Theorie und Kritik: Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen [1. Aufl.] 9783839429860

The contributions to this volume investigate the development of theories, the relationship between research programs, an

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German Pages 320 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Theorie im Spannungsverhältnis von Theoriediskursen, Wissenschaft und Gesellschaft. Zur Aufgabe dialogischer Theoriebildung
I. Entwicklung kritischer Theorien im Spannungsfeld von Tradition, Aktualisierung und Bruch
Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik. Zur Tradition und Aktualität der Form- und Fetischkritik
Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein. Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas
II. Dialoge zwischen differenten Forschungsprogrammen und Paradigmen
„Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies!“ Die Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern als paradigmatische Diskurskonstellation
Partizipation oder Dezision? Zur Konkurrenz zweier Paradigmen des Politischen
Bielefeld, Paris & Cambridge. Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Reinhart Kosellecks, Michel Foucaults und Quentin Skinners
III. Wandel von Forschungsfeldern, Theorielandschaften und politischen Diskursen
Die feministischen Gender-Debatten in Frankreich und Deutschland. Ein Paradigmenwechsel in der feministischen Theorie?
Entpolitisierung feministischer Wissenschaft? Zum Selbst- und Kritikverständnis in der feministischen Diskussion
Kritische Wendungen – Verortungen der Kritik in der Pädagogik
Interdisziplinäre Sozialisationsforschung, Globalisierung von Bildungspolitik und das Dispositiv der Regierung von Sozialisation. Eine Forschungsperspektive im Anschluss an Michel Foucaults Analytik der Macht
Ein säkularer Irrtum? Zur Stellung des Individuums in den Menschenrechtsdebatten nach 1945
Autorinnen und Autoren
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Theorie und Kritik: Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen [1. Aufl.]
 9783839429860

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Ludwig Gasteiger, Marc Grimm, Barbara Umrath (Hg.) Theorie und Kritik

Sozialtheorie

Ludwig Gasteiger, Marc Grimm, Barbara Umrath (Hg.)

Theorie und Kritik Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen

Der Band erscheint mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Ivana Vasilijevic´ Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2986-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2986-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Theorie im Spannungsverhältnis von Theoriediskursen, Wissenschaft und Gesellschaft Zur Aufgabe dialogischer Theoriebildung

Ludwig Gasteiger, Marc Grimm und Barbara Umrath  | 9

I Entwicklung kritischer Theorien im Spannungsfeld von T radition , A ktualisierung und B ruch Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik Zur Tradition und Aktualität der Form- und Fetischkritik

Alexander Neupert-Doppler  | 53

Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas

Marc Grimm und Martin Proißl  | 79

II Dialoge zwischen differenten Forschungsprogrammen und Paradigmen „Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies!“ Die Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern als paradigmatische Diskurskonstellation

Eva Seidlmayer | 111

Partizipation oder Dezision? Zur Konkurrenz zweier Paradigmen des Politischen

Marco Walter  | 133

Bielefeld, Paris & Cambridge Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Reinhart Kosellecks, Michel Foucaults und Quentin Skinners

Sebastian Huhnholz  | 157

III Wandel von Forschungsfeldern, Theorielandschaften und politischen Diskursen Die feministischen Gender-Debatten in Frankreich und Deutschland Ein Paradigmenwechsel in der feministischen Theorie?

Cornelia Möser  | 185 Entpolitisierung feministischer Wissenschaft? Zum Selbst- und Kritikverständnis in der feministischen Diskussion

Tina Jung  | 209 Kritische Wendungen – Verortungen der Kritik in der Pädagogik

Katarina Froebus  | 231

Interdisziplinäre Sozialisationsforschung, Globalisierung von Bildungspolitik und das Dispositiv der Regierung von Sozialisation Eine Forschungsperspektive im Anschluss an Michel Foucaults Analytik der Macht

Ludwig Gasteiger  | 253 Ein säkularer Irrtum? Zur Stellung des Individuums in den Menschenrechtsdebatten nach 1945

Anne Rethmann  | 289

Autorinnen und Autoren   | 315

Einleitung

Theorie im Spannungsverhältnis von Theoriediskursen, Wissenschaft und Gesellschaft Zur Aufgabe dialogischer Theoriebildung LUDWIG GASTEIGER, MARC GRIMM UND BARBARA UMRATH

1. V on

T hematisierung des V erhältnisses von G esellschaft und W issenschaft zum T hema T heorierezeption und T heorierekonstruktion der

„Auf der Universität werden einzelne Fächer gelehrt, aber sie will nicht den Fachmann heranziehen“ (Horkheimer 1985: 382), formuliert Max Horkheimer 1952 als Rektor der Frankfurter Universität in seiner Begrüßung der neu immatrikulierten StudentInnen. „Sie gibt Mittel an die Hand, durch die man im gegenwärtigen Leben vorwärtskommen kann [...]. Aber sie will zugleich den Einzelnen stärken gegen die Gegenwart; nur so kann dem Leben und der Gegenwart geholfen werden“ (Horkheimer 1985: 382). Horkheimer skizziert die Zielsetzung universitärer Bildung hier als spannungsvolles Verhältnis: Zum einen wird Bildung als Vermittlung von Fachwissen und damit von verwertbarer Qualifikation verstanden. Zum anderen solle universitäre Bildung die Individuen gegen die Gegenwart und die gesellschaftlichen Verhältnisse stärken, auf dass diese der „zerstörenden Kräfte draußen und in ihrem Inneren Herr werden und die Welt menschlich einrichten können“ (Horkheimer 1985: 381). Aus Horkheimers Worten spricht die Hoffnung des ins Exil Gezwungenen und Zurückgekehrten, dass die junge Generation eine gesellschaftliche Liberalisierung der Bundesrepublik und eine breite Akzeptanz der Demokratie bewirken könne. Gleichwohl Horkheimer den ökonomischen Nutzen der Bildung anspricht, ist doch ein anderer Aspekt wesentlich: Bildung als Reflexion psychischer und gesellschaftlicher Zwänge, welche die Individuen zu gesellschafts-

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verändernder Praxis ermächtigen soll. Implizit ist damit die Dialektik von Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft benannt, das Spannungsverhältnis zwischen der Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Selbstbestimmung des Subjekts universitärer Bildung. Dieses Spannungsverhältnis bildet auch den Hintergrund für die sozial- und geisteswissenschaftliche Theoriearbeit, die im Zentrum des vorliegenden Sammelbandes steht. Um die Beiträge dieses Buches in einen übergreifenden Zusammenhang einzuordnen, werden drei Hintergrundfolien entworfen. Zuerst widmen wir uns der allgemeinen Stellung von Theorie in Wissenschaft und Gesellschaft. In Abschnitt 2.1 werden entlang der folgenden Fragen einige Schlaglichter auf dieses komplexe Verhältnis geworfen: Was sind Stellung und Funktion von Theorie in der Wissenschaft? Wie bedingen die gesellschaftlichen Verhältnisse die wissenschaftliche Praxis? Wie positioniert sich das Wissenschaftssubjekt und welche Wirkung entfaltet Wissenschaft in der Gesellschaft? Indem wir Schlaglichter auf Facetten von Theoriearbeit, das Selbstverständnis und die Geschichte von Wissenschaft werfen, soll der Raum zwischen den beiden Extremen von wissenschaftlicher Autonomie und Heteronomie sowie die ambivalente Rolle von Wissenschaft in der Gesellschaft erhellt werden. Daran anknüpfend wird in Abschnitt 2.2 eine wissenschaftssoziologische Perspektive auf Wissenschaft als geregelte arbeitsteilige Praxis und die gegenwärtige Veränderung der gesellschaftlichen Organisation von Wissenschaft entwickelt, um deren Bedeutung für Theoriearbeit zu ermessen. Damit sind zwei mittelbare Rahmen aufgespannt. Sie sollen durch den unmittelbaren Kontext von Theoriearbeit als Theorierekonstruktion und -aktualisierung ergänzt werden. Es wird gezeigt, dass Theorierekonstruktion und Strategien der theoriepolitischen Aktualisierung von Denktraditionen sich wechselseitig bedingende Momente sind. So werden in Abschnitt 3.1 unterschiedliche Optionen der Rekonstruktion von Theorie(-n) und Theoriediskursen sowie Strategien der theoriepolitischen Selbstpositionierung dargelegt, um anschließend in Abschnitt 3.2 die Beiträge des Sammelbandes vorzustellen. Bei diesen handelt es sich um unterschiedliche Varianten der Rekonstruktion von Theorien in ihrem Verhältnis zu anderen Theorien und damit um Versuche dialogischer Theoriebildung. Die Einleitung endet mit einer Reflexion über dieses Anliegen der dialogischen Theoriebildung.

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2. T heorie im K ontext G esellschaft

von

W issenschaft

und

In Abschnitt 2.1 nähern wir uns in einem ersten Schritt dem Feld der Theorie anhand wissenschaftstheoretischer und -philosophischer Überlegungen. Wissenschaftsphilosophie, die sich auch mit der Systematik der wissenschaftlichen Disziplinen befasst, ist eine weitgehend normativ argumentierende Subdisziplin. Sie muss um die Perspektiven der wissenschaftsgeschichtlichen und -soziologischen Betrachtung von Wissenschaft ergänzt werden. Letztere sind aber nicht, wie Martin Carrier meint (vgl. Carrier 2006: 9), einfach nur ergänzende Betrachtungsweisen zur normativ geprägten Wissenschaftsphilosophie: Sie sind mit ihr konfligierende und bilden als solche ein wichtiges Korrektiv zur Wissenschaftstheorie. Während wissenschaftsphilosophische Betrachtungen die Rolle der Theorie in der Wissenschaft beleuchten, werden aus wissenschaftssoziologischen und -geschichtlichen Perspektiven die Kämpfe um die Ordnung der Wissenschaften und die Einordnung der Wissenschaft in die gesellschaftlichen Verhältnisse sichtbar. Die inneruniversitären Kämpfe um die Ordnung der Wissenschaften sind verwoben mit den Versuchen gesellschaftlicher Ordnungsmächte, Wissenschaft zu instrumentalisieren. Während Wissenschaft und ihre Theorien in vergangenen Zeiten eine Herausforderung für die Ordnungsmächte darstellen konnten, können gerade die von gesellschaftlichen Mächten vereinnahmten und strukturierten Wissenschaften zu einer hochpotenten Kraft der Gestaltung werden. Wissenschaft ist folglich nicht nur eingeordnet in die Gesellschaft sondern zugleich eine gesellschaftsgestaltende Instanz. In Abschnitt 2.2 wird im Anschluss an die Soziologie Max Webers eine wissenschaftssoziologische Perspektive entwickelt, die den Begriff der geregelten Ordnung und der Konkurrenz ins Zentrum stellt. Dies liefert die begrifflich-theoretischen Werkzeuge für eine Analyse der aktuellen Transformation des Wissenschaftssystems. Unsere These ist, dass ein adäquates Verständnis der sich wandelnden wissenschaftlichen Praxis an der gesellschaftlichen Neuordnung der Konkurrenzverhältnisse und der Kriterien für Erfolg ansetzen muss. 2.1 Schlaglichter auf Theorie in Wissenschaft und Gesellschaftsgeschichte „Eppur si muove!“ Mit diesem Ausspruch soll Galileo Galilei das Inquisitionsgericht verlassen haben. Jenes Tribunal, das die höchsten theologischen Lehren über die Beschaffenheit des Seienden verteidigte. „Und sie bewegt sich doch!“ ist gramma-

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tikalisch betrachtet ein schlichter Satz – ein Ausruf. Kommunikationstheoretisch handelt es sich um den Schlusssatz eines Dialoges, der aus dem Rahmen „institutionell geregelter Kommunikation“ (Gülich 1981) ausbricht und damit die Unversöhnlichkeit der Standpunkte demonstriert. Zugleich ist dieser Ausspruch Fragment eines mit empirischem Wissen und rationalen Argumenten unterfütterten theoretischen Disputs. Ein solcher Satz lässt sich entsprechend als sprachlich verdichtetes Ergebnis von Forschung und als Ergebnis komplexer Theoriebildung begreifen: Als Kernsatz einer Theorie, die selbst wiederum zum Ausgangspunkt von Forschung wird. Allerdings erfüllt der obige Ausruf nicht die Kriterien eines wissenschaftlichen Lehrsatzes: Er ist vielmehr Ableitung und alltagsweltliche Übersetzung einer Theorie. Der Ausspruch ist trotzdem Teil eines Theoriedialogs, weil er sich für das heliozentrische und gegen das geozentrische Weltbild ausspricht. Dabei zeigt sich, dass Theorien und Theoriekarrieren zum einen Teil eines Kampfes zwischen wissenschaftlichen Disziplinen – hier der Theologie und der Physik – und zum anderen Teil allgemeiner Kulturkämpfe sind. So eignet sich der Satz Galileis gut, um Bedeutung und Funktion von Theorien in der Wissenschaft zu beleuchten und zugleich das Wechselwirkungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Theorie als Anordnung von Sätzen und als Grundlage von Forschung Theorie besteht in der klassischen Sichtweise aus einer Anordnung von Sätzen: Sätze, die deduktiv abgeleitet und in einer logischen Beziehung stehen, die empirisch gehaltvoll und daher informativ, belegbar und verifizierbar sind – oder zumindest falsifizierbar sein sollen (vgl. Popper 1973: 15). „Die Wissenschaftliche Revolution trat ihren Siegeszug an und brachte ein grundlegend gewandeltes, nunmehr wissenschaftsgestütztes Bild vom Kosmos und der Stellung des Menschen mit sich“ (Carrier 2006: 138). Der Bürge für die Wissenschaftlichkeit war die wissenschaftliche Methode (vgl. Chalmers 2007: 1). Freilich sind es über lange Zeit mindestens zwei aufeinander bezogene Arbeitsweisen: Das logisch-rationale Denken mit klaren Begriffsbildungen und -typologien zum einen und die empirische Feststellung von Tatsachen und ihre Überprüfung zum anderen. Prototypisch werden diese vertreten von den philosophischen Strömungen des Rationalismus und des Empirismus. Die wissenschaftliche Methodik, die sowohl der Theorieals auch der empirischen Arbeit bedarf, erschien als Garant eines Fortschritts hin zu einem positiven, auf Erfahrungswissenschaft gegründetem Verständnis der Natur, des Menschen und der Gesellschaft. Insofern ist sie verknüpft mit einer

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Geschichtsphilosophie des Fortschritts: Claude-Henri Saint-Simon und Auguste Comte haben in frühen wissenschaftsphilosophischen Entwürfen entsprechende Stadienmodelle der Rationalisierung von Kultur entwickelt (vgl. Korte 1998: 30 u. 34). Diese dokumentieren den optimistischen Glauben an die Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine der berühmtesten Darlegungen des Schwindens der optimistischen Vorstellung wissenschaftlichen Fortschritts bei gleichzeitigem Festhalten an der Idee wissenschaftlichen Fortschritts ist die Logik der Forschung von Karl Raymond Popper. Dieser vertritt eine deutlich skeptischere Vision der Akkumulation von Erkenntnis als der Szientismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Dennoch bewegt sich Poppers Sichtweise weitgehend in einem wissenschaftsphilosophischen Denkrahmen. Sie bleibt optimistisch, insofern sie eine normativ verbindliche Theorie – Basissätze sollen falsifizierbar sein! – formuliert und am Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts durch die wissenschaftliche Methode festhält. Dabei betont Popper die zentrale Bedeutung von Theorie für die Erfahrungswissenschaften: „Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme. [...] Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze. Sie sind, wie jede Darstellung, Symbole, Zeichensysteme. [...] Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um ‚die Welt‘ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen.“ (Popper 1973: 31)

Weil jede Beobachtung und Erfahrung theoriegeleitet ist, besteht die Wissenschaftlichkeit darin, dass die theoretischen Ausgangspunkte überprüft werden und die Art der Beobachtung systematisch und nachvollziehbar erfolgt. Damit wird auch die Differenz von Theorien im Sinne axiomatischer Sätze und von Ergebnissen der Forschung deutlich. Popper kombiniert eine strukturtheoretische Sichtweise auf Theorie (Satzarten und -zusammenhang) mit einer theoriefunktionalistischen (vgl. Zima 2004: 4f.). Zwar vollzieht er die Wendung von der (subjektbezogenen) Erkenntnistheorie zur sprachphilosophischen Betrach-tung von Wissenschaft und Wahrheit mit. Er beharrt jedoch darauf, dass eine Sichtweise auf Theorie, die Theorien auf sprachliche Konvention reduziert, nicht hinreichend ist. Die Betrachtung des inneren logischen Zusammenhangs von Sätzen bis hin zum Gesamtzusammenhang wissenschaftlicher Theorien kann das Korrespondenzproblem nicht beseitigen, weil die Kohärenz der Satzaussagen notwendiges, aber nicht hinreichendes Wahrheitskriterium ist. Zu fragen, wie die Übereinstimmung von Gesagtem mit dem Beobachteten hergestellt wird, ist für erkenntnis- und wissenschaftstheoreti-

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sche Begründungen unerlässlich. Wie später John Searle betont hat, kommen wir trotz aller Überlegungen zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit nicht umhin, eine äußere Realität anzunehmen (vgl. Searle 1997: 8f.). Das Kohärenzproblem beseitigt die Korrespondenzproblematik der Erkenntnistheorie nicht, sondern vertieft diese. Poppers Sicht auf Theorie enthält eine deutliche Betonung der funktionalen Rolle von Theorie für die Empirie, die Imre Lakatos mit dem Begriff des Forschungsprogramms noch präzisiert: Er betont nicht nur, dass Theorien mit Methodologien verwoben sind und es keine theoriefreie Feststellung von Tatsachen geben kann, sondern auch, dass Theorien miteinander um die adäquatere Erfassung von Realität konkurrieren (vgl. Lakatos 1978: 103). Aus einer wissenschaftsimmanenten Sichtweise erweist sich die Pluralität von Theorien als notwendige Voraussetzung für Erkenntnisgewinn. Zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung der Wissenschaften Wenn wir dies auf den Satz von Galilei rückbeziehen, kann gesagt werden, dass dessen Theorie ein Forschungsprogramm begründet, das erst wesentlich später, in der sogenannten Kopernikanischen Wende, hinreichend empirisch belegt werden wird. Dabei handelt es sich um eine mit der theologischen Weltsicht konkurrierende Theorie. Galilei wird so nolens volens zugleich Teil des Streits der Fakultäten und akademischen Disziplinen, weil er die Entthronisierung der Theologie als eine der drei höheren Fakultäten der mittelalterlichen Universitätsordnung befördert und einen eigenständigen Wahrheitsanspruch der aristotelisch-naturwissenschaftlichen Welterschließung behauptet. Diese, ebenso wie die Philosophie und andere Arten des Denkens, emanzipieren sich von ihrer theologischen Einhegung. Die Ordnung von Physik, Metaphysik und Theologie gerät ins Wanken und es beginnt der lange Kampf der Aufklärung. Erkenntnisse oder neue Arten, Fragen zu stellen, können also nicht nur disziplinenspezifisch betrachtet werden, sondern die Ordnung und das Verhältnis der Disziplinen betreffen – mithin ihre etablierte Ordnung herausfordern. Es geht also neben einer Konkurrenz der Theorien auch um eine Konkurrenz der Disziplinen. Wissenschaftstheorie bildet das Fundament wissenschaftlicher Erkenntnis- und Forschungspraxis und bestimmt auf diese Weise, welches Wissen überhaupt wissenschaftliche Geltung beanspruchen kann. Darüber hinaus befasst sie sich mit der Systematik der Wissenschaften. So erhebt bspw. die Enzyklopädie der französischen Aufklärung den Anspruch, das Wissen ihrer Zeit in Summe zu sammeln und damit zugleich eine neue Ordnung der Wissenschaften zu begründen:

THEORIEREZEPTION UND THEORIEPOLITIK | 15 „Sie erhebt die Philosophie über die Theologie, die wissenschaftliche Forschung über den Glauben und die Dogmatik Heiliger Schrift. [...] Als Programm- und Kampfschrift der Aufklärung entreißt sie die moderne ‚Summa‘ des Wissens dem Klerus und legt sie voll und ganz in die Hand der ‚gens de lettres‘, die als Gelehrtengesellschaft das Erbe von Newton und Locke angetreten haben.“ (Geier 2012: 146)

Die Ordnung der Wissenschaften wird aber nicht von den Wissenschaften für sich, sondern durchaus unter Einfluss äußerer Mächte hergestellt. Daher ist bei dieser Ordnungsproblematik die Unterscheidung Robert K. Mertons von internen und externen Einflussfaktoren auf die Entwicklung und den Wandel von Forschungsinteressen von Relevanz (vgl. Merton 1985: 33). Mit Merton lässt sich Kants Klage im Vorwort zum Streit der Fakultäten, dass die weltliche Obrigkeit im Streit der Theologie mit der Philosophie zugunsten ersterer ihr „Unwesen“ treibe (vgl. Kant 1977: 273), als eine Problematisierung wissenschaftsexterner Einflussgrößen verstehen. Dass die Beziehungen zwischen der Welt des Geistes und der weltlichen Mächte keineswegs ausschließlich oppositionelle sind, spricht Karl Marx mit seinem berühmten Satz an, dass die „herrschenden Gedanken [...] die Gedanken der Herrschenden“ (Marx 1971: 373) seien. Weil diese Formel erstens die differenzierte Wissensteilung in Gesellschaften auf den einfachen Nenner der „herrschenden Gedanken“ bringt und zweitens das komplexe Verhältnis, wie Mäzene, Politik oder andere Instanzen auf (akademische und nicht-akademische) Wissensproduktion einwirken, als Identität darstellt, ist sie selbstverständlich eine grobe Vereinfachung. Sie bringt jedoch den Sachverhalt auf den Punkt, dass die herrschenden Institutionen in der Regel beträchtliche Einflusspotentiale auf die herrschenden (wissenschaftlichen) Gedanken haben. Für die heutige Zeit gilt dies in nicht unbeträchtlichem Maße weiter – mit dem Unterschied, dass Forschung weniger unmittelbar von Einzelpersonen, als vielmehr vermittelt über Stiftungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und privatwirtschaftliche Unternehmen befördert und damit auch gesteuert wird. „Die Gedanken der Herrschenden“ erscheinen dabei, das ist bei Marx ungesagt mitgesagt, als von ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihren eigenen Interessen beeinflusst. Allerdings ist die Crux, dass die herrschenden Gedanken oder, wie man heute formuliert, die wirkmächtigen Diskurse der Wissensproduktion und -distribution, zwar von Interessen bedingt sind. Zugleich klingt in der marxschen Formulierung jedoch an, dass die Gedanken selbst Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind und sich entsprechend nicht auf bewusstes Interesse oder Einflussnahme von Institutionen reduzieren lassen. Damit ist die Problemstellung

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formuliert, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse ihren Ausdruck in den herrschenden Diskursen finden und welche Faktoren diese Übersetzungsprozesse bedingen und beeinflussen. Das Ethos der Aufklärung und das Subjekt der Wissenschaft Der galileische Ausspruch „Eppur si muove!“ kursiert als Gerücht durch die Gelehrtenwelt Europas und wird zum Manifest der Freiheit. Der Galilei zugeschriebene Ausspruch steht jedoch erst am Beginn eines langwierigen Prozesses, in dem sich der wissenschaftliche Geist von den theologischen Dogmen emanzipiert. Wie zäh sich diese und neue Autoritäten halten und wie prekär die Freiheit des (wissenschaftlichen) Geistes ist, wird ersichtlich, wenn Kant noch 150 Jahre später betont, dass es Mut bedarf, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Im „Sapere aude!“ wird das Ethos der griechischen und römischen Aufklärung – aber eben auch der Geist neuzeitlicher Aufklärung – zitiert. Zwar sei die Vernunft allen Menschen gegeben, „der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht)“ wagt es jedoch nicht, sich dieser „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 2000: 9) – und das nicht zuletzt aufgrund der „Vormünder“, die vernunftbegabte Wesen in einen „Gängelwagen“ sperren und so unmündig halten (Kant 2000: 9). Angesichts widriger Umstände gehört Mut dazu, sich nötigenfalls gegen die Dogmen der Zeit zu stellen und die Erkenntnisse der Wissenschaft zu vertreten, obschon das persönliche Nachteile bringen mag. Das Ethos der Aufklärung und ihr Erbe haben so immer auch eine individuelle und existenzielle Dimension. Wie Kant kritisiert, wird von den politischen, militärischen und geistlichen Ordnungsmächten eher Folgsamkeit und Gehorsamkeit als Vernunftgebrauch verlangt (vgl. Kant 2000: 11). Friedrich Schiller fokussiert etwa zur gleichen Zeit in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Jena die Haltung der Wissenschaftler selbst. Seine Kritik an den „Brotgelehrten“ problematisiert, in diesem Sinne Kant nicht unähnlich, die Abhängigkeit des (wissenschaftlichen) Denkens von den gesellschaftlichen Bedingungen und Autoritäten. Dem „Brotgelehrten“ wird der Vorwurf gemacht, „nicht bei seinen Gedankenschätzen [...] seinen Lohn“ zu suchen, sondern „seinen Lohn [...] von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung“ zu erheischen (Schiller 1996: 109). Einerseits verweist Schiller damit auf den Sachverhalt, dass das Ethos des aufgeklärten Geistes keineswegs die typische und allgemein verbreitete Haltung ist. Andererseits wird idealistisch übergangen, dass Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft auch (Lohn-)Arbeit zur Sicherung der eigenen Existenz ist und daher in Abhängigkeitsverhältnissen erfolgt: In der Selbststilisierung des bürgerlichen Subjekts der Wissenschaft erscheint

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Wissenschaft als etwas, das man nicht um des Geldes Willen betreibt und die Freiheit des Geistes wird vor allem als eine Frage der individuellen Entscheidung, des Mutes, verhandelt. Wie abhängig diese individuelle Entscheidung von gesellschaftlichen Voraussetzungen und Kräfteverhältnissen ist, zeigt sich auch darin, dass Schiller nicht zu Unrecht von den „Brotgelehrten“ allein in der männlichen Form spricht. Tatsächlich wird es noch ein langer Weg bis zur allgemeinen Etablierung des Frauenstudiums und zur Berufung der ersten Professorin sein. Dies verweist auf die „Geschlechterdialektik“ der Aufklärung. So entwickelt sich mit der Aufklärung eben nicht nur die Vorstellung einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft; vielmehr formiert sich im 18. Jahrhundert zugleich ein Diskurs, der eine fundamentale, biologisch fundierte Geschlechterdifferenz konstruiert. Daran sind nicht zuletzt die Wissenschaften beteiligt, namentlich die sich nun entwickelnde moderne Biologie, die Anatomie und die Medizin, aber auch „klassische“ Disziplinen wie die Philosophie (vgl. Maihofer 1995: 30ff. u. 91f., 2001: 123ff.). Ab Mitte des 18. Jahrhunderts und massiv dann im 19. Jahrhundert bildet sich mit den modernen Rassetheorien ein weiterer Diskurs heraus, der fundamentale Differenzen konstruiert. Die genauere Betrachtung zeigt, dass die Vernunft, die doch allen Menschen gemeinsam sein soll, eine recht vielgestaltige Angelegenheit ist. Exemplarisch für viele Geister der Aufklärung – und besonders folgenreich für die Mädchenbildung im 19. Jahrhundert – kommt dies in Rousseaus Emile (1762) zum Ausdruck. Dort heißt es von der Vernunft der Frauen, diese sei „eine praktische Vernunft“ (Rousseau 1963: 757). Entsprechend sollen „[a]lle Reflexionen der Frauen über das, was nicht unmittelbar mit ihren Pflichten zusammenhängt“ – gemeint sind damit die „natürlichen“ Pflichten als Gattin und Mutter – „auf das Studium der Männer zielen oder auf angenehme Erkenntnisse, deren Gegenstand nur das Geschmackvolle ist; denn was die Werke des Geistes anbetrifft, so übersteigen sie ihr Fassungsvermögen.“ (Rousseau 1963: 775f.) Erst im Zuge gesellschaftspolitischer Bewegungen ab dem späten 19. Jahrhundert können sich diejenigen, denen eine für die Wissenschaft qualifizierende Vernunft in ganz grundlegender Weise abgesprochen wurde, allmählich Zugang zu den universitären Institutionen erkämpfen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen schließlich mit den Black Studies oder der Frauen- und Geschlechterforschung neue Wissenschaftsfelder, die bisher Ausgeschlossenes in den Blick nehmen und neue Perspektiven auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten entwickeln. Zugleich werden institutionelle Maßnahmen wie Affirmative Action oder Frauenförderungs- und Gleichstellungspolitik entwickelt, die gleichberechtig-

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te Teilhabe ermöglichen sollen. Da tiefergehende gesellschaftliche Veränderungen und über diese eine Versöhnung der Geschlechter und anderer grundlegender Spaltungen allerdings ausbleiben, vollzieht sich der schleppende Einzug der bisher Exkludierten in die Wissenschaft vor allem über verstärkte Anpassungsleistungen an etablierte Mechanismen und Funktionsweisen des Systems Wissenschaft. Für WissenschaftlerInnen in den peripheren Regionen der globalisierten Weltwirtschaft macht es die Persistenz der globalen Arbeitsteilung und Ungleichheit weiterhin ungleich schwieriger, Anerkennung zu erlangen. Erkenntnis- und wissenschaftskritische Herausforderungen, die von den „neuen“ Wissenschaftsfeldern der Postcolonial Studies oder feministischer Forschung ausgehen, werden bisher nur selten außerhalb dieser aufgegriffen. Zwischen dem gegenwärtigen aufgeklärten Zeitgeist und den nach wie vor bestehenden Praxen der Diskriminierung und Versagung von Anerkennung besteht somit eine erhebliche Differenz. Theorie im Licht der tausend Sonnen Theoria hat im altgriechischen Sinn bzw. ihrer Übersetzung zum einen die Bedeutung der reinen Schau. Während gerade die platonische Ideen- und Seinslehre als Inbegriff der reinen Theorie gilt, gibt es eine Denktradition, die wohl mindestens bis Michel de Montaigne zurückgeht. Diese begreift die theoretisierende griechische Philosophie als Denken und Sagen, das eng verwoben ist mit der Frage nach dem richtigen oder dem guten Leben. Als solche hat Platon ihr aber durchaus Praxisrelevanz zugedacht (vgl. Hadot 1999: 85). Aristoteles denkt sie gar als „höchste Form der Praxis“ (Mittelstraß 1996: 259). Die Geschichte des (metatheoretischen) Nachdenkens über Theorie ist seither eng verbunden mit der Frage nach ihrem Verhältnis zur Praxis. Insofern sie Praxis ist, verhält sich die Theorie zu anderen sozialen Praxen, wie die Wissenschaftsphilosophie meint, praxisstabilisierend. Damit ist ihre Beziehung zu sozialer Praxis und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern der Ökonomie, der Politik, des Privaten und Sozialen usw. aber nicht hinreichend beschrieben. Denn im Kampf um Wahrheit(en), differente Praxisbezüge und unterschiedliche Vorstellungen einer wünschenswerten Ordnung von Gesellschaft kann wissenschaftliche Praxis stabilisierende, aber auch destabilisierende und transformative Wirkungen entfalten – oder eben keine. Mit einem Zitat Julius Robert Oppenheimers möchten wir zuletzt den Quantensprung von Galileo Galilei als einem der Begründer neuzeitlicher Naturwissenschaft zum Höhepunkt naturwissenschaftlicher Errungenschaften vollziehen, um ein Schlaglicht auf den Praxisbezug von Theorie und Wissenschaft in

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ihrer höchsten Potenz zu werfen. Hier zeigt sich die Problematik einer von gesellschaftlichen Institutionen vereinnahmten und während des Krieges intensivierten Forschung und Wissenschaft. Oppenheimer, der Leiter des Manhattan-Projekts, das ein Markstein in der Ausbildung einer nationalen Wissenschaftspolitik in den USA war (vgl. Schreiterer 2010: 481f.), gilt als „Vater der Atombombe“. Im Angesicht der Zündung der Atombombe im Juli 1945 problematisiert er ein neues Ethos des wissenschaftlichen Geistes: „Now, I am become Death, the destroyer of worlds.“ (Oppenheimer 1965) Aus diesem Zitat aus der Bhagavad Gita spricht keine Vorstellung wissenschaftlicher Omnipotenz, sondern Desillusion. Das heroische Ethos der Aufklärung, dass die Menschen fähig sind, die Welt menschlich einzurichten, weicht der Notwendigkeit, das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten aufzuhalten. Hört und sieht man, wie Oppenheimer die Stimmung unter den AugenzeugInnen der Zündung der ersten Atombombe beschreibt, drängt sich der Eindruck auf, dass auch diese die Konstruktion der Atombombe nicht als glorreichen Akt, sondern notwendiges, aber folgenreiches Übel begriffen: „We knew the world would not be the same. Few people laughed. Few people cried. Most people were silent.“ (Oppenheimer 1965) Die Produktiv- und die Destruktivkräfte der Wissenschaften haben sich ins Maßlose gesteigert – nicht weil sie jenseits der Gesellschaft operieren und auf sie einwirken, sondern gerade, weil sie Teil sich transformierender globaler Lebensund Konkurrenzverhältnisse sind. Diese Verhältnisse bedürfen der Kritik: Der Kritik der bestehenden Verhältnisse als auch der Kritik der Wissenschaften, denn „die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.“ (Horkheimer/Adorno 2001: 1) 2.2 Wissenschaftssoziologie und die Wende zur wettbewerbsorientierten Wissenschaft Die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, zu denen Wissenschaft selbst auch gehört, provoziert Fragen: Wer setzt der Wissenschaft welche Ziele? Was bewirkt die Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen von wissenschaftlicher Praxis? Und wie verhält sich das Projekt der Aufklärung zu diesen Zielen und Mitteln? Unsere These ist, dass gegenwärtig in einem nicht geringen Ausmaß über die Erfindung und Implementierung von Wettbewerben eine Neudefinition von Erfolg und eine stärker konkurrenzorientierte Strukturierung der sozialen Beziehungen in

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der Wissenschaft erfolgt. Eine Diagnose dieses Wandels des Wissenschaftssystems sollte jedoch nicht in die Falle tappen, das Gewesene zu verklären. So sprach Jürgen Habermas schon 1957 in Das chronische Leiden der Hochschulreform davon, dass die „relative Autonomie der ,kulturellen Sektoren‘, von der Wissenschaft und Universität ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit immerhin bezogen“ (Habermas 1969: 62), zerstört würde. Gleichwohl lassen sich Veränderungen benennen, die darauf zurückzuführen sind, dass Wissenschaft heute stärker als früher politisch regulierte Wissenschaft ist und dabei recht pragmatisch als Faktor in der globalen Konkurrenz von Staaten und suprastaatlichen Strukturen verstanden wird. Um diesen Systemwandel bestimmen zu können, soll zuerst mit den Grundbegriffen Max Webers die Rolle von Konkurrenz in den arbeitsteiligen Beziehungen der Wissenschaft geklärt werden. Wissenschaft zwischen Kooperation und Konkurrenz Theorie entwickelt sich nur als Arbeit an Theorien unter gegebenen materiellen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Sie kann diese Bedingungen reflektieren und kritisieren, aber sie kann sich nicht von diesen lösen. Theoriearbeit und wissenschaftliche Praxis im Allgemeinen sind Arbeit. Obgleich der Begriff der Arbeit mit den sprach-, kommunikations- oder diskurstheoretischen Wenden der vergangenen Jahrzehnte an Bedeutung verloren hat, wollen wir diesen ins Zentrum rücken. Denn dass sich wissenschaftliche Arbeit weitgehend im Modus der Kommunikation und der Verwendung von Sprache vollzieht, tut der Qualität dieser Praxis als Arbeit keinen Abbruch. Zudem wird mit dem Begriff der Arbeit ein zweiter Aspekt hervorgehoben, der in wissenschaftlichen Zusammenhängen gerne vermieden wird: Es geht im modernen wissenschaftlichen Betrieb immer auch um Erfolg. Dessen Kriterien werden durch die gesellschaftliche Ordnung der sozialen Beziehungen und Konkurrenzverhältnisse festgelegt. Neben Kooperation und Koordination spielt in Beziehungen der Arbeitsteilung Konkurrenz eine basale Rolle. Letztere ist nicht unbedingt das ganz Andere, sondern nistet sich mehr oder minder subtil in Kooperations- und Austauschbeziehungen ein. Nur wenn die Konkurrenzverhältnisse und ihre Transformation mitgedacht werden, kann ein adäquates Verständnis davon entwickelt werden, wie sich die gesellschaftliche Einbettung von Wissenschaft und die institutionelle Ordnung wissenschaftlicher Praxis verändern. In der Rezeption von Wirtschaft und Gesellschaft wird durch die Betonung der personenbezogenen Kategorien wie der des sozialen Handelns und durch die Hervorhebung des Moments des methodologischen Individualismus das struktur-

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und ordnungstheoretische Moment der Weberschen Theoriebildung häufig unterbewertet. So ist auch die Kategorie des Kampfes – als eine soziale Beziehung, in der einE HandelndeR bestimmte Ziele durchzusetzen versucht – überbetont worden. Wesentlich relevanter als der Kampf in ungeordneten Machtverhältnissen ist hingegen der Kampf in gesellschaftlich geregelten und geordneten Beziehungen. „Regelung“ und „Ordnung“ sind hierbei in einem strikt wertfreien Sinne zu verstehen: Dass etwas geregelt ist, impliziert nicht, dass es hinreichend, gut oder richtig geregelt ist. In Konkurrenzbeziehungen, so Weber, geht es um die „formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen“ und die „geregelte Konkurrenz“ ist in Zielen, Mitteln und Ablauf an institutionalisierten Ordnungen orientiert (Weber 2005: 27). Dies impliziert, dass die Konkurrenz um Mittel und Chancen nicht unbedingt die Wahrnehmung der anderen als unmittelbare KonkurrentInnen beinhaltet. Konkurrenz vollzieht sich auch dort, wo keine GegnerInnenschaft offen ausgelebt wird. Vielmehr spielt sie oftmals eine eher latente, wenngleich nicht unwesentliche Rolle in Sozialbeziehungen. Konkurrenz schließt Kooperation keineswegs aus. Mit Weber lässt sich Wissenschaft damit als soziale Praxis begreifen, für welche die Konkurrenz um Anerkennung von Wissen und Relevanz von Forschungsergebnissen, aber eben auch die Konkurrenz um berufliche Stellungen, Einkommenschancen und so wiederum die Ressourcen für die Verbesserung der eigenen Position in künftigen Konkurrenzsituationen zentral ist. Wissenschaftliche Praxis vollzieht sich hiernach in geordneten Konkurrenzverhältnissen. Es bleibt die Frage: Was wird in dieser Sphäre von wem mit welchen Mitteln geordnet und geregelt? Die Regelung von Konkurrenzverhältnissen kann informell-konventioneller und/oder formell-rechtlicher Art sein. Beide Formen der Regelung können von innen heraus oder von außen betrieben werden. Dabei schließen sich autonome und heteronome Ordnungsbestrebungen ebenso wenig wechselseitig aus wie informelle und formelle. Beispielsweise können informelle, kulturell tradierte Werte innerhalb von Praxissphären mit formalen Normierungen, wie Gesetzen oder innerinstitutionellen Vorschriften, konkurrieren. Informelle Kriterien, etwa der Bewertung von Erfolg, können aber auch formellen gegenüber relativ stabil und wirksam sein. Der Geltungsgrund, d.h. die Quelle und Art der Norm, sagt noch nichts über deren tatsächliche soziale Geltung aus (vgl. Weber 2005: 24), wenngleich davon auszugehen ist, dass komplementär sich ergänzende Normen wirksamer sind als konkurrierende Normen. Aus all dem folgt, dass sich WissenschaftlerInnen gegenüber neuen Anrufungen und neuen Definitionen von Erfolg, wie sie im Zuge der Einführung von neuen Regimen des Ratings, Rankings oder der leistungsorientier-

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ten Mittelvergabe gesetzt werden, reflexiv positionieren können (vgl. Lange 2010: 322). Von außen herangetragene Erfolgskriterien können die wissenschaftsintern tradierten Werte aber auch sukzessive verändern und von den wissenschaftlichen Subjekten internalisiert werden. Weber geht in seiner Theorie geordneter Vergesellschaftungsprozesse davon aus, dass KonkurrentInnen ein Interesse haben, die Regeln von Entscheidungsprozessen so zu gestalten, dass ihre künftigen Chancen auf Durchsetzung verbessert, Entscheidungskompetenzen ausgeweitet und damit Privilegien institutionalisiert werden – und das ganz besonders, wenn sie um knappe Mittel (Stellen, Forschungsgelder/ -agenden, Ressourcen für weitere Verfügungsmacht etc.) konkurrieren (vgl. Weber 2005: 260). Dies gilt für wissenschaftsinterne AkteurInnen, die z.B. in der Konkurrenz der Universitäten oder unterschiedlicher Fächer ein Interesse daran haben, dass die Wettbewerbsordnungen auf bestimmte, tendenziell selbstbegünstigende, Weise ausgestaltet werden. Dasselbe gilt aber auch für wissenschaftsexterne Ordnungsinstanzen, die so zugleich mit den wissenschaftsinternen Instanzen in eine Konkurrenz um Regelungskompetenzen treten. Aus der Anwendung der weberschen Grundbegriffe auf das Wissenschaftssystem ergibt sich zwangsläufig die Vorstellung, dass die Ordnung der Wissenschaft im Inneren derselben und im Zusammenspiel mit anderen Ordnungsmächten, insbesondere der Politik, umkämpft ist. Daran anknüpfend soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich die Ordnung wissenschaftlicher Praxis unter Einführung neuer Zielsetzungen und neuer Wettbewerbsmodalitäten verändert hat. Standortfaktor Wissenschaft Als das System universitärer Bildung in den 1990er Jahren in Deutschland zunehmend in die Kritik geriet und Alternativen diskutiert wurden, hielt der Bildungsforscher Joachim Münch in einer vergleichenden Untersuchung der Bildungssysteme Deutschlands, der USA und Japans dagegen. Er warnte, dass die Übernahme des Bachelorabschlusses für Deutschland nicht zu empfehlen sei und sich „[o]hne Zweifel [...] die deutschen Hochschulen in ihrer Ganzheit nicht hinter den amerikanischen und japanischen verstecken“ (Münch 1999: 159) müssten. Münchs Einwand aber ging an jener Kritik vorbei, die letztlich zur Reform der Universitäten führte, denn die hohe Qualität der universitären (Aus-)Bildung in Deutschland sprach gerade nicht gegen die Reform (vgl. Grimm 2010: 49f). Die Kritik am alten System war, dass Deutschland in der internationalen Konkurrenz hinsichtlich dreier Punkte schlechte Karten hatte. Erstens sah die akademische Elite im Vergleich mit der Konkurrenz nicht gut aus. Die Nobelpreise liefern ein Indiz:

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Während die USA seit 1950 178 Nobelpreise gewinnen konnten, hatten deutsche WissenschaftlerInnen nur 26 erhalten (vgl. Münch 1999: 26). Zweitens stellte man neidvoll fest, dass die HochschulabsolventInnen anderer führender Staaten das Studium wesentlich früher abschlossen. Roman Herzog skizzierte dieses Problem folgendermaßen: „Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können. [...] Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind“ (Herzog 1997).

Damit ist zugleich auf den dritten Aspekt verwiesen: Der Handel mit der Ware Bildung ist ein Geschäft, dessen Finanzvolumen auf 2,2 Billionen US-Dollar geschätzt wird (vgl. Lohmann 2004). Um nur ein Beispiel zu nennen, stehen etwa in Australien hinter Roheisen, Kohle und Gas die education-related travel services auf Platz vier der Top-Exportgüter, deren Umfang in den Jahren 2013/14 elf Milliarden Euro umfasste (vgl. Australian Government 2015). Von diesem Handel war Deutschland aufgrund der fehlenden Internationalität der Bildungstitel und der fehlenden englischsprachigen Studienangebote bis dato fast vollständig ausgeschlossen. Die neuen Leitformeln der Internationalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit der Wissenschaft sind im Wesentlichen politisch formulierte Ziele: Spitzenforschung soll betrieben werden, Innovationen angeregt und Wissenschaft im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig sein. Der Wissenschaftsstandort Deutschland soll gestärkt werden, um nicht zuletzt auch den Wirtschaftsstandort zu stärken (vgl. Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 2013). Über die Intensivierung der wirtschaftlichen Konkurrenz im globalen Zeitalter hat die Diagnose des intensivierten globalen Wettbewerbs auch die Wissenschaft erreicht. So heißt es im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags Globalisierung der Weltwirtschaft: „In der Phase des Übergangs zur Wissensgesellschaft verändert sich das Gewicht der einzelnen Produktionsfaktoren. Information und Wissen gewinnen gegenüber anderen Produktionsfaktoren wie Kapital, Rohstoffe oder Boden zunehmend an Bedeutung.“ (Deutscher Bundestag 2002: 260)

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Im Anschluss an diese Diagnose sah man sich gezwungen, Konsequenzen für das Bildungssystem zu ziehen, dessen mangelhafte Qualität im internationalen Vergleich die PISA-Studien nachgewiesen hatten. Infolge wurde auch die Hochschul- und Forschungsförderungspolitik einem Wandel unterzogen (vgl. Deutscher Bundestag 2002: 262): „Effizienzsteigerung und mehr Investitionen im Bildungssektor sind das Gebot. [...] Im Interesse der Gesellschaft muss auch die öffentlich finanzierte Forschung neues Grundlagenwissen für spätere innovative Entwicklungen erarbeiten. Diese Forschung muss nicht angewandt sein, aber anwendungsoffen. Schon weil die Mittel begrenzt sind, müssen die Mittel im Wettbewerb an die Hochschulen und Institute vergeben werden. In der Wissenschaft ist Wettbewerb genauso angebracht wie in der Wirtschaft.“ (Deutscher Bundestag 2002: 472)

Erfindung und Implementierung von Wettbewerben wird als probates Mittel verstanden, um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen: Die Chiffre des Wettbewerbes dient zugleich als Zeitdiagnose und als Heilmittel (vgl. Gasteiger/Schneider 2014: 155). Mit einer zunehmenden Bedeutung politischer Mittelvergabe und der Einführung von Wettbewerben um Forschungsmittel, die nicht auf peer-ReviewVerfahren basieren, sondern politische Entscheidungsinstanzen als Schiedsrichter bei Wettbewerben einsetzen, treten die Prinzipien der wissenschaftsinternen Selbststeuerung und der Außensteuerung des akademischen Feldes in Konkurrenz. Die Neuordnung der Wissenschaft durch Wettbewerbsregime Um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, wird das Wissenschaftssystem zum Gegenstand politischer Reformagenden, die wie im Falle des Bologna-Prozesses politische Zielsetzungen mit der Schaffung von institutionellen Gestaltungsspielräumen und -zwängen verbinden. An prominenter Stelle werden Rating-, Ranking- und andere Wettbewerbs- und Bewertungsinstrumentarien eingesetzt, um die Beziehung von Fremd- und Selbststeuerung neu zu gestalten. Hinsichtlich der Studienorganisation waren die Einführung einer zweistufigen Hochschulausbildung (Bachelor und Master), eines Leistungspunktesystems (European Credit Transfer System) und die Einteilung des Studiums in thematische Blöcke (Modularisierung) zentrale Mittel, die mit Maßnahmen der outputbasierten Steuerung verknüpft wurden. Im Kern geht es dabei um eine Ausrichtung auf Employability, wie Birgitta Wolff, amtierende Rektorin der Frankfurter GoetheUniversität, betont: „Gerade Wirtschaftsvertreter haben immer wieder jüngere Berufseinsteiger gewünscht; mit den ,Bachelors‘ haben sie nun ein entsprechen-

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des Angebot.“ (Wolff 2015). So verstanden wird universitäre Bildung auf die Qualifikationsfunktion reduziert. Während die Wirtschaft, wie in vielen medialen Berichten verlautbart wird, mit den neuen AbsolventInnen noch nicht so recht umzugehen weiß, werden die von Wolffs Amtsvorgänger Horkheimer eingeforderten umfassenderen Bildungsziele der Entwicklung von Individualität, Kritikfähigkeit und engagierter Intellektualität beschnitten. Da die Kritik an der mangelnden Qualität der Universität sich vor allem auf deren Output, also die Zahl der AbsolventInnen und die Qualifikationsfunktion der Studiengänge bezog, forderten Akteure wie das von der Hochschulrektorenkonferenz und der Bertelsmannstiftung getragene Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) die Einführung von Instrumenten zur outputorientierten Steuerung. Rankings von Studiengängen sollten den Wettbewerb der Universitäten um die Studierenden befeuern. Infolge einer aufkeimenden Kritik an der methodischen Qualität von Rankings und der Feststellung ihrer „zweifelhafte[n] wissenschaftspolitische[n] Effekte“ (Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2015) wird, ähnlich wie im Schulsystem, die Frage nach dem Verhältnis der Qualität von Bildung und der Qualität ihrer Messung zum Politikum. Denn die Art der Messung – was gemessen, was nicht gemessen wird und was, weil es nicht messbar ist, an Bedeutung verliert – hat Effekte auf die Ordnung (akademischer) Bildung. In der ihnen aufgezwungenen „autonomen“ Ausgestaltung von Studiengängen zur Spezialisierung der Hochschulstandorte werden die Hochschulen keineswegs gänzlich in die Freiheit entlassen. Akkreditierungsagenturen überprüfen und bewerten Studiengänge und entscheiden damit über deren Zukunft. So wird auch dieses Qualitätsprüfungsinstrument massiv kritisiert: „Die Akkreditierung in Deutschland ist teuer, bürokratisch, langsam, ineffizient, rechtlich zweifelhaft und autonomiefeindlich. Durch den Zwang zur regelmäßigen Reakkreditierung wird dieses Unwesen auf unabsehbare Zeit fortgeschrieben“ (Deutscher Hochschulverband 2009).

Dies verweist auf den Kampf zwischen Wissenschaft und Politik um Entscheidungskompetenzen und -modalitäten. Die grundsätzliche Ausformung der Konkurrenz der Hochschulen und die Positionierung des institutionellen Akteurs Hochschule als Konkurrent wird dabei jedoch nicht in Zweifel gezogen: „In einem wettbewerblichen System“, so die Argumentation des Deutschen Hochschulverbands, bedürften die Universitäten „keiner halbstaatlichen Kontrolle und Lizenzierung.“ (Deutscher Hochschulverband 2009). In diesem Transformationsprozess verfolgen

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die Hochschulleitungen das Ziel, die Universität als eigenständigen Rechtskörper mit einer starken präsidialen Führungsstruktur zu stärken. Trotz der geläufigen Rede von der Autonomie der Hochschulen und der Abkehr von der Inputsteuerung (vgl. Münch 1999: 13) entwickeln die Bundesländer neue Steuerungspraktiken, um die „autonomen“ Handlungspielräume mittels Gesetzgebung und Zweckvereinbarungen auch im Detail zu steuern. Ergänzend zu unmittelbarer politischer Steuerung wie Ziel- und Leistungsvereinbarungen wird durch die Implementierung von Wettbewerben um Forschungsmittel eine bestimmte Art von Autonomie politisch geschaffen. Eine zentrale Rolle spielt neben fingierten Wettbewerben der per Gesetz dekretierte und intensivierte Wettbewerb um Forschungsgelder (z.B. Art. 8 Bayerisches Hochschulgesetz). Wolfgang Lieb, ehemaliger Staatssekretär im Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalens, beschreibt in einem Interview des Deutschlandfunks die Wirkung dieser Wettbewerbslogik als deutliche Überlagerung wissenschaftsinterner Kriterien für gute wissenschaftliche Praxis: „Die Qualität einer Hochschule bestimmt sich nicht mehr aus ihrer wissenschaftlichen Anerkennung innerhalb der scientific community, sondern in der unternehmerischen Hochschule erweist sich die Qualität in der Konkurrenz mit ihresgleichen. Die Qualität der Forschung lässt sich aus der erfolgreichen Konkurrenz um Marktanteile bei den Forschungsmitteln, nämlich der Höhe der Drittmitteleinwerbung – also an handfestem Kapital messen.“ (Himmelrath 2014)

Der ehemalige Leiter des CHE hat die Etablierung der Universitäten als selbststeuernde Einheiten als Ziel formuliert: „Erforderlich ist eine Stärkung der korporativen Autonomie der Hochschule gegenüber der individuellen Autonomie einzelner Hochschulmitglieder“ (Müller-Böling/Küchler 1998: 19). Explizit werden die an Maßstäben von Erfolg, von Markt- und Anwendungsorientierung fixierte Außensteuerung sowie die auf Stärkung der Führungsebene bedachte Umstrukturierung der Selbststeuerungskapazitäten von Universitäten gegen eine an demokratischen und sozialen Werten orientierte Epistemologie und Organisation von Wissenschaft in Stellung gebracht. Neue Qualitätsmaßstäbe und ihre Effekte auf Empirie- und Theoriearbeit Indem Wissenschaft in globale Konkurrenzverhältnisse eingebettet wird, ändern sich die Maßstäbe, an denen die Qualität wissenschaftlichen Arbeitens fest-

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gemacht wird. Es zeigt sich, dass außerwissenschaftliche Instanzen mit Vorliebe auf solche Kriterien abstellen, die messbar sind und sich in Rankings, Indizes und Publikationszahlen abbilden lassen. „Publikationsintensität“ (Brandt/Breitfuss/ Daimer 2012: 51; vgl. Schreiterer/Becker 2014: 33) in Journalen, deren Qualität in der Regel durch Nennung im Social Science Citation Index oder einer ähnlichen Systematik nachgewiesen wird, ist der Maßstab der Stunde. Ein anderer ist die Quantität der Patentanmeldungen. Durch solche Maßstäbe, mit denen außenstehende Instanzen wissenschaftliche Qualität indizieren, wird der klassische Wettbewerb um Anerkennung in der Fachöffentlichkeit zunehmend überlagert (vgl. Münch/Pechmann 2009: 54). Quantität wird zum Maßstab, während Qualität nicht an Inhalten überprüft wird, sondern an der Einsortierung in „gerankte“ Zeitschriften – wobei das Zustandekommen dieser Indizes selbst keinen Qualitätsprüfungen unterzogen wird. Die skizzierten Veränderungen des Universitätssystems folgen dem bildungspolitischen Glauben, dass durch die Einführung neuer und intensivierter Konkurrenzverhältnisse auch die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems zunehmen würde. Sie stehen indes in deutlichem Kontrast zu Vorstellungen von wissenschaftlicher Praxis und den Bedingungen für gute wissenschaftliche Arbeit und Kreativität. Angesichts vielfältiger außerwissenschaftlicher Anrufungen, was Wissenschaft sein solle und leisten müsse, gerät Theoriearbeit als eigenständige wissenschaftliche Praxis unter besonderen Legitimationsdruck, weil sie keinen unmittelbaren Anwendungsbezug hat. Die deutliche Aufwertung empirischer Forschungsarbeit und die allseitigen Forderungen nach einem stärkeren Praxis- und Anwendungsbezug führen dazu, dass Theoriearbeit in die Defensive gerät. Dabei wird erstens im Kontext neuer Zeitregime übersehen, was die Grundvoraussetzungen für gute empirische Forschung sind – nämlich die Enthebung vom alltäglichen Zeitdruck und die Entrückung aus Alltagsroutinen. Zweitens ist für die Qualität empirischer Forschung die wissenschaftstheoretische und methodologische Reflexion des eigenen Tuns unerlässlich. Es ist einigermaßen kurios, dass so unterschiedliche Theorieschulen wie der Kritische Rationalismus und die Kritische Theorie herangezogen werden können und müssen, um die Bedeutung und Notwendigkeit von Theoriearbeit (auch für gute empirische Arbeit) in Erinnerung zu rufen: Während Karl Popper, Theodor W. Adorno, Hans Alberts und Jürgen Habermas herzlich über die Konzeption und den normativen Gehalt von Theorie stritten, waren sie sich doch darin einig, dass Theorie bei der Beschreibung, Erklärung und Veränderung von Gesellschaft wesentlich ist, Empirie und Theorie nicht gegeneinander ausgespielt werden können und eine theoriefreie, rein beobachtende Wissenschaft unmöglich ist. Für Adorno

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„ist der Social Research auf die Konfrontation mit der Theorie und auf Kenntnis objektiver sozialer Gebilde verwiesen, wenn er nicht zur Irrelevanz verkommen“ (Adorno 1979: 208) will. In den Worten Poppers ist „die Theorie [...] das Netz, das wir auswerfen, um ‚die Welt‘ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären“ (Popper 1973: 31). Wer freilich glaubt, ohne Netz und nur mit dem gesunden Menschenverstand fischen zu können, wird immer nur jene Erkenntnisse produzieren, die unreflektiert über Begriffe und Methoden in den Untersuchungsgegenstand gelegt wurden. Die Einordnung wissenschaftlicher Praxen in neuartige Wettbewerbs- und Regierungsregime fordert dazu heraus, die Konsequenzen dieser Prozesse für theoretische Arbeit und empirische Forschung zu reflektieren. Speziell für die Theoriearbeit werfen die aktuellen Bedingungen zudem die Fragen auf, ob eine intensive Arbeit an sozial-, geistes-, politik- oder kulturwissenschaftlichen Theorien überhaupt in diesem Kontext noch sinnvoll ist bzw. in welchem Rahmen sie sinnvoll sein könnte und zu welchen Zwecken Theoriebildung betrieben wird.

3. R ekonstruktion von T heorien dialogische T heoriebildung

und

Theorieentwicklung erfolgt über unterschiedliche Arten der Theorierezeption. Dabei ist es angesichts der Pluralität von Theorieangeboten und der Komplexität historischer Theorieentwicklung geradezu unmöglich, Theorie umfassend zu rezipieren. Die Frage der Theorierezeption wirft so immer auch die nach theoriepolitischen Strategien auf. Theorierekonstruktion impliziert Deutung von Theorien und ihrer Rezeptionsgeschichten. Ergänzend zu den oben skizzierten wissenschaftsphilosophischen, -geschichtlichen und -soziologischen Rahmungen wird in Abschnitt 3.1 ein weiterer Rahmen aufgespannt, der zeigt, wie die Rekonstruktion der Entwicklung von Theorien angelegt werden kann. Grundsätzliche Optionen stellen die Rekonstruktion von Theorien für sich, im Vergleich und in Theorie- und Forschungsfeldern dar. Mit den unterschiedlichen Rekonstruktionsmöglichkeiten werden dann wiederum verschiedene theoriepolitische Strategien möglich. Im Abschnitt 3.2 werden schließlich die Beiträge des Sammelbandes vorgestellt.

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3.1 Theorierezeption, Einordnung in Theoriediskurse und Theoriepolitik Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Art, wie TheoretikerInnen selbst in ihren Monologen und Dialogen mit anderen kommunizieren (Theoriedialog erster Ordnung) und der Art, wie Theorieentwicklung und -dialoge von nachkommenden WissenschaftlerInnen rekonstruiert werden (Theoriedialog zweiter Ordnung). Die verwendete Formel vom „Theoriendialog“ trifft die Sache dabei nur unzureichend, weil es sich um komplexe Kommunikationsbeziehungen handelt, die sich über viele Jahre und über Generationen von WissenschaftlerInnen in Form des schriftlichen symbolischen Austausches vollziehen können. „Dialog“ ist also eine Metapher, die über konkrete Gespräche und raumzeitliche Grenzen hinausgehende Kommunikationsprozesse bezeichnet. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind rekonstruierte Dialoge zweiter Ordnung. Hierbei gilt es zu reflektieren, wie retrospektiv Theorieentwicklungen objektiviert werden und welche Implikationen mit dem jeweiligen Zugriff verbunden sind. Die Darstellung des Werkes eines Autors/einer Autorin ist eine Strategie. Die Gegenüberstellung einer Mehrzahl von Theorien zu komparativen Zwecken ist eine zweite. Eine dritte Variante stellt die rekonstruktive Einordnung von Theorien in Felder und Diskurse dar. In jedem dieser Fälle werden Theorien auf je unterschiedliche Art verortet und zueinander in Bezug gesetzt. Die Betrachtung von Monolithen Viele Theoriedarstellungen verbleiben – trotz strukturalistischer Einsichten in die Sozialität des Denkens und Konventionalität von Semantik (vgl. de Saussure 1996: 43) – im Modus der Darstellung eines Klassikers und seines Werkes. Die männliche Form sei hier dadurch entschuldigt, dass Frauen nur selten in den Rang eines Klassikers erhoben wurden. So tradiert sich das Muster des genialischen Subjekts. Für die Wahrnehmung von Theorien durch nachfolgende Generationen von WissenschaftlerInnen sind neben Überblickswerken wie Einführungen in wissenschaftliche Fächer die Darstellungen zentraler Werke und AutorInnen nach wie vor von herausragender Bedeutung. Die meisten Beiträge dieses Bandes zollen diesem Muster ihren Respekt, indem bestimmte AutorInnen als einer besonderen Betrachtung würdig erachtet werden. In gewissem Rahmen ist dies gerechtfertigt, weil es herausragende VertreterInnen von Theorieschulen gibt, die eine besondere Relevanz erlangt haben – wobei die zeitgenössische und die retrospektive Wahrnehmung und Bewertung des Status von Theorien allerdings erheblich voneinander abweichen können.

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Theorie muss gerade mit dem Fokus auf Theorieentwicklung und Rezeptionsverläufe als arbeitsteilige, generationenübergreifende Praxis begriffen werden. Das dialogische Moment nimmt darin einen mehrdeutigen Sinn an: So wird durch die Konstruktion des genialischen Klassikers einerseits dialogische Theoriebildung erster Ordnung tendenziell unsichtbar gemacht. Andererseits stellen diese Akte der Theoriebildung zweiter Ordnung, die das Dialogische eher zum Verschwinden bringen, wiederum selbst Momente einer arbeitsteiligen Praxis dar. In dieser wird ein Ensemble von Klassikern in Erscheinung gebracht und zugleich in einem andauernden Deutungskampf darum gerungen, wer als Klassiker gilt und wer nicht (mehr) als Klassiker gelten kann – womit immer auch die Frage verbunden ist, welche Rolle ein Klassiker oder eine klassische Theorie für die Gegenwart spielen. Theorienpluralität und die Problematik des Theorienvergleichs Aufgrund des Pluralismus an Paradigmen, Theorien und Methoden gibt es in den Sozial- und Geisteswissenschaften bis heute kein einheitliches Verständnis dieser Wissenschaften. Das lässt sich schon an konkurrierenden Bezeichnungen wie Geistes-, Human-, Menschen-, Sozial-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften ablesen. So haben wir es nicht nur mit Differenzen in theoretischen Aussagen zu tun, sondern mit Unterschieden der jeweils zugrunde liegenden Wissenschaftsverständnisse, die jeweils spezifische Perspektiven auf gemeinsame Gegenstände und Zuschnitte von Gegenstandsbereichen beinhalten. Entsprechend gibt es nicht nur eine Pluralität von Theorien, sondern zugleich eine mit diesen verbundene Paradigmenvielfalt. Weil also auch die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagen umstritten und diese divergenten Ausgangs- und Zielpunkte wiederum eng mit unterschiedlichen Theorien verbunden sind, ist im Kontext der Sozial- und Geisteswissenschaften von „multiparadigmatischen“ Wissenschaften die Rede (vgl. Kneer/Schroer 2009: 7). An dieser Stelle soll nicht erörtert werden, welche Theorie eigentlich ein Paradigma ist oder was die Differenz eines Paradigmas zu einer Theorie ist. Es muss jedoch geklärt werden, was verglichen wird, wie verglichen wird und zu welchem Zweck verglichen wird. Bezüglich des Gegenstandes besteht keine Einigkeit in der Frage, welche Aussagensysteme überhaupt als geistes- bzw. sozialwissenschaftliche Theorien gelten. Dahinter stehen unterschiedliche Theoriebegriffe und letztlich ein metatheoretischer Streit um die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Unterschiedliche Theorien sind auch deshalb so schwierig miteinander zu vermitteln, weil Theorien unausweichlich mit Metatheorien verwoben sind oder selbst metatheoretische, d.h. wissenschaftstheore-

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tische, methodologische und normativ-praktische, Aussagen enthalten. Theorie und Metatheorie bilden ein je nach Theorie unterschiedlich ausgeprägtes „Ergänzungsbzw. Überlagerungsverhältnis“ (Kneer/Schroer 2009: 8). Daher sind unterschiedliche Wahrheitskonzeptionen, Vorstellungen von Empirie und Regeln wissenschaftlichen Forschens (Methodologie) ebenso wie differente Positionen zum Wertbezug wissenschaftlicher Praxis (vgl. Schurz/ Carrier 2013) und zum Praxisbezug von Wissenschaft Teil der konkurrierenden Verständnisse, was Theorie im weiteren Sinne ist, sein kann bzw. nicht sein sollte. Bezüglich der Theorie im engeren Sinne sind ergänzend hierzu noch die Arten und Funktionen des Theoretischen zu unterscheiden: Neben axiomatischen Aussagen, z.B. allgemeine Aussagen über Gesellschaft und solche zur Anthropologie des Menschen, gibt es sozialtheoretische Modelle, die den Gegenstand der Forschung modellieren, und schließlich theoretische Aussagen, die Forschungsergebnisse zu konkreten Ausschnitten der Wirklichkeit enthalten (vgl. Lindemann 2008: 108f.; Wedl/Herschinger/Gasteiger 2014: 541ff.). Damit wären auch schon zentrale Dimensionen eines Theorienvergleichs benannt. Bei der Gegenüberstellung von Theorien muss also geklärt werden, was eigentlich verglichen wird: Theorie im weiteren oder engeren Sinne oder nur bestimmte Aspekte von Theorien. Außerdem muss reflektiert werden, welche Möglichkeiten des Theorienvergleichs es gibt und welche Ziele dabei verfolgt werden können. Denkt man sich ein Kontinuum möglicher Vergleichsmethoden, dann bilden deren Extrempunkte am einen Ende eine streng eliminative Methode und am anderen Ende eine rein verstehende, summative Bestandsaufnahme vorhandener Theorieansätze. Eine eliminative Methode verfolgt das Ziel, durch den Vergleich theoretischer Sätze „erstens zu ermitteln, welche der zu vergleichenden Sätze überlegen sind und zweitens die unterlegenen Sätze aus der weiteren Diskussion auszuschließen“ (Opp 1978: 213f). Im Unterschied dazu begnügt sich eine summative Methode damit, „die einzelnen Theorieansätze nebeneinander bzw. hintereinander anzuordnen“ und verzichtet sogar darauf, „die einzelnen Theorieansätze mit Hilfe übergeordneter Kategorien […] zu bündeln“ (Kneer/Schroer 2009: 16). Bedingt durch unterschiedliche Vorstellungen über den Wert einer einheitlichen, zumindest in der jeweiligen Disziplin geteilten Theorie haben diese Konzeptionen des Vergleichs unterschiedliche Zielvorstellungen. Auf der einen Seite finden sich VertreterInnen eines Einheitsanspruchs. So verteidigte etwa Karl Otto Hondrich für die Soziologie die Auffassung, es gäbe trotz unterschiedlicher Theorieansätze „nur eine soziologische Theorie“ (Hondrich 1978: 314). Im Unterschied zu Hondrich gehen die meisten AutorInnen heute

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von einer multiparadigmatischen Struktur der Sozialwissenschaften aus. Einige machen aber Vorschläge, wie doch noch eine Einheit erkannt oder in Zukunft erreicht werden könnte. Diese Vorschläge zielen in die Richtung eines einheitlichen Gegenstandsbereichs und die Identifikation gemeinsamer Deutungsmuster. So soll z.B. in der Soziologie deren „multiparadigmatische Struktur“ durch die Entwicklung eines „gefestige[n] integrative[n] Bezugrahmen[s]“ (Gresshoff/ Lindemann/Schimank 2007: 18) überwunden werden. In Differenz zu solchen Integrationsversuchen eröffnet die Vorstellung eines gemeinsamen Problembezugs – für die Soziologie etwa die Frage, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist – den Sinn für einen Theorienvergleich, der den Eigenwert von Theorien und damit den Nutzen der Theorienpluralität hervorhebt (vgl. Seyfarth 1978). Aufgrund der oben geschilderten Ausgangslage wird innerhalb der Theoriediskussion von unterschiedlichen Paradigmen gesprochen. Der Begriff des Paradigmas drängt sich geradezu auf, wenn man die untrennbare Verbindung von Theorieelementen reflektiert, die einer Theorie ihre spezifische Gestalt geben. Er scheint eine Bezugseinheit für den Vergleich zu bieten, der die vielfältigen Dimensionen des Theoretischen umfasst. Letztlich erweist sich die Begriffsverwendung jedoch als weitgehend unpräzise und uneindeutig (vgl. Kneer/ Schroer 2009: 7). Der Begriff des Paradigmas ist auch deswegen problematisch, weil er schon in der ursprünglichen Fassung weitgehend unscharf gebraucht (vgl. Kuhn 1977: 389) und dessen Begriffsgeschichte in der Regel nicht hinreichend reflektiert wird. Seinen Ursprung hat der Paradigmenbegriff in einer wissenschaftsgeschichtlichen Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Theorien und Forschungspraxen. Ungeachtet der Tatsache, dass er als Singular konzipiert ist und Brüche folglich nur im diachronen Verlauf wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen denkbar sind, wird er im sozial- und geisteswissenschaftlichen Kontext zumeist im Plural verwendet. Gerade die Vorstellung, dass ein Paradigma aus einer Gemeinschaft von WissenschaftlerInnen mit einem gemeinsamen Spezialgebiet, geteilten Grundannahmen, Methoden, Beispielen, technischen Apparaturen etc. resultiert (vgl. Kuhn 1977: 391), zeigt, dass der Paradigmen-Begriff eigentlich nur schwer und nicht ohne erhebliche Bedeutungsverschiebungen in die Sozialund Geisteswissenschaften übersetzt werden kann. So handelt es sich bei diesen Wissenschaften, wie die eingangs aufgeführten Konzeptionen von Wissenschaften in diesem Bereich zeigen, eigentlich um nicht-paradigmatische Wissenschaften: Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachdisziplinen sind im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Fächern vergangener Jahrhunderte eben nicht von einem Paradigma geprägt. Dementsprechend lassen sich auch Personengruppen wie

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Denkkollektive (vgl. Fleck 1980: 54f.) oder klar umgrenzte scientific communities (vgl. Polanyi 1985), die einen gemeinsamen Denkstil pflegen, nur bedingt identifizieren. Selbstkritisch sei angemerkt, dass auch wir und die AutorInnen der Beiträge nicht genau klären, was ein Paradigma oder ein Denkstil ist. So wie zu fragen wäre, ob nicht auch naturwissenschaftliche Disziplinen mittlerweile multi-paradigmatisch und daher post-paradigmatische Wissenschaften sind, müsste eingehender erörtert werden, ob denn der prä-paradigmatische Zustand der Geistes-/Sozial-/ Kultur- und/oder Gesellschaftswissenschaften überhaupt ein problematischer Zustand ist: Welche Konsequenzen würde es denn zeitigen, wenn die benannten Wissenschaften einem Paradigma und die zugehörigen ForscherInnen ein geschlossenes Denkkollektiv wären? Würde das geistes- und sozialwissenschaftliche Denken nicht seine Lebendigkeit oder, wie Weber sagt, seine ewige Jugendlichkeit (vgl. Weber 1992: 252) und damit seine Kritikfähigkeit verlieren, wenn die mit der Theorienpluralität einhergehende Vielfalt an Begriffen, an Fragestellungen und Heuristiken sowie die damit verbundenen, stets umstrittenen Problembezüge verschwänden? Welche Art von Gesellschaft und der Ordnung des Politischen würde eine (mono-)paradigmatische Geistes- oder Sozialwissenschaft befördern? Theorien als Elemente von Diskursen Die Strategie der Darstellung einer Theorie, die setzt, was als relevant und nicht relevant gilt, unterscheidet sich grundlegend von der Darstellung von Theorien im Plural. Letztere impliziert immer schon, dass eine Mehrzahl von Theorien als ausreichend relevant erachtet wird, um diese miteinander in einen Vergleich zu setzen. Eine zweite Variante, die Pluralität von Theorien in Erscheinung zu bringen ist die Einordnung derselben in ein umfassenderes Feld bzw. in einen Diskurs. Es handelt sich also um die Rekonstruktion umfassender „Systeme der Streuung“ (Foucault 1997: 58) von Aussagen. Solche Systeme können als abstraktes, zeitunabhängiges Feld grundsätzlicher theoretischer Optionen, sie können aber auch als Momentaufnahme oder als historischer Wandel eines Diskursverlaufs angelegt werden. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass wir es mit Theorien zu tun haben, die in unterschiedlichem Grad selbstreferentiell bzw. offen sind und sich entsprechend von konkurrierenden Theorien in unterschiedlichem Maß irritieren lassen oder einen Dialog mit diesen zulassen. Theorienentwicklung als Prozess der Entwicklung geschlossener Denksysteme zu verstehen erweist sich vor diesem Hintergrund als (hochgradig) problematisch. Denn Theorien werden in der Regel in intensiven Auseinandersetzungen mit vielen anderen Denktraditionen entwickelt.

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Während der Theorienvergleich also in der Regel Theoriegestalten erzeugt, wird in einer solchen feld- bzw. diskurstheoretischen Perspektive eher das unabgeschlossene Wahrheitsspiel von theoretischen Positionierungen sichtbar gemacht, die sich in Auseinandersetzung miteinander und in Kämpfen um Deutungshoheit entfalten. Hatte sich die Bestimmung der Bezugseinheit schon beim Theorienvergleich als schwierig erwiesen, lässt sich Ähnliches für die Darstellung von Diskursen feststellen. Diese haben die poststrukturalistische Kritik an Konzeptionen des Autors und des Werkes (vgl. Foucault 1997: 40) sowie die Skepsis gegenüber der Konstruktion von Einheiten – sei es die des Faches oder der Wissenschaft als einer unabhängigen Sphäre – in Rechnung zu stellen und auf dieser Basis zugleich eine präzise und gegenstandsangemessene Fassung der Diskurseinheit zu leisten. Es gilt also zu klären und plausibel zu machen, um welche Art von Diskurs es sich handelt und inwiefern dieser überhaupt als relativ eigenständiger Diskurs gedacht werden kann. Dialogische Theoriebildung und die Reflexion theoriepolitischer Strategien Unterschiedliche Begrifflichkeiten, Begriffsverwendungen und die Bildung eigenständiger „Soziolekte“ (Zima 2004: 50) machen dialogische Kommunikation über differente Theorien und Denkrichtungen zu einem schwierigen Unterfangen. Solche Differenzen bestehen nicht nur auf einer sprachlichen Ebene, sondern betreffen auch unterschiedliche Selbstverständnisse, soziale Zugehörigkeiten sowie Wert- und Praxisbezüge. Diese können Missverständnisse bedingen oder gar dazu führen, andere Theorien nicht verstehen zu wollen und zu können. Neben der Frage, wer mit wem kommuniziert und dies auf bestimmte Art un-/sichtbar macht, geht es selbstverständlich auch um die Qualität der Kommunikation. Theoriepolitik ist nicht nur selbstreferenziell darauf gerichtet, wie eine Theorie verändert wird. Die Art, wie Theoriepolitik betrieben wird beinhaltet vielmehr eine Art, wie mit anderen TheoretikerInnen und GesprächspartnerInnen kommuniziert wird. Ausgangspunkt dieses Sammelbandes ist die Annahme, dass die Pluralität theoretischer Angebote nur dann produktiv werden kann, wenn statt einer Beliebigkeit des unvermittelten Nebeneinanders ein Dialog über die Möglichkeiten und Grenzen von Theorie und Kritik zwischen den Theorietraditionen und Disziplinen geführt wird. So plädieren wir – mit Peter Zima – für eine dialogische Theoriebildung. Diese soll „das beziehungslose Nebeneinander von Diskursen in ein Miteinander verwandeln, welches das theoretische Potential der Kultur- und Sozialwissenschaften ausschöpft. Statt

THEORIEREZEPTION UND THEORIEPOLITIK | 35 einander monologisch zu ignorieren, sollten Wissenschaftlergruppen in diesem Bereich die Interdiskursivität entdecken, um ihre eigenen Theorien besser zu verstehen und mit Hilfe der fremden Rede vervollständigen zu können.“ (Zima 2004: 286f., Hervorh. im Orig.)

Dieser normative Bezugspunkt insistiert auf das Binnenverhältnis von Wissenschaft und Theoriediskursen. Die Art, wie Wissenschaft mit nicht-wissenschaftlichen Praxen und ihren AkteurInnen in Dialog tritt und treten sollte, wäre eigens zu reflektieren. Diesbezüglich wollen wir den unmittelbaren wissenschaftsimmanenten Kontext vom mittelbaren soziokulturellen Kontext unterscheiden, um Theoriebildung als doppelten Dialog zu begreifen: Ein Dialog mit der Welt wissenschaftlicher Theorien und ihrer ProtagonistInnen ebenso wie mit den umgreifenden zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen und Aussagepositionen. Neben der Reduzierung des Theoriendialogs auf das Binnenverhältnis des Theoretischen erscheint uns an der Konzeption von Peter Zima die Zielvorstellung der „Vervollständigung“ problematisch. Als zentrale Aufgabe und Gewinn dialogischer Theoriebildung erachten wir vielmehr die Möglichkeit eines vertieften Verstehens des „Eigenen“ mit Hilfe des „Fremden“ und „Anderen“: Die aktive Auseinandersetzung mit anderen Theorien mag „Unbewusstes“ der eigenen Theorie bewusst machen, mag aufzeigen, was mit der jeweils eigenen Perspektive in manchen Fällen gar nicht, in anderen vielleicht aber auch „nur“ auf andere Weise in den Blick kommt. Zielrichtung sollte damit eine Anerkennung von Differenzen sein. Abgrenzungsstrategien, welche die Besonderheit der eigenen Theorie(tradition) dadurch verdeutlichen, dass sie sich „ScheingegnerInnen“ konstruieren oder relevante Aussagen anderer Theoriezusammenhänge geflissentlich unerwähnt lassen, verhindern eine solche Anerkennung ebenso wie die Vorstellung von einer „Vervollständigung“ der eigenen Theorie, die das „Andere“ tendenziell instrumentell und assimilierend wahrnimmt. Diese zwei Varianten von Theoriepolitiken mahnen an, dass die Qualität eines Theorienvergleichs oder der Darstellung eines Feldes mit koexistierenden theoretischen Angeboten auf der Qualität der Beurteilung jeder Theorie für sich beruht: „Seriös kritisiert werden kann nur etwas, das man verstanden hat.“ (Proißl 2014: 26) Ähnlich kann in Bezug auf Diskursfelder gesagt werden, dass eine Rekonstruktion theoretischer Positionen nur gelingen kann, wenn die Fülle der differenten Aussagepositionen auch hinreichend erfasst wird. Dennoch bleiben letztlich jegliche Rekonstruktions-, Vergleichs- und Einordnungsvorhaben notwendig mit theoriepolitischen Optionen und Strategien verknüpft. Dabei können theoriepolitische Ziele den Ausgangspunkt für bestimmte Rekonstruktionsstrategien bilden. Umgekehrt können aber auch be-

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stimmte Rekonstruktionsstrategien bestimmte Theoriepolitiken evozieren. Neben den bei der Rekonstruktion zum Tragen kommenden wahrheitspolitischen Akten der Konstruktion von Theorie(-n) bezeichnen wir also die gezielte – nicht unbedingt reflektierte – Theoriebildung und ihre argumentative Begründung als Theoriepolitik. Der Begriff ist folglich komplex und evoziert sicherlich auch Missverständnisse. Nichtsdestotrotz erscheint er uns notwendig, weil damit ein Aspekt von Theorieentwicklung und -dialog reflektiert werden kann, der ansonsten kaum explizit reflektiert wird. Diese Reflexion geht von der Frage aus, wie sich einE AutorIn in einem Feld theoretischer Positionen und in einer Geschichte der Theorieentwicklung positioniert und wie die Darstellung der je anderen Positionen eingesetzt wird, um die eigene Positionierung in Szene zu setzen. Von Theoriepolitik zu sprechen und von Strategien der Rekonstruktion von Theorie unterstellt Möglichkeitsspielräume. Das bedeutet aber nicht, dass Theorierekonstruktion und -aktualisierung einer vollständigen Beliebigkeit unterliegen würden. Vielmehr müssen sie wohlbegründet, d.h. belegt werden, und gut argumentiert sein, um Plausibilität beanspruchen zu können. Das Spektrum theoriepolitischer Strategien kann dabei eine große Bandbreite aufweisen. Diese reicht von der Behauptung einer Theorie als der einzig wahren über die abgeschwächte Variante einer Abgrenzung und Konturierung der einen Theorie gegenüber anderen bis zu Versuchen der Konstruktion einer neuen großen Erzählung – wobei nur nebenbei bemerkt auch die Erzählung vom Ende der großen Erzählungen selbst eine solche generiert. Eine andere Variante ist die Darstellung theoretischer Konvergenzen, wodurch die eigene theoretische Position als Kulminationspunkt einer Entwicklung in Szene gesetzt wird. Solche Strategien finden sich in diesem Sammelband nicht. Vielmehr bietet das Gros der Beiträge in diesem Sammelband ein komplexeres Bild an: Es werden Übereinstimmungen attestiert, wo bisher vornehmlich Differenzen gesehen worden sind. Wo ehemals unvereinbare Positionen festgestellt wurden, werden infolge einer anderen Perspektive auf Differenzen und Ähnlichkeiten Möglichkeiten des Dialogs eröffnet. Durch die Einordnung von Aussagen, theoretischen Positionen und Forschungsprogrammen in komplexe Felder werden aber auch Konflikte identifiziert, die ansonsten nicht aufgedeckt und thematisiert werden können. 3.2 Die Beiträge des Sammelbandes als Beispiele für Rekonstruktionsstrategien Die Ordnung der Beiträge folgt einer Logik zunehmender Komplexität. So befassen sich die Beiträge des ersten Teils mit einzelnen Theorie- und Denktraditionen. Sie re-

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konstruieren die Entwicklung kritischer Theorien im Spannungsfeld von Tradierung gemeinsamer theoretischer Positionen, ihrer Aktualisierung und Pluralisierung. Beide Aufsätze beschäftigen sich mit distinkten Traditionen, die auf je unterschiedliche Art und Weise auf Karl Marx rekurrieren. Sowohl in der marxistischen Formund Fetischkritik als auch in der Kritischen Theorie geht es dabei um Momente von Theorieentwicklung, die zum einen durch Dialoge innerhalb von Denkstilen inspiriert sind, zum anderen von der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Kontexte. Damit ist bereits angedeutet, dass es zu einer Vervielfältigung theoretischer Positionen kommt und Theorietraditionen keine homologen Blöcke sind. Vielmehr entfalten sich gerade in gemeinsamen Bezugsrahmen mitunter auch Streitigkeiten um Identität und Differenzen. Bezüglich letzterer stellt sich dann die Frage, ob Denktraditionen diese Differenzen in sich aufnehmen können oder wollen, weil der gemeinsame Bezugsrahmen erhalten bleibt, oder ob es zu Brüchen mit Denktraditionen kommt. Die zweite Abteilung von Beiträgen befasst sich demgegenüber nicht mit einer Denktradition, sondern mit koexistierenden Denkstilen, die von den AutorInnen als different und eigentlich inkommensurabel oder als wahlverwandt eingeordnet werden. Die thematische Bandbreite reicht von der Rekonstruktion des philosophischen Streits zwischen Skepsis und Stoa über die Neubestimmung des historischen Denkens bis zum Kampf um die Grundlegung der Politikwissenschaft. Dabei zeigt sich erneut, dass „Dialog“ eher eine Metapher für komplexe, über konkrete räumliche und zeitliche Grenzen hinausgehende Auseinandersetzungen ist. Hervorzuheben ist, dass sich die Vergleiche auf bestimmte Vergleichsdimensionen beziehen, so dass die Feststellung einer Ähnlichkeit in einer oder einiger dieser Dimensionen nicht die Feststellung einer Identität im Gesamten bedeutet. Die Aufsätze der dritten Abteilung setzen sich mit dem Wandel von Forschungsfeldern, theoretischen und politischen Diskursen auseinander. Wie in den ersten beiden Teilen ist auch in den Beiträgen der dritten Abteilung das Spannungsverhältnis zwischen theorie-/wissenschaftsimmanenten und gesellschaftlichen Einflussfaktoren präsent. Mit Bezug auf die Rekonstruktionsstrategien lassen sich erstens Unterschiede hinsichtlich des Gegenstandsbezugs feststellen: Die einen befassen sich mit der Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen bzw. von Forschungsfeldern, die sich interdisziplinär entfalten; die anderen mit politischen Diskursen bzw. mit einem Diskurs, der sich an der offenen Grenzlinie des akademischen und politischen Diskursniveaus entwickelt. Zweitens spannen die Darstellungen unterschiedliche sozialräumliche Kontexte auf, womit einzelne Beiträge auch Wirkungsverhältnisse von nationalen und transnationa-

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len Diskursebenen in den Blick nehmen. Gemeinsam ist den hier versammelten Aufsätzen, dass sich die Abgrenzung verschiedener Diskurse als fragil erweist. Alexander Neupert-Doppler rekonstruiert in seinem Beitrag die Traditionslinie der an Marx anschließenden Form- und Fetischkritik. Der Autor stellt dar, wie die allmähliche Herausbildung eines demokratischen Rechts- und Sozialstaats Anlass gab zu einer Ausweitung der zunächst auf ökonomische Formen beschränkten marxschen Kritik auf rechtliche und politische Formen. Die Reflexion auf gesellschaftliche Veränderungen führte so zur Entwicklung der Form- und Fetischkritik als einer kritischen Methode, die sich dadurch auszeichnet, gesellschaftliche Praxen als formbestimmt zu enthüllen. Im Beitrag werden die impliziten Voraussetzungen des spezifischen Kritikverständnisses der Form- und Fetischkritik offengelegt und damit Reichweiten und Grenzen dieses Modus von Kritik deutlich. Wie NeupertDoppler reflektiert, stellen sich die Überlegungen verschiedener TheoretikerInnen wie Eugen Paschukanis und Sonja Buckel erst im historischen Rückblick als eine Traditionslinie dar. Deren Positionen werden einer an den „klassenkämpferischen Marx“ anschließenden Kritik gegenübergestellt, womit die Form- und Fetischkritik als eine mögliche an Marx anschließende Denkweise erkennbar wird, die mit anderen marxistischen Traditionen in einem konkurrierenden Verhältnis steht. Dass sich eine Orientierung am Marx der Klassenkämpfe bzw. der Fetischkritik nicht notwendig ausschließen muss, wird am Beispiel von Joachim Hirschs Regulationstheorie gezeigt. Marc Grimm und Martin Proißl diskutieren am Begriff der Ideologie das Verhältnis der klassischen Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und der Kritischen Theorie von Jürgen Habermas. Die Autoren weisen die Ebenen und Facetten des Ideologiebegriffs der klassischen Kritischen Theorie aus, um vor diesem Hintergrund Veränderungen der habermasschen Theorieentwicklung aufzuzeigen. Auf Basis der Rekonstruktion der Theoriegestalt der Ideologiekritik in der frühen Kritischen Theorie zeigen sie, dass die habermassche Ideologiekritik in Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ (1968) noch in der Traditionslinie der klassischen Kritischen Theorie steht. Mit der sprach- bzw. kulturtheoretischen Wende von Habermas’ Theorie beginnt die Abkehr vom Begriff der Ideologie. Grimm und Proißl argumentieren, dass Habermas den geschichtsphilosophisch geladenen Begriff von Ideologie verabschieden musste, weil sich dessen transzendentales Moment der für Habermas so zentralen Idee der diskursiven Übereinkunft sperrt. Die spezifische Art der Rekonstruktion eines zentralen Begriffs einer Theorietradition mündet damit in eine Divergenzthese.

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In den Dialogen zwischen differenten Forschungsprogrammen und Paradigmen werden Möglichkeiten des Dialogs ausgelotet. Eva Seidlmayer zeigt am Beispiel der antiken Debatte zwischen den Stoikern und den pyrrhonischen und akademischen Skeptikern, wie unterschiedliche (erkenntnis-)theoretische und normative Ausgangspunkte die Möglichkeit einer dialogischen Auseinandersetzung und produktiven Problemlösung versperren können. Wechselseitige Bezugnahmen gleiten daher oftmals ins Polemische ab. Nach der historischen Rekonstruktion der Debatte diskutiert die Autorin unter Bezug auf John Dewey die Nützlichkeit und die kontextuelle Angemessenheit der konfligierenden Ansätze. In Abgrenzung von üblichen Lesearten wird die antike Debatte als Diskursformation verstanden und hinsichtlich ihrer Systematik analysiert. Dieser Zugriff erlaubt, die bisher als unvermittelbar beurteilten Positionen so in Bezug zu setzen, dass ein Dialog derselben denkbar wird. Marco Walter stellt die zwei konkurrierenden Paradigmen des Politischen gegenüber: Den am Begriff der Dezision und den am Begriff der Partizipation orientierten Denkstil. Weil Carl Schmitt und Hannah Arendt als geradezu prototypische und besonders wirkmächtige VertreterInnen der jeweiligen paradigmatischen Position gelten, werden die Unterschiede der Denkstile an ihren Werken aufgezeigt. Auf einer metatheoretischen Ebene werden hierzu zwei Zugänge des Theorienvergleichs und der Auseinandersetzung mit politischer Ideengeschichte reflektiert: Die an sprechakttheoretische Überlegungen anknüpfende Cambridge School der Ideengeschichtsschreibung wird mit einer systematisch-analytischen, weitgehend auf werkimmanente Aspekte fokussierenden Methode konfrontiert. Es wird argumentiert, dass eine sprechakttheoretisch fundierte Ideengeschichtsschreibung, die Absichten der politischen Intervention als zentrale Gründe für unterschiedliche Konzeptionen des Politischen annimmt, zur Erklärung der Unterschiede nicht angemessen sei. Walter beschreibt die Differenzen zwischen den Denkstilen als Folge unterschiedlicher Gegenstandsbezüge. So erscheinen die jeweiligen Konzeptionen des Politischen nicht mehr als inkommensurable Differenzen, sondern als differente, aber komplementäre Konzeptionen. Eine Auseinandersetzung mit dem je ganz Anderen erscheint daher geboten. Die erschlossene Gemeinsamkeit des Anliegens, das Politische verteidigen zu wollen, bietet einen Ausgangspunkt für einen solchen Theoriendialog. Sebastian Huhnholz begibt sich auf eine Reise zu den Orten, an denen sich in der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts neue historiographische Forschungsstile ausgebildet haben: Cambridge, Paris und Bielefeld stehen für die Formulierung von diskursgeschichtlichen Forschungsperspektiven und daran anknüpfende rege Forschungsaktivitäten. Der Autor unternimmt den Versuch, die ge-

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meinsamen Ausgangspunkte und wahrheitspolitischen Anliegen der „Neuen Geschichtsschreibung“ von Quentin Skinner, Michel Foucault und Reinhart Kosseleck herauszuarbeiten. Nach Huhnholz entwickeln sich die Rezeptionslinien im selbstreferenziellen Bezug auf die je eigenen Denktraditionen. Dort, wo sie sich mit den je anderen beschäftigen, werden einseitig Differenzen hervorgehoben. Wenn der Autor diese Positionen als in ihrem Kern identisch rekonstruiert, so erscheint dies als Folge dessen, dass die Vertreter einer anti-ideologischen Geschichtsschreibung von unterschiedlichen Orten aus auf dieselbe geschichtliche Situation geantwortet haben. Auch der Beitrag von Cornelia Möser bewegt sich in einem geografischen Dreieck, nun aber dem zwischen Frankreich, Deutschland und den USA. Die Autorin beschäftigt sich mit der Rezeption von Judith Butlers Gender Trouble, das in der feministischen Wissenschaft Deutschlands wie Frankreichs als nachhaltiger Einschnitt verhandelt wird. Statt zu klären, ob ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, setzt es sich Möser zur Aufgabe, die diskursive Herstellung eines solchen nachzuzeichnen. Dazu richtet sie ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die historisch-politischen und institutionellen Kontexte sowie die Theorietraditionen Deutschlands und Frankreichs, um sich dann den feministischen Gender-Debatten und schließlich deren „Erzählung“ in der deutsch- bzw. französischsprachigen Einführungsliteratur zuzuwenden. Deutlich wird so zum einen, dass das Wandern von Theorien zwischen verschiedenen nationalen bzw. sprachlichen Räumen und deren kulturelle Übersetzung ein produktiver Faktor für die Transformation von Begriffen und Theorieschulen sein kann. Zum anderen erlaubt die Vorgehensweise, Diskussionen um einen möglichen Paradigmenwechsel als Auseinandersetzungen um wissenschaftliche und politische Hegemonien zu dechiffrieren. Die Autorin plädiert dafür, diese Konflikte offenzulegen und damit theoretisierbar zu machen. Ebenfalls im Feld der Geschlechterforschung ist der Beitrag von Tina Jung verortet, der sich mit dem Selbst- und Kritikverständnis feministischer Wissenschaft beschäftigt. Im Mittelpunkt steht dabei das spannungsreiche Verhältnis eines feministischen Wissensprojektes zur Politik. Die Autorin arbeitet zunächst Grundzüge des feministischen Wissenschaftsverständnisses heraus: Entstanden im Kontext der Neuen Frauenbewegung habe dieses zu einer weitgehenden Ineinssetzung von feministischer Wissenschaft und feministischer Politik tendiert – auch wenn derartige Positionen schon damals nicht unumstritten waren. Jungs Schwerpunkt liegt dann auf jüngeren Beiträgen, die an einem kritisch-politischen Selbstverständnis feministischer Wissenschaft festzuhalten suchen, dabei jedoch die „Eigenlogiken“ beider (Praxis-)Felder betonen. Solche Ansätze würden Wissenschaft und Politik

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nicht gänzlich trennen, sondern feministische Wissenschaft – gerade in Form von Erkenntnis- und Wissenschaftskritik – als eine spezifische politische Tätigkeit verstehen. Der Beitrag lädt ein, danach zu fragen, wie sich die Verhältnisbestimmung von Politik und Wissenschaft in anderen sich als politisch verstehenden Wissenschaftsfeldern, etwa der kritischen Migrationsforschung oder den Disability Studies, darstellt. Die Frage der Kritik steht auch im Zentrum des Beitrags von Katarina Froebus. Für die Pädagogik stellt sich diese vor allem als Notwendigkeit der Reflexion auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch von Bildung und deren gesellschaftlicher Einbettung. Der Aufsatz verfolgt die Entwicklung einer sich als kritisch verstehenden Pädagogik, wobei der Autorin zufolge vier Theorielinien grundsätzlich unterschieden werden können: Die Kritische Erziehungswissenschaft, die Kritische Bildungstheorie, pädagogische Anschlüsse an Foucault sowie Perspektiven, die für einen dekonstruktiven Umgang mit Differenz plädieren. Deutlich wird, wie die außerpädagogische Theoriebildung – namentlich die Kritische Theorie und poststrukturalistische Theorien – von kritischen PädagogInnen im Sinne produktiver Anstöße für die eigene disziplinäre Theorieentwicklung rezipiert wird. Weil Theorien stets in Generationenverhältnissen tradiert werden, lässt Froebus vor allem jüngere AutorInnen zur Sprache kommen und stellt dar, wie diese an besagte Linien anknüpfen. Beobachten lasse sich dabei, dass die neuere kritisch-pädagogische Theorieentwicklung kaum mehr in „Schulen“ gefasst werden könne, sondern durch eine Verbindung heterogener Perspektiven Kritik in der pädagogischen Theorie und Praxis neu zu verorten suche. War im vorangegangenen Beitrag eine kritisch-theoretische Konzeption von Bildung Thema, rückt mit dem Aufsatz von Ludwig Gasteiger Bildungspolitik und -forschung in einer zunehmend globalisierten Welt in den Blick. In einem ersten Schritt wird das gleichermaßen multi-theoretische wie interdisziplinäre Feld der Sozialisationsforschung skizziert. Vor diesem Hintergrund erweist sich die politisch protegierte Steigerung der Bedeutung eines bestimmten Forschungsstrangs, der Empirischen Bildungsforschung, als disziplinäre wie gegenstandsbezogene Verengung. Demgegenüber plädiert der Autor für das Festhalten an der Konzeption einer interdisziplinären und theoretisch vielfältigen Sozialisationsforschung, der jedoch ihrerseits theoretische Mängel und Forschungsdesiderata attestiert werden. Durch die Verbindung der foucaultschen Diskurs- und Dispositivtheorie mit anderen sozialwissenschaftlichen Theorien wird die Perspektive einer gesellschaftstheoretisch fundierten Sozialisationstheorie und -forschung entwickelt, die zugleich eine stärkere Berücksichtigung weltgesellschaftlicher Entwicklungen ermöglicht.

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Die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte und der gegenwärtigen Situation der Sozialisationsforschung führt zur Ausarbeitung eines theorie- und forschungspolitischen Standpunkts, der Theorie dialogisch konstruiert – und damit zugleich gegenwärtige Tendenzen einer post-interdisziplinären Segregationsbewegung und politisch beförderten Verengung von Forschungsagenden kritisiert. Aktuelle theoretisch-politische Entwicklungen stehen auch im Zentrum des Beitrags von Anne Rethmann. Vor dem Hintergrund der seit den 1990er Jahren verstärkt geführten Debatten über die Erweiterung der individualrechtlich fundierten Menschenrechte um Gruppenrechte diskutiert die Autorin die Stellung des Individuums in den Menschenrechten nach 1945. Sie zeichnet die Entwicklungslinien der Konzeption der Menschenrechte nach und erklärt diese im zeitgeschichtlichen Kontext. Rethmann versteht die gruppenrechtliche Konzeption ausdrücklich nicht als eine Erweiterung der Menschenrechte, sondern als Zurückdrängung von deren individualrechtlicher Konzeption. Indem sie die jüngste Geschichte der Menschenrechte als Konflikt zweier Paradigmen liest, werden die in den Konzeptionen materialisierten politischen Interessen deutlich. Nicht zuletzt zeigt der Beitrag die gesellschaftspolitischen Implikationen und Konsequenzen theoretischer Konzeptionen auf – etwa wenn Rethmann darauf aufmerksam macht, dass eine gruppenrechtliche Konzeption zwar auf eine Verbesserung von Lebensumständen zielen mag, dabei aber einen Zwang zur kulturellen Selbsteinordnung produziert und jene von der (materiellen) Teilhabe ausschließt, die sich einer Kultur nicht zuzuordnen vermögen.

Vom Wert des Dialogs, des Streits und der Hoffnung auf eine bessere Welt Die Beiträge dieses Sammelbandes befassen sich durchweg mit der Pluralität von Theorien. Dabei fordern die meisten der versammelten Aufsätze, sich dem Anderen zu stellen: Sie zeigen durch Konfrontation von Theorien, Paradigmen oder Forschungsprogrammen Blindflecken auf und regen eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Denkstilen an. So bereiten etwa Walter, Seidlmayer und Huhnholz gezielt ein Feld für künftige Dialoge zwischen theoretischen Standpunkten vor, die als unvereinbar galten oder die bisher nicht zusammengedacht wurden. Andere eröffnen implizit ein Feld des Dialogs, indem sie, wie z.B. Grimm und Proißl, eine Divergenz attestieren, d.h. einen Bruch der späteren mit der früheren Kritischen Theorie, ohne dass die spätere die erstere ersetzen würde. Dies scheint einer – im Vorfeld keineswegs an- oder gar abgesprochenen – Vorstellung dialogischer Theoriebildung zu folgen, nach der „Theoretisieren als ein Gespräch verschiedener Theorierahmen“ (Knorr Cetina 2008: 37) praktiziert werden sollte.

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Zugleich nehmen einige AutorInnen einen dezidiert eigenen Standpunkt ein, der unüberwindbare Differenzen markiert und auf diesen beharrt. In diesem Spannungsfeld lässt sich nicht verallgemeinern, was eine gute oder sinnvolle Strategie wäre. Vom Plädoyer für dialogische Theoriebildung, welche eine Erschließung des jeweils anderen Standpunkts oder auch die eines komplexen Forschungsfeldes mit einer Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Positionen und Forschungsprogrammatiken einfordert, ist die Bewertung des Sinnes und des Nutzens der jeweiligen Theorien für sich und füreinander deutlich zu trennen. Die Auseinandersetzung mit dem je Anderen kann eben auch zur Schärfung der eigenen Theorie, ihrer Grundprinzipien und letztlich auch zu Trennungs- und Konfliktlinien und damit zu koexistierenden Theorien führen. Der Glaube an die logische oder empirische Prüfbarkeit von Theorien ist im Laufe des 20. Jahrhunderts erschüttert worden; den Glauben an die einheitliche wissenschaftliche Methode gibt es nicht mehr. Das Projekt der Aufklärung hat damit auch seine emphatische Vorstellung von Wahrheit verloren. Dies hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass totalitäre Ideologien wissenschaftlich entfaltet und begründet wurden. Dennoch kann Wissenschaft auf eine – nun skeptischere – Vorstellung von Realität und Wahrheit nicht gänzlich verzichten. Sie muss, wie Richard Rorty in Anlehnung an John Dewey formuliert, von der Hoffnung getragen werden, dass „die Gegenwart [...] ein Übergangsstadium auf dem Weg zu etwas [sei], das unvorstellbar viel besser sein könne, falls wir Glück haben.“ (Rorty 1994: 20) Auf dem unbekannten Weg in diese Zukunft brauchen wir zumindest die Hoffnung darauf, dass (nicht-letzte) Wahrheiten begründet und im Dialog gerechtfertigt werden können. Dafür braucht es eine demokratische Gesprächsund Streitkultur und eben auch ein Insistieren auf Überzeugungen, die nach dem eigenen Dafürhalten wohl begründete Wahrheiten sind. Eine Möglichkeit für diesen Austausch wollten wir mit der am 20. und 21. September 2013 an der Universität Augsburg abgehaltenen Tagung Begriffe Theorien - Kritik schaffen. Alle Beteiligten haben durch ihre Vorträge, Kommentare und die Diskussionen dazu beigetragen, dass streitbarer Dialog dann auch tatsächlich möglich war. Der vorliegende Sammelband vereint einige Vorträge der Tagung. Möglich war die Konferenz durch die finanzielle Unterstützung der Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Augsburg und der Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg e.V. Der Koordinator der Graduiertenschule, Stefan Hartmann, war uns im Vorfeld und Nachgang der Tagung ein hilfsbereiter Ansprechpartner in allen organisatorischen Fragen. Die

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Drucklegung des Sammelbandes wurde großzügig von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt. Den Vortragenden, den AutorInnen und den UnterstützerInnen sei an dieser Stelle noch einmal gedankt. Herzlicher Dank gebührt des Weiteren Ivana Vasilijević, die den Band gesetzt hat, Markus Drews, der für einen gelungenen Tagungsablauf gesorgt und uns beim Lektorat tatkräftig unterstützt hat und schließlich Martin Proißl für Anregungen und Diskussionen zu den im Abschnitt „Theorienpluralität und die Problematik des Theorienvergleichs“ entwickelten Gedanken.

L iteratur Adorno, Theodor W. (1979): Soziologie und empirische Forschung. In: Tiedemann, Rolf (Hrsg.): Theodor W. Adorno. Soziologische Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1957] Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade (2015): Australia’s Top 25 Goods & Services Exports. [http://dfat.gov.au/about-us/publications/ trade-investment/australias-trade-in-goods-and-services/Documents/fy201314-goods-services-top-25-exports.pdf, Datum des Zugriffs: 12-04-2015] Brandt, Tasso/Breitfuss, Marija/Daimer, Stephanie et al. (2012): Forschung an deutschen Hochschulen – Veränderungen durch neue Governance-Modelle und den Exzellenzdiskurs. In: Expertenkommission Forschung und Innovation (Hrsg.): Zur Situation der Forschung an Deutschlands Hochschulen – Aktuelle empirische Befunde. [http://www.e-fi.de/fileadmin/Innovationsstudien_2012/ StuDIS_16_ZEW_WZB_Joanneum_ISI.pdf, Datum des Zugriffs: 04-05-2015] Carrier, Martin (2006): Wissenschaftstheorie. Hamburg: Junius Chalmers, Alan F. (2007): Wege der Wissenschaft. Berlin: Springer-Verlag [1976] Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2002): Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten. Opladen: Leske+Budrich Deutsche Gesellschaft für Soziologie (2015): Verbesserungen am CHE-Ranking nicht überzeugend. [http://www.soziologie.de/de/nc/aktuell/che/aktuelles-single-view/archive/2015/01/01/article/verbesserungen-am-che-ranking-nicht-ueberzeugend-deutsche-gesellschaft-fuer-soziologie-setzt-auf-2.html, Datum des Zugriffs: 12-06-2015] Deutscher Hochschulverband (2009): DHV will zu Boykott gegen Programmakkreditierung aufrufen. [http://www.hochschulverband.de/cms1/pressemitteilung+M53b7fb95070.html, Datum des Zugriffs: 12-06-2015]

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I Entwicklung kritischer Theorien im Spannungsfeld von Tradition, Aktualisierung und Bruch

Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik Zur Tradition und Aktualität der Form- und Fetischkritik ALEXANDER NEUPERT-DOPPLER „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt“. (Theodor W. Adorno 1969: 748)

Was ist Kritik? Die wieder auflebende Debatte um die Frage, was Kritik sein kann bzw. sein soll, fordert dazu heraus, die theoretischen Grundannahmen und die verwendeten Begriffe verschiedener Kritikverständnisse kenntlich zu machen, um überhaupt erst Vergleiche und Auseinandersetzungen zu ermöglichen.1 Im Mittelpunkt steht dabei die Praxis der Theorie oder, wie Marx sagt, die Waffe der Kritik, weniger die Kritik der Waffen oder eine sie anleiten wollende Theorie der Praxis. Die vielbeschworene Pluralität der unterschiedlichen Ansätze kritischer Theorien ist zu überprüfen, denn gerade wenn Alternativen behauptet werden, muss die Auswahl begründet erfolgen. Bereits das populäre Bild von einem Werkzeugkasten, der verschiedene Werkzeuge bzw. Kritikweisen enthält, führt zu den Fragen, mit welcher Absicht, für welchen Zweck und auf welche Art kritisiert werden soll. Wenn ich ein Bild aufhängen möchte, sollte ich nicht versuchen, mit der Wasserwaage Bretter zu sägen, sondern einen Hammer wählen, mit dem sich ein Nagel in die Wand schlagen lässt. Zu fragen ist nach der Reichweite einer Kritik. Reichweite meint dabei Fragen nach dem Grund, dem theoretischen Gegenstand und dem begrifflichen Instrumentarium: Warum wird Kritik geübt? Was wird kritisiert? Welche Mittel der Kritik werden angewendet? Und selbstverständlich auch umgekehrt: Was kann mit den Mitteln einer Kritik nicht zum Gegenstand dieser Kritik werden? 1 Vgl. u.a. Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hrsg.) (2009): Was ist Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Prokla (2012). Perspektiven der Gesellschaftskritik heute, 167.

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Der Vorrang gebührt dabei dem Objekt, dem Gegenstand der Kritik. Löbliche Absichten und interessante Methoden verfehlen ihr Ziel, wenn die Kritik dem Kritisierten unangemessen ist. Eben darum ist Gesellschaftskritik auch Erkenntniskritik: Die (Un-)Möglichkeit der Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse ist Bedingung der Kritik an ihnen. Wieso umgekehrt Erkenntniskritik Gesellschaftskritik sein kann, ist Springpunkt der Form- und Fetischkritik. Ihr Einsatz besteht darin, die marxsche Kritik der politischen Ökonomie bzw. die darin enthaltene Kritik am Fetischcharakter der Ware als einen Modus der Kritik zu entfalten. Dieser Versuch, der in Gestalt einer immer wieder unterbrochenen und neu aufgenommenen Auseinandersetzung das 20. Jahrhundert durchzieht, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht erschöpfend behandelt werden. Stattdessen wird am Beispiel der Debatten um politischen Fetischismus darzustellen versucht, wie Grundüberlegungen der marxschen Form- und Fetischkritik mit der Zeit auf andere Gegenstände übertragen und somit zu einem eigenen Modus von Kritik wurden, sowie Perspektiven und Grenzen der Form- und Fetischkritik in diesem Bereich aufzuzeigen. Zu einer Debatte werden die Überlegungen verschiedener AutorInnen in diesem Fall erst im historischen Rückblick. Marx will zur Überwindung des Kapitalverhältnisses beitragen, aber sicher keinen Stoff für eine (Fetisch-) Kritikdebatte liefern. Eugen Paschukanis und Georg Lukács, die in den 1920er Jahren den Fetischbegriff auf die Rechts- und Staatsform übertragen, komplettieren damit kein System, sondern reflektieren mit einer an Marx angelehnten Methode auf die russische Revolution. Weitere Rückgriffe auf diese Überlegungen, etwa in der Kritischen Theorie, in Diskussionen der 1970er Jahre und in Beiträgen der 1990er und 2000er Jahre, erfolgen in der Absicht, die Kritik an unerträglichen Verhältnissen voranzubringen (vgl. ausführlich: Neupert 2013). Die Kontinuität der Form- und Fetischkritik über lange Zeiträume hinweg, die im Folgenden behauptet wird, ergibt sich aus der Kontinuität der kritisierten Verhältnisse, aus den Gegenständen der Kritik. Diese verändern sich auf der Ebene ihrer konkreten Ausgestaltung, die aber im Rahmen ihrer Formbestimmtheit verbleibt. Der Begriff vom Fetischcharakter sozialer Formen ist theoriegeschichtlich begründet, seine Anwendung gründet aber auf der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis, die als formbestimmt begriffen wird. Die Arbeit an den Begriffen Form und Fetisch beansprucht, Rekonstruktion der Wirklichkeit zu sein. So schreibt Joachim Hirsch 1994: „Soziale Formen sind die verdinglichten und fetischisierten, nur durch theoretische Kritik zu entschlüsselnden Gestalten, die das wechselseitige Verhältnis der gesellschaftlichen

ZUR TRADITION UND AKTUALITÄT DER FORM- UND FETISCHKRITIK | 55 Individuen in einer gegenüber ihrem bewussten Willen und Handeln verselbständigten Weise annimmt und die ihre unmittelbaren Wahrnehmungen und Verhaltensorientierungen prägen: Ware, Geld, Kapital, Recht, Staat.“ (Hirsch 1994: 161)

Ist Gesellschaft von fetischistischen Formen bestimmt, ist Fetischkritik das Werkzeug der Wahl. Was aber sind Gründe und Begründungen für diese Wahl? Warum und wie sind Fetischformen der kapitalistischen Gesellschaft zu kritisieren? Die Aktualität von Formkritik liegt in der Beantwortung dieser Fragen. Dabei ist zu beachten, dass gerade heutige Form- und FetischkritikerInnen nicht nur unterschiedliche Antworten geben, sondern in verschiedenen Schulen – vor allem wertabspaltungskritischer, postoperaistischer, materialistischer und ideologiekritischer Provenienz – gegeneinanderstehen (vgl. Neupert 2013). Aspekte ihrer Anschauungsweisen zu konfrontieren wäre Aufgabe von Beratungen und Debatten, die nicht durch einen Aufsatz ersetzt werden können. Dennoch werden im Folgenden verschiedene Positionen einbezogen, ohne sie vereinheitlichen zu wollen. Form- und Fetischkritik, die weder von Marx als ihrem Anfang abzuleiten, noch als ein Resultat am Ende einer langen Debatte zu behaupten ist, kann im Folgenden nur exemplarisch skizziert werden. Nichtsdestotrotz hat sie sich, im Rahmen dieses Bandes und darüber hinaus, der theoretischen Kritik zu stellen. Als Exempel bietet sich die Kritik am Rechts-, Politik- und Staatsfetischismus an. Die Erweiterung der kritisierten Gegenstände, von ökonomischen auf politische Formen, ist ein heißes Eisen der Formkritik, die erst durch die begründete Anwendung ihrer Mittel auf ihre Gegenstände zur Methode der Kritik wird, denn trotz fragmentarischer Überlegungen zu den Formbestimmungen des kapitalistischen Staates haben Marx und Engels weder eine Kritik der Form Staat vorgelegt, noch von Staatsfetischismus gesprochen. Ist der Fetischbegriff bei Marx ein Spezialwerkzeug, um das Geheimnis der Warenform und anderer ökonomischer Formen zu lüften, so bedarf seine Anwendung auf andere soziale Formen der Begründung. Kritikweisen sind nicht auf jeden beliebigen Gegenstand zu übertragen. Ebenso wenig genügt es, eine implizite Stoßrichtung beim Kritiker Marx zu behaupten, die lediglich noch entfaltet werden müsste. Beim Rechtsund Staatsfetischismus handelt es sich daher um sehr umstrittene Begriffe der Sozialkritik. Ihre Anwendung gründet auf besonderen Absichten und Annahmen: Wird die kapitalistische Vergesellschaftung als eine Struktur anonymer Herrschaft kritisiert, in der die sozialen Formen von Ware, Geld und Kapital sich zu handlungsanleitenden Fetischen verselbständigen, so ist der Weg nicht weit, um auch Recht, Politik und Staat als Fetischformen zu kritisieren. Die Behauptung dieses

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Zusammenhangs, der gegenseitigen Ergänzung ökonomischer, rechtlicher und politischer Formen, begründet einen Kritikmodus, der beansprucht, über Marx hinauszugehen, indem von ihm ausgegangen wird. Sonja Buckel hat diese Linie 2007 in ihrem rechtstheoretischen Buch folgendermaßen rekonstruiert: „Mit der Wert- oder Warenform ist in der Marxschen Tradition eine soziale Form beschrieben worden […]. Paschukanis hat nun in der Rechtsform eine weitere soziale Form ausgemacht. Wenn seine Behauptung richtig ist, dann müsste sie ebenfalls ein soziales Verhältnis darstellen, welches sich durch Abstraktion verselbständigt und eine eigene Form, das heißt, eine selbständige objekthafte Qualität, ausbildet, die dem unmittelbaren Zugriff des Alltagshandelns entzogen ist, dieses jedoch anleitet und dadurch zu einer Kohäsionstechnologie wird.“ (Buckel 2007: 237, Hervorh. im Orig.)

Anhand der Theoriebildung, von Marx zu Paschukanis, vom Waren- zum Rechtsfetischismus, entwickelt Buckel Kriterien, die auch für eine Kritik des Staatsfetischismus verbindlich sind, denn nur wenn vergleichbare Gegenstände begriffen werden, ist auch die Anwendung des Fetischbegriffs gerechtfertigt. „Soziale Formen erfordern […] eine Fetischtheorie: Sie sind nichts anderes als geronnene menschliche Verhältnisse, verdecken dies jedoch zugleich“ (Buckel 2007: 234). Dieser ausgewiesene Zusammenhang von Form- und Fetischkritik ist eine theoretisch schlüssige Antwort. Wenn gesellschaftliche Verhältnisse zu Formen gerinnen, deren Fetischcharakter ihre Erkennbarkeit als gesellschaftliche Verhältnisse verstellt, ist Erkenntniskritik am Fetischismus auch Kritik der Gesellschaft. Damit ist aber noch nicht die vorangestellte Frage beantwortet, warum sich GesellschaftskritikerInnen ausgerechnet für die Formbestimmtheit von Gesellschaft und den damit verbundenen Fetischismus interessieren sollten. Auch die Frage wie diese Phänomene kritisiert werden können, ist noch offen. Selbst innerhalb des (neo-)marxistischen Denkens „sind die formanalytischen Ansätze weitgehend marginalisiert und ‚aus der Mode‘ gekommen, was sicherlich auch ihrer schlechten Abstraktheit zu verdanken ist“ (Buckel 2007: 132). Gegenüber dem formkritischen Bogen, der beispielsweise von der marxschen Kritik des Warenfetischismus über Paschukanis’ Kritik des Rechtsfetischismus bis zur Kritik des Staatsfetischismus bei Joachim Hirsch gespannt werden kann, sind Positionen des klassenkämpferischen Marxismus, wie sie z.B. von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas entwickelt wurden, heute deutlich mehr en vogue. Poulantzas lehnt in den 1970er Jahren die Theorie von der „Fetischisierung […] des Staates ausgehend von dem berühmten Warenfetischismus“ strikt ab und hält

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sie für „unzureichend und partiell falsch“ (Poulantzas 1978: 44). Ihn interessiert weniger die Verselbständigung sozialer Formen, sondern die Selbstständigkeit der AkteurInnen, deren Kämpfe und Kräfteverhältnisse sich in den Institutionen des Staates verdichten. Seine Perspektive zielt nicht auf Recht und Staat als sich abstrahierend verselbständigende Formen kapitalistischer Gesellschaften, in deren Rahmen Kämpfe eingebunden sind, sondern auf die konkreten Gesetze und politischen Maßnahmen, die sich aus solchen Kämpfen ergeben. Tatsächlich hängen die beschriebenen Phänomene enger zusammen, als es ihre separate Untersuchung in den beschreibenden Form- bzw. Konflikttheorien vermuten ließe. Schließlich tragen politische Kämpfe, die auf dem Terrain des Staates ausgetragen werden, immer auch zur Aufrechterhaltung dieser gesellschaftlichen Form bei. Umgekehrt regt gerade der Staatsfetischismus, der Staatlichkeit als neutrales Instrument der Auseinandersetzung erscheinen lässt, zu einer solchen Politik an. Hierin liegt zweifellos ein Dilemma: So wie jeder Kampf um höhere Tariflöhne sich nur innerhalb der Struktur von Warenform und Lohnarbeit bewegen kann, so verweist die Ausgestaltung von Gesetzen immer auf Rechtsform und Staatsgewalt. Es handelt sich daher um Pole der Theoriebildung: Handlungsanleitende Form gegen auszugestaltende Handlungsräume, das Primat objektivierter Verhältnisse gegen das Primat subjektiven Verhaltens. Diese Pole finden sich auch in anderen Theorierichtungen außerhalb der (neo-)marxistischen Debatte. Form- und Fetischkritik kann dazu dienen, die in ihr explizierte Unterscheidung zwischen Formzwang und Gestaltungsspielraum, Verselbständigungstendenzen und Veränderungsmöglichkeiten, Verhältnissen und Verhaltensweisen bewusst zu machen und in diesem Sinne Anstöße für andere kritische Theorien bieten. Um aber vorschnelle Analogieschlüsse zu vermeiden, sind zunächst die Absichten (Abschnitt 1), Gegenstände (2), Methoden (3) und auch Grenzen (4) der Form- und Fetischkritik zu skizzieren, wie sie sich vor Allem im Kontext der Debatte um die Reichweite dieses Kritikansatzes entwickelt haben.

1. S ie wissen das nicht , aber sie tun es – W arenfetischismus und die A bsicht der K ritik Wie gesagt ersetzt der Rückgriff auf die marxsche Fetischtheorie nicht die Auseinandersetzung mit ihrer Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert, selbst wenn sich diese auch auf das Implikationsargument beruft, wonach die Ausweitung des Kritikradius bei Marx implizit schon angelegt sei. Andererseits ist die Übernahme

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eines begrifflichen Instrumentariums sinnlos, wenn nicht der intendierte Sinn dieser Begriffe in die Überlegungen einbezogen wird (vgl. dazu ausführlich: Neupert 2012). Schon 1842 las Marx das Buch Dissertation sur les dieux Fétiches von Charles de Brosses aus dem Jahr 1760 (vgl. Erckenbrecht 1976: 70). De Brosses verwendet den Begriff des Fetischs abwertend mit Bezug auf religiöse Praxen. In dieser Bedeutung geht das Wort Fetischismus auf das portugiesische feitiço zurück, was mit unecht, künstlich oder (nach-)gemacht zu übersetzen ist. Die Portugiesen meinten damit die Verehrung von selbst geschaffenen Götzen, denen ein eigenständiges Wesen und überirdische Macht zugeschrieben wird. Marx verwendet den Fetischismus zunächst als Metapher, um in tagespolitischen Debatten die Position seiner Gegner zu denunzieren. So fragt er z.B. in den Debatten um das Holzdiebstahlgesetz, ob die Kubaner „das Holz nicht für den Fetisch der Rheinländer“ halten müssten (MEW 1: 147). Neben dieser Kritik des Eigentumsanspruchs der Waldbesitzer am Raffholz findet sich auch schon eine explizit auf politische Institutionen zielende Verwendung. In den Debatten über die Preßfreiheit beklagt Marx die Zufriedenheit in den Provinzen, die sich zwar einen Landtag geben dürfen, ohne damit aber wirkliche Freiheit zu erreichen. Sie müssten daher „wie der Fetischdiener, vergessen, daß es Götter ihres Händewerkes sind“ (MEW 1: 42). Der religiöse Fetischismus beinhaltet Aspekte, die ihn für die weitere Begriffsbildung prädestinieren. Ein Fetisch ist etwas von Menschen Produziertes, dessen Produziertheit vergessen bzw. unsichtbar wird. Ihm werden Eigenschaften zugeschrieben, die er an sich nicht besitzt. Worum es sich in Marx’ frühen Artikeln handelt, sind jedoch ausschließlich einzelne Phänomene; Fetischismus ist noch keine Strukturkategorie. Als eine solche verwenden Marx und Engels zunächst den Begriff der Entfremdung. An dieser entfalten sie einen Modus der Kritik, der falsche Erscheinungen auf wesentliche menschliche Praxis zurückführt. So endet die Kritik der religiösen Entfremdung mit der Feststellung: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen“ (MEW 1: 378). In ähnlicher Weise funktioniert die Argumentation gegen Hegels Staatsidealismus: „Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung“ (MEW 1: 231). Es handelt sich also immer um etwas von Menschen Gemachtes, von dem diese sich beherrschen lassen. Im Kapital bringt Marx diese Denkfigur mit der kapitalistischen Produktionsweise selbst zusammen: „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht“ (MEW 23: 649). Der rote Faden von der Entfremdungs- zur Fetischkritik, vom Früh- zum Hauptwerk wird deutlich.

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Eine qualitative Veränderung ergibt sich durch die Kopplung des Fetischbegriffs an die Formtheorie. Nun ist es nicht mehr der Mensch, der sich eine Religion oder eine Verfassung macht, der er sich unterwirft, sondern es sind die Menschen, die Güter in Warenform herstellen und als solche in Wertform setzen. „Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (MEW 23: 88). Durch die ökonomische Form der Warenproduktion werden inhaltliche Unterschiede, z.B. zwischen angenehmen und unangenehmen Arbeiten, zwischen sinnvollen und zerstörerischen Produkten, nivelliert. Die menschliche Arbeitskraft selbst wird als Ware austauschbar. Obwohl es also die soziale Praxis der Menschen, das Herstellen und Austauschen, das Arbeiten und Entlohnen ist, worauf die Gesellschaft beruht, erkennen die Einzelnen diesen Gesamtzusammenhang keineswegs. Die Gesetze des Marktes erscheinen wie Naturgesetze der Ökonomie, denen die Individuen unterworfen bleiben. „Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (MEW 23: 87) Im Warenfetischismus verkehren sich die tatsächlichen Verhältnisse, die Produkte menschlicher Tat sind, in die Übermacht der gesellschaftlichen Verkehrsformen gegenüber den vergesellschafteten Individuen. Die Formen der Ökonomie – Ware, Geld, Kapital und Zins – verselbständigen sich für sie zu Fetischen. Täglich und tätlich (re-)produzierte Formen gerinnen zu den gesellschaftlich maßgeblichen Tatsachen. Die Kritik dieser gesellschaftlichen Formen ist somit stets auch Kritik ihres erkenntnishemmenden Fetischcharakters. Die Verselbständigung der sozialen Formen gegenüber den Menschen bedeutet ihren Fetischcharakter, der mit einer Verkehrung und Verhüllung der sozialen Inhalte einhergeht. Absicht der Kritik, im ursprünglichen Wortsinne des griechischen krínein (Unterscheiden), ist die Unterscheidung zwischen den selbstständig erscheinenden sozialen Formen und ihrem wesentlich praktischen Inhalt. „Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist die Form. Der Inhalt ist, daß der Kapitalist einen Teil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er sich unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt.“ (MEW 23: 609, Hervorh. AND)

Der Inhalt, einseitige Aneignung von Mehrwert, wird in Form eines gegenseitigen Tausches von Arbeitskraft für Lohn vollzogen. Marx richtet sich in seiner

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Kritik der Politischen Ökonomie gegen diese Verkehrungen des Fetischismus, durch die Ausbeutung als Tausch erscheint und Ungleiches als Gleiches gesetzt wird. Dabei handelt es sich aber um keine bewusste Täuschung seitens der handelnden Subjekte, sondern um objektives Tun. „Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.“ (MEW 23: 90) Die Gültigkeit der Formen ist gesellschaftlich und historisch, sie gelten einerseits überindividuell, andererseits aber lediglich Hier und Heute, innerhalb einer Gesellschaftsformation. Zugleich bedeutet ihr Eigengewicht, die Verselbständigung der Formen, ihren Fetischcharakter, so dass der Zwang zum Warentausch den kapitalistisch Vergesellschafteten als eine ahistorische Gegebenheit erscheint. Zwar entsteht das Kapital durch gesellschaftliche Taten, beginnend mit der durchaus gewalttätigen Aufhebung der mittelalterlich-feudalistischen Verhältnisse, aber in ihrer Durchsetzung und Ausdehnung wird Warenökonomie zur Gewohnheit, zur Routine, zur Form. Man kann, wie Buckel sagt, „genealogisch die Entwicklung der sozialen Formen verfolgen als Ergebnis der Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse, die über einen bestimmten Zeitraum eine gewisse Festigkeit gewinnen und in ihrer fetischisierten Form dem unmittelbaren Handeln und daher auch der Veränderung zunächst entzogen sind.“ (Buckel 2007: 243) Verselbständigung und Verkehrung sind Effekte der Form, die als ihr Fetischcharakter bezeichnet werden. Diese Bezeichnung dient einerseits der theoretischen Beschreibung, andererseits aber auch der kritischen Denunziation einer Gesellschaft, die sich aufgeklärt dünkt und doch neuen Fetischismus hervorbringt. Die Stoßrichtung der Fetischtheorie ist nicht nur erkenntniskritisch, sie will nicht nur Aufklärung über ihren Gegenstand, sondern explizit gesellschaftskritisch, da sie auf die Abschaffung ihres Gegenstandes zielt. Würde diese kritische Theorie praktisch erfolgreich, würde sie zugleich als Theorie gegenstandlos. „Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher sofort, sobald wir zu anderen Produktionsformen flüchten.“ (MEW 23: 81) Damit gerät die marxsche Fetischkritik jedoch zugleich in einen Teufelskreis: Wenn die Verhältnisse zwar dem bewusstlosen Verhalten der Menschen entspringen, aber eine Form annehmen, die diese Erkenntnis fetischistisch verstellt, ist ihre bewusste Veränderung stark erschwert. Das praktische Bedürfnis nach Befreiung richtet sich nicht primär gegen die soziale Form, die sich gegenüber den Menschen verselbständigt, sondern gegen die sozialen Inhalte, deren Wahrnehmung die Form allerdings behindert. Sind es diese Inhalte, z.B. die zum Tausch verkehrte Ausbeutung

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oder die im Recht verhüllte Herrschaft, die Widerstand hervorrufen, so liegt doch im Widerspruch zwischen Inhalt und Form ein Potenzial der Erkenntnis, an dem sich Kritik entzünden kann. „Das Verhältnis des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert.“ (MEW 23: 609, Hervorh. AND) Zwar tauschen die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft der Form nach zu ihrem Marktwert gegen Lohn ein, aber Produktionsmittelbesitz und Mehrwertaneignung, also Herrschaft und Ausbeutung, bestimmen den Inhalt dieser zwischenmenschlichen Beziehung, die Marx schließlich als Klassenverhältnis dechiffriert. Der Erkenntnisgewinn, den die Fetischkritik generiert, indem sie die Formen auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse zurückführt, bedeutet einen Legitimitätsverlust dieser Formen, sie werden theoretisch hinterfragbar. Ihre Überwindung aber bleibt die Aufgabe einer Praxis, die andere Verhältnisse schaffen würde. Der Weg der Kritik ist dabei dem Werdegang der Historie entgegengesetzt: Sind es historisch die Verhältnisse der Menschen, die über lange Zeiträume zu sozialen Formen gerinnen, so wird dieser Prozess kritisch umgekehrt, indem die verselbständigten Formen als abschaffbar ausgewiesen werden. Die Abschaffung ihres Gegenstandes ist die grundlegende Absicht der Form- und Fetischkritik. Wenn es darauf ankommt, die unvermeidliche Verselbständigung der kapitalistischen Formen, sowie die mit ihnen verbundene Verhüllung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zu überwinden, so wäre erst der Ausbruch aus diesen Formen, die Flucht aus der Warenproduktion, zugleich das Ende des Warenfetischismus. Diese Überlegung macht freilich auch deutlich, dass es sich bei der Form- und Fetischkritik weder um eine politische Strategie im engeren Sinne, noch um eine theoretische Methode im herkömmlichen Sinne handelt. Die Aussicht auf bewusst eingerichtete gesellschaftliche Verhältnisse bleibt politisch relativ unbestimmt. Die methodische Unterscheidung zwischen Inhalt und Form, zwischen Wesen und Erscheinung, zeigt Widersprüche auf, sagt aber noch nichts über neue Inhalte aus. Als kritische Theorie weist die Fetischkritik weiterhin die Besonderheit auf, nur auf soziale Formen mit Fetischcharakter anwendbar zu sein. Absicht und Modus der Kritik machen nur ihnen gegenüber Sinn. Über Marx’ Kritik des Warenfetischismus hinaus wurde und wird daher Ausschau gehalten nach weiteren Fetischformen, auf die dieser Modus der Kritik überhaupt anwendbar wäre. Diese Suchbewegung prägt die Debatte und führt zur nächsten Frage nach den Gegenständen der Kritik.

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2. E ine unendliche K ette von R echtsverhältnissen – R echtsfetischismus und andere G egenstände der K ritik Noch heute besteht bei AnhängerInnen der Form- und Fetischkritik Unsicherheit über deren Reichweite. So lässt z.B. Hendrik Wallat die Frage, ob auch „politisch-rechtliche Formationen wie Staat, Recht und Nation […] als (politische) Fetische bezeichnet werden können“ bewusst offen, wenngleich er bemerkt, diese würden „nicht direkt und zwingend aus dem ökonomischen Fetisch entspringen“ (Wallat 2013: 36). Richtig ist, dass z.B. Kritik des Rechtsfetischs primär auf den Fetischcharakter der Form Recht abzielt. Wallat erwähnt allerdings selbst die „strukturelle Verselbständigung sozialer Formen wie Kapital, Staat, Recht etc.“ (Wallat 2013: 36). Die Frage nach der Reichweite der Fetischkritik beginnt also wie immer mit der Formtheorie. Wie von Sonja Buckel hervorgehoben (siehe oben), besteht der Anspruch von Eugen Paschukanis in deren Fortschreibung. Paschukanis stellt in den 1920ern, angesichts eines entstehenden demokratischen Rechtsstaates, der sich über den von Marx untersuchten autoritären Klassenstaat hinausentwi ckelt, die wichtige Frage: „Kann das Recht als gesellschaftliches Verhältnis aufgefaßt werden, in dem selben Sinne, in dem Marx das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis genannt hat?“ (Paschukanis 2003: 72) Er bejaht diese Frage und bringt dafür drei typische Argumente. Das erste Argument lässt sich als Implikationsargument bezeichnen; demnach sei die Kritik der Rechtsform bereits bei Marx impliziert.2 Interessanter für unsere Reichweitenbestimmung der Formkritik als Paschukanis’ Marx-Rezeption ist allerdings sein zweites Argument, das Übertragungsargument. Mit ihm beantwortet Paschukanis folgende Frage: Weisen Waren- und Rechtsform Ähnlichkeiten auf, die eine Übertragung des Fetischbegriffs erlauben? Paschukanis greift hierfür zu einer zündenden Analogie: „Ähnlich wie der Reichtum der kapitalistischen 2 So schreibt z.B. der junge Marx über die Menschenrechte, keines gehe „über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist“ (MEW 1: 366). In der Kritik des Gothaer Programms schreibt der reife Marx, bürgerliches Recht sei ein „Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht“ (MEW 19: 21), da es ungleiche Individuen an gleichem Maßstab misst. Paschukanis sieht hier die Kritik der Rechtsform implizit angelegt.

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Gesellschaft die Form einer ungeheuren Anhäufung von Waren annimmt, stellt sich die ganze Gesellschaft als eine unendliche Kette von Rechtsverhältnissen dar“ (Paschukanis 2003: 84). So wie die menschliche Arbeitskraft im Lohnverhältnis die Form einer Ware annimmt, also prinzipiell zu anderen Waren äquivalent und tendenziell austauschbar gesetzt wird, so werden Vereinbarungen als Verträge in die Form des Rechts gegossen. Die materiale Ungleichheit der Individuen als Klassenangehörige, der Herrschafts- und Ausbeutungsinhalt ihres Verhältnisses, wird dabei im Warentausch ebenso verhüllt wie im Rechtsvertrag. Als Waren sind alle Güter vergleichbar, als Rechtspersonen sind alle Individuen gleich frei, Verträge abzuschließen. Die formale Gleichheit aller WarenbesitzerInnen als Rechtssubjekte ist dabei zugleich der reale Modus ihrer Vergesellschaftung. Selbstverständlich rekonstruiert Paschukanis hier nachträglich eine historische Tendenz formanalytisch. Ausbeutungsverhältnisse, die wie Sklaverei nicht auf formaler Gleichberechtigung beruhen, aber im Kapitalismus fortbestehen, kommen in seiner Betrachtung nicht vor. Unmittelbare Herrschaft, Patriarchat und Kolonialismus, aber auch die Kämpfe dagegen, in denen ArbeiterInnen, Frauen und Rassifizierte ihren Status als Rechtsund Staatssubjekte erkämpfen, spielen in seiner Analyse keine Rolle. Für eine Kritik der Rechsform, die als Methode nur Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand haben kann, die rechtsförmig organisiert sind, ist diese Begrenzung folgerichtig, blendet aber andere Widersprüche aus. Sonja Buckel erweitert daher Paschukanis’ Konzept um eine feministische Perspektive. „Beim Ehevertrag etwa wird das hierarchische Geschlechterverhältnis juridisch in eines zwischen Gleichen transformiert“ (Buckel 2007: 239). Wohlgemerkt bilden hier die Geschlechterverhältnisse, analog zu den Klassenverhältnissen, einen weiteren ungleichen Inhalt der fetischistisch gleichmachenden Rechtsform. Geschlecht selbst ist hingegen in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft eine Existenzweise (vgl. Maihofer 1995), die auf (zugeschriebener) Ungleichheit basiert. Klassenzugehörigkeiten und mehr noch Geschlechterrollen, also die Inhalte der Herrschaftsverhältnisse, werden jedoch internalisiert und bilden damit den Gegenpol zur vermittelnden Majestät des Rechtsfetischs. Weitreichender als das Übertragungsargument, wonach Rechts- und Warenform sich darin ähneln, dass sie ungleiche Verhältnisse und Qualitäten in Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit transformieren, ist das dritte von Paschukanis herangezogene Argument, das das Ergänzungsargument genannt werden kann. Demnach wäre die Entstehung sozialer Formen, die Buckel als Genealogie eines Formzusammenhangs beschreibt, als historischer Prozess zu verstehen, worin sich ökonomische und rechtliche Formen gegenseitig ergänzen. Anders als das Übertragungsargument, demzufolge ähnliche Wirkungen theoretisch mit ähnlichen Begriffen zu bezeichnen

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sind, zielt das Ergänzungsargument auf praktische Zusammenhänge der kapitalistisch-staatlichen Wirklichkeit. „Die Herrschaftssphäre, die die Form des subjektiven Rechts angenommen hat, ist ein gesellschaftliches Phänomen, das dem Individuum auf der selben (sic!) Grundlage zugeschrieben wird, auf der der Wert – ebenfalls ein gesellschaftliches Phänomen – dem Ding als Arbeitsprodukt (sic!). Der Warenfetischismus wird durch den Rechtsfetischismus ergänzt.“ (Paschukanis 2003: 117)

Für Paschukanis sind beide Formen Ausdruck einer gemeinsamen Grundlage. Herrschaft und Ausbeutung gibt es auch in vormodernen Gesellschaften, in der Moderne aber differenzieren sich ökonomische Verfügungsgewalt und politische Herrschaft aus. In der ökonomischen Warenform und der juridischen Rechtsform gerinnen die Herrschaftsverhältnisse systemisch zu sich ergänzenden Fetischformen. Anders als Marx, der zu seiner Zeit auf die kritische Antizipation der Revolution verwiesen blieb, hoffte Paschukanis allerdings auf die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Fetischismus in der staatssozialistischen Sowjetunion und damit auch auf die Ersetzung des Warentausches durch Güterverteilung und des abstrakten Rechts durch konkrete Regeln eines solidarischen Zusammenlebens. Der sich historisch wandelnde Kontext ist an den Theorien, den Kritikweisen und ihren Konjunkturen abzulesen. Die marxsche Kritik der Warenform war nicht zuletzt eine Kritik der Politischen Ökonomie seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Marx selbst stellt dazu fest: „Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses. Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind, besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen, nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt […] Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie.“ (MEW 23: 89f.)

Erst nachdem die moderne Warenökonomie weitgehend durchgsetzt worden war, entwarfen Ökonomen Werttheorien, um die Verhältnisse zu erklären. Das Verhalten, welches diese in die Welt gesetzt hat und bewusstlos alltäglich repro-

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duziert, braucht eine beschreibende Theorie nicht zu interessieren, hingegen die Form- und Fetischkritik, die die Abschaffung ihres Gegenstandes beabsichtigt, durchaus. Dabei sind die Gewichtungen innerhalb der Form- und Fetischkritik stets beeinflusst von den historischen Situationen, in denen diese Kritik geleistet wird. Die Gleichberechtigung der StaatsbürgerInnen war zu Paschukanis’ Zeiten, zumindest im liberalen Rechtsstaat des Westens, weiter fortgeschritten als im autoritären Klassenstaat, den Marx noch in vielen Ländern vor Augen hatte. Die integrierende Wirkung des Rechtsfetischismus stand für ihn daher weniger stark im Mittelpunkt. Gemeinsam ist Marx und Paschukanis dabei jedoch, dass sie sich nicht nur für die Entstehung und Durchsetzung der Waren- bzw. Rechtsform interessieren, sondern auch für deren Ende in einer sozialistisch-kommunistischen Zukunft, die Utopie blieb und bleibt. Gemäß seinem Ergänzungsargument setzt für Paschukanis ein Ende der Rechtsform das Ende der Warenform voraus. „Eine Gesellschaft, die durch den Stand ihrer Produktivkräfte gezwungen ist, ein Äquivalentverhältnis

zwischen Arbeitsverausgabung und Vergütung in einer Form

beizubehalten, die auch nur entfernt an den Austausch von Warenwerten erinnert, wird gezwungen sein, auch die Rechtsform beizubehalten.“ (Paschukanis 2003: 61)

Die Konsequenz für ihn lautet: Der gesellschaftliche Fetischismus als umfassendes Phänomen wird nur in einem langen Prozess, mitsamt den alten gesellschaftlichen Formen und der Gesellschaft, deren Inhalte sie ausdrücken, zu überwinden sein. Fetischkritik ist damit auch die Wette auf eine utopische Zukunft, in der freie Verfügbarkeit und solidarische Kooperation den Zwang von Warenform und Rechtsform überflüssig machen. Paschukanis schwankt faktisch zwischen radikaler Kritik einerseits und äußerst pragmatischer Politik andererseits. In Anpassung an das stalinistische Regime, dem er dennoch 1937 zum Opfer fiel, schreibt er 1929 in einem Vorwort zur Neuauflage seines Buches zum Rechtsfetischismus: „Der Sowjetstaat läßt keine absoluten und unantastbaren subjektiven Privatrechte gelten. Er setzt aber diesem Fetisch nicht irgendein klassenloses Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität, nicht die Idee der Entwicklung der Produktivkräfte an sich entgegen, sondern die konkrete Aufgabe des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft und die Vernichtung der letzten Überreste des Kapitalismus.“ (Paschukanis 2003: 33)

Diese Apologie konnte ihn nicht mehr retten, zeigt aber die gefährliche Ambivalenz der Formtheorie. Fetischkritik an der Verhüllung von Gewalt in der Rechtsform

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schlägt um in enthüllte Gewalt ohne Recht. Diesen klassentheoretisch begründeten Sprung in die Staatspolitik, ob Diktatur einer Klasse oder Partei, teilt auch Georg Lukács mit Paschukanis, die Kritische Theorie hingegen nicht. Adorno, Horkheimer, Marcuse, Neumann u.a. sind sich angesichts des Nationalsozialismus bewusst, dass die in Ware und Recht formierte Gewalt, selbst wenn sie Ungleichheit in Gleichheit verkehrt, Herrschaft verhüllt und Zwang verselbständigt, der enthüllten und unmittelbaren Gewalt vorgezogen werden muss. Für Franz Neumann ist zwar, „abgesehen von dem Buche des Moskauer Juristen Paschukanis [...] von kommunistischer Seite irgendein nennenswerter Beitrag zur Staats- und Rechtstheorie nicht geleistet worden“ (Neumann 1978: 135), er sieht aber den Rechtsfetisch nur als eine Eigenschaft der Rechtsform: „Die Gleichheit vor dem Gesetz ist sicher ‚formal‘, d.h. negativ [...] Alle drei Funktionen der Allgemeinheit, Verhüllung der Herrschaft des Bürgertums zu sein, das ökonomische System berechenbar zu machen und ein Minimum an Freiheit zu garantieren, sind entscheidend und nicht, wie das vor allem die Anhänger der totalen Staaten sehen wollen, lediglich die zweite Funktion.“ (Neumann 1967: 26)

Dieses Minimum an Freiheit garantiert das Recht in kapitalistischen Gesellschaften gerade dadurch, dass es Herrschaft nicht nur verhüllt, sondern auch formalisiert. Die Rechtsform verselbständigt sich nicht nur zum handlungsleitenden Fetisch, sie gewinnt auch ein Eigengewicht gegen offene Gewalthandlungen. Für Paschukanis war nur der Gegensatz zwischen verhüllter bürgerlicher Gewalt und Revolution denkbar. Neumann beobachtet am Nationalsozialismus das Zerreißen der Kette von Rechtsverhältnissen, nicht im Sinne von realer Freiheit und Gleichheit, sondern als Schrecken nicht einmal mehr formaler Gleichheit. Der Nationalsozialismus, der Politik durch Befehl, Recht durch Maßnahme und Staat durch Bewegung ersetzen will, bleibt zwar kapitalistisch, sprengt aber die bürgerlichen Formen des Rechtsstaates. Damit ist das Ergänzungsargument von Paschukanis zumindest relativiert. Zwar können sich Kapital und Rechtsstaat ergänzen, aber Kapital gedeiht auch, wenn Herrschaft in anderer Art und Weise erscheint. Gerade wenn die Volksgemeinschaft anderes war als bloß unverhüllt auftretende Klassenherrschaft, muss eingestanden werden, dass die Rechtsfetischkritik mit dem Rechtsstaat auch ihren Gegenstand verliert. Paschukanis dachte Gewalt nur als mehr oder weniger rationale Auseinandersetzung zwischen Klassen. Nur vor diesem Hintergrund hat die nach ihrem Urheber benannte Paschukanis-Frage, die erst in den 1970er Jahren im Kontext einer Kritik des kapitalistischen Sozialstaats wieder aufgegriffen wird, Sinn.

ZUR TRADITION UND AKTUALITÄT DER FORM- UND FETISCHKRITIK | 67 „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an [...] und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Paschukanis 2003: 139)

Solange die Rechtsform besteht, ergänzt sie die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die sich innerhalb der ökonomischen Formen vollzieht, und sichert zugleich ein Minimum an Freiheit für die Beherrschten. Die Form Recht erfordert ihrerseits eine besondere Form von Herrschaft, nämlich den Staat als formal unabhängigen, scheinbar neutralen Apparat. An dieser Formbestimmung setzt die Staatsfetischkritik an. Dabei wird heutzutage, neben den Absichten und Gegenständen der Fetischkritik, auch die Reichweite ihrer Methode, die Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Inhalten und ihren fetischistischen Formen, zum Gegenstand der Diskussion. Teilweise wird versucht, einen neuen Kritikmodus zu entwickeln, der Kritik an der Form Staat und Kämpfe um politische Ausgestaltung verbindet, was für die Aktualität der Form- und Fetischkritik, gerade im Vergleich mit anderen Kritikweisen, entscheidend ist.

3. D as strukturelle P roblem für emanzipative P olitik – S taatsfetischismus und M odi der K ritik In ihren Frühschriften bezeichnen Marx und Engels den modernen Staat als die „Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Ausdruck gaben“ (MEW 3: 77). Da es sich bei dieser Gesellschaft aber um eine Klassengesellschaft handelt, bleibt der Inhalt dieser Staatsform die rechtlich und politisch verhüllte Klassenherrschaft und die ProletarierInnen „müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“ (MEW 3: 77). Vorausgesetzt ist dabei, dass den Proletarisierten der Widerspruch zwischen der Form Staat und dem Inhalt der Klassenherrschaft erfahrbar und einsehbar ist. Bezüglich des Sozialstaates und seiner regulierenden Politik ist sein kapitalistischer Charakter noch weiter mystifiziert. Es erscheint daher logisch, dass Christel Neusüß und Wolfgang Müller, die mit ihrem Aufsatz zur Sozialstaatsillusion 1971 die Staatsableitungsdebatte einläuten, auf die Fetischkritik zurückgreifen. Wie Paschukanis Rechtsform und Rechtsfetischismus aus Waren und Warenfetischismus ableitet, nicht als historische Folge, sondern als logische Rekonstruktion, kreist die Debatte darum, den Fetischcharakter des Sozialstaats aus Formbestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln.

68 | ALEXANDER NEUPERT-DOPPLER „Der gleiche ‚Fetischismus‘ ist bei der Form des Staates festzustellen. [...] Daß er bloß Besonderung dieser spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise ist, ist in dieser Verkehrung auf den Kopf gestellt. Diese Verdinglichung und Verselbständigung des Staates ist auf der Basis der bürgerlichen Produktionsweise eine ebenso notwendige Illusion wie es die Formen des Geldes, des Kapitals, des Arbeitslohns, des Profits, der Produktionsfaktoren bzw. der Einkommen usw. sind, die sich durch den besonderen Mechanismus dieser Produktionsform ihren Agenten aufdrängen und ihr Handeln wirklich bestimmen.“ (Müller/ Neusüß 1971: 57)

Die in der Staatsableitungsdebatte einsetzende Kritik des Staatsfetischismus will zeigen, dass der Staat auch als Sozialstaat nicht unabhängig von der kapitalistischen Gesellschaft zu denken ist, sondern als eine kapitalistische Form, die den Inhalt der sozialen Verhältnisse verhüllt und sich gegenüber ihren TrägerInnen verselbständigt. Über die Sozialstaatsillusion hinaus stellt Johannes Agnoli die Form Politik in ein erweitertes Ergänzungsverhältnis zu ökonomischen und rechtlichen Formbestimmungen. „Die Rechtsstaatlichkeit und in noch größerem Maß das allgemeine Wahlrecht tragen auch zur Verdeckung bei, denn sie sanktionieren feierlich (die erste bei jeder Rechtshandlung, das letztere alle vier Jahre) die Gleichheit der Bürger.“ (Agnoli 2004: 55) So wie der Warenfetischismus durch den Rechtsfetischismus, die formale Rechtsgleichheit, ergänzt wird, so wird der Rechtsfetischismus durch den Politikfetischismus, die formale Stimmengleichheit ergänzt. Nicht nur als Rechtspersonen unterliegen alle BürgerInnen gleichermaßen den Gesetzen, als StaatsbürgerInnen sind sie sogar gleichermaßen an der Ausgestaltung dieser Gesetze beteiligt, die doch in ihrem Gestaltungspielraum durch Imperative der Herrschaft und der Verwertung eingeschränkt sind. Rückblickend auf die Staatsableitungsdebatte und ihren Ursprung in der Paschukanis-Frage kann Joachim Hirsch feststellen: „Ja, diese Frage wurde geklärt. Die Antwort war, kurz gesagt, dass der Staat weder ein eigenes Subjekt noch ein neutrales Instrument ist, das von einer Machtgruppe oder Klasse beliebig einsetzbar ist [...], sondern ein struktureller Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst, seine besondere politische Form.“ (Hirsch 2010)

Gemäß dem Ergänzungsargument ist nun auch die historische Existenz der Staatsform gut einzuordnen. Als Gewaltmonopolist setzt er die Rechtsform durch, die den kapitalistischen Warentausch ermöglicht. Als Steuerstaat hängt er von der Warenökonomie ab, die er als Sozialstaat mehr oder weniger reguliert. So wenig Kapital ohne Herrschaft existieren kann, so wenig ist Staat unabhängig von

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Warenökonomie. Die historische Entwicklung von Staatlichkeit in Europa, vom liberalen Rechtsstaat über den demokratischen Repräsentativstaat zum sozialen Interventionstaat, verdichtet den fetischistischen Gesamtzusammenhang. Die materiale Ungleichheit in den sozialen Verhältnissen, die schon im Äquivalententausch und der Gleichberechtigung verhüllt war, wird durch demokratische Stimmengleichheit und sozialpolitischen Ausgleich weiter umnebelt. Gegenüber Konkurrenzgesellschaft und Staatenkonkurrenz wirkt und erscheint der Staat als Friedensbringer und Ordnungsmacht. Immer wieder wird hervorgehoben, dass es sich beim Fetischcharakter sozialer Formen nicht um persönliche Irrtümer, kollektive Wahnvorstellungen oder geschickte Massenmanipulationen handelt, sondern um objektive Gedankenformen einer Epoche im Sinne der marxschen Kritik des Warenfetischs. Der Rückgriff auf Marx dient dabei einerseits der Rückversicherung qua Implikationsargument. Andererseits ergeben sich die jeweiligen Anknüpfungen aus spezifischen historischen Situationen. Rückblickend erscheint es evident, warum etwa Paschukanis bezüglich des Rechtsstaates, Agnoli hinsichtlich des Repräsentativstaates und Neusüß und Müller angesichts des Sozialstaates die Form- und Fetischkritik reaktivieren. Diese changiert stets zwischen erkenntniskritischem Pessimismus und gesellschaftskritischem Optimismus: So sehr die Aufklärung der Individuen über ihre Verhältnisse durch den Fetischismus verstellt ist, so sehr ist deren Abschaffung letztlich eine Frage des Verhaltens genau dieser Individuen. Vor allem für die jüngsten Ansätze zur Kritik des Staatsfetischismus, wie sie nach dem Ende des Staatsozialismus aufkommen, ist neben der Praxis kritischer Theorie die Tendenz festzustellen, auch eine Theorie kritischer Praxis zu skizzieren. Die vertretenen Positionen, die im Folgenden umrissen werden, unterscheiden sich dabei erheblich, bergen damit aber auch gewichtigen Diskussionsstoff für die anstehende Fortführung der Debatte um Absicht, Gegenstände und Methode der Form- und Fetischkritik. Joachim Hirsch nennt die Formbestimmtheit bzw. die „,Besonderung‘ des Staates, die entscheidende Grundlage des ,Staatsfetischs‘, d.h. der Vorstellung, im Staat verkörpere sich ein über die gesellschaftlichen Ungleichheits-, Ausbeutungsund Herrschaftsverhältnisse hinausgehender ,allgemeiner Wille‘“ (Hirsch 2005: 59). Der Fetischcharakter des Staates bleibt also Gegenstand der Kritik, die Formanalyse wird bei ihm allerdings zu einer Rahmen- oder Grundlagentheorie. Denn zugleich steht für Hirsch gegenwärtig die Überwindung von Staat und Kapital nicht einmal theoretisch auf der Tagesordnung und Politik tut not. Auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen greift er theoretisch sowohl auf Paschukanis’

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Staatsformanalyse als auch auf Poulantzas’ Staatsverdichtungsthese zurück, und lässt Staatskritik und Staatsgestaltung nicht als Entweder-oder gelten. „Der Staat ist nicht nur ein abstrakter Fetisch, sondern ein gesellschaftliches Kampffeld“ (Hirsch 2003). Seine Verbindung zweier marxistischer Theorielinien, die sich in den 1970ern getrennt hatten, hat sowohl einen theoretischen als auch einen politischen Beweggrund. Bereits in der Staatsableitungsdebatte wurde eine Erkenntnisgrenze der Form- und Fetischtheorie anerkannt, die Aufgabe der Formanalyse beschränkt nämlich zugleich ihre Reichweite. „Die Analyse [...] hat die Formen in dem Zusammenhang darzustellen, in dem sie ,logisch‘ stehen […] Die Frage, wie diese Formierung [...] in Struktur, Institution und Prozeß des Staates umgesetzt wird, ist durch die Formanalyse nicht mehr zu beantworten“ (Blanke/Jürgens/ Kastendieck 1974: 65). Formtheorie kann kenntlich machen, wieso die Inhalte der kapitalistischen Vergesellschaftung in bestimmten Formen prozessieren. Der Schutz des Privateigentums bedarf der staatlichen Monopolisierung der Gewalt, die herrschende Ungleichheit in der Konkurrenz wird vermittelt durch die formale Gleichberechtigung der Konkurrierenden, die Eigengesetzlichkeit des Marktes bedarf der Regulierung in Form von Politk. Daraus kann aber noch nicht abgeleitet werden, welche Institutionen die Staatsgewalt ausbildet, z.B. Wehrpflicht oder Berufsarmee, welchen Inhalt die im Rahmen der allgemeingültigen Rechtsform erlassenen Gesetze haben und welche politischen Maßnahmen durchgesetzt werden. Es ist aber nicht nur eine Frage der Erkenntnismöglichkeiten dieser Theorien, sondern auch eine des praktischen Handelns, die Hirsch dazu bringt, dem Entwederoder ein Sowohl-als-auch entgegenzusetzen. „Es bedarf einer theoretischen und praktischen Radikalität, der grundsätzlichen Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Formen, ohne darauf zu verzichten, im und mit dem [...] Staat Politik zu machen“ (Hirsch 2002). Die Zeitgebundenheit seiner Staatskritik ist in Hirschs Theorie offenkundig. Gingen Marx und Paschukanis noch davon aus, dass die in den politischen Formen verhüllte Gewalt durch den inhaltlichen Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten gesprengt, letztlich durch revolutionäre Gewalt gebrochen würde, so erkennt Hirsch auch einen Gestaltungsspielraum im Binnenraum der Fetischformen. Zwar finde jede politische Nutzung dieses Spielraums „grundsätzlich und unter den heutigen Bedingungen immer stärker ihre Grenzen an eben dieser staatlichen Form“, aber „auch anti-etatistische und internationalistische Bewegungen kommen nicht darum herum, sich auf die faktisch bestehenden und eben einzelstaatlich ausgeprägten Herrschaftsapparaturen zu beziehen“ (Hirsch 1998: 95). Weil die Perspektive auf einen Freiraum jenseits der Fetischformen von Ware, Geld,

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Kapital, Recht und Staat durch keine entsprechende Emanzipationsbewegung, die diese utopische Zielsetzung vertreten würde, gedeckt ist, erscheint das Konzept der Veränderung im Binnenraum der Formen als folgerichtig.3 In der Debatte um die Kritik des Staatsfetischismus ist diese Position jedoch keineswegs unumstritten. John Holloway, der postoperaistische Gegenspieler von Hirsch in dieser Debatte, warnt ausdrücklich davor, das politische Spielfeld des Staates zu betreten und sich um dessen Ausgestaltung statt um dessen Abschaffung zu bemühen. „Der Staat verleitet uns auf ein falsches Terrain. Politik verleitet uns auf ein falsches Terrain. Politik als eine abgeschiedene Sphäre anzuerkennen, führt uns bereits in die Irre. Stattdessen müssen wir an die Wurzel gehen, wir müssen uns aufs Wesentliche konzentrieren: unser Tätigsein […] Wir schaffen und erneuern Staat und Macht, indem wir Steuern zahlen, den Gesetzen gehorchen, an Wahlen teilnehmen.“ (Holloway 2010a: 135)

Aus der Pointe der Formkritik, dass es unsere eigenen Verhältnisse sind, die als Fetische erscheinen, wird unmittelbar eine praktische Strategie der Verweigerung entworfen, um sich der Fetischform Staat zu entziehen. Obwohl Holloway seine Theorie ausdrücklich in Auseinandersetzung mit indigenen Bewegungen in Chiapas/Mexiko entwirft, die sich lokal und autonom der Staatlichkeit enthalten, verficht er seine Theorie der Praxis durchaus als Strategie einer globalen Linken, der er eine unmittelbare Verweigerungshaltung gegenüber Staat und Politik anempfiehlt. In ähnlicher Weise, was die praktischen Konsequenzen der Fetischkritik angeht, argumentiert auch der Wertabspaltungskritiker Robert Kurz. Allerdings schließt er aus der Enthaltung gegenüber der Staatspolitik nicht unmittelbar auf die Möglichkeit eines alternativen Verhaltens, das die Form Staat obsolet machen würde. Stattdessen stellt er die Vermittlung der Kritik als Bedingung der Möglichkeit zukünftiger Emanzipationsbewegungen heraus. „Auch emanzipatorische Antipolitik ist eine Vermittlung, und zwar im Wesentlichen zwischen kritischer Theorie und außerparlamentarischen, nicht parteipolitisch gebundenen, potentiell staatsfeindlichen sozialen Bewegungen.“ (Kurz 2003a: 292) Zwar lehnt Kurz ein unmittelbares

3 Ähnliches gilt möglicherweise auch für Theorien außerhalb des marxistischen Theoriekosmos. Diskurstheorien zielen auf Sagbares und Machteffekte innerhalb historisch wirkmächtiger Diskurse, nicht auf ein emanzipatorisches historisches Jenseits. Kritik der heterosexuellen Matrix erübrigt nicht die Beschäftigung mit immanenten Verschiebungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“.

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Zusammenfallen von Fetischkritik und Verweigerung ab, wie es John Holloway vorschwebt, aber perspektivisch wird auf eine Vermittlung zwischen theoretischer Kritik und einer kritischen Praxis gesetzt, die sich den Zwängen des formbestimmten Handelns entzieht. Noch vorsichtiger argumentiert der Ideologiekritiker Stephan Grigat, wenn er für absehbare Zeit festhält: „Solange Freiheit im Sinne der kommunistischen Realisierung individueller und gesellschaftlicher Emanzipation keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es […] zumindest die Möglichkeiten kritischer Reflexion über die fetischistisch konstituierte Gesellschaft aufrecht zu erhalten (sic!).“ (Grigat 2007: 363)

Diese Konsequenzen aus der Kritik des Staatsfetischismus, die immer schon die Kritik des Warenfetischismus voraussetzt und die Kritik des Rechts- und Politikfetischismus umfasst, unterscheiden sich in zeitlicher Perspektive hinsichtlich des Grades der revolutionären (Un-)Geduld. Holloways unmittelbare Verweigerung ist weder gleichzusetzen mit Kurz mittelfristiger Vermittlung, noch diese mit Grigats Bescheidung bei einer reflektierenden Praxis der Theorie, die in absehbarer Zukunft keine Theorie der Praxis werden kann. Es ist faszinierend, wie Kritiken, die sich auf dieselben Fetischformen richten, dieselbe Absicht auf deren Abschaffung teilen und mit ähnlichen Unterscheidungen zwischen Form und Inhalt operieren, dermaßen verschiedene Praktiken empfehlen können. Es wäre allerdings verkürzt, diese Gegensätze nur auf der Ebene von unterschiedlichen Praxiskonzepten zu verorten.4 Auch die Einschätzung der Reichweite von Form- und Fetischkritik spielt eine wichtige Rolle. So sagt Buckel: „Was Recht und dementsprechend Unrecht ist, ist durch die Rechtsform selbst nicht vorgegeben, sondern das Ergebnis hegemonialer Kämpfe, die über den Formzwang der Dogmatik allerdings normalisiert werden.“ (Buckel 2007: 247f.) In anderen Worten: Innerhalb verselbständigter gesellschaftlicher Formen handeln die Vergesellschafteten selbstständig. Die offenbare Paradoxie, einerseits Ware, Geld, Kapital, Recht, Politik und Staat als Fetischformen zu kritisieren, an-

4 Die Gründe dafür liegen auch in besonderen Gewichtungen der jeweiligen Fetisch- und Gesellschaftstheorie, die an dieser Stelle nicht ausgeführt werden können. Sie berühren vor allem das unterschiedlich verstandene Verhältnis des Fetischismus zu anderen Theoremen des Konfliktes, der Rebellion, der Krise und der Ideologien (vgl. ausführlich Neupert 2013).

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dererseits aber Kämpfe um Arbeitsbedingungen, Tariflöhne, Besteuerung, Gesetze, Wahlen und Staatsmaßnahmen zu politisieren, wie Hirsch und Buckel es tun, ist eine reale. Kritik der Warenform verweist zwar auf Ausbeutung als ihren Inhalt, erklärt aber nicht das Tarifgehalt; Kritik der Rechtsform verweist auf Herrschaft als ihren Inhalt, erklärt aber nicht den Gehalt der Gesetze; Kritik der Staatsform verweist auf Gewalt als ihren Inhalt, erklärt aber nicht die Haltung der Regierung. Was bedeutet diese Einschätzung ihrer Reichweite für aktuelle Perspektiven der Form- und Fetischkritik?

4. P erspektiven

der

F orm -

und

F etischkritik

„Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ MEW 25: 825

Erstens ist die Form- und Fetischkritik eine Bilanz des Scheiterns früherer Hoffnungen und Annahmen. Gerade weil die Absicht der Kritik, die Abschaffung der fetischistischen Formen, unerreicht ist, hält sie an der Unterscheidung zwischen Gestaltungsspielraum und formbestimmten Grenzen fest. Marx und Engels, die früh davon ausgingen, es komme letztlich darauf an, „was das Proletariat geschichtlich zu tun gezwungen sein wird“ (MEW 2: 38), unterschätzten den Gestaltungsspielraum innerhalb der Fetischformen von Ökonomie, Recht und Staat. Anstatt den Fetischismus von Ware, Geld, Kapital, Recht, Politik und Staat zu durchschauen und zu zerbrechen, war die ArbeiterInnenbewegung einerseits der Versuch, die Ware Arbeitskraft für mehr Geld zu verkaufen und Sozialpartnerschaft mit dem Kapital zu schließen, andererseits der Versuch, sich als Rechtspersonen und StaatsbürgerInnen in den Nationalstaat zu integrieren. Die Form- und Fetischkritik bringt die Differenz zwischen der Regulierung der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft und ihrer Überwindung auf den Begriff – und liefert Erklärungen dafür, denn es bietet „der Begriff des Fetischismus die Basis für die Beantwortung der uralten Frage: ‚Warum nehmen die Menschen das Elend, die Gewalt und die Ausbeutung des Kapitalismus hin?‘ Indem dieser Begriff nicht nur auf das von Menschen hingenommene Elend, sondern auch auf deren aktive Beteiligung an dessen Reproduktion verweist, unterstreicht er auch die Schwierigkeit einer Revolution gegen den Kapitalismus.“ (Holloway 2010b: 69)

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Fetischkritik ist in diesem Sinne auf ihren Modus der Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik zurückgeworfen, ohne ihre Absicht, die Abschaffung ihrer Gegenstände, schon als Möglichkeit, also als konkrete Utopie, ausgeben zu können. Ihre grundlegende Unterscheidung zwischen Inhalt, Form und Ausgestaltung, zwischen Herrschaftsverhältnissen, umfassendem Fetischismus und verschiebbaren Kräfteverhältnissen könnte vorbildhaft für andere Theorien sein und auch das Bewusstsein für Grundlagenprobleme der Emanzipation schärfen. Zweitens ist die Form- und Fetischkritik ein Modus der Korrektur gegenüber falschem Optimismus heute. Gerade linker Verfall an den Politikfetisch ist hier zu nennen. Fetischkritik weiß nicht nur um das Übergewicht der ökonomischen Formen gegenüber ihren TrägerInnen, sondern erkennt auch ganz klar „das strukturelle Problem für emanzipative Politik [...] darin, daß der Staat, sobald seine politischen Maßnahmen eine derartige Quantität und Qualität annehmen, daß sie tatsächlich als Beitrag zu einer Emanzipation verstanden werden könnten und nicht mehr nur eine andere Verteilung des Elends bedeuten, sich tendenziell selbst seine materielle Basis entzieht.“ (Grigat 2006: 150)

Gegenüber anderen Gesellschaftstheorien trägt die Form- und Fetischkritik also die Hypothek, nicht Möglichkeiten der Emanzipation, sondern deren Schwierigkeiten aufzuzeigen. Dieses Dilemma war schon Marx bewusst. „Die Vermittlungen der irrationellen Formen, worin bestimmte ökonomische Verhältnisse erscheinen und sich praktisch zusammenfassen, gehen die praktischen Träger dieser Verhältnisse in ihrem Handel und Wandel jedoch nichts an; und da sie gewohnt sind, sich darin zu bewegen, findet ihr Verstand nicht im geringsten Anstoß daran. Ein vollkommener Widerspruch hat durchaus nichts Geheimnisvolles für sie. In den dem inneren Zusammenhang entfremdeten und, für sich isoliert genommen, abgeschmackten Erscheinungsformen fühlen sie sich ebenfalls so zu Haus wie ein Fisch im Wasser.“ (MEW 25: 787)

Eben weil es die gewohnten, zu sozialen Formen geronnenen gesellschaftlichen Verhaltensweisen sind, deren Fetischcharakter sie als ewige und unhinterfragbare Fetische erscheinen lässt, ist eine kategoriale Kritik an diesen Formen, die zugleich Erkenntnis- und Gesellschaftskritik wäre, recht unwahrscheinlich. Schließlich ist der Fetischismus keine skandalträchtige Ausnahme, sondern die objektive Gedankenform, die dem alltäglichen subjektiven Verhalten konform ist. Der Binnenraum der Fetischformen, in dem nur immanent agiert werden kann, ist

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kein Freiraum, sondern höchstens ein Spielraum, wesentlich aber ein abgestandener Tümpel oder tödlicher Sumpf, der Seemeilen entfernt ist vom Meer der vorliegenden utopischen Möglichkeiten eines guten Lebens jenseits dieser Formen, die der Kritik verfallen, weil ihr Fetischcharakter eben diese Möglichkeiten als unmöglich erscheinen lässt. Drittens impliziert die Form- und Fetischkritik eine negative Utopie von zukünftig möglicher Befreiung. Ihr optimistischer Anteil ist die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Tatsachen eine Frage der Taten sind, dass intersubjektive Verhältnisse letztendlich auf das Verhalten von Subjekten zurückzuführen sind. Zugleich ist ihr pessimistischer Anteil, dass den zur Änderung der Gesellschaft aufgerufenen Menschen eben durch den Fetischcharakter ihrer sozialen Formen die Einsicht in die Veränderbarkeit verstellt ist. Zwischen diesen Polen changiert die Form- und Fetischkritik in ihren historischen Gestalten seit Marx. So sehr sich die meisten Form- und FetischkritikerInnen gegen den Begriff der Utopie verwehren würden, so leisten ihre Theorien doch nicht nur eine bestimmte Negation, die als negative Utopie einer Gesellschaft ohne Ware, Geld, Kapital, Recht und Staat begriffen werden kann, sondern bewahren auch eine utopische Tradition zumeist vergessener marxistischer Leitbegriffe: „‚Assoziation‘ und ‚Föderation‘. Diese zielten auf eine Art und Weise des Zusammenlebens, die sich von ‚Gesellschaft‘ und ‚Staat‘ grundlegend unterscheidet“ (Hirsch 1998: 108). Ohne eine utopische Konkretion erreichen zu können, also ohne Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Menschen jenseits der Waren-, Rechts- und Staatsform leben könnten, schwingen stets utopische Intentionen und Motivationen in der Form- und Fetischkritik mit. So schreibt Fabian Georgi über das alltägliche Grauen staatlicher Grenzen und ihre Selbstverständlichkeit: „Migrationskontrollen besitzen eine tiefe Hegemonie. Sie sind Teil des Staatsfetisch. Wie der Staat insgesamt erscheinen sie dem Alltagsbewusstsein als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung individueller Existenz“ (Georgi 2012: 74). Bereits die Kritik der Selbstverständlichkeit, welcher der Grenzschutz der Form Staat darstellt, eröffnet Perspektiven, die über den Gestaltungsraum diverser Grenzregime hinaus Möglichkeitsräume aufzeigen. Als Bilanz gescheiterter Lösungen in der Vergangenheit und Warnung vor einfachen Lösungen heute, als Eröffnung utopischer Perspektiven und als begriffliches Instrumentarium der Differenzierung bewahrt die Form- und Fetischkritik einen theoretischen und praktischen Anspruch, der sich zu entfalten lohnt. Nicht zuletzt die Erweiterung der Gegenstände der Kritik bewahrt vor falschen Alternativen, wie sie Linke im Staat und Liberale im Markt erkennen: „Staat und Markt sind als Fetischformen nicht die Lösung, sondern das Problem“ (Kurz 2003b: 437f.).

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Bedeuten die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, ihre konkreten Herrschafts-, Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse, den inhaltlichen Widerspruch, der in Waren-, Rechts- und Staatsform prozessieren kann und durch sie vermittelt wird, so muss konkrete Utopie auf die Veränderung eben dieser Inhalte der zwischenmenschlichen Verhältnisse abzielen. Aufgabe der Form- und Fetischkritik, als ein Werkzeug der Gesellschaftskritik, bleibt es, diese radikale Erkenntnis zu ermöglichen.

L iteratur Siglen: MEW: Marx, Karl und Friedrich Engels (1956ff.): Marx Engels Werke, Berlin: Dietzverlag MEW 1: Marx. Debatten über die Preßfreiheit, 1842, 28-77 MEW 1: Marx. Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, 1842, 109-147 MEW 1: Marx. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, 1843, 203-233 MEW 1: Marx. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung, 1844, 378-391 MEW 1: Marx. Zur Judenfrage, 1844, 347-377 MEW 2: Marx und Engels. Die heilige Familie, 1845, 3-223 MEW 3: Marx und Engels. Die deutsche Ideologie, 1845/1932, 5-530 MEW 19: Marx. Zur Kritik des Gothaer Programms, 1875, 13-32 MEW 23: Marx. Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, 1. Band, 1867 MEW 25: Marx. Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, 3. Band, 1894 Adorno, Theodor W. (1969): Zu Subjekt und Objekt. In: GS 10.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 741-758 Agnoli, Johannes (2004): Die Transformation der Demokratie. Hamburg: konkretVerlag [1967] Blanke, Bernhard/Jürgens, Ulrich/Kastendiek, Hans (1974): Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates. In: PROKLA, 14/15, 51-102 Buckel, Sonja (2007): Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft Erckenbrecht, Ulrich (1976): Das Geheimnis des Fetischismus. Grundmotive der Marxschen Erkenntniskritik. Frankfurt a.M./Köln: Europäische Verlags-Anstalt

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Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas MARC GRIMM UND MARTIN PROISSL

Die Urteile über die Beziehung der Theorie1 von Jürgen Habermas zur klassischen Kritischen Theorie von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse sind gesprochen: Habermas habe, so die eine Position, spätestens mit der Theorie des kommunikativen Handelns mit jener gebrochen und an der Überwindung des Kapitalismus kein Interesse mehr gehabt. Folglich sei dessen Theoriebildung deshalb wesentlich keine Aktualisierung, sondern eine Depotenzierung der Kritischen Theorie (vgl. Breuer 1985). Diese Kritik aber, so Habermas’ Verteidiger, ziele in die Leere. Habermas habe dem Negativismus der frühen Kritischen Theorie ja absichtlich den Rücken gekehrt und eine bewusste Aussöhnung der Kritischen Theorie mit dem Vernunftpotential der Moderne und des Zivilisationsprozesses überhaupt vertreten (vgl. Fischer/Ottow 2002: 656). Die Entwicklung Kritischer Theorie verläuft nicht stringent. Wenn wahr ist, dass Theorien immer einen Zeitkern haben und einerseits ihre Perspektive, anderseits die Problemstellungen, die sie bearbeiten, gesellschaftlich und historisch bestimmt sind, muss Kritische Theorie sich mit der Gesellschaft ändern. Ob eine Theorie aber eine Kritik der Gesellschaft auf der Höhe der Zeit erlaubt, ist eine Frage, die nicht das Alter, sondern erst der nähere Blick auf die spezifische Ausprägung der Theorie

1 Der Terminus „klassische Kritische Theorie“ stammt von Helmut Dubiel (1988). Er bezeichnet mit ihm vor allem die Theorieentwicklung durch Adorno, Horkheimer und Marcuse, die er von der Theorieentwicklung durch Habermas scheidet.

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zu beantworten vermag. Hinsichtlich des Verhältnisses der klassischen Kritischen Theorie zu der habermasscher Prägung ist es wenig sinnvoll zu fragen, ob Habermas der legitime Erbe Adornos und Horkheimers ist. Das Augenmerk muss „nicht auf das Identische und den Wunsch nach Harmonie, sondern auf das Nicht-Identische und den aus ihm resultierenden Anspruch auf Ambivalenz“ gelegt werden (Salzborn 2015: 7). Entgegen der kolportierten Gewissheiten über diese beiden Kritischen Theorien ist deshalb unser Anspruch, Verbindungslinien und Differenzen zu bestimmen und somit die Möglichkeiten und Grenzen beider Theorien auszuweisen. Die folgende Darstellung des Ideologiebegriffs der klassischen Kritischen Theorie erfolgt konstellativ. So wird die Theoriegestalt nachgezeichnet, um die Facetten und (Sinn-)Ebenen dieses Begriffs an wesentlichen Argumentationsmustern auszuweisen. Die Darstellung des Ideologiebegriffs von Jürgen Habermas erfolgt hingegen über die Rekonstruktion der Theoriegeschichte. Sie folgt der Theorieentwicklung, um anhand der Veränderungen der Sinngehalte des Ideologiebegriffs die Veränderung wesentlicher Gehalte der habermasschen Theorie genetisch zu erfassen. Die Analyse fokussiert die (Genese der) kommunikationstheoretische(n) Wende im habermasschen Werk, weil diese wesentlich für die weitere Entwicklung ist und Habermas den lange von ihm verwendeten Begriff von Ideologie hier aufgibt, einen neuen Ideologiebegriff vorschlägt, um ihn später ganz fallen zu lassen. Anhand neuerer Arbeiten zur Kritik der EU und der Globalisierung (vgl. Habermas 2009, 2013a, 2013b) lässt sich jedoch ausweisen, dass Habermas an Diagnosen anschließt und Begriffe wieder aufgreift, die er zuvor ad acta gelegt hatte. Obwohl also eine Divergenz der „klassischen“ und „neueren“ Kritischen Theorie konstatiert werden kann, zeigt sich zugleich, dass die Theorieentwicklung in Habermas’ Werk selbst keineswegs bruchlos und linear erfolgt. Tatsächlich greift er einige der losen Fäden der frühen Ideologiekritik für die aktuelle Kritik von Gesellschaft wieder auf.

1. D er B egriff der I deologie und M ax H orkheimer

bei

T heodor W. A dorno

Wer von Ideologie spricht, spricht von Wahrheit. Skeptizismus, erkenntnistheoretischen Perspektivismus und ethischen Relativismus lehnten sowohl Theodor W. Adorno als auch Max Horkheimer ihre gesamte theoretische Entwicklung hindurch ab. In Horkheimers Ideologie und Handeln von 1951 zeigt sich diese Haltung. Horkheimer kritisiert darin Karl Mannheims Wissenssoziologie ebenso wie Max

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Schelers absolute Wertlehre und beansprucht diesen gegenüber eine dritte Position: Eine zeitgebundene Wahrheit könnten wir mit „unseren besten Kräften“ erkennen, so dass der „Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit“ nicht hinfällig sei (Horkheimer 1973: 47). Auch Adornos Kritik der Wissenssoziologie erwächst aus dem Festhalten am Begriff der Wahrheit. Die Wissenssoziologie „versagt [...] vor dem Ideologiebegriff, aus dem sie ihre breite Bettelsuppe kocht. Denn der Begriff Ideologie ist sinnvoll nur im Verhältnis zur Wahrheit oder Unwahrheit dessen, worauf er geht; von gesellschaftlich notwendigem Schein kann einzig im Hinblick auf das gesprochen werden, was kein Schein wäre und was freilich im Schein seinen Index hat.“ (Adorno 1975: 197f.)

Der emphatische Anspruch auf Wahrheitserkenntnis führt Horkheimer und Adorno nun aber gerade nicht zum Dogmatismus. Eine positive Verwendung des Begriffs Ideologie, wie im Marxismus-Leninismus, kommt bei ihnen nicht vor. Das entspricht ihrer Distanz zu kommunistischen Parteien und deren Weltanschauungen. Mit der Ablehnung politischer Glaubensbekenntnisse geht die Ablehnung eines vermeintlich privilegierten Erkenntnisstandpunktes einher, den Georg Lukács in seinem einflussreichen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) dem Proletariat zugesprochen hatte. Lukács’ Bedeutung für die Entwicklung des Denkens von Adorno und Horkheimer kann wohl kaum überschätzt werden. Zentrale theoretische Aussagen – z.B. die Erklärung der Ideologie als Resultat von Verdinglichungserfahrungen in der Warengesellschaft, seine Methode, ideologische Phänomene im Bezug auf die gesellschaftliche Totalität zu kritisieren und schließlich seine Überzeugung, dass Realitätserkenntnis zwar standort- und zeitgebunden sei, es aber dennoch zeit- und standortbedingte Wahrheit im Gegensatz zu falschem Bewusstsein gäbe – werden von den Vertretern der klassischen Kritischen Theorie übernommen. Gleichwohl unterscheidet sich das Ideologieverständnis Adornos und Horkheimers von Lukács’ Konzeption. Während Lukács die Totalitätserkenntnis der Intellektuellen letztlich mit derjenigen des Proletariats identifiziert, formuliert Horkheimer, dass die Einsichten der Intellektuellen sich „im Gegensatz zu Ansichten befinden [können], die beim Proletariat gerade vorherrschen. Ohne die Möglichkeit dieses Konfliktes bedürfte es keiner Theorie; denen, die sie brauchen, fiele sie unmittelbar zu“ (Horkheimer 1992: 238).

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1.1 Ideologiekritik als immanente Kritik Wenn die Ideologie soziale Realität und Herrschaft verklärt und sich über diese wie ein Schleier legt, dann ist die Aufgabe der Ideologiekritik nicht nur, die Realität sichtbar zu machen. Sie ist mehr: Widerspruch und Eingriff zugleich. Diese orientieren sich am Ziel der Einlösung der bürgerlichen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die nicht etwa als bürgerlicher Trug verworfen werden sollen. Vielmehr gilt es immer noch, diese vollgültig zu realisieren. So kritisiert Horkheimer Friedrich Nietzsche dafür, dass dieser der Ideologie der Humanität die Inhumanität entgegensetzt habe und damit in einer bloßen Antihaltung verharre. Stattdessen ginge es darum, auf die Verwirklichung der Humanität zu drängen. Sie praktisch zu realisieren setze indes ideologiekritische Aufklärung voraus (vgl. Horkheimer 1973: 46). Adorno nannte diese Aufklärung die „Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit“ (Adorno 1956: 169). Ideologie hat also Wahrheitsgehalt. Sie zeigt eine Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklung auf, die nicht realisiert wurde. Es ist das Grundmotiv der Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie, dass sie den Widerspruch zwischen den bürgerlichen Idealen und dem Ausbleiben ihrer Realisierung kenntlich macht und damit zu deren Einlösung beitragen will. Diese Art der Ideologiekritik kann auch als immanente Kritik bezeichnet werden, weil sie die Gesellschaft an ihren eigenen Maßstäben misst. Das Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und vernunftgemäßer Möglichkeit soll spürbar werden und zur veränderten politischen Praxis treiben. Historisch entsteht im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen die Möglichkeit der Ideologiekritik, als zunehmend erkennbar wurde, dass die im Namen der Menschheit verfochtenen Ideale uneingelöst blieben, da sie eher durch Menschheitspathos verdeckte Interessen des Bürgertums waren. Die fortschrittlichen Ideen der bürgerlichen Aufklärung zerbrachen mit Notwendigkeit durch die Zwänge der neugeschaffenen Wirtschafts- und Gesellschaftsform: „Mit der Inthronisierung des Konkurrenzprinzips seit der Aufhebung der Zunftschranken und dem Beginn der technischen Revolution der Industrie entfaltete die bürgerliche Gesellschaft eine Dynamik, die das einzelne Wirtschaftssubjekt zwingt, seine Erwerbsinteressen rücksichtslos und um das Wohl der Allgemeinheit unbekümmert zu verfolgen [...]. Das antifeudale Ideal der Autonomie des Individuums, das dessen politische Selbstbestimmung meinte, verwandelt sich im Wirtschaftsgefüge zu jener Ideologie, deren es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Steigerung der Leistung bedurfte.“ (Adorno 1956: 49)

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Im Kampf gegen die feudale Ordnung, so das Argument, hatten die Ideale der bürgerlichen Aufklärung ihr Recht. Aber im Zuge der Etablierung der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft wurden die Ideale zur Ideologie, weil diese gehandelt wurden, als wären sie bereits eingelöst. Die Versprechen der bürgerlichen Revolutionen verloren ihren fortschrittlichen Charakter und dienten stattdessen der Rechtfertigung von Herrschaft: „Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie, wenn nicht bloß der modernen, so jedenfalls einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie setzt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes voraus, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde und die ihr Modell im Tausch von Vergleichbarem hat.“ (Adorno 1954: 465)

1.2 Dialektik von Vernunft und Aufklärung Der Begriff der Ideologie der klassischen Kritischen Theorie zielt darauf, Geistiges immer auf seine Gesellschaftlichkeit hin zu befragen, ohne dass dabei angenommen wird, dass jenes in diesem aufgeht – es ist „mehr als bloßer Ausdruck des Seienden“ (Adorno 1954: 474). In diesem Mehr verbirgt sich die philosophische Überzeugung und politische Hoffnung auf die Möglichkeit verändernder Erkenntnis und Praxis. Die erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt wird dementsprechend nicht einseitig aufgelöst. Ihre dialektische Fassung kann ohne Übertreibung als theoretische Grundfigur Kritischer Theorie bezeichnet werden. Es mag scheinen, als sei die Dialektik dieses Verhältnisses in den 1940er Jahren zur Seite des Objekts hin aufgelöst worden. Denn in der Dialektik der Aufklärung (erstmals 1944) heißt es, dass „der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression“ (Adorno/Horkheimer 1997: 213) geworden sei. Hier lohnt die nähere Betrachtung: Das theoretische Ziel der Dialektik der Aufklärung ist, die Aufklärung über ihre blinden Flecken aufzuklären, „die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts“ (Adorno/Horkheimer 1997: 3). Das praktische Ziel der Dialektik der Aufklärung ist die soziale Revolution, die als „[u]mwälzende wahre Praxis“ (Adorno/Horkheimer 1997: 48) umschrieben wird. Es stellt sich hier die Frage, was dieser Praxis im Wege steht. Als Hindernis nennen Adorno und Horkheimer den

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gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang: „Der mythische wissenschaftliche Respekt vor dem Gegebenen“ (Adorno/Horkheimer 1997: 48) hindere die Menschen, die verkehrte Welt geradezurücken. Aufklärung schlägt um in Barbarei, so das Argument, weil Aufklärung eine einseitige Form der Rationalität darstellt, die von Anfang an der Selbsterhaltung durch Naturbeherrschung diente und deshalb destruktive, enthumanisierende Folgen hat. Wissenschaft und Technik, der Stolz der Aufklärung, seien nicht nur die Bedingungen möglicher Emanzipation, sondern immer schon die Mittel der Ausweitung der Herrschaft über Mensch und Natur. Statt von Ideologie ist in der Dialektik der Aufklärung überwiegend vom Mythos die Rede. Der Begriff ist historisch weiter gefasst, hat inhaltlich jedoch denselben Sinnkern. Der Mythos dient der Aufrechterhaltung von Herrschaft. Diese Herrschaft hat eine triadische Struktur. Ihre drei Seiten sind: Herrschaft der Menschen über die äußere Natur, Herrschaft von Menschen über Menschen und Selbst-Beherrschung. In der Dialektik der Aufklärung lassen sich zwei Erklärungen der Genese dieser Herrschaftsstruktur identifizieren, was auch die widersprüchliche Rezeption des Werkes erklärt. Ein Argumentationsstrang erweckt den Eindruck, als sei die menschliche Vernunft, weil sie aus der Notwendigkeit der Herrschaft über die äußere Natur im Interesse der Selbsterhaltung hervorgegangen ist, unabänderlich ein Herrschaftsinstrument. Das würde den Schluss nahelegen, eine wahrhaft vernünftige Gesellschaft sei unmöglich, vielmehr müsse die aufklärerische Entwicklung des Herrschaftsinstruments Vernunft in Zukunft noch weiter in die Verstrickung von Vernunft und Herrschaft führen. Folgt man dieser Lesart der Dialektik der Aufklärung, würden Horkheimer und Adorno die Auffassung vertreten, das Subjekt müsse sich immer wieder in den Naturzusammenhang verstricken, weil es durch die Verinnerlichung des Opfers entsteht (vgl. Habermas 1988: 138). Nach dieser durch Habermas geprägten Lesart können Horkheimer und Adorno nicht mehr begründen, von welchem Erkenntnisstandpunkt aus sie selbst die Gesellschaft kritisieren. Übersehen wird dabei allerdings, dass die in der Dialektik der Aufklärung und anderen Werken Horkheimers und Adornos entfaltete Kritik der instrumentellen Vernunft und des identifizierenden Denkens mit einem dialektischen Vernunftbegriff arbeitet. In der Negativen Dialektik formuliert Adorno deutlich: „Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken

VON DER KRITIK DER TOTALITÄT ZUM FRAGMENTIERTEN BEWUSSTSEIN | 85 der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem.“ (Adorno 1975: 284)

Dieser Vernunftbegriff prägt die zweite Leseweise der Dialektik der Aufklärung. Die historische Möglichkeit, Herrschaft zu überwinden, wird dort auf folgende Formel gebracht: Aufklärung muss als Kritik der Aufklärung fortgeführt werden. Rolf Wiggershaus hat treffend bemerkt: „Die Formulierung von der Selbstzerstörung der Aufklärung war [...] eine irreführende Pointe. [...] Ihr Gehalt war vielmehr: Alle bisherige Aufklärung war keine wirkliche Aufklärung, sondern Verhinderung wirklicher Aufklärung“ (Wiggershaus 2001: 372). Diese zweite Lesart folgt also dem zweiten Argumentationsstrang der Dialektik der Aufklärung, in dem der verdinglichte Zugriff auf die Welt an der Abstraktion festgemacht wird (vgl. Adorno/ Horkheimer 1997: 19). Die Genese der Abstraktion wird aber nicht nur durch den Zwang zur Beherrschung der äußeren Natur erklärt, sondern vorrangig über die mit der Naturbeherrschung einhergehende Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Diagnose zum Trotz, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Ausbildung eines starken und zur Reflexion fähigen Subjekts schwinden, halten Adorno und Horkheimer daran fest, dass Selbstreflexion möglich und nötig ist und die gesellschaftlichen Verhältnisse von den Subjekten gemacht und von diesen geändert werden können (vgl. Adorno/Horkheimer 1997: 48f). Die Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie ist darauf gerichtet, die spezifische Ausprägung des „inneren Vermittlungszusammenhangs der Erkenntnis mit dem Lebensprozess, des gesellschaftlichen Bewusstseins mit dem gesellschaftlichen Sein“ (Ritsert 2014: 79) offen zu legen. Ideologiekritik kann auf diese Weise aufzeigen, dass ideologische Denkfiguren, -muster und Mythen, Resultat der Handlungen von Individuen sind, denen in diesen Formen das von ihnen gemeinsam Erzeugte als etwas Fremdes begegnet. Die Aufklärung der Konstitution dieser Denkmuster nimmt diesen den Anschein der Tatsachen und weist diese als menschengemacht und damit veränderbar aus. Dieser Reflexionsprozess vollzieht sich eingedenk der Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart und will deren Ursachen offenlegen. Denn solange die gesellschaftlichen und also auch subjektiven Ursachen, die diese möglich gemacht haben, weiter bestehen, besteht auch die Möglichkeit, dass die Barbarei sich wiederholt. Als Leitstern der Theoriebildung dient die versöhnte Gesellschaft, in der die realen Widersprüche und Unterschiede zwischen Menschen nicht etwa aufgelöst, sondern versöhnt werden, ein gesellschaftlicher Zustand also, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno 2003: 116).

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1.3 Ideologiekritik als Aufklärung über Unbewusstes In seiner Antrittsvorlesung als Leiter des Instituts für Sozialforschung formulierte Max Horkheimer 1931, für die künftige Forschung sei „die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten“ (Horkheimer 1972: 32) zentral. Das Handeln der Subjekte sollte nicht (unmittelbar) aus der Ökonomie abgeleitet, sondern (mittelbar) über die Psyche der Subjekte erklärt werden. Um der einseitigen Fixierung auf die Ökonomie zu entkommen, wurden die Erkenntnisse der (Tiefen-)Psychologie von Sigmund Freud integriert. Diese sollten es ermöglichen, die psychischen, triebdynamischen Funktionen von Ideologie zu erklären. Die Tiefenpsychologie war hierzu in besonderer Weise geeignet, weil auch in Freuds Theorie der Bewusstmachung von Unbewusstem und Verdrängtem der (Selbst-)Reflexion die entscheidende aufklärerische Funktion zugesprochen wird. Die Herkunft und Ursache der psychischen Konflikte werden von Freud an der Entzweiung von Individuum und Gesellschaft festgemacht, die sich im Individuum – psychoanalytisch gesprochen: in der Vermittlung zwischen dem Ich und den Trieben (Es; Natur), sowie den Anforderungen der Gesellschaft und der internalisierten Autorität (Über-Ich) – wiederfindet. Bildlich gesprochen stehen also Sigmund Freud und Karl Marx an der Wiege der klassischen Kritischen Theorie. Marx klärt über das gesellschaftlich Unbewusste auf – über jene Prozesse, die sich hinter dem Rücken der Subjekte abspielen. Freud klärt über das subjektiv Unbewusste auf – über jene Prozesse der Psyche, die sich immer wieder Bahn brechen, aber den Subjekten unmittelbar nicht zugänglich sind.2 Beide Prozesse verweisen aufeinander: Über Gesellschaft kann nur reden, wer deren Reproduktion durch das Handeln der Subjekte zu erklären vermag; und das subjektiv Unbewusste kann nur erklären, wer die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Subjekt formen, in die Betrachtung einbezieht.

2 Die freudsche Theorie übte nachhaltigen Einfluss auf die Theoriebildung, aber auch die empirische Forschung des Instituts für Sozialforschung aus. In den großen empirischen Forschungsarbeiten des Instituts, den Studien über Autorität und Familie (1936), den Studies in Prejudice (1950) und dem Gruppenexperiment (1955) spielt die Psychoanalyse eine tragende Rolle.

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1.4 Ideologiekritik zwischen Kritik an bewusstloser Verselbstständigung und Kritik an bewusster Manipulation Trennt man den Begriff der Ideologie analytisch, weist dieser – wie oben dargestellt – verschiedene Ebenen und Facetten auf. Es lassen sich zwei Dimensionen des Begriffs identifizieren, die quer zueinander stehen. So bezeichnet Ideologiekritik (I) zum einen die verkehrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Subjekte. Zum anderen zielt der Ideologiebegriff (II) auf die bewusste und intendierte Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse und partikularer Interessen. In ersterem Verständnis fokussiert Ideologiekritik Handlungszwänge und Imperative, die den materiellen Verhältnissen eingeschrieben sind. Begriffe wie Verdinglichung und Naturalisierung betonen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich gegenüber den Subjekten verselbstständigen. Für die historische Epoche des Kapitalismus charakteristische Handlungsmuster werden so zu für Menschen überhaupt typischen Handlungsmustern und -zwängen und damit mit einem „Ewigkeitsschein“ (Adorno) versehen. Auf diese Weise werden die gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen zur zweiten Natur. Besonders deutlich treten solche verkehrten Wahrnehmungen in anthropologischen Vorstellungen des Menschen und der menschlichen Natur hervor, auf deren Grundlage Sozialbeziehungen dann als natürliche Ordnung erscheinen. Ähnlich gelagert ist die mit dem Begriff der Kulturindustrie verbundene Verdopplung und Bestätigung sozialer Verhältnisse. Der Begriff Kulturindustrie zielt weit über den Kulturbetrieb hinaus auf die Kritik der Abstimmung der Produktion auf die Konsumption. Durch die Standardisierung und Normierung der Waren werden die Bedürfnisse der WarenkonsumentInnen standardisiert und damit auch die Grenzen dessen gesetzt, was als denk-, mach- und veränderbar gilt (vgl. Grimm 2009). Diverse kultur- und hegemonietheoretische Analyseansätze schließen an diese Diagnose an. In gewisser Weise nimmt die Kritische Theorie durch das nichtdeterministische Verständnis des Verhältnisses von gesellschaftlichen Produktionsund Herrschaftsverhältnissen auf der einen, Wissens- und Kulturproduktion auf der anderen Seite die kulturtheoretische Wende vorweg. Aber im Festhalten an einer materialistisch-historischen Perspektive und an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis bestehen auch grundlegende Differenzen zu kulturalistischen Sichtweisen auf Geschichte und Gesellschaft. Gleichwohl also der Ideologiebegriff der klassischen Kritischen Theorie auf die verkehrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse verweist, die damit der Kritik entzogen werden, „kommt stets die Verschleierung

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von Machtpositionen, Machtstrukturen und Privilegien der jeweiligen Herren als das specificum von Ideologien“ (Ritsert 2014: 80, Hervorh. im Orig.) hinzu. Dass der Ideologiebegriff einerseits die bewusste und intendierte Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse und partikularer Interessen bezeichnet, anderseits das Verhältnis von Gesellschaft und deren verkehrter Wahrnehmung, macht den Begriff zuweilen unpräzise. Die schrittweise Betrachtung hat gezeigt, dass der Ideologiebegriff der klassischen Kritischen Theorie sich analytisch in verschiedene Ebenen und Momente trennen lässt. Allgemein formuliert ist Ideologiekritik hier Aufklärung über das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft. Sie beinhaltet einmal die Aufklärung über die soziale Herstellung manifester gesellschaftlicher Handlungszwänge. Dann zielt sie auf die Aufklärung der verzerrten, standardisierten oder verdinglichten Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse. Zuletzt will sie die interessengeleitete Verklärung gesellschaftlicher Verhältnisse aufklären. Besonders zu betonen ist, dass die Kritik der Ideologie an der Utopie einer besseren Gesellschaft ausgerichtet ist. So kommen in der Kritik von Ideologie Gesellschafts- und Subjektivitätskritik zusammen – vor dem Hintergrund des utopisch antizipierten Zustands der Versöhnung.

2. D er B egriff

der I deologie bei

J ürgen H abermas

Die Rekonstruktion des Begriffs der Ideologie bei Jürgen Habermas folgt der schrittweisen kommunikationstheoretischen Wende, deren Anfang wir in Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ (1968) ausmachen und die wir bis zur Theorie des kommunikativen Handelns (1981) darstellen. Für diesen Zeitraum lässt sich zum einen und zuerst ein Wandel des Ideologiebegriffs diagnostizieren. Zum anderen spielt der Begriff der Ideologie in späteren Arbeiten nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Wie wir dann aber kursorisch zeigen werden, lässt sich für die jüngste Zeit feststellen, dass Habermas begrifflich und sachlich die ad acta gelegte Ideologiekritik für die Kritik des europäischen Einigungsprozesses wieder aufgreift. 2.1 Die anthropologische Begründung der Ideologiekritik Der Begriff der Ideologie ist bei Habermas Ende der 1960er Jahre zentral, wie schon am Titel von Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ deutlich wird. Der Technikbegriff der klassischen Kritischen Theorie ist widersprüchlich und schwankt

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zwischen einer Kritik der Technik als Sündenfall technischer Rationalität und einem Festhalten an der prinzipiellen Neutralität von Technik. Um die „Doppelfunktion des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (als Produktivkraft und Ideologie)“ (Habermas 1969: 60) angemessen erklären zu können, schlägt Habermas deshalb ein neues Interpretationsschema der spätkapitalistischen Gesellschaft vor: die Unterscheidung „zwischen 1. dem institutionellen Rahmen einer Gesellschaft oder der sozialkulturellen Lebenswelt und 2. den Sub-Systemen zweckrationalen Handelns“ (Habermas 1969: 65). Handlungstheoretisch liegt dieser Trennung die Unterscheidung zwischen Interaktion und Arbeit bzw. zweckrationalem Handeln zugrunde (vgl. Habermas 1969: 62). In den Begriffen Arbeit und Interaktion, die später durch die Begriffe teleologisches und kommunikatives Handeln ersetzt werden, wird deutlich, dass Habermas diese Unterscheidung durch die Auseinandersetzung mit dem marxschen Arbeitsbegriff gewinnt. In der Theorie des kommunikativen Handelns wird dies undeutlich, da Habermas den Begriff des kommunikativen Handelns dort vor allem in der Auseinandersetzung mit Max Webers Begriff des zweckrationalen Handelns entwickelt. Die für Habermas so zentrale Trennung zwischen zweckrationalem und kommunikativem Handeln ist 1968 noch anthropologisch fundiert, erst später folgt die Wende zur Sprachphilosophie. Eine qualitativ andere Technik als die herrschaftliche sei nicht möglich, so Habermas, weil die technische Entwicklung einem Interesse entspreche, das in der „Organisation der menschlichen Natur“ (Habermas 1969: 56) angelegt sei. Es zeigt sich, dass er hier schon das Grundmuster der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt: die anthropologische Trennung von Arbeit und Interaktion. Und auch ein eigener Begriff der Rationalisierung wird hier schon formuliert. Habermas fordert, „daß zwei Begriffe von Rationalisierung auseinandergehalten werden müssen“ (Habermas 1969: 98). Im Unterschied zum Totalitätsdenken der klassischen Kritischen Theorie, das Gesellschaft in allen Aspekten als durch die Warenform geprägt versteht, geht Habermas davon aus, dass „der institutionelle Rahmen der Gesellschaft immer noch von den Systemen zweckrationalen Handelns selbst geschieden [ist]. Seine Organisation ist nach wie vor eine Frage der an Kommunikation gebundenen Praxis und nicht nur einer wie immer angeleiteten Technik.“ (Habermas 1969: 78f.)

Während die klassische Kritische Theorie davon ausgeht, dass die Warenform sich in allen gesellschaftlichen Bereichen unter je spezifischen historischen Bedingungen durchsetzt und deshalb von einer gesellschaftlichen Totalität gesprochen werden

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kann, gibt Habermas diese Konzeption zugunsten einer zweipoligen Konzeption mit unterschiedlichen Handlungslogiken auf. In Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ verwendet er das Begriffspaar Institution und Arbeit, später wird daraus Lebenswelt und System. Das Problem ist, dass Habermas mit der Trennung des durch Kommunikation bestimmten institutionellen Rahmens auf der einen und der nur technisch verfahrenden Subsysteme auf der anderen Seite deren inneren Zusammenhang kappt. So gelangt er zu einem dualistischen Gesellschaftsverständnis, in dem er die Arbeit in das Subsystem Wirtschaft verweist und diesem bloß technischen Charakter zuspricht, während die durch Kommunikation bestimmte Lebenswelt zum Gegenpol der Produktion wird. Habermas will mit dem Begriff des kommunikativen Handelns eine Möglichkeit aufzeigen, Rationalisierung voranzutreiben und dabei nicht der totalen Verwaltung der Welt zuzuarbeiten, sondern der Emanzipation. Während die Rationalisierung zweckrationaler Systeme zu einer „Steigerung der Produktivkräfte“ und der „Ausdehnung technischer Verfügungsgewalt“ führen könne, wäre eine Rationalisierung des institutionellen Rahmens bzw. der Lebenswelt durch die „Ausdehnung herrschaftsfreier Kommunikation“ im Resultat „Emanzipation, Individuierung“ (Habermas 1969: 64). Was steht nun der Ausdehnung herrschaftsfreier Kommunikation im Weg? Habermas’ Antwort lautet: Ideologie. Allerdings meint er damit nicht die Ideologie des gerechten Tausches, da diese durch die Praxis widerlegt sei (vgl. Habermas 1969: 75). An ihre Stelle trat „eine Ersatzprogrammatik, die an den sozialen Folgen nicht der Institution des Marktes, sondern einer die Dysfunktion des freien Tauschverkehrs kompensierenden Staatstätigkeit orientiert ist“ (Habermas 1969: 76). Im Spätkapitalismus sei das technokratische Bewusstsein das zentrale Ideologem. „Der ideologische Kern dieses Bewusstseins ist die Eliminierung des Unterschieds von Praxis und Technik“ (Habermas 1969: 91). Politische Praxis wäre im Gegensatz zu politischer Technik ein demokratischer Willensbildungsprozess über Fragen des guten Lebens. Diese Praxis wird jedoch durch die „Entpolitisierung der Masse der Bevölkerung“ (Habermas 1969: 78) verhindert. Habermas sieht einen qualitativen Wandel der Ideologie und verweist auf die neue Qualität des technokratischen Bewusstseins: Dieses „ist einerseits ‚weniger ideologisch‘ als alle vorangegangenen Ideologien; denn es hat nicht die opake Gewalt einer Verblendung, welche Erfüllung von Interessen nur vorspiegelt. Andererseits ist die heute dominante, eher gläserne Hintergrundideologie, welche Wissenschaft zum Fetisch macht, unwiderstehlicher und weitreichender als Ideologien alten Typs, weil sie mit der Veränderung praktischer Fragen nicht nur das partielle Herrschaftsinteresse einer

VON DER KRITIK DER TOTALITÄT ZUM FRAGMENTIERTEN BEWUSSTSEIN | 91 bestimmten Klasse rechtfertigt und das partielle Bedürfnis der Emanzipation auf Seiten einer anderen Klasse unterdrückt, sondern das emanzipatorische Gattungsinteresse als solches trifft.“ (Habermas 1969: 88f.)

Habermas erklärt die Entstehung erkenntnisleitender Interessen aus der Geschichte der Menschengattung. Weil die Menschen sich durch den Stoffwechselprozess mit der Natur behaupten, ihr Zusammenleben kulturell organisieren und Konflikte um die Befriedigung individueller Triebansprüche entscheiden müssen, lassen sich drei Medien der menschlichen Vergesellschaftung erkennen: Arbeit, Sprache und Herrschaft. Von diesen ausgehend identifiziert Habermas das technische, praktische und emanzipatorische Erkenntnisinteresse. Während das technische die Reproduktion der Menschen fasst, sieht Habermas im praktischen und emanzipatorischen Erkenntnisinteresse die Grundlage dafür, dass sich gesellschaftlicher Wandel nicht in bloßer Selbsterhaltung und Anpassung an das Gegebene erschöpft (vgl. Habermas 1969: 161 ff.). Habermas führt aus, dass ein praktisches Erkenntnisinteresse gegeben sei, weil Menschen auf die Herstellung intersubjektiver Beziehungen angewiesen sind. Als soziale Wesen sind sie gezwungen, den Sinn menschlichen Handelns, allgemein: den Sinn kultureller Objektivationen des menschlichen Geistes, zu verstehen. Die hermeneutisch verfahrende Geisteswissenschaft sei daher auf dem richtigen Weg. Allerdings müsse diese zur Ideologiekritik weitergeführt werden, indem die gesellschaftliche Vermitteltheit geistiger Objektivationen sowie die gesellschaftliche Standortgebundenheit des/der Hermeneutikers/-in selbst reflektiert wird. Das emanzipatorische Erkenntnisinteresse an Mündigkeit sieht Habermas einerseits in der Sprache fundiert, weil in der Sprache die Möglichkeit der Aufklärung gesetzt ist. „Das, was uns aus Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen.“ (Habermas 1969: 163)

Neben der Sprache sei diese aber auch in der menschlichen Triebnatur angelegt. Diese Referenz auf die menschliche Natur wird in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht mehr aufgegriffen. Zu betonen ist, dass Habermas’ Ideologiebegriff hier noch insofern in der Tradition der klassischen Kritischen Theorie steht, als er diagnostiziert, dass Ideologien weniger unmittelbar legitimatorische Funktion übernehmen. Vielmehr

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würden diese in zunehmend vermittelter Form wirkmächtig, etwa indem Politik und Gesellschaft nur noch unter Machbarkeitskriterien beurteilt und zunehmend als bloß technische Probleme begriffen werden. Dieser technokratische Zugriff wird von Habermas treffend als gläserne Hintergrundideologie beschrieben, da diese gar nicht mehr selbst als Perspektive auftritt, sondern sich als technisches und also unideologisches Wissen über die Funktionsweise von Gesellschaft präsentiert. Diese Diagnose muss vor dem Hintergrund der sozial-ökonomischen Entwicklung der 1960er Jahre interpretiert werden, ist aber zugleich ein Ausweis dafür, dass die habermassche Theorie Gültigkeit nur für Westeuropa und einen sehr überschaubaren historischen Zeitabschnitt beanspruchen kann. Einerseits schien der Kapitalismus in der späten 1960er Jahren gezähmt und die soziale Frage durch den Aufbau sozialer Sicherungssysteme gelöst.3 Die Vorstellung, dass die Wirtschaftsund Gesellschaftsentwicklung durch den Staat gesteuert werden kann, schlägt sich in der Wissenschaft u.a. in der Vorstellung nieder, dass es deren Aufgabe wäre (technische) Modelle für die Lösung gesellschaftlicher Probleme bereitzustellen. Habermas’ Kritik an der Wissenschaft als Fetisch richtet sich gegen diese Vorstellung und er fordert die Reflexion der Momente von Herrschaft und Gewalt, die sich in Sprache auffinden lassen. Aufgabe einer kritischen Sozialwissenschaft wäre also Aufklärung und Befähigung zur Selbstreflexion. (vgl. Habermas 1969: 159) 2.2 Die Veränderung des Ideologiebegriffes durch die Rezeption der Sprachphilosophie Habermas hat den Versuch, ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse anthropologisch zu fundieren später aufgegeben und versucht, dieses unter Anlehnung an Karl-Otto Apels Universalpragmatik zu begründen. Diese enthält für Habermas die Möglichkeit, ein Interesse an Emanzipation auszuweisen und über eine bloße Sollens-Behauptung hinauszugehen. Entscheidend ist dabei die Unterstellung einer universalen Sprachgemeinschaft als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt. Damit will Habermas den Nachweis erbringen, dass sich, wer glaubt, von allgemeinen Regeln der Kommunikation absehen zu 3 Die Zahl der Arbeitslosen in der BRD lag 1968 bei 0,3 Millionen, 1970 bei 0,1 Millionen (vgl. Stapelfeldt 2005: 176f.). Dieser Praxis korrespondiert die Durchsetzung der auf John Maynard Keynes zurückgehende Theorie eines staatlichen gesteuerten Kapitalismus (vgl. Stapelfeldt 2005: 173).

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können, im Kommunikationsprozess in einen performativen Widerspruch verstrickt. Rolf Wiggershaus hat Habermas’ Ziel klar benannt. „Die im Rahmen einer Universalpragmatik als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation aufgezeigten Idealisierungen sollten Normen darstellen, die eine [...] Rechtfertigung der Kritik erlaubten“ (Wiggershaus 2001: 709). Drei Momente sieht Habermas in jeder Sprechsituation immer schon vorausgesetzt, weil Kommunikation ohne sie nicht möglich wäre: „Die gemeinsame Unterstellung einer objektiven Welt, die Rationalität, die sich die handelnden Subjekte gegenseitig unterstellen, und die unbedingte Geltung, die sie in Sprechakten für ihre Aussagen beanspruchen“ (Habermas 2001: 8). In den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (1984) spricht Habermas nicht von notwendigen „Unterstellungen“, sondern von einem „Vorgriff auf die ideale Sprechsituation“, die „für jede mögliche Kommunikation die Bedeutung eines konstitutiven Scheins [hat,] der zugleich Vorschein einer neuen Lebensform ist“ (Habermas 1984: 181). Der Begriff des utopischen „Vorscheins“ ist der Philosophie Ernst Blochs entlehnt. Er erfährt in der Theorie des kommunikativen Handelns jedoch eine starke Bedeutungsveränderung. Habermas’ Handlungstheorie ist „auf den Entwurf einer idealen Kommunikationsgemeinschaft angelegt. [...] Diese Utopie dient nämlich der Rekonstruktion einer unversehrten Intersubjektivität, die zwanglose Verständigung der Individuen ebenso ermöglicht wie die Identität eines sich zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums.“ (Habermas 1995b: 9)

Wie entscheidend sich die Stellung des utopischen Moments damit verändert, wird sich weiter unten zeigen. Die Veränderungen der Theoriebildung von Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ bis zur Theorie des kommunikativen Handelns haben enorme Auswirkungen auf den Ideologiebegriff, seine theoretische Stellung und seinen Sinn. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns sowohl mit zentralen Elementen des Ideologiebegriffs der klassischen Kritischen Theorie als auch mit dem von ihm 1968 noch vertretenen Begriff von Ideologie bricht und diesen neu fasst. Kommunikatives Handeln Habermas schafft mit dem Begriff des kommunikativen Handelns einen neuen Grundbegriff der Handlungstheorie. Er bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die eine interpersonale Beziehung eingehen und Verständigung anstreben mit dem Ziel, ihre Handlungen

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einvernehmlich zu koordinieren (vgl. Habermas 1995a: 143). Habermas begründet den Fokus auf Sprache damit, dass „Sprecher und Hörer sich aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln“ (Habermas 1995a: 142). Wesentlich ist demnach die Bereitschaft zur Verständigung unter Gleichberechtigten, die den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995a: 52f.) zum Zuge kommen lassen wollen. Menschliche Verständigung erfolge durch die Erhebung von Geltungsansprüchen und deren Überprüfung durch die anderen KommunikationsteilnehmerInnen. Diese könnten mit Ja oder Nein Stellung zu erhobenen Geltungsansprüchen nehmen (vgl. Habermas 1995a: 65). Habermas nennt als Rationalitätskriterien die „Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit“ (Habermas 1995a: 27) von Äußerungen. Er ist überzeugt, dass alle Sprechhandlungen, also sowohl jene, die Anspruch auf die Wahrheit propositionaler Aussagen (konstativer Sprechakt), als auch solche, die Anspruch auf Richtigkeit normativer Aussagen (regulativer Sprechakt), und schließlich diejenigen, die Anspruch auf Wahrhaftigkeit in Bezug auf die eigenen Intentionen (expressiver Sprechakt) erheben, handlungskoordinierende Kraft besitzen, die er illokutionär nennt. „Mit der illokutionären Kraft einer Äußerung kann ein Sprecher einen Hörer motivieren, sein Sprechaktangebot anzunehmen und damit eine rational motivierende Bindung einzugehen“ (Habermas 1995a: 376). Worauf basiert nun diese illokutionäre Bindungswirkung? Darauf, dass einE SprecherIn die Gewähr dafür bieten kann, den Geltungsanspruch, den er/sie durch den eigenen Sprechakt erhebt, auch überzeugend zu begründen (vgl. Habermas 1995a: 406). Das heißt, nicht nur der manifeste Inhalt eines Sprechaktes muss verstanden werden, sondern die Gründe für seine Annahme. „Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht“ (Habermas 1995a: 400). Habermas’ These, dass unverzerrtes kommunikatives Handeln immer illokutionäre Wirkung hat, darf angezweifelt werden. Inhaltlich und begrifflich bedient er sich der Sprechakttheorie, stellt diese dabei aber von den Füßen auf den Kopf. Sowohl John Langshaw Austin als auch John Searle betonen mit dem Begriff des illokutionären Aktes, dass Sprache nicht nur der Verständigung dient, sondern dass diese Bindungskraft hat, die maßgeblich aus ihrem (institutionellen) Kontext erklärt werden muss. So hat die Aussage „Ich verurteile Sie zu fünf Jahren Gefängnis“ Bindungskraft, wenn eine Richterin in der Urteilsverkündung diesen Satz spricht, während dieser in anderen Fällen konsequenzlos bleibt. Worte drücken also nicht

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nur etwas aus, sondern diese tun etwas (vgl. Levinson 1983: 229). Denn mit der Sprache ist nicht nur die Möglichkeit der Verständigung gegeben, sondern immer auch die Möglichkeit der Lüge, Manipulation und Machtausübung. Austin und Searle weisen mit der Sprechakttheorie aus, dass Sprache immer vermachtet ist und daraufhin untersucht werden muss. Bei Habermas scheinen Sprechakt und -situation hingegen tendenziell frei von Macht und Herrschaft zu sein. Denn Sprechakte werden nicht nur verstanden, wenn wir wissen, was sie akzeptabel macht (vgl. Habermas 1995a: 400); sie werden auch dann verstanden und befolgt, wenn der/ die SprecherIn in einer Position ist, dass seine/ihre Aussagen bindend sind – und zwar selbst, wenn z.B. einE BefehlsempfängerIn den Sprechakt von Vorgesetzten für nicht sinnig oder zielführend hält. Folglich stellt sich die Frage, warum jemand in einer Machtposition dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments folgen sollte. Eine nur ungenügende Antwort gibt Habermas’ Unterscheidung von verständigungsorientiertem kommunikativem Handeln und erfolgsorientiertem, strategischem sozialem Handeln (vgl. Habermas 1995a: 384f.). Habermas hohe Anspruchshaltung an die KommunikationsteilnehmerInnen wird hier deutlich: Die beiden gegensätzlichen Handlungsorientierungen kommunikativen und strategischen Handelns sollen sich „unter geeigneten Umständen anhand des intuitiven Wissens der Beteiligten selbst identifizieren lassen“ (Habermas 1995a: 386). Habermas fordert demnach von den kommunikativ Handelnden, mit offenen Karten zu spielen und hinter ihren Sprechakten keine strategischen Absichten zu verfolgen. Diese Offenheit unterscheidet kommunikatives von strategischem Handeln. Ob diese Unterscheidung nicht nur theoretisch, sondern praktisch im Alltagshandeln vorgenommen werden kann, ist allerdings äußerst fraglich. Strategische, d.h. nicht verständigungsorientierte Handlungsabsichten lassen sich zwar grundsätzlich erkennen, jedoch meist erst, nachdem diese durchgesetzt wurden. Unter der Hand gerät das Modell der idealen Sprechsituation vom positiven Ideal zur empirischen Realität. Habermas unterstellt, dieses Ideal sei in jeder Sprechsituation immer schon verwirklicht: Sollen und Sein werden nicht klar differenziert – was sein soll wird als schon gegeben objektiviert und Machtverhältnisse werden ausgeblendet. Weil Habermas kommunikatives und strategisches Handeln zwar analytisch unterscheidet, aber aus dem Handeln selbst nicht überzeugend begründen kann, wie dieser Unterschied von den Beteiligten einer Interaktion selbst eingesehen werden kann, verschiebt er die Begründungsleistung seiner Handlungstheorie auf die Lebenswelt und deren Kommunikationsmodus.

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Die Entkoppelung von System und Lebenswelt als Problem und Fortschritt In der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) fasst Habermas die Theoriegeschichte seit Karl Marx als „Entmischung von zwei Paradigmen“ auf, „die nicht mehr zu einem zweistufigen, System und Lebenswelt verknüpfenden Konzept der Gesellschaft integriert werden konnten“ (Habermas 1995b: 303). Dass Handlungsund Systemperspektive nicht mehr integriert werden konnten, hat Folgen für die Ideologiekritik. „Kritische Instrumente, wie beispielsweise der Ideologiebegriff, werden stumpf, weil ein metatheoretischer Rahmen von hinreichender Komplexität innerhalb eines der auseinandergefallenen Paradigmen nicht entwickelt werden kann“ (Habermas 1995b: 303). Konsequenterweise ist die Theorie des kommunikativen Handelns als Verbindung von Handlungs- und Systemtheorie konzipiert. Gesellschaft wird demnach sowohl durch verständigungsorientiertes Handeln innerhalb eines geteilten kulturellen Rahmens (Lebenswelt) als auch vermittels der Medien Macht und Geld (System) integriert. Systemische Integration bedeutet, dass Handlungskoordination nicht mehr normativ, sondern über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stattfindet (vgl. Habermas 1995b: 179). Habermas will zeigen, wie es im Verlauf der Gesellschaftsentwicklung möglich wird, dass Formen systemischer Integration Formen sozialer Integration verdrängen. Wesentlich soll die Theorie des kommunikatives Handelns eine „in System/ Lebensweltbegriffe übersetzte Theorie der Verdinglichung“ (Habermas 1995b: 491) sein. Die Verdinglichungs- und Ideologieproblematik soll nicht mehr über die marxsche Werttheorie oder die geschichtsphilosophische Kritik der zweckrationalen (Max Weber) bzw. instrumentellen Vernunft (Max Horkheimer) erklärt werden, sondern als Folgeerscheinung einer zu weit getriebenen Entkopplung von System und Lebenswelt, die letztlich zu einer inneren Kolonialisierung der Lebenswelt führe. Durch diese Neufassung soll Ideologie und Verdinglichung in allen gesellschaftlichen Bereichen analysiert werden. Die beiden entscheidenden Thesen lauten, dass „die sozialstaatliche Eingrenzung des Klassenkonflikts“ Verdinglichungsprozesse in Gang setzt, die sich „zunehmend klassenunspezifisch“ auswirken (Habermas 1995b: 448). Zudem würden sich ökonomische Krisen nicht mehr im direkten Konflikt von Kapital und Arbeit äußern, sondern wären verschoben und würden in Form von „Störungen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt“ (Habermas 1995b: 452) auftreten. Die kulturelle Lebenswelt und die funktional ausdifferenzierten Subsysteme Staat und Wirtschaft stehen laut Habermas in folgendem Zusammenhang: In modernen Gesellschaften findet die zweckrational organisierte materielle Reproduktion in den Subsystemen Staat (Medium: Macht) und Wirtschaft (Medium: Geld) statt.

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Diese Subsysteme seien allerdings „in der Lebenswelt verankert“ (Habermas 1995b: 259). Habermas’ zentrale These lautet nun, die Entwicklung der Lebenswelt müsse der Ausdifferenzierung von Staat und Wirtschaft vorausgehen. Prägnant formuliert Habermas: „Jede neue Ebene der Systemdifferenzierung bedarf [...] einer veränderten institutionellen Basis, und in dieser Transformation übernimmt die Evolution von Recht und Moral Schrittmacherfunktionen“ (Habermas 1995b: 232). Mit dieser (idealistischen) Theoriekonstruktion soll die pessimistische Einschätzung der Modernisierung, wie sie von der ersten Generation der Kritischen Theorie vertreten wird, ad acta gelegt werden. Hatten Horkheimer und Adorno den Prozess der Rationalisierung als Prozess der Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Entfremdung der Menschen von der Natur interpretiert, so erlaubt die analytische Trennung von System und Lebenswelt, den Rationalisierungsprozess einerseits als Verdinglichungsprozess, andererseits als Fortschritt in der Entwicklung der Lebenswelt zu interpretieren. Denn durch diese Trennung kann unterschieden werden „zwischen einer sozialen, an den Handlungsorientierungen ansetzenden, und der systemischen, durch die Handlungsorientierung hindurchgreifenden Integration der Gesellschaft“ (Habermas 1995b: 179). Die Entwicklung der sozialen Integration deutet Habermas als einen Entwicklungsfortschritt, während die systemische Integration zu einer Kolonisierung der Lebenswelt führe. Allerdings bezieht sich der Zukunftsoptimismus dieser Evolutionstheorie nicht nur auf die Lebenswelt, sondern auch auf die Subsysteme Staat und Wirtschaft (vgl. Habermas 1995b: 499). Geschichte wird als eine schrittweise Entwicklung der menschlichen Vernunft interpretiert, weil der Ausdifferenzierung von Wirtschaft und Staat die Entwicklung von Recht und Moral historisch vorangehen muss. Durch diese kulturtheoretischidealistische Grundannahme unterscheidet sich die Theorie des kommunikativen Handelns wesentlich von der klassischen Kritischen Theorie: Habermas wendet die negative Geschichtsphilosophie der klassischen Kritischen Theorie mit ihren vorsichtigen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in eine Philosophie geschichtlichen Fortschritts.

Die Ersetzung der Gegenständlichkeitsform durch die Verständigungsform Habermas kommt zu einem vernichtenden Urteil über die Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie. Diese sei unhaltbar, weil Horkheimer und Adorno „an den werttheoretischen Grundannahmen als dem Kern ihrer verschwiegenen Orthodoxie festhalten und sich so gegen die Realität des entwickelten, auf der sozialstaatlichen Befriedung des Klassenkonflikts beruhenden Kapitalismus blind machen.“ (Habermas 1995b: 491)

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Die Kritik an Horkheimers und Adornos Ideologiebegriff wird also in Form einer Kritik an der marxschen Werttheorie geübt. Die verschwiegene werttheoretische Orthodoxie von Horkheimer und Adorno sei auch deshalb falsch, weil die marxsche Ideologiekritik der Rolle der Kultur nicht gerecht werde (vgl. Habermas 1995b: 452). Habermas kritisiert, nach der marxschen Theorie träten Prozesse der Verdinglichung „nur in der Sphäre auf […], in der sie verursacht werden – in der Arbeitswelt“ (Habermas 1995b: 503). Diese Kritik ist nicht haltbar, da Marx schon 1844 in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten die umfassenden Formen der Entfremdung und Selbstentfremdung kritisiert hat (vgl. Marx 1982) und die Vertreter der klassischen Kritischen Theorie, besonders Adorno, fortwährend zu Fragen der Kultur gearbeitet haben. Insofern mutet es seltsam an, wenn Habermas als Erneuerung seines Zugriffs ausgibt, was lange zum Inventar materialistischer Gesellschaftstheorie gehört: „Der Prozeß der Verdinglichung kann sich ebensogut in öffentlichen wie in privaten Lebensbereichen manifestieren, und hier ebensogut an der Konsumenten- wie an der Beschäftigtenrolle ansetzen“ (Habermas 1995b: 503). Von Ideologie spricht Habermas hierbei, wenn Systemzwänge „sich gleichsam in den Poren des kommunikativen Handelns verstecken. Daraus entsteht eine strukturelle Gewalt, die sich, ohne als solche manifest zu werden, der Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung bemächtigt. Strukturelle Gewalt wird über eine systematische Einschränkung von Kommunikation ausgeübt; sie wird in den formalen Bedingungen des kommunikativen Handelns so verankert, dass für die Kommunikationsteilnehmer der Zusammenhang von objektiver, sozialer und subjektiver Welt in typischer Weise präjudiziert.“ (Habermas 1995b: 278)

Mit dieser Definition ist auch der Weg für eine mögliche Überwindung von Ideologie angezeigt, die Habermas an der kommunikativen Ausdifferenzierung dieser drei Welten festmacht. Wenn diese stattfindet, könnten konstative, regulative oder expressive Aussagen ihrem Geltungsanspruch nach rational überprüft und durch Ja/ Nein-Stellungnahmen angenommen oder abgelehnt werden. Habermas nimmt an, dass die Menschheit diesen Weg beschreiten wird und konstruiert eine „hypothetische Folge von Verständigungsformen“ (Habermas 1995b: 278ff.). Im Terminus Verständigungsform klingt Lukács’ Begriff der Gegenständlichkeitsformen an. Damit stellt Habermas zwar einen Bezug zur Tradition der marxistischen Ideologiekritik her, grenzt sich jedoch gleichzeitig inhaltlich von dieser Tradition ab. Für Lukács waren die Gegenständlichkeitsformen geschichtlich-gesellschaftlich bedingte Erkenntnisapriori im Bewusstsein. Er fokussier-

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te jene Problemstellungen, „die sich aus dem Fetischcharakter der Ware als Gegenständlichkeitsform [...] ergeben“ (Lukács 2000: 95). Dieser Fetischcharakter ist an die Verallgemeinerung der Warenform und deren je spezifische Ausprägung in den gesellschaftlichen Teilgebieten gebunden. So zielt etwa die Kritik der Kulturindustrie primär auf die Durchsetzung der Warenform im Bereich der Kultur und insofern ließe sich diese mit Recht als Kultur- und Kommunikationstheorie bezeichnen – die allerdings gänzlich anders gelagert ist als die habermassche. Denn die Theorie der Verständigungsformen von Habermas ist universalhistorisch gefasst. Entsprechend ist Ideologie bei Habermas hier Folge struktureller Einschränkungen der Kommunikation. Sie wird bestimmt durch „das relative Apriori der jeweils herrschenden Verständigungsform“ (Habermas 1995b: 283). Dies lässt sich so verstehen, dass Habermas nun die strukturelle Einschränkung der Kommunikation als ideologisch ausweist, weil Sprache die Grenzen dessen bestimmt, was über Gesellschaft gesagt und gedacht werden kann und was nicht. Im Unterschied zu seiner frühen Kritik am technokratischen Denken setzt Habermas die Kritik nun an der Sprache selbst an. Die Fokussierung auf Sprache erscheint sinnvoll aufgrund der zunehmenden Bedeutung von (massenmedialer) Kommunikation und auch die Analyse der Verständigungsformen eröffnet der Ideologiekritik neue Gegenstandsbezüge – allerdings kaum in der von Habermas konzipierten Form. Denn durch Habermas’ spezifische Rezeption der Sprechakttheorie wird die Sicht auf Machtverhältnisse gleich in zweifacher Hinsicht verstellt. Einmal, weil die materiellen und institutionalisierten Ausbeutungs- und Machtverhältnisse, also die vermachteten Rahmenbedingungen von Kommunikation, unterbelichtet bleiben und nur als Störfaktoren der Lebenswelt, nicht aber als deren integraler Teil begriffen werden können. Zum anderen, weil, wie oben gezeigt, der Sprache die Gewalt genommen wird und diese dadurch zu jenem Medium wird, in dem rational und ohne versteckte Interessen kommuniziert wird. Hier ließe sich einwenden, dass Habermas mit dieser Konstruktion einen Ort ausweisen will, der über das Bestehende hinausweist. Aber die Theoriekonstruktion lässt keine Zweifel, dass Habermas die ideale Sprechsituation als schon weitgehend verwirklicht setzt. Er argumentiert, dass durch die kulturelle Evolution der Verständigungsformen die strukturelle Einschränkung der Kommunikation abgebaut wird. Ermöglicht wird dies durch die fortschreitende „Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials“ (Habermas 1995b: 285). Er ist überzeugt, mit dem Prinzip der Versachlichung des Sakralen die Logik der menschlichen Kulturentwicklung, die eine Logik der Entfaltung des menschlichen Rationalitäts-

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potentials ist, gefunden zu haben. Ideologietheoretisch entscheidend ist hierbei, dass Habermas ein geschichtliches Telos der Entwicklung der Verständigungsform behauptet. „Mit der Einebnung des Rationalitätsgefälles zwischen dem profanen Handlungsbereich und einer definitiv entzauberten Kultur büßt diese diejenigen Eigenschaften ein, die sie instand gesetzt hatten, ideologische Funktionen zu übernehmen“ (Habermas 1995b: 519). Habermas geht noch weiter: Dieser Fluchtpunkt kann nicht nur antizipiert werden, sondern dieser sei bereits erreicht. Im krassen Gegensatz zur klassischen Kritischen Theorie ist Geschichte für Habermas ein kognitiver und moralischer Lernprozess, ein echter positiver Fortschritt. Die positive sozialevolutionäre Entwicklungslogik hatte Habermas 1976 in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus umrissen: Auf der Annahme, dass Phylo- und Ontogenese homolog verlaufen, argumentiert Habermas, dass sich in Gesellschaft eine positive sozialevolutionäre Entwicklungslogik durchsetzt – über alle faktischen Rückschritte der konkreten, empirisch erfahrbaren gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik hinweg (vgl. Habermas 1976 9ff., 1995b: 258ff.). Die Verständigungsformen, so das Argument, werden im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung immer rationaler und durchsichtiger und damit finden Ideologien ihr Ende. Zu diesen Ideologien zählt Habermas „ein weites Spektrum wissenschaftlicher, meist pseudowissenschaftlicher Populäranschauungen, die von Anarchismus, Kommunismus und Sozialismus [...] bis hin zu Faschismus und Nationalsozialismus reichen“ (Habermas 1995b: 519). Deutlich zeigt sich, dass Habermas’ Begriff von Ideologie sich hier dem Alltagsverständnis annähert. Fokussierte die habermassche Ideologiekritik vormals das gesellschaftlich gültige, aber hinsichtlich der Emanzipation der Menschen falsche, weil technokratische Verständnis von Gesellschaft, begreift er nun im Sinne von Karl Mannheim alle in irgendeiner Weise normativen Anschauungen als Ideologien. Wenn aber die modernen Verständigungsformen soweit rationalisiert sind, dass Ideologien nicht mehr Raum greifen können, wie kann dann die Kolonisierung der Lebenswelt erklärt werden? Warum können die Menschen diese nicht erkennen? Habermas’ Antwort ist, dass heute an die Stelle umfassender Ideologien ein funktionales Äquivalent tritt – das fragmentierte Bewusstsein (vgl. Habermas 1995b: 521). „An die Stelle des ‚falschen‘ tritt heute das fragmentierte Bewußtsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt“ (Habermas 1995b: 522). Die zunehmende Verdrängung sozialer Integration durch systemische Integration bleibt also deshalb verdeckt, weil „Interpretationsleistungen auf dem Integrationsniveau von Ideologien gar nicht erst aufkommen“ (Habermas 1995b: 521) können. Das Alltagsbewusstsein kann sich infolge entweder an überlebte Traditionen an-

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hängen oder sich auf ein zersplittertes Weltbild einlassen. Beides erlaubt keine stabile Sozialintegration. Weil das Alltagsbewusstsein vage ist, verliert es die Deutungshoheit über die moderne, hochkomplexe soziale Welt zunehmend an ExpertInnen, mit denen es nicht konkurrieren kann und so „wird [es] seiner synthetisierenden Kraft beraubt, es wird fragmentiert“ (Habermas 1995b: 521, Hervorh. im Orig.). Die Folgen dieser Fragmentierung sind drastisch: Die „Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen Assimilation“ (Habermas 1995b: 522). Damit verändert sich die Problemstellung der Ideologiekritik wesentlich: Nicht mehr Ideologien bilden das Problem, sondern dass durch die Fragmentierung keine umfassenden Deutungen der sozialen Welt mehr vorgenommen werden können und über deren Einrichtung also nicht mehr diskursiv entschieden werden kann. 2.3 Kritik der technokratischen EU-Integration. Rückkehr zur Ideologiekritik? Wie sich zeigt, verschiebt Habermas die Bedeutung des Ideologiebegriffs schrittweise „from the belief formation to the public use of shared meanings“ (Bohmann 1999: 65), bevor er den Begriff dann dem Alltagsverständnis von Ideologie annähert und diesen als Analysekategorie fallen lässt. Allerdings zeigt sich u.a. in Habermas’ kritischer Begleitung der EU-Integration und seiner Globalisierungskritik, dass dieser dort partiell an die Diagnosen früherer Arbeiten anschließt. Kursorisch kann dies an einigen Aspekten der habermasschen Kritik verdeutlicht werden. Die habermassche Problemstellung ist, wie ökonomische Effizienz, soziale Sicherheit und Freiheit vereinbart werden können in Zeiten, in denen Staaten zunehmend in internationaler Konkurrenz stehen, ihre Politik primär an der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit ausrichten und dabei die soziale Integration vernachlässigen (vgl. Habermas 1998: 67ff.). Hinsichtlich der Integration der EU stellt Habermas ebenfalls einen Verlust der Kontroll- und Steuerungsfähigkeit der Staaten gegenüber den Märkten fest. Er kritisiert, dass die EU nicht allein als ökonomisches Projekt betrachtet werden darf, sondern es der Herstellung eines solidarischen europäischen Volkes bedarf, die dann erst erlaubt, redistributive Maßnahmen innerhalb der EU und eben nicht nur innerhalb der Nationalstaaten zu legitimieren (vgl. Habermas 2009: 158). Problematischerweise aber würde im Integrationsprozess die Steuerungsfähigkeit über die demokratische Legitimität der

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Institutionen wie des Einigungsprozesses selbst gestellt (vgl. Habermas 2013a: 92). Dies bleibt nicht ohne Folgen: „Ohne Rückkopplung mit einer dynamischen Öffentlichkeit und einer mobilisierbaren Bürgergesellschaft fehlt dem politischen Management der Antrieb, um die Imperative des anlagesuchenden Kapitals mit Mitteln demokratisch gesetzten Rechts und nach Maßstäben politischer Gerechtigkeit in sozial verträgliche Bahnen zu lenken.“ (Habermas 2013a: 91)

Die fehlende Legitimation des Einigungsprozesses ist damit konstitutiv für die Herrschaft der „Expertokratie“ (Habermas 2013b: 143). Diese Diagnosen lassen sich im Anschluss an Habermas’ Kritik der Technokratie ideologietheoretisch lesen. Habermas zeichnet nach, wie ökonomische Zwänge und neoliberale Denkmuster auf Mikro- wie Makroebene korrespondieren und sich selbst als rein technische, vernünftige, alternativ- und also ideologielose Prozesse präsentieren. Habermas benennt die politischen und sozialen Folgen der technokratischen Integration und bezeichnet treffend, dass die Subjekte zunehmend mit dem Zwang zur Optimierung und Anpassung an den Arbeitsmarkt konfrontiert werden. Gegen „vernunftkritisch abgerüstete Gesellschaftstheorien“ (Habermas 1998: 80, Hervorh. im Orig.), die Habermas in die Tradition Martin Heideggers einordnet und die predigten, dass „die Töchter und Söhne der Moderne [...] wieder lernen [sollen], in andächtiger Erwartung eines unbestimmten Seinsgeschicks ihr Knie zu beugen“ (Habermas 1998: 80), hält Habermas am normativen Selbstverständnis der Moderne fest. Für die europäische Einigung wie auch hinsichtlich der Idee einer politischen Weltgesellschaft gälte es, die Selbststeuerung von Gesellschaft unter der Prämisse deliberativer Demokratie gegen die nur scheinbar alternativlose und an Effizienzkriterien ausgerichtete Expertokratie stark zu machen. Habermas will über gesellschaftliche Zwänge aufklären und kritisiert die Verklärung von Ideologien zu ideologiefreien Sachzwängen. Die Stärke dieser Kritik liegt in ihrem engen und aktuellen Gegenstandsbezug, ohne dass darüber die historische Dimension der Diskussion ausgeblendet wird. Zugleich aber wird hier deutlich, dass Habermas den Begriff der Ideologie verabschieden musste, weil er sich der zentralen Idee der diskursiven Übereinkunft sperrt. Denn während diese keine Wahrheit als die diskursiv vereinbarte kennt und entsprechend ergebnisoffen und ziellos ist (vgl. Habermas 1971: 222ff.), bestimmen sich Wahrheit und Ideologie im Sinne der klassischen Kritischen Theorie an einer versöhnten Gesellschaft. Wie dies im Konkreten sich gestalten kann ist unklar, ex-negativo lässt sich aber über die Kritik aktueller Gesellschaft zeigen, dass diese gewisse Minimalanforderungen zu erfüllen hat, die

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sich benennen lassen: die Abschaffung verdinglichter, entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse, Angst und Hunger; kurz: soziale Revolution. Es ist also maßgeblich das transzendentale Moment des Ideologiebegriffs, das sich der deliberativen Demokratie und damit auch der Kritik der EU-Integration sperrt.

3. G rundlegende D ifferenzen Die Theorie des kommunikativen Handelns bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine Abkehr von Positionen, die Habermas vormals vertreten hatte. Er beschreibt diese als „Wendung von Erkenntnis- zur Kommunikationstheorie“ (Habermas 1982: 10f.). In dieser Wendung lässt er die marxsche Werttheorie genauso fallen wie den unter Rückgriff auf Freud geschärften Begriff der Ideologie. Die Veränderungen lassen sich an einigen Entwicklungssträngen aufzeigen. Die ideale Sprechsituation antizipiert Habermas schon vor der Theorie des kommunikativen Handelns. In den früheren Schriften, etwa in Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘, ist der Vorgriff ein utopisches Bild, das nur in der Kritik, also negativ bestimmt wird (vgl. Habermas 1984: 181). In der Theorie des kommunikativen Handelns sind die notwendigen Unterstellungen – wie der Vorgriff nun genannt wird – positiv ausgewiesen. Während Habermas in den späten 1960er Jahren die herrschaftlichen Momente von Sprache und Arbeit (ideologiekritisch) zu Bewusstsein bringen will, wird dieser Anspruch mit der Konstruktion des kommunikativen Handelns aufgegeben. Dadurch, dass der innere Zusammenhang von Arbeit (Produktion) und Kommunikation (Lebenswelt) aufgekündigt wird und diesen Bereichen unterschiedliche Medien zugeschrieben werden, geraten sowohl die herrschaftlichen Momente der Arbeit als auch die der Lebenswelt aus dem Blick. Die Produktion ist nicht mehr Ort der Mehrwertproduktion und als solcher Ursprung von Ausbeutung und Ideologie. Die Produktion von Waren wird vielmehr als ein quasi ideologieloser technischer Prozess und notwendiger Teil gesellschaftlicher Modernisierung interpretiert (vgl. Breuer 1985: 59). Der Gegenstandsbezug verschiebt sich also wesentlich. Die Veränderungen des Arbeitsprozesses und die damit korrespondierenden Veränderungen der Subjektivität werden ebenso vernachlässigt wie Habermas’ methodologischer Nationalismus die globale Dimension kapitalistischer Warenproduktion und -zirkulation ausblendet. Wenn Habermas die kapitalistischen Systemzwänge und Konkurrenzverhältnisse im Spätwerk zum Gegenstand macht (vgl. Habermas 1998, 2009, 2013a, 2013b), geschieht dies – wenig überraschend – ohne Rückgriff auf die in der Theorie des kommunikativen Handelns

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gewonnenen Einsichten und Theoreme, da diese dafür nicht fruchtbar gemacht werden können. Ebenfalls unterbelichtet bleiben einmal die für Kommunikation konstitutiven Bedingungen, allen voran jener bei Freud als schmerzhaft und entbehrungsvoll beschriebene Prozess der Subjektwerdung. Zudem finden die herrschaftlichen Momente der Sprache nicht ausreichend Berücksichtigung. Wenn erst das Einsickern lebensweltfremder Handlungslogiken zum Problem wird, zeigt dies, dass die Lebenswelt selbst und die Kommunikation als Orte verwirklichter Rationalität geheiligt und im Gegensatz zu Habermas’ früheren ideologiekritischen Schriften der Kritik entzogen werden. Eine macht- und herrschaftssoziologisch adäquate Erfassung von Kommunikation wird dadurch unmöglich. Die Theorie des kommunikativen Handelns bietet keinen Raum für die Analyse des historisch spezifischen Sozialcharakters der Subjekte und deren sozialer Nahbeziehungen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass der Anspruch der Theoriebildung und die Verbindung der Theorieelemente durchweg offen bleibt: Die Theorie ist universalhistorisch angelegt, konstruiert eine historische Abfolge von Kommunikationszusammenhängen, argumentiert dabei aber gerade nicht immanent, wie Herbert Schnädelbach meint (vgl. Schnädelbach 1987: 257), sondern abstrakt. Die Abfolge der Kommunikationstypen ist nicht historisch-soziologisch rekonstruiert, sondern heuristisch konstruiert. Es dürfte der Deutungsoffenheit des Lebensweltbegriffs geschuldet sein, dass Lebens- und Systemwelt zu sozialwissenschaftlichen Schlagwörtern wurden. Zentrale Begriffe, wie etwa Lebenswelt, bleiben jedoch unklar: Wie man annehmen muss, umfasst der Begriff familiäre und freundschaftliche Beziehungen sowie eine nicht näher bestimmte Schnittmenge von Kultur, Sozialem und Privatem. Die Veränderungen in der habermasschen Theoriebildung finden ihren Ausdruck in der Veränderung von theoretischen Anschlusspunkten, Begründungsmustern und Diagnosebegriffen wie dem der Ideologie. Interessant ist hier vor allem, dass Habermas’ Bruch mit der Ideologiekritik den Umweg über die Radikalisierung des Begriffes nahm. In Theorie und Wissenschaft als ,Ideologie‘ äußert Habermas, Ideologie habe sich heute so verallgemeinert, dass sie zur gläsernen Hintergrundideologie werde und stellt treffend fest, Gesellschaft würde maßgeblich nur noch hinsichtlich ihrer (technischen) Fähigkeit beurteilt, Güter bereitzustellen. Habermas’ frühe Antwort darauf war die Offenlegung und Bewusstmachung der Herrschaft in Arbeit und Sprache, kurz: (Selbst-)Aufklärung. Auf dem Weg zur Theorie des kommunikativen Handelns wählt Habermas dann einen anderen Zugriff, der seinem Selbstverständnis nach eine Rekonstruktion des Historischen Materialismus ist, auf dem er aber wesentliche gesellschaftstheoretische Aussagen

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sowohl der marxschen als auch der klassischen Kritischen Theorie verwirft. Es scheint, dass Habermas gerade aufgrund der Diagnose, Ideologie habe sich als gläserne Hintergrundideologie verallgemeinert, in der Theorie des kommunikativen Handelns die politische Öffentlichkeit als letzte Bastion gegen die umfassenden kapitalistischen Zwänge ausweisen musste – eine theoretische Wendung, die innerhalb des politikwissenschaftlichen Fachdiskurses äußerst einflussreich war. Denn die Vorstellung, dass es doch wenigstens einen Ort geben muss, der sich systemischen Zwängen sperrt, bietet diverse Anknüpfungspunkte für Legitimationsversuche der Gegenwartsgesellschaft, d.h. Ideologien, denen Habermas vormals auf den Leib gerückt wäre – mit Ideologiekritik.

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II Dialoge zwischen differenten Forschungsprogrammen und Paradigmen

„Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies!“ Die Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern als paradigmatische Diskurskonstellation EVA SEIDLMAYER „Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies!“ (Galen 2006: 16,1-17,3.) „Was hat denn das mit uns zu tun? Ist das etwa unsere Schuld? Schuldige die Natur an [...]!“ (Cicero 1995: 32.) „[Ihr] zerstört das ganze Leben von Grund auf. [...] Es fällt schwer, über [euren] Leichtsinn so zu sprechen, wie es die Sache eigentlich erforderte!“ (Cicero 1995: 31.1)

Verhärteter als in diesem Streit könnten die Fronten gar nicht sein. Der kurze aus historischen Quellen arrangierte Dialog gewährt einen schnellen, aber heftigen Eindruck in eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, an deren Ende beide Seiten schließlich die Fortführung des Gesprächs verweigern und in Schweigen verfallen. Und obwohl mit diesem Konflikt eine antike Auseinandersetzung vor-

1 Die Übersetzung ist aus stilistischen Gründen der Skizzierung eines Streitgesprächs aus der dritten Person Singular in die zweite gesetzt und modifiziert nach Christoph Schäublin.

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liegt, ist deren Verstehen durchaus auch für aktuelle Kontexte interessant, denn hier liegt eine ganz typische Diskurskonstellation vor, deren systematisches Gefüge der Argumente bis in die Gegenwart hinein Konflikte strukturiert und bestimmt. Der scheinbare Gegensatz zwischen den zwei hier paradigmatischen philosophischen Schulen der Skeptiker und Stoiker taucht ganz ähnlich auch in anderen Kontexten wieder auf. So gibt es beispielsweise gute Gründe, den skeptischen Ansatz und seine Absetzung von den dogmatischen Begriffen der Stoiker in einer Verbindung zu postmodernen Theorien und ihrer Kritik am Essentialismus oder auch an normativen Kategorien zu sehen, wie sie etwa die Kritische Theorie vertritt. Ähnlich den Skeptikern setzt Judith Butler eine Vorstellung situativer performativer Begriffe dagegen. Und auch das Ringen um die richtige Deutung des Sorites-Paradox, das ich später vorstelle, ist nicht nur eine Gedankenspielerei antiker Philosophen, sondern wirkt beispielsweise in der juristischen Begründung von Abtreibungen und der Definitionen des Menschseins bis in unser tägliches Leben hinein.2 Dieser Text versteht sich demnach als Beitrag dazu, auf ein bestimmtes, historisch wiederkehrendes systematisches Missverstehen aufmerksam zu machen. Am Beispiel der antiken Debatte zwischen den Stoikern und (pyrrhonischen wie auch akademischen) Skeptikern wird das Missverstehen auf unterschiedliche theoretische und normative Ausgangspunkte zurückgeführt, um so zu ermöglichen, diese auseinanderzuhalten. Die Untersuchung des Missverstehens anhand des antiken Paradigmas wird sich entlang dreier Aspekte dem Streit annähern. Zunächst werde ich die unterschiedlichen Standpunkte, die beide Seiten in der Debatte vertreten, vorstellen: Worum geht es in der Auseinandersetzung? Warum gelingt es den Beteiligten nicht, die jeweils andere Seite zu überzeugen, und warum scheint eine Verständigung prinzipiell unmöglich? Denn zwar geht es in dem antiken Streit vordergründig um die objektwissenschaftliche Auseinandersetzung über Wahrheit, aber – und das ist die grundlegende Annahme der Überlegungen hier – diese ist eng mit gesellschaftlichem Handeln verknüpft. In einem ersten Schritt (Abschnitt 1) werde ich die antiken

2 Tatsächlich reicht der Einfluss des Sorites-Arguments bis in ganz lebenspraktische Dinge unserer modernen Gesellschaft hinein. So folgt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen der Argumentationsfigur der Skeptiker. In dem auch heute noch gültigem Urteil von 1975 greift das Gericht das Kontinuitätsargument auf, wenn es vom menschlichen Entwicklungsprozess als „kontinuierlichem Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist“ spricht, und damit die Unzulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu Gunsten des Schutzes des Embryos begründet (vgl. BVerfGE 39, 1-95).

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philosophischen Debatten darstellen, zuerst auf der epistemischen Ebene und dann auf der Handlungsebene. Meine These ist dabei, dass das Denken in fundamentalen Zügen, das die Stoiker vertreten, sie zu einem nach außen in die Gesellschaft hineinwirkenden Handlungsansatz führt. Handlungen werden hier hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Gesellschaft beurteilt, während die Skeptiker mit ihrer Zurückhaltung von Urteilen zu einem nach innen gekehrten Handlungsansatz tendieren. Ich werde zeigen, dass dies auf das skeptische individualistische Konzept von Wahrheit zurückzuführen ist. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den beiden antiken Theorietraditionen werden beide vor allem in ihrem historischen Kontext rekonstruiert und selten in ein systematisches Verhältnis gesetzt. Ebenso selten wird versucht, einen systematischen Bogen in die Gegenwart zu schlagen. Demgegenüber entwickelt beispielsweise Dietmar Heidemann das Verhältnis von Skeptizismus und Dogmatismus als integrativen Antiskeptizismus (vgl. Heidemann 2007). Entgegen meinem Anliegen sieht Heidemann dabei aber von einer Bezugnahme dieser theoretischen Konstellationen auf die Praxis ab. Demgegenüber verfolgt Markus Gabriel ein systematisches Interesse, das die Aktualität der antiken Debatte von Dogmatisten und Skeptizisten zu gegenwartsphilosophischen Ansätzen herausstellen soll (vgl. Gabriel 2009). Er entwickelt aber eine sehr starke These, wenn er hier bereits eine Auseinandersetzung zwischen Solipsisten und Realisten sieht. Meine Arbeit versucht ebenfalls, einen systematischen Blick auf die Debatte zu werfen, dabei aber entgegen einer Kontinuitätsthese ein anknüpfbares Verständnis zu entwickeln, das dazu beitragen kann, auch andere Konflikte besser zu verstehen. Anschließend an die historische Rekonstruktion werde ich die verschiedenen Ansätze, die in der Analyse der antiken Debatte auffällig waren, systematisch rekonstruieren (Abschnitt 2). Unter Bezugnahme auf den Pragmatismus John Deweys wird im Folgenden die Nützlichkeit und die kontextuelle Angemessenheit der verhandelten Ansätze, die die Stoiker und Skeptiker einnehmen, diskutiert. Überlegungen dazu, wie die Vernunft das Handeln bestimmt, finden sich viele in der langen Philosophiegeschichte von Aristoteles über Kant bis hin zu Heidegger. Aber keiner hat so klar wie Dewey die Bedeutung einer philosophischen Vorstellung von dem tatsächlichen Nutzen einer durch sie bewirkten Handlung abhängig gemacht. Zwar unterscheidet auch Dewey selbst solche Ansätze, wie ich sie hier beschreibe, und charakterisiert sie als praxis- bzw. theorievergessen, aber er bringt sie nicht auf einen Begriff. Vor diesem Hintergrund werde ich ein heuristisches Werkzeug, den Arbeitsbegriff der Zugänge zur Welt vorschlagen, der es ermöglicht, die Ansätze als unterschiedliche Zugänge zu verstehen, die sich nicht ge-

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genseitig sperren müssen. Entlang der Positionen, die beide antiken Theorieschulen im Sorites-Paradox einnehmen, wird noch einmal deutlich, worin die Unterschiede und Berührungspunkte eines nach außen und eines nach innen gewendeten Zugangs bestehen (Abschnitt 3).

1. W orum

geht es ?

Um

das gute

L eben !

Die kurzen Zitate aus dem obigen arrangierten Dialog stammen aus überlieferten Texten von und über die Stoiker und die akademischen sowie pyrrhonischen Skeptiker. Sie führten eine Kontroverse darüber, wie und ob Werte bestimmt werden können, an denen sich ein gutes Leben orientieren kann. Vordergründig diskutierten sie dies entlang der Frage, wie und ob Wahrheit zu erkennen sei. Die Differenzen in der Konzeption von Wahrheit bestehen unter anderem darin, ob diese als abgeschlossen vorgestellt wird oder aber als noch nicht abgeschlossen und veränderbar und dann, ob sie überhaupt irgendwann abgeschlossen sein wird. Ein anderer wichtiger Aspekt ist der der Verortung von Wahrheit. Dabei kann Wahrheit intern verortet und an die eigene Wahrnehmung gebunden sein; oder sie wird als extern angesehen und ist damit dem Zugriff der Gestaltung entzogen.3 (i) Die Stoiker verstanden die Wahrheit als externes Prinzip. Als dieses Prinzip stellten sie etwas vor, das alles durchzieht, alles durchdringt, an dem sie also auch teilhaben, das ihnen aber äußerlich ist und durch sie bloß verwirklicht werden kann. Die stoische Vorstellung von Wahrheit war dabei eine der klaren, eindeutigen Erkennbarkeit. Die Wahrheit galt als abgeschlossen und eindeutig begreifbar

3 Nach Jonathan Barnes unterscheiden sich die meisten Erkenntnistheorien durch ihr jeweiliges Kriterium für Erkenntnis (vgl. Barnes 1990). Er stellt dabei zwei zentrale Begründungsschemata fest, die er in einem generellen Schema der Epistemologie zusammenfasst: Zum einen, die Gültigkeit einer Sache von einem äußeren Kriterium abhängig zu machen; zum anderen, die Möglichkeit diese Gültigkeit zu einer in sich selbst begründeten Wahrheit zu machen. Im ersten Fall ist das Kriterium für Wahrheit von einem Außen abhängig; es ist extern bezogen. Im zweiten Fall der relationalen Beziehung von Wahrheit ist das Kriterium auf sich selbst gewendet. Ein external account of knowledge steht einem internal account gegenüber (vgl. Barnes 1990: 222). Hier soll Barnes’ Schema einen Rahmen bieten, innerhalb dessen die unterschiedlichen Akzente, die die pyrrhonischen und die akademischen Skeptiker wie auch die Stoiker setzen, verstanden werden können.

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(katalêptos). (ii) Dagegen lehnte es die akademische Skepsis ab, eine Gewissheit über die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage haben zu können. Sie ging stattdessen von der Plausibilität (eulogon – Arkesilaos) oder Glaubwürdigkeit (pithanon – Karneades) aus (vgl. Long/Sedley 2006: 548f.). Was die akademischen Skeptiker glaubhaft fanden, war glaubhaft, aber immer nur innerhalb einer Situation und nur für ein Individuum. Mit ihrer Ablehnung dogmatischer Begriffe handelten sie sich den Vorwurf der Handlungsunfähigkeit ein: „‚Aber wie kommt es, dass jemand, der sein Urteil zurückhält, nicht ins Gebirge entschwindet, anstatt ins Bad zu laufen, und dass er, wenn er zum Marktplatz laufen will, aufsteht und nicht zur Wand geht, sondern eben zur Tür?‘ Fragst du [...] Weil ihm natürlich das Bad und nicht das Gebirge als das Bad erscheint und als Tür nicht die Wand, sondern die Tür, und entsprechend bei allem anderen“ (Plutarch 2006: 1122e),

antwortet Plutarch im Sinne der akademischen Skepsis. Das Glaubhafte in der Situation reicht den Akademikern aus, um ihre Handlungsfähigkeit zu begründen. Die einzelnen Situationen und das, was darin als glaubhaft gelten kann, waren unverbunden. Wahrheit ist also keine Vorstellung, die einzelne Situationen umfasst und übersteigt, sondern auf den Kontext bezogen. (iii) Auch die pyrrhonische Skepsis schließt sich der Kritik an den dogmatischen Begriffen der Stoiker an. Sie lehnt dabei aber nicht nur die Existenz von Wahrheit, sondern ebenso die Position der akademischen Skeptiker, es gäbe prinzipiell keine Wahrheit, als dogmatisch ab (vgl. Sextus 1985, II 79). Dagegen radikalisierten die pyrrhonischen Skeptiker die skeptischen Position einer konsequenten Urteilsenthaltung (epoché) noch, die sie als logische Konsequenz aus dem Scheitern des Dogmatismus betrachten (vgl. Sextus 1985, I 26-27). Stattdessen sehen sie die Wahrheit in der Wahrnehmung und damit in Relation zur je spezifischen Situation und zum je spezifischen Subjekt: „Wenn wir sagen, dass der Skeptiker nicht dogmatisiere, dann meinen wir nicht jene Bedeutung von ‚Dogma‘, in der einige ‚Dogma‘ ganz allgemein die Billigung irgendeiner Sache nennen. Denn den vorstellungsmäßig aufgezwungenen Erlebnissen stimmt der Skeptiker zu.“ (Sextus 1985, I 13).4 Die pyrrhonische Skepsis begriff Wahrheit also als lediglich erfahrbar und auf jede einzelne Situation bezogen. Den akademischen und pyrrhonischen Skeptikern ging es wie den Stoikern dabei um das gute Leben. Aber obwohl die genannten philosophischen Positionen ihre erkenntnistheoretischen Überlegungen auf das gute Leben hin anstellten, zei4 Vergleiche auch ähnliche Formulierungen in Sextus 1985: I 19 und PH I 193.

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gen sich gerade hier, in der praktischen Dimension, massive Unterschiede. So sind auch die Stoiker (i) an den einzelnen Menschen und ihrem guten Leben interessiert. Doch dieses ist für sie durch ein abstraktes vernünftiges Allgemeines vermittelt. Für die Stoiker bedingt die Wahrheit – gerade im Gegensatz zu den körperlichen Leidenschaften – einen eigenen Willen, der aus den Notwendigkeiten der Leidenschaften ausbricht (vgl. Hadot 2011: 39).5 Anders als man durchaus vermuten könnte, folgt daraus aber nicht ein Stillhalten in Erwartung einer ohnehin feststehenden Wahrheit oder einer passiven Verwirklichung ihres Dogmas. Stattdessen führt dieser Ansatz die Stoiker dazu, nach der Verwirklichung dieser Wahrheit zu streben. Die Orientierung an einem externen Vernünftigen führt also im Falle der Stoiker zu einem aktiven Handeln mit dem Ziel, dieses Vernünftige, diese Wahrheit zu realisieren. Es bleibt die Ausrichtung nach außen und die Bereitschaft, Öffentlichkeit im Sinne dieser Wahrheit zu gestalten. (ii) Einen ganz anderen Effekt auf die gute Lebensführung hatten die Überlegungen der Akademiker. Für sie ist Handeln immer nur ein Handeln in der konkreten Situation und nicht langfristig angelegt oder an langfristigen Werten ausgerichtet. Gegenüber der Einbindung in politische und gesellschaftliche Kontexte, in denen man sich beispielsweise engagieren oder etwas gestalten kann, fördert der akademische Skeptizismus den Rückzug aus diesen öffentlichen Strukturen in die eigene Privatheit. Auf diesen Rückzug ins Private verweisen historische Quellen, wie ein Bericht Ciceros. Er erzählt von Kleitomachos, der nach der Zerstörung Karthagos ein Buch für die in der eroberten Stadt gefangenen Mitbürger geschrieben hatte. In diesem Buch argumentiert er im Sinne Karneades’ dagegen, darüber zu trauern, dass die Stadt von Feinden erobert worden ist (vgl. Cicero 1991: III 54). An solchen Anekdoten lässt sich der geringe Stellenwert erkennen, den öffentliche Strukturen für die Akademiker hatten – zumindest in der Meinung ihrer Zeitgenossen. (iii) Für die Pyrrhoneer lässt sich in Bezug auf ihr Handeln etwas Ähnliches feststellen: Mit der Formulierung des Wirklichen als Prinzip oder Formel, muss auch jede ethische Regel formelhaft verbleiben. Die Feststellung, die Akademiker seien eben keine „social reformers“ (Bett 2010: 192) kann wohl durchaus auch für die Pyrrhoneer gemacht werden. Und auch sie können keine social reformers sein, weil sie eben keine allgemeingültigen Werte vertreten. Die Relativität von Eindrücken, Aussagen und damit von Wahrheit, die immer nur

5 Michael Frede hat darauf hingewiesen, dass diese Verwirklichung der Vernunft und diese Wendung nach außen dabei soweit führte, sogar eigene Konzepte zu entwerfen und diese als im Einklang mit der Wahrheit zu betrachten (vgl. Frede 1987: 166).

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für die Einzelnen ist, erschwert den Austausch mit anderen. Die Überbetonung der eigenen Perspektive droht in den Kontaktabbruch zu anderen Menschen zu münden. Oder sogar, wie Vittorio Hösle meint: in Schweigen (vgl. Hösle 1984: 663). Es wird schwer, über irgendetwas zu sprechen, wenn jede Wahrnehmung nur noch auf die Einzelnen bezogen ist und vermittelt werden und erklärt werden muss. Mit dem Problem der Kommunikation wächst auch das Problem, mit anderen zu interagieren. Mit anderen etwas zu organisieren, etwas zu gestalten, abseits von den eigenen gemachten Erfahrungen, scheint auf der Grundlage der pyrrhonischen Position prekär. Die pyrrhonische Theorie, wie sie von Sextus dargestellt wird, liefert keine Grundlage, auf der beispielsweise für einen späteren Zweck zunächst unangenehme Erfahrungen in Kauf genommen werden könnten. Diese Ebene – etwa einer Vorausplanung – ist durch die Bestimmung von Wahrheit als unmittelbare Erfahrung unmöglich gemacht. Auf ihre unterschiedlichen Interessen an der Welt befragt, zeigt sich auf der Handlungsebene in der antiken Debatte ein starker Kontrast zwischen den Richtungen der Skepsis und der Stoa, der auf ihre erkenntnistheoretischen Positionen zurückgeführt werden kann: Die skeptische Forderung nach dem Verzicht auf einen Objektivitätsanspruch, der ein Rückzug in die Selbstgewissheit der eigenen Subjektivität gegenübergestellt wird, ist vor allem am Individuum interessiert.6 Das Individuum ist der Ort, an dem Wirklichkeit erfahren und begriffen werden kann.7 Hier geht es um das Zu-sich-Kommen des einzelnen Subjekts, um seine Verwirklichung. Der Stoa ging es stattdessen um etwas ganz anderes: Zwar ist auch bei ihr das Subjekt der Ausgangspunkt, dieses wollte aber weniger sich selbst, sondern vielmehr eine externe Wahrheit realisieren. Dieser Blick der Stoa nach außen hat handlungspolitische Konsequenzen, indem er den Begriff der Wahrheit an deren gesellschaftspolitische Realisierung rückbindet.

6 Gleichzeitig musste diese Herauslösung aus dogmatischen Strukturen und die Sicherung der subjektiven Handlungsfähigkeit, auch in eine Überbetonung dieser Subjektivität führen, die Vittorio Hösle als gerade „typisch“ für die akademische Skepsis bezeichnet (vgl. Hösle 1984: 661). 7 Und doch ist, wie ich gezeigt habe, der Vorwurf der Gleichgültigkeit, der den Pyrrhoneern manchmal gemacht wird, in dieser Schlichtheit nicht zu halten. Der Rückzug in die eigene Erfahrungswelt, den sie propagieren, muss vielmehr als Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichem Streben, als ein Rückzug ins Private verstanden werden, aber nicht als Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst.

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2. Z ugang

zur

W elt –

ein heuristisches

W erkzeug

In der Skizze der philosophischen Debatte zwischen Stoikern und pyrrhonischen sowie akademischen Skeptikern entsteht der Eindruck, dass ihre unvereinbaren Positionen mit einer gegenläufigen Tendenz zusammenhängen, das Leben zu führen und dazu Perspektiven einzunehmen. Dies ist kein Zufall, sondern hat systematische Gründe. Doch wie lassen sich solche unterschiedlichen Ansätze, die sowohl die erkenntnistheoretische Erklärung von Welt, als auch das tatsächliche Handeln in den Blick nehmen, adäquat beschreiben? Es fehlt an einer systematischen Kategorie, um die notwendige Beziehung von Denken und Handeln fassen zu können. Hier ist es die Aufgabe von Philosophie, Strukturen zu erkennen und Kategorien zu entwerfen, mit denen die beobachteten Zusammenhänge beschrieben werden können. Dabei muss die Kategorienbildung von den einzelnen konkreten Bedingungen abstrahieren. Und gleichzeitig darf der Versuch, eine Kategorie zu schmieden dabei aber nicht bedeuten, ihre absolute, ständige Permanenz in allen möglichen Kontexten anzunehmen; als eine ubiquitäre und latente Kategorie. Vor diesem Hintergrund ist es stattdessen viel eher geboten, heuristische Werkzeuge anzubieten, an die im jeweiligen Fall angeknüpft werden kann. Für das Projekt, die Auswirkungen erkenntnistheoretischer Konzepte auf der Handlungsebene besser zu verstehen, ist es daher notwendig, ein solches heuristisches Werkzeug zu bestimmen, das auch auf den jeweiligen Kontext Bezug nimmt, in dem es steht. Der Begriff der Attitüde aber scheint vorbelastet, wie auch der Begriff des Interesses vor allem auf die rationale Seite der Beziehung hinzudeuten scheint. Ebenso ist der Begriff der Haltung auf eine ethische Bedeutung festgelegt.8 Bei John Dewey tauchen die für die antike Debatte erarbeiteten Ansätze ganz ähnlich auf, wenn er in Die Suche nach Gewissheit von einer Praxis vergessenen dogmatischen Theorie und einer Praxis bewussten offenen Theorie schreibt. Im Folgenden werde ich unter Rückgriff auf Deweys instrumentelles Konzept des Nützlichen versuchen, ein heuristisches Werkzeug in die Hand zu nehmen, das zwar auch immer wieder bei Dewey durchscheint, aber bei ihm nicht auf einen Begriff kommt. Mit der Bezeichnung Zugang zur Welt wähle ich dabei einen Begriff, der noch nicht assoziativ vorbelastet ist. Er soll einerseits den Graben zwischen Denken und Handeln überbrücken und andererseits unterschiedliche Konzepte auf divergierende Handlungsausrichtungen zurückführen. Dabei geht es auch darum, beide 8 Zum Begriff der Haltung hat zuletzt Frauke Kurbacher intensiv gearbeitet.

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Zugänge als Antworten auf unterschiedliche Problematiken dechiffrieren zu können. Dewey versteht Wahrheit als das Nützliche: Das, was sich in der Praxis bewährt und nützlich ist, gilt auch auf der theoretischen Ebene als wahr. Die Wahrheit einer Aussage misst sich somit daran, ob sie eine zutreffende Vorhersage machen kann, durch die das jeweilig gesetzte Ziel realisiert wird. Insofern zeigt sich im Handeln, ob etwas wahr ist, anhand von erreichten oder nichterreichten Zwecken. Mit dieser Rückbindung von Handlungseffekten an ihren theoretischen Kontext wird es möglich, die Konzeptionen von Stoikern und Skeptikern als unterschiedliche Zwecksetzung zu verstehen. In der Analyse der historischen Debatte hatten wir gesehen, dass die unterschiedlichen Handlungseffekte mit anderen erkenntnistheoretischen Erklärungen zu tun hatten: Entweder wurde am einzelnen Individuum angesetzt oder aber das Ganze in den Blick genommen, von dem das Individuum nur ein Teil ist. Es ist sicherlich nicht zufällig, dass Dewey beide Aspekte in seiner Bestimmung des Wertes, als Kriterium dafür, was nützlich genannt werden kann, einfließen lässt. Die Nützlichkeit einer Sache erschöpft sich für Dewey dabei weder in einem Erlebnis, in der subjektiven Erfahrung, die jemand gemacht hat (vgl. Dewey 2013: 259f.), noch lässt sie sich durch eine vermeintlich objektive, rationalistische Bestimmung fassen.9 Ob eine Sache nützlich ist, bemisst sich am Wert einer Sache: „Es gibt keinen Wert ohne eine Befriedigung, aber es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, um eine Befriedigung in einen Wert zu verwandeln.“ (Dewey 2013: 268) Diese Bedingungen bedeuten, verallgemeinerbare verbundene Operationen und subjektive Befriedigungen im Wert zusammenzubringen (vgl. Dewey 2013: 268). Hier findet sich auch die entscheidende Differenz des deweyschen Pragmatismus zum Utilitarismus: Zum Nützlichen gehört für Dewey mehr als nur das einfache positive Erlebnis, das dem Utilitarismus ausreicht. Für ihn muss für seine Nützlichkeit auch der objektive Wert einer Sache hinzutreten. Damit geht Deweys Konzeption des Nützlichen – als Kriterium für Wahrheit – außerdem über das hinaus, was die akademische Skepsis mit dem Plausiblen und dem Glaubhaften als Wahrheitskriterium anbietet. Sowohl Dewey als auch der akademische Skeptiker Karneades betten ihren Begriff in einen Bezug zum Kontext ein.10 Bei den Akademikern war dies im9 Martin Suhr bringt in seiner Übersetzung von Deweys Die Suche nach Gewissheit die Rede vom Subjektiven und Objektiven mit ins Spiel (vgl. Dewey 2013: 259f.). 10 Um diese Einbettung in den Kontext geht es Karneades, wenn er mit dem logischen

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mer mit dem Rückzug auf die je spezifische Situation verbunden. Ähnlich argumentiert Dewey, dass etwas in einem Kontext nützlich, in einem anderen Kontext nicht nützlich ist. Weil er das Nützliche aber nicht nur vom einzelnen Kontext aus denkt, sondern die Ebene der Verallgemeinerung mit hineinnimmt, ist diese Konzeption des Nützlichen dabei keine einfache Neuauflage der akademischen Position. In der Verbindung mit dem Wert, den eine Vorstellung haben muss, um wahr zu sein, ist der einzelne Mensch bei Dewey ins Verhältnis zum Ganzen, zur Gesellschaft gesetzt. Deweys Gedanke der Nützlichkeit als Vermittlung zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen und ihre Angemessenheit in unterschiedlichen Kontexten kann helfen, die erbitterte Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern neu einzuordnen. Beide Gruppen hatten möglicherweise einfach einen anderen Anspruch, einen anderen Zugang zur Welt, nämlich einerseits, sie zu verändern und andererseits, sich selbst gerecht zu werden. Hierin zeigt sich der Arbeitsbegriff eines Zugangs zur Welt als gutes Hilfsmittel, die unterschiedlichen Tendenzen, zu handeln und zu denken auseinanderzuhalten und sie gleichzeitig als unterschiedliche Anliegen verstehen zu können: Dabei scheint ein Denken, das Wahrheit als objektiv setzt, eher die Tendenz zu einer gesellschaftspolitischen Realisierung dieser Wahrheit zu haben; dagegen steht die Tendenz zur Selbstrealisierung des Subjekts, das eher mit einem undogmatischen Denken einhergeht. Beide Tendenzen können als unterschiedliche Konzepte, Realität zu fassen mit der heuristischen Kategorie unterschiedlicher Zugänge zur Welt gut auseinandergehalten werden. Noch deutlicher werden diese Strukturen, wenn man sie an einem konkreten Fall rekonstruiert. Am Beispiel der Auseinandersetzung um das Sorites-Paradox werde ich im Folgenden die unterschiedlichen gedanklichen Ausgangspunkte und ihre handlungspraktischen Konsequenzen noch einmal klarer voneinander abgrenzen. Denn der verschiedene Umgang mit Vagheit im Sorites-Paradox macht es möglich, die beiden Zugänge mit ihren jeweiligen Zwecksetzungen zusammenzubringen: Nämlich zum einen das Individuum als es selbst, zum anderen das Individuum Determinismus die Freiheit des Einzelnen und seine Unabhängigkeit gegenüber dem Schicksal und dem Dogma betont. Mit dem logischen Determinismus, den der Akademiker Karneades im Gegensatz zum kausalen und epistemischen Determinismus gegen u.a. die Stoa vertrat, fallen auch auf dieser weiteren Ebene die Eingebundenheit in einen größeren Lebenszusammenhang oder Sinn weg. Auch in diesem Sinne wird also Handlungsspielraum geschaffen, der mit Eigenverantwortung einhergeht (vgl. Long/ Sedley 2006: 556).

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als Komponente eines Ganzen zu verstehen. In dieser auch politisch aufladbaren Betrachtungsweise der philosophischen Konfliktpositionen ist dann auch verstehbar, warum solche vermeintlich bloßen Wahrheitsspiele der Logik in der antiken Philosophie einen solchen hohen Stellenwert hatten.

3. Z wei unterschiedliche Z ugänge im S orites -P aradox

zur

W elt

Was im Dialog zu Beginn vom ersten Sprecher als abgeschmackt und absurd empfunden wird, zeigt sich besonders gut am Beispiel des Sorites-Paradox. Im SoritesParadox nehmen beide Seiten – die akademischen Skeptiker und die Stoiker – zwar unterschiedliche theoretische Ausgangspunkte ein; es wird sich hier aber zeigen, dass beide jeweils in Anbetracht ihrer jeweiligen Zwecksetzung im deweyschen Sinne nützlich sind. Innerhalb des hier beschriebenen Ansatzes liegen damit im Sorites zwei unterschiedliche Zugänge zur Welt vor. Der Sorites war ein Standardproblem in der Auseinandersetzung zwischen Stoikern und Skeptikern und eine Art Geheimwaffe der skeptischen Kritik an der selbstbewussten Behauptung der Stoiker, eine evidente Klassifizierung von Dingen leisten zu können. Am Sorites schärften sich die Positionen, und bis heute arbeitet sich die Logik am Sorites-Problem ab (vgl. Weber/Colyvan 2012: 311). Eine der gängigen Darstellungen des Sorites, des sprichwörtlichen Haufen-Problems, beschreibt dies folgendermaßen: „Ich sage also: Sag’ mir, denkst du, dass ein einzelnes Weizenkorn ein Haufen ist? Darauf erklärst du: Nein. Dann sage ich: Was sagst du über 2 Körner? Es ist nämlich meine Absicht, dir sukzessiv Fragen zu stellen; und wenn du abstreitest, dass 2 Körner ein Haufen sind, dann werde ich dich über 3 Körner befragen. Anschließend werde ich dir die Frage zu 4 Körnern stellen, dann weiter zu 5, 6, 7 und 8 Körnern, und du wirst, denke ich, sagen, dass darunter nichts ist, was ein Haufen wäre. Auch 9, 10 und 11 Körner bilden keinen Haufen. Denn der Begriff des Haufens, der in der Seele gebildet und in der Vorstellung entwickelt wird, besteht darin, dass der Haufen etwas ist, was neben der Ansammlung [einzelner Körner/ Partikeln, Anm. die Übersetzer] außerdem auch noch eine (stattliche) Anzahl umfasst und eine beträchtliche Größe. … Ich werde dann so fortfahren; ich werde zu der Anzahl jeweils 1 hinzufügen und dir endlose Fragen nach dem Ausmaß jeder einzelnen dieser Anzahlen stellen, ob du zugestehst, dass es sich um einen Haufen handelt; dir indes wird es dabei unmöglich sein, für eine einzige jener Anzahlen zu erklären, sie ergebe einen Haufen. Der Grund dafür ist, was ich dir nun sage: Wenn du bei irgendeiner der Anzahlen wie z.B. bei der

122 | EVA SEIDLMAYER Zahl von 100 Weizenkörnern nicht sagst (verneinst), dass sie bereits ein Haufen (geworden) sei, und wenn du dann, sobald zu ihr ein einziges Korn hinzugefügt wird, sagst, sie sei ein Haufen geworden, so ist das eine Weizenkorn dasjenige, durch dessen Hinzufügung jene Weizenkörner zu einem Haufen werden und das durch sein Fehlen jene Weizenkörner so beschneidet, dass sie kein Haufen sind. Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies, dass nämlich die Existenz oder Nichtexistenz des Haufens durch ein einzelnes Weizenkorn bewirkt wird. Und um zu vermeiden, dass dir diese Abgeschmacktheit anhaftet, hörst du nicht auf – selbst wenn die Zahl der Weizenkörner durch Hinzufügung von immer wieder einem Korn ein Ausmaß ohne Ende erreicht – zu bestreiten und gibst du niemals zu, dass die Gesamtsumme davon ein Haufen sei. Aufgrund dieser Bestreiterei ist der Haufen also zu einem Nichts geworden, also aufgrund dieses hübschen Sophismas.“ (Galen 2006: 16,1-17,3)

Das Paradox hängt dabei nicht am Bild des Haufens oder der Körner; genauso wurde es z.B. anhand eines behaarten oder kahlköpfigen Menschen erzählt. Immer geht es beim Sorites um eine Vielzahl von Dingen, die zu einer Menge zusammengetragen oder von ihr abgezogen werden (vgl. Psellos 1987: 9-14). Die Sache scheint klar zu sein: Ein einziges Korn, ein einzelnes Partikel von einer großen Anzahl an Körnern wegzunehmen, verändert den Haufen nicht in seinem Status als Haufen. Viel zu klein ist der Anteil des einzelnen Teiles an dem gesamten Komplex. Gleichzeitig aber ist unsere Vorstellung eines Haufens an eine bestimmte große Anzahl an Körnern geknüpft ist. Wo genau der Schwellenwert liegt zwischen einer Anzahl, die die Bezeichnung Haufen rechtfertigt bzw. nicht oder welches einzelne Korn den Ausschlag gibt, ist Gegenstand der Auseinandersetzung. Und so stimmt vielleicht, was der Sprecher in der Quelle feststellte: „Ich kenne nichts Abgeschmackteres und Absurderes als dies, dass nämlich die Existenz oder Nichtexistenz des Haufens durch ein einzelnes Weizenkorn bewirkt wird.“ Wo liegt also das Problem? Die Stoiker akzeptieren nur die Wahrheitskategorien wahr und falsch und folgen damit dem Bivalenzprinzip.11 Davon abweichende Wahrheitsvorstellungen sind dementsprechend ausgeschlossen. Doch genau dies ist im Sorites gefordert. Die Skeptiker, die mit dem Sorites gegen die Stoiker argumentieren, benutzen diesen bewusst als Modell für Unschärfe, für Vagheit.12 Die

11 Das Bivalenzprinzip, das die Stoiker vertreten, darf nicht mit dem aristotelischen Satz vom zu vermeidenden Widerspruchs verwechselt werden (vgl. Williamson 2005: 188). 12 Vagheit oder Unschärfe kann bei Dingen oder sprachlichen Ausdrücken vorkommen. Zur Vagheit des Sorites vgl. Tim Schöne (2012: 65-93).

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Stoiker wollten auf die Fragen im Sorites nicht antworten oder mussten, wie es der Sprecher in der Quelle beschreibt, unendlich lang weiter mit nein antworten, um ihre Position der Bivalenz zu verteidigen. Um diesem unendlichen Regress zu entgehen, empfiehlt der Stoiker Chrysipp: Wenn es richtig erscheint, zu etwas ja zu sagen, solle man ja sagen. Wenn es nicht richtig erscheint, ja zu sagen, solle man nicht ja sagen (vgl. Williamson 2005: 20ff.). Aus dieser Überlegung folgt die „chrysippean silence“ (Williamson 2005). Die Weigerung, auf Fragen, die nicht klar zu entscheiden seien, zu antworten, also zu schweigen, lässt dabei verwundern. Denn das Schweigen, neben dem „Ja, es ist wahr!“ und dem „Nein, es ist nicht wahr!“ als eine dritte Antwortoption einzuführen, muss doch bedeuten, das Bivalenzprinzip aufzubrechen. Das Schweigen tritt hier als eine gleichberechtigte Antwortmöglichkeit neben die anderen. Darüber hinaus wird es sogar als Empfehlung mit einem ganz bestimmten Typus von Fragen in Verbindung gebracht, deren Wahrheitsstatus nicht klar als wahr oder falsch bestimmt werden kann. Mit der chrysippean silence bringen die Stoiker ihr Bivalenzprinzip selbst nicht zur Anwendung und stellen damit seine Gültigkeit in Frage. Gleichzeitig setzen sie mit ihrem Schweigen ein Drittes neben die anderen Möglichkeiten. Dies mag als Zugeständnis an die Skeptiker gewertet werden. Im sprichwörtlich gewordenen Schweigen der chrysippean silence tritt die Unvereinbarkeit der unterschiedlichen epistemischen Standpunkte offen zu Tage. Die Kommunikation kommt an einen Punkt, an dem es nichts mehr zu sagen gibt. Offenbar geraten hier zwei unterschiedliche Arten zu denken in Konflikt, die eine Verständigung unmöglich machen. In diesem Moment der Sprachlosigkeit öffnet sich gleichzeitig ein Raum für Überlegungen über ihre systematischen Gründe. Denn wenn der Versuch von Kommunikation zu keiner sinnvollen Resonanz beim Gegenüber führt, deutet das auf systematische Differenzen hin, die im Hintergrund stehen. Dabei scheint es durchaus geboten, auch andere Kontexte von Debatten, an deren Ende ein Gesprächsabbruch steht, in die Überlegung miteinzubeziehen. Tatsächlich ist es schwierig zu sagen, ab wie vielen Körnen ein Haufen ein Haufen ist und dafür einen Umschlag-Punkt festzulegen. Die akademischen Skeptiker weisen mit ihren Fragen auf ein Problem hin, mit dem die stoische Logik schwer umgehen kann: die Vagheit. Dabei muss diese Vagheit nicht notwendig ein Problem sein. Im Unterschied zu klar entscheidbaren Wahrheitsaussagen war die Funktion des Sorites, auf solche Fälle aufmerksam zu machen, in denen das eben nicht der Fall ist. Auch wenn das Bivalenzprinzip nicht hinreicht, unscharfe Phänomene zu beschreiben, warnt Timothy Williamson dennoch davor, es aufzugeben. Einzugestehen, dass die Bivalenz für vage Aussagen nicht taugt, ist nur um den

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hohen Preis der Aufgabe der klassischen Logik zu haben (vgl. Williamson 2005: 186; auch Blau 2008: 194). Es ist dabei interessant, dass die Logik, die selbst in finiten Denkmustern arbeitet, sich so schwer tut, eine abschließende Definition oder Repräsentation für Unschärfe oder Grenzen in Prozessen zu liefern (vgl. Weber/ Colyvan 2012: 319). Ebenso interessant ist es zu fragen, auf Grund von welchem Interesse man glaubt, sie unbedingt logisch beschreiben können zu müssen. Dies verweist auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, Realität zu beschreiben, die ich hier unterschiedliche Zugänge zu Welt nenne. Die chryssipean silence ist nur ein Weg, der vorgeschlagen wurde, um mit dem Sorites umzugehen. Drei Möglichkeiten des Umgangs sind zentral. (i) Zum einen eine Umformulierung mittels eines zweistelligen Prädikats, dann (ii) die Verortung der unterschiedlichen Aspekte, auf die die Opponenten anspielen, auf unterschiedlichen Ebenen, und zuletzt (iii) ein Erklären der Positionen durch die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven. (i) Am naheliegendsten erscheint dabei eine Umformulierung des Problems durch die Verwendung eines zweistelligen Prädikats (z.B. ist haufiger als). Durch das zweistellige Prädikat könnte etwa eine Menge von Körnern n1 gegenüber einer zweiten Menge weniger Körner n2, wenn schon nicht klar als Haufen, dann aber zumindest doch als haufiger als n2 klassifiziert werden. Das relationale, aber eindimensionale Prädikat ist haufiger als verbleibt – wie auch schon das Prädikat Haufen – in dem Kriterium der Menge und kann nicht etwa mit dem der Form kombiniert werden (vgl. Schöne 2012: 76). Doch die Lösung mit einem relationalen Prädikat in eindimensionaler Perspektive kann nicht recht überzeugen: Denn welche Einzelteile eines Körnerhaufen zählen denn als einzelne Körner für die Menge der Körner, von der die Einstufung gemäß des Prädikats ist haufiger als (nur in der Mengendimension) abhängig gemacht wird (vgl. Blau 2008: 193; Schöne 2012: 76)? Wenn eine Menge an Körnern n7 haufiger genannt wird als eine Menge Körner n6, weil n7 ein Korn mehr hat, nun aber jemand mit einem Messer eines der Körner von n6 in zwei teilt; sind dann n6 und n7 durch die gleiche Anzahl an Partikeln plötzlich gleich haufig? Die gleiche Frage stellt sich, wenn die Ernte, aus der die Körner für die Menge n6 stammen, sehr fruchtbar war; gleichzeitig sind die Körner von n7 sehr klein, weil es sich bei dem Saatgut nicht um Gen-Mais handelt oder es wenig geregnet hatte. Ist dann n6 haufiger als n7? Auch das zweistellige relationale Prädikat vermag die Vagheit also nicht aufzulösen. (ii) Ein anderer Ansatz überzeugt schon eher: Er beinhaltet einen Perspektivenwechsel vom Ganzen auf das einzelne Partikel. Die Frage nach Körnern und Haufen im Sorites, nach Haaren und Glatzen, nach dem ersten Rot im Violett: Dies sind Fragen nach Begriffen, die in einem konstituierenden Verhältnis zueinander stehen. So lassen sich die Verhältnisse zunächst als Verhältnisse eines vagen Ganzen

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und seiner Partikel beschreiben. Schon Galen beschreibt solche unterschiedlichen Ebenen: „So wie sich jede Wissenschaft aus vielen Erfahrungen zusammensetzt, so setzt sich dann nochmals jede einzelne Erfahrung aus vielen Erfahrungen zusammen. Aus wie vielen Erfahrungen, das lässt sich nicht determinieren und fällt unter die Aporie, die manche als die Sorites-Aporie bezeichnen.“ (Galen 1987: 3)

Wie selbstverständlich schreibt Galen hier darüber, dass jede Wissenschaft aus vielen weiteren Erfahrungen besteht und dass auch diese sich wiederum auf feinerer Ebene weiter in spezifischere Erfahrungen aufgliedern lassen (vgl. Hülser 1987: 1753). Auch bei Galen erscheint eine Lösung nicht möglich. Die Aporie des Sorites schreckt ihn dabei aber anscheinend nicht besonders: So verhält es sich für Galen offenbar einfach mit der Wissenschaft. (iii) Andere lassen sich nicht auf das Paradox ein, wie Galen es tut. Ein dritter Ansatz zum Umgang mit dem Sorites erkennt wie Galen unterschiedliche Ebenen im Sorites und schlägt darauf aufbauend einen Perspektivenwechsel vor. Diesen Perspektivenwechsel halte ich für zentral für die hier angestellte Überlegung, im Sorites unterschiedliche Zugänge zur Welt zu entdecken: Statt von der Zunahme oder Wegnahme eines Partikels die Existenz oder die Identität eines Organismus abhängig zu machen, wird aus der Position des Partikels gefragt, ob dieses Teil oder nicht Teil der größeren Einheit ist (vgl. Buddensiek 2006: 66ff.).13 Die Frage, die im Zusammenhang des Sorites gestellt wurde (Sind n+1 Körner ein Haufen?) müsste also umformuliert werden und lautet jetzt – ausgehend vom einzelnen Teil: Ist Korn Nummer eins Teil des Haufens?; Ist Korn Nummer zwei Teil des Haufens?; Und Korn Nummer n+1? Während in der alten Frage implizit bereits eine Vorstellung der Beschaffenheit des Haufens enthalten war, wird in der zweiten Frage diese klare Vorstellung für den Partikel angenommen. Ausgehend vom einzelnen Partikel ist es kein Problem, auf seinen übergeordneten Zusammenhang zu schließen. Die einzelnen Partikel sind eben genau dann Teile dieser größeren Struktur, wenn sie Anteil an der Eigenständigkeit dieser übergeordneten Einheit haben. Unter der so vorgenommenen Aspektverschiebung vom Organismus auf den Partikel löst sich zumin-

13 Auch wenn sich Buddensiek in seiner Überlegung mit tatsächlichen Organismen und ihrer Unschärfe beschäftigt, ist die Überlegung auch für diesen Zusammenhang der Analyse des skeptischen Arguments gegen eindeutige Statuszuschreibungen von Wahrheit oder Unwahrheit, also im epistemischen Kontext, hilfreich.

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dest im Ansatz das Argument der akademischen Skeptiker. Der Aspektwechsel, der durch die Neuformulierung vorgenommen wird, besteht in einer Verlagerung des Referenzpunktes, von dem eine Aussage gemacht wird. Alexander von Aphrodisias hat – wie Psellos berichtet – im 2./3. Jahrhundert schon einen ganz ähnlichen Vorschlag gemacht: „Alexander von Aphrodisias indes löste es [das Sorites-Paradox, Anm. ES] auf elegante Art, indem er sagte, dass der, der den Trugschluss entwickelt, dasjenige, was in nur grob (platús) bestimmter Weise entsteht, [trotzdem, Anm. der Übersetzer] akribisch genau (stenós) abfragt. Denn es füllt nicht einfach das eine Korn das attische Getreidemaß auf; sondern es tut dies dann, wenn es zu den übrigen Körnern hinzugezählt worden ist.“ (Psellos 1987: 28-30)

Alexander machte auf den Widerspruch zwischen der groben Bestimmung des Haufens und der akribisch genauen Bestimmung des Korns aufmerksam. Zumindest in der Darstellung Psellos’ folgt auf die Feststellung dieses Widerspruchs eine Umformulierung der Frage und damit eine andere Verortung des Ansatzpunktes des Frageinteresses. Alexander interessierte sich – offenbar ausgehend vom einzelnen Korn – dafür, ob es zu den anderen Körnern hinzuzuzählen war oder nicht, womit die Aspektverschiebung implizit einhergeht. Nur so lässt sich die Umformulierung Psellos entlang des beschriebenen Gegensatzes von „grob“ und „akribisch“ verstehen. Auch wenn Alexander von Aphrodisias den Punkt nicht ausdrücklich macht, verläuft sein Umgang mit dem Paradox konform zum Argument des Perspektivenwechsels vom Organismus zum Partikel. Mit dem Perspektivenwechsel geht eine Perspektiverweiterung oder -verengung einher. Offen bleiben dabei die Fälle, in denen die übergeordnete Struktur und das einzelne Partikel ein sich notwendig konstituierendes Verhältnis eingehen, zum Beispiel im Fall vieler Steine, die ein Mosaik bilden. Der Perspektivenwechsel der Frage, vom Organismus zum Partikel, wie ihn Buddensiek und Alexander von Aphrodisias vorschlagen, muss dann mit einer Veränderung der Form der Frage einhergehen. Wenn nach der größeren Struktur – dem Organismus – gefragt wird: Sind n+1 ein Mosaik?, dann ist das eine andere Frage als die Frage nach dem Einzelnen: Ist Stein eins Teil eines Mosaiks? Ist dieser Stein Nicht-Teil des Mosaiks, das heißt etwas anderes, das heißt also es selbst? Es handelt sich bei solchen Verhältnissen nämlich nicht mehr um irgendeinen austauschbaren Stein, sondern um eben genau diesen. Wenn die Perspektive auf das einzelne Partikel gelegt wird, muss damit nach dem Sein des Partikels selbst gefragt werden, das nicht nur durch seine Zugehörigkeit zur übergeordneten Struktur bestimmt sein kann.

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Man kann aus diesen Antwortmöglichkeiten zwei Dinge lernen: (1.) sich der Vagheit zu stellen muss entweder bedeuten, anzuerkennen, dass diese nicht auflösbar ist; so wie Galen, der, wie wir gesehen haben, ein solches entspanntes Verhältnis zur Vagheit vertritt. (2.) Oder aber, das Problem muss so umformuliert werden, dass sich die neue Formulierung nicht mehr mit Unschärfe konfrontiert sieht. Dies geht auf das Bedürfnis zurück, etwas Bestimmtes (Haufen oder Nicht-Haufen?) über etwas Bestimmtes (den Haufen oder das Korn) auszusagen. Mir scheinen beide Antwortmöglichkeiten, auf das Sorites-Problem zu reagieren, nützlich für ihr jeweiliges Interesse: Vagheit ist, wie in der ersten Herangehensweise angedeutet, nicht per se problematisch. Es gibt keinen Grund, sie in jedem Fall abzulehnen und umgehen zu wollen (vgl. Heidemann 2007: 355). Das Bedürfnis der Stoa, sie zu umgehen, stellt sich erst im Hinblick auf einen ganz spezifischen Zweck ein: Etwas über diesen vagen Gegenstand aussagen zu wollen, ihn zu begreifen und damit auch, ihn sich anzueignen und zu verändern. Hierin zeigt sich ein nach außen orientierter Zugang zur Welt. Dagegen macht es aus der selbstbezüglichen Perspektive des Partikels, also unter dem Vorzeichen des skeptischen Denkens, das für die einzelnen Individuen in einzelnen Situationen Aussagen trifft und nur innerhalb solcher Kontexte etwas Glaubhaftes oder Plausibles feststellen will, absolut Sinn, scharfe Grenzen von etwas, vor dessen Hintergrund man sich bewegt, abzulehnen. Die unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Vagheit im Sorites, bei denen spezifische theoretische Erklärungen mit spezifischen Handlungsperspektiven einhergehen, die aber in ihrem jeweiligen Kontext nützlich sind, geben einen Blick darauf frei, was ich hier Zugang zur Welt nenne. In dieser Lesart wird das SoritesParadox zu einem Modell: Hier zeigen sich anhand unterschiedlicher theoretischer Positionen implizite Zugänge auf der Handlungsebene.

4. E in F azit Zu Beginn waren wir mit einem Streit konfrontiert. Dieser Streit ließ sich auf unterschiedliche theoretische Positionen zurückführen und wir konnten feststellen, dass diese Positionen auch auf der Ebene des praktischen Handelns wieder auftauchten. Zumindest für die antike Debatte zwischen Stoikern und Skeptikern konnte gezeigt werden, dass die gegensätzlichen Theorien auch für das Handeln eine wesentliche Bedeutung haben: Sie führten einerseits in einen Rückzug ins Private (Pyrrhoneer) oder in die Situation (Akademie) und andererseits zu einem Streben nach Verwirklichung von dem, was als Wahrheit angenommen wird (Stoa). Dieses

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enge Zusammengehen von theoretischer und praktischer Philosophie ist typisch für die Antike, in der Denken und Handeln immer in ihrer Beziehung verstanden werden. Es ist John Dewey, der in seiner pragmatistischen Philosophie diese alte Vorstellung wieder aufnimmt und mit dem Gedanken der Nützlichkeit in unterschiedlichen Kontexten verbindet. Eine vermeintlich richtige Erklärung wird so auf ihre spezifische Situation bezogen: Was wahr ist, erweist sich darin, dass es seinen Zweck erfüllt. Mit Dewey ließen sich die gegensätzlichen Standpunkte, die die Stoiker und Skeptiker vertraten, so als unterschiedliche Denkstrukturen mit anderer Zwecksetzung begreifen. Ich habe vorgeschlagen, diese Sichtweisen mithilfe einer heuristischen Kategorie auseinanderzuhalten und als unterschiedliche Zugänge zur Welt zu beschreiben, um besser verstehen zu können, warum ganz im deweyschen Sinne im einen Kontext das eine (z.B. der skeptische nach innen gewendete Ansatz) und im anderen Kontext etwas anderes (z.B. der stoische nach außen gewendete Ansatz) nützlich sein kann. Am antiken Beispiel des Sorites-Paradox konnten diese beiden gleichermaßen nützlichen Perspektiven gut voneinander unterschieden werden. Beide philosophische Schulen vertraten dabei unterschiedliche theoretische Standpunkte und verstanden entweder das einzelne Individuum als zentral oder legten das Individuum als Komponente eines Ganzen an. Indem sie von anderen theoretischen Konzepten ausgingen, verfolgten sie auch implizit andere Zwecksetzungen: Es erschien eben einerseits eine nach innen, an der Selbstrealisierung des Individuums orientierte Handlung als angemessen und nützlich und andererseits eine ins gesellschaftliche Außen wirkende Handlungsmotivation. Der Sorites steht so als ein Modell für die unterschiedliche Zugänge zur Welt. Hier ließ sich nur andenken, dass die beiden historischen Positionen in dem Streit nur paradigmatisch für eine typische Konfliktkonstellation stehen, die sich auch in der Gegenwart wiederfindet.14 Damit ist es fast ein bisschen tragisch, dass die unterschiedlichen Zugänge oftmals in völliges Unverständnis oder manchmal sogar in 14 Die Relevanz der Überlegungen zu einem Nebeneinander von Zugängen, die sich nicht gegenseitig aushebeln und angreifen müssen, zeigt sich nochmal deutlicher, wenn sie auf eine moderne Auseinandersetzung übertragen werden: Anhand zeitgenössischer feministischer Diskussionen zwischen dekonstruktivistischen und differenz- und gleichheitsfeministischen Positionen wird z.B. klar, wie wichtig die Reflexion von Diskussionen ist und wie notwendig das Verstehen korrespondierender Verhältnisse von Zugängen zur Welt.

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den Gesprächsabbruch führen. Die Grundannahmen eines nach außen orientierten Handlungsansatzes und eines nach innen orientierten Handlungsansatzes scheitern trotz ihres geteilten Anliegens, ein gutes Leben zu ermöglichen, daran, ihre jeweiligen Aspektsetzungen zu sehen. Dagegen legt die Rekonstruktion der unterschiedlichen Zugänge, wie sie hier versucht wird, nahe, dass das dennoch geht: Denn die Auseinandersetzung zwischen Stoikern und Skeptikern wirkt wie ein Vexierbild; wie ein Scharnier oder Kippbild.15 Am Beispiel des Sorites-Paradox wird deutlich, dass wenn ein Bild anvisiert wird, das andere nicht verschwindet, sondern nur aus dem Blick geraten ist. Abhängig von Kontext und Erkenntnisinteresse kommt es zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob diese unterschiedlichen Zugänge nicht doch auch zusammengedacht werden können, oder – als Optionen – sogar zusammengedacht werden müssen. Die Rekonstruktion der antiken Debatte und der Versuch ihrer systematischen Erfassung in einer heuristischen Kategorie – der Zugänge zur Welt – hilft damit, Handlungsoptionen nicht nur für den antiken Kontext ausfindig zu machen, sondern auch für die Gegenwart Handlungsspielräume zu eröffnen.

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15 Diese Metapher ist der Arbeit von Kathrin Stengel entliehen, die etwas Ähnliches für die Subjektvorstellungen bei Wittgenstein und Merleau-Ponty feststellt (vgl. Stengel 2003).

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Partizipation oder Dezision? Zur Konkurrenz zweier Paradigmen des Politischen MARCO WALTER

1. D ie U nbestimmtheit

des

P olitischen

als

P roblem

Mit dem Politischen entbehrt ausgerechnet derjenige Begriff des politikwissenschaftlichen Fachs einer einheitlichen Bestimmung, der dessen Untersuchungsgegenstand konturieren und damit das Gebiet des Erkenntnisinteresses abstecken sollte. Das Unbehagen über diesen Zustand mangelnder Fundierung hält sich jedoch in Grenzen, wie die entsprechende Debatte beweist, die sich heute fast ausschließlich auf sogenannte poststrukturalistische Beiträge beschränkt.1 Stattdessen wird zumeist ein pragmatischer Ansatz gewählt: Politisch ist, was sich als solches beschreiben lässt. Und im Kontext moderner, sozial differenzierter Gesellschaften ist dies nicht gerade wenig. Denn das Spektrum reicht von Außen-, Wirtschafts-, Bildungs-, über Gender-, Wohnungs-, AusländerInnen- und Internet- bis hin zu Stammtischpolitik, um nur eine zufällige Auswahl zu nennen. Ein solch generöser Umgang mit dem zentralen Begriff mag erstaunen, insbesondere für eine Fachdisziplin, zu deren wesentlichen Aufgaben die Analyse von Auseinandersetzungen um Deutungshoheit und diskursive Hegemonie gehört, und die deshalb ein umso größeres Interesse an einem klar definierten Fundament haben sollte. Die undifferenzierte Anwendung des Politikbegriffs auf unterschiedlichste Phänomene wird denn auch teuer bezahlt, weil er dadurch seine Konturen und folglich seine Unterscheidungsfähigkeit verliert, was zwei grundlegende Schwierigkeiten mit sich bringt. Die erste ist fachimmanent und besteht darin, dass der Politikwissenschaft als universitärer Disziplin ihr Untersuchungsgegenstand abhandenkommt. Wenn im-

1 Für einen Überblick siehe die Beiträge in den Sammelbänden von Bedorf/Röttgers (2010) und Bröckling/Feustel (2010) oder die Monographie von Marchart (2010).

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mer mehr Bereichen des menschlichen Lebens politische Qualität zugeschrieben wird, findet sich die Politik letztlich überall und somit nirgends.2 Folglich würde die Legitimität für die Existenz als eigenständige akademische Disziplin entfallen und die bis dato spezifisch politikwissenschaftlichen Fragestellungen würden in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften aufgehen. Neben dieser rein akademischen Problematik zeitigt die mangelnde Begriffsbestimmung des Politischen zweitens sehr viel weiter reichende Konsequenzen, welche eine eingehende Untersuchung des Gegenstandes rechtfertigen, wie sie im Folgenden unternommen wird. Denn bei spezifischen Vorstellungen des Politischen handelt es sich nicht einfach um folgenlose Meinungen, die getrost dem Individuum überlassen werden können. Was in einer Gesellschaft jeweils als politisch gilt, gibt vielmehr den Rahmen vor, innerhalb dessen die Ausgestaltungsmöglichkeiten menschlicher Gemeinwesen und die Regelungsmodalitäten öffentlicher Belange überhaupt gedacht und somit praktisch umgesetzt werden können. Die entsprechende Bandbreite ist beträchtlich, wie die Darstellung konkurrierender Konzepte des Politischen verdeutlichen wird. Eine erste Annäherung an das Thema bietet sich in der Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen an, wie sie üblicherweise, wenn auch keineswegs einheitlich, getroffen wird. Unter den vielen möglichen Varianten wird hier dem Ansatz Chantal Mouffes gefolgt, wonach die Politik sich auf das empirisch beobachtbare Feld mannigfaltiger Praktiken bezieht, während das Politische auf das diesen Praktiken zugrunde liegende Wesen abzielt (vgl. Mouffe 2005: 8). Aufgrund der Nähe der beiden Begriffe – weil offensichtlich Politik nur da vonstattengehen kann, wo das Politische gegeben ist – stellt ihr konsequentes Auseinanderhalten eine Herausforderung dar, die oftmals nicht erfolgreich bewältigt oder gar nicht erst als solche angenommen wird. Daraus folgt jedoch nicht, die Differenzierung und damit ihren analytischen Mehrwert völlig aufzugeben, wie Anter dies vorschlägt (vgl. Anter 2010: 31). Stattdessen werden im Folgenden zwei gegensätzliche Konzeptionen des Politischen vorgestellt, die das politische Denken seit seinen Anfängen dominiert haben (Abschnitt 2), um im darauffolgenden Hauptteil die Gründe für die Herausbildung der beiden theoretischen Paradigmen zu eruieren (Abschnitt 3). Da dies nicht für die gesamte Ideengeschichte zu leisten ist, werden exemplarisch die einschlägigen Arbeiten Hannah Arendts und Carl Schmitts beleuchtet, die sich

2 Das Problem einer übermäßigen Ausweitung des Verwendungsbereichs ist bereits verschiedentlich erkannt und die Notwendigkeit einer Vermeidung dieser Gefahr hervorgehoben worden (vgl. u.a. Marchart 2010: 279; Sartori 1973: 6).

PARTIZIPATION ODER DEZISION? | 135

gleichermaßen prominent und wirkmächtig mit dem Begriff des Politischen auseinandergesetzt haben. Ihre pointierten Entwürfe drängen sich darüber hinaus für eine Gegenüberstellung auf, weil darin die Differenzen der beiden Paradigmen besonders deutlich zutage treten. Wie es zu solchen Divergenzen kommen kann, wird durch die Anwendung zweier unterschiedlicher Methoden zur Textinterpretation in der politischen Ideengeschichte aufgezeigt. Die erste ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte unter dem Namen Cambridge School bekannt und wird den adressatenzentrierten Ansätzen zugerechnet (vgl. Rosa 1994; Weber/Beckstein 2014: 21). Sie beruht auf der Grundannahme, dass auch vordergründig theoretische Texte grundsätzlich „als Handlungen von Akteuren zu verstehen [sind], die auf die Veränderung des gesellschaftlichen Lebens abzielen“ (Weber/Beckstein 2014: 131). Entsprechend kommen für ein angemessenes Verständnis dem politischen Kontext und den angestrebten praktisch-normativen Wirkungen bei den AdressatInnen eine zentrale Rolle zu. Unterschiedliche Konzeptionen des Politischen ließen sich demgemäß auf unterschiedliche politische Wirkungsabsichten der AutorInnen zurückführen. Auf gänzlich anderen Annahmen fußt die systematisch-analytische Methode, die als zweite mögliche Herangehensweise zur Anwendung kommt. Als ursprünglich philosophische Methode wurde sie im 20. Jahrhundert durch eine Reihe von PhilosophInnen der Universität Oxford auf die politische Theorie und Ideengeschichte übertragen (vgl. Weber/Beckstein 2014: 26). Ihr zufolge ist der konkrete Kontext der Schreibenden zu vernachlässigen, weil diese sich mit überzeitlichen philosophischen Problemen beschäftigten, die textimmanent rekonstruierbar seien. Es könne deswegen nur darum gehen, einerseits in destruktiver Absicht begriffliche, konzeptuelle oder methodische Fehler und Inkonsequenzen aufzuzeigen sowie andererseits konstruktiv „die logische Verknüpfung der politischen Begriffe zu Argumenten und Theorien nachzuvollziehen“ (Weber/Beckstein 2014: 26ff.) und in ihrem Aussagegehalt verständlich zu machen. Als Gründe für die Ausarbeitung unterschiedlicher Konzeptionen des Politischen kommen in dieser Sichtweise entweder intellektuelle Fehlleistungen in Frage oder unterschiedliche Interpretationen desselben Sachverhalts. In diesem letzten Fall bliebe das Zustandekommen der Differenz erklärungsbedürftig, weil deren Ursachen auch außerhalb des untersuchten Texts liegen könnten. Der Vergleich der beiden paradigmatischen Begriffe des Politischen soll jedoch kein bloßer Selbstzweck bleiben und dient nicht nur der Veranschaulichung alternativer methodischer Instrumentarien in ihrer Anwendung. Vielmehr geht es darum, das Verhältnis der beiden divergierenden Positionen zu bestimmen und mögliche Verbindungen aufzuzeigen. Tatsächlich wird im Zuge der Analyse deut-

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lich, dass die vordergründig so unvereinbaren Positionen hauptsächlich unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens fokussieren. Um das Politische in seiner Gesamtheit angemessen erfassen zu können, erscheint deswegen eine Integration der beiden Herangehensweisen unausweichlich, weshalb im letzten Abschnitt (4) die Möglichkeiten einer solchen Zusammenführung diskutiert werden.

2. D ie

zwei

P aradigmen

des

P olitischen

Obwohl es nur wenige politische DenkerInnen unternommen haben, das Politische explizit zu definieren oder sein Wesen herauszuarbeiten, lassen sich in den entsprechenden Schriften dahingehende Vorannahmen zumindest implizit immer nachweisen. Diese können üblicherweise einem von zwei dominanten Paradigmen zugeschrieben werden, welche die Vorstellungen über das Politische prägen. Die erste Denktradition legt den Fokus auf die Beteiligung der BürgerInnen eines Gemeinwesens an den öffentlichen Belangen. Konkrete Politik findet also dort statt, wo sich die Betroffenen selbstbestimmt, bisweilen auch tugendhaft, über die gemeinsamen Angelegenheiten verständigen. Der zentrale Begriff dieses Paradigmas des Politischen ist demzufolge die Partizipation.3 Teils in expliziter Abgrenzung zu dieser Sichtweise entwickelte sich die zweite Denktradition, die in erster Linie an der Stabilität und Handlungsfähigkeit von Gemeinwesen interessiert ist. Demgemäß ist Politik überall da zu finden, wo kollektiv verbindliche Entscheidungen hervorgebracht werden. Zwar können sich auch die Ansätze dieses Paradigmas mit dem Zustandekommen der Entscheidungen auseinandersetzen, das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf dem Ergebnis, der Dezision.4 Beide Denktraditionen finden im 20. Jahrhundert ihren markantesten Ausdruck in zwei 3 Die möglichen Formen politischer Partizipation decken ein breites Spektrum ab und können von verfasst-friedlich bis unkonventionell-gewalttätig reichen (vgl. Schultze 2011). Im Folgenden meint Partizipation eine verfasste, direkte und konventionelle Teilhabe an öffentlichen Belangen unter Maßgabe der freien Rede der Beteiligten. 4 Tatsächlich kann von einer „Dramatisierung des Dezisionismus“ (Ottmann 2010: 5) erst in der Neuzeit gesprochen werden. Das Spannungsverhältnis von Partizipation und Dezision war jedoch bereits in der Antike sattsam bekannt und kommt von der Sache her etwa in Sternbergers (1984: 383f.) Einteilung in Politologik und Dämonologik zum Ausdruck – hier finden sich auch weiterführende Hinweise auf die Entwicklung der beiden Traditionslinien – oder in den von Nippel (2003) herausgearbeiteten Strömungen des Gesellungstriebs auf der einen und der Herrschaftskunst auf der anderen Seite.

PARTIZIPATION ODER DEZISION? | 137

ebenso wirkmächtigen wie gegensätzlichen AutorInnen: Hannah Arendt und Carl Schmitt.5 Sie gehören zu den meistzitierten politischen DenkerInnen der Gegenwart und haben sich auf je unterschiedliche, aber gleichermaßen einflussreiche Weise der Frage nach dem Politischen angenommen, weswegen ihre Ansätze im Folgenden beispielhaft dargestellt werden, um anschließend den Ursachen für die unterschiedlichen Konzeptionen nachzuspüren. 2.1 Hannah Arendt – Partizipation Den Anstoß für Arendts politisches Denken gibt die Zäsur von 1933.6 Als deutsche Jüdin – zu jenem Zeitpunkt 26 Jahre alt – wird die bis dahin eher apolitische Philosophin und Intellektuelle durch die nationalsozialistische Machtübernahme plötzlich gezwungen, Stellung zu beziehen. Dies tut sie, indem sie sich zunächst als Fluchthelferin für politisch Verfolgte betätigt und später, inzwischen selbst zur Emigration nach Paris gezwungen, für jüdische Hilfsorganisationen arbeitet. Die theoretische Aufarbeitung dieser Erfahrungen im Besonderen und des Totalitarismus im Allgemeinen kann erst nach der geglückten Flucht in die USA im Jahre 1941 langsam beginnen. Geleitet wird sie dabei von der Einsicht, dass totalitäre Systeme, entgegen landläufiger Meinungen, gerade nicht durch die totale Politisierung aller Lebensbereiche gekennzeichnet seien, sondern im Gegenteil durch die Zerstörung des Politischen und damit der Möglichkeit, politisch tätig zu werden (vgl. Arendt 2009: 974f., 2012: 204). Was hier zerstört wird ist ihrer Meinung nach ein von Gesetzen gehegter öffentlicher Raum, in welchem sich die in ihm Bewegenden als Gleiche begegnen und zusammen handeln (vgl. Arendt 2003a: 39f.). Dies meint

5 Marchart spricht gar von einer „arendtianische[n]“ und einer „schmittianische[n] Traditionslinie“ und charakterisiert erstere als assoziativ, letztere hingegen als dissoziativ (vgl. Marchart 2010: 35). Diese Terminologie wird hier nicht übernommen, weil jede Assoziation die Dissoziation von den nicht-Assoziierten zwangsläufig mit sich bringt und umgekehrt. Dadurch büßt das Unterscheidungskriterium stark an Aussagekraft ein. Marchart selbst erkennt dieses Problem und expliziert, dass Dissoziation im Gegensatz zur Assoziation sich auf das Vorhandensein eines antagonistischen Elements beziehe (vgl. Marchart 2010: 38f.). Wie aber weiter unten (siehe Abschnitt 4) argumentiert wird, schließt Partizipation Antagonismen keineswegs aus, selbst wenn sie in „Sorge um das Gemeinsame“ (Marchart 2010: 38) unternommen wird. 6 Alle biographischen Angaben beziehen sich auf das entsprechende Standardwerk von Young-Bruehl (2004).

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einerseits, Taten zu vollbringen, vor allem aber, Worte zu sprechen, zu überzeugen und überreden. Voraussetzung hierfür ist die menschliche Pluralität, also die Tatsache, dass zwar alle Menschen derselben Gattung angehören, aber gleichzeitig individuell verschiedene Perspektiven auf die Welt einnehmen (vgl. Arendt 2002: 17). Im gemeinsamen Austausch dieser je eigenen Standpunkte, unabhängig von den Zwängen der Notwendigkeit einerseits und der ökonomisch oder sozial begründeten Hierarchien andererseits, sieht Arendt die Realisierung von Freiheit, worin der Sinn von Politik überhaupt bestehe (vgl. Arendt 2003a: 28). Das Politische wird in dieser Sichtweise also bestimmt als ein mit gewissen Merkmalen versehener Raum, der aufgrund seiner Ausgestaltung gemeinsames Handeln, sprich: Partizipation, ermöglicht. Zu beachten bleibt, dass Arendt keinem radikaldemokratischem Entwurf das Wort redet, wonach möglichst alle jederzeit aktiv sein sollen. Vielmehr gesteht sie jeder und jedem das Recht zu, der Politik fernzubleiben und vertritt darüber hinaus die Meinung, dass „[n]ur wer an der Welt wirklich interessiert“ (Arendt 2013a: 360) sei eine Stimme im Gang der Welt haben solle. Diese Einschränkung, die Arendt zumindest an republikanische, wenn nicht gar elitäre Kreise heranrückt (vgl. Brunkhorst 2000), darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst bei einem restriktiv definierten Demos die Partizipation in einem öffentlichen Raum als Kriterium für die Existenz des Politischen bestehen bleibt. 2.2 Carl Schmitt – Dezision Auch in Carl Schmitts Leben ist das Jahr 1933 als Zäsur zu bezeichnen, wenn auch in gänzlich anderer Weise.7 Bereits 1888 geboren gelangt der katholische Jurist aus dem Sauerland in der Weimarer Republik durch seine Schriften und Interventionen zu einiger Bekanntheit. Noch in dieser Zeit äußert er sich abschätzig über Hitler und die nationalsozialistische Bewegung und arbeitet stattdessen auf eine Stärkung der exekutiven Führungsmacht hin, um der fragilen und polarisierten Demokratie dazu zu verhelfen, „mit antiker Ehrlichkeit wieder Staat sein“ (Schmitt 1994: 130) zu können. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kommt es jedoch zur Kehrtwende, Schmitt dient sich dem neuen Regime an und stolpert erst drei Jahre später über seine frühere Gegnerschaft, als er aus SS-Kreisen dafür attackiert und schließlich auf das Abstellgleis befördert wird. Damit ist er in jeder Hinsicht kompromittiert und seine universitäre wie auch öffentlich-publizistische Karriere ist 7 Alle biographischen Angaben beziehen sich auf das entsprechende Standardwerk von Mehring (2009).

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am Ende. Nach dem Krieg bleibt ihm deshalb nur das Exil in seiner Plettenberger Heimat, wo er einen gewissen Schülerkreis um sich zu scharen vermag, ein interessierter Beobachter des politischen Geschehens bleibt und wenige Spätschriften veröffentlicht. Seine produktivste Zeit liegt jedoch in der Weimarer Republik, als er unter anderem den Begriff des Politischen zu bestimmen versucht. Damals entsteht die inzwischen berühmte Formulierung, dass das Politische dort zu finden sei, wo zwischen Freund und Feind unterschieden werde (vgl. Schmitt 2009a: 25). Diese Konstellation wird explizit von bloßer Konkurrenz oder Gegnerschaft abgegrenzt, weil sie „im Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz“ (Schmitt 2009a: 26) bedeute. Gleichwohl handelt es sich um keine bellizistische Begriffsbestimmung, da die tatsächliche bewaffnete Auseinandersetzung nur „der realen Möglichkeit“ (Schmitt 2009a: 27) nach gegeben sein muss und ihrerseits eigenen Regeln unterworfen ist. Der Verweis auf die mögliche Realisierung des Kriegsfalls bezeichnet deswegen nicht den Fokus des Politischen, sondern dient lediglich der Konkretisierung der Merkmale, die eine Frontstellung als Ausdruck einer Freund-Feind-Gruppierung charakterisieren (vgl. Schmitt 2009a: 31ff.). Eine solche kann sich aus jedem nur erdenklichen Grund herausbilden: Da das Politische kein eigenes Sachgebiet bezeichne, sondern als Intensitätsgrad aufzufassen sei, folgt daraus, dass jeder Gegensatz – ob religiöser, moralischer, ökonomischer oder anderer Natur – zu einem politischen wird, wenn er nur intensiv genug ist, um die Menschen nach dem entsprechenden Differenzkriterium in Freund und Feind einzuteilen (vgl. Schmitt 2009a: 35f.). Diejenige Einheit, die es schafft, diese Einteilung zu bestimmen, muss darüber hinaus als die maßgebende, eigentlich politische Einheit angesehen werden. Sie ist souverän, insofern als es ihr obliegt, über den Ernst- beziehungsweise Ausnahmefall zu entscheiden (vgl. Schmitt, 2009a: 36f., 2009b: 13). Das zentrale Element dieses Begriffs des Politischen ist folglich die Entscheidung über Freund und Feind, sprich: die Dezision (vgl. Schmitt 2009a: 40f., 2009b: 19, 60f.). 2.3 Die Konkurrenz der Denktraditionen Unterschiedlicher könnten die beiden Konzeptionen kaum sein (vgl. Meyer 1994: 27): Auf der einen Seite erscheint das Politische als gehegter, öffentlicher Raum, in dem sich die Menschen als Gleiche begegnen und auf der Grundlage ihrer Pluralität gewaltfrei miteinander sprechen und handeln. Auf der anderen Seite wird es als intensivster Grad von Gegensätzen dargestellt, wobei die Entscheidung über deren Vorliegen die Menschen in politischen Einheiten zusammenfasst, die sich als

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homogene, unversöhnliche Gemeinschaften gegenüberstehen und im Extremfall physisch bekämpfen würden. Darüber hinaus wird die Unvereinbarkeit der konzeptuellen Unterschiede von beiden AutorInnen scheinbar explizit hervorgehoben. So ist etwa Schmitts Abneigung gegen die „Diskussion“ durch die Schärfe seiner dahingehenden Polemiken hinreichend bekannt (vgl. u.a. Schmitt 2009a: 66, 2009b: 66f.), während Arendt den Eindruck „eitle[r] Betriebsamkeit“ (Arendt 2002: 278) keineswegs in Abrede stellt, sondern als zwangsläufig akzeptiert, da ja der Sinn des Miteinanderredens in der Freiheit bestehe, also im Vollzug und gerade nicht in einer daraus folgenden Entscheidung.

3. D ie A usdifferenzierung der P aradigmen : Z wei E rklärungsansätze 3.1 Die praktisch-normative Dimension Die einander offenbar diametral entgegengesetzten Auffassungen des Politischen scheinen sich in den ebenso unvereinbaren Lebensläufen der beiden DenkerInnen zu spiegeln, die sich nicht selten in gegnerischen politischen Lagern wiederfanden, insbesondere natürlich in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Es ist deshalb naheliegend, zunächst den Einfluss des sozio-historischen Umfelds auf die Theoriebildung der beiden AutorInnen zu untersuchen, zumal beide nicht davor zurückscheuten, ihre Meinungen in öffentlichen Diskursen kundzutun. Damit wird vorerst dem Ansatz der Cambridge School der politischen Ideengeschichte gefolgt, der sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmender Popularität erfreute. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Annahme, dass es sich bei politiktheoretischen Texten nicht um Beiträge zu einer philosophischen Debatte über zeitlose Probleme handele. Vielmehr seien sie als politische Handlungen in einem jeweils spezifischen historischen Kontext zu begreifen, die entsprechend nur in diesem praktisch-normativen Rahmen verstanden werden können (vgl. Rosa 1994: 198). Dies soll nun zuerst für den Fall Schmitt geleistet werden, der eine derartige Betrachtungsweise durch seinen polemisierenden Schreibstil geradezu herausfordert. Weder die Eigen- noch die Fremdeinschätzung zur Stellung von Schmitts Werk liefern einen Anhaltspunkt zu dessen korrekter Einordnung, reichen die Urteile doch von ausschließlich politischer Motivation bis hin zu rein systematisch-wissenschaft-

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lichem Interesse.8 Sicher ist jedenfalls, dass Schmitt sich seiner Eingebundenheit in ein politisches Diskursfeld bewusst gewesen ist und durchaus aktiv versucht hat, darauf einzuwirken. Besonders deutlich tritt dies zur Abfassungszeit seiner Schrift Der Begriff des Politischen (1932) hervor, die er einer Reihe prominenter Politiker empfahl (vgl. Pyta 2003: 226ff.).9 Sicher ist außerdem, welche Form politischer Organisation seiner Idealvorstellung entsprach, nämlich diejenige des Pluriversums, 8 Schmitts frühen Plänen „Politiker und ein einflussreicher Mann“ (zit. in: Mehring 2009: 70) zu werden, sowie der Einsicht, dass es in geistesgeschichtlichen Fragen keine Wissenschaftlichkeit geben könne (vgl. Mehring 2009: 240) stehen seine Versicherungen gegenüber, den Posten an der Berliner Handelshochschule 1928 aus rein wissenschaftlichen Gründen angenommen zu haben (vgl. Mehring 2009: 204f.) und „reiner Wissenschaftler und nichts als Gelehrter“ (zit. in: Mehring 2009: 304) zu sein. Auch die Schmitt-Exegese gelangt zu keinem einheitlichen Urteil: Während die einen den politisch motivierten Schmitt am Werke sehen (vgl. u.a. Hofmann 1986: 215; Lehnert 2003; Maschke 1988: 194; Meier 2013: 12; Pyta 2003), vertreten andere die Überzeugung, dass „eine Biographie immer nur den Blick auf das Werk [verstelle]“ (Roellecke 2003: 95 Fn. 7; in abgeschwächter Form vgl. Hirst 1999: 8; Wenzel 1990: 14) und Dritte gestehen analytische und polemische Elemente gleichermaßen zu (vgl. u.a. Beckstein 2011: 46; Llanque/Münkler 2003: 13). 9 Verschiedentlich ist auf die inhaltlichen Änderungen hingewiesen worden, die zwischen der Erstfassung der Schrift aus dem Jahre 1927 und der von Schmitt später als Referenztext sanktionierten Version von 1932 bestehen (vgl. u.a.. Pyta 2003: 225; Meier 2013: 28-36). Insbesondere betrifft dies die Abkehr der Bestimmung des Politischen als eigenes Sachgebiet, in welchem der Staat als organisierte politische Einheit agiert, hin zum Kriterium des Intensitätsgrades, wonach jeder erdenkliche Gegensatz sich zum politischen steigern kann. In der Tat macht diese Abwandlung den Begriff des Politischen „bürgerkriegsfähig“ (Meier 2013: 31). Daraus jedoch zu folgern, es handle sich dabei nicht um eine Beschreibung dessen, was ist (vgl. Meier 2013: 34) – was angesichts der bürgerkriegsähnlichen Wirren in der Endphase der Weimarer Republik naheliegen würde –, sondern um rein politisches Kalkül zu Gunsten eines ordnungsstiftenden Durchgreifens der Staatsmacht (vgl. Pyta 2003: 224f.), halte ich für verkürzt, weil die derart präsentierte Alternative gar keine ist: Dass Schmitt sich eine ordnungsstiftende Staatsmacht wünscht, schließt keineswegs aus, dass er Freund-Feind-Gruppierungen im Innern sachlich politische Qualität zugesteht (vgl. Böckenförde 1988: 285). Darüber hinaus bringt die in der Neubestimmung des Politischen vorgenommene Erweiterung Probleme mit sich, die definitiv Schmitts politischen Präferenzen zuwiderlaufen, worauf weiter unten eingegangen wird.

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in dem eine Vielzahl von Staaten die politischen Einheiten bilden und somit die Unterscheidung von Freund und Feind auf der staatlichen Ebene vornehmen (vgl. Schmitt 2009a: 50f.). Die Epoche, welche dieser Vorstellung am nächsten kam, lokalisiert er im Europa des 16. bis Ende des 19. Jahrhunderts, als die entstehenden staatlichen Gebilde sich gegenseitig als gleichberechtigte politische Einheiten anerkannten und somit die Grundlage dafür schufen, sich auch im Konfliktfall nicht als Verbrecher oder gar Feinde der Menschheit zu stigmatisieren, sondern als rechtmäßige Feinde (iusti hostes) zu respektieren. Diese Konstellation, so Schmitt, habe es in einmaliger Weise ermöglicht, politische Konflikte zwar mit Waffengewalt auszutragen, jedoch nicht in Vernichtungskriege ausarten zu lassen, weil der jeweilige Kontrahent grundsätzlich als ebenbürtig galt und dadurch ein Friedensschluss möglich wurde (vgl. Schmitt 2009a: 10f., 2011: 112ff.). Zugleich führte sie zu einer engen Kopplung des Politischen mit dem Staatlichen, die gerade in der deutschen Staatenwelt besonders ausgeprägt war und zu einem quasi synonymen Verständnis der beiden Begriffe führte (vgl. Meier/Papenheim/Steinmetz 2012: 76). Damit sei es jedoch in der Weimarer Republik vorbei, wo der Staat durch die ursprünglich von ihm getrennte Sphäre der Gesellschaft überlagert und schließlich vollkommen vereinnahmt werde (vgl. Schmitt 2009a: 22f.). Dadurch werde der Staat zwar in allen Lebensbereichen präsent, jedoch nicht aufgrund seiner Stärke, sondern durch seine Unfähigkeit, sich der vielfältigen an ihn herangetragenen Interessen zu erwehren. Das Resultat sei zwar ein totaler Staat, jedoch „total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit“ (Schmitt 1994: 213). Was Schmitt stattdessen vorschwebt, ist ein Staat, der „in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen lässt. [Einer, der] nicht daran [denkt], die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat, oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden. In diesem Sinne ist, wie gesagt, jeder echte Staat ein totaler Staat“ (Schmitt 1994: 213).

Als einziges verbliebenes Bollwerk gegen die zersetzenden Kräfte erkennt Schmitt „de[n] Reichspräsident[en] und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende Autorität“ (Schmitt 1994: 216), die es entsprechend zu stärken gelte. Schmitts politisches Programm ist also klar und erst dreißig Jahre später muss er eingestehen: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren“ (Schmitt 2009a: 10). Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Schmitts

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Schriften auch als politische Handlungen gelesen werden müssen und ohne diese Dimension nicht vollständig verständlich werden. In Bezug auf die hier interessierende Frage nach seinem Konzept des Politischen muss jedoch festgestellt werden, dass der praktisch-normative Ansatz versagt, wie im Folgenden zu zeigen ist. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (Schmitt 2009a: 19) lautet die berühmte Eröffnungsformel des Schmittschen Traktats. Sie impliziert, dass der Staat weder mit dem Politischen gleichzusetzen ist noch dass er zwingend aus diesem folgt, sondern lediglich eine mögliche Verkörperung des Politischen, mit anderen Worten, einen möglichen Akteur der Politik darstellt.10 Da sich das Politische auf den Intensitätsgrad eines Gegensatzes bezieht, kann jede beliebige Gruppe die Rolle der maßgebenden politischen Einheit besetzen, wenn es ihr nur gelingt, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind zu treffen, sei sie das international vereinigte Proletariat, die rechtspopulistische Partei oder der örtliche Tierschutzverein (vgl. Schmitt 2010: 234). Ohne die Nennung eines nur normativ begründbaren Platzhalters bleibt Schmitts Begriffsbestimmung des Politischen deshalb neutral.11 Darüber hinaus bringt Schmitt sich mit seiner Definition in die ungemütliche Lage, den Primat des Politischen begründen zu müssen. In seinen Polemiken gegen Liberalismus und Pluralismus wirft er diesen Strömungen wiederholt vor, das Politische durch Ethisches und Ökonomisches zu verdrängen oder gar durch die Errichtung eines die gesamte Menschheit umfassenden Weltstaats gänzlich zu eliminieren (vgl. u.a. Schmitt 2009a: 33, 41f., 66). Zwar relativiert er seine Diagnose immer wieder, indem er versichert, dass das Politische letztlich doch unhintergehbar sei, ja, selbst pazifistische Bewegungen durch ihre Feindschaft gegenüber Nicht-PazifistInnen letztlich zur politischen Kraft würden (vgl. Schmitt 2009a: 34, 50, 71f., 82). Doch dadurch entsteht überhaupt erst das Dilemma: Entweder ist das Politische ein unausweichliches Faktum menschlicher Existenz, dann wird der Vorwurf der Entpolitisierung haltlos, oder es ist nur eine Möglichkeit unter vielen der sozialen Organisation, dann wird begründungspflichtig, warum der politischen 10 Schmitt selbst ist es, der die Verwendung der Bezeichnung Staat für vorneuzeitliche politische Gebilde verbieten will und diesen damit als zeitlich gebundene politische Organisationsform ausweist (vgl. Meier 1988: 553). Für die Loslösung des Staates vom Begriff des Politischen in Schmitts Denken vgl. Schönberger (2003: 33f.). 11 Die grundsätzliche Neutralität des Politischen als Freund-Feind-Unterscheidung in dem Sinne, dass jede Situation gutgeheißen wird, wenn sie nur dem Freund-Feind-Schema entspricht, ist schon früh von Leo Strauss bemerkt worden (vgl. Strauss 2013: 123).

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Variante der Vorrang zu geben sei (vgl. Strauss 2013: 111-123). Gerade die wenig humanistisch anmutende Konzeption Schmitts sieht sich deshalb zwangsläufig der Frage ausgesetzt, ob denn ein Weltstaat ohne Politik wirklich so schlimm wäre (vgl. Hofmann 2003: 112). Versucht man Schmitts Begriffsbestimmung des Politischen als instrumentelle Begründungsstrategie zur Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs seiner Zeit zu interpretieren, gerät man folglich in zweierlei Hinsicht in Erklärungsnotstand. Erstens enthält sein Konzept keine Implikationen über die in ihm bestimmenden AkteurInnen. Er muss deshalb nicht nur zusätzlich begründen, weswegen der starke Staat diese Rolle füllen soll, sondern liefert darüber hinaus seinen GegnerInnen – um nicht zu sagen: FeindInnen – ein Instrument an die Hand, das auch gegen ihn verwendet werden kann, weil auf seiner Grundlage genauso gut etwa das internationale Proletariat gegen das internationale Kapital mobilmachen kann. Zweitens bleibt die Bedeutung des Politischen unklar: Ist es unvermeidlicher Bestandteil menschlicher Angelegenheiten, untergrübe Schmitt damit seine eigene Kritik der Entpolitisierungen, ist es hingegen nur eine von vielen Möglichkeiten sozialer Ordnung, geriete er unter zusätzlichen Begründungszwang, wieso gerade dieser der Primat zukommen solle. Wäre es Schmitt also nur um die Bekämpfung des Liberalismus und Pluralismus sowie die Stabilisierung des Weimarer Staates durch eine durchsetzungsfähige Führung gegangen, hätte er besser daran getan, keinen abstrakten Begriff des Politischen einzuführen, sondern sich beispielsweise auf nationale Imperative zu berufen. Anknüpfungspunkte wären jedenfalls zur Genüge vorhanden gewesen. Angesichts dieser Umstände ist Schmitts Interesse am Begriff des Politischen als systematisch-analytisch zu bewerten und sein späteres Bekunden, wonach der Impuls für die Suche nach dem Kriterium des Politischen ein wissenschaftlicher gewesen sei (vgl. Schmitt 1988: 272), als aufrichtig einzustufen.12 Dasselbe Fazit ist für die Konzeption des Politischen bei Hannah Arendt zu ziehen. Fraglos wurde ihr politisches Denken durch die persönliche und allgemeine Erfahrung mit totalitären Systemen angestoßen (vgl. Arendt 2013b: 49f.) und auch sie intervenierte im öffentlichen Diskurs, was bisweilen zu heftigen Kontroversen

12 Durch den Argumentationsgang sollte klar geworden sein, dass diese Schlussfolgerung keineswegs als Plädoyer dafür zu lesen ist, systematisch-analytische grundsätzlich praktisch-normativen Erklärungsmustern vorzuziehen. Vielmehr sollen sie dem jeweiligen Gegenstand und Erkenntnisinteresse angemessen, gegebenenfalls also auch komplementär, angewendet werden (vgl. Asbach 2002: 657f.; Weber/Beckstein 2014: 235f.).

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führen konnte, wie etwa im Anschluss an ihren Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem (vgl. Young-Bruehl 2004: 337ff.). Anders als Schmitt suchte sie durch solche Interventionen jedoch nie die Nähe zu aktuellen Machthabern und hegte keine eindeutige Präferenz für eine bestimmte politische Institution, die ihr politisches Programm durchsetzen sollte, wie jener dies in der Wiederherstellung des starken Staates durch den Reichspräsidenten forderte.13 Im Gegenteil, Arendt beschränkte sich auf die Forderung nach Sicherung eines öffentlichen, politischen Raumes unter Ausschluss des Sozialen, wobei sie auf Nachfragen kaum in der Lage war, anzugeben, wer in ihm schließlich worüber debattieren würde (vgl. Arendt 2013b: 89-94). Allerdings gerät Arendt aufgrund ihrer Konzeption noch stärker als Schmitt unter Druck, den Primat des Politischen begründen zu müssen. Äußerte sich dieser noch zweideutig, ob das Politische zum Schicksal der Menschen gehöre oder nicht, lässt Arendt in dieser Hinsicht – unter Rückgriff auf Aristoteles – keine Zweifel aufkommen: „Politik [...] ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit und findet sich keineswegs überall, wo Menschen zusammenleben“ (Arendt 2003b: 38). Insbesondere sei sie für das Schöne und Nützliche durchaus verzichtbar, denn „für das schiere Wohlergehen der Stadt und die Blüte von materiellen wie intellektuellen Künsten“ erweise sich ein vernünftiger Tyrann als „von großem Vorteil“ (Arendt 2003b: 41). Weil darüber hinaus das Politische nur in wenigen großen Epochen verwirklicht worden sei (vgl. Arendt 2003b: 41), wäre es unplausibel, anzunehmen, Arendt hätte es als politischen Kampfbegriff für ihre Totalitarismuskritik – und später die Kritik an der Massengesellschaft – eingeführt. Als solcher wird er auch dadurch nicht tauglicher, dass sie das Politische eng mit dem hehren Begriff der Freiheit verbindet, weicht doch ihr Freiheitskonzept beträchtlich von gängigen, insbesondere liberalen (vgl. Mill 2009: 19f.), Vorstellungen ab, was weitere Missverständnisse geradezu heraufbeschwört. Angesichts der Tatsache, dass es für die Opposition gegen totalitaristische Strömungen wahrhaftig keines Vorwandes, geschweige denn eines Umweges bedarf, ist auch Arendts Interesse am Begriff des Politischen als systematisch-analytisch einzustufen, entsprechend dem Leitsatz, der ihr politisches Denken überhaupt motivierte: „Ich muss verstehen“ (Arendt 2013b: 48).

13 Die einzige Ausnahme scheint das Rätesystem zu sein, das Arendt in ihren späteren Schriften mehrfach positiv erwähnt (vgl. Arendt 2003b: 131f., 2013a: 319-344).

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3.2 Die systematisch-analytische Dimension Der im Rahmen der Cambridge School propagierte Ansatz, politische Theorien rein als politische Handlungen in ihrem spezifischen Diskursrahmen zu betrachten, ist demnach nicht geeignet, die Unterschiede in den beiden Paradigmen des Politischen als Partizipation beziehungsweise Dezision zu erklären. Im Folgenden wird deshalb der systematisch-analytische Weg gewählt, der von der Existenz überzeitlicher Problemstellungen und der Möglichkeit ihrer Bearbeitung ausgeht, um die Differenzen der beiden konkurrierenden Konzeptionen zu erhellen. Zu diesem Zweck ist es vorgängig notwendig, auf Gemeinsamkeiten der bislang als so unvereinbar dargestellten DenkerInnen zu verweisen. Bezeichnenderweise stehen all diese Überschneidungen in direktem Zusammenhang mit ihrer Suche nach den Grundbedingungen des Politischen. Sie betreffen etwa die Verteidigung des Politischen gegen die zersetzenden und überwuchernden Tendenzen von Gesellschaft und Ökonomie oder gegen seine Auflösung im Weltstaat, in dem es nur noch „Polizei“ (Arendt 2003b: 131; Schmitt 2009a: 10) geben würde. Sie erstrecken sich aber auch auf konzeptionelle Übereinstimmungen, wie das Problem, das Politische ohne Rückbindung an ein außerhalb stehendes Absolutes zu begründen, oder die Notwendigkeit, dessen prinzipielle Schrankenlosigkeit einzuhegen.14 Weisen diese Affinitäten bereits auf eine Nähe der beiden Ansätze hin, die bislang nicht in Erscheinung trat und erst in der folgenden Argumentation nachvollziehbar gemacht wird, so ist vorerst eine andere Gemeinsamkeit hervorzuheben, und zwar der Umgang der AutorInnen mit Begriffen. Schon früh legte Schmitt Wert auf scharfe Begrifflichkeiten und forderte dasselbe auch von anderen vehement ein (vgl. Mehring 2009: 34, 2011: 143). Er begnügte sich jedoch nicht mit eindeutig abgegrenzten Definitionen, sondern war darüber hinaus überzeugt, dass Begriffen ein substantieller Gehalt innewohne, der zwar im Laufe ihrer Verwendung verloren gehen, gleichwohl aber etymologisch wieder ausgegraben werden könne. Gerne zitierte er in diesem Zusammenhang den Ausspruch des Philologen Arnold Kanne: „Die Sprache weiß es noch“ (zit. in Meier 1988: 544, 552; Mehring 2011: 149).15 14 Die Übereinstimmungen in Arendts und Schmitts Denken wurden bereits verschiedentlich entdeckt und herausgearbeitet (vgl. u.a. Emden 2008: 111; Herberg-Rothe 2004: 38ff.; Kalyvas 2004: 325; Sluga 2008: 107). 15 Vergleiche dazu Arendt: „[Verschiedene Begriffe] synonym zu gebrauchen, zeigt [...], daß man das, was die Sprache eigentlich sagt, nicht mehr hören kann“ (Arendt 2003b: 44, Hervorh. MW).

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In auffallender inhaltlicher Übereinstimmung unterscheidet Arendt den kommunikativen Wert eines Begriffs, der ihm durch die verschiedenen Verwendungsweisen zukomme, von seiner aufschließenden Qualität, die sich auf die bezeichnete Sache selbst beziehe: „Meiner Meinung nach hat ein Wort vielmehr eine viel engere Beziehung zu dem, was es ausdrückt oder was es ist, als nur die Art und Weise, in der es zwischen Ihnen und mir gebraucht wird. Das heißt, Sie schauen nur auf den kommunikativen Wert des Wortes. Ich schaue auf die aufschließende Qualität. Und diese aufschließende Qualität hat natürlich immer einen geschichtlichen Hintergrund.“ (Arendt 2013b: 98, Hervorh. MW)

Geht man dem „geschichtlichen Hintergrund“ des Politischen nach landet man unweigerlich bei der griechischen Polis und tatsächlich ist dies der Punkt, an dem Arendt und Schmitt explizit zueinander finden, wie ein Brief Schmitts an Christian Meier bezeugt: „Der erste Satz (‚der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus‘) hat es in sich (also das griechische Wort!). In diesem Zusammenhang ist ein Satz von Hannah Arendt, in der Zeitschrift Merkur Nr. 240 (Seite 313) wichtig: ‚...in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche, es endgültig loszuwerden. Die griechische Polis wird so lange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort ‚Politik‘ im Munde führen‘.“ (Meier 1988: 543, Hervorh. im Orig.)

Angesichts des gemeinsamen Bewusstseins um die Wurzeln des Politischen mögen die Unterschiede der beiden Konzeptionen noch mehr erstaunen. Zugleich ist aber damit ein Ansatzpunkt gefunden, in dem die Erklärung für die Differenzen liegen könnte. Dem berühmten Diktum Christian Meiers folgend, ist „[d]ie Entstehung des Politischen bei den Griechen“ (Meier 1983), namentlich in der athenischen Demokratie, zu lokalisieren, und zwar der Sache ebenso wie dem Begriff nach.16 Sie wurde möglich durch das erwachende Gefühl für Kontingenz, verbunden mit dem aufkommenden Bewusstsein für die menschliche Gestaltungsmacht der eige-

16 Avant la lettre hat Arendt diese Einsicht bereits vorweggenommen: „Nicht nur etymologisch und nicht nur für den Gelehrten ist dies Wort [des Politischen] mit Assoziationen getränkt, die aus jenem Gemeinwesen stammen, in welchem das Politische in einem spezifischen Sinne zum ersten Mal entdeckt wurde.“ (Arendt 2012: 203)

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nen Geschicke, die in Athen erstmals einer breiteren Bürgerschaft unabhängig ihres sozial-ökonomischen Standes übertragen wurde. Die Art der politischen Betätigung unterschied sich jedoch grundsätzlich von modernen Vorstellungen. Anders als heute wurden soziale und ökonomische Fragen – mit Ausnahme der Sicherung der Grundversorgung – nicht zum Thema öffentlicher Auseinandersetzungen (vgl. Meier 1983: 41). Hauptsächlich wurden stattdessen die Ehrung oder Bestrafung von Bürgern diskutiert, die sich um das Gemeinwesen besonders verdient gemacht beziehungsweise es in Gefahr gebracht hatten (vgl. Bleicken 1995: 210ff.). Durch diese Tätigkeit versicherte man sich ständig der eigenen, freiheitlichen Ordnung, was einerseits angesichts der Neuheit der demokratischen Organisationsform und ihrer ständigen Bedrohung von innen und außen durchaus geboten war, andererseits aber aus moderner Perspektive eigentümlich selbstreferentiell und zweckfrei erscheinen muss. Diese Betrachtungsweise erklärt die oben erwähnte Schwierigkeit, mit Arendts Begriffsbestimmung des Politischen konkrete Inhalte in Verbindung zu bringen, denn ihr Konzept beruht im Wesentlichen auf einer Auseinandersetzung mit der griechischen Polis und deren Beschreibung durch Aristoteles. Entsprechend steht dabei die Freiheit im Mittelpunkt, derer sich die Bürger durch gegenseitiges InErscheinung-Treten als Gleiche im öffentlichen Raum immer wieder versichern, ohne darüber hinausreichende Ziele oder Zwecke zu verfolgen.17 Gleichzeitig ist Arendt Recht zu geben, wenn sie darauf besteht, dass der Polisbürger nur innerhalb der Mauern seiner Stadt politisch handeln konnte, weil nur in diesem geschützten Raum die Gewalt als legitime Art des gegenseitigen Umgangs ausgeschlossen und durch „die Kunst des Überredens und Miteinandersprechens“ (Arendt 2012: 293; siehe auch Bleicken 1995: 105; Meier 1983: 196) ersetzt worden war. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass die Griechen keine Außenpolitik gekannt hätten, weil dort das Recht des Stärkeren zur Anwendung komme (vgl. Arendt 2003a: 53, 2013a: 11), ist verfehlt. Tatsächlich ist der Moment der konkreten gewaltsamen Auseinandersetzung mit einer anderen Polis nicht dem Politischen zuzurechnen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Entscheidung, in diese Auseinandersetzung einzutreten, durchaus innerhalb der Mauern der Polis und durch die regulären politischen Institutionen getroffen wurde. Die Außenpolitik 17 Vergleiche dazu Bleicken: „Die Leistungsfähigkeit der Demokratie war für [die Athener] kein Gegenstand des Nachdenkens“ (Bleicken 1995: 499), und Meier: „[D]er Inhalt vieler Entscheidungen [ist] für die Bürger weniger interessant gewesen, als die Mitsprache bei ihnen.“ (Meier 1983: 127)

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wird denn auch als zweiter zentraler Gegenstand antiker athenischer Politik beschrieben (vgl. Bleicken 1995: 210, 380-383). Hier hat die Volksversammlung als zentrales politisches Organ über Verträge, Gesandtschaften und Truppenstärken entschieden, darüber, mit wem ein Bündnis angestrebt und mit wem ein Krieg ausgefochten werden soll, mit anderen Worten, sie hat darüber entschieden, wer Freund ist und wer Feind. Damit sind wir unversehens wieder bei Schmitts Begriffsbestimmung gelandet. Zwar kann von ihm nicht behauptet werden, dass er sie direkt aus dem antiken Vorbild ableitet – auch wenn er sich des Urbilds des Politischen durchaus bewusst gewesen ist – und es wäre deshalb falsch, an dieser Stelle kausale Ketten konstruieren zu wollen. Für den vorliegenden Zusammenhang zeigt sich jedoch in entscheidender Weise, dass sowohl die Denktradition der Partizipation wie auch jene der Dezision im antiken Ideal des Politischen vorgeprägt sind und deswegen die Ausdifferenzierung der Modelle kaum zu überraschen vermag. Vielmehr lässt sich die entstandene Divergenz aus systematisch-analytischer Perspektive durch einen unterschiedlichen Zugriff auf das griechische Urbild beziehungsweise durch unterschiedliche selektive Interpretation desselben plausibel erklären, wobei die Bezugnahme explizit und intensiv sein kann – wie bei Arendt – oder indirekt und vermittelt – wie bei Schmitt. Zugleich wird mit der Freilegung des gemeinsamen Ursprungs das Tor zur Wiedervereinigung der beiden Ansätze aufgestoßen, weil sich zeigt, dass sie, einzeln betrachtet, das Politische notwendigerweise nur unvollständig erfassen.

4. P artizipation und D ezision : Z wei B estandteile des P olitischen

komplementäre

Nachdem mithilfe des praktisch-normativen Interpretationsansatzes kein Aufschluss über die Gründe für die Herausbildung der zwei Paradigmen des Politischen gewonnen werden konnte, lieferte die systematisch-analytische Methode nicht nur dahingehend entscheidende Hinweise, sondern trug darüber hinaus zur Klärung des Verhältnisses der beiden Positionen bei. Es erweist sich als ein komplementäres, insofern beide Seiten nur Teilaspekte dessen enthalten, was als das ursprünglich Politische wahrgenommen wird. Aufgrund dieses Befundes drängt sich eine Zusammenführung der zwei Denktraditionen auf, wenn man zu einem erschöpfenden Begriff des Politischen gelangen will. Zwar kann eine solche Synthese an dieser Stelle nicht umfassend geleistet werden; allerdings lässt sich die Stoßrichtung be-

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nennen, der ein entsprechendes Unterfangen folgen müsste, um zu einem erfolgreichen Abschluss zu gelangen. Zunächst ist festzustellen, dass die Komplementarität der beiden Ansätze schon in den einschlägigen Werken selbst in zweierlei Hinsicht aufscheint. Erstens ist dies der Fall durch die eigentümliche Unbestimmtheit der jeweils anderen Seite, die viele Fragen offen lässt. So vermag Arendt zwar sehr genau die Kriterien des von ihr konzipierten öffentlichen Raums zu benennen, was aber die in ihm Handelnden schließlich tun werden, über welche Themen sie sprechen, ob sie nicht doch schließlich zu einer Entscheidung gelangen können und durch welche Verfahren sie dies tun würden, bleibt weitgehend im Dunkeln. Mit einer ähnlichen Klarheit verortet Schmitt das Politische dort, wo die Entscheidung über Freund und Feind getroffen wird. Die Frage bleibt aber offen, welche AkteurInnen für diese Entscheidungen in Betracht kommen und wie sie in die Position gelangen, ihre Beschlüsse auch durchzusetzen. Nimmt man jedoch, zweitens, nicht nur die theoretischen Kernabschnitte, sondern das gesamte Werk der beiden DenkerInnen in den Blick, so zeigt sich bald, dass sie gegenüber der jeweils anderen Seite des Politischen keineswegs blind waren. Bei Arendt ist dies vornehmlich in Interviews und Diskussionen der Fall. Während sie auf der theoretischen Ebene auf der grundsätzlichen Zweck- und Nutzlosigkeit des Politischen pocht, weil sein Sinn in der dadurch gelebten Freiheit – also im Vollzug selber – liege (vgl. Arendt 2002: 278, 2012: 206f.), kommen an anderer Stelle überraschend zweckgerichtete Elemente hinzu: Plötzlich werden Ziele verfolgt (vgl. Arendt 2003b: 81) und Abgeordnete gewählt (vgl. Arendt 2013a: 353, 357f.), es wird über integrativen Wohnungsbau befunden (vgl. Arendt 2013b: 93) und ganz allgemein festgestellt, dass Aktionen dann politisch seien, „wenn sie die Welt verändern“ (Arendt 2003b: 69 Fn. 83). Nur deshalb kann Young-Bruehl zu dem wohl zutreffenden Fazit gelangen, dass Arendt die Zweck-Mittel-Kategorie nicht grundsätzlich aus dem Politischen ausschließen, sondern lediglich die sinnhafte Bedeutung zweckfreien Handelns als solchem hervorheben wollte (vgl. Young-Bruehl 2004: 494). Im Fall Schmitt lassen sich die betreffenden Aussagen an sehr viel zentraleren Orten auffinden. Scheint das Kriterium der Freund-Feind-Unterscheidung zunächst eindeutig, tritt ihm bald eine Vielzahl von Differenzierungen gegenüber. Da gibt es etwa „Politik im großen Sinne, hohe Politik“ (Schmitt 2009a: 10), ja gar „Höhepunkte der großen Politik“ (Schmitt 2009a: 62) auf der einen Seite, sowie „sekundäre“ (Schmitt 2009a: 28) und Parteipolitik (vgl. Schmitt 2009a: 30) auf der anderen. Da sich die erste Gruppe auf jene Situationen bezieht, „in denen der Feind

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in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird“ (Schmitt 2009a: 62), also auf die Außenpolitik, bezeichnet die zweite Gruppe folgerichtig Aushandlungsprozesse im Innern, die zwar ebenso von einem Antagonismus geprägt sind, der jedoch (noch) nicht die Intensität einer Freund-Feind-Gruppierung erreicht (vgl. Böckenförde 1988: 314f.). Die beiden Momente der Partizipation und Dezision sind also eng miteinander verbunden und selbst der souveräne Diktator als Dezisionist schlechthin kommt nicht ohne die Berufung auf den pouvoir constituant aus, ohne dessen Mindestmaß an Partizipation – die Sanktionierung – alle seine Entscheidungen wirkungslos blieben (vgl. Schmitt 2006: 142f.). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf das Urbild des antiken Athen muss ein neuer, integrativer Begriff des Politischen notwendigerweise den partizipativen und den dezisionistischen Aspekt gleichermaßen berücksichtigen. In diesem Zusammenhang kam die bisherige Untersuchung des Öfteren auf den Unterschied von Innen- und Außenpolitik zu sprechen, und dies ist kein Zufall. Partizipative Ansätze konzentrieren sich, zumindest implizit, auf ersteres und tatsächlich ist das unproblematisch, solange man von einem autarken Gemeinwesen ohne Außenbeziehungen ausgeht. In ihm können sich die Beteiligten ungezwungen einen öffentlichen Raum schaffen, in welchem sie durch Miteinanderreden und gegenseitiges Überzeugen um Ruhm unter den MitbürgerInnen konkurrieren und sich darüber hinaus als freie Wesen erfahren dürfen. Problematisch wird diese Konstellation erst, wenn die Außenpolitik an die Tür dieses Gemeinwesens klopft, und zwar nicht die Außenpolitik im gemeinen Sprachgebrauch sondern alles, was im Arendtschen Sinne außerhalb des Politischen liegt. Dazu gehört der Einfall der Barbaren ebenso wie die um sich greifende Pest oder die ausbleibenden ägyptischen Getreidelieferungen. All diesen Ereignissen ist gemein, dass sie eine Entscheidung erzwingen und damit, in den Worten Schmitts, „das Abschneiden des Gesprächs, der Argumentation“ (zit. in Schickel 1993: 71). Wenn auch der Anlass dazu von außen kommt, wird die Entscheidung doch im Inneren gefällt und ist als solche Teil des Politischen. Bleibt sie aus, verschwindet das Gemeinwesen und mit ihm das Politische. Obwohl also die Partizipation von der – zumindest gelegentlichen – Dezision abhängt, ergibt sich dadurch keineswegs ein hierarchisches Verhältnis. Denn politische Entscheidung kann immer nur öffentlich wirksame Entscheidung heißen und öffentliche Wirksamkeit erlangt sie nicht ohne öffentliche Unterstützung, sprich: Partizipation. Das Abhängigkeitsverhältnis ist also ein wechselseitiges, das eine kann ohne das andere nicht dauerhaft existieren. Jeder Begriff des Politischen, der diesen Zusammenhang ignoriert, muss notwendigerweise unvollständig bleiben.

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Bielefeld, Paris & Cambridge Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Reinhart Kosellecks, Michel Foucaults und Quentin Skinners1 SEBASTIAN HUHNHOLZ „Koselleck and I both assume that we need to treat our normative concepts less as statements about the world than as tools and weapons of ideological debate. Both of us have perhaps been influenced by Foucault’s Nietzschean contention that ‚the history which bears and determines us has the form of a war‘.“ (Skinner 2002: 177)

1. E inleitung : D iskurs

über

D iskurse

Der nachfolgende Versuch will eine wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerte Simultanität beschreiben, erkenntnistheoretisch kontextualisieren und theoriepolitisch erläutern. Es geht um die eigentümliche Koinzidenz, in der drei der maßgeblichsten westeuropäischen Ideenhistoriker einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig voneinander kritische methodologische Programme entwarfen, um die damals noch philosophisch gebundene Geschichtsschreibung politisch-sozialer Ideen, kurzum, die Ideengeschichte, vom geistesgeschichtlichen Höhenkamm in historisch-kontextualistische Täler ideologiekritischer Diskursanalyse zu zie-

1 Für hilfreiche Hinweise danke ich Katja Staack, Matthias Hansl, Karsten Fischer, Ludwig Gasteiger, Florian Meinel und Veith Selk, Hansl insbesondere für seinen Hinweis auf Philp (2008), Staack für Hinweise auf Skinners Reflexionen des „Bielefelder Programms“.

158 | SEBASTIAN HUHNHOLZ

hen. Gemeint sind die Methodologien Reinhart Kosellecks (dazu Joas/Vogt 2011; Olsen 2012), Michel Foucaults (dazu Vasilache 2013; Veyne 2009) und der ersten Generation der sogenannten Cambridge School (zu dieser dokumentarisch Mulsow/ Mahler 2010), maßgeblich aus dieser aber Quentin Skinner (zu diesem Palonen 2003).2 Es ist diese zeithistorisch und diskursmethodologisch frappierend parallele Konstellation, die im Folgenden gemäß ihren Wirkungsstätten „Bielefeld, Paris & Cambridge“ genannt wird, riskierend, dass sich diese Städte in unterschiedlichem Maße durch ein dergestaltiges Triumvirat geehrt fühlen könnten. Die der Abgrenzung und Feinunterscheidung halber gewöhnlich gezogene Unterscheidung zwischen Begriffsgeschichte, Diskursarchäologie und intellektueller Ideenpolitik (intellectual history) muss die wissenschaftsgeschichtliche Assoziation dieser drei ideenhistorisch-methodologischen Diskursanalyseschulen nicht anfechten. Immerhin beginnen schon seit einigen Jahren vergleichende Betrachtungen nicht nur über Koselleck, Foucault und Skinner. Verdienstvolle Editionen zur Theorie der Ideengeschichte (z.B. Stollberg-Rilinger 2010; Mahler/Mulsow 2014) lassen erkennen, wie sehr im Zuge der ideologischen Abwicklung des Zweiten Weltkriegs und des Kolonialismus mittlerweile kanonische Strömungen ideenhistoriographischer Selbstreflexionen erwuchsen, deren im Prinzip komplementäre Pionierarbeit rückblickend vor allem darin besteht, der heutigen Ideengeschichtsforschung überhaupt zu Möglichkeiten „zweckorientierter“ statt bloß „prinzipienbasierter Methodenauswahl“ verholfen (vgl. Weber/Beckstein 2014: 234) und sie somit auf „pluralistische“ Interpretationen geeicht zu haben (vgl. Marciniak 2015: 43ff.). Mit einigen Rückgriffen auf seine zarten Anfänge in der Zwischenkriegs- und Kriegszeit – namentlich spielen hier Karl Mannheim, Ludwig Wittgenstein, Arthur O. Lovejoy und Karl R. Popper eine bedeutende Rolle – erreichte dieser kleine Kanon in den methodologischen Arbeiten Kosellecks, Foucaults und Skinners seinen Zenit und setzt sich schließlich in die jüngere Vergangenheit hinein fort: etwa

2 Die hiesige Konzentration auf Skinner soll die erste Generation der Cambridge School nicht zu Gunsten gleichwelcher Exemplarität beschneiden, sondern resultiert aus der anders als zumal bei Pocock dezidiert antiteleologischen Pointe Skinners, wohingegen Pococks Ideengeschichte ungleich traditioneller und eher inhalts- als kontextfokussiert vorgeht, wenn sie das Vokabular politischer Ideen, darin Foucault nur selten ähnlich, als eine Art Code (parole) identifiziert, als sprachlichen Bedeutungshaushalt, der von seinen Benutzern theoretisch decodiert werden kann, räumlich zu springen und zeitlich zu wandern vermag (vgl. Huhnholz 2014: 225ff.).

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durch den Philosophen Hans Blumenberg, den Soziologen Niklas Luhmann, den Komparatisten Richard Rorty oder den Globalgeschichtler Christopher Bayly. So sei die „gegenwärtige Lage“ der Ideengeschichte endlich „unübersichtlich, aber erfrischend vielgestaltig“ geworden (Mahler/Mulsow 2014: 30). Umso stärker aber werden mittlerweile die klassischen Reflexionstheorien der politischen Ideengeschichtsschreibung mit dem Phänomen konfrontiert, allmählich in den Beobachtungsfokus ihrer eigenen Methode zu rücken. Einmal auf sich selbst angewendet geraten sie in die Verlegenheit, ihrem eigenen Anspruch nach erklären zu müssen, warum sie als Methoden, die der Kontextualisierung von Leitideen zwecks Identifizierung ihrer historischen Absichten (Skinner), ihrer gesellschaftlichen Wirkungen (Foucault) und ihres semantischen Wandels (Koselleck) dienen sollen, heute ihrerseits Leitideen geworden sind, inwiefern sie also, mit anderen Worten, selbst historisiert werden können und inwieweit sie selbst ideologiekritisch kontextualisiert werden müssen. Versteht sich die Möglichkeit einer im besten Sinne historischen Zusammenschau der drei Ansätze, wie im Folgenden auszuführen ist, recht einfach, beinhaltet die Option der Kontextualisierung eine durchaus skeptische Perspektive. Diese wird, das sei unumwunden vorausgeschickt, hier nicht befriedigend und vollumfänglich einzulösen sein. Das sollte indes nicht davon abhalten wenigstens einmal zu fragen, ob und was eigentlich methodisch aus dem Befund resultiert, dass sich mit Koselleck, Foucault und Skinner drei innovative junge Historiker3 einst ungefähr zeitgleich und unabhängig voneinander daran gemacht hatten, die ideenhistorisch ideologisierten Überschusstheorien ihrer Zeit in methodologisch neuartige Rahmen diskurshistorischer Prägung zu situieren, mithin metatheoretische Diskurse über Diskurse zu postulieren, um Ideologiekritik neu und anders zu begründen. Zunächst überzeichnet formuliert, um das Interesse des hiesigen Aufsatzes zu verdeutlichen: Sind Diskurse hegemonialistische Strategien der Eroberung mög-

3 Dem Einwand vorgreifend, Foucault gehöre jener Wissenschaftsrichtung an, die ihn hauptsächlich für sich reklamiert, sei nicht nur erinnert, dass die meisten Bücher Foucaults historische Werke sind, sondern auch, dass Foucault selbst (2003: z.B. 37, 38, 56; ferner Brieler 1998; Maset 2002; Veyne 1992, 2009: 29ff.; Windschuttle 1998) sein diskursanalytisches Programm als „die wirkliche Arbeit der Historiker“ ausgab und betonte, mit seiner nur „geringfügige[n] Verschiebung“ der „Geschichte der Ideen“ müsste die „Geschichte der Denksysteme“ sich „an die Praxis der Historiker […] anknüpfen lassen“ (Foucault 2003: 37, 38, 56).

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lichst unhinterfragter Deutungshoheit im Sinne einer Erzeugung, Strukturierung, Elitarisierung und Legitimierung von Herrschaftswissen, dann sind methodologische Vorschläge mit dem Ziel, metatheoretische Diskurse über Diskurse zu führen, keine objektiv-neutralen Empfehlungen aus dem Elfenbeinturm, sondern intellektuell camouflierte politische Gegenstrategien. Anders als bloße Diskursanalysen dienen sie inhärent der Kritik des in einem Diskurs reklamierten Machtanspruchs. Entsprechend gestand in einem für ihn allerdings ungewöhnlichen Ton Quentin Skinner spät, aber immerhin zu, Alliierter beider mittlerweile verstorbenen Kollegen Koselleck und Foucault zu sein – Partisan in einem Ideologiekampf, der von Nietzsche begonnen worden sei und die „Form eines Krieges“ (Skinner 2002: 177) angenommen habe. Daraus folgen für den vorliegenden Beitrag drei Thesen. Erstens ist davon auszugehen, dass die methodische Konvergenz zwischen Koselleck, Foucault und Skinner weniger Zufall war als vielmehr simultane und generationenspezifische Reaktion auf wissenshistorische Herausforderungen im gesellschaftspolitisch zunehmend liberalisierten Westeuropa der mittleren und späten Nachkriegszeit. Es ist daher ganz richtig bemerkt worden, dass die „erkenntnistheoretische Verschiebung, in deren Fahrwasser die Diskurstheorie auftaucht, […] selbst Teil der Ideengeschichte“ (Feustel 2013: 150; vgl. ähnlich Palonen 2004: 16; Heinz/ Ruehl 2009: 280) ist. Das bedeutet zweitens, dass eine gewisse Historisierung der genannten Ansätze zwecks bedachterer Aktualisierung geboten sein könnte, damit ihre sachdienlichen Methodenanteile zur historischen Erforschung politischer Ideen von diskurspolitischen Interventionen überhaupt zu unterscheiden sind. Erst anhand solcher Unterscheidungen ließen sich dann auch die Forschungsmethoden Kosellecks, Foucaults und Skinners zirkulär auf sich selbst anwenden und auf methodische Augenhöhe mit ihrem kritischen Eigenanspruch bringen. Abermals pointiert: Der Begriffshistoriker Koselleck betrieb vermittels seiner Methodik selbst Begriffspolitik. Der Diskursarchäologe Foucault vermutete, man müsse gewissermaßen in den Sedimenten vergangener Machtäußerungen graben, um Fundamente gegenwärtiger Ideologiekathedralen zu entdecken. Und dem kontextualistischen Historiker Skinner ist es seit geraumer Zeit u.a. darum zu tun, eine demokratisch interpretierte Variante des hobbesschen Etatismus gegen einen zeitgenössischen Neoliberalismus in Stellung zu bringen (vgl. Skinner 2012). All dies sind ihrerseits ideenpolitische Unternehmungen. Sie nur als neutrale Resultate objektivistischer Methoden zu verstehen, wäre naiv.

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Eine dritte Konsequenz ist ungleich leichter verständlich und schwerer umzusetzen. Eine dem Zeitgeist ihrer Entstehung nachspürende, integrierte Interpretation der Ansätze gelingt nur, sobald auf jenen pedantischen und methodologisch-nationalistischen Fetisch verzichtet wird, mit dem die Ansätze aus Bielefeld, Paris und Cambridge zuweilen noch immer rezipiert werden. Zu ignorieren sind daher jene universitären Ränkeleien, durch die sich „Schulen“ bilden, akademische Überzeugungen produziert und leidenschaftliche AnhängerInnen rekrutiert werden, die dann ihre je eigene Präferenz privilegieren und andere Ansätze, wenn überhaupt, bevorzugt „im hierarchischen Sinne einer postulierten Dienstbarkeit […] begreifen“ (Joas/Vogt 2011: 29). Dass dieses Vorgehen dann gelegentlich und auch in der hier gebotenen Kürze den Eindruck erwecken wird, der Vergleich von Koselleck, Foucault und Skinner übergehe substantielle Unterschiede und amalgamiere alles zu einem beliebigen Methodenbrei, ist einerseits nicht ganz zu verhindern. Andererseits liegt darin der Vorzug, zunächst Gemeinsamkeiten zu suchen, unbezweifelbare Differenzen nicht vorschnell als unüberbrückbare Unvereinbarkeiten zu bewerten und überhaupt: epigonale Heroisierungen einzelner Ansätze zu vermeiden. Wohlwissend daher auch, dass Koselleck, Foucault und Skinner selbst nicht nur Freundliches übereinander zu sagen wussten,4 soll die methodologische und zeitliche Konvergenz, die ihre Frühwerke kennzeichnet, in einer Art diskurstheoretischer Ringparabel verstanden werden. Es ist also nicht nur davon auszugehen, dass sich selbstverständlich die Methoden der jeweils beiden anderen aus der Sichtweise des Dritten beobachten, anverwandeln und kritisieren lassen, sodass sich etwa die Begriffsgeschichte Kosellecks und die Archäologie Foucaults im Fokus der Cambridge School als theoriepolitische Interventionen in spezifisch zeithistorische Konstellationen darstellen. Die Analogie zur Ringparabel aus Lessings Nathan der Weise vollendet sich nur in einer postfundamentalistischen Perspektive: Sie mahnt den Verzicht an, nicht eines dieser drei klassisch gewordenen ideen-, begriffs- und diskurshistorischen Methodenangebote als einzig satisfaktionsfähiges zu begreifen. Um vor dem Hintergrund dieser Thesen nun zu plausibilisieren, dass die gemeinsame methodologische Stoßrichtung der hiesigen drei Protagonisten „theoriepoli4 Dies gilt nicht allein, weil manche Kenntnisse übereinander wenigstens anfangs verzerrt gewesen sein dürften (vgl. bloß Skinner 2008: 16). Sicherlich ist auch der Quellentypus autobiographischer Selbst- und Fremdkommentare hinsichtlich der Rekapitulation einzelner Werkentstehungen und -entwicklungen nicht unproblematisch (vgl. kontextualisierend dazu Joas/Vogt 2011: 27ff.).

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tische Konvergenzen“ im Sinne des Aufsatztitels bereithält – genauer genommen noch: ideologiekritische Versuche, die politische Ideengeschichte von teleologischen Kontinuitätsnarrationen zu entschlacken und dadurch Empirie-getragene politische Theorie und normative politische Philosophie voneinander zu separieren – sind zunächst einige Erläuterungen des gewöhnlich diffusen oder spezialistischen Wortgebrauchs in Sachen „Diskurs“, „Diskursivität“ usw. vonnöten (Abschnitt 2). Auf dieser Basis lassen sich sodann zentrale diskursanalytische „Brüche“ identifizieren, die zum Zentrum der methodologischen Kritiken Kosellecks, Foucaults und Skinners an der klassischen, an der gewissermaßen platonischen Ideengeschichte führen. Denn „[e]nthüllt“, so etwa Foucault, die Analyse eines Diskurses nicht mehr „die Universalität eines Sinns“ (Foucault 2003: 44), muss auch das, was vordem „einer Gesellschaft als“ vielleicht sogar historisch überliefertes, gesichert geglaubtes „‚Wissen‘“ galt, so Berger und Luckmann, „ohne Ansehen einer absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit“ auskommen (Berger/Luckmann 2009: 3). Die großen historischen Ideen und ihre pathetischen Begriffe schrumpften im Zuge der methodologisch diskursanalytischen Revolution zu autogenen und selbstreferentiellen Selbstvergewisserungen. Sie waren aus Perspektive aufklärerisch motivierter Methodologien zu „spezifisch[…] gesellschaftlichen Gebilden“ (Berger/Luckmann 2009: 3) geworden, formbar, veränderlich, relativ (Abschnitt 3). Insofern sind Koselleck, Foucault und Skinner als theoriepolitische Vorkämpfer einer ideologiekritisch reflektierten, d.h. versozialwissenschaftlichten Geschichtswissenschaft zu begreifen, einer wissenssoziologisch eingebetteten Historiographie, die ernüchtert und abrüstet, sobald sie sowohl ihre dokumentaristisch-archivarische Unschuldsillusion abstreift wie auch das Risiko reflektiert, mittels Aufklärung über ideologische Muster selbst ideologieanfällige Geschichtsgesetzlichkeiten zu suggerieren. Letzteres freilich ist ein spezifisch postmarxistischer Antiplatonismus. Denn wo nicht mehr im Sinne der berühmten Feuerbach-These davon auszugehen ist, dass die Philosophen die Welt nur unterschiedlich interpretiert hätten, kann endlich vermutet werden, sie hätten die Welt unterschiedlich erschaffen. Dann also ist es weniger die Vergangenheit, die Gegenwart formt, als vielmehr umgekehrt zu vermuten wäre, dass das Geschichtsbild einer Gesellschaft immer und ausschließlich Produkt gegenwärtiger Erfordernisse ist. Historische Kontinuitäts-, Traditions- und Wahrheitskonstruktionen erweisen sich sodann als Produktionsbedingungen politischer Massensteuerung und tradierte Leitideen firmieren als Geschichtswaffen politischer Sinnstiftung – als jener „Geist der Zeit“, wie es im Faust heißt, der „im Grunde der Herren eigener Geist“ ist, „in dem die Zeiten sich bespiegeln“. Anhand der drei genannten Autoren wird diese

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ideenhistoriographische Wende im vierten Abschnitt dieses Beitrags rekapituliert. Auf ihn folgt ein die wissenschaftsgeschichtliche Pointe aktualisierendes Fazit (Abschnitt 5).

2. Z um D iskursbegriff Die Geschichte der Diskurstheorie ist längst selbst eine methodologisch reflektierte Begriffsgeschichte geworden – eine Reflexion über den Begriff des „Diskurses“ und dessen Reichweite (vgl. Landwehr 2008). Und selbstverständlich ist längst gefragt worden (vgl. z.B. Hackler 2012), was für einen aufklärerischen Wert ein Diskursparadigma eigentlich hat, wenn alles von allen immer schon unter den Vorbehalt kritischer Dekonstruktion der immanenten Diskursivität jeweils untersuchter und/oder praktizierter Verständigungsroutinen gestellt wird. Schon die Begrifflichkeit des „Diskurses“ birgt daher eine Reihe von Problemen. Einerseits trägt die Semantik des „Diskurses“ noch das etymologische Erbe der Auseinandersetzung mit jemandem und der bloßen Abhandlung über etwas in sich. Letzteres Problem erledigt sich unserer Tage, da der „Diskurs“ im Sinne der „Abhandlung“ zum „Essay“ geworden ist. Ersteres Problem ist schwieriger, ist doch, ganz ähnlich wie im Wort „Volk“, im Wort „Diskurs“ mittlerweile ein Leit- und ein Unwert der Demokratie zugleich eingefangen. So wie „Volk“ souveräne Bezugsgröße und in elitärem Vokabular „Pöbel“ beidermaßen meinen kann, rangiert „Diskurs“ zwischen einem habermasschen und einem foucaultschen Pol (vgl. Nonhoff 2011). Das Wort ist einerseits zu einem von Theorie (auch der habermasschen) entfernten Allerweltsbegriff prozeduraldemokratischer Transparenz und vernunftpolitischer Ethik avanciert, andererseits zu einem raunenden Inbegriff unausweichlicher Machtpräsenz. Der mit einer großzügigeren Muttersprache gesegnete Foucault hatte beide Probleme sportlicher nehmen dürfen. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France sprach er schon im ersten Satz einfach von dem „Diskurs, den ich heute zu halten habe“ (Foucault 2003: 9), den er nämlich über den „Diskurs“ zu halten hatte. Foucault löste die Vieldeutigkeit also nicht, sondern spielte mit ihr. Er gab einen „Diskurs“, eine Vorlesung, einen Vortrag über sein Arbeitsprogramms, das er damals, 1970, noch „provisorisches Theater“ nannte (Foucault 2003: 10) nannte, und das den „Diskurs“ in den Blick nehmen sollte, die „Prozeduren der Ausschließung“ und „Verknappungssysteme“ (Foucault 1977a: 22, 2003: 11, 34), kurzum das –

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und diese sozialgeschichtliche Familienähnlichkeit parallel entwickelter Theorien ist längst bemerkt worden (vgl. z.B. Beyme 2013: 9ff.; Bödecker 2002) –, was der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn kurz zuvor ein „Paradigma“ genannt hatte (Kuhn 1962)5 und was zeitgleich schon die „Bielefelder Schule“ auszeichnete – als die hier zu verstehen ist: jenes Ensemble der von Koselleck und seinen Mitherausgebern für die gleichnamige große Lexikonreihe zur „politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ gewählten, sogenannten „Geschichtlichen Grundbegriffe“ sowie das mitlaufend dazu publizierte Werk.6 5 Ein Hinweis auf die wissenschaftstheoretisch eigentliche Revolution der Zeit sei gleichwohl erlaubt, denn sie zieht sich zumal durch Skinners Ansatz (vgl. Skinner 1969a: 23f., 1969b: 42ff., kritischer 1985b: 10f., später noch 1988). Das starke und vor allem disziplin- und länderübergreifend simultane Interesse, mit der nicht nur SozialhistorikerInnen und andere SozialwissenschaftlerInnen auf John Austins wittgensteinisch inspirierte Form des „illokutionären Sprechakts“ (Austin 1962) reagierten, stand mehr noch als Kuhns Paradigmabegriff Pate für eine interdisziplinär erregte Konstellation, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbereitet worden war und eine Formentheorie hervorbrachte, die von Aby Warburg, Ernst Gombrich und Ernst Cassirer über Marshall McLuhan und George Spencer-Brown bis zu Niklas Luhmann reicht und folglich auch die Vorstellung, dass Ideen (feste) Formen seien und nicht (variable) Medien mitlaufend relativiert. Daher verkürzen idiosynkratische Interpretationen das Phänomen der Diskurstheoriegeschichte etwa durch die Ansicht, junge ForscherInnen wie Foucault und Skinner hätten sich lediglich gegen die naive, summarisch-rekonstruktive und archivarische Ideengeschichtsschreibung ihrer Zeit gewendet (vgl. Thumfart 2013: 127), gar so, als läge hier ein Problemzusammenhang vor, der auf die politische Ideengeschichtsschreibung begrenzt wäre. 6

Durch den Nachsatz sei kurzerhand pariert, dass das, was hier als Historische Semantologie oder „Bielefelder Schule“ geführt wird, zwar mit wachsendem Erfolg immer umfassender und teils auch unfairer kritisiert worden war (vgl. die Zusammenschau durch Landwehr 2008: 31ff.), dabei aber ein erheblicher Teil der Kritik am uneingelöst sozialhistorischen Anspruch der Geschichtlichen Grundbegriffe sich auf die Lexika selbst fokussierte, die umfänglichen Begleitarbeiten indes ignorierte, in denen vor allem Koselleck dem intra-, inter- und transnationalen gesellschaftlichen Wandel mit überdies nicht selten sozialtheoretischer Spitze Rechnung zollte. Dies im Übrigen ist der Grund, warum ich den gewöhnlich eher dem Bielefelder Sozialgeschichtskonkurrenten Kosellecks, Hans Ulrich Wehler, zugesellten Begriff der „Bielefelder Schule“ auf Koselleck und die seinen anwende statt den dahinter stehenden, heute überlebten Fach-, Ideologie- und Personaldisput zu übernehmen (vgl. Asal/Schlak 2009).

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Wenngleich um den Preis, auf PositivistInnen und NominalistInnen weiterhin „apokryph“ zu wirken (von Beyme 2013: 10), blieb es dennoch der nach einigen werkgeschichtlichen Suchbewegungen in der Antrittsvorlesung letztlich produktiv verallgemeinerte „Diskursbegriff“ Foucaults (vgl. Landwehr 2008: 72), der am konsequentesten „sowohl die Regeln des Formierens […] wie auch die von ihnen gestiftete Ordnung“ (Konersmann 1991: 80) umfasste. Nur durch diese Allgemeinheit konnte es gelingen, die diffuse, allzu oft aber pseudokonkrete Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem immerhin in Frage zu stellen, skeptisch zu bleiben und nicht auszuschließen, dass selbst eine gleichwie „kritische“ Untersuchung einer Ordnung diese kreiert, perpetuiert und perfektioniert. Foucault stellte in Rechnung, dass wir es in Diskursen „mit Begriffen (concepts) zu tun“ bekommen, die zwar „in der Struktur und den Beziehungsregeln abweichen, die sich gegenseitig fremd sind oder sich ausschließen und nicht in die Einheitlichkeit einer logischen Architektur eintreten“, die jedoch in ihrer synchronen An-Ordnung, in ihrem gemeinsamen Auf- und Abtreten und zumal simultanen Wandel „Regelmäßigkeiten“ erkennen lassen, etwa eine „Ordnung in ihrer sukzessiven Erscheinung, Korrelationen in ihrer Gleichzeitigkeit, bestimmbare Positionen in einem gemeinsamen Raum, ein reziprokes Funktionieren, verbundene oder hierarchisierte Transformationen“ (Foucault 1997: 57f.). So spricht manches dafür, dass Foucaults Diskursbegriff jenem Konzept der „Grundbegriffe“ ähnelte, zu deren Auswahl Koselleck erläuterte, es seien jene Begriffe, die „ihre Verwendung [erheischen], weil sie jene minimalen Gemeinsamkeiten erfassen, ohne die überhaupt keine Erfahrungen zustande kämen […] Ein Grundbegriff liegt also gerade dann vor, wenn er perspektivisch verschieden ausgelegt werden muss, um Einsicht zu finden oder Handlungsfähigkeit zu stiften.“ (Koselleck 1992: VII)

Somit konnte Foucaults Diskursbegriff mehr als nur wortspielerisch einerseits den geordneten Diskurs meinen, die Abhandlung eben (weil im französischen Original „ordre“ sowohl Anweisung wie auch Ordnung bedeuten kann (vgl. Konersmann 1991: 73f.)), die „gepflegte Semantik“, wie Luhmann (zit. in Mahler/Mulsow 2014: 253) antiquarische Ideenlehre später etwas hämisch nennen sollte. Andererseits markierte Foucaults Diskursbegriff zugleich, dass die Form des Diskurses die (Un-) Ordnung stiftet, die sie beschreibt. Es kann daher nicht, betont Foucault in diversen Werken, darum gehen, irgendetwas Verschwiegenes oder Unterdrücktes „wieder empor[zu]heben […], indem wir ihm endlich das Wort erteilen. Es geht nicht darum, ein Nicht-Gesagtes oder Nicht-Gedachtes endlich zu artikulieren“ (hier Foucault

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2003: S. 34). Gerade auch das emanzipatorische, das engagierte, das gelehrte, das vordergründig transparente Dechiffrieren der Macht war es deshalb, dem Foucaults Arbeitsweise misstrauen musste. Der allgemeine, öffentliche, gängige, vermasste, normierende, regulierende Diskurs jedenfalls ist, so Foucault, gerade als Diskurs „keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem“ beispielsweise „Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet“, jene „zwei Bereiche“, in denen entgegen landläufigen Libertinage- und romantischen Rebellionsmotiven „der Raster besonders eng ist und die Verbote immer zahlreicher werden“ (Foucault 2003: 11). Sondern „vielmehr ist er“, der Diskurs, „ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten“ (Foucault 2003: 11). Insofern sollte nicht übersehen werden, dass das Diskursverständnis Foucaults die inhaltliche Einheit der vordergründigen Polysemie des Diskursbegriffs transportiert. Foucault stellte in Rechnung, dass die Einheit von Argument (Diskurs, Essay, Abhandlung, Erörterung, Aufklärung etc.) und Macht am stärksten ist, wo kein Unterschied zwischen beiden erkannt wird. Die Selbstevidenz einer Aussage, die ihr im sozialen Raum zugesprochene Eigenschaft, „Wissen“ zu sein, krasser gar: unhinterfragtes Alltagswissen, ist für Foucault stets deutlicher Hinweis auf die Anwesenheit diskursiver Macht und auf die intakte Funktionalität der dem Diskurs zugrundeliegenden Dispositive, d.h. der im Subjekt konstitutiv sublimierten Zustimmungsfähigkeitsvoraussetzungen (vgl. Flügel-Martinsen 2013). Nicht, wie bei Habermas, der wie auch immer merkwürdig zwanglose Zwang des Arguments ist es, der Foucault interessiert, sondern das eigentümlich Orthodoxe am common sense. Die je kontemporäre Vollkommenheit der Macht gängiger Überzeugungen besteht, so Foucaults gerade ihres Verzichts auf eine prätentiöse Fortschrittsidee wegen radikal aufklärerische Volte, in der „Ironie“ der Dispositive, die „uns glauben“ machen, dass es „um unsere ‚Befreiung‘ geht“ (Foucault 1977a: 190). Heute freilich, gut vier Jahrzehnte nach Foucaults düster-beschwingter Pariser Inaugurationsvorlesung, ist es ein eher verbissenes Unterfangen geworden, den Begriff des Diskurses wie den berühmten Pudding an die Wand nageln zu wollen und mit ihm alles, was der Diskurs so umfassen soll, als wohlstrukturierte Konstruktion auszuweisen. Wo es vordem fraglos Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft, Die Ordnung der Dinge, Die Archäologie des Wissens, Die Geburt der Klinik und vor allem Der Wille zum Wissen sowie Überwachen und Strafen waren, die vor der Mächtigkeit von Diskursen warnten, ist, wenn überhaupt, in den vergangenen zwei Jahrzehnten einerseits das radikaldemokratische Hegemonieverständnis von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zum Allgemeingut diskurskritischer Gesellschafts- und Machtübernahmeentwürfe geworden, wäh-

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rend die gesellschaftstheoretisch reformatorische Seite durch Jürgen Habermas und von ihm inspirierte Arbeiten vertreten wird.

3. D iskursbrüche Drei besondere Beobachtungen das Diskursverständnis unserer Gegenwart betreffend sind aus dem Vorgenannten heraus noch zu vertiefen, um verständlich zu machen, warum der politischen Ideengeschichte im Zuge ihrer diskurstheoretischen Reflexion ledigliche Rückgriffe auf klassische philosophische Traditionen zunehmend verstellt worden waren. An erster Stelle steht ein semantisch-konzeptueller Bruch: Der Begriff des „Diskurses“ füllt mittlerweile einen weiten und höchst spezialistisch ausdifferenzierten Resonanzraum, der von einer banalen Chiffre für „Diskussion“, „Dialog“ oder „Debatte“ bis zum aufklärerischen Ideal einer vernunftrational liberalen und prozedural demokratischen Öffentlichkeit reicht. Relevant zu betonen ist dies, weil keine Position mehr zu halten ist, von der aus Diskurse als klar begrenzte Praktiken definiert und durch Ziele oder Zwecke bestimmt werden könnten. Streng genommen gibt es daher auch keine „Diskursanalysen“, sondern nur produzierte Diskurse. Deren Unterschiedlichkeit mag man sich behelfsweise etwa mit Luhmanns Kommunikationsverständnis begreiflich machen, also als die gezielte Annahme der Option, eine beliebige Botschaft konkret zu interpretieren, ihr somit die prinzipiell kontingente Gestalt zu nehmen und eine spezifische Form zu geben, die dann „Diskurs“ zu nennen ist oder eben anders. Sozialwissenschaftliche Theoriegebäude der vergangenen Jahrzehnte haben aberdutzende Beschreibungen für diese Kontingenz kommunikativer Formgebung gefunden. Relevant sei hier nur, dass analytisch hinreichend anspruchsvolle Diskursbegriffe die eigene Kontingenz, potenzielle Leere und wohl auch Unverfügbarkeit reflektieren, folglich postfundamentalistisch beschaffen sind. Daraus folgt, zweitens, notwendig ein normativ-konzeptioneller Bruch: Während Foucault „das verbotene Wort“, die „Ausgrenzung des Wahnsinns“ und den „Wille[n] zur Wahrheit“ als die drei großen Ausschließungssysteme bestimmt, die den Diskurs zu einer repressiven Macht machen (Foucault 2003: 16), sind just dies Merkmale, die nicht nur das Selbstbild der Universitäten prägen, sondern zugleich genuin zur habermasschen Diskursethik zu gehören scheinen. Zweifellos ist der ethisch-demokratische Stellenwert, den Habermas den Diskursen zuweist, selbst ein kommunikationsstrukturierendes und dadurch Wissen eigener Art privi-

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legierendes Paradigma. Darin mag man entweder eine Begründung für die etwa von Heiner Müller über Peter Sloterdijk bis Hermann Lübbe vorgetragene Behauptung finden, Habermas sei „auf symmetrische Beziehungen zwischen vorsortierten Vernunftsubjekten spezialisiert“ (Sloterdijk 2013: 43). Dem ethischen „Maßstab der Diskursivität“ sei es „allein darum“ zu tun, „geistige Minderheiten aufzuspüren“ (Müller 1991). Das Diskursmodell verschiebe unliebsame Kritiker „bestenfalls in d[ie] Rolle eines emanzipationsbehinderten und ideologiekritikbedürftigen Diskurskandidaten“ (Lübbe 2007: 129). Oder aber man mag in dieser habermasschen Normativität gerade den demokratietheoretischen Clou sehen, durch deliberative Inklusion den nicht nur foucaultschen Pessimismus, nachdem Diskurse „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1997: 75), emanzipatorisch zu wenden: durch Rationalisierung der Verständigungsdiskurse, Adressierung der Öffentlichkeit und Intensivierung der Diskurstiefe (vgl. Gaus 2009: insb. 202). In der Tat kommt es wissenssoziologisch nicht von ungefähr, in Habermas’ Diskursverständnis das zu finden (vgl. Jörke 2010), was Foucault als wissenspolizeiliche „episteme“ charakterisiert, also jenes gesellschaftlich in einer Zeit je singulär dominante „strategische Dispositiv“, das „es erlaubt, unter allen möglichen Aussagen diejenigen herauszufiltern, die […] akzeptabel sein können“ (Foucault 1978: 124). Gerade allgemeine Zustimmungsfähigkeit ist, was Foucault und Habermas sich unter „Diskurs“ vorstellen. Während indes die Grundsätzlichkeit, mit der Foucault das historisch-konkrete Emanzipationspotential einer reflexiven Diskursaneignung durch die „Unbarmherzigkeit“ seiner Fokussierung auf die „Abtötung dialogischer Beziehungen“ relativiert, Angriffspunkt für Habermas’ Foucault-Kritik ist (Habermas 1985: 287), entspräche die gezielt kritische Transformation theoretischer Diskursparadigmen, wie sie wiederum Habermas postuliert, gemäß Foucault einer diskreten Transposition der Macht. Sie ginge lediglich von den politisch legitimierten zu den intellektuell legitimierenden AkteurInnen über beziehungsweise verbände Geist und Macht in altbewährter Weise. Die Diskurskonventionen ebnen den Zugang zu den Köpfen jener MachthaberInnen, die ihre AuftraggeberInnen sind. Das ist der wesentliche Grund, warum ein noch der aufklärerischen Maxime des „besseren Arguments“ verpflichteter Diskursethiker wie Habermas und ein Diskurse auf „Terror“ reduzierender Pessimist wie Foucault nicht zusammenkommen (so Habermas selbst 1985: 291, 289). Genauer besehen aber ist auch Habermas’ Diskursverständnis eine fundamentale Kritik der Konsequenz, die er aus dem Wissen um die prinzipielle Kontingenz von Diskursen zieht. Wenn er versucht, diskursethisch zwischen zulässigen und

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unzulässigen Reproduktionsstrukturen sozialer Kommunikation zu unterscheiden, sucht Habermas Kriterien, um unvermeidlich vermachtete Diskurse transparenter und zugänglicher zu gestalten. Damit dient er – allerdings pars pro toto – nicht einfach als eine Art Gegenspieler Foucaults, um besagten normativ-konzeptionellen Bruch des allgemeinen jüngeren Diskursverständnisses lediglich zu veranschaulichen. Habermas’ Theorie zehrt vielmehr ebenfalls von diesem Bruch! Man muss sich dessen vergewissern, um zu verstehen, warum einem so betont kritischen und düsteren Diskursverständnis wie demjenigen Foucaults von diskursphilosophischer Seite nicht einfach klassische Normativität entgegengesetzt wurde, kein bloßes Ideal, das auf die großen Ahnen der Geistesgeschichte verweist und postuliert, auf Schultern von Meisterdenkern zu stehen. Dann erst wird die auf andere diskurshistorische Methoden erweiterbare Signifikanz der Opposition zwischen dem habermasschen und dem foucaultschen Diskurspol offenkundig. Die diskurshistorische Methode ist gewollt oder wider Willen mit einer durchweg gesellschaftstheoretischen und überdies „kritischen“ Spitze gerüstet. In strengster Konsequenz müsste sie die Möglichkeit historischen Wissens überhaupt bestreiten. Etwas weniger radikal wäre dann immer noch zu konstatieren, dass mit der modernen Diskurstheorie gleich welcher analytischen Fundierung das Vertrauen in ideengeschichtliche Aufklärung getauscht werden muss gegen struktur-, sozial-, diskurs- und potenziell globalgeschichtliche Perspektiven. Die diskurstheoretische Sichtweise verstellt sich daher die Bindung an jedwede gesellschaftsanalytischen Ein- inklusive historischen Rückblicke, die auf Ideen, Evidenzen oder gar Semantiken fußen. Die „Ideenevolution“ im Sinne ihrer geistesgeschichtlichen Tradition bricht ab und wird zur historischen Rekonstruktion punktueller Sozialgeschichte beziehungsweise zur Archäologie semantischer und gesellschaftsstruktureller Transformationen. Sie wird, kurzum, wider Willen selbst Gesellschafts- und Wissenstheorie.7 Entsprechend konnten die Wissenssoziologen

7 Konsequentermaßen war es daher auch Luhmann, der in seiner einschlägig gewordenen Reformulierung dieses Übergangs von „Ideenevolution“ zu „Wissenschaftsevolution“ plausibilisierte, dass der Rückgriff auf historisch „gepflegte“ Semantiken in der funktional differenzierenden Moderne den einstigen universalen Erklärungsanspruch nicht mehr erfüllt und folglich „Apriorisierung und Ideologisierung hier parallel laufen“. „Theoriebautechnisch“ sei „die Strategie der Apriorisierung dessen, was andere wissen, eine Reduktion auf den Punkt, von dem aus Wissen als Wissen begründbar ist […] mit der Folge, daß Gegenständlichkeit und semantischer Apparat variabel werden“ und die

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Berger und Luckmann 1966 ebenso kaltherzig wie konsequent konstatieren, dass die „Abtrennung erkenntnistheoretischer und methodologischer Fragen“ zwar in die Lage führt, dass „wir der Ideengeschichte zu[gestehen], auch Wissenssoziologie sein zu können. Nur ist unserer Ansicht nach die Problematik von ‚Ideen‘, einschließlich des Sonderfalles der Ideologie, nur ein Einzelproblem der Wissenssoziologie und nicht einmal ein sehr zentrales“ (Berger/Luckmann 2009: 16).

In der Konsequenz solcher Perspektiven war es – drittens – geradezu unmöglich geworden, den großen Bruch mit der geistesgeschichtlichen Tradition der Ideengeschichte als philosophischer Ideenlehre noch länger hinauszuschieben. Zunehmend postfundamentalistische Bedrängnisse und die unvermeidliche Soziologisierung bzw. Versozialgeschichtlichung des tradierten Kanons besorgten, dass weder normativer Traditionalismus noch empirischer Historismus länger glaubwürdig zu einer ideenpolitischen Selbstvergewisserung hätten beitragen können. Weiter anzunehmen, in Form von Sprache und Begriffen artikulierte Ideen seien etwas substantiell anderes als die je eigene Form und die Bedingungen ihrer diskursiven Formatierung, ja seien womöglich gar überzeitliche Wahrheiten, war schwierig geworden.

4. B ielefeld , P aris & C ambridge Diese Brüche betreffend nun sei im Folgenden die eingangs eingeführte und in der jüngeren Wissenschaftsliteratur immer wieder einmal benannte, dabei aber oftmals als defizitär charakterisierte und gleichwohl nur gelegentlich weiter vertiefte und insoweit unzureichend erforschte Beobachtung herauszustellen (vgl. u.a. Ball 1997; Llanque 2006; Mehring 2006; Palonen 2004, 2011; Philp 2008; Richter 1987, 1995; Straßenberger/Münkler 2007: 49ff.; Thumfart 2013; Vucina/Drejer/ Triantafillou 2011; Walter 2008), dass mit Kosellecks, Foucaults und Skinners methodologischen Arbeiten drei der bedeutendsten diskursanalytischen Methoden, die am Beginn des diskursanalytisch revolutionären linguistic turn der gesamten permanente „Auflösung und Rekonstruktion von Wissen alter Art durch Apriorisierung und Ideologisierung also über zwei gegensätzliche Strategien läuft, die nicht mehr zu ‚vermitteln‘ sind“ (Luhmann in Mahler/Mulsow 2014: 254).

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westlichen Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften standen und gegenwärtig als weithin exklusive Paradigmen der politischen Ideengeschichtsforschung und der Erforschung historischen politischen Denkens angesehen werden (vgl. Busen/ Weiß 2013a: 29; Mahler/Mulsow 2014; Stollberg-Rilinger 2010), zwar weniger in normativer Theoriebildungs- oder politischer Interventionsabsicht entwickelt worden sind, sondern aus empirischem, genauer: aus historischem Interesse entstanden, daraus aber sukzessive ihre mal mehr und mal minder vage gesellschaftstheoretische Form schöpften. Das bislang Ausgeführte soll gleichwohl nicht bestreiten, dass sowohl Kosellecks wie auch Foucaults Zugriffe gewisse geschichtsphilosophische Grundlagen aufweisen, solche allerdings, die um etwaig utopische Gehalte bereinigt sind, bei Foucault, je nach Interpretation, womöglich gar dystopisch gewandelt vorliegen. Kosellecks Semontologie diagnostizierte unter dem einschlägig gewordenen Terminus der „Sattelzeit“ die synchrone Wandlung der großen Begriffe. Die „Grundbegriffe“ Kosellecks hatten ein historisches Ziel. Sie wollten aus äußerem Antrieb heraus innerlich eine bestimmte Gestalt annehmen, und zwar eine Gestalt, die ihren Geschwisterbegriffen glich. Man kann das „Homologie“ nennen. Von Koselleck ist dies eben allgemein „Sattelzeit“ genannt worden und die konkret gemeinte Sattelzeit der Geschichtlichen Grundbegriffe lag bekanntlich um 1750. Dort etwa sollte das Lexikon einsetzen, denn ab dort schossen sich die großen Begriffe gemäß Koselleck auf Erlösung ein, wurden also gepolt auf das politische Heilsversprechen einer großen Revolution – um nicht zu sagen: auf eine innerweltlich erlösende Apokalypse. Während die einzelnen Lemmata der Geschichtlichen Grundbegriffe daher die Herkunft, Entwicklung und Transformationen wesentlicher deutschsprachiger Diskursbegriffe an der Schwelle zur Moderne bis in die Zeitgeschichte hinein nachzeichneten, bewarb die von Koselleck 1972 verfasste Einleitung zum Auftaktband der letztlich siebenbändigen Wörterbuchreihe mit einer Mischung aus erworbener Kompetenz, begnadeter Intuition und glücklicher Spekulation, dass die Wahl der aufgenommenen Begriffe durch deren „sattelzeitliche“ Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sei, namentlich durch nachweislich simultane Politisierung, Ideologisierung, Demokratisierung und Verzeitlichung (vgl. Koselleck 2004). Die Großbegriffe also verwandelten sich parallel zueinander und ideologisch miteinander in politisch-soziale Bewegungsbegriffe, d.h. in utopistisch missbrauchbare Versprechen oder exkludierend nützliche Kampfphrasen. So wurden sie nicht nur anfällig für das aufkommende Zeitalter der Ideologien. Manche Grundbegriffe sollten, folgt man Kosellecks damaliger Arbeitshypothese,

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überhaupt erst zum sprachpolitischen Werkzeug der großen Weltanschauungen der Moderne werden und damit den heißen Weltbürgerkrieg im „kurzen 20. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) sprachlich befeuern. Die weltanschauliche Kontestation der Semantik, hier ist Koselleck ganz Schüler Carl Schmitts, machte insofern die Umkämpfung der Inhalte mit den propagandistischen Mitteln der feindseligen Sprachpolitik sicher unvermeidlich, bedingt aber auch, dass der implizit geschichtsphilosophische Code der Lexikonreihe nach dem „Ende der Geschichte“, also aufgrund der heutigen Befriedung des Kalten Krieges und dem Erlöschen der asymmetrischen Großideologien, seinerseits historisiert und in andere Formationen modernisiert werden kann (vgl. Geulen 2010; Nolte 2010; Wobbe 2010). Die „Grundbegriffe“ Kosellecks und seiner MitstreiterInnen waren mithin jene Diskurse, die, in eine andere Diskurstheoriesprache gebracht, sich an den gleichsam leeren wie hegemonial gewordenen Signifikanten kollektivpolitischer Dynamisierung seinerzeit andocken ließen: den „Fortschritt“. Wer insofern, nicht nur mit Marx, die gängigen Gedanken für herrschende Gedanken hält und gerade die innovativen Ideen einer Zeit für repräsentierten Zeitgeist, kommt nicht umhin, die teleologiekritischen, ja konservativen Implikationen der Geschichtlichen Grundbegriffe zu registrieren, insbesondere den Umstand zu bemerken, dass hier eine Methode gewählt wurde, die den politischen Geschichtstheorien ihrer Zeit zu entkommen und zumal die ideologischen Überschüsse der politischen Sprache zu relativieren suchte. Ähnliches lässt sich für die historische Konkretheit diskursiver Praxen nachweisen, um die es Foucault zu tun war. Denn der Diskurs, so Foucault, „ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen“ (Foucault 2003: 34). Foucault scheute regelrecht die Begriffe. In seiner Archäologie des Wissens heißt es gar, die „Archäologie versucht, nicht die Gedanken, die Vorstellungen, die Bilder, die Themen, die Heimsuchungen zu definieren, die sich in den Diskursen verbergen oder manifestieren; sondern jene Diskurse selbst, jene Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken. Sie behandelt den Diskurs nicht als Dokument, als Zeichen für etwas anderes, als Element, das transparent sein müßte, aber dessen lästige Undurchsichtigkeit man oft durchqueren muß, um schließlich dort, wo sie zurückgehalten wird, die Tiefe des Wesentlichen zu erreichen; sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen ‚anderen Diskurs‘, der besser verborgen wäre“ (Foucault 1997: 189).

Es ist nachgerade der ihm zugeschriebene ‚monumentale‘ Charakter eines Diskurses, der seine überzeitliche Relevanz markiert und mithin immerhin latent jener

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Geschichtsphilosophie verfällt, die gewollt oder nicht schon dem Begriff nach auf Nietzsche zurückweist. (Der hatte in den Unzeitgemäßen Betrachtungen die „monumentale Historie“ als eine von drei Grundformen des Umgangs mit Geschichte typisiert.) Zudem ist nicht zu übersehen, dass schon Foucaults Dissertation über Wahnsinn und Gesellschaft dem intellektuellen Marxismus seiner Zeit wider dessen politische Absichten huldigte, wenn sie davon ausging, die Idee des Wahnsinns habe auf die zum Ausgang des Mittelalters überflüssig gewordene Infrastruktur der Leprabekämpfung reagiert (vgl. Foucault 1977b: 19). Auch hier also, um eine leider abgedroschene Floskel zu bedienen, ist es „gesellschaftliches Sein, das […] Bewußtsein bestimmt“ (Marx 1971: 9): Es war, folgt man Foucault, das Vorhandensein einer aufwändig etablierten Exklusionsarchitektur, die dazu anhielt, sich neue Krankheitsbilder auszumalen, deren DarstellerInnen es dann wegzusperren galt. „Wie gerufen“ fand sich der „Wahnsinn“ – als normativer Gegenwert des Bewusstseins der „Normalen“, der sich als Nichtwahnsinnige Klassifizierenden. Das ändert allerdings wenig daran, dass Foucaults Perspektive den Historischen Materialismus massiv relativierte, indem sie ihn dermaßen sozialpsychologisierte, differenzierte, vervielfältigte und pathologisierte, dass jedes Programm utopischer Besserung absurd erscheinen musste. Auch Skinner hat sich an vielen Stellen dahingehend geäußert, seine Methode der historischen Ideenforschung beziehe eine dritte Position neben marxistischem Reduktionismus und platonischem Textualismus (vgl. z.B. Interview I o.J.; Philp 2008: 133). Anders als bei Kosellecks Begriffen und Foucaults Diskursen indes war es, davon kündet schon der erste Satz von Meaning and Understanding in Intellectual History, der „Kanon klassischer Texte“ der politischen Ideengeschichte und deren plane Auslegung durch die Professionshistoriker, die Skinner herausforderten (vgl. Skinner 1969a: 21). Gerade in diesem für Skinners Part der Cambridge School paradigmatischen Methodentext von 1969 erwies sich, dass „meaning“ „Bedeutung“ im Sinne eines Sprechakts meint, also eine interaktive Intervention gegen Widerstände und WidersacherInnen, eine Einmischung in ein konkretes Diskursfeld, nicht eine wie auch immer geartete philosophische Intention eines freischwebenden, um bloße Erkenntnis bemühten Intellektuellen (vgl. Interview I o.J.). Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Skinner im autobiographischen Rückblick die Bedeutung David Humes hervorhebt, dank Auseinandersetzung mit dessen Texten er als junger Student auf die Ideengeschichte „abgehoben“ sei („got a flying start in intellectual history“ – Interview II o.J.). Immerhin ist es Humes erkenntnistheoretisches Insistieren auf der Rolle des Mitgefühls, mit der die alltagsweltliche Kraft sozialer Prozesse für die empathische Motivation des Schreibenden

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gegenüber den wie auch immer philosophischen Intentionen des Verschriftlichten betont worden war. Was demgegenüber ein Hobbes dachte oder frühstückte, bevor er sich an den Leviathan machte, sei nicht nur uninteressant, so Skinner, sondern, in Gestalt des üblicherweise gehässig gegen Skinners Methodik gewendeten Vorwurfs, „philosophically primitive to a shocking degree“ (Interview I o.J.). In dieser Interpretation von intellectual history als (adäquat nicht übersetzbare) historisch-konkret kontextualisierte Geistesgeschichte trifft sich denn auch Skinner mit dem zweiten, „komplementären“ Gründervater der Cambridge School, John G.A. Pocock (vgl. zu Pocock Rosa 1994: 203, 209). Der beinahe zeitgleichen, 1973 erschienenen Archäologie Foucaults zu Teilen ähnlich (vgl. Foucault 1997: 198ff.),8 unterscheidet Pococks history of political thoughts Ideen (thoughts im Sinne von ideas, Diskurs, Begriff usw.) und Denken (thinking). Er separiert folglich die politische Dimension der Ideengeschichte von der philosophischen: Historisch sich sukzessiv addierende, kumulative Denkprozesse mögen Ideen zu philosophischen Gebäuden und Großtraditionen wie etwa der des Aristotelismus errichten. Über

8 Der tatsächlich große, aus sozialwissenschaftlicher indes weniger als aus historiographischer Sicht sonderlich gewichtige Unterschied zwischen „Paris“ und „Cambridge“ ist in der Funktion zu suchen, die den Autoren der Texte zugeschrieben wird, was hier allerdings nicht ausführlich behandelt werden kann. Während die Cambridge School der legendären Formel Skinners zufolge jedenfalls versucht, „to see things their way“ (Skinner 2002: 1ff.), hat Foucault, der den „Autor“ bekanntermaßen ohnehin verabschiedet, sich vielfach gegen das ausgesprochen, was man als genuines Label der Cambridger Intellektuellengeschichte verstehen könnte. „Schließlich“, so Foucault, „sucht die Archäologie nicht nach der Wiederherstellung dessen, was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, hat gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht werden können.“ (Foucault 1997: 199f.) Kontrastiert man diese in der Forschungsliteratur gern zitierte, hier gekürzte Passage aber mit dem Eingang desselben Textes zur Archäologie des Wissens (vgl. Foucault 1997: 14), zeigt sich schnell, dass Foucault sehr wohl gegen das traditionelle philosophische Wahrheitspostulat platonischer Ideenlehre anstänkert und nach Intentionen und Kontexten diskursiv ermächtigten „Wissens“ fragt. Nur ist eben, mit anderen Worten, der Inhalt eines Textes nicht der Inhalt, der Foucault an dem Text interessiert. Später, in der oben genannten Pariser Inauguralvorlesung, brachte Foucault dafür sein wohl bekanntestes Beispiel, das des abgeschotteten Botanikers Gregor Mendels: „Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht ‚im Wahren‘ des biologischen Diskurses seiner Epoche […] Mendel war ein wahres Monstrum, weshalb die Wissenschaft von ihm nicht sprechen konnte.“ (Foucault 2003: 25)

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den ideenpolitisch geführten Kampf von DenkerInnen in ihrer je eigenen Zeit- und Raumgebundenheit aber besage das nichts; ebenso wenig über den Wandel, die Wege und die Beschränkungen, denen bestimmte Ideen und politische Sprachen ausgesetzt sind, kurzum: über die historische Evolution politischer Vorstellungen, die eben nur Evolution ist, Anpassung, nicht Entwicklung, nicht „Fortschritt“. Mit anderen Worten: Die politische Philosophie suche nach logischen Kohärenzen und bemühe sich um kognitives Erfassen, die politische Historiographie suche nach Kontexten und bemühe sich um soziales Verstehen. Im Sinne einer primär historisch informierten und erst sekundär philosophisch interessierten Politikwissenschaft fragt die Cambridge School nach Brüchen, Schwellen und Revolutionen politischer Theoretisierungsprozesse. Sie relativiert dadurch nicht den Wert kanonisierter Klassiker, bestreitet aber jenen platonischen Idealismus ahistorischer Textexegese und überzeitlich entfremdeter Ideenschau, dessen politische Indienstnahme im 20. Jahrhundert zur größten Feindin der „offenen Gesellschaft“ (K.R. Popper) geworden war. An dieser Stelle spätestens trifft die Cambridge School mit ihren vorgenannten Geschwistern Bielefelder und Pariser Provenienz wieder zusammen und die drei hätten, wären sie zu ihrer Zeit integriert rezipiert worden, fraglos arbeitsteilig wirken können, beschreiben Foucault, Koselleck und Skinner letztlich doch eine Analyse von Ideenpolitik, von Begriffspolitik und von Textpolitik.

5. S chluss : H istorische D iskurstheorie als zeitgenössische T heoriepolitik Verständlicher werden sollte nun, welche wissenschaftspolitische Leistung im Aufstieg kontextualistischer Ideengeschichtsschreibung und ihrem heute selbst wissenschaftsgeschichtlich kontextualisierbaren Versuch liegt. Die re-historisierende Kontextualisierung politischer Ideen, ihrer Herkunft, Verwendung und ihres Wandels förderte eine „Wiederverfremdung“ der für klassisch befundenen Texte und Autoren (so eine Laudation auf Skinner (vgl. Honneth 2009)). Sie reagierte methodologisch auf eine exzessive und nicht selten akademisch naive Politisierung politischer Theorie. Zu dieser bemerkt Skinner 1969 in seiner methodologisch so einflussreichen Frühschrift Meaning and Understanding in Intellectual History, er wende sich gegen eine proleptische Bewertung der ideenhistorischen Klassiker seitens späterer InterpretInnen. Weil jene die Klassiker gewissermaßen von hinten nach vorne läsen, projizierten sie unweigerlich die räumlich, politisch und kulturell konkreten Deutungsmuster ihrer eigenen Zeit in die Vergangenheit, um in metho-

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disch unzureichend reflektierter und zivilisatorisch womöglich gar verblendeter Egomanie etwa John Locke zu einem Liberalen, Marsilius von Padua zu einem Gewaltenteilungsvertreter oder Machiavelli zum Marxisten avant la lettre zu machen (vgl. Skinner 2009). Man darf das als Plädoyer gegen die im Gefolge des marxistischen Reduktionismus unverkennbar dominante platonische, teils aber auch kantianische Ideenlehre lesen (vgl. Philp 2008: 133) und mithin auch als Skepsis gegenüber einer darauf nicht minder dogmatisch reagierenden konservativen politischen Philosophie, die den ja auch aus ihrem Archiv geschöpften politischen Fanatismus von links wie rechts entweder ignorierte oder sich eben für oder gegen diesen bewusst instrumentalisieren ließ. „Den Ton“ jedenfalls „gaben damals einerseits die Vertreter der Gesellschafts- oder Sozialgeschichte an, viele von ihnen Marxisten, die Ideen als Überbau, falsches Bewußtsein oder Verschleierungsstrategien der herrschenden Klassen abtaten; andererseits Politikhistoriker, die […] Ideen als retrospektive Rechtfertigungen letztlich zynischer Staatsaktionen und real existierender Machtstrukturen betrachteten“ (Heinz/Ruehl 2009: 253).

Es kann daher wissenschaftshistorisch nicht ignoriert werden, darauf verweist der Skinner-Biograph Kari Palonen, dass Skinner direkt und seine streitfreudige Generation indirekt vom unfreiwillig doppeldeutigen, so oder so aber einschlägig kritischen Nachkriegsverdikt des ideenhistorischen Superstars seiner Zeit, des Locke-Forschers Peter Laslett, geprägt worden waren. Dessen markante Formel lautete, dass „[f]or the moment anyway, political philosophy is dead“ (Laslett 1956 zit. nach Palonen 2004: 40). Während Kosellecks Gesamtwerk ohnehin eine gewissermaßen einzige Abwicklung der säkularisierten, geschichtsphilosophisch unterlegten Politischen Theologie ist (vgl. Koselleck 1988; statt vieler knapp Egner 2013 und Palonen 2011: 354; programmatisch siehe Kosellecks Schlüsseltext von 1988), sind denn auch von Skinner (vgl. z.B. Interview I o.J.) und Foucault (vgl. z.B. Foucault 2013: 91ff., 100ff.) diverse Selbstzeugnisse belegt, die als Motivation des eigenen Arbeitens angeben, den Mainstream ideenhistorischen Denkens ihrer Zeit aus der zivilisatorischen Sackgasse des Paktes mit der Macht zu geleiten. Nicht bestritten werden braucht, dass es dabei hier und da zu überambitionierten Versuchen gekommen sein mag. Im Bemühen, sein eigenes Werk nicht den Sozialwissenschaften anheim fallen zu lassen, edierte etwa Skinner (vgl. 1985a; milder dann 2008) noch in den 1980er Jahren einen gegen „Großtheoretiker“ von Derrida über Gadamer und Foucault bis Habermas anschreibenden Band. Auch Foucault, dem nachgewiesen werden kann, dass seine Skinners Forschungen oftmals

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widersprechenden Studienergebnisse eher politischen Bewertungsunterschieden entspringen als aus methodologischen Differenzen resultieren (vgl. Walter 2008), spricht im Verlauf der späten 1970er immer unmissverständlicher davon, dass man die ideenhistorisch unterfütterte Geschichtsphilosophie methodologisch reflektiert „töten“ müsse,9 und weigert sich, den „Linksintellektuellen“ seiner Zeit die „Rolle“ zuzuweisen, „als Herr[en] der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu sprechen“. „Wahrheit“ sei als nur „virtuelle[r] Gegensatz“ der „Ideologie“ zu betrachten (je Foucault 2013: 100, 92). Solche Schritte muss man nicht mitgehen, die Wertungen nicht teilen. Sie erinnern dennoch daran, wie sehr einerseits in den methodologischen Konzeptionen Bielefelder, Pariser und Cambridger Provenienz die zuweilen hysterisch ausschlagende Erfahrungsgeschichte von zweihundert Jahren Weltbürgerkrieg mitläuft, die es heute nicht zu belächeln, sondern ihrerseits aufmerksam zu historisieren gilt. Andererseits aber ermöglichen Kosellecks, Foucaults und Skinners historische Diskursforschungsprogramme auch einen Rückblick in eine theoriepolitische Phase der jüngeren Wissenschaftsgeschichte, der es zeitweise gelungen war, die politische Ideengeschichte sehr viel stärker in die Aufgabenbereiche der politischen Theorie, der Politik- und der Sozialwissenschaften zu verschieben, was institutionell die Chance eröffnet hatte, eine eher technokratisch und systemaffirmative Politologie historisch und intellektuell zu öffnen sowie gesellschaftstheoretisch normative Dimensionen der politischen Philosophie zuzuweisen. Wie wünschenswert, erfolgreich und dauerhaft dieser Versuch war, steht auf einem anderen Blatt.

L iteratur Asal, Sonja/Schlak, Stephan (Hrsg.) (2009): Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage. Göttingen: Wallstein Austin, John (1962): How to Do Things with Words. Cambridge: Harvard UP Ball, Terence (1997): Political Theory and Conceptual Change. In: Andrew Vincent (Hrsg.): Political Theory: Tradition and Diversity. Cambridge: CUP, 28-44

9 „Es gibt eine Art Mythos der GESCHICHTE für Philosophen. […] Genau das wollte ich […] töten: und durchaus nicht die Geschichte im allgemeinen. Man tötet nicht die Geschichte im allgemeinen, aber die GESCHICHTE für Philosophen, ja, die möchte ich ganz und gar umbringen“ (Foucault zit. nach Eribon 1991: 255f., Hervorh. im Orig.).

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III Wandel von Forschungsfeldern, Theorielandschaften und politischen Diskursen

Die feministischen Gender-Debatten in Frankreich und Deutschland Ein Paradigmenwechsel in der feministischen Theorie? CORNELIA MÖSER

In der feministischen Wissenschaft ist immer wieder von einem Paradigmenwechsel durch die Gendertheorien die Rede gewesen. Auch heute ist ein Diskurs verbreitet, der feministische Forschung in die Zeitabschnitte vor und nach Butler einteilt. Einige meinen, dass ein tatsächlicher Paradigmenwechsel stattgefunden habe oder gar eine kulturelle Revolution im akademischen Feminismus (vgl. Opitz 2008). Andere kritisieren diese Haltung, da sie häufig ein karikaturhaftes, homogenisiertes Bild vom Feminismus „vor Butler“ zeichne.1 In dieser Diskussion wird versucht, die Gewichtigkeit der empfundenen Veränderungen abzuschätzen. Statt nun aber nachzuweisen, ob ein Paradigmenwechsel mit „Gender“ stattgefunden hat oder nicht, will dieser Beitrag die diskursive Herstellung eines Paradigmenwechsels nachzeichnen. Hierfür eignen sich die Gender-Debatten innerhalb des relativ jungen Forschungsfelds feministischer Wissenschaft besonders gut, weil die Ereignisse noch nicht so lange zurückliegen, aber auch, weil die Debatten, wenngleich umfassend, so dennoch überschaubar und fassbar sind. Die im folgenden Abschnitt angeführten Kontextaspekte bei der diskursiven Herstellung eines Paradigmenwechsels bieten eine alternative Lesart der Herstellung von Wissen an, die diese als Teil gesellschaftlicher Prozesse begreift, statt Wissenschaft als eine isolierte und ausschließlich eigenlogisch strukturierte Sphäre darzustellen. Statt die feministischen Gender-Debatten in beiden Ländern zu vergleichen, habe ich entschieden, mich den kulturellen Übersetzungen und dem Wandern von Theorien im Dreieck Deutschland – Frankreich – USA zuzuwenden. Dies erklärt sich aus

1 Vor allem Gudrun-Axeli Knapp formuliert diese Kritik (vgl. Knapp 1994, 1997, 1998).

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meinem Erkenntnisinteresse, das nicht Aussagen über die Spezifizität der einzelnen Länder zu produzieren versucht, sondern fragt, inwiefern Übersetzung eine produktive Rolle in der Herstellung von Wissen spielt. Der angewandte Begriff der kulturellen Übersetzung bezieht dabei Aspekte ein, die über die rein sprachliche Übertragung hinausgehen (vgl. Sakai 2005; Bhabha 2000). Die Gender-Debatten sind nicht der erste geschichtliche Zeitpunkt, zu dem Feministinnen die Paradigmenfrage stellen und diskutieren. Schon viel früher, gleich zu Beginn der feministischen Wissenschaftskritik, wurde gefragt, ob die feministische Perspektive selbst bereits ein neues wissenschaftliches Paradigma begründe. Gleichzeitig wurde diskutiert, ob die feministische Wissenschaft über eigene Methoden verfüge, zum Beispiel in der deutschen Diskussion um die Methodischen Postulate zur Frauenforschung von Maria Mies (1978). Hier drückt sich eine Suchbewegung aus, die nach einem Platz für die feministische Wissenschaft im Verhältnis zur traditionellen Wissenschaft suchte. Sollte die traditionelle Wissenschaft lediglich um das feministische Wissen ergänzt oder sollten die gesamten Funktionsweisen der traditionellen Wissenschaft kritisiert und verändert werden? Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass in der feministischen Wissenschaft – vielleicht stärker als anderswo – eine besondere Spannung zwischen Traditionen und Brüchen (vgl. Knapp/Wetterer 1992) besteht; eine Spannung, die auf einem nie geklärten Verhältnis der feministischen Wissenschaft zur feministischen Politik und Bewegung beruht.2 Wenn heute die Frage nach der diskursiven Herstellung eines Paradigmenwechsels in der feministischen Forschung gestellt wird und ich eine Reihe von Faktoren aufzähle, die dabei eine Rolle gespielt haben, dann stehen alle diese vermeintlichen Gründe im Lichte dieser Spannung, die vielleicht darüber Aufschluss gibt, nicht nur wie ein Paradigmenwechsel diskursiv hergestellt wird, sondern vor allem warum. Was verspricht man sich von einem solchen Bruch? Welche Wünsche und Hoffnungen werden in das „neue“ Paradigma gelegt? Was kann Gender, was Frau oder feministisch nicht kann? In der Paradigmenwechsel-Diskussion, die ich hier nicht im Detail wiedergeben kann, werden vor allem Hegemonien innerhalb der feministischen Wissenschaft verhandelt: Zum Teil wurde sich auf Gender gestützt, um die institutionalisierten Feministinnen als „altbacken“ darzustellen, zum Teil wurde den Verfechterinnen von Gender immer wieder gezeigt, dass Butlers Arbeit nicht nur nichts Neues zu bieten habe, sondern darüber hinaus auch „diskursontologisch“ (Landweer 1993:

2 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tina Jung in diesem Band.

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41) und aufgrund ihrer „gesellschaftstheoretischen Abstinenz“ (Knapp 1994: 284) abzulehnen sei. Ab einem gewissen Zeitpunkt – nämlich nachdem mehrere internationale Organisationen wie die UNO und die EU Gender in ihr Vokabular aufnahmen – mussten selbst die abgeneigtesten Kritikerinnen feststellen, dass Gender für feministische Forschung eine praktische Realität geworden war. Gleicht man Thomas Kuhns Beschreibung eines Paradigmenwechsels mit den Gender-Debatten ab,3 lassen sich ein paar interessante Beobachtungen machen, die den Prozess einer solchen Umwälzung zu verstehen helfen. Bekanntlich läutet für Kuhn die Diskussion um einen Paradigmenwechsel eine wissenschaftliche Revolution ein. Der Diskussion geht nach Kuhn eine Phase von Verunsicherung und Krisen mit dem gegenwärtigen Paradigma voraus. Eine Theorie kann diese Paradigmenkrise auslösen, obgleich sie selbst aus dem aktuellen Paradigma hervorgegangen ist. Es folgt eine Widerstandsphase gegen das neue Paradigma, die nach Kuhn wesentlich zum Wechsel beiträgt, obwohl sie sich ja eigentlich gegen dieses richtet (vgl. Kuhn 1962: 65). Die deutschen Gender-Debatten können als Diskussion um einen Paradigmenwechsel verstanden werden. Aber gab es auch eine Krisen- und Verunsicherungsphase? Isabell Lorey führt in einem Artikel die Debatte um Gleichheit und Differenz Ende der 1980er Jahre als grundlegend für die Butler-Debatte an (vgl. Lorey 1995). Durch die Rezeption des French feminism4 und der Texte zum italienischen affidamento5 hat die deutsche feministische Wissenschaft ihren linguistic 3 Für eine Diskussion der Ansätze von Thomas Kuhn und Karl Popper siehe zum Beispiel Peter V. Zima (1994: 63ff.). Ich verwende Kuhns Beschreibungen vor allem, um die frappierenden Ähnlichkeiten mit den Gender-Debatten zu zeigen. Gleichzeitig ist mir Kuhns Beschreibung sympathisch, weil er Paradigmenwechsel auf eine Art als diskursive Effekte beschreibt, in denen „Glaubensgemeinschaften“ um hegemoniale Deutungshoheiten und damit natürlich auch immer über die Verfügung von Forschungsmitteln streiten. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich aus Platzgründen auf die deutsche Debatte, in der Gender als Paradigmenwechsel explizit diskutiert wurde; ähnliche Beobachtungen könnten jedoch auch für den französischen Kontext beschrieben werden. 4 Unter French feminism versteht man einen Korpus von Texten französischsprachiger Autorinnen, die in den frühen 1980er Jahren in den USA übersetzt und diskutiert wurden. Vgl. z.B. New French Feminisms: An Anthology von Elaine Marks und Isabelle de Courtivron (1981). 5 Affidamento ist italienisch für etwas wie „sich anvertrauen“ und wurde von verschiedenen italienischen Feministinnen in den 1980er Jahren als politische Strategie zur Herstellung

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turn bereits vor den Gender-Debatten erlebt. Lorey beschreibt die Lage der feministischen Wissenschaft am Beispiel einer Konferenz in Frankfurt 1989 als einigermaßen festgefahren. Ihr zufolge waren zu jenem Zeitpunkt sämtliche Argumente zu Gleichheit und Differenz ausgetauscht, doch die auf der Konferenz maßgeblich von Ute Gerhard vertretene Position der „Gleichheit in der Differenz“ habe wenig Überzeugungspotenzial vorzuweisen gehabt. Man könnte also vielleicht tatsächlich von einer Krisen- und Verunsicherungsphase in Kuhns Sinne sprechen. Für Kuhn verändert diese Krise nicht die Welt selbst, sondern vielmehr deren wissenschaftliche Wahrnehmung. Zunächst – während das neue Paradigma sich noch beweisen muss – spricht Kuhn von einem „Glauben“ einer Gruppe von WissenschaftlerInnen, die das neue Paradigma verteidigen, ohne sicher sein zu können, dass es wirklich angemessener ist als das alte. An dieser Stelle kommen Überzeugungstechniken ins Spiel. Kuhn verwirft die Vorstellung einer Massenkonversion. Stattdessen beschreibt er den Paradigmenwechsel als erstarkende Verschiebung hin zum neuen Paradigma, welche zuletzt nur eine kleine Gruppe nicht Überzeugter zurücklässt, die dann als Ewiggestrige erscheinen (vgl. Kuhn 1962: 158). Kuhn beschreibt diese Überzeugungstechniken als eine Art Übersetzung: Gemeint sind die Bemühungen einiger WissenschaftlerInnen, wenn die Kommunikation zwischen den VertreterInnen der beiden Paradigmen zusammengebrochen ist. Diese ÜbersetzerInnen müssen zeigen, dass erstens das neue Paradigma Probleme lösen kann, die das alte nicht lösen konnte; zweitens, dass es Voraussagungen treffen kann, die das alte nicht machen konnte und drittens, dass das neue Paradigma einfach angemessener und ästhetischer ist (vgl. Kuhn 1962: 155). In Deutschland lag das auf Gender projizierte Versprechen vor allem darin, eine Lösung zu bieten für das feministische Paradox, sich auf eine Herrschaftskategorie beziehen zu müssen, um sie abschaffen zu können, und damit eine Alternative zur „Gleichheit in der Differenz“ zu bieten. Gender wurde als Lösung betrachtet, um die ermüdenden Debatten um Gleichheit und Differenz hinter sich lassen zu können. Doch die verführendsten Argumente waren sicher die internationale Anerkennung (vgl. Knapp 1992: 290ff.), die Notwendigkeit, sich den Standards internationaler Organisationen anzupassen, aber auch die Vereinfachung internationaler Kooperationen über eine geteilte Forschungskategorie. einer weiblichen Genealogie vorgeschlagen. Damit sollte nach dem Scheitern von Gleichheitspolitiken die symbolische Ordnung patriarchaler Herrschaft angegriffen werden.

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Die Einführungsbücher in Frauen- und Geschlechterforschung spielen in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Auch Kuhn betont die Wichtigkeit von textbooks bei der Etablierung eines neuen Paradigmas. Er beschreibt, wie beim Neuschreiben dieser Bücher die historischen Prozesse der Wissensproduktion und alle verworfenen Alternativen zu Gunsten einer success story ausradiert werden (vgl. Kuhn 1962: 165). In den Gender-Einführungsbüchern liest man dann auch von der Entwicklung feministischer Theorie, die von der Gleichheit über die Differenz schließlich beim differenzierten Gender angekommen sei.6 Es scheint tatsächlich eher eine Glaubensfrage zu sein, welche die Positionen in den Gender-Debatten motivierte und die Kritikerinnen des neuen Paradigmas hatten es leicht zu zeigen, dass das neue Paradigma nicht wirklich mehr leistet als das alte.

1. W elche A spekte haben bei der diskursiven H erstellung des P aradigmenwechsels eine R olle gespielt ? Historische und politische Aspekte Die Höhepunkte der Gender-Debatten in Frankreich und Deutschland sind um circa zehn Jahre versetzt. In diesem Zusammenhang wird in Frankreich häufig von einer „französischen Verspätung“ (le retard français) gesprochen.7 Dieser meines Erachtens teleologischen Geschichtsvorstellung – die eine nachzuvollziehende Entwicklung vorgibt – habe ich eine Betrachtungsweise gegenübergestellt, welche sich stärker für die Gründe der Abwehr nicht nur der „Gendertheorien“, sondern allgemeiner der sogenannten „postmodernen Theorien“ interessiert, denn in der Rezeption wurden die „Gendertheorien“ immer wieder in die Nähe der letzteren gerückt. Für den französischen Diskussionskontext erschienen mir hier vor allem die Auseinandersetzungen um den „Neuen Humanismus“ (vgl. Cusset 2003: 328) bedeutsam. Dieser wurde seit den 1980er Jahren immer wieder der 68er-Tradition

6 Vgl. z.B. das Lehrbuch von Martina Althoff, Mechthild Bereswill und Birgit Riegraf (2001). 7 Die Rede von der „französischen Verspätung“ beginnt bereits mit dem Verweis auf das erst 1944 erlangte Frauenwahlrecht in Frankreich (vgl. Rosanvallon 1992). Für eine feministische Kritik vgl. Reynolds (1998).

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entgegengesetzt.8 Spezifischer für das Feld der feministischen Forschung kommt hinzu, dass die „Gendertheorien“ durch ihre theoretischen Bezugnahmen auf den sogenannten French feminism Konfliktlinien der 1970er und 1980er Jahre aufriefen. Diese zum Teil heftigen Brüche innerhalb der feministischen Bewegung und Forschung erschwerten eine Rezeption der Gendertheorien maßgeblich. Konkret betrifft dies zum einen den Streit zwischen der materialistischen feministischen Tradition der Féministes Radicales um die Zeitschrift Questions Féministes, welche den eher literarischen, psychoanalytischen Forscherinnen im Umfeld der Gruppe Psychanalyse et Politique absprachen, feministisch zu sein (vgl. Association Mouvement pour les Luttes des Féministes 1981). Zum anderen betrifft dies die Spaltung in den Questions Féministes selbst über die Frage der Bedeutung der Sexualität für den gesellschaftlichen Subjektivierungsprozess (vgl. Lesseps 1980; Wittig 1980). Monique Wittig, an deren Arbeit Judith Butler in Gender Trouble ihr Konzept der „heterosexuellen Matrix“ entwickelte,9 gehörte damals zu der Fraktion der radikalen Lesben, welche nach dem Streit fast gänzlich von der politischen und akademischen Bildfläche verschwanden, während ihre Opponentinnen, wie beispielsweise Christine Delphy, ihre Ansätze in der Universität und den nationalen Forschungsinstitutionen (CNRS) institutionalisieren konnten. Meine These ist hier also, dass Butlers Wiedereinführung Wittigs in die feministische Theorie die Auseinandersetzungen der 1980er wach rief, was ihre Rezeption in Frankreich bis zum Ende des Jahrtausends blockierte und bis heute Auswirkungen auf die Art der Rezeption hat. Für den deutschen Kontext erscheint mir – neben den Diskussionen um die Methodischen Postulate von Maria Mies (1978) und der Bielefelder Schule sowie der durch Frigga Haug (1980) und Christina Thürmer-Rohr (1984) angestoßenen Diskussion um „Mittäterschaft“ – vor allem der politische Kontext der Nachwendezeit für den Verlauf der sogenannten „Butler-Debatte“ von Bedeutung. Differenz und Identität waren zu jener Zeit besonders aufgeladene Begriffe, nicht zuletzt in den gegenseitigen Zuschreibungen im „Schwesternstreit“ zwischen „Ostund Westfeministinnen“ (vgl. Stephan 2000: 64).

8 Autoren wie André Glucksmann, Luc Ferry, Bernard Henri-Lévy oder Alain Renaut kritisierten die Neue Linke der 68er für ihren Marxismus und machten die wenigen Veränderungen durch die Revolte 1968 für sämtliche gesellschaftliche Probleme verantwortlich (vgl. u.a. Ferry/Renaut 1985; Glucksmann 1977). 9 Vgl. das zweite Kapitel in Butler (1999).

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Theorietraditionen Sind für die feministische Theoriebildung in Frankreich und in Deutschland marxistische Ansätze gleichermaßen wirkmächtig gewesen, so lassen sich dennoch Referenzrahmen ausmachen, welche für die Kräfteverhältnisse im Feld feministischer Wissenschaft zentrale Unterschiede darstellen. Bis zur „Butler-Debatte“ waren in Deutschland vor allem marxistische Ansätze dominant, obgleich sich mit Carol Hagemann-White (1984), aber auch zum Beispiel Renate Lachmann (1984), Christina Thürmer-Rohr (1987), Gertrud Koch (1989) und Silvia Bovenschen (1976) früh eine Richtung etablierte, die Christina von Braun „symbolischen Feminismus“10 nennt. Die marxistischen Ansätze bezogen sich, wenn auch in unterschiedlich starkem Maße, auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, so etwa Gudrun-Axeli Knapp (1988), Regina Becker-Schmidt (1989), aber in gewissem Grad auch Ursula Beer (1987) und die Bielefelder Schule. Damit hatte sich in der feministischen Forschung Deutschlands eine Haltung etabliert, die keineswegs radikal psychoanalytische Ansätze den marxistischen gegenüberstellt, sondern vielmehr versucht, beide zu vermitteln, um sich sowohl Subjektivierungsweisen als auch gesellschaftlichen Strukturen über Begriffe wie „Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 1987) zu nähern. Als sich dann jedoch im US-amerikanischen culture war11, aber auch in Europa im Zuge der Habermas-Derrida-Kontroverse immer stärker eine Opposition Kritische Theorie versus „Postmoderne“ herausbildete, hatte dies den entsprechenden Effekt auf die Gender-Debatten: Einige Diskutant_innen warfen mit Rekurs auf die Kritische Theorie den „Gendertheorien“ Mangel an gesellschaftstheoretischem und Geschichtsbewusstsein vor (vgl. z.B. Knapp 1994: 284). Im Unterschied hierzu hatte sich durch die bereits erwähnte frühe Spaltung in der französischen Frauenbewegung eine sehr starke Gegenüberstellung von psychoanalytischen und marxistischen Ansätzen etabliert, die nicht nur eine Vermittlung oder auch nur Kommunikation zwischen beiden erschwerte, sondern auch die marxistischen Ansätze einer gewissen Orthodoxie verhaftet bleiben ließ, welche die Orientierung an der Kritischen Theorie für den deutschen Kontext bereits etwas aufgeweicht hatte.12 10 Persönliche Kommunikation. 11 Gemeint ist eine Kontroverse, in der Kritische Theorie und postmoderne Theorie einander als unvermittelbar gegenübergestellt wurden. Sylvère Lotringer verwendet diesen Begriff in seinem Aufsatz Doing Theory (vgl. Lotringer/Cohen 2001: 132). 12 Diese wirkmächtige diskursive Spaltung aus den Gruppierungen in der feministischen

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Institutionalisierung und Wissenschaftskritik Der dritte wesentliche Kontextfaktor der Gender-Debatten, den ich hier anführen möchte, liegt in der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung. Sie stellte sowohl für die französische als auch für die deutsche Debatte die Hintergrundfolie der Auseinandersetzungen dar, auf die sich in den Diskussionen immer wieder bezogen wurde. So beispielsweise in der Hoffnung, dass die GenderKategorie die schwache Institutionalisierung feministischer Forschung stärken könne (vgl. Parini 2006: 17) beziehungsweise in der umgekehrten Befürchtung, dass diese notwendig zur Abschaffung dezidiert feministischer Forschung führen würde (vgl. Annuß 1996). Die Diskussion der feministischen Forscherinnen drehte sich dabei zentral um das Verhältnis zwischen Feminismus und Staat. Es ging um die Rolle außeruniversitärer bzw. gegeninstitutioneller und autonomer Forschung und darum, auf welche Weise die feministische Forschung auf die universitären Institutionen sowie die Praxis der Wissenschaft selbst wirken möchte.

2. K ulturelle Ü bersetzung

und

W andern

von

T heorien

Für die Analyse der Gender-Debatten hat sich eine Aufteilung angeboten, wonach ich für den deutschen Kontext die Gender-Debatten in zwei Phasen teile: Zunächst die „Butler-Debatte“ zu Anfang der 1990er Jahre, danach die zweite Phase ab dem Ende der Neunziger, die sich wesentlich von der ersten unterscheidet.13 Für den französischen Kontext unterscheide ich ebenfalls eine Abwehrdebatte in den 1990er Jahren von der darauffolgenden Diskussion der theoretischen Einsätze der „Gendertheorien“ zu Beginn des neuen Jahrtausends, als die Verfügbarkeit Bewegung abzuleiten ist jedoch reduktionistisch, weil damit die personenstärkste Fraktion des Mouvement de libération des femmes, die tendance lutte de classe, sowie auch die starke Tradition lesbischer außeruniversitärer Theoriebildung aus dem Blick gerät. Darüber hinaus entsteht auf diese Weise ein verzerrtes Bild, welches den literarischen, psychoanalytischen Forscherinnen ihre zentralen Überlegungen zu Ökonomiekritik abspricht und gleichermaßen die wichtigen Einsätze der materialistischen Feministinnen bezüglich der Subjektivierungsprozesse und der symbolischen Dimensionen in der Geschlechterherrschaft verkennt. 13 1998 erklärte Antje Hornscheidt, dass sich die Wogen um die Gender-Debatte geglättet haben (vgl. Hornscheidt 1998: 11).

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französischer Übersetzungen14 die Diskussionen intensivierte und veränderte. In beiden Fällen stellen die ersten Phasen eine heftige Abwehr der sich ankündigenden Veränderung dar; die zweiten Phasen, auf die ich weiter unten zurückkomme, unterscheiden sich insofern, als hier die Bedingungen für den Eingang in das anerkannte Wissen verhandelt werden. Die Darstellung und Analyse der Debatten strukturiert sich zum größten Teil nach der Häufigkeit und Gewichtigkeit der Argumentationsweisen und Themen.15 In der deutschen „Butler-Debatte“ drehten sich die Diskussionen zunächst um den Stellenwert des „Körpers“ in Judith Butlers Betrachtungen. Vor allem von soziologischer und historischer Seite wurde Butler vorgeworfen, einem zu voluntaristischen und damit idealistischen Körperverständnis aufzusitzen, das die Passivität leiblicher Erfahrung nicht genügend in Betracht zieht (vgl. Duden 1993; Lindemann 1993; Treusch-Dieter 1994). Die Kritiken gingen so weit, Butler vorzuwerfen, sie entwerfe die zeitgenössische Theorie für eine neoliberale Herrschaftstechnik, welche die Frauen von ihrer leiblichen Erfahrung „entkörpere“ (vgl. Treusch-Dieter 1996; Duden 1996). Schlussendlich diene dies der biopolitischen Durchsetzung von Genund Reproduktionstechnologien als bevölkerungspolitischer Steuerungsmaßnahme (vgl. Treusch-Dieter 1990). Einen ähnlichen Idealismusvorwurf handelte Butler sich von feministischen Forscherinnen ein, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen. Diese Vorwürfe zeigen, wie stark sich die Gegenüberstellung von Kritischer Theorie versus „Postmoderner Theorie“ auch in der „Butler-Debatte“ niederschlug. Auf manchmal karikaturhafte Weise wurde die „Butler-Debatte“ zur Arena der culture wars, die marxistische Anschauungen der „antihumanistischen“, „postnietzscheanischen“ oder „postmodernen Theorie“ gegenüberstellte und Forscherinnen lange Zeit implizit oder explizit aufforderte, eine Seite zu wählen. Auch waren die deutschen Gender-Debatten Anlass, Modelle von „Generationsphasen“ zu entwerfen, in welchen die Forscherin dann entsprechend ihrer Generation ablesen könne, zu welchen

14 Trouble dans le genre, die französische Übersetzung von Gender Trouble, erschien erst 2005, also 15 Jahre nach dem Original und 14 Jahre nach der deutschen Übersetzung. 15 Diese Vorgehensweise birgt den Nachteil, dass damit die bestehenden hegemonialen Strukturen lediglich abgebildet werden und minoritäre Positionen erneut aus dem Blickfeld geraten, wie auch Andrea Maihofer auf der Tagung, die diesem Band vorangegangen ist, bemerkte. Dennoch erlaubt dieses Vorgehen, die Einsätze der Debatte besser zu verstehen. Eine Untersuchung der weniger dominanten Argumente halte ich für sinnvoll, sie sprengt aber den Rahmen dieses Artikels.

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Theorien sie neigen müsse (vgl. Lenz 2002; Landweer 1996). Wiederum andere kritisierten dagegen, dass diese Diskussionsstrategie von den relevanten Konfliktlinien innerhalb der feministischen Forschung ablenke, nämlich den Differenzen zwischen Feminist_innen (vgl. Genschel/Lay/Wagenknecht/Woltersdorff 2001: 184f.; Hark 2005: 289). Zum Teil zeichneten sich die Debatten durch das Fehlen bestimmter Themen aus, wie Sabine Hark feststellte (vgl. Hark 1998). So wurden in beiden Ländern Judith Butlers Auseinandersetzungen mit Sexualität oder spezifischer das Modell der „heterosexuellen Matrix“ in Gender Trouble, obwohl es in starkem Kontrast zur etablierten feministischen Forschung stand, über lange Zeit nicht diskutiert. Bis heute werden diese wesentlichen Einsätze Butlers nur marginal zur Kenntnis genommen. Die französische Abwehrdebatte in den 1990er Jahren war stark geprägt von einer Situation, die Judith Butler (2000) mit dem Paradoxon „competing universalities“ beschrieben hat. Damit wurde die US-amerikanische Auseinandersetzung mit dem französischen Feminismus der sechziger und siebziger Jahre als spezifisch „amerikanisch“ und für den französischen Kontext unübersetzbar erklärt. Zum einen wurde argumentiert, dass die französische feministische Forschung bereits über ein ausreichendes Arsenal analytischer Begriffe verfüge und keiner weiteren Kategorie bedürfe; zum anderen wurde Gender sowohl sprachlich als auch kulturell für unübersetzbar erklärt.16 Sprachlich, weil es über zu viele Bedeutungen im Französischen verfüge und damit nicht in gleicher Weise wie im Englischen eingesetzt werden könne.17 Kulturell, weil der mit den „Gendertheorien“ assoziierte USamerikanische „Kommunitarismus“, d.h. eine bestimmte Art von Identitätspolitik, nicht mit dem französischen Universalismus vereinbar sei.18 Das Paradox dieses Diskussionsverlaufes liegt vor allem darin, dass in Gender Trouble ein Manifest für Identitätspolitik gesehen wird, obschon der gesamte Text

16 So etwa bei Ozouf (1995: 141): „pourquoi cette version extrémiste, qui a pour autant en France ses racines théoriques, y trouve néanmoins si peu d’écho: inécoutable, inintelligible, parfois même intraduisible.“ 17 Für eine Dekonstruktion dieses Argumentes vgl. Perry (2002). 18 So zum Beispiel argumentiert bei Fouquet (1995). In diesen Auseinandersetzungen finden sich zum Teil haarsträubende Kulturalismen, welche so weit gehen, ein von Verführung geprägtes Geschlechterverhältnis in Frankreich einem US-amerikanischen Geschlechterkampf gegenüberzustellen.

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eine Kritik jener feministischen Identitätspolitiken darstellt, welche ein unhinterfragtes Subjekt Frau zum Ausgangspunkt ihrer Politiken und Forschungen nehmen.19 Speziell im französischen Kontext muss die Rede vom „amerikanischen Kommunitarismus“ allerdings im Zusammenhang mit einem gesellschaftlich virulenten Antiamerikanismus in den 1990er Jahren betrachtet werden (vgl. Fassin 2000: 132, 119). Pierre Bourdieu sieht den Antiamerikanismus im Zusammenhang mit konkurrierenden Imperialismen, wobei es sich bei Frankreich durch die Antikolonialisierungsbewegung um einen absteigenden und bei den USA um einen aufsteigenden Imperialismus handele (vgl. Bourdieu 1992: 153). Damit würden zwei Universalismen, zwei Deutungshoheiten in Konflikt geraten, was die Spannungen erkläre. Doch dass sich feministische Forscherinnen auf die nationalistische universalistische Tradition ihres Landes beziehen (vgl. Fouquet 1995: 650) bleibt bemerkenswert – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des historisch paradoxen Verhältnisses des Feminismus zum Universalismus. Während die Erklärung der Menschenrechte als gewissermaßen Gründungsakt dieser Denktradition die Grundlage geschaffen hat, auf welcher Gleichheit für alle Menschen gefordert werden konnte (im Gegensatz zu einem ständischen System, in welchem Ungleichheit religiös-kosmologisch legitimiert wird bzw. keiner weiteren Begründung bedarf), schloss eben dieser (Be-)Gründungsakt Frauen von der Gleichheit aus (vgl. Varikas/Collin/Pisier 2000). Eleni Varikas unterstreicht das Paradox, dass Frauen auf diese Weise zu einer Republik eingeladen werden, welche die Frauen selbst nicht als ihre Subjekte anerkennt (vgl. Varikas 2000: 242; Scott 1997). Gleiches gilt, so möchte ich hinzufügen, für das Paradox, sich als französische Feministin auf Universalismus zu beziehen, um damit die französische Besonderheit herauszustellen, die dann vorgeblich eine Auseinandersetzung mit den „Gendertheorien“ unmöglich macht.

3. G ender

erzählen

Um zu verstehen, wie Gender schließlich in der feministischen Wissenschaft in Frankreich und Deutschland integriert wurde und was dies wiederum für Effekte 19 Dieses Paradox könnte zum Teil der Tatsache geschuldet sein, dass Gender Trouble in der Tat bisweilen politisch für Identitätspolitiken genutzt wurde. Allerdings waren dies Politiken, die homophobe und rassistische Ausschlüsse durch institutionalisierten Feminismus in politischen und Forschungsinstitutionen kritisierten.

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auf die feministische Wissenschaft hatte, habe ich die Einführungsliteratur der Gender Studies untersucht. Ich befragte sie darauf, wie sie Gender darstellen: Was wird als Neuerung des Gender genannt, welche „Paradigmen“ charakterisieren es für die Autor_innen, welche zentralen Theoretiker_innen werden aufgeführt, welche Erzählungen werden dabei produziert – vor allem in Beziehung zu vorangegangener feministischer Theorie. Es handelt sich also um die erwähnte zweite Phase, die ich in den feministischen Gender-Debatten ausgemacht habe: Hier wird Gender von zahlreichen Forscher_innen nach der anfänglichen Abwehr schließlich auf unterschiedliche Weise als Bestandteil feministischer Forschung anerkannt. Mit Blick auf Kuhns oben angeführte Beschreibung eines Paradigmenwechsels handelt es sich hier um die Neuschreibung der Wissenschaftsgeschichte in den textbooks. Bemerkenswert ist bei der Darstellung der Charakteristika der „Gendertheorien“ in der französischen Einführungsliteratur, dass häufig Aspekte herausgestellt werden, welche eigentlich für die gesamte feministische Wissenschaft bezeichnend sind. Zum Beispiel führen zahlreiche Einführungsbände die „Gendertheorien“ darüber ein, dass sie die kulturelle und historische Situiertheit von Geschlechterverhältnissen zu denken erlauben würden (vgl. z.B. Verschuur/Bisiliat 2000; Zaidman 2003; Le Feuvre 2002, 2003). Ein kurzer Blick in frühere feministische Wissenschaft zeigt jedoch, dass bereits die ersten feministischen Forschungen eben diese Strategien wählten, um darüber die Veränderbarkeit eben dieser Verhältnisse denkbar zu machen, um einem biologistischen oder religiösen Fatalismus zu begegnen.20 Das Gleiche gilt für die Darstellung, dass erst durch die „Gendertheorien“ denkbar geworden wäre, das Verhältnis zwischen „Mann“ und „Frau“ zu theoretisieren, während feministische Forschung vor Gender sich ausschließlich für die Geschichte und Lebensumstände von „Frauen“ interessiert habe.21

20 Für Deutschland zeigen z.B. die Arbeiten von Karin Hausen und Claudia Honegger die historische Entstehung der Geschlechtscharaktere (vgl. Honegger 1991; Hausen 1976: 363-93). Für anthropologische Ansätze zur Relativierung der Universalität der Geschlechterherrschaft siehe bspw. Mathieu (1991) oder Rubin (1975). 21 Z.B. zu finden bei Thébaud (2007: 123). Diese Darstellung überrascht vor allem vor dem Hintergrund, dass die materialistische Tradition, welche in der französischen feministischen Forschung sehr präsent ist, bereits mit später umstrittenen Begriffen wie „Geschlechterklassen“, aber auch der immer noch weit verbreiteten Begrifflichkeit „rapport sociaux de sexe“ (soziale Geschlechterverhältnisse) Geschlecht sehr wohl als Verhältnis denkt und sich damit keinesfalls ausschließlich für „Frauen“ interessiert.

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Ein weiteres angeführtes Charakteristikum ist, dass Gender im Gegensatz zur vorangegangenen feministischen Forschung Macht denk- und theoretisierbar mache. Dies könnte ein wichtiger Punkt sein, wenn dabei auf eine tatsächliche Unterscheidung von Macht und Herrschaft abgezielt würde, was leider in den untersuchten Werken nicht der Fall ist. Während einige Bücher eher den vermeintlichen Bruch des Gender mit der feministischen Bewegung kritisieren (vgl. z.B. Bard 2003; Fougeyrollas-Schwebel 2003), versuchen wiederum andere, Gender als Spielart der materialistischen feministischen Tradition darzustellen. Hierzu setzen sie den Akzent vor allem auf die Vorgängigkeit des Gender vor dem Sex (vgl. Bereni/Chauvin/Jaunait/Reveillard 2008; Mercader 2005; Girar/Dorlin 2007), eine theoretische Figur, die sich in der Tat bereits in frühen Texten der in Frankreich populären feministischen Theoretikerin Christine Delphy finden lässt. Eine noch ausstehende veritable Diskussion der unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmen von Herrschaft/Ausbeutung gegenüber Macht könnte hingegen ermöglichen, sich auch die Verschiedenheiten dieser beiden Ansätze bewusst zu machen.22 Und wieder überrascht – angesichts der Tatsache, dass diese Aspekte in Gender Trouble so zentral sind – die Abwesenheit des Konzepts der „heterosexuellen Matrix“23 , aber auch die Dekonstruktion der Kollektivkategorie „Frau“. Butler erinnert darin (sicherlich nicht als erste, sie schließt vielmehr an die Kritiken von black feminists24 und lesbischem Feminismus an) an die Differenzen unter Frauen und innerfeministische, gewaltvolle Normalisierungsprozesse in einer Repräsentation des feministischen „Wir“, das in letzter Instanz meistens nur die Forderungen und Erfahrungen einer sehr spezifischen Gruppe von Frauen repräsentiert.25 Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die französische Einführungsliteratur in Gender Studies immer noch stark bemüht ist, Gender für den französischen Kontext konsumierbar zu machen – zum Teil dadurch, dass wesentliche Elemente der so identifizierten „Gendertheorien“ ausgeblendet werden müssen, um nicht an wun-

22 Für eine Diskussion der unterschiedlichen Bezugsrahmen von Macht und Herrschaft in den französischen feministischen Gender-Debatten siehe Möser (2009). 23 Generell überrascht in den französischen Einführungsbüchern die Abwesenheit Monique Wittigs, was meines Erachtens mit dem genannten Konflikt 1980 zusammenhängt, aber auch einer sich darüber legitimierenden Homophobie. 24 Zum Beispiel Patricia Hill Collins, bell hooks, Audre Lorde, The Combahee River Collective. 25 Vgl. das erste Kapitel in Butler (1999).

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den Punkten der Geschichte feministischer Theoriebildung wie den oben genannten Spaltungen zu rühren. In der Analyse der deutschen Einführungsbände fielen vor allem drei Narrative zur Entwicklung feministischen Denkens auf, welche zum Teil in gemischter Form vorliegen. Die von mir „Differenzierungsnarrativ“ genannte Figur erzählt die Ausdifferenzierung feministischer Wissenschaft über die „Gendertheorien“ als Reifungsprozess einer zunächst politisch orientierten Bewegungsforschung.26 Dabei wird diese Entwicklung nicht als konflikthaft, sondern vielmehr als notwendiger Fortschritt gewissermaßen teleologisch aufgefasst.27 Doch indem Genderforschung als differenzierter und komplexer als die vorangegangene feministische Forschung dargestellt wird, erscheint letztere notwendig als undifferenziert und unterkomplex, was einer näheren Untersuchung nicht standhält. Das zweite Narrativ, welches sich „Verfallsnarrativ“ nennen könnte, ist in gewisser Hinsicht die Negativfolie des Differenzierungsnarrativs, wobei beide häufig zusammen auftauchen. Das „Verfallsnarrativ“ beklagt eine Entpolitisierung der feministischen Forschung, welche sich derart gut in die universitäre Institution integriert habe, dass sie jeglichen kritischen Anspruch verloren habe (vgl. Nickel 1996: 336; Hark 2005: 260 oder Dominijanni 2008: 143). Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass die Kritik der Entpolitisierung vor allem jenen Forschungsfeldern nachgetragen wird, welche Forschung betreiben, die sich nicht unmittelbar in politische Maßnahmen wie z.B. Gender Mainstreaming übersetzen lässt. French feminism, aber auch die „Gendertheorien“ können hierfür als historische Beispiele herangezogen werden.28 Wird politische Umsetzbarkeit zum einzigen Kriterium,

26 Sabine Hark stellt ebenfalls kritisch diese Rhetorik „von Geschlechterkampf zu Geschlechtsdifferenzierungsforschung“ (Hark 2005: 260) heraus. 27 Beispiele für die Verwendung dieses Narratives sind die Einführungen von Wesely (2000), Bührmann/Sektion Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (2000) oder Faulstich-Wieland (2003). 28 Butler wurde häufig ein unverständlicher Stil vorgeworfen, eine Kritik auf die sie in der Gender Trouble-Ausgabe von 1999 in Anlehnung an Adorno antwortet: „(T) here is nothing radical about common sense. It would be a mistake to think that received grammar is the best vehicle for expressing radical views, given the constraints that grammar imposes on thought, indeed, upon the thinkable itself.“ (Butler 1999: xix). Man könnte heute sogar fragen, inwiefern der aktuelle backlash gegen Gender nicht auch zum Teil auf die „Vulgarisierungsbemühungen“ von Gender Mainstreaming und Antidiskriminierungspolitik zurückzuführen ist. Damit soll natürlich nicht ge-

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um zu urteilen, ob eine Theorie politisch ist oder nicht, dann liegt hier ein sehr enger Politik-Begriff zugrunde, der staatliche und lobbyistische Politiken bevorzugt. Eine Kritik, welche sich Negativität erlaubt, erscheint aus dieser Perspektive bereits als unpolitisch. In Zeiten konservativer backlashs ist es jedoch meines Erachtens häufig Abstraktion, in der eine radikale Kritik Zuflucht findet, um an der Universität bestehen zu können. Das dritte Narrativ, das ich „Versöhnungs- oder Überwindungsnarrativ“ genannt habe, erklärt sich über die Gender-Debatten selbst: In den Debatten wurde häufig die Kategorie „Frau“ dem „Gender“ gegenübergestellt. Dieses Oppositionspaar ruft eine Gegenüberstellung von Denktraditionen auf, in die sie jeweils zu Recht oder zu Unrecht gestellt werden. Verkürzt wird demnach die „Frau“ einer humanistischen oder materialistischen Tradition zugeordnet, während „Gender“ einer „antihumanistischen“, „postmodernen“ oder „postnietzscheanischen“ Tradition zugerechnet wird. Das Versöhnungsnarrativ versucht nun, diese Gegenüberstellung zu relativieren, indem es die Gemeinsamkeiten beider Traditionen hervorhebt (zum Beispiel den geteilten Antinaturalismus und Antiessentialismus).29 Auf diese Weise soll auf kultur- und symbolpolitischer Ebene von der Stärke anti-universalistischer Ansätze profitiert werden, während gleichzeitig die Stärke humanistischer Ansätze im Bereich der kollektiven Aktion genutzt werden soll.30 Problematisch an allen drei rhetorischen Achsen ist, dass die real geführten Konflikte hinter den Erzählungen verschwinden. Demgegenüber könnte eine Erzählung feministischen Denkens, die sich an einer Auffassung des Politischen als konflikthaft und agonistisch im Sinne Chantal Mouffes orientiert (vgl. Mouffe 2005: 9), die tatsächlichen Hegemonien auch innerhalb feministischer Wissensproduktion offenlegen und damit theoretisierbar machen. Feministische Wissenschaft ist seit einer Weile darauf angewiesen, das eigene Denken an weitere Generationen von Forscher_innen weiterzugeben. Bei dieser Weitergabe scheint mit das Offenlegen

sagt werden, dass Theorien sich im Jargon verstecken sollten, sondern einfach nur ein Erklärungsversuch angeboten werden, warum gerade jetzt so stark gegen Gender mobilisiert wird, dass sich der Papst, der Präsident und zahlreiche Autoritäten dazu äußern müssen. 29 Bspw. bei Becker-Schmidt/Knapp (2000: 37) und Knapp (1998: 11). 30 Alle drei Narrative stehen in Beziehung zu den zuvor angeführten Kontexten und sind damit zum Teil deren Ergebnis, zum Teil eine Reaktion darauf, zum Teil produzieren und verändern sie diese Kontexte. Die Grenzen dieser Erzählungen liegen vielleicht in meiner rhetorischen Glättung.

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der politischen Konflikte und deren Rolle bei der Entwicklung feministischer Theorien hilfreicher, als Erzählungen von Verfall, von Differenzierung oder gar von Gleichheits- oder Differenzfeminismus. Die zunächst viel kritisierte Kanonproduktion im Rahmen der Übersetzungsprozesse, beispielsweise unter dem Begriff French feminism, aber auch im Falle der Gendertheorien, wurde zum Teil für Hegemonieverschiebungen im Feld feministischer Wissenschaft genutzt. Auf diese Weise fanden Themenfelder, aber auch Fragestellungen und Perspektiven, Eingang in die Wissenschaft, denen der Zugang vorher versagt wurde.31 Durch die französischen Gender-Debatten wurden beispielsweise die Arbeiten Monique Wittigs und Michel Foucaults für die französische feministische Wissenschaft zugänglich gemacht, was in ersterem Fall sogar mit der Übersetzung von Wittigs zuletzt in englischer Sprache verfassten Schriften einherging.32 Judith Butler, die sich in ihrem „französischen“ Buch Gender Trouble nach eigenen Angaben keiner Loyalität verpflichtet fühlen musste (vgl. Butler 1999), konnte durch eben diese Wanderungs- und Transferprozesse die Arbeiten Wittigs mit jenen Julia Kristevas, vor allem aber Luce Irigarays kommunizieren lassen. Dies wäre im französischen Kontext selbst auf diese Weise nicht möglich gewesen und hat im Übrigen auch die Rezeption und französische Übersetzung dieses Buches für so lange Zeit erschwert. Ebenso verhinderten diese Barrieren lange Zeit und bis heute, dass sich beispielsweise der materialistische Feminismus in Frankreich auf Butlers Kritik des Heterozentrismus in Julia Kristevas Arbeit bezogen hätte. Auf ähnlich paradoxe Weise begünstigte die große Bedeutung der Kritischen Theorie für Teile der feministischen Wissenschaft Deutschlands eine starke Abwehrreaktion, die sich vor allem gegen Gender Trouble, aber auch gegen ethnomethodologische Ansätze richtete.33 Während die jüngere Einführungsliteratur die 31 So hat im Fall der US-Rezeption des French feminism der Akzent auf „Differenz“ als epistemologisch neu formulierter Kategorie geholfen, das feministische „Wir“ in Frage zu stellen und damit innerfeministische Ausschlusspraxen für rassistisch diskriminierte und/ oder lesbische Feministinnen thematisierbar bzw. durch die Autorität der French theory gewissermaßen hörbar gemacht. 32 2001 fand erstmals eine Tagung zu Ehren Monique Wittigs statt. Die Beiträge sind veröffentlicht in Bourcier/Robichon (2002). Bourcier hat ebenfalls Wittigs The Straight Mind ins Französische übersetzt. 33 In Deutschland wurden diese im US-amerikanischen Raum entwickelten Ansätze (vgl. bspw. West/Zimmerman 1987: 125-51) vor allem durch Angelika Wetterer und Regina Gildemeister vertreten (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992).

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Gender-Kategorie fast immer als Drittes zu Differenz- und Gleichheitsfeminismus darstellt, steht eine explizite Diskussion des Oppositionspaars Dekonstruktion versus Kritische Theorie, wie sie in den 1980er Jahren in den USA geführt wurde, in Deutschland noch aus. Der Fokus auf Transfer- und Übersetzungsprozesse hat gezeigt, wie in diese Prozesse eingegriffen wurde und eingegriffen werden kann, aber auch welche Hindernisse bestehen. Den Gender Studies wurde der Ausschluss feministischer Anliegen vorgeworfen; gleichzeitig kann aber gezeigt werden, wie die Gender Studies eine neue Form von postfeministischem und queerem Aktivismus inspirierten. Die Faktoren, welche eine „Theoriewährung“ plötzlich zulassen oder aber auch schlagartig abwerten – ob man das jetzt Paradigmenwechsel nennt oder nicht –, liegen keineswegs einzig in der Hand der Forscher_innen. Hierfür muss der größere politische, soziale und geschichtliche Rahmen betrachtet werden, welcher Akteur_innen einschließt, die mit der Wissenschaft nur am Rande zu tun haben. Neben den aufgeführten theoretischen Traditionen des Feldes und vorangegangenen wissenspolitischen Konflikten gilt es, dabei etwa auch politische Konjunkturen und Institutions- oder Publikationspolitiken zu berücksichtigen. Das Beispiel der feministischen Gender-Debatten zeigt Strategien, sich solche Umbrüche nutzbar zu machen, es lässt aber auch die Grenzen gesellschaftlicher Veränderung durch die Akademie erkennen und nicht zuletzt, dass eine innerfeministische Diskussion über das Verhältnis zwischen feministischer Forschung und akademischer Institution überfällig ist.

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Entpolitisierung feministischer Wissenschaft? Zum Selbst- und Kritikverständnis in der feministischen Diskussion TINA JUNG

1. E inleitung Feministische Wissenschaft ist im deutschsprachigen Raum im Kontext der Neuen Frauenbewegung entstanden und von einem genuin politischen Impuls der Herrschaftsabsage getragen (vgl. Hark 2001). Sowohl die patriarchale Gesellschaft als auch die „männliche Wissenschaft“ sollten radikal verändert werden. Seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren hat sich feministische Wissenschaft zu einem wichtigen Studien-, Forschungs- und Theoriefeld entwickelt, das hoch ausdifferenziert und von heterogenen Theorieeinflüssen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Erfahrungen durchzogen ist. Wissenschaft als Betrieb und Institution war und ist für feministische Anliegen dabei ein ambivalenter Bezugspunkt. Einerseits stehen Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung in engem Zusammenhang, sodass „der Konnex von Wissenschaft und Gesellschaft […] gewissermaßen als Kippschalter im Prozess der Transformation“ (Hark 2005: 254) gedacht wurde. Gleichzeitig und andererseits war Wissenschaft immer auch ein Gegenstand scharfer feministischer Kritik und wurde als patriarchal, kapitalistisch, verdinglichend und ausgrenzend in den Blick genommen (vgl. Hark 2005: 209ff.). Auch heute noch ist – trotz geschlechterdemokratischer Öffnungen – in den wissenschaftlichen Strukturen ein z.T. erheblicher gender bias festzustellen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Konstruktion von Karrierewegen, Anerkennungs- und Leistungsmustern als auch hinsichtlich der androzentrischen Anteile im wissenschaftlichen Wissen (vgl. u.a. Riegraf et al. 2010). Für feministische Wissenschaft ergibt sich vor diesem

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Hintergrund eine spannungsreiche Position, weil sie zwischen subversiven, herrschafts- und gesellschaftskritischen Ansprüchen auf der einen Seite und der „Normalisierungsrealität“ (Gravenhorst 2001: 96) auf der anderen Seite eingespannt ist. Diese Spannung zwischen „Dissidenz und Partizipation“ (Hark 2005) sowie die Effekte, die Institutionalisierung, Akademisierung und Professionalisierung auf den Kritikanspruch feministischer Wissenschaft haben, werden ausdrücklich zum Gegenstand selbstreflexiver Debatten (vgl. u.a. Hark 2005, 2007; Hornung/ Gümen/Weilandt 2001). Feministische Wissenschaft zeichnet sich so nicht zuletzt durch ihren äußerst selbstreflexiven Charakter aus. Ein zentraler Topos ist dabei in verschiedenen Varianten feministischer Selbsterzählungen die Diagnose der Entpolitisierung und Entradikalisierung feministischer Wissenschaft. Nicht nur würden sich die politischen Visionen und der radikale Anspruch abschleifen; feministische Wissenschaft, so die Kritik, habe sich zu einer Normalwissenschaft entwickelt, die den Regeln des wissenschaftlichen Betriebs mehr folge als sie zu stören (vgl. Hornung/Gümen/Weilandt 2001). Die Rede von der Entpolitisierung kann dabei einerseits eingesetzt werden, um den Verlust einer starken politischen Rahmung und herrschaftskritischen Intention zu problematisieren; sie kann aber auch als notwendiger, wünschenswerter oder zumindest akzeptabler Umstand gesehen werden, der Ausdruck von theoretischer Ausdifferenzierung sowie institutioneller und fachbezogener Professionalisierung ist. Deutlich hat diese Sichtweise etwa Stefan Hirschauer mit der Formulierung „Professionalisierung verlangt Entpolitisierung“ (Hirschauer in Hirschauer/Knapp 2006: 23) auf den Punkt gebracht. Aus dieser Perspektive gilt die politische Rahmung feministischer Wissenschaft allenfalls als Gründungsakt und Übergangsstadium, demgegenüber eine gereifte, professionelle Geschlechterforschung sich entschieden vom herrschaftskritisch-politischen Impetus und der Nähe zu sozialen Bewegungen zu lösen habe (vgl. Hirschauer in Hirschauer/Knapp 2006). Die politische Rahmung feministischer Wissenschaft ist also eng mit ihrem herrschaftskritischen Selbstverständnis verbunden – und als solche immer wieder umkämpft. Nicht nur war der Hinweis auf das politische Selbstverständnis und die Nähe zu sozialen Bewegungen für den Mainstream der Wissenschaft häufig ein probates Mittel, um feministische Ansätze als „unwissenschaftlich“ zu degradieren. Auch im Feld der Geschlechterforschung selbst findet sich heute ein breites Spektrum von stark normativ-herrschaftskritischen Ansätzen bis hin zu solchen, die genau jenen „politischen Ballast“ überwinden wollen (vgl. dazu auch Hark 2005). Manche lehnen auch die Bezeichnung „feministisch“ auf-

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grund des damit assoziierten politisch-herrschaftskritischen Impetus für die eigene Forschung ab (vgl. Hirschauer/Knapp 2006). Zur Disposition steht hier das „Erbe“ feministischer Wissenschaft bzw. die Anschlussfähigkeit eines sich von seinen Anfängen her kritisch, radikal und politisch verstehenden Wissensprojekts für die gegenwärtige Theoriebildung unter professionalisierten Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs. Aber auch auf Seiten derer, die den herrschaftskritischen Impetus feministischer Wissenschaft betonen, stellt die Frage nach der (Ent-)Politisierung feministischer Wissenschaft durchaus eine Herausforderung dar. Diese verweist darauf, dass das Kritikverständnis feministischer Wissenschaft stets weiterzuentwickeln ist, was eine kritische (Neu-)Verständigung über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen nötig macht. Im folgenden Beitrag werden vor diesem Hintergrund die Grundzüge des feministischen Wissenschaftsverständnisses aufgearbeitet und feministische Ansätze diskutiert, die die Frage nach den Konturen eines kritisch-feministischen Wissenschaftsprojekts unter gegenwärtigen Bedingungen aufnehmen und produktiv weiterführen. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Kontext des feministischen Wissenschaftsverständnisses.1 Zunächst kommen die Grundzüge des feministischen Wissenschaftsverständnisses in den Blick (Abschnitt 2). Dabei werden grundlegende Aspekte des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik im Feminismus aufgearbeitet. Sodann wird danach gefragt, wie der Konnex von Wissenschaft und Politik im Selbstverständnis feministischer Wissenschaft angelegt ist. Hierbei zeigt sich, dass die in einigen Ansätzen enthaltene Vorstellung von feministischer Wissenschaft als einer Form feministischer Politik ein zentraler Topos im feministischen Selbstverständnis ist, der allerdings nicht unumstritten ist. In Abschnitt 3 wird gezeigt, dass und warum die in dieser Vorstellung enthaltene weitreichende Ineinssetzung von Politik und Wissenschaft kritisiert und zu Gunsten einer machtkritischen (Selbst-)Reflexivität feministischer Wissenschaft revidiert wird. In den Blick kommen somit die machtvollen Verstrickungen, in die das feministische Kritikprojekt in Wissenschaft, Politik und Ökonomie verwickelt ist. Daraus resultiert eine spezifische Politik der reflexiven Selbstverständigung über die eigene Position, sowie ein reflektiertes Verständnis der Relation von Wissenschaft 1 Im Rahmen eines Aufsatzes können an dieser Stelle hierzu selbstredend nur einige Schlaglichter auf einzelne Facetten der feministischen Diskussion geworfen werden.

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und Politik, die nicht nur deren wechselseitige Bezogenheit, sondern auch deren jeweilige Eigenlogiken betonen. In Abschnitt 4 wird die Frage nach den Eigenlogiken von Wissenschaft und Politik im Kontext des wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses feministischer Theorie vertiefend diskutiert. Dabei sollen Ansätze aufgezeigt werden, die ein reflektiertes Verständnis von Wissenschaft und Politik als notwendigen Teil einer kritischen feministischen Theorie reformulieren. Die Ergebnisse werden abschließend zusammengeführt und nach weiteren Perspektiven befragt (Abschnitt 5).

2. W issenschaft als P olitik mit anderen M itteln ? – E lemente eines feministischen W issenschafts - und K ritikverständnisses Wissenschaft und Politik sind in der Geschichte feministischer Wissenschaft eng miteinander verknüpft. Wissenschaft erscheint in feministischer Perspektive nicht nur als ein spezifisches Erkenntnismittel; Wissenschaft ist auch ein Gegenstand feministischer Kritik bzw. ein (Praxis-)Feld, auf dem (feministische) Auseinandersetzungen stattfinden. Wissenschaft gilt als zentraler Pfeiler der europäischen Aufklärung; faktisch jedoch fand sie nicht nur unter Ausschluss von Frauen statt (Frauen wurden in Deutschland erst Anfang des 20. Jahrhunderts zu Universitäten zugelassen), sondern auch die damit verbundenen aufklärerischen Ideale und Hoffnungen haben sich für Frauen häufig als unzulänglich erwiesen (vgl. Klinger 1990). Wissenschaft ist vor diesem Hintergrund zunächst einmal als Institution zu verstehen, die sowohl personell als auch strukturell männlich geprägt ist; die gesellschaftliche Organisation von Wissenschaft, die Karriere- und Anerkennungsmuster und die dominierenden Leitbilder für die Arbeit als WissenschaftlerIn bzw. Vorstellungen von „Gelehrten“ haben einen maskulinistischen bias (vgl. dazu u.a. Krais 2008). Dieser bias betrifft aber nicht nur Wissenschaft als Betrieb; auch die intellektuellen Gehalte sind geschlechtlich geprägt. Sie spiegeln Weltsichten, die mit männlichen Lebensweisen korrespondieren. Gleichzeitig sind die spezifisch männlich vergeschlechtlichten Perspektiven der überkommenen Wissenschaft als solche aber unsichtbar gemacht; Männlichkeit wird hinter Neutralitäts- und Objektivitätsinszenierungen verschleiert. Der „diskrete Maskulinismus“, wie es Eva Kreisky (1997) genannt hat, wird so zum „geheime[n] Glossar“ (Kreisky/Sauer 1997) der Wissenschaften. Für die sich ab den 1970er Jahren entwickelnde feministische Wissenschaft ging es daher zunächst darum, Wissen über Frauen zu generieren und einen

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Selbstverständigungsprozess anzustoßen, in dem überhaupt erst zu klären war, was „Frausein“, Weiblichkeit sowie die Forschung über Frauen und für Frauen bedeuten kann. Feministische WissenschaftlerInnen mussten sich die Welt sprichwörtlich neu erschließen und gegen den maskulinistischen und androzentrischen Maßstab der herrschenden Wissenschaft für Frauen einen Subjektstatus reklamieren. Feministische Wissenschaft ist vor diesem Hintergrund ein hochgradig politisches Unterfangen – und zwar bereits aus der bloßen Tatsache heraus, dass damit die Universalisierung einer androzentrischen Weltsicht angefochten wird. In diesem Sinne war feministische Theorie von Beginn an nicht nur politische Theorie, die die Frage nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen stellt; sie hatte auch eine starke Komponente der Erkenntnis- und Wissenschaftskritik. Als solche stellt feministische Wissenschaft die Machtfrage im Kontext von Denkverhältnissen (vgl. Klinger 1990; List 1989) und ist insofern immer schon eine politische Tätigkeit. Feministische Wissenschaft bezieht ihren politischen Charakter zudem über ihre normative Orientierung am Abbau von (geschlechtsspezifischen) Herrschaftsverhältnissen; sie ist nicht wert- und interessefrei. Vielmehr findet sich in vielen feministischen Arbeiten ein Selbstverständnis, das auf eine radikale Herrschaftskritik zielt, nach Utopien von Autonomie, Selbstbestimmung und radikaler Demokratie fragt (vgl. Holland-Cunz 2010) und mit einer „umfassenden feministischen Vision von sozialer Veränderung und Gerechtigkeit“ (List 1989: 10) verbunden ist (vgl. u.a. Kurz-Scherf/Lepperhoff/Scheele 2009). Feministische Wissenschaft ist also normativ auf die Veränderung und Überschreitung des status quo gerichtet – und in dieser Weise auch politik- und praxisbezogen. Offensichtlich sind Wissenschaft und Politik im Kontext feministischer Wissenschaft also eng miteinander verwoben. Doch wie genau wird das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Selbstverständnis feministischer Wissenschaft konzipiert? Feministische Theorie ist hochgradig heterogen und kein einheitlicher Forschungsansatz. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es Umrisse eines geteilten Wissenschaftsverständnisses im Feminismus gibt, die feministische Wissenschaft als solche von anderen Ansätzen unterscheiden. Barbara Holland-Cunz (2003a, 2003b, 2005) hat den Versuch unternommen, die zentralen Topoi des feministischen Wissenschaftsverständnisses zu entziffern. In einer Auseinandersetzung mit feministischen Wissenschaftstheoretikerinnen, darunter v.a. Maria Mies, Sandra Harding und Donna Haraway, kommt sie zu dem Ergebnis, dass maßgeblich „drei Theorieaspekte […] in den fraglosen Bestand deutschsprachiger feministischer Wissenschaftstheorie übergegangen“ (Holland-Cunz 2005: 30) und bis

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heute, wenngleich zumeist unbewusst, zentrale Referenzpunkte des feministischen Selbstverständnisses seien: „die Interpretation von feministischer Wissenschaft als einer Form feministischer Politik, die reformulierte Definition von Objektivität als situierter/explizierter Subjektivität und die idealtypische Beschreibung feministischer Forschung als einer kritischen AußenseiterinnenPosition im Wissenschaftsbetrieb.“ (Holland-Cunz 2005: 30)

Vor allem um den ersten der drei Punkte, nämlich die Interpretation von feministischer Wissenschaft als einer Form feministischer Politik, geht es im Folgenden. In der Harding’schen Formulierung „Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln […]. Wissenschaft ist selbstverständlich mehr als Politik, aber sie ist auch das“ (Harding 1994: 22, zit. n. Holland-Cunz 2005: 101) wird darauf Bezug genommen, dass auch die herrschende männliche Wissenschaft – wiewohl und gerade weil sie ihre eigene Partikularität und Herrschaftsförmigkeit hinter der Vorgabe von Objektivität, Universalität und Neutralität verschleiert – bereits politisch ist; nämlich patriarchal und verdinglichend, klassifizierend und ausgrenzend. Feministische Wissenschaft als eine Form feministischer Politik zu verstehen ist aus dieser Sicht also die notwendige Gegenbewegung zur herrschenden Wissenschaft. Die politische Rahmung feministischer Wissenschaft basiert hier auf der Vorstellung, dass zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik ein enger Nexus besteht: Jede Form von Wissenschaft ist gesellschaftlich und historisch verortet und geprägt (auch die sich selbst als „neutral“ ausweisende) und hat als solche spezifische gesellschaftliche Wirkungen, die herrschaftsstabilisierend oder auch subversiv sein können. Feministische Wissenschaft nimmt diese gesellschaftliche und historische Verortung reflexiv auf und begreift Wissenschaft als eingreifende, politische Tätigkeit, die von einem herrschaftskritischen Impetus getragen wird. Feministischer Wissenschaft geht es um die Kritik bestehender Herrschaftsverhältnisse sowie um die Ermöglichung einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung, gar einer „Revolution“ (Harding 1990: 8), die eine radikale Veränderung der Wissenschaft einschließt.2

2 So formuliert z.B. Sandra Harding: „Die radikal-feministische Position geht davon aus, daß die erkenntnistheoretischen, metaphysischen, ethischen und politischen Ansätze der vorherrschenden Wissenschaftsformen androzentrisch sind und sich gegenseitig stützen. Sie behauptet, daß dem in der westlichen Kultur tief verwurzelten Glauben an die Fortschrittlichkeit der Wissenschaft zum Trotz diese heute vor allem rückschrittli-

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Feminismus erscheint in dieser Perspektive als „grenzüberschreitendes Denken und Handeln“ (List 1989: 21), das auch den eigenen Fokus der Kritik erweitert – und somit, zumindest mit Bezug auf die Kategorie Geschlecht, tendenziell selbstüberschreitend ist: Feministischer Wissenschaft geht es im Selbstverständnis häufig nicht nur um die Überwindung der Diskriminierung von Frauen, sondern sie verbindet Geschlechterkritik mit einer umfassenden Gesellschaftskritik (vgl. u.a. List 1989: 10f.). Dies zeigt sich u.a. in dem „inklusiven“ Verständnis feministischer Kritik, wie es bereits in einigen frühen wissenschaftstheoretischen Entwürfen angelegt ist: Die Kritik von Sexismus und Androzentrismus wird vergleichsweise selbstverständlich mit der Kritik etwa von Kapitalismus, Rassismus und Verdinglichung verknüpft (vgl. Harding 1990). Diese Sichtweise auf feministische Wissenschaft, die über Frauen- und Geschlechterforschung im engeren Sinne hinausgeht und danach fragt, wie sich patriarchale Herrschaftslogiken mit anderen Dimensionen von Macht und Herrschaft verbinden, kann dabei im feministischen Denken und Handeln auf eine lange Tradition zurückblicken, wie z.B. Andrea Maihofer (2013) in ihrer Auseinandersetzung mit der Arbeit von Virginia Woolf zeigt. Ihre Kontur gewinnt feministische Wissenschaft in dieser Perspektive also nicht über eine Ausrichtung als „bloße ‚Benachteiligungsforschung‘“ (Ruppert 1995: 296). Gleichwohl hat feministische Wissenschaft ihre Wurzeln zweifelsohne in den Diskriminierungserfahrungen, die Frauen als Frauen erleben; die Themen und Fragen der entstehenden Frauenforschung waren dem weiblichen Alltag entnommen. Insbesondere während der 1970er Jahre, den Aufbruchszeiten feministischer Wissenschaft, gab es einen engen Zusammenhang zwischen praktischer Veränderung, politischer Aufarbeitung weiblicher Erfahrungen und Forschung (vgl. Knapp 2014: 16; Jung 2009; Hark 2005). Dies spiegelte sich auch in den wissenschaftstheoretischen und -programmatischen Debatten. Im deutschen Sprachraum waren die zuerst 1978 erschienenen Methodischen Postulate zur Frauenforschung von Maria Mies besonders prägend für den feministischen Diskurs – wenngleich diese von Beginn an durchaus kontrovers diskutiert wurden (vgl. dazu das

che gesellschaftliche Tendenzen befördert; und daß die gesellschaftliche Struktur der Wissenschaft nicht nur sexistisch, sondern auch rassistisch, kulturfeindlich und von der herrschenden Klasse bestimmt ist. […] Aus dieser Perspektive steht feministische Wissenschaftskritik für die Forderung nach einer radikaleren geistigen, moralischen, gesellschaftlichen und politischen Revolution, als die Begründer der modernen westlichen Kultur sie sich jemals haben vorstellen können.“ (Harding 1990: 7f.)

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Schwerpunktheft Frauenforschung oder feministische Forschung der Zeitschrift beiträge zur feministischen theorie und praxis von 1984). Mies stellt darin sieben Postulate einer engagierten Frauenforschung auf, in denen Wissenschaft und Politik eng verkoppelt werden. Dazu gehört u.a. der Anspruch, bewusste Parteilichkeit statt (vermeintlicher) Wertfreiheit in den Forschungsprozess einzubringen. Die eigene Betroffenheit der Forschenden als Frauen soll Hierarchien zwischen Forschungssubjekten und -objekten auflösen und feministische Wissenschaft im Sinne unmittelbar involvierter, konkreter politischer Aktion in den Dienst feministischer Kämpfe stellen (vgl. Mies 1984: 12ff.). Mies’ Postulate stammen aus dem Umfeld der Kämpfe um das Kölner Frauenhaus – und spitzen vor diesem Hintergrund den Nexus von Wissenschaft und Politik auf den Anspruch unmittelbarer Praxisrelevanz zu (vgl. Mies 1984). Aus dieser Sicht soll feministische Forschung nicht nur auf die Bedarfe und Gegenstände von Bewegungskämpfen ausgerichtet sein, sondern auch als radikalisierte Variante der Aktionsforschung in die politischen Kämpfe der Frauenbewegung integriert werden; Theorie entstehe überhaupt erst aus der politischen Praxis (vgl. Mies 1984: 13).

3. M achtkritische S elbstreflexion und gesellschaftliche V erortung feministischer K ritik Genau diese weitreichende Ineinssetzung von Wissenschaft und Politik sowie die Engführung der politischen Rahmung auf Parteilichkeit, Betroffenheit und unmittelbare Aktionsforschung im Dienst sozialer Kämpfe der Frauenbewegung mitsamt ihren Implikationen sind es, die im Feminismus allerdings auch heftig diskutiert und kritisiert wurden – und zwar damals wie heute (vgl. u.a. das Schwerpunktheft der beiträge 11/1984). Barbara Holland-Cunz weist darauf hin, dass „herrschaftliche bzw. machtvolle Allianzen zwischen Politik und Wissenschaft […] nicht identisch mit ihrer Identität“ (2003b: 17) sind und die Ineinssetzung von Wissenschaft und Politik nicht dem komplizierten Verhältnis zwischen beiden gerecht wird. Sabine Hark (2005: 250ff.) hat herausgearbeitet, dass das Verhältnis zwischen Frauenbewegung und feministischer Wissenschaft auch faktisch von Beginn an keineswegs so angelegt war, dass sich letztere bereitwillig der politischen Praxis unterwarf. Vielmehr war das Verhältnis der beiden „un/geliebten Schwestern“ (Sigrid Metz-Göckel) immer schon kompliziert und durchlief selbstkritische und widerstreitende Lern- und Erkenntnisprozesse. Die starke und weitreichende wissen-

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schaftstheoretische Verkopplung von Wissenschaft und Politik, wie sie sich in der Formel von Wissenschaft als Politik mit anderen Mitteln verdichtet, kann vor diesem Hintergrund also kaum eine allgemeine Gültigkeit für ein so heterogenes Feld wie den Feminismus beanspruchen. Entsprechend kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich darin umstandslos das feministische Wissenschaftsverständnis ausdrückt. Gleichwohl bleibt nicht nur die darin enthaltene Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. von (feministischer) Wissenschaft und (feministischer) Politik aktuell. Aus Sicht von Barbara Holland-Cunz (2005) sind zudem zentrale Elemente dieser wissenschaftstheoretischen Entwürfe auch gegenwärtig für das feministische Selbstverständnis wirksam – im Sinne von unreflektierten, aber doch präsenten Referenzpunkten für feministische WissenschaftlerInnen. Holland-Cunz sieht diesen Umstand darin begründet, dass es ab Mitte der 1990er Jahre zu einem „vorläufigen Abbruch“ der feministischen wissenschaftstheoretischen Diskussionen gekommen ist (vgl. Holland-Cunz 2005: 30) – und damit die „überlieferten“ Elemente aus den Diskussionen der 1970er bis beginnenden 1990er Jahren danach kaum mehr einer expliziten, selbstkritischen Diskussion zugänglich gemacht wurden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis sieht sie daher „als ein unsystematisches, unbewusstes, unreflektiertes, unentschiedenes ‚Nebeneinander‘“ (HollandCunz 2005: 15), in dem allerdings häufig (unausgesprochen) eine Dominanz des Politischen über das Wissenschaftliche angelegt ist – eine Dominanz, die von „frühen“ wissenschaftsprogrammatischen Entwürfen herrührt, sich unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen feministischer Wissenschaft allerdings als Ideologie äußert (vgl. Holland-Cunz 2005: 16). Im Kern dessen, so Holland-Cunz, liegt eben jene wissenschaftstheoretische Vorstellung, feministische Wissenschaft sei Politik mit anderen Mitteln. Diese ist Teil eines auch im gegenwärtigen Feminismus anzutreffenden, unreflektierten, unbewussten Mythos, der in den 1970er Jahren entstand, „der Hoch-Zeit feministischer Selbstermächtigung, scharfer antipatriarchaler Kritik und mangelnder Erfahrung mit professioneller Forschung“ (Holland-Cunz 2003b: 18). Zu den Charakteristika feministischer Wissenschaftsbetrachtung auch noch der 1980er Jahre gehört daher „neben Optimismus und politischem Voluntarismus […] die selbstbewusste Einschätzung, dass der Feminismus eine neue Epoche wissenschaftlichen Wissens erzeugen kann, erzeugen muss und erzeugen wird.“ (Holland-Cunz 2005: 100) Holland-Cunz resümiert, dass in diesem Sinne feministische Theorie und Praxis,

218 | TINA JUNG „so ließe sich das Argument zuspitzen, stets ‚frankfurterisch‘ im Sinne der Rationalitätskritik bzw. streng ‚foucaultianisch’ im Sinne des ‚Macht-Wissens‘ (vgl. Horkheimer/Adorno 1968; Foucault 1991) [ist]. Mit der Kritischen Theorie bzw. mit Michel Foucault gesprochen, scheinen Wissenschaft und Politik der gleichen herrschaftlichen/machtvollen Logik anzugehören: Macht/Politik funktioniert über Wissen, Wahrheit/Wissenschaft arbeitet im Modus des Politischen. Dadurch gewinnen beide gemeinsam die Dominanz über Staat, Gesellschaft und Individuen, avancieren in der Synthese zum beherrschenden Diskurs, der die Öffentlichkeit unter sein Regiment nimmt.“ (Holland-Cunz 2003b: 16)

Allerdings, so führt Holland-Cunz weiter aus, gibt es einen entscheidenden Unterschied in der wissenschaftsprogrammatischen Konzeption von feministischer Wissenschaft miesscher und hardingscher Prägung auf der einen Seite, Kritischer Theorie und Foucault auf der anderen Seite: In der Kritischen Theorie und auch bei Foucault wird „keine schlichte Identität der Logiken des Politischen und des Wissenschaftlichen behauptet.“ (Holland-Cunz 2003b: 17) Demgegenüber tendiert das feministische Wissenschaftsverständnis zu einer nahezu gänzlichen Ineinssetzung von Wissenschaft und Politik. Aus der Sicht des „überkommenen“ feministischen Selbstverständnisses erhält Wissenschaft nur im Modus konkreter, antipatriarchaler Aktion(-sforschung), also im Modus von politischer Befreiungsbewegung, Geltung und Sinn. Aus der grundsätzlichen Einsicht in den politischen Charakter von Wissenschaft und Theoriebildung folgt aber, so der von Holland-Cunz formulierte Einwand, nicht zwangsläufig die Konstruktion einer Dominanz von Politik über Wissenschaft im Sinne einer Unterordnung feministischer Wissenschaft unter die Imperative konkreter feministischer Aktion und die Kämpfe der Frauenbewegungen. Auch eine pauschale und homogenisierende Ineinssetzung von Herrschaft und (malestream-) Wissenschaft auf der einen, sowie eine Ineinssetzung von feministischer Politik und feministischer Wissenschaft (als „besserer“ Wissenschaft) auf der anderen Seite, greife zu kurz. Diese scharfe Kontrastierung zwischen Herrschaft und (malestream-) Wissenschaft einerseits und feministischer Politik/Wissenschaft andererseits führt vielmehr, so Holland-Cunz (2003b), zu einer positiven Ideologisierung feministischer Wissenschaft: „Eine Wissenschaft, die der Frauenbewegung apologetisch und affirmativ ‚hinterher forscht‘, wird nur schwer eine parteiliche Befreiungstheorie produzieren können“ (Holland-Cunz 2003b: 18f.). Gute feministische Wissenschaft muss daher auch guten wissenschaftlichen Standards folgen, um nicht die Lücken und Probleme der Praxis zu reproduzieren, sondern kritisches, originelles und – im feministischen Sinne – objektives Wissen zu generieren.

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Angesichts der nicht unbeträchtlichen Verstrickung in die vermachteten Verhältnisse ist es daher für kritische Theoriebildung notwendig, ein distanziertes Verhältnis nicht nur zur herrschenden Gesellschaft, sondern auch zu den eigenen Bezugsbewegungen zu wahren (vgl. Holland-Cunz 2003b). Holland-Cunz argumentiert, dass es andernfalls zu Blindstellen in der Selbstwahrnehmung feministischer Wissenschaft kommen kann. Gerade im Kontext der sog. Wissensgesellschaft sowie angesichts einer zunehmenden Expertokratisierung und Technokratisierung der parlamentarischen Demokratie sei die Gefahr herrschaftlicher, insbesondere neoliberaler Verführungen groß. Diesen Verweis auf die machtblinde Verstrickung feministischer Wissenschaft konkretisiert Holland-Cunz vor dem Hintergrund einer gouvernementalitätskritischen Analyse der „neoliberalen Regierungskunst“ (2005: 165) in der sog. Wissensgesellschaft: „Die wissenspolitische Vorstellung, die Revolutionierung der Wissenschaft könne mit der Strategie ‚Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln‘ gelingen, endet beim Gegenteil dessen, was frau bewirken möchte. ‚Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln‘ reproduziert (diskursiv) und inauguriert (material) die neoliberale Regierungskunst in der Wissenschaft. Wer sich derart eindeutig für eine Vermischung von Wissenschaft und Politik, für die möglichst weit gehende Auflösung der Trennung einsetzt, folgt ohne Zweifel unwissentlich dem neoliberalen Impuls.“ (Holland-Cunz 2005: 165, Hervorh. im Orig.)

In dieser Sicht wird also eine feministische Kritikkonzeption, in der Wissenschaft und Politik weitgehend ineins gesetzt werden, problematisch, weil die „Aufweichung der klassisch liberalen Trennung zwischen Wissenschaft und Politik“ (HollandCunz 2005: 165) dem neoliberalen Modus entspricht. Allgemeiner formuliert folgt daraus aber auch die Einsicht, dass feministische Kritikstrategien – und zwar auch hinsichtlich des Wissenschaftsverständnisses – reflexiv auf den politischen, ökonomischen und wissenschaftsbezogenen Wandel bezogen sein müssen, wie er etwa unter den Stichworten Wissensgesellschaft, Ökonomisierung der Hochschulen, aber auch bezüglich der Rolle von Wissenschaft in der (Post-)Demokratie diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund plädiert Barbara Holland-Cunz (2003a, 2003b, 2005) entschieden für die Notwendigkeit, zu einer expliziten Revision des Selbstverständnisses feministischer Wissenschaft zu kommen, dieses selbst- und machtkritisch in den Kontextbedingungen von Wissenschaft, Politik und Ökonomie zu verorten und ggf. die feministischen Kritikstrategien umzustellen. Wichtig ist dabei, dass feministische Wissenschaft sich über die Bedingungen ihrer materiellen Produktion wie auch über die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Subjekte Rechnung ablegt.

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Auch Sabine Hark (2005) nimmt das Moment selbst- und machtkritischer Reflexivität im Umgang mit veränderten Kontextbedingungen feministischer Wissenschaft auf. In ihrer Studie zur Diskursgeschichte des Feminismus thematisiert Hark die Prozesse der Akademisierung, Professionalisierung und theoretischen Ausdifferenzierung, die feministische Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, aber auch die Handlungsmöglichkeiten derer, die feministische Wissenschaft betreiben. Dabei befragt sie die Wechselverhältnisse und machtvollen Einlassungen feministischer Anliegen mit der männlich geprägten Wissenschaft auf die Effekte, die dies für den Anspruch hat, ein kritisches Wissensprojekt zu sein. Aus dieser Sicht erscheint feministische Wissenschaft als eine, die in eine Widerspruchskonstellation mit vielfältigen Facetten eingelassen ist: Es zeigt sich ein Widerspruch zwischen ihrer institutionellen Anerkennung (und einem damit einhergehenden Erfolg) und ihrer Entwertung (und einer damit einhergehenden Marginalisierung); es zeigt sich aber auch ein Widerspruch im Selbstverständnis, eine dissidente, auf Veränderung zielende Praxis innerhalb des Felds der Wissenschaft darzustellen, als solche jedoch auch an eben jenem Feld, das es zu verändern gilt, zu partizipieren und dessen Regeln und Routinen zumindest teilweise zu reproduzieren. Teilhabe, so die zentrale These von Hark, erweist sich hier als prekäre Voraussetzung für Veränderung. Dies bedeutet zudem, dass Dissidenz und Partizipation unauflöslich miteinander verknüpft sind – und diese Verknüpfung ein spannungsreiches Verhältnis darstellt. Wenn aber Dissidenz und Partizipation so eng verflochten sind, so ist auch nicht immer klar zu trennen, ob und wie die herrschende Wissenschaft einem erhofften feminist turn folgt oder ob nicht vielmehr der (wissenschaftliche) Feminismus einem academic turn unterliegt, der jenen auch in seinem radikalen und kritischen Anspruch abschleift. Hark bemerkt hierzu: „Wir haben es […] mit einem Geschehen zu tun, in dem es um Transformation und Reproduktion zugleich geht und in dem kein gesicherter Index existiert für die Grenze zwischen Transformation und Reproduktion, zwischen Kritik und Regulierung.“ (Hark 2005: 206, Hervorh. im Orig.). Festzuhalten bleibt die Einsicht, dass allein der Anspruch, ein „radikales“ oder „kritisches“ Wissensprojekts zu sein, keineswegs gegenüber herrschafts- und machtförmigen Einlassungen immunisiert: „Das politische Projekt der ‚Herrschaftsabsage‘ lässt sich nicht umstandslos in ein Projekt ‚kritische Wissenschaft‘ übersetzen; ebenso wenig schließt das intellektuelle Projekt einer kritischen Theorie nicht zwingend eine institutionelle Praxis ein, in der Marginalisierung und Segregierung, Normalisierung und Disziplinierung keine Rolle spielen“ (Hark 2005: 70f., Hervorh. im Orig.).

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Daraus folgt für Hark allerdings nicht die Forderung eines Rückzugs aus dem oder eine Absage an den kritischen Anspruch feministischer Wissenschaft. Hark plädiert vielmehr für eine politics of location, eine „Verständigung über die eigene Position“ (Hark 2005: 15), bei der sich feministische WissenschaftlerInnen der intellektuellen und institutionellen Aporien bewusst sein müssen, in denen sie sich bewegen – und diese kritisch reflektieren.

4. Z ur E igenlogik feministischer W issenschaft – R adikalität und D ifferenz Wie in den vorangegangen Ausführungen gezeigt wurde, ist kritische feministische Wissenschaft darauf angewiesen, ein reflektiertes Verständnis der Relation von Wissenschaft und Politik zugrunde zu legen – denn nur dadurch sind die „produktive Eigenlogik engagierter Wissenschaft und herrschaftskritischer Politik“ (Holland-Cunz 2003b: 18) gewährleistet. Der historischen und gesellschaftlichen Gebundenheit von Wissenschaft kann nicht entgangen werden; diese muss vielmehr selbstreflexiv aufgenommen und methodisch produktiv gemacht werden. Einen Ansatz, die jeweiligen Eigenlogiken wie Zusammenhänge von Wissenschaft und Politik im Kontext eines Verständnisses von feministischer Theorie als kritischem Projekt zu reformulieren, legt Gudrun-Axeli Knapp vor. Ausgangspunkt ist auch hier der herrschaftskritische, auf radikale Veränderung zielende Impetus sowie das emanzipatorische Interesse feministischer Wissenschaft. Feministische Theorie wird verstanden als „eingreifendes Denken, das den Blick auf die Welt verändert und dadurch interveniert“ (Knapp 2014: 9). Feministische Wissenschaft und Politik stehen in einem Wechselverhältnis, das die Basis für die besondere Positionierung feministischer Theorie darstellt: „Als Teil einer sozialen Bewegung will sie [feministische Wissenschaft, Anm. TJ] Gesellschaftsanalysen leisten, die der politischen Praxis, mit der sie nur selten unmittelbar zusammenfällt, Argumentationsmaterial, Anhalt und Orientierung gibt. Umgekehrt empfängt die Forschung Impulse und Orientierungen aus den Problemen, die sich praktisch stellen. Als Wissenschaft ist sie genötigt, gesellschaftliche Wirklichkeit in all ihrer Komplexität auszuloten. Das heißt, gegebenenfalls auch solche Tatbestände sehen und als Realität anerkennen müssen, die nicht ins politische Konzept passen. Als kritische Gesellschaftswissenschaft ist sie auf bedachte Aneignung von Erkenntnistraditionen angewiesen, die sich als Opposition zum bloß legitimatorischen Ordnungsdenken verstanden.“ (Knapp 2012: 104)

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Der gleichzeitige politische wie wissenschaftliche Anspruch feministischer Wissenschaft konstituiert dabei einen „konfliktiven Kern“ (Knapp 2014: 14), der aber als „Debattengenerator“ (Knapp 2014: 14) eine spezifische (selbst-)kritische Produktivität begründet. Dabei setzt Knapp Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik aber nicht in eins. Feministische Kritik wird als ein Moment gesellschaftlicher Selbstreflexion verstanden, die u.a. die Form von Wissenschaft annimmt. Allerdings kann eine so verstandene Kritik, zumindest wenn sie „mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch als methodisch reflektiertes Wissen auftritt, [...] nicht identisch sein mit Politik“ (Knapp in Hirschauer/Knapp 2006: 28): „Die Differenz zwischen theoretischer Reflexion und praktischen Überlegungen, Vollzügen und Entscheidungen ist nicht zu überspringen oder voluntaristisch kurzzuschließen, sondern sie bezeichnet einen Unterschied, mit und an dem zu arbeiten ist.“ (Knapp 2014: 10) Knapp insistiert dabei auf der Unterscheidung der Radikalität des Denkens und der Radikalität des Handelns (vgl. Knapp 2012, 2014). Radikalität im Denken versteht sie als „Ausbildung von Komplexitätsbewusstsein im theoretischen, empirisch-forschenden und praktischen Bezug auf die Geschlechterverhältnisse, […] das den Verhältnissen ‚an die Wurzeln‘ gehen will.“ (Knapp 2014: 9). Komplexitätsbewusstsein ist hier kein Selbstzweck, sondern auf die Erschließung von gesellschaftlichem Zusammenhang und die Arbeit der Kontextualisierung orientiert. Zu diesem Komplexitätsvermögen zählt auch, dass kritische Theoriebildung an den gesellschaftlichen Widersprüchen, Verwerfungen und Brüchen ansetzt – um alternative Möglichkeiten aufzuzeigen und zu ermöglichen. Damit dies gelingt, ist kritische Theoriebildung darauf angewiesen, Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen aushalten zu können, statt nach „einfachen“ Wahrheiten zu suchen oder sich einem Vereindeutigungsdruck auszusetzen (vgl. Knapp 2012). Insbesondere feministischer Theorie – geschult an den Widersprüchen, wie sie v.a. in den paradox strukturierten Geschlechterverhältnissen sowie in den Brüchen und Spannungen vergeschlechtlichter Lebenszusammenhänge deutlich zu Tage treten3 – weist Knapp dabei die Befähigung zu, soziale Realität im Modus des 3 So konstatiert z.B. Birgit Sauer (2013) für die Entwicklung der bundesdeutschen parlamentarischen Demokratie einen paradoxen Einschluss von Frauen: Trotz formal gleicher Rechte sind Frauen nach wie vor qualitativ und quantitativ unterrepräsentiert. Bereits erreichte geschlechterpolitische Erfolge (etwa eine – wiewohl begrenzte – Erhöhung des Frauenanteils in der institutionalisierten Politik) werden dabei durch eine soziale Entmächtigung von Frauen, durch einen generellen Bedeutungsverlust demokratisch

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Sowohl-als-Auch reflektieren zu können (vgl. Knapp 2012). So verstanden ist feministische Theorie also kritische Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, die sich einem praktischen Interesse nach Veränderung verpflichtet weiß – sich dabei allerdings des Unterschieds zwischen kritischem Denken und kritischem (politischen) Handeln bewusst ist: „Die Logik entschiedenen Handelns in allen möglichen Praxisfeldern, aber auch die Logik radikaler Strategieformulierung oder der Begründung von Kampagnen, scheint in der Tat eine andere zu sein, als die des Erforschens von Komplexität, die dann radikal ist, wenn sie den Zusammenhängen an die Wurzel geht. Wissenschaft darf sich nicht an der EntwederOder-Logik solcher Politik ausrichten, sondern muß beim ‚Einerseits/Andererseits‘ bleiben können, wenn die Realität, die sie beschreibt, eben so verfaßt ist – aber sie soll dazu beitragen, reale Widersprüche aufzuheben, in dem sie die Strukturen, derer sie sich verdanken, kritisiert.“ (Knapp 2012: 119)

Eine in diesem Sinne radikale Theoriebildung zeichnet sich also gegenüber der politischen Praxis auch durch eine spezifische Handlungsentlastung aus, die es ihr erlaubt, jenseits der Polarisierungen von „ja – nein, für – gegen, entweder – oder“ (Knapp 2012: 119) zu operieren. Die Radikalität des Denkens an den Maßstäben der Radikalität des Handelns messen zu wollen, gar den Logiken der Praxis mit ihren unter konkretem Handlungsdruck notwendigen Polarisierungen und Vereindeutigungen zu unterwerfen, führe, so Knapp, gerade nicht zu einer kritischen Wissenschaft. Feministische Wissenschaft, die sich als der politischen Praxis gleichsinnig funktionierende missverstehe, führe vielmehr dazu, dass feministische Wissenschaft zu einer Produktionsstätte alternativer Ideologien werde (vgl. Knapp 2012). Allerdings ist die Berücksichtigung der Eigenlogiken von Wissenschaft und Politik und die Reflexion der Differenzen zwischen der Radikalität des Denkens und der Radikalität des Handelns nicht gleichbedeutend mit einer gänzlichen Trennung von Wissenschaft und Politik im Selbstverständnis feministischer Wissenschaft. Feministische Wissenschaft ist demnach selbst auch eine politische Tätigkeit. In diesem Sinne spielt auch in der Logik der Wissenschaft Parteilichkeit, Interesse und Politik eine Rolle – etwa hinsichtlich der Wahl der Erkenntnisund Forschungsgegenstände und als Motiv der Orientierung an einer prakti-

legitimierter politischer Institutionen zu Gunsten informalisierter Entscheidungsstrukturen und eine neoliberale Re-Strukturierung von Citizenship konterkariert.

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schen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Knapp 2012: 119). Aber die Politisiertheit von Wissenschaft ist dabei nicht zwangsläufig von dem Grad des Engagements der Forschenden abzuleiten, wie es z.B. Mies’ Parteilichkeitsund Betroffenheitspostulate nahelegen. Auf eine unmittelbare Korrespondenz zwischen sozialer Positionierung und der politischen Positionierung bzw. dem Zugang zu kritischer Erkenntnis (gar als Erkenntnisprivileg gegenüber anderen sozialen Positionierungen) kann nicht geschlossen werden (vgl. Knapp 2013). Parteilichkeit und praktisch-emanzipatorisches Interesse müssen, so Knapp, im Forschungsprozess vielmehr erst einmal produktiv gemacht werden, denn „das, was wir zur Kenntnis nehmen, darf nicht durch die politische Optik vorweg bestimmt sein“ (Knapp 2012: 119). Dieses „Arbeiten am Unterschied“ (Knapp 2014) zwischen wissenschaftlicher und politischer Logik ist umso wichtiger, als Kritik eine „zeitliche Signatur“ (Knapp 2014: 9) hat: Theoriebildung ist eine „Form der bedingten Praxis“ (Knapp 2014: 10), die auf spezifischen, historisch, gesellschaftlich und eben auch geschlechtlich bestimmten Erfahrungen basiert. Wie wir bereits in den vorangegangenen Abschnitten gesehen haben, unterliegen die Referenzbezüge und Rahmenbedingungen kritischfeministischer Theoriebildung einer Veränderung. Doch nicht nur die Bedingungen feministischer Wissenschaft sind stets im Wandel begriffen – dies gilt auch für die anderen feministischen Praxisformen und -felder, mit denen feministische Wissenschaft in Bezug steht: Dazu gehören z.B. die Frauenbewegung, aus der feministische Wissenschaft personell und intellektuell hervorgegangen ist, aber auch das Feld der Frauen- und Gleichstellungspolitik und Gender-ExpertInnen, die im Bereich genderorientierter Weiterbildung und Beratung arbeiten. Bereits Anfang der 1990er konstatieren Regina-Maria Dackweiler und Barbara Holland-Cunz einen „Strukturwandel feministischer Öffentlichkeit“ (1991). Neben einer Zersplitterung und Fragmentierung der feministischen Öffentlichkeit verändern sich aber auch die vorhandenen Bezüge zwischen verschiedenen Praxisformen des Feminismus. Heike Kahlert (2009) etwa weist das „Praktischwerden“ feministischer Wissenschaft in der Gesellschaft am Beispiel der Frauen- und Geschlechterpolitik nach. Sie zeigt, dass und wie die Frauenund Geschlechterforschung empirische und theoretische Grundlagen für gleichstellungspolitische Praxis bereitstellt und „so betrachtet eine direkt oder indirekt Politik beratende Funktion“ (Kahlert 2009: 61) hat. Sichtbar wird dabei aber auch, dass der Transfer von wissenschaftlichem Gender-Wissen in die Praxis nicht als Prozess einer einfachen Anwendung gedacht werden kann. Vielmehr reinterpretiert die politische Praxis die Ergebnisse der Wissenschaft immer im Lichte der jeweils

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eigenen Kontexte und im Sinne der jeweils eigenen, feldspezifischen Logiken. Dies führt zu einer spezifischen wechselseitigen Bezugnahme, die weder feministische Wissenschaft noch feministische Politik unberührt lässt. Deutlich wird an diesen Ausführungen, dass es nicht nur höchst unterschiedliche (feministische) Politikfelder und -formen gibt, an denen feministische Wissenschaft kritisch orientiert ist. Auch feministische Wissenschaft und das von ihr hervorgebrachte kritische Wissen selbst ist nicht homogen, sondern umfasst sowohl stark (grundlagen-)theoretische Diskussionsstränge ebenso wie vorrangig empirische Arbeiten und solche, die vergleichsweise „anwendungsorientiert“ sind. Nicht nur sind die Übergänge zwischen einem innerhalb der Hochschulen produzierten, im engeren Sinne „wissenschaftlichen“ Wissen und Ansätzen von „Praxistheorie“ (vgl. Frey 2003) bzw. Wissen, das in konkreten Praxiszusammenhängen entsteht, mitunter fließend – und zwar nicht zuletzt, weil die ProtagonistInnen zwischen verschiedenen Praxisfeldern (z.B. der Frauen- und Gleichstellungspolitik, genderorientierter Beratung und Weiterbildung, wissenschaftlicher Forschung, Bewegungs- und Protestformen) wechseln (vgl. Metz-Göckel 2014). Auch sind die verschlungenen Wege, wann, auf welche Weise und für welche Form von (feministischer) Praxis feministische Wissenschaft nun praktisch wird, weder immer offensichtlich noch unbedingt so, wie das womöglich auf Seiten der feministischen Wissenschaft erwartet oder erhofft wird. Für all diese verschiedenen Praxisformen von Feminismus (zu denen auch die Wissenschaft selbst gezählt werden muss) gilt aber – darauf weist Knapp (2014) hin – dass sie unter dem Druck von Ökonomisierung (nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Politik) und dem Imperativ von Verwertbarkeitsund Nützlichkeitssinteressen stehen. Knapp konstatiert, dass in der feministischen Wissenschaft „Prozesse der Horizontverengung [stattfinden], in denen das Wissen, das an den Hochschulen gelehrt wird, vorauseilend zugeschnitten ist auf das, was als pragmatischer Bedarf in den entsprechenden Praxisfeldern unterstellt wird.“ (Knapp 2012: 10f.) Dies begünstigt primär anwendungsbezogene Gender-Kompetenzen, die ihrerseits aber um „die Auswahl und Deutung der für sie praktisch relevanten Problemlagen um ihre gesamtgesellschaftlichen Bezüge, Verflechtungen und politischen Horizonte“ (Knapp 2012: 11) gekürzt sind. Geradezu kontrafaktisch zur Orientierung auf Anwendungsbezogenheit äußert sich daher, so Knapp, in der zu eng gefassten Produktion von „Gender-Wissen“ ein Unvermögen, die eigenen Grenzen und die Rolle im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang noch begrifflich reflektieren zu können – und dies erschwert kritische Handlungsfähigkeit eher, als sie zu befördern (vgl. Knapp 2012). Resümierend ließe sich formulieren, dass

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zwar durchaus ein „Praktischwerden“ von (feministischer) Wissenschaft zu konstatieren ist – in welcher Reichweite und Hinsicht allerdings darin eine herrschaftskritische Politisierung angelegt ist und/oder welche Spielräume dafür vorhanden sind, ist damit nicht immer gleich ausgemacht.

5. F azit Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags war die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Feminismus bzw. genauer: nach der Vorstellung der Relation von Wissenschaft und Politik im Kontext des feministischen Wissenschaftsund Kritikverständnisses. Der Praxisbezug feministischer Wissenschaft ist insofern keiner, bei dem es einfach nur um eine möglichst weitreichende Anwendungsorientierung geht, wenn dabei die kritischen, auf die gesellschaftlichen Gesamtkontexte abzielenden Impulse feministischer Wissenschaft verkürzt werden. Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik kann, so lässt sich schlussfolgern, nicht einfach aufgelöst werden; weder auf die Seite einer Verpflichtung feministischer Wissenschaft auf unmittelbare Praxisrelevanz (im Sinne von Anwendbarkeitsanforderungen), noch auf die Seite einer vermeintlich nur noch „unpolitischen“ Theorie, die sich nicht ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellt. Sowohl ein instrumentell-technokratisch ausgelegtes Verhältnis von Theorie und Praxis, als auch sozial- und kulturrevolutionäre „Illusionen darüber, dass Radikalität des Denkens und radikales Handeln etwas Gleichsinniges seien oder zumindest konkordant sein sollten“ (Knapp 2014: 11) erscheinen frag- und kritikwürdig. Eine feministische Selbstverständigung hat dabei also nicht nur die Aufgabe, die eigene Positionierung und die eigene Verwicklung innerhalb der sich im Wandel befindenden Bezugsgefüge von Wissenschaft, Politik und Ökonomie immer wieder aufs Neue zu vergegenwärtigen – auch der Anspruch, ein „kritisches“ Projekt zu sein, muss sich vor diesem Hintergrund stets neu artikulieren. Wichtig ist dabei auch, selbst- und machtkritische Reflexionen mit der Perspektive feministischer Theorie als kritischer Gesellschaftstheorie zu verknüpfen. Feministische Wissenschaft geht da über Frauen- und Geschlechterforschung im engeren Sinne hinaus, wo sie danach fragt, wie sich patriarchale Herrschaftslogiken mit anderen Dimensionen von Macht und Herrschaft verbinden und wie sich dies im Wandel von Arbeit, Demokratie, Familie, normativen Leitorientierungen etc. niederschlägt. Dass feministische Wissenschaft nicht auf die Überwindung

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von Diskriminierung partikularer gesellschaftlicher Gruppen aus ist, sondern Geschlechterkritik mit einer umfassenden Gesellschaftskritik verbinden will (vgl. List 1989: 10f.), zeigt sich u.a. in dem „inklusiven“ Verständnis feministischer Kritik, wie es gerade auch in einigen frühen wissenschaftstheoretischen Entwürfen angelegt ist. Gleichwohl ist der Zusammenhang von Geschlechter- und Gesellschaftskritik im feministischen Denken und Handeln seit den „frühen“ Jahren feministischer Wissenschaft mitunter verloren gegangen. Allerdings mehren sich seit einigen Jahren die Ansätze, die feministische Wissenschaft (wieder) mit einer radikalen Herrschaftskritik und dem Erschließen alternativer, emanzipationsorientierter Möglichkeiten sowie Utopien von Autonomie und Selbstbestimmung verbinden wollen (vgl. Holland-Cunz 2010). Feministisches Denken und Handeln, so die Forderung, soll (wieder) auf eine gesellschaftliche Transformation zu Gunsten von Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet werden (vgl. u.a. Kurz-Scherf/Lepperhoff/Scheele 2009; Ruppert 1995). Die Herausforderungen, die damit verbunden sind, beschränken sich nicht nur auf die schwierige Debatte darüber, wie Emanzipation und Selbstbestimmung zu realisieren sind. Sie betreffen vielmehr auch den Kern feministischer Kritik selbst. Dies gilt etwa da, wo vor dem Hintergrund der Einsicht in den Zusammenhang verschiedener Herrschaftslogiken die Orientierung auf die Kategorie Geschlecht als „inhaltliche Bestimmung des Gegenstands feministischer Kritik“ (Maihofer 2013: 299) als nicht (mehr) ausreichend gelten kann. Die „alte Einsicht [...], wonach sich nur in einer integrierten Analyse von gesamtgesellschaftlichen Prozessen und Entwicklungen in den Geschlechterverhältnissen ein angemessenes Wissen und eine fundierte Einschätzung über die gegenwärtigen Prozesse erreichen lassen“ (Maihofer 2009: 73f.), enthält ein dynamisierendes, produktives Element, das feministische Theorie auch hier immer wieder antreibt, sich weiter zu entwickeln.

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Kritische Wendungen – Verortungen der Kritik in der Pädagogik KATARINA FROEBUS

Der Artikel1 verfolgt das Interesse, die Beziehung pädagogischer Theorien zur Kritik auszuloten, indem kritische Theorieansätze in ihren Positionierungen und Abgrenzungen nachgezeichnet werden. Dies kann nur in Form eines Rückblicks geschehen – aus heutiger Perspektive rücken so vor allem die kritischen Einsprüche und Revisionen in den Vordergrund. Mit Bezug auf Britta Brehm und Markus Rieger-Ladich wird davon ausgegangen, dass „der Feldherrenhügel, von dem aus die Aktionen im akademischen Feld souverän überblickt und unbeteiligt beobachtet werden können, eine Chimäre“ (Rieger-Ladich 2014: 66) ist und es somit „keinen (epistemischen) Ort mehr gibt, von dem aus eine verbindliche Tradition rekonstruiert oder eine einzige Zukunft gültig entworfen werden könnte“ (Brehm 2014: 17). Theorietraditionen entwickeln sich in Generationenverhältnissen, das Tradieren von Theorien ist jedoch keine neutrale Methode, sondern ein Einsatz, der die Bedeutung der Theorie immer auch verschiebt, indem die Tradition ins Heute übersetzt wird.2 Die Brüchigkeit in der Tradierung von Theorien zeigt sich so als Gefahr der falschen Übersetzung wie auch als Möglichkeit, vor dem Hintergrund gegenwärtiger Fragen an Theorien anzuknüpfen und sie zu aktualisieren. Dieses Anknüpfen muss nach dem zeitlichen Kontext der Entwicklung von Begriffen und Theorien fragen, wie auch danach, warum manche Theorien sich anderen gegenüber zu 1

Für Anregungen, Kritik und Ergänzungen danke ich Barbara Umrath und allen KollegInnen und FreundInnen, die in verschiedenen Stadien mit produktiven Rückmeldungen zur Weiterentwicklung dieses Aufsatzes beigetragen haben.

2 Diesen Gedanken äußerte Sabrina Schenk in ihrem noch unveröffentlichten Vortrag „Generationengespräche – Tradieren als Übersetzen“ (gemeinsam mit Carsten Bünger) auf der DGfE-Konferenz 2014 in Berlin.

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bestimmten Zeitpunkten durchgesetzt haben: „jede Theorieofferte muss mit den Kräfteverhältnissen innerhalb der betreffenden Disziplin verrechnet werden“ (Rieger-Ladich 2014: 67). Dabei dürfen die Widersprüche der Theorieentwicklung, die sich besonders im Rückblick zeigen, nicht übergangen werden. Es geht also darum zu fragen, welche Aspekte an Theorien problematisch werden und welchen Anspruch sie aktuell, mit dem Wissen um die Grenzen und blinden Flecken, vertreten können. Der Artikel folgt der Bewegung der Kritik in der Pädagogik beginnend mit den 1960er Jahren, als in einer Abgrenzungsbewegung zu „der bis dahin dominanten geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der empirischen Erziehungswissenschaft [...] mehr oder weniger stark gesellschaftstheoretische bzw. sozialkritische Motive“ (Bernhard 2012: 18) die theoretische und praktische Auseinandersetzung bestimmten. Die vorherrschende Strömung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik geriet in die Kritik, da sie weder methodologisch noch inhaltlich der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen hatte (vgl. Hoffmann 2007: 8). Zu Beginn der 1960er Jahre galt es als unstrittig, dass die Erziehungswissenschaft nur dann zu einem Akteur der Reformanstrengungen werden könne, wenn sie sich ihrerseits modernisiere (vgl. Rieger-Ladich 2014: 71). Verstärkt wurden die Schriften der Kritischen Theorie3 rezipiert – es entstanden so verschiedene Varianten einer sich als kritisch verstehenden Erziehungswissenschaft, die vor allem in der Debatte um die Veränderungspotenziale der Gesellschaft durch Pädagogik unterschiedliche Positionen vertraten. In Abgrenzung zu der auf Reform und Veränderung gerichteten Wende, aus der sich die Kritische Erziehungswissenschaft entwickelte, formierte sich mit der Kritischen Bildungstheorie eine Kritik, die die Widersprüche pädagogischer Institutionen in der Logik bürgerlicher Pädagogik selbst suchte. Scheinen diese Debatten auf den ersten Blick nicht anschlussfähig an die poststrukturalistische Kritik an der Pädagogik, so wird gerade in jüngerer Zeit argumentiert, dass sich der Einsatz der Kritischen Bildungstheorie in der Verbindung mit der foucaultschen Analytik der Macht aktualisieren lässt. Die pädagogische Rezeption Foucaults lenkte Ende der 1980er Jahre den Blick auf die disziplinierenden und subjektivierenden Wirkungen der Pädagogik, die nun als Regierungstechnik untersucht wurde. Daran schloss Anfang der 2000er Jahre die Differenzdebatte an, die angesichts gesellschaftlicher Machtverhältnisse und der Verstrickung der Pädagogik in die 3 Die Bezeichnung „Kritische Theorie“ suggeriert allerdings eine Einheit, die so nicht bestand – weder im Selbstverständnis noch in der Rezeption (vgl. Winkler 2002: 25; Rieger-Ladich 2014).

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Reproduktion von Ungleichheit für eine Dekonstruktion pädagogischer Kategorien plädiert. So könnte mithilfe pädagogischen Handelns ein Raum der Dekonstruktion und des Hinterfragens von Normalitätsvorstellungen eröffnet werden. Im Verlauf des Beitrags werden jeweils Anspruch und Entstehungskontext der Theorie, deren interne Revisionen, Ergänzungen sowie kritische Anfragen anderer Theorieströmungen betrachtet. Zur Sprache kommen dabei weniger die Originale als deren RezipientInnen, die entsprechend immer schon eine eigene Lesart an Theorien herantragen. Die Veränderung dessen, was eine sich als kritisch verstehende Pädagogik thematisiert, basiert also nicht nur auf den unterschiedlichen Zugangsweisen, sondern auch auf den Aktualisierungen, die ein verändertes kritisches Selbstverständnis entwerfen. Während sich die folgenden zwei Abschnitte mit den annähernd zeitgleich stattfindenden Theorieentwicklungen der Kritischen Erziehungswissenschaft und Kritischen Bildungstheorie, deren Revisionen und Aktualität befassen, geht es in den zwei darauffolgenden Abschnitten mit der Rezeption Foucaults sowie differenztheoretischen und dekonstruktiven Einsätzen um spätere kritische Wendungen der Pädagogik. Diese bestimmen die aktuellen Debatten, profitieren in der hier nachgezeichneten Rezeption aber auch von Denkfiguren der Kritischen Bildungstheorie. In Anbetracht dieser verzweigten Verortung von Kritik wird im Resümee schließlich für ein grundsätzliches Offenhalten des Verhältnisses von Pädagogik und Kritik plädiert.

1. Z ur sozialwissenschaftlichen N euorientierung : E manzipation als Z iel pädagogischer P raxis Neben Klaus Mollenhauer, dessen Name mit der Kritischen Erziehungswissenschaft untrennbar verbunden scheint und dessen theoretischer Einsatz im Folgenden stellvertretend für die Kritische Erziehungswissenschaft steht, waren es Wolfgang Klafki und Herwig Blankertz, die die Abkehr von der geisteswissenschaftlichen Tradition vollzogen4 und die Kritische Erziehungswissenschaft in den 1970ern begründeten. 4 Christian Niemeyer und Michael Rautenberg vertreten die These, die Abkehr Mollenhauers von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik habe 1968 stattgefunden (vgl. Niemeyer/Rautenberg 2008: 335ff.), da man in den früheren Schriften des Autors eher von der „Mitarbeit an dem Projekt einer Modernisierung geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ (Niemeyer/Rautenberg 2008: 336) ausgehen müsse. Die Autoren widersprechen damit Heinz-Elmar Tenorths These einer früheren Begründung der Kritischen

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Aus der neuen sozialwissenschaftlichen Orientierung folgte nicht nur eine methodische Neuausrichtung, sondern auch die explizit politische Positionierung (vgl. Hoffmann 2007: 9) der Kritischen Erziehungswissenschaft: Es ging ihr um die „kritische Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bildung und Erziehung“ (Koller 2009: 227). Genauso wie die empirische Erziehungswissenschaft öffnete sich die Kritische Erziehungswissenschaft sozialwissenschaftlichen Methoden, vertrat dabei aber das Anliegen, konkrete Veränderungsmöglichkeiten auszumachen (vgl. Koller 2009: 232), die sich auf Humanisierung und Emanzipation richteten, und füllte somit die Leerstellen geisteswissenschaftlicher und empirischer Pädagogik. Die empirisch-analytische Erziehungswissenschaft „galt als theoretische und methodische Anpassung an die instrumentelle Vernunft, die deren Herrschaft ohne Perspektive auf eine künftig bessere Praxis fortschreibe“ (Dammer 1999: 186), während der geisteswissenschaftlichen Pädagogik vorgeworfen wurde, die realen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen idealistisch zu übergehen (vgl. Dammer 1999: 185). Kritische Erziehungswissenschaft positionierte sich dagegen zwischen einer reinen Ausrichtung auf Empirie und dem Anspruch der Gesellschaftskritik (vgl. Mollenhauer 1968: 10), indem sie an der Möglichkeit einer „kritische[n] Rationalität“ (Mollenhauer 1968: 67) festhielt und diese als „Kriterium für gelungene oder missglückte Erziehung“ (Mollenhauer 1968: 67) einsetzte. Mollenhauer wollte so gleichzeitig die Wirkungen von Erziehung empirisch überprüfen wie auch auf Theorieebene einer kritischen Hermeneutik unterziehen. In Auseinandersetzung mit dem Symbolischen Interaktionismus Meads und Watzlawicks Theorie der Kommunikation fasste Mollenhauer „Erziehung als Interaktion“ und als „kommunikatives Handeln“ (1972). Statt sich wie die geisteswissenschaftliche Pädagogik hauptsächlich auf das Verhältnis von Erziehenden und Erzogenen zu konzentrieren oder wie die empirische Pädagogik auf die vermeintlich wertfreie Untersuchung von Erziehungsprozessen, konzentrierte sich die Kritische Erziehungswissenschaft auf die dialektische Vermittlung von Erziehung

Erziehungswissenschaft, nach der Mollenhauer schon 1964 „dem Bildungsbegriff [...] eine neue, gesellschaftskritische Lesart“ (Tenorth 2000: 20) gegeben habe. Auch der von Ilse Dahmer und Wolfgang Klafki herausgegebene Sammelband mit dem programmatischen Titel Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger erschien 1968. Darin machen es sich die AutorInnen zur Aufgabe zu zeigen, „was geisteswissenschaftliche Pädagogik – am Ausgang ihrer Epoche – zu leisten vermochte, wo weiterzuverfolgende Möglichkeiten und wo die Grenzen liegen“ (Dahmer/ Klafki 1968: V).

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und Gesellschaft, in der sich Erziehung als Funktion von Gesellschaft wie auch Gesellschaft als Funktion von Erziehung zeigte (vgl. Krüger 1999: 165). Mit der Konzeption einer dialektischen Vermittlung von Erziehung und Gesellschaft konnte Mollenhauer Erziehung nicht nur als Reproduktion des gesellschaftlichen Status quo, sondern als kritisches Einwirken auf Gesellschaft bestimmen. Das Ziel der Kritischen Erziehungswissenschaft war daher die „empirische Aufklärung über diejenigen Abhängigkeiten, die die Rationalität des Subjekts verhindern oder erschweren“ (Mollenhauer 1968: 19). Der Einsatz der Kritischen Erziehungswissenschaft für die Emanzipation der Gesellschaft über pädagogisches Handeln brachte ihr jedoch den Vorwurf ein, dem Irrglauben zu unterliegen, „die ‚Dialektik der Aufklärung‘ [...] durch die rechte Organisation des Schulwesens – z.B. Gesamtschule – und die Konstruktion emanzipatorischer Curricula – z.B. hessische Rahmenrichtlinien“ (Blankertz 1987: 40) auffangen zu können. So konnte sich die Kritische Erziehungswissenschaft auch deswegen nicht durchsetzen, weil sich „mit der Krise der Bildungsreform in den späten 70er Jahren […] die […] Hoffnungen, über Bildung und Erziehung oder Forschung die Gesellschaft grundsätzlich verändern zu können, als Illusion erwiesen“ (Krüger 2008: 251). Auch Mollenhauer selbst zog in seinem Spätwerk kritisch Bilanz: „Die Hoffnungen, dass unser Erziehungs- und Bildungswesen rasch und gravierend würde verbessert werden können, haben sich nicht bestätigt“ (Mollenhauer 1982: 262). Rückblickend zeigte sich die Kritische Erziehungswissenschaft trotz Neuausrichtung auf empirische Forschung und dem Bruch mit der geisteswissenschaftlichen Tradition in ihrer Kritik als nicht weitgreifend genug; die Konzentration auf die emanzipatorischen Möglichkeiten pädagogischer Praxis erschien ambivalent. Das Kritikverständnis der Kritischen Erziehungswissenschaft geriet selbst in die Kritik, denn die „emanzipatorische Pädagogik“ konnte Emanzipation nur als Befreiung denken, indem sie eine von der Gesellschaft unabhängige Rationalität annahm. Die für die Kritische Erziehungswissenschaft bestimmende „Frage nach den Chancen des Individuums, seiner eigenen Verstrickung in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber Distanz zu bewahren“ (Dietrich/Müller 2000: 12) setzte sich durch die dualistische Konzeption von Individuum und Gesellschaft dem Vorwurf der Trivialisierung von Kritik (Masschelein 2003) aus. Kritik als Distanzierung müsse immer schon als „Teil der Ordnung“, gegen die sie sich richtet, verstanden werden (vgl. Masschelein 2003: 130). Tatsächlich aber werde pädagogisches Handeln in der Konzeption Mollenhauers an das herrschende System gebunden und „die sich als Gegenmacht verstehenden Kräfte [blieben] letztendlich auch immer in den Strukturen der Macht gefangen“ (Ribolits 2013: 28f.), da sie

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Emanzipation innerhalb des „bürgerlich-kapitalistischen Systems“ durchzusetzen versuchten. Im Kritikverständnis der Kritischen Erziehungswissenschaft lag ein Widerspruch, der sich mit Astrid Messerschmidt als Wunsch nach einem positiven Maßstab der Kritik auf den Punkt bringen lässt (vgl. Messerschmidt 2009: 210). Um die von Erich Ribolits erwähnten „Strukturen der Macht“ in den Blick zu bekommen, ist dagegen die Analyse der „innere[n] Dialektik bürgerlicher Bildung“ (Messerschmidt 2009: 210) entscheidend. Die Verortung der Dialektik im Inneren bürgerlicher Bildung fasst pädagogisches Handeln selbst als widersprüchlich und geht so über die Dialektik von Erziehung und Gesellschaft, wie sie die Kritische Erziehungswissenschaft annahm, hinaus.

2. Z ur E inschreibung des W iderspruchs : K ritik als dialektische B ewegung Die Kritische Bildungstheorie entwickelte eine Perspektive auf den Zusammenhang von Pädagogik und Gesellschaft, die der „Emanzipationspädagogik“ der Kritischen Erziehungswissenschaft skeptisch gegenüberstand (vgl. Pongratz 2013: 8). Fand die Kritische Bildungstheorie inhaltlich ihren zentralen Bezugspunkt in der Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns (vgl. Pongratz 2009: 392), so kann als vorherrschender Ort dieser Theorieentwicklung Darmstadt gelten, wo das Institut für Pädagogik in den 1970ern von Hans-Jochen Gamm gegründet wurde (vgl. Euler 2004: 9). Dieser entwickelte gemeinsam mit Gernot Koneffke die Kritische Bildungstheorie Heydorns weiter, die gerade keine Variante der Kritischen Erziehungswissenschaft sein wollte und sich deren schulreformerischen Forderungen gegenüber kritisch positionierte. Während Mollenhauer „der Pädagogik von außen kritische Beine zu machen versuchte“ (Euler 2004: 19), habe Heydorn die Kritik in der Pädagogik selbst verortet – als Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Bildung bezeichnet den Prozess der Einpassung in die Verhältnisse und ermöglicht gleichzeitig deren Kritik und Überschreitung; sie richtet sich auf das Individuum und stellt dieses in Relation zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. So lässt sich Bildung auch als „Austragungsort der verschiedenen gesellschaftlichen Spannungs- und Widerspruchsverhältnisse“ (Bünger 2009a: 179) fassen. Gerade weil herrschaftsförmige gesellschaftliche Strukturen Bildung erfordern, ermöglichen und gleichzeitig kontrollieren, liegt in Bildung die Möglichkeit, Kritik an Herrschaft zu üben.

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In den Debatten um die Gesamtschulreform positionierte sich Heydorn konträr zur „linken, progressiven Pädagogik“ (Heydorn 1979: 275) und wurde sowohl als „konservativer Revolutionär“ wie auch als „utopischer Schwärmer“ (Pongratz 2013: 83) wahrgenommen. In der Gesamtschule erkannte er eine Anpassung des Schulwesens an die Bedürfnisse des Kapitalismus, nämlich der Selektion und der Einübung von Konkurrenz. Dagegen machte Heydorn darauf aufmerksam, dass Bildung ihrer Idee nach die Möglichkeit bot, kritisches Bewusstsein hervorzubringen, in ihrer „deformierten Wirklichkeit“ allerdings die Reproduktion der bürgerlichen Klasse sicherstellte. Die linke Pädagogik wurde von Heydorn folglich als Verrat des aufklärerischen Anspruchs an die kapitalistische Verwertung kritisiert: „Linke kämpfen auf der Seite des Kapitalismus, der Konservative, ohne es zu wollen, auf der Seite der Revolution“ (Heydorn 1979: 295). Während die linke Idee der Gesamtschule schließlich nur auf „Ungleichheit für alle“ hinauslaufe, hielt Heydorn an der Idee des Gymnasiums fest. Ihm ging es damit ums Gesamte, um Bildung für alle und damit die Realisierung „kollektiver Mündigkeit“ (Heydorn 1979: 329) durch die Überwindung von Herrschaft. Dafür sollten Möglichkeiten und Bedingungen der Einlösung dieses Versprechens wie deren Verhinderung analysiert werden. Das uneingelöste Versprechen der Bildung begreift Heydorn als die Möglichkeit des Menschen, über sich selbst verfügen zu können (vgl. Heydorn 1973: 31), die bürgerliche Bildung muss daher immer wieder auf den Preis ihrer Einlösung hin befragt werden. Kritische Bildungstheorie habe somit für Heydorn „diese zentrale Aufgabe: die sich fortschreibenden Widersprüche, in denen Bildung zugleich storniert und vorangetrieben wird, begrifflich zu präzisieren“ (Pongratz 1995: 13f.). So kann auch Emanzipation nicht unabhängig von den Verhältnissen einer bürgerlichen Gesellschaft gedacht werden und bleibt mit deren Widersprüchen verbunden: „Was immer die moderne Pädagogik als Ziel oder Verheißung auf ihre Fahnen schreibt – sei es Freiheit, sei es Mündigkeit –, hat Teil an der widersprüchlichen Verfasstheit der modernen Welt“ (Pongratz 2013: 159). Kritische Bildungstheorie hat also zum Ziel, über das Verständnis der Geschichte eine Kritik der aktuellen Situation zu formulieren, die die Begriffe der Pädagogik immer wieder daraufhin befragt, inwieweit schon eingelöst ist, was sie versprechen. Pädagogik mit emanzipativem Anspruch muss ihre Kritik demnach auch auf sich selbst richten. In Zeiten neoliberaler Bildungsreformen zeigt sich nun die Weitsichtigkeit der Analysen Heydorns, der schon im Zuge der Gesamtschulreform der 1970er die Funktionalität des Bildungssystems für Herrschaft kritisierte: „Erst jetzt also […] finden die Zeichen, welche Heydorn vor beinahe vierzig Jahren als Menetekel an die Wand gemalt hat, ihre Referenten in der Wirklichkeit“ (Schirlbauer 2008: 160) – in den Worten Heydorns: „Minimaler Input, maximaler Output, maximale Herrschaft“

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(Heydorn 1979: 309). Heute sind die Tendenzen des Bildungssystems, sich der Logik des Wettbewerbs zu unterwerfen und unter der Formel der Chancengleichheit die Selektion zu legitimieren, nicht mehr zu übersehen. Über Bildung wird Ungleichheit reproduziert, anstatt sie aufzuheben. Bildungsfragen sind daher mit Heydorn immer schon Machtfragen – „die Frage der Bildung ist die Frage nach der Liquidation der Macht“ (Heydorn 1979: 337). Dies kann auch heute noch als Anliegen der Kritischen Bildungstheorie gelten, die als Generationenprojekt weiterbesteht. Ludwig Pongratz, Astrid Messerschmidt sowie Carsten Bünger entwickeln neben anderen eine aktualisierte Lesart Heydorns in Kenntnis der Analysen Foucaults: „An Heydorn heute anzuschließen, kann daher auch nicht bedeuten, die einmal identifizierten Widersprüche schlicht für weiterhin gültig zu erklären“ (Bünger 2009a: 185). Charakterisierte die „Frage nach den Möglichkeiten einer Befreiung der Menschen aus gesellschaftlich produzierten Zwangsverhältnissen“ den Antrieb „wohl nahezu des gesamten Schaffens HeinzJoachim Heydorns“ (Bünger 2009a: 171), so wird heute die Frage „nach den spezifischen Bedingungen der Herrschaft wie nach der konkreten Möglichkeit von Befreiung“ (Bünger 2009a: 185) gestellt. Diese Lesart Heydorns nähert sich einer foucaultschen Analytik der Macht an, die nach den durch Machtbeziehungen hervorgebrachten Selbstverhältnissen sowie nach den Verbindungen des Wissens mit der Macht fragt.

3. V om N icht - so - regiert - werden -W ollen : K ritik als H altung Wird Michel Foucault aktuell vor allem aufgrund seiner Theorie der Gouvernementalität in der Pädagogik rezipiert,5 so löste die Rezeption von Überwachen

5 Die Konjunktur gouvernementalitätstheoretischer Untersuchungen deutet Norbert Ricken zufolge auf eine „kategoriale Neujustierung erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung“ hin und sei als „Folge und Antwort auf eine veränderte gesellschaftliche Problemlage, die mit den eher traditionellen erziehungswissenschaftlichen Instrumentarien nur unzureichend zu bearbeiten ist“ (Ricken 2008: 7) zu begreifen. Gouvernementalitätstheoretische Arbeiten in der Pädagogik liegen z.B. mit Liesner (2008) und Maurer/Weber (2006) vor. „Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen“ in Form erziehungswissenschaftlicher Diskursforschung liefert der von Fegter/Kessl (2015) herausgegebene Sammelband.

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und Strafen (1976) zunächst eine bildungstheoretische Irritation6 aus, die auch im Fokus dieses Kapitels steht. Das traditionelle pädagogische Selbstverständnis wurde durch die Analysen Foucaults mit neuen, über die kritisch-bildungstheoretischen Analysen hinausgehenden Werkzeugen in Frage gestellt. Diese Irritation wird zunächst beschrieben, um sie dann mit Einsichten der Kritischen Bildungstheorie in einen Dialog zu bringen und Anknüpfungspunkte beider „Theorieofferten“ ausfindig zu machen. Foucault nimmt die Pädagogik nicht als bürgerliche in den Blick, sondern analysiert Subjektivierungsprozesse, die durch historisch kontingente Verbindungen von Wissen und Macht entstehen. Macht ist in der Theorie Foucaults als ein Netz zu begreifen, das die Subjekte hervorbringt und sich in ihnen fortsetzt – die Machtverhältnisse wirken also subtil und produktiv. Auch die Pädagogik gilt ihm als machtvolle Regierungstechnik7: „Pädagogik ist einer jener Wissen-Macht-Komplexe, aus denen Subjekte hervorgehen“ (Messerschmidt 2006: 290). In Überwachen und Strafen macht Foucault deutlich, dass Schule den Funktionsmechanismen in Gefängnis, Kaserne und Spital in nichts nachsteht, vielmehr derselben Logik unterliegt und den Prinzipien der Disziplinarmacht gehorcht.8 An der Erzählung einer fortschreitenden Humanisierung durch Pädagogik ist dann nicht mehr festzuhalten, stattdessen bringt die scheinbare Befreiung des Subjekts neue Zwänge mit sich. Entgegen der für die Pädagogik grundlegenden Annahme eines selbstbestimmten, autonomen Subjekts wird diese als „spezifische Subjektivierungsform“ (Masschelein 2003: 125) lesbar. Ähnlich zur Kritischen Bildungstheorie lassen sich in der Perspektive Foucaults Autonomie und Mündigkeit nicht mehr den gesellschaftlichen Machtverhältnissen entgegengesetzt denken. Die Emanzipation des Subjekts aus gesellschaftlichen Zwängen wird zu einer Subjektivierungsfigur, die autonome, mündige Subjekte her-

6 Nicole Balzer macht in der pädagogischen Foucault-Rezeption einen Wechsel von bildungshistorischen Perspektiven, die sich primär auf Überwachen und Strafen bezogen, über subjektkritische Perspektiven, die sich hauptsächlich auf die Ästhetik der Existenz konzentrierten, hin zu den Versuchen aus, das oppositionelle Denken zu verlassen und die im pädagogischen Denken verankerten Oppositionen „von Macht und Freiheit, Autonomie und Heteronomie, Fremd- und Selbstbestimmung“ (Balzer 2004: 31) als ineinander verflochtene Momente von Subjektivierungsprozessen zu verstehen. 7 Die Kunst der Pädagogik sei die Antwort auf die Frage nach der Regierbarmachung der Kinder (vgl. Foucault 1992: 11). 8 Pongratz begreift Schule vor dem Hintergrund der Machtanalytik Foucaults als „Dispositiv der Macht“ (Pongratz 1989: 150).

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vorbringen soll. So gerät Pädagogik in das Dilemma, das zu kritisieren, woran sie beteiligt ist, und es wird schließlich „zunehmend fraglich, was denn als Maßstab von Kritik überhaupt noch gelten kann“ (Balzer 2004: 29). Der Verdacht liegt nahe, dass „die Begriffe Autonomie, kritische Bildung, Emanzipation usw. in Komplizenschaft mit der Geburt des modernen Subjekts und des ‚Regierens durch Individualisieren‘“ (Masschelein 2003: 137) stehen. Gegen eine auf Emanzipation gerichtete Pädagogik (wie die Kritische Erziehungswissenschaft) wird mit Bezug auf Foucault der Vorwurf der fehlenden Einsicht in die Ambivalenz eines „Fortschrittsoptimismus“ laut, der den „historischen Prozess der Selbstbefreiung der Gattung“ mittels einer „kritisch fundierten Pädagogik“ möglich glaubte (Pongratz 1989: 74). Statt zur Befreiung der Subjekte von gesellschaftlichen Zwängen beizutragen, werden mittels pädagogischer Praktiken gesellschaftliche Machtverhältnisse ins Innere des Subjekts verlagert, weswegen man mit Foucault „den Befreiungen misstrauen“ (Messerschmidt 2006) müsse. Analog wird auch der Begriff der Bildung im Gegensatz zur scheinbar damit verbundenen Freiheit und Selbstbestimmung als Medium der Macht analysiert (vgl. Ricken/Masschelein 2003: 139). Indem man Individualisierung als Regierungsform fasst, kann man gerade Bildung als ein Mittel der Subjektivierung über Individualisierung und somit als eine Figur der Selbstführung verstehen (vgl. Masschelein 2003: 135). In dieser Perspektive reicht die Kritik an den Verhältnissen und der Bezug auf das pädagogische Vokabular der Emanzipation nicht mehr aus, die Kritik muss nun nach Möglichkeiten suchen, der Subjektivierung durch Pädagogik etwas entgegenzusetzen. Die kritische Perspektive richtet sich nun auf die Möglichkeiten, dieser Art von Subjektivierung zu entgehen, denn Foucault bestimmt in Auseinandersetzung mit der Aufklärungsdefinition Kants Kritik als die „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Eine solche Kritik muss sich jedoch die Frage gefallen lassen, welches gesellschaftskritische Potenzial die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“ (Foucault 1992: 15) entwickeln kann. Vor dem Hintergrund der Kritischen Bildungstheorie scheint Bünger der von Foucault formulierte Kritikbegriff deswegen prekär, weil er nur auf der „nonkonformen Haltung der Individuen“ (Bünger 2009b: 154) basiert. Demnach könne diese Form der Kritik nur die „partielle Zurückweisung einer als Zumutung erfahrenen Regierungsweise“ (Bünger 2009b: 154) leisten. Dieses Verständnis von Kritik als vereinzelter Gegen-Haltung wirft die Frage nach der Möglichkeit kollektiver Bewegungen auf, die eine größere Tragweite entfalten und über Strategien Einzelner hinausgehen. Diese widerständigen Subjekte sind Messerschmidt zufolge vor allem einsam (vgl. Messerschmidt 2007: 57), da sie in dieser Denkweise wieder nur als sich selbst regierende Subjekte adressiert werden. In der foucaultschen Perspektive

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auf Kritik als individueller Gegen-Haltung liege so die Gefahr, den Widerspruch des pädagogischen Mündigkeitsversprechens in der bürgerlichen Gesellschaft zu eliminieren. Foucaults Theorie sei in der pädagogischen Rezeption vielleicht gerade deswegen attraktiv, weil sie Kritik ermögliche, ohne eine kritische Position einzunehmen (vgl. Messerschmidt 2007: 46). Daher diene Foucault, lese man ihn als Kritiker der pädagogischen Emanzipationserzählung, paradoxerweise dazu, von Kritik zu befreien (vgl. Messerschmidt 2007: 57). Um also nicht das lustvolle Ausder-Reihe-Tanzen noch produktiv zu wenden, sei Kritik im Sinne Foucaults „mit gesellschaftstheoretischer Reflexion zu verbinden, die die kritische Haltung auf ihre Bedingungen und Perspektiven bezieht, ohne diese mit Gewissheit angeben oder zu einem neuen Fundament machen zu können“ (Bünger 2009b: 157). Wie sich in der aktuellen kritisch-pädagogischen Diskussion zeigt, liegt eine Perspektive kritischer Pädagogik in der Verbindung der Denkwerkzeuge Foucaults mit der für die Kritische Bildungstheorie zentralen Einsicht in die widersprüchliche Grundstruktur bürgerlicher Pädagogik. Das Vorhaben einer „kritischen Pädagogik“ ist schließlich immer ein Doppeltes: Es schließt nicht nur Kritik an der Pädagogik und ihren Machteffekten ein, sondern auch die Suche nach einer kritischen pädagogischen Praxis (vgl. Bünger 2009b: 147).9 Diese muss sich mit den VermittlerInnen ebenso wie mit den AdressatInnen kritischer Bildungsarbeit auseinandersetzen, was zur Frage nach dem Subjekt der Pädagogik führt.

4. Z ur D ekonstruktion pädagogischer N ormen : K ritik als O ffenhalten der D ifferenz Auch wenn Ungleichheit und Benachteiligung spätestens seit der kritisch-sozialwissenschaftlichen Neuorientierung der Pädagogik in den 1960ern thematisiert wer-

9 Um Pädagogik selbst kritisch werden zu lassen, müssten demnach folgende Fragen gestellt werden: „Wie müssten ihre Institutionen, Methoden und ihr Professionsverständnis, wie ihre Grundbegriffe, ihre Forschung und Theoriebildung beschaffen sein, um einerseits die Machteffekte der Pädagogik und ihre Verstrickung in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse wahrnehmen zu können und andererseits die von ihr Betroffenen zugleich so zu stärken, dass sie die Verhältnisse nicht nur zu durchschauen und zu hinterfragen wissen, sondern sich gegen die Zumutungen der Verhältnisse zur Wehr zu setzen vermögen?“ (Bünger 2009b: 147).

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den, so vollzieht sich mit der Kritik am universalistischen Subjekt der Pädagogik eine weitere kritische Wendung. Aus dieser Perspektive wird nun deutlich, dass die Stoