.
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3. R ÄUME UND Z WISCHENRÄUME – L ITERATUREN IN D RITTEN R ÄUMEN Ich komme zum Schluss und damit zu den ungewissen Ausblicken: Das, was man allgemein als Globalisierung bezeichnet, nämlich die Tatsache von gegenwärtigen und die Unvermeidlichkeit von zukünftigen Migrationsströmen, legt es nahe, anders als im 19. und 20. Jahrhundert, der Literatur keinen territorial gebundenen Raum zuzuweisen, sondern eine Rolle, die eher im Bereich der Translation, der kulturellen Übersetzung zwischen den unterschiedlichen Traditionen und Narrativen zur Identitätskonzeption gelegen wäre. Eine solche Literatur müsste sich tatsächlich den von Padilla genannten „Chronotopos Null“ als Sitzort erwählen, zugleich aber – wie Bhabha es eben für die Translation auch vorsieht – als Third Space einen Zwischenraum zwischen den Kulturen bilden, in dem ein durchaus konfliktives Aushandeln der Wirklichkeitskonzeptionen, ein Ringen um das Verstehen und um das Kommunizieren stattfindet – anstatt wie in Zeiten der Nationalliteraturen als Bollwerk gegen das Fremde und als exkludierendes Narrativ des Eigenen zu dienen. Die Weimarer Klassiker haben der Literatur als „Weltliteratur“ eine in dieser Weise erhabene Rolle im Dienste eines humanistischen Ideals zugedacht. Solches Pathos ist dem 21. Jahrhundert fremd; aber es könnte dennoch sein, dass das Phänomen Literatur im Dritten Raum, als Medium der Translation zwischen den Kulturen, für uns im Großraum Europa und darüber hinaus für eine globalisierte Welt noch lebensnotwendige Bedeutung erlangt.
Zwischen den Kunstwelten von Buenos Aires und Ljubljana Die Pluralisierung von Ideen, kulturellen Praktiken und Kunstformen K RISTINA T OPLAK (L JUBLJANA )
E INLEITUNG Heute muss man nicht notwendigerweise an einen anderen Ort ziehen, um Zugang zu neuem Wissen und innovativen Ideen zu erlangen und andere kulturelle Praktiken zu erfahren. Mit der modernen Technik sind all diese Dinge leicht zugänglich. Dennoch ist die persönliche Erfahrung als Folge von realer Migration in gewisser Weise anders geartet. Verlässt man einen Ort, bedeutet dies den Verlust zahlreicher Referenzpunkte. Migration heißt daher, neue Referenzpunkte zu finden, die inspirierend sein können und dabei helfen, hybride Identitäten aufzubauen sowie innovative soziale und kulturelle Formen und vor allem kreative künstlerische Tätigkeiten entfalten zu können, die in (mindestens) zwei (Kunst-)Welten eingebettet sind. Es scheint, als dass Menschen zunehmend mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Entscheidungsmöglichkeiten konfrontiert sind: mit Entscheidungen zwischen Arbeitsstellen, verschiedenen Lebensphasen oder zwischen Orten, Welten, ja sogar Identitäten. Letztere werden häufig mit dem Bild des „in-betweens“ beschrieben, eine Befindlichkeit, die wir erleben, aber nur schwer definieren können. Bevor auf Pluralisierung als eine Folge von Migration eingegangen werden wird, soll zunächst ein Kunstprojekt vorgestellt werden, das 2007 in Ljubljana präsentiert wurde. In der
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Ausstellung Labirint med dvema svetovoma (Ein Labyrinth zwischen zwei Welten) zeigten die beiden in Buenos Aires, Argentinien, lebenden und arbeitenden Künstler, Adriana Omahna und Ivan Bukovec, ihre Werke. Die Künstler, die beide allgegenwärtige Ort- und Zeitmotive behandeln, die jedoch nicht real existieren, schrieben im Begleittext zur Ausstellung Folgendes: Imam vtisnjeno v svoje meso in duha daljavo, ki me ločuje od moje rodne zemlje, podčrtano s stoletjem vojska, izgnanstev, norosti, grozot bega brez vrnitve… Nosim korenine v bitju svojih žil, ki od časa do časa krvavijo in prav takrat se roke podaljšajo v metamorfozi čopičev ali rezbarskih nožev v materializaciji predstav v likovnih delih. Po drugi strani, rastem iz 20. stoletja napredujoč sredi velike dihotomije. Imam ognjen pečat maternega jezika in kulturne identitete ter nujno potrebo, da rastem integrirana v svojem okolju. Nosim v sebi sledove izseljenstva, ki so mi ga zapustili moji starši, kar me včasih duši, včasih pa daje moč. Die Entfernung, die mich von meiner Heimat trennt und die durch ein Jahrhundert mit Krieg, Exil, Irrsinn, dem Schrecken der Flucht ohne die Möglichkeit einer Wiederkehr unterstrichen wird, ist in meinem Fleisch und in meinen Gedanken eingebrannt. Ich trage meine Wurzeln im Puls meiner Adern, die von Zeit zu Zeit bluten, und dann verlängern sich meine Hände in die Metamorphose der Pinseln oder Schnitzmesser, in das Entstehen von Bildern in Kunstwerken. Andererseits entsteige ich dem 20. Jahrhundert, schreite inmitten einer großen Dichotomie voran. Ich verfüge über das eruptive Siegel der Muttersprache und der kulturellen Identität sowie über das dringende Verlangen, mit meiner eigenen Umgebung zu verwachsen. Ich trage in mir die Spuren der Emigration, die ich von meinen Eltern geerbt habe; ein Erbe, das mich zuweilen erstickt, mir zuweilen Kraft verleiht.1
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Ivan BUKOVEC, Adriana OMAHNA, Labirint med dvema svetovoma [Ein Labyrinth zwischen zwei Welten], Buenos Aires, 2007 (Ausstellung Druckschrift).
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Das erste Exponat, das der Besucher in der Ausstellung zu sehen bekam, war gleichzeitig das wichtigste, denn es kündigte das Leitmotiv der Ausstellung an: Das leere schwarz-weiße Labyrinth, eine Nachbildung des Labyrinths aus dem Kölner Dom, ist eine Gemeinschaftsarbeit der beiden Künstler. Das in starkem Kontrast zu den lebhaften Farben und natürlichen Motiven der ausgestellten Malereien stehende Objekt ist eine Metapher für zwei Welten: eine schwarze, fremde Welt innerhalb des Labyrinths, in der die Menschen leicht in die Irre geführt werden können, und eine Welt außerhalb, in der die Farben der Natur und menschliche Stimmen das Gefühl von Leichtigkeit und Orientiertheit vermitteln. Der Kunstkritiker Milček Komelj schrieb, dass „[...] in deren [der Künstler, C. T.] Bewusstsein die Bilder zwischen Geschehnissen und Erfahrungen in der alten und der neuen, ihrer slowenischen und argentinischen Heimat, wie zwischen zwei Welten aufgeteilt sind.“2 Im Folgenden möchte ich anhand von slowenischen Einwanderern und deren Nachkommen in Argentinien darstellen, wie unterschiedlich Künstlerinnen und Künstler3 die Erfahrung der Migration oder die Tatsache, dass sie Nachfahren von Einwanderern sind und sich noch immer stark mit Geschichte, Gesellschaft und Kultur ihrer eingewanderten Vorfahren verbunden fühlen, zur Entwicklung künstlerischer Ausdrucksformen nutzen. Migration wird als Herausforderung und als Stimulus verstanden und das „inbetween“ als Motivation für ihr Schaffen, welches als unterschiedlichen und pluralistischen kulturellen Praktiken und Artefakten verpflichtet angesehen wird. Prozesse von Migration, Identität und künstlerischer Kreativität werden in einen gemeinsamen epistemologischen Rahmen gestellt. Die Erfahrung der Migration, so meine These, kann Kreativität stimulieren und zu einer spezifischen Pluralisierung von Ideen, kulturellen Praktiken und Kunstformen auch bei den Nachkommen von Einwanderern führen.
2 3
DRUZINA, http://www.druzina.si/icd/spletnastran.nsf/all/7F31952496F513EAC 12573670038B6B7?OpenDocument (Zugriffsdatum: 2.6.2010). In diesem Fall beschäftige ich mich mit visuellen Künstlern, insbesondere Malern, Bildhauern, Fotografen, Grafikern, Illustratoren usw.
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M ETHODOLOGIE Im Zentrum meiner Forschungsarbeit stehen slowenische Einwanderer und deren Nachkommen, die teilweise in Australien, hauptsächlich jedoch in Argentinien leben. Die wichtigste Frage war immer, wie Migration und transnationale Bindungen die Entstehung ambivalenter Identitäten, manchmal auch hybride oder Bindestrich-Identitäten genannt, fördern und wie sich beide Prozesse auf das kulturelle Schaffen, insbesondere in der visuellen Kunst, auswirken. Im Folgenden gehe ich noch einen Schritt weiter und stelle die Frage, wie diese Ambivalenz, dieses „in-between“ der Kunstschaffenden, in deren Kunstwerken Ausdruck findet sowie auch im Kunstschaffen von Nachkommen jener slowenischen Einwanderer in Argentinien. Durch die Verwendung der „Institutionellen Theorie der Kunst“ und der „Kunstwelten“ als Schlüsselbegriffe in Verbindung mit einem NetzwerkAnsatz, der auf ein besseres Verständnis des künstlerischen und weiter gefassten sozialen Einflusses und auf damit in Zusammenhang stehende lokale und soziale Gruppen zielt, sowie auch mittels Erzähltheorie soll untersucht werden, wie Kunst (insbesondere visuelle Kunst) durch bzw. in Migrationsprozesse/n geformt und definiert wurde. Nach der Definition von Arthur Danto und Howard Becker4 verbindet der Begriff der „Kunstwelten“ kulturelle Produktion, Verteilung und Rezeption und bildet jenen Bereich, in dem Kunst sozial aufgebaut wird. Es soll hier nicht um die Frage nach der Definition von Kunst oder um die Bedeutung von Kunstwerken gehen. Mein Fokus richtet sich auf Beziehungen, die durch Protagonisten in der „Kunstwelt“ induziert werden und die Identitätsbildung der/des Einzelnen prägen. Daher wird das Kunstschaffen, d.h. Künstler und Kunstwerke im Migrationskontext, Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Die im Folgenden verwendeten qualitativen Daten wurden in den Jahren 2004 und 2005/2006 in Tiefeninterviews mit vier Kunstschaffenden in Buenos Aires und mit einer Künstlerin in Ljubljana erhoben. Hauptziel war es, ihre Lebensgeschichten aufzuzeichnen und gleichzeitig ihre Kunstwerke zu dokumentieren sowie anderes schriftliches und visuelles Material über ihr Leben und Werk zu sammeln. Ich versuchte, jeden Künstler dazu zu bringen, das eigene Werk zu interpretieren, was nicht immer einfach war,
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Howard S. BECKER, Art Worlds, Berkeley–Los Angeles–London 1982.
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da sie nur zögernd dazu bereit waren, ihre Arbeiten über das unmittelbare Thema hinaus zu diskutieren. Anhand der Lebensgeschichte sowie durch Interviews mit verschiedenen Kunstfachleuten und eine Vielzahl von veröffentlichten Kunstkritiken gelang es mir, die Geschichten einiger Kunstwerke zu konstruieren.
K REATIVITÄT , M IGRATION
UND
T RANSNATIONALISMUS
Migration ist mehr als die bloße örtliche Verlagerung von Menschen; zu Migrationsprozessen zählen auch individuelle Tatkraft des Einzelnen, kulturelle und kreative Dispositionen sowie äußere Faktoren wie wirtschaftliche, politische und soziale Bedingungen in der Ursprungsumgebung und in der Umgebung der Neuansiedlung. Jeder Mensch macht unterschiedliche Erfahrungen und interpretiert diese anders. So kann für die einen die Erfahrung/das Leben im „in-between“ frustrierend sein, während es für andere eine Herausforderung darstellt. Kreativität kann verstanden werden als „the production of novelty through the recombination of already existant elements or [...] as a process of growth, becoming and change”, wobei das erste Konzept die Welt als „an assemblage of discrete parts“ und das zweite sie „as a continuous movement or flow” sieht.5 Beide Definitionen von Kreativität, als „growing emergence” und als „produced novelty”, gab es schon lange, dennoch wurde der zweiten Definition der Vorzug gegeben. Kreativität „as a social process, in which persons are engaged, is at the same time configured, narrated and reflected upon in discourse”, argumentieren Tim Ingold und Elizabeth Hallam.6 Daher werde Kreativität in sozialen Prozessen aufgebaut und unterliege Veränderungen. Auf diese Weise kann man verstehen, wie Menschen „plurale“ Praktiken, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten schaffen, sobald sie sich in unterschiedlichen sozialen, kulturellen, ideologischen oder natürlichen Umgebungen befinden.
5
6
Tim INGOLD, Elizabeth HALLAM, Creativity and Cultural Improvisation: An Introduction, in: DIES. (Hg.), Creativity and Cultural Improvisation, Oxford– New York 2007, S. 16. Ebenda, S. 1–24, hier S. 20.
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Wenn daraus gefolgert werden kann, dass Kreativität intrinsisch mit den eigentlichen Prozessen des sozialen und kulturellen Lebens verbunden ist, dann haben Migration und ihre Folgen (Rekonstruktion/Veränderung des Sozialsystems und des kulturellen Umfeldes aufgrund des Ortswechsels und des veränderten Interaktionssystems) einen Einfluss auf die Kreativität. Insbesondere die sogenannten „transnationalen Migranten“ sind permanent einer Umformung ihrer Identität und Kreativität unterworfen, da sie häufig mit Wandel und Vielfalt konfrontiert sind. „Transnationale Migranten“ werden definiert als “immigrants whose daily lives depend on multiple and constant interconnections across international borders and whose public identities are configured in relationship to more than one nation-state”.7 Interkulturelle Kontakte, die in jeder Gesellschaft, insbesondere aber in Einwanderergesellschaften, unumgänglich sind, bilden einen wichtigen Aspekt bei Migrationsprozessen. Der Begriff „interkulturelle Kontakte“ ist eigentlich eine Metapher, da es sich um das Modell von Interaktionen und gegenseitigen Reaktionen zwischen einzelnen Menschen und Gruppen handelt.8 „Interkulturelle Kontakte“ zeichnen sich durch Heterogenität, Dynamik, fließende Bewegung und Hybridität aus. Gemeinsam mit der Multikulturalität und kulturellen Mischformen steht der Begriff der interkulturellen Kontakte in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach ambivalenten Identitäten. Ambivalente Identitäten sind soziale und relationale Konstrukte, dem Anschein nach das Ergebnis eines Prozesses, bei dem verschiedene kulturelle, soziale oder politische Traditionen neue, vermischte und ambivalente Traditionen bilden. Ambivalente kulturelle Identitäten lösen zudem kulturelle Prozesse und Phänomene aus, die dynamisch, im sozialen und historischen Kontext wandelbar, nicht homogen, instabil und individuell bedingt sind. In einer Studie über transnationale Identitäten slowenischer Einwanderer in Argentinien gelangte Jaka Repič zu der Erkenntnis, dass interne Faktoren wie Erfahrung und Wissen (habitus) eine wichtige Rolle beim Han-
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8
Nina GLICK SCHILLER, Linda BASCH, From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration, in: Anthropological Quarterly 68 (1995), S. 48–63, hier S. 48. Fredric BARTH, Einführung, in: DERS., Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen–Oslo 1969, S. 9–38; Rajko MURŠIČ, Trate naše in vaše mladosti: zgodba o mladinskem in rock klubu [Trate: Unsere und eure Jugend. Geschichte eines Jugend- und Rockklubs], Ceršak 2000.
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deln des Einzelnen während des Migrationsprozesses spielen.9 Und noch einmal: Der Umzug an einen anderen Ort und in eine andere Gesellschaft verändert die Art des Einzelnen zu denken, zu fühlen, zu leben und künstlerisch zu arbeiten; er hat Auswirkungen auf seine/ihre Identität und auf seinen/ihren Habitus. In Bezug auf den Schaffensprozess eines Menschen kann eine ähnliche Schlussfolgerung gezogen werden. Erfahrung, Wissen und Begabung bestimmen zusammen mit verschiedenen äußeren Faktoren die Ausdrucksfähigkeit und Intensität der eigenen Kreativität. Gleichzeitig jedoch wurden Künstler im Verlauf der Geschichte – und in gewissem Maße auch noch heute – mythologisiert, sie wurden als göttliche Exzentriker, als geniale, aber einsame Genies oder leicht verrückte Visionäre angesehen. Auch wenn heute der Begriff der Kreativität noch nicht ganz vom Referenzrahmen des Göttlichen befreit worden ist, arbeiten doch alle Künstler innerhalb eines sozialen Kontexts. Moderne wissenschaftliche Ansätze in der Soziologie und Anthropologie sprechen heute von einem Prozess der Denaturalisierung der Kreativität und damit von ihrer Abhängigkeit von objektiven, sozialen Faktoren.10 Nur in diesem Kontext sehe ich die Prozesse künstlerischer Kreativität und Migration als miteinander verbunden. Die meisten in Argentinien lebenden Slowenen und ihre Nachkommen beteiligen sich regelmäßig am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit Personen und Institutionen in Argentinien und Slowenien. Viele von ihnen haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Repič definiert sie als „transnationale Migranten“, da sie vielfältige Kontakte über nationale und damit transatlantische Grenzen hinweg unterhalten; weiters führt er aus: „Sie zeigen auch eine gewisse Ambivalenz in ihrer sozialen und kulturellen Identität, die z. B. im Ursprungsbegriff und in der Verbindung zu beiden Heimatländern sichtbar wird.“11 Ein charakteristisches Merkmal von Slowenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien auswanderten und sich in Buenos Aires niederließen, ist deren reiches kulturell-künstlerisches Schaffen, das auf ethni-
9
Jaka REPIČ, Po sledovih korenin: transnacionalne migracije med Argentino in Evropo [Den Wurzeln folgend: Transnationale Migration zwischen Argentinien und Europa], Ljubljana 2006. 10 HALLAM, INGOLD (Hg.), Creativity and Cultural Improvisation. 11 Jaka REPIČ, Ambivalent Identities Emerging in Transnational Migrations between Argentina and Slovenia, in: Dve domovini / Two Homelands 31 (2010), S. 121–134, hier S. 124.
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schem Symbolismus und Tradition beruht, welches geprägt ist durch das politische Exil, antikommunistische Aktivitäten und den Katholizismus sowie in geringerem Ausmaß durch die multikulturelle argentinische Gesellschaft. Es zeugt von lebhaften transnationalen Verbindungen, die von den Auswanderern aufgebaut wurden. Die Tatsache, dass die Künstler Migranten oder Nachfahren von Migranten sind, beeinflusst deren künstlerisches Schaffen. Dies tritt in einer Pluralisierung der Kunstformen, Ideen, Praktiken, ja sogar in der Farbgebung zutage. Mit Blick auf diese slowenischen Einwanderer in Argentinien vertrete ich die Ansicht, dass die Tatsache, ein Migrant zu sein, in den meisten Fällen zu kreativer Arbeit anregt. Diese Position widerspricht deutlich den Argumenten einer Gruppe von Wissenschaftlern, die, im Falle von österreichischen Exilkünstlern, behaupten, dass Migration zu einer instabilen Kreativität führe. Von der „Heimatkultur“ ausgeschlossen zu sein, ist für einen Künstler ein schmerzhafter Prozess, da ihm seine politischen und sozialen Rechte und auch seine ästhetisch ausgedrückte und durch komplexe persönliche Verbindungen und Traditionen geprägte Identität genommen werden.12 Der Auswanderungsprozess ist für den Menschen im Hinblick auf seine Beziehungen zu einer Vielfalt von Erfahrungen, die seine Identität und seine Erinnerung ausmachen, wahrscheinlich bedrohlich. Nach John Czaplicka und anderen wird der Künstler dadurch gezwungen, sich mit einer fremden Umgebung auseinanderzusetzen, die die Struktur, auf der seine Kreativität mehrheitlich basiert, destabilisiert.13 Aber Kreativität ist ein fließender, flexibler Prozess; er entwickelt sich, schreitet voran, wächst und verändert sich. Er wird durch äußere, objektive Faktoren wie Natur, Gesellschaft, wirtschaftlichen Anreiz, interkulturelle Verbindungen usw. herbeigeführt. Die von Sozialpsychologen14 entwickelte „Theorie der 4 Ps“ – Presse, Persönlichkeit, Prozess und Produkt – erfuhr durch Einbeziehung sozialer Ein-
12 John CZAPLICKA (Hg.), Emigrants and Exiles: A Lost Generation of Austrian Artists in America 1920–1950, Wien 1996, hier S. VII. 13 Ebenda, S. VIII. 14 Siehe auch Anton TRSTENJAK, Psihologija ustvarjalnosti [Psychologie der Kreativität], Ljubljana 1981; Arthur J. CROPLEY, Definitionen für Kreativität, in: Mark A. RUNKO, Steven R. PRITZKER (Hg.), Encyclopedia of Creativity, Bd. I, San Diego–London–Boston 1999, S. 511–524; Ruth RICHARDS, Four Ps of Creativity, in: Ebenda, S. 733–742.
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flüsse eine Erweiterung zur „Theorie der 6 Ps“: Priznanje – Anerkennung; und Premiki – Veränderung in der Gesellschaft.15 Da viele weltberühmte Künstler wie z. B. Gauguin, Duchamp, Munch oder Kokoschka Migranten waren (freiwillig oder wie in letzterem Fall gezwungenermaßen), kann behauptet werden, dass Kreativität und Migration noch immer nicht frei von Mythologisierung sind, sei diese nun durch Nationalismus, Verallgemeinerungen, Vereinheitlichungen oder absichtliche Abstraktionen bedingt.
Z WISCHEN B UENOS AIRES UND L JUBLJANA: I NDIVIDUELLE G ESCHICHTEN Spricht man von individueller Erfahrung und künstlerischer Tätigkeit, insbesondere bei slowenischen Einwanderern in Argentinien, muss der starke Einfluss berücksichtigt werden, den die Migration, die imaginierte slowenische Einwanderergemeinde und das konstruierte kollektive Gedächtnis einerseits sowie die multikulturelle argentinische Aufnahmegesellschaft andererseits auf das Leben jedes Einzelnen hatten. Nachstehend seien kurz die Nachkriegssituation in Argentinien, die Ansiedlung von Slowenen in Argentinien und der Kontext des interkulturellen Kontakts umrissen.16 Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß Argentinien viele europäische Flüchtlinge willkommen, die lediglich den Beweis führen mussten, dass sie keinen Kontakt zu Kommunisten hatten. Damals war das multikulturelle Einwanderungsland Argentinien noch reich und europäischen Auswanderern gegenüber wohlwollend eingestellt und ist dies bis zu einem gewissen Grad heute noch. Buenos Aires zählt gegenwärtig zu den wichtigsten kulturellen Zentren Lateinamerikas. Trotz der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage während des vergangenen Jahrzehnts verfügt die Stadt noch immer über ein blühendes, vielfältiges Kulturschaffen. Ljubljana hingegen 15 Jan MAKAROVIČ, Antropologija ustvarjalnosti: biologija, psihologija, družba [Anthropolgie der Kreativität: Biologie, Psychologie, Gesellschaft], Ljubljana 2003. 16 Vgl. Colin M. LEWIS, Argentina: A Short History, Oxford 2002; Arnd SCHNEIDER, Futures Lost. Nostalgia and Identity among Italian Immigrants in Argentina, Oxford–Bern u. a. 2000; Zvone ŽIGON, Iz spomina v prihodnost: Slovenska politična emigracija v Argentini [Aus dem Gedächtnis in die Zukunft: Slowenische politische Emigration in Argentinien], Ljubljana 2001.
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galt, als Slowenien noch Teil des ehemaligen Jugoslawischen Staates war, als kein besonders bedeutendes Kultur- oder Kunstzentrum, es ging jedoch seine eigenen Wege. Auch bis heute konnte sich kein entwickelter Kunstmarkt etablieren. Im Bewusstsein und in der Erinnerung slowenischer Auswanderer spielt die Stadt vor allem eine emotionale Rolle. Argentiniens nichtrestriktive Einwanderungspolitik und die guten wirtschaftlichen und (zumindest bis in die 1970er-Jahre) stabilen politischen Bedingungen gewährleisteten ein multi-ethnisches Zusammenleben. Die argentinische Verfassung fördert in Artikel 25 die Einwanderung von Europäern nach Argentinien; dieser Artikel wurde seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1853 nie geändert.17 Die slowenischen Auswanderer, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Argentinien ansiedelten, hegten dennoch den großen Wunsch, wieder zurückzukehren. Mit diesem Ziel vor Augen organisierten sie auch das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Gemeinde und empfanden sich als Flüchtlinge. Sie schufen in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gemeinde, die stark hierarchisch strukturiert war und dies bis heute noch ist, mit einem lebendigen System sozialer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser und bildungspolitischer Aktivitäten und einer stark antikommunistischen ideologischen Basis, aufgrund derer sich die Gemeinde als in politischer Emigration befindlich definierte. Die offiziellen Kontakte zwischen Slowenen in Argentinien und Slowenien waren auf ausgewählte Informationen und zensurierte Literatur und Medienberichte beschränkt. Der Großteil der Gemeindemitglieder in Argentinien hatte keinen physischen Kontakt mit Verwandten und Freunden in Slowenien. Nur wenige reisten nach Europa, weil viele es aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht konnten und aus politischen Gründen es nicht wagten. Dennoch war die ethnische Elite über die politische, kulturelle und soziale Lage in der damaligen Sozialistischen Republik Slowenien unterrichtet. Erst nach der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 nahmen einzelne Migranten und auch deren Nachkommen rege transnationale Verbindungen auf. Natürlich war nur ein Teil der Nachkriegseinwanderer aus Slowenien in der slowenischen Einwanderergemeinde von Buenos Aires organisiert. Vie-
17 Argentinische Verfassung von 1853, http://pdba.georgetown.edu/Constitutions/ Argentina/arg1853.html (Zugriffsdatum: 20.3.2007); argentinische Verfassung von 1994, http://pdba.georgetown.edu/Constitutions/Argentina/argen94_e.html (Zugriffsdatum: 20.3.2007).
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le hatten nur gelegentlichen oder gar keinen Kontakt zu ethnischen Organisationen. Dennoch wirkten sich die Migration selbst sowie die Aktivitäten der organisierten Einwanderergemeinde sehr stark auf die Mehrheit der slowenischen Nachkriegseinwanderer in Argentinien aus, auch auf die Künstler. Die im Titel dieses Beitrages genannten Begriffe – Pluralisierung von Ideen, kulturelle Praktiken und Kunstformen – beziehen sich auf transnationale Migration, im Besonderen auf die ihr zugrundeliegenden Bedingungen des „in-betweens“: • •
Physische Migration: Auswanderung aus Slowenien nach Argentinien bzw. von Buenos Aires nach Slowenien als reelle Erfahrung. „Übertragene Migrationserfahrung“ basierend auf dem Kollektivgedächtnis der Einwanderer, der beibehaltenen Rituale, des ideologischen Instrumentariums der Gemeinde (nach dem Konzept von Althusser). Dies führte zu jenem für die Nachkommen der Einwanderer typischen Zustand des imaginierten „in-betweens“.
Im Folgenden sollen anhand von fünf Beispielen vor dem Hintergrund der genannten Faktoren das Werk und die (Lebens-)Geschichten von Künstlern, die zwischen Kunstwelten in zwei unterschiedlichen kulturellen Umgebungen lebten, arbeiteten, schöpferisch tätig waren und dies heute noch sind, näher eingegangen werden. Ihr „In-between“ wird nicht nur durch/in ihre/n Erzählung/en deutlich, es ist auch ihren Kunstwerken eigen. Die folgende Analyse basiert auf einer fünfjährigen Begleitung des schöpferischen Weges dieser Künstlerinnen und Künstler. Der relativ regelmäßige Kontakt mit ihnen ermöglichte eine langfristige, eingehende Studie, wodurch die Veränderungen in ihren Arbeiten verfolgt werden konnte. Dies sind ihre Geschichten: Pavel kam zwei Jahre nach Kriegsende als politischer Flüchtling nach Buenos Aires. Er war siebzehn Jahre alt. Zunächst wurde er als Schnitzer in einer Möbeltischlerei angestellt; er schloss sich rasch slowenischen Organisationen an. Er heiratete eine Nachfahrin slowenischer Einwanderer, Gleiches gilt für deren gemeinsame Tochter. Pavel hat in den letzten fünfzig Jahren aktiv gemalt, ausgestellt und arbeitet auch heute noch mit seinen über siebzig Jahren als Schnitzer, weil die Renten in Argentinien sehr niedrig sind. Bis vor einigen Jahren war die Welt der Einwanderergemeinde die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Realität seines Lebens in Argentini-
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en. In unseren Gesprächen betonte er dies immer wieder. Pavel erwarb sein künstlerisches Grundwissen in der ethnischen Organisation der Slowenischen Katholischen Aktion (SCA), die in den 1950er-Jahren eine Kunstschule gegründet hatte. Später veranstaltete Pavel im Rahmen von Aktivitäten der Einwanderergemeinde verschiedene Ausstellungen, auf denen er auch die meisten seiner Kunstwerke verkaufte. Als visueller Künstler beteiligte er sich auch an anderen kulturellen Aktivitäten der Gemeinde (als Szenograf, er illustrierte als Grafiker Bücher slowenischer emigrierter Schriftsteller, war Vorsitzender des SCA-Ausschusses für visuelle Kunst und aktives Mitglied im SCA-Führungsgremium). Durch seine enge Verbindung zu den Mitgliedern der slowenischen Einwanderergemeinde und seine Mitarbeit bei deren politischen und kulturellen Aktivitäten konnte Pavel seine Muttersprache verwenden und seine Identität als in Argentinien lebender Slowene aufbauen, die auch seine künstlerischen Arbeiten beeinflusste. Zu den vorherrschenden Themen seiner Malerei gehören lyrisch empfundene Landschaften, die Anklänge an die Berge nahe seiner Geburtsstadt in Slowenien aufweisen. Er gibt zu, dass er sich auf die naturalistische Malerei konzentriert hat, weil seinem Lehrer und Ratgeber an der Kunstschule die abstrakte Kunst nicht gefallen hat und sie auch in der slowenischen Einwanderergemeinde nicht akzeptiert wurde. Gleichzeitig lebte und arbeitete er auch außerhalb der Gemeinde und stellte in lokalen Kunstsalons und anderen kleineren Galerien in den Vororten von Buenos Aires aus, er besuchte sogar den Kunstunterricht an der MEEBA – Mutual de Estudiantes Egresados de Bellas Artes (Vereinigung von MasterStudenten in der Bildenden Kunst), blieb aber dem gemeinhin erwarteten, „vorgetesteten“ naturalistischen Stil treu. Dennoch zeigen seine Bilder eine spezifische Mischung von Formen und Farben, die weder in der argentinischen noch in der slowenischen Kunst üblich sind. Erst während der letzten zehn Jahre, nachdem er als Vorsitzender der Abteilung für Kunst des SCA zurückgetreten war und nur mehr selten an den Aktivitäten der Einwanderergemeinde teilnahm, hat er seine „künstlerische Freiheit“ gefunden. Jetzt passte er sich nicht mehr dem Publikumsgeschmack an und schuf eine Reihe abstrakter Bilder. Dennoch entwickelt er seine Arbeiten immer noch in engem Kontakt zur Natur und wählt Motive, die „mit seinem Leben verbunden sind und die Gedanken der Lebenserfah-
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rung in visuelle Erfahrung übertragen“.18 Die Titel seiner Bilder aus den jeweiligen Serien lauten Opazovalci (Beobachter), V preizkušnjah (In Versuchungen), Trpljenje (Leiden), Valovanje časa (Die Fluktuation der Zeit) usw. Diese Titel sind alle auf die eine oder andere Weise mit Pavels Erfahrung der erzwungenen Migration verbunden. Seine Veränderung im Stil war auch durch seinen ersten Besuch in Slowenien 1995 beeinflusst. Nach fünfzig Jahren besuchte er seinen Geburtsort und seine wenigen Verwandten und präsentierte sich selbst und sein Werk dem slowenischen Publikum. Er stellt sich selbst als Slowene vor, der in Argentinien lebt, dessen ethnische Identität auf slowenischen Symbolen und einem slowenischen Erbe basiert. Heute reisen er und seine Frau häufig nach Slowenien, nicht wegen seiner Ausstellungen und seiner Malerei, sondern um die Tochter zu besuchen, die mit ihrer Familie dorthin gezogen ist. Im Gegensatz zu dem oben dargestellten Beispiel sind die meisten Nachkommen slowenischer Einwanderer, die in Argentinien geboren und aufgewachsen sind, fest in argentinischen Kunstkreisen verankert. Sie haben die lokale Kunstwelt überschritten und versuchen nun, in der internationalen Kunstwelt, vor allem durch transnationale Verbindungen, Fuß zu fassen. Zu ihnen gehört Ivana, eine professionelle Malerin und Kunstlehrerin. Das Bewusstsein ihrer ethnischen Herkunft und das daraus resultierende Bemühen, ihre ethnische Identität und ihren künstlerischen Ausdruck zu bewahren, wurden durch ihr Aufwachsen in der slowenischen Einwanderergemeinde in Buenos Aires geprägt, von der sie sich später distanzierte. Ivana wurde in Buenos Aires als Kind slowenischer Eltern geboren, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem kommunistischen Regime geflohen waren. In der Hoffnung auf eine rasche Rückkehr beteiligte sich ihre Familie an den Aktivitäten der slowenischen Gemeinde und lebte nach den sozialen Normen und Werten, die von wenigen zentralen Persönlichkeiten der Gemeinde bestimmt wurden (Eintreten für die ethnische Endogamie, Ablehnung der kulturellen Integration in die argentinische Gesellschaft, Beibehaltung der slowenischen nationalen Identität, Förderung des Katholizismus und antikommunistischer Aktivitäten, ethnische Schulen usw.). Neben der normalen Schule besuchte sie auch die slowenische Samstagsschule, wurde religiös erzogen und lernte alles über die politische Emigration der Slowe-
18 Er schrieb dies als Begleittext für eine Ausstellung. Eine Abschrift befindet sich im Archiv der Autorin.
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nen und ihren Kampf für ein vom Kommunismus befreites Slowenien. Ihre Eltern sprachen jedoch nie vom Krieg und der Emigration; ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ivana heiratete einen Nachkommen von slowenischen Einwanderern, ihre Ehe scheiterte jedoch. Mit Mitte zwanzig setzten ihre Zweifel an dem ein, was sie in der slowenischen Schule gelernt hatte, was die Älteren ihr über slowenische Geschichte erzählt hatten, und vor allem begann sie sich zu fragen, was es bedeutete, Slowenin zu sein. Nach einem kurzen Besuch der Heimat ihrer Eltern wurde ihre Verunsicherung noch größer. Sie erkannte, dass sie Argentinierin und gleichzeitig Slowenin war. Sie lehnte jede weitere Tätigkeit in der slowenischen Gemeinde ab und begann zu malen. Ihre frühen Arbeiten, die sie ihrem Vater widmete, standen im Zeichen jenes Symbolismus, den sie für Slowenisch hielt. Für die Bilder Por los que se han ido (Für die, die gegangen sind) und En otro tiempo (In einer anderen Zeit) verwendete sie Werkzeuge ihres Vaters und das Motiv „slowenischer Nelken“19. Die Bilder sind Ausdruck ihrer Suche nach einer spezifischen kulturellen Identität und zeigen auch, wie sich tatsächliche Erfahrung mit sozialer Erinnerung verschränkt. Ivanas gescheiterte Ehe, der Konservativismus der Gemeinde und die sogenannten ethnischen „Regeln“ hielten sie davon ab, mit anderen Mitgliedern der slowenischen Einwanderergemeinde Kontakt zu halten. Sie konzentrierte sich ganz auf die Malerei, begann als Kunsterzieherin und fand einen argentinischen Partner. Sie fing an, die Heimat ihrer Eltern zu besuchen und entwickelte eine kritische Distanz zu den Aktivitäten und zum Verhalten der Mitglieder der Einwanderergemeinde in Buenos Aires. Gefühle des Nicht-Dazugehörens haben, wie sie bemerkt, zu einer Identitätskrise geführt, die sie durch ihre Malerei zu überwinden versuchte. So finden sich in ihren Arbeiten Motive, die einerseits die Familiengeschichte erzählen und sich auf die Beibehaltung traditioneller slowenischer Gebräuche konzentrieren (Pflanzen von Nelken, Schnapsbrennen usw.), anderer-
19 Die Nelke (dianthus) besitzt mehrere symbolische Bedeutungen in Ivanas Kunst. Zum einen bedeutet sie die Nationalblume Sloweniens, indem sie auch in der Folklore als „slowenische Nelke“ figuriert. Zweitens symbolisiert sie die Liebe, Liebe zu Menschen, und in der Erzählung der slowenischen Emigration auch Liebe zur Heimat. Drittens war dies die Blume, welche ihre Mutter im Garten züchtete und verkörpert persönliche Gefühle. Vgl. Jožko ŠAVLI, Nagelj, slovenski cvet [Nelke als slowenische Blume], (http://cgi.omnibus.se/beseda/pdf/ 193-2.pdf) (Zugriffsdatum: 28.3.2011).
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seits kommen auch die Exilerfahrung der Künstlerin, hybride Identifikationen, soziale Probleme Argentiniens und ihr Zerrissensein zwischen den Orten auf beiden Seiten des Atlantiks zum Ausdruck. Ein in ihren Arbeiten häufig vorkommendes Symbol ist daher das Argentinien und Slowenien verbindende Wasser als „Quelle für Wandel und ständige Bewegung, Unruhe“, wie sie erklärte. Ivanas Gefühle des Zerrissenseins zwischen Argentinien und Slowenien können durch das Prisma der doppelten Zugehörigkeit verstanden werden. Obwohl sie in Argentinien geboren wurde und das Land als ihre Heimat ansieht, fühlt sie sich auch in Slowenien „zu Hause“. In den 1990er-Jahren reiste sie oft dorthin, besuchte Verwandte und fand neue Freunde. 2001 veranstaltete sie ihre erste Ausstellung in Ljubljana. Sie begann, transnationale Verbindungen zu knüpfen, die durch ihre sozialen Bindungen, ihre positive Haltung zu ihrer ethnischen Herkunft und die schlechte wirtschaftliche Lage in Argentinien erleichtert wurden. Durch ihre Reisen nach Slowenien erschlossen sich ihr allmählich die Komplexität ihrer eigenen Identität und die Komplexität der Zugehörigkeitsprozesse. All dies verhalf ihr zum Erfolg bei Ausstellungen in Argentinien und zum Abschluss des Kunststudiums an der IUNA (dem Kunstinstitut der Nationalen Universität). Heute gehört Ivana wichtigen argentinischen Kunstzirkeln an. In den letzten Jahren veranstaltete sie aber auch häufig Ausstellungen in der slowenischen Gemeinde und begann, wieder soziale Kontakte mit der Gemeinde aufzunehmen. Die Geschichte zweier Schwestern, Maria und Ana, ist wiederum etwas ganz Besonderes. Sie wurden in den 1950er-Jahren in Buenos Aires in einer slowenischen Familie geboren, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingewandert war. Als sie in die öffentliche Schule kamen, sprachen sie kein Wort Spanisch. Maria und Ana sind heute professionelle Malerinnen und waren auch Kunstlehrerinnen. Beide Schwestern waren seit ihrer Kindheit aktiv in der slowenischen Gemeinde tätig und besuchten die slowenische Schule in Buenos Aires. Gleichzeitig waren sie Teil einer größeren, argentinischen Gesellschaft und beteiligten sich später aktiv in argentinischen Kultur- und Kunstkreisen. 1986 veranstalteten sie ihre erste gemeinsame Ausstellung, der bis heute mehr als zehn weitere gefolgt sind. Eine ihrer ersten Bilderserien hieß Ladje (Schiffe) in Erinnerung an die Schiffsreise ihrer Eltern nach Argentinien. Die ältere Schwester Ana ist noch immer stark in der slowenischen Einwanderergemeinde engagiert, sowohl politisch als auch kulturell.
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Sie koordiniert die Kunstsektion der Slowenischen Kulturgesellschaft und führt die argentinische Fraktion einer der slowenischen politischen Parteien an. Sie spricht fließend Slowenisch und nimmt als Malerin und Kulturschaffende eine wichtige Stellung innerhalb der slowenischen Einwanderergemeinde nicht nur in Buenos Aires, sondern auch in anderen Teilen Argentiniens ein. Sie ist auch Mitglied einer Vereinigung von acht argentinischen Künstlern sowie von verschiedenen wichtigen Kunstvereinen in Argentinien. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 zog die jüngere Schwester nach Ljubljana, „nach Hause“, wie sie es ausdrückte und betonte damit die slowenische Identität ihrer Familie. Dennoch blieb die Verbindung beider Schwestern weiterhin sehr eng. Die slowenische Schwester, wenn ich sie so nennen darf, nahm Kontakt zu Verwandten und Freunden der Eltern auf und schuf sich so ein starkes soziales Netzwerk. Sie beteiligt sich an lokalen politischen und kulturellen Organisationen und widmet sich ihrem künstlerischen Schaffen. Oft reist sie nach Argentinien und verbringt mehrere Monate dort. So hält sie die Verbindungen zu Bekannten in Argentinien aufrecht und nimmt an den Kunstkreisen in beiden Ländern teil. Maria sagte mir, dass sich ihre Bilder in Slowenien von jenen, die sie in Argentinien während der Familienbesuche malt, unterscheiden. Sie verwendet unterschiedliche Farben, häufig lebhaftere und strahlendere als bei ihren in Ljubljana gemalten Werken. Sie erklärt, dies sei einfach der Einfluss von Argentinien, dessen Bevölkerung und dessen Klima. Der häufige Nebel und Regen am Himmel von Ljubljana hätten einen ganz anderen Einfluss auf die Farbwahl. Fernandos Geschichte ist ein wenig anders. Er wurde im Herzen der slowenischen Gemeinde in Lanus, Buenos Aires, geboren, wuchs dort auf, besuchte die slowenische Samstagsschule und sprach Slowenisch mit seinen Großeltern, welche Einwanderer waren. Bei unserem ersten Treffen konnte er aber keinen einzigen Satz Slowenisch sprechen, nur einzelne Wörter waren ihm in Erinnerung geblieben. Er erzählte mir, dass er nach Beendigung der Schule von zu Hause ausgezogen sei, zu arbeiten und auch zu malen begonnen habe. Sein Leben veränderte sich abrupt, als er beschloss, sich der Kunst zu widmen. Auch wenn sich Fernando als Erwachsener nie auf seine familiären Ursprünge und die Einwanderungsgeschichte bezog, verweisen darauf die in seinen Kunstwerken ausgedrückten Kindheitserinnerungen. Er arbeitet mit Polyesterharz und schuf eine Serie von
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Spielzeugfiguren, die keine industriellen Gegenstände sind, auch wenn sie diesen Eindruck erwecken. Spielzeug, d. h. Kleinkindspielzeug, ist ein Symbol für Babys, die, wie einer der Kritiker schrieb, „wie ein Stück Ton sind, das noch modelliert werden muss“– modelliert vom Zuhause, von der sozialen und sogar ideologischen Umgebung. Fernandos Aversion gegen die katholische Erziehung in der ethnischen Schule lässt sich in seinen Arbeiten in der Serie Mundo Felíz (Glückliche Welt) und Vía crucis (Kreuzweg) erkennen. Die asiatisch aussehenden, aber zweifelsohne katholischen Heiligen sind eine Kritik an der religiösen Erziehung und ebenso ein Echo auf den argentinischen Multikulturalismus, den Fernando beobachtet und in Buenos Aires erlebt. Bei unserem letzten Treffen in Ljubljana 2010 erzählte er mir von seinem neuen Projekt, das ihn wieder zur Malerei führte. Er malte eine an die Frührenaissance gemahnende Szenerie mit Haustieren und italienischer Architektur. Er beschrieb mir auch sein sogenanntes Osterprojekt, bei dem er ein ganzes Osterfest vorbereitete – d. h. das traditionelle Frühstück, wie es seine Großeltern zubereitet hatten – und dazu eine Gruppe Freunde einlud. Stolz erzählte Fernando davon auf Slowenisch, mit einem herrlichen spanischen Akzent.
S CHLUSSBEMERKUNGEN Die Analyse der Lebensgeschichten von Künstlerinnen und Künstlern und deren Werken hat die Dynamik und Veränderbarkeit der Identitätskonstruktion bestätigt. Dies wurde bereits auch von anderen Wissenschaftlern wahrgenommen, die auf die Bildung hybrider, ausgehandelter und manipulierter ethnischer Identitäten bei Nachkommen von Einwanderern hingewiesen haben, von Menschen, welche oft zwischen Identitäten20 „pendeln“ oder ambivalente Identitäten ausbilden. Der Wechsel zwischen Identitäten wirkt sich auf kulturelle Praktiken, Kommunikation, das künstlerische Schaffen und den Aufbau transnationaler Beziehungen aus. Bei kulturellen Prozessen kann das individuelle Handeln nicht ausgeklammert werden, auch dem sozio-kulturellen Kontext kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Bei slowenischstämmigen Künstlerinnen und Künstlern in Argentinien spielten spezi-
20 Dhooleka S. RAJ, Where Are You From? Middle-Class Migrants in the Modern World, Berkeley 2003.
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fische Faktoren wie die Flüchtlingssituation der Eltern, der Aufbau einer eng untereinander verbundenen Einwanderergemeinde, die politischen und kulturellen Aktivitäten dieser Gemeinde und der vorherrschende Klerikalismus eine Rolle. Ivana, Maria, Ana und Fernando hörten oft die Geschichten über Slowenien, die Lage der Flüchtlinge, das Schicksal der NaziKollaborateure des Zweiten Weltkriegs in Slowenien und über den schweren Anfang, den ihre Eltern in Argentinien hatten. Das kollektive Gedächtnis beeinflusste ihre Arbeiten. Die Konstruktion von personellen wie kollektiven Identitäten hat sich als wichtige Verbindung zwischen Migration und Kreativität erwiesen. Bei Slowenen und ihren Nachkommen in Argentinien können verschiedene Formen der Zusammenarbeit und der Identitätsbildungsprozesse festgestellt werden, die bis heute lediglich auf die Interaktion zur Verstärkung eines ethnisch identifizierten Kollektivs oder einer Gemeinde reduziert worden sind. Interaktion und Kommunikation beschränkten sich bei den hier beschriebenen Künstlerinnen und Künstlern nicht auf die slowenische Gemeinde. Sie wurden in der argentinischen Kultur erzogen und arbeiteten dort, sie bezogen sich auf argentinische Künstler und Kritiker und hatten mit unterschiedlichem Publikum zu tun. Sie waren in der sozialen Praxis kreativ.21 Neben der indirekten oder direkten Migrationserfahrung in den von den fünf Personen erzählten Geschichten sind natürlich auch andere kulturelle Einflüsse und Elemente gegenwärtig. Selbstverständlich verfügen alle Künstler über eigenständige Ausdrucksmittel. Und dennoch spiegeln ihre Arbeiten bis zu einem gewissen Grad die Dynamik der interkulturellen Verbindungen wider, die sie im multikulturellen Alltag der argentinischen Gesellschaft erleben. In den Kunstwerken der fünf Befragten kann ein starker Einfluss europäischer (und bis zu einem gewissen Grad slowenischer) Kunsttradition ausgemacht werden. Einen Beitrag dazu leisteten die argentinischen Bildungsinstitutionen und die argentinische Kunsttradition selbst, die historisch an die europäische Kunstwelt angebunden war. Der Einfluss der einheimischen argentinischen Kunst wird besonders bei den Landschaftsbildern und den verwendeten Farben deutlich. Im Zuge ihrer Kunstausbildung kamen die vier in Argentinien geborenen Künstler besonders mit der latein-
21 Henri LEFEBVRE, Critique of Everyday Life, London–New York 2002 [1947], hier S. 232.
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amerikanischen Kunst in Berührung, gleichzeitig wurden sie aber auch mit den europäischen und nordamerikanischen Kunsttraditionen bekannt gemacht. Das Werk dieser Künstler gibt Aufschluss darüber, wie sie sich selbst definieren und sich in der heutigen globalisierten Welt einer Gruppe zugehörig fühlen. Obwohl ganz unterschiedliche Themen in den Werken behandelt werden, sind einige Gemeinsamkeiten auszumachen, insbesondere die symbolische Bedeutung von Ortsveränderung, Exil und hybrider individueller Identität (Wasser, Ablehnung und Kritik des Katholizismus, Symbolismus der zweifachen Farbgebung). Die Einzelgeschichten und Analyse der Kunstwerke von slowenischstämmigen Künstlerinnen und Künstlern in Argentinien haben gezeigt, dass sich Immigranten in verschiedenen Kulturkreisen engagieren und interkulturelle Beziehungen sowie komplexe ambivalente Identitäten und hybride Kulturpraktiken aufbauten. Zudem bilden sie eine Gruppe, die einem Kollektiv zugehörig ist, das in sozialer wie kultureller Hinsicht sehr heterogen ist und sich sowohl vom Kern der slowenischen Einwanderergemeinde als auch von der breiteren argentinischen Gesellschaft unterscheidet. Diese Differenz ist während der letzten zwei Jahrzehnte noch deutlicher hervorgetreten, als die Künstler begannen, aktiv transnationale Verbindungen zwischen Argentinien und Europa, insbesondere Slowenien, zu knüpfen. Ihr künstlerisches Werk ist durch einen hybriden Charakter in Bezug auf Formen, Farben und Motive gekennzeichnet, weil sie häufig zwischen Argentinien und Slowenien pendeln und regelmäßige soziale, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte zu Menschen und Institutionen in beiden Ländern unterhalten.
Zerstörte Instrumente Verlust und Gewinn durch musikalische Migration C HRISTA B RÜSTLE (B ERLIN )
In Reflexionen über Musik taucht nicht selten die allgemeine Feststellung auf, dass Musik eine globale Sprache sei. Die Vorstellung, dass es neben der weltweiten wortsprachlichen Vielfalt ein universelles Medium der Verständigung gebe, scheint beruhigend zu sein. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich diese Vorstellung als ein Irrtum, weil sich auch die Musik in eine Vielzahl von „Musiken“ aufteilt, die sich auf der ganzen Welt unterschiedlich entwickelt haben. David Reck, Autor der umfassenden Darstellung Music of the Whole Earth (zuerst erschienen New York 1977), nennt eine Bandbreite an musikalischen Formen, welche etwa von den summenden Klängen einer Mundharfe, die ein Musiker aus Neuguinea einem lebenden Insekt entlockt, und den Trompetenklängen eines tibetanischen Tempelorchesters über den polyphonen Gesang eines Chors aus der Ukraine oder Sängern aus Zentralafrika und die zarten Melodien des japanischen Saiteninstruments koto oder einer chinesischen ch’in, bis zu den komplexen Rhythmen afrikanischer Xylophon- und Flötenmusik und den Klängen Anton Weberns oder einer Jazz Band in New Orleans reicht; eine Liste, die man mühelos erweitern könnte. Von der Musik kann also kaum gesprochen werden, nimmt man die außerordentliche Vielfalt in den Blick, die bereits in einem einzelnen Land oder sogar in einer einzelnen Region zu finden ist. Der Musikethnologe und Anthropologe Reck hat in seinem Buch trotzdem eine gemeinsame Instanz herausgestellt, quasi eine Universalie, durch die Verbindungen zwischen den „Musiken“ geschaffen werden: Es sei „that wonderful common denominator, the human being“ oder die „universal
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humanness“1. Die menschlichen Körper also und ihre physischen wie emotionalen und psychischen Fähigkeiten und Reaktionen beim Musikmachen und beim Musikhören erweisen sich Reck zufolge als ideale Verbindungsglieder, weil durch sie Handlungen, Erfahrungen, Überzeugungen, Interpretationen und Definitionen zwischenmenschlich, intersubjektiv geteilt werden können. Diese Folgerung scheint trivial zu sein, aber auch essentialistisch, denn in Wirklichkeit ist es keineswegs gesichert, dass wir alle gleiche Körper und Ohren haben, mit denen wir unterschiedliche Musik adäquat produzieren oder rezipieren können, weil unsere Wahrnehmung und unsere Reaktion auf bestimmte Phänomene der Umwelt oder Kunst auch kulturell charakteristisch geprägt wurden und werden. Selbst die Rezeption von global distribuierter Popmusik dürfte daher nicht einheitlich betrachtet werden. The assumption that at some level all forms of cultural diversity may be understood on the basis of a particular universal concept, whether it be ‘human being’, ‘class’ or ‘race’, can be both very dangerous and very limiting in trying to understand the ways in which cultural practices construct their own systems of meaning and social organisation.2
Für den Themenbereich „Musik und Migration“ stehen, aus meiner Perspektive gesehen, trotzdem beziehungsweise gerade deshalb handlungsorientierte, interpretative und diskursive „Zwischenbereiche“ zur Diskussion, also unterschiedliche Dimensionen der Musikpraxis und Musikbegriffe von Migranten und „migrativen“ Prozessen. Doch zunächst dürfte von Interesse sein, welche Formen von Migration in der Musik zu eruieren sind und welche Gründe für die Migration von Musikschaffenden vorliegen, in einem Bereich also, in dem sich das Wandern von Menschen und das Wandern von Musik historisch als ein Hauptaspekt erweisen, der aus der Geschichte und speziell aus der Musikgeschichte nicht wegzudenken ist. In erster Linie handelt es sich wohl um Arbeitsund/oder Fluchtmigration, allerdings – wenn man historisch zurückblickt – ist gerade die Arbeitsmigration differenziert zu betrachten. Immer hat es Musiker gegeben, die für Lohn von Ort zur Ort wanderten oder ihre Heimat
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David RECK, Music of the Whole Earth, New York 1977, Reprint 1997, S. 1, 4, 13. Homi BHABHA, The Third Space, in: Jonathan RUTHERFORD (Hg.), Identity: Community, Culture, Difference, London 1990, S. 207–221, zit. S. 209.
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verlassen haben, um andernorts ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Walter Salmen widmete in seinem sozialgeschichtlichen Buch Beruf: Musiker ein ganzes Kapitel dem „Unterwegs“: den Trobadoren und Minnesängern des Mittelalters (beispielsweise Walther von der Vogelweide), den etwa zeitgleich agierenden Joculatoren (Schauspielern, Akrobaten, Sängern, Tänzern), die aber als weitaus „ehrlosere Freudenbringer“ angesehen wurden (wie die Spielleute), den „fahrenden Sängern“ unter den Meistersingern im 15. Jahrhundert, den im 16. Jahrhundert von Prag aus wirkenden und wandernden jüdischen Musikantenensembles, den bis ins 20. Jahrhundert existierenden Bänkelsängern, den Harfenmädchen, die sich als Kindfrauen auf Jahrmärkten hören ließen, den wandernden Musikanten des 19. Jahrhunderts sowie den Straßenmusikanten unserer Zeit.3 Mitunter war mit der Arbeitsmigration sozialer Aufstieg verbunden, doch in der Regel wurden „fahrende Musikanten“ sozial sehr gering eingestuft und blieben es auch. Es wäre den Fragen genauer nachzugehen, ob und inwiefern sozialer Aufstieg mit Sesshaftigkeit oder Ortsansässigkeit verbunden war, etwa mit der Mitgliedschaft in einer Zunft oder der Festanstellung in einem Orchester, beziehungsweise, ob und inwiefern das nomadenhafte Musizieren unter anderem auch als Lebensstil angestrebt wurde, weil zum Beispiel mittelalterliche Sänger nicht nur aus niederen sozialen Schichten stammten, sondern auch Fürsten und Grafen, Ministeriale oder Kleriker sein konnten.4 Eine andere Variante von Arbeitsmigration dürfte nicht immer oder nicht vorrangig ökonomisch motiviert gewesen sein. Dies betrifft die vielen Wanderungen von Musikern, die der Ausbildung, der Lehre oder allgemein der Bildung galten. Dabei spielte die Anziehungskraft bestimmter geografischer Räume eine große Rolle, wie zum Beispiel Italien vom 17. bis 19. Jahrhundert im Rahmen der Grand Tour. Aber auch die Anziehungskraft berühmter Künstler- und Lehrerpersönlichkeiten (zum Beispiel Giovanni Gabrieli oder Antonio Vivaldi in Venedig) oder Schulen und Institutionen, denkt man beispielsweise an das von Mendelssohn 1843 gegründete
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Vgl. Walter SALMEN, Beruf: Musiker. Verachtet – vergöttert – vermarktet. Eine Sozialgeschichte in Bildern, Kassel u. a. 1997, S. 190–209. „Troubadours, Trobadors, Trouvères oder Minnesänger konnten mithin sowohl ‚nobiles‘ als auch ‚dienstmannen‘ sein, also Fürsten und Grafen, Ministeriale, aber auch Kleriker und bürgerliche Lohnsänger, die nach damaliger Einschätzung ‚nider sint‘“ (ebenda, S. 190).
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Leipziger Musikkonservatorium, zog eine Schülerschar aus ganz Europa magnetisch an.5 An den genannten Beispielen, die nur einen groben historischen Einblick geben können, lässt sich bereits zeigen, dass im Musikbereich die einmalige und unidirektionale Bewegung und Wanderung, insbesondere bei der Fluchtmigration oder Auswanderung, zwar auszumachen ist, dass man jedoch sehr viel eher von häufigen Ortswechseln beziehungsweise von Hinund Zurückbewegungen ausgehen kann, die eine Überlagerung soziokultureller Räume bewirken, oder, wie Ludger Pries es formuliert hat, die in ihrer Prozesshaftigkeit eine „Emergenz neuer pluri-lokaler Wirklichkeiten“ mit sich bringen.6 Selbst bei einer unidirektionalen Bewegung wird man allerdings „transmigrative“ Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen des Ausgangs- und des Ankunftsortes natürlich nicht ausschließen können, wie ich nun an einem Beispiel aus der Gegenwart zeigen möchte. Die in Berlin lebende Musikerin Silvia Ocougne ist in Brasilien aufgewachsen, die brasilianischen Rhythmen und Melodien sind ihre musikalische „Muttersprache“, wie sie selbst einmal sagte.7 Weshalb kam sie nach Berlin? Sie schloss zunächst eine klassische, akademische Ausbildung als Komponistin in São Paulo ab. In privatem Gitarrenunterricht, in Zusammenhang mit alter Musik und historischen Instrumenten sowie im Kontext experimenteller Musik in Brasilien machte sie erste Erfahrungen mit ungewöhnlichen Spielweisen und Gitarrenklängen. Diese Erfahrungen begründeten ihren Wunsch, sich weitere, neue musikalische Arbeitsfelder für die Gitarre zu erschließen. Sie studierte am New England Conservatory in Boston „Third Stream Guitar“, eine musikalische Richtung zwischen Klassik und Jazz.8 Von Boston flog sie 1987 nach Berlin, eher zufällig; nach Brasilien wollte sie nicht mehr zurück, in den Vereinigten Staaten konnte sie nicht bleiben, einzig ein Flugticket nach Berlin war gerade noch erschwing-
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Vgl. etwa Jeremy BLACK, Italy and the Grand Tour, New Haven 2003; Clare HORNSBY (Hg.), The Impact of Italy. The Grand Tour and beyond, London 2000; vgl. Yvonne WASSERLOOS, Das Leipziger Konservatorium der Musik im 19. Jahrhundert. Anziehungs- und Ausstrahlungskraft eines musikpädagogischen Modells auf das internationale Musikleben, Hildesheim u. a. 2004. Vgl. Ludger PRIES, Internationale Migration, Bielefeld 2001, S. 33. Vgl. http:// www.silviaocougne.com (Zugriffsdatum: 22.3.2010). Vgl. Peter Niklas WILSON, Unerledigte Fragen. Die Renaissance des „Third Stream“ zwischen Jazz und europäischer Moderne, in: Neue Zeitschrift für Musik 151 (Juni 1990), S. 8–15.
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lich. Aus den Koffern, die sie nach Berlin mitbrachte, purzelten nicht nur der Enthusiasmus, in inspirierenden Kollaborationen mit anderen Künstlern neue musikalische Wege zu finden, sondern auch einige zerstörte Instrumente – eigentlich kein Grund zur Freude, doch sie lagen für die Musikerin auf dem Weg der bereits begonnenen Klangexpeditionen mit ihrem Instrument, der Gitarre. Berlin, damals noch geteilte Stadt, bedeutete für sie einen Neuanfang: freies Experimentieren mit Gitarren und anderen Saiteninstrumenten; sie spielte im Orchestra of the Excited Strings von Arnold Dreyblatt oder mit Chico Mello, einem Komponisten und Musiker, der ebenfalls seine brasilianische „Muttersprache“ nach Berlin transferiert hatte.9 Klangexperimente mit der Gitarre umfassten die ganze Bandbreite der Bearbeitung und Erweiterung der Instrumente: Gitarren werden umgestimmt, sie wandeln sich zu Perkussionsinstrumenten, werden mit dem Bogen gestrichen oder als „table guitar“ liegend auf dem Tisch gespielt; die Saiten lassen sich auch verquer aufspannen oder nach dem Vorbild von John Cage mit Gegenständen präparieren, der Resonanzkörper färbt die Stimme oder verstärkt andere Instrumente. Dies alles wird nun mit der musikalischen „Muttersprache“ verquickt. Gerade im Zusammenspiel mit Chico Mello gerät die experimentelle Verfremdung brasilianischer Rhythmen und Melodien zu einer kunstvoll witzigen Hommage an die Heimat, wobei eine improvisatorische Bearbeitung von Trem das onze ein gutes Beispiel dafür darstellt.10 Trem das onze (der 11-Uhr-Zug) ist eine der populärsten brasilianischen Sambakompositionen, die Adoniran Barbosa (1912–1982) 1964 herausgebracht hat. Barbosa (oder mit richtigem Namen João Rubinato) war als Kind italienischer Einwanderer in einem Vorort von São Paulo aufgewachsen, daher geraten die beiden Musiker Ocougne und Mello auch in eine Debatte, als sie ihre Interpretation des Titels ankündigen: Ist das nun italienische oder brasilianische Musik?11 Diese halb ernst, halb ironisch geführte kurze Diskussion zeigt exemplarisch, dass man bei der Frage nach den Dimensionen des Ausgangsortes von Migration möglicherweise ebenso komplexe beziehungsweise mehrschichtige Strukturen zu berücksichtigen
9 Vgl. http:// www.foreigner.de/in_chico.html (Interview, Zugriffsdatum: 22.3.2010). 10 Vgl. Chico MELLO, Silvia OCOUGNE, Violão de dois, CD oaksmus, om010202, Berlin 2001, Track 14. 11 Vgl. ebenda, Track 13, vgl. auch Silvia OCOUGNE, Chico MELLO, Música Brasileira De(s)composta, CD Edition Wandelweiser Records, EWR 9603, Berlin o. J.
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hat, wie bei der Frage nach den Dimensionen des Ankunftsortes. Dies zeigt sich auch in dem musikalischen Ergebnis der Zusammenarbeit von Ocougne und Mello. Es ist allerdings zu ergänzen, dass man gerade in der Kunst am ehesten zu der Annahme neigt oder es sogar als Voraussetzung erachtet, dass sich die Auswirkungen persönlicher Migration (wie auch immer sie motiviert war) dort, in der Kunst, als Auseinandersetzung zwischen Herkunft und Ankunft niederschlägt oder zeigt. Wäre es aber vielleicht nicht doch auch anzuzweifeln, ob das eigentlich der Realität entspricht? Welche Situation liegt vor, wenn gerade die eigene, vom Herkunftsland geprägte künstlerische Produktion – im Kontext von persönlicher Migration – die wichtigste Konstante darstellt, zum Beispiel, um sich Migranten gleicher Herkunft anzuschließen? Im Folgenden sei der Versuch unternommen, anhand des angeführten Beispiels einige Kommentare zu geben, die die Migration von Silvia Ocougne und Chico Mello analytisch in den Blick nehmen, sowohl bezogen auf ihre persönlichen Wanderungen – beide kamen 1987 nach Berlin – als auch bezogen auf ihre musikalischen „Bewegungen“. Was die persönlichen Motive betrifft, ist zunächst festzuhalten, dass beide Künstler freiwillig nach Berlin gekommen sind, weniger als Arbeitsmigranten als vielmehr im Sinne von „Kunstmigranten“. Sie kamen einerseits wegen bestimmter Lehrer, so hat Mello unter anderem bei Dieter Schnebel in Berlin Komposition studiert, andererseits wegen der vielfältigen und offenen Musikszene Berlins, die dem experimentellen Arbeiten Nischen bietet – sofern man sich mit flexiblen Arbeitsbedingungen arrangieren kann. Berlin ist bis heute gerade deshalb ein großer Anziehungspunkt für Künstler, weil der Lebensunterhalt im Vergleich zu anderen Metropolen noch immer sehr günstig bestritten werden kann, zum Beispiel aufgrund der noch immer relativ entspannten Wohnungssituation. Beide Künstler passen eigentlich auch nicht in das Bild von eindirektionalen Wanderern, obwohl beide in Berlin leben. Sie bewegen sich wie viele Künstler zwischen verschiedenen Ländern hin und her, sie treten in verschiedenen Ländern auf, unterrichten dort, veranstalten Festivals, sie bewegen sich vor allem regelmäßig zwischen den Großstädten Curitiba, São Paulo und Berlin. Man könnte einwenden, dass es heute beinahe üblich ist, dass Künstler weltweit agieren; von Künstlern aber, die auf der ganzen Welt auftreten, jedoch an ihren Auftrittsorten nur die Bühne und das Hotel kennenlernen und ansonsten einen festen Wohnsitz in New York haben, unterscheiden sich die beiden brasilianischen Mu-
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siker doch erheblich, da sie hauptsächlich zwischen zwei Welten leben, also ihr Herkunftsland nie endgültig verlassen haben. Sie gehören zur Gruppe der Transmigranten, bei denen Ludger Pries zufolge „das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion durch die Herausbildung von auf Dauer angelegten transnationalen sozialen Räumen gestaltet ist“, zu denen kulturelle und künstlerische Räume hinzutreten.12 Über die „Zwischenräume“, Beziehungen und Netzwerke, die sich daraus in persönlichen und privaten Bereichen ergeben, lässt sich an dieser Stelle nur anmerken, dass es sie gibt; über die künstlerischen beziehungsweise musikalischen „Zwischenräume“ allerdings ist im Weiteren nachzudenken. Künstler, und vornehmlich Musiker, waren, wie bereits erwähnt, vermutlich schon immer Transmigranten, auch wenn sie in der Vergangenheit eher zu den Rückkehr-Migranten gezählt werden müssen, weil sie, insbesondere im Kontext der Bildungsreisen, ihren Wohn- und Lebensort zumeist für befristete Zeit gewechselt haben und dann in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind. Inwiefern dabei transnationale „Zwischenräume“ entstanden sind, obwohl man in der Geschichte erst spät von Nationen sprechen kann, zwischen denen gewechselt wird, ist eine eigene Fragestellung, die ich hier nicht ausführlich behandeln kann. Auf welcher Ebene zum Beispiel im 17. und 18. Jahrhundert der italienische vom französischen Stil der Instrumentalmusik unterschieden werden kann, ist nicht einfach zu beantworten: Es sind verschiedene Spielpraktiken, musikalische Formen und Motivbildungen, die nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Sprachen in Zusammenhang stehen, denkt man zum Beispiel an bestimmte sprachliche Betonungen, Rhythmen oder Tempi. Die Vermischung beider Stile kann man zum Beispiel gut bei Johann Sebastian Bach beobachten, obwohl dieser kein Migrant war, sondern von Migranten gelernt hat beziehungsweise ein Komponist war, der die Möglichkeit hatte, sich Musik aus verschiedenen Ländern durch Notendruck oder Kopien anzueignen. Er wanderte, wenn man so möchte, mental.13 Welche künstlerischen und musikalischen Faktoren sind nun als Komponenten anzunehmen, die die transmigrativen Prozesse in der Arbeit der beiden brasilianischen Musiker beeinflusst haben? Mit welchen transnatio-
12 PRIES, Internationale Migration, S. 39f. 13 Vgl. Roger M. DOWNS, David STEA (Hg.), Image and Environment. Cognitive Mapping and Spatial Behavior, Chicago 1973.
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nalen „künstlerischen Spiel-Räumen“ hat man es hier zu tun? Zum einen handelt es sich um die Vielfalt der brasilianischen Musik und um die Erfahrung mit unterschiedlichen Instrumenten, die in völlig verschiedenen Kontexten eingesetzt werden (nimmt man nur die Gitarren oder „viola“ in den Blick, sind das etwa die viola caipira mit vier Doppelsaiten aus Metall, das Begleitinstrument der brasilianischen Sänger oder trovadores; die cavaquinho, die kleinere Sopran-Gitarre mit vier Stahlsaiten, die fester Bestandteil der Samba-Ensembles und mit der hawaiischen ukulele verwandt ist; das selten gewordene Bauerninstrument viola do cocho mit Darm- oder Nylonsaiten ohne Schallöffnung und mit kurzem, abgebogenem Hals; die craviola, ein Instrument mit sechs Doppelsaiten, das den Klang von Laute, Cembalo und Gitarre mischt u.a.m.). 14 Für diesen kulturellen und künstlerischen „SpielRaum“, in dem sich die beiden Künstler bewegen, ist entscheidend, dass (und wie) er von Kindheit an ausgeprägt wurde, dass also eine Sozialisation mit den unterschiedlichen Musikpraktiken und musikalischen Richtungen Brasiliens stattgefunden hat, die man sich in europäischen Ländern zum Teil nicht vorstellen kann. Ein Vergleich der Sozialisation mit Musik in Europa und Brasilien erscheint nicht zuletzt deshalb schwierig, weil die praktische Musikausübung von Kindern und Erwachsenen im Alltag zum Teil einen völlig unterschiedlichen Stellenwert einnimmt (wobei jedoch auch in Europa regionale Unterschiede zu berücksichtigen sind).15 Als zweiten „Spiel-Raum“, in dem sich die beiden Künstler bewegen, ist die neue Musik des 20. Jahrhunderts und darin insbesondere die experimentelle Musik anzuführen, die man in erster Linie als avantgardistische nordamerikanische Musik der 1960er-Jahre bezeichnen kann, auch wenn sie sich nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika beschränken lässt.16 Daher ist auch die Musikszene der jeweiligen urbanen Räume (etwa Curitiba, São Paulo oder Berlin) zu nennen, in der sich sowohl brasilianische als
14 Vgl. Monika BURZIK, Dieter KLÖCKNER, Jürgen MEYER, Gerhard KUBIK, Tiago de OLIVEIRA PINTO, Art. Gitarre, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ed., Sachteil, Bd. 3, Kassel u. a. 1995, Sp. 1329–1394, insb. Sp. 1385–1390. 15 Vgl. etwa Tiago de OLIVEIRA PINTO, Capoeira, Samba, Candomblé: Afrobrasilianische Musik im Recôncavo, Bahia, Berlin 1991 (Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde Berlin, N. F. 52); vgl. auch DERS. (Hg.), Brasilien. Einführung in Musiktraditionen Brasiliens, Mainz 1986. 16 Vgl. Michael NYMAN, Experimental Music. Cage and Beyond [1974], Cambridge 1999.
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auch avantgardistische Musik unterschiedlich entwickelt haben und in verschiedenen Kollektiven unterschiedlich praktiziert werden. Der Bereich der Improvisation, der ebenfalls für die beiden angeführten Musiker wichtig ist, spielt zwar auch in der experimentellen Musik eine große Rolle, ist jedoch als übergreifende Musikpraxis auf der ganzen Welt vertreten, mit jeweils unterschiedlichen Grundlagen. Dazu zählt nicht zuletzt auch der Bereich der Bearbeitung, des Arrangements, des Remix, so auch die witzige, ironische Musik über Musik bei Ocougne und Mello, beispielsweise die spielerische Identitätsmarkierung in Bezug auf brasilianische Musik. Abschließend ist Folgendes zu ergänzen: Während man bei der eingangs gemachten Erwähnung von zerstörten Instrumenten im Zusammenhang mit Migration vielleicht unwillkürlich zuerst an Verluste gedacht hat, zeigt sich am Beispiel der Arbeit der beiden brasilianischen Musiker, dass Elemente von Destruktion gerade im Kontext des Experimentellen als Gewinn, sogar als ästhetische Kategorie dienen können. Daher lässt sich die These formulieren, dass gerade bei der „Emergenz neuer pluri-lokaler Wirklichkeiten“ vor allem aus der praktischen, konstruktiven Arbeit mit dem, was nur noch fragmentarisch beziehungsweise was nur erst unvollkommen vorhanden ist, das „neue Dritte“ entsteht. Solche Ergebnisse können jedoch, wie bei allen emergenten Vorgängen, erst im Nachhinein beschrieben werden.17 Die Hauptproblematik in diesem Zusammenhang liegt in der Frage nach den Quellen, die dafür zur Verfügung stehen; die Bestimmung der Quellen und der methodische Umgang mit den Quellen, um solche Prozesse zu untersuchen, ist eine Herausforderung für die historische Musikwissenschaft. Ihr bleiben daher noch sehr viele Aufgaben, vor allem gemeinsam mit der Musikethnologie, den Resultaten aus migrativen und transmigrativen Prozessen nachzugehen.
17 Vgl. dazu die Aufsätze in: Thomas WÄGENBAUR (Hg.), Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution, Heidelberg 2000.
Personenregister
Adamik, Kasia 206
Bielik, Paľo 203, 204
Allende, Isabel 242, 244
Bin Laden, Osama 233
Althusser, Louis 259
Borges, Jorge Luis 242, 243, 245
Aragon, Louis 241
Botto, Ján 196, 198
Asturias, Miguel Angel 238
Boudon, Raymond 61 Bourdieu, Pierre 61, 147, 150
Bach, Johann Sebastian 275
Braudel, Fernand 123
Bachmann-Medick, Doris 129
Breton, André 241
Bachtin, Michail 130, 227, 246
Brod, Max 139
Banks, James A. 56
Bronfen, Elisabeth 182
Barbosa, Adoniran 273
Bryce Echenique, Alfredo 244
Barry, Brian 32
Bukovec, Ivan 250
Basch, Linda 94
Burgess, Ernest 80, 85
Bauernfeld, Eduard von 137
Butler, Judith 223, 224
Baudelaire, Charles 239
Byron, George Gordon 186
Bauman, Zygmunt 129 Beblavý, Pavol 199
Cage, John 273
Becker, Howard 252
Camões, Luis de 238
Beck-Gernsheim, Elisabeth 81, 87,
Cardenal, Ernesto 242
93, 132
Carpentier, Alejo 240, 241
Bellay, Joaquim du 236, 237
Casares, Adolfo Bioy 242
Benjamin, Walter 130, 134, 221
Castells, Manuel 32
Bernolák, Anton 179
Castro, Fidel 244
Bernstein, Basil 61
Cervantes, Miguel de 240
Bhabha, Homi K. 139, 221, 222,
Chastel, André 228, 229, 231
228, 230, 235, 245, 248
Chrétien de Troyes 236
280 | ZWISCHENRÄUME DER M IGRATION
Csaplovics, Johann von 191
Geertz, Clifford 128
Czaplicka, John 256
Gellner, Ernest 70 Giddens, Anthony 92
Dannenbeck, Clemens 86, 87, 90
Glazer, Nathan 80, 85
Dante Alighieri 240
Glick Schiller, Nina 94
Danto, Arthur 252
Glissant, Edouard 221, 247
Darío, Ruben 239, 240, 242
Goethe, Johann Wolfgang von 137,
Deleuze, Gilles 221
240
Derrida, Jacques 245
Gorbatschow, Michail 232
Desnos, Robert 241
Greenblatt, Stephen 128
Díaz, Junot 246
Guatarri, Félix 221
Donzé, Pierre-Yves 145
Güiraldes, Ricardo 240
Dor, Milo 247 Dovlatov, Sergej 220
Hallam, Elizabeth 253
Dreyblatt, Arnold 273
Hellwig, Margot 26
Duchamp, Marcel 257
Herder, Johann Gottfried von 238 Hobsbawm, Eric 186
Eco, Umberto 182
Hochschild, Arlie 97
Eisenmann, Louis 125
Hofmannsthal, Hugo von 118
Elias, Norbert 89, 108, 162
Holland, Agniezska 206
Epstein, Ron 152
Hornung, Maria 137
Ercilla, Alonso de 237 Ette, Ottmar 221
Ingold, Tim 253
Fassmann, Heinz 79
Jacobson, Lenore 61
Franco, Francisco 244
Jánošík, Juraj 178, 183–206
Franz I., König von Frankreich 237
Jaspers, Karl 116
Franz II., römisch-deutscher Kaiser
Jirásek, Alois 199, 200
173
Jókai, Mór 199
Freud, Sigmund 222, 223 Frič, Martin 203
Kafka, Franz 121, 138, 139
Fuguet, Alberto 244
Kayser, Wolfgang 227
Fuß, Peter 218, 227, 229–231
Kissina, Julia 217–219, 224–226,
Gabrieli, Giovanni 271
Klinkhammer, Gritt 82
García Márquez, Gabriel 244
Klopstock, Robert 138
Gauguin, Paul 257
Kohout, Pavel 247
229–233
P ERSONENREGISTER
| 281
Kokoschka, Oskar 257
Mello, Chico 273, 274, 277
Kollár, Ján 193–195
Mendelssohn Bartholdy, Felix 271
Komelj, Milček 251
Merkel, Ina 98
Körber, Karen 98
Mickiewicz, Adam Bernard 194
Kościuszko, Tadeusz 195
Mikszáth, Kálmán 199
Kossuth, Lajos 198
Mill, John Stuart 20
Kraljević, Marko 195
Milton, John 186
Kreitner, Leopold B. 138
Mitchell, Sandra 134
Kristeva, Julia 230
Montaigne, Michel de 229
Kymlicka, Will 32
Moynihan, Daniel Patrick 80, 85 Munch, Edvard 257
Las Casas, Bartolomé de 237
Musil, Robert 131
Lash, Scott 92 Lässig, Simone 147
Nabokov, Vladimir 220
Lenin, Wladimir I. Uljanow 232,
Napoleon I. Buonaparte 194
233
Nebrija, Antonio de 238
Lessing, Gotthold Ephraim 137
Neubauer, John 186
Licoppe, Christian 106
Neverdeen Pieterse, Jan 136
Lope de Vega, Félix 186
Nietzsche, Friedrich 117
Lotman, Jurij M. 130, 131, 132
Noiriel, Gérard 120
Ludwigs XIV., König von
Nökel, Sigrid 82
Frankreich 184 Lukács, Georg 118
Nordmann, Achille 151 Nordmann, Moïse 149
Lyotard, Jean-François 118 Ocougne, Silvia 272–274, 277 Machiavelli, Niccolò 237
Olsavszky, Michael 159
Mahen, Jiří 200, 201
Omahna, Adriana 250
Malinowski, Bronisław 128, 131
Oz, Amos 99, 100
Manning, Patrick 177, 178
Özil, Mesut 26
Mao Tsetung 233 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 164, 165
Padilla, Ignacio 246–248 Park, Robert E. 80, 85
Marius, Benjamin 182
Pasolini, Pier Paolo 29, 30
Maršall-Petrovský, Gustáv 199
Pištěk, Theodor 202
Marx, Karl 20, 133
Pittet, Sylvius 151
May, Karl 198
Pries, Ludger 95, 272, 275
Meffre, Véronique 152
282 | ZWISCHENRÄUME DER M IGRATION
Rákóczi, Franz (Ferenc) II. 157, 159, 169, 184, 185 Reck, David 269, 270
Speroni, Sperone 236 Steinberg, Stephen 88 Szanton Blanc, Cristina 94
Repič, Jaka 254, 255 Ribeiro, Darcy 242
Tablic, Bohuslav 189, 191
Rinaldini, Rinaldo 186
Taine, Hippolyte 238
Rodó, José Enrique 240
Tarantino, Quentin 217
Rösch, Heidi 220, 221
Taylor, Charles 19, 32
Rosenthal, Robert 61
Therborn, Göran 21
Roth, Joseph 127
Thököly, Emerich s. a. Imre Tököly
Rubinato, João, d. i. Adoniran
Tököly, Imre 157, 184
Barbosa
Tully, James 32
Rushdie, Salman 130, 245 Rybakova, Marija 228
Umlauft, Friedrich 125, 126, 127 Urry, John 92
Šafarík, Pavol Jozef 192–194 Salmen, Walter 271
Valdés, Juan de 238
Salten, Felix 136
Valéry, Paul 238
Sassen, Saskia 96
Vargas Llosa, Mario 244
Savonarola, Girolamo 227
Veblen, Thorstein 243
Schiller, Friedrich 186, 189
Vertlib, Vladimir 213
Schnebel, Dieter 274
Vertovec, Steven 72, 94
Schofield, Janet Ward 61
Vivaldi, Antonio 271
Schultze, Brigitte 183
Vogelweide, Walther von der 271
Schütz, Alfred 90
Volpi, Jorge 244, 247
Scotson, John L. 89
Vulpius, Christian 186, 198
Sebestyén, György 247 Sennett, Richard 91
Weber, Max 90
Siakel, Jaroslav 201
Webern, Anton 269
Silverman, Kaja 223
Wolf, Ferdinand 238
Simmel, Georg 83, 119
Wolff, Jules 151
Speer, Daniel 188
Abbildungsverzeichnis
Beitrag Mahrer Abbildung 1:
Historischer Stadtplan La Chaux-de-Fonds’ eingeteilt nach Wohnquartiere
153
Beitrag Raßloff Abbildung 1:
Jánošík, der Volksheld und Rebell. Originalstich als Vorlage. Größe 48 x 58cm. Bratislava, Archiv ÚLUV (Zentrale des Volkskunstschaffens), in: Josef VYDRA, Die Hinterglasmalerei. Volkskunst aus tschechoslowakischen Sammlungen, Prag 1957, S. 91. 187 Abbildungen 2 und 3: Theodor Pištěk als Jánošík, 1921, Rekonstruktion von 1975. DVD Jánošík I.-II. (1962-63) + Jánošík (1921), (Bratislava: Slowakisches Filminstitut), 2003. 202 Abbildungen 4 bis 15: Pavol Bielik in der Schlussszene des Films Jánošík, 1935. DVD Jánošík, (Prag: Nationales Filmarchiv), 2005. 204f.
Autorinnen und Autoren
Brüstle, Christa, Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ und Universität der Künste Berlin, an der Technischen Universität Berlin sowie an der Universität Wien. Seit 2008 Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Weitere Informationen: www.chrbru.de Csáky, Moritz, em. o. Univ. Prof. für Neuere und Österreichische Geschichte (Universität Graz). Initiator und Sprecher des SFB Moderne (Universität Graz), bis 2009 Leiter des nunmehrigen Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW. Forschungsgebiete: Kulturgeschichte, Kulturtheorie, Geschichte Zentraleuropas. [email protected] Hausbacher, Eva, Dozentin für Slawistik (Literatur- und Kulturwissenschaft) am Fachbereich für Slawistik der Universität Salzburg; Forschungsgebiete: Russische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zeitgenössische russische Literatur, Russische Frauenliteratur (19. und 20. Jahrhundert), Migrationsliteratur, Literatur- und Kulturtheorie, Gender Studies und Postcolonial Studies, Inter- und Transkulturalitätsforschung. [email protected] Herzog-Punzenberger, Barbara, Forschungsprogrammleiterin „Mehrsprachigkeit – Interkulturalität – Mobilität“ am Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens; Leiterin des österreichischen Teils der international vergleichenden Studie TIES „The Integration of the European Second Generation“. Forschungs-
286 | ZWISCHENRÄUME DER M IGRATION
gebiete: Migrationsforschung, Minderheiten und Bildung im internationalen Vergleich. [email protected] Körber, Karen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsleitung eines DFG-Projekts zu „Transnationaler Familiarität“. Forschungsprojekte und Publikationen in folgenden Forschungsgebieten: Russisch-jüdische Migration nach 1990, Transformation der jüdischen Minderheit in Deutschland, Ethnizität und Transnationalität. [email protected] Kraus, Peter A., Professor of Ethnic Relations, Centre for Research on Ethnic Relations and Nationalism – CEREN, Universität Helsinki; Forschungsgebiete: politische Soziologie, Demokratietheorie, kulturelle Vielfalt und Identitätspolitik. [email protected] Mahrer, Stefanie, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jüdische Studien der Universität Basel; Forschungsgebiete: Sozial- und Kulturgeschichte der deutschsprachigen Juden im 19. und 20. Jahrhundert, Migrationsgeschichte, Bürgertumsforschung, Unternehmens- und Kulturgeschichte. [email protected] Marinelli-König, Gertraud, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Forschungsschwerpunkte: Das Wiener Vormärz-Slavica-Projekt; die Kulturen Osteuropas; historisches Pressewesen; Buchforschung. [email protected] Mecheril, Paul, Univ. Prof. für Interkulturelles Lernen und Sozialer Wandel an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck, Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies; Methodologie inter-
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
| 287
pretativer Forschung; Pädagogische Professionalität; Interkulturelle Bildung; Rassismusforschung. [email protected] Preisinger, Alexander, Projektmitarbeiter am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW in Wien. Forschungsgebiete: Erzähltheorie, Diskurs- und Interdiskursanalyse (Ökonomie in der Gegenwartsliteratur). [email protected] Raßloff, Ute, bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, dort Leitung des BMBF-Projekts „Reflexion kultureller Interferenzräume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“. Forschungsgebiete: Westslawische Literaturwissenschaft, Moderne Lyrik, Kultursemiotik, Erinnerungskultur. [email protected] Rössner, Michael, Ordinarius für romanische Philologie an der Universität München und Direktor des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW in Wien. Forschungsschwerpunkte: Renaissance- und Barockliteratur; Literatur der Avantgarde und des frühen 20. Jahrhunderts; Gattungen: Theater (Komödie), bukolische Literatur, Manifeste und gattungstransgredierende Texte. Methodische Richtungen: Kulturwissenschaftliche Ansätze, Post-colonial studies, Translational studies. [email protected] Scherke, Katharina, ao. Universitätsprofessorin am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz, Vizedekanin der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ebd., Forschungsschwerpunkte: Kulturund Kunstsoziologie, Geschichte der Soziologie, Soziologische Theorie, Wissenschaftssoziologie. [email protected] Šoltés, Peter, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Institutes der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava; unterrichtet an der Katholischen Universität in Ružomberk. Forschungsschwerpunkte: Konfessionsgeschichte, insb. der griechisch-katholischen Kirche in ethnisch
288 | ZWISCHENRÄUME DER M IGRATION
gemischten Gebieten; Migrationsgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert; Stereotypieforschung; historische Reiseliteratur und landeskundliche Literatur im Ungarischen Königreich. [email protected] Toplak, Kristina, Fellow am Wissenschaftlichen Zentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Institut für Slowenische Migrationsforschung, Ljubljana; stellvertretende Herausgeberin der Zeitschrift „Dve domovini / Two Homelands“ und Koordinatorin des Comenius-Projektes MIRACLE. Forschungsschwerpunkte: Migrationsforschung (Kulturaustausch; Erziehung; Integration); Ethnologie und Kulturanthropologie; Kunstgeschichte. [email protected] Vertlib, Vladimir ist österreichischer Autor russisch-jüdischer Herkunft und lebt in Salzburg. In seinen ersten beiden Büchern Abschiebung und Zwischenstationen verarbeitet er Erfahrungen aus seinem Migrantenleben. Abschiebung schildert den gescheiterten Versuch einer Einwandererfamilie, in den USA Fuß zu fassen. Zwischenstationen beschreibt die vorübergehenden Aufenthalte einer russischen Auswandererfamilie an den verschiedensten Orten der Welt. Seine Vorlesungen im Rahmen der Dresdner Chamisso-Poetikdozentur wurden unter dem Titel Spiegel im fremden Wort 2007 publiziert. Zuletzt erschien der Roman Am Morgen des zwölften Tages (2009). Er ist Mitarbeiter an der Zeitschrift Zwischenwelt. (Literatur, Widerstand, Exil).
Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Dezember 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Isolde Charim, Gertraud Auer Borea d’Olmo (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden Dezember 2011, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.) Intersektionalität revisited Empirische, theoretische und methodische Erkundungen Dezember 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1437-4
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David Johannes Berchem Wanderer zwischen den Kulturen Ethnizität deutscher Migranten in Australien zwischen Hybridität, Transkulturation und Identitätskohäsion Oktober 2011, 708 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1798-6
Thomas Fröhlich, Yishan Liu (Hg.) Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft. Mit einer Übersetzung von Schriften Jiang Weishuis aus dem Chinesischen und Japanischen August 2011, 362 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1018-5
Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lassalle, Jay Rowell (Hg.) Das Europa der Europäer Über die Wahrnehmungen eines politischen Raums (aus dem Französischen von Frank Weigand und Markus Merz) März 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1626-2
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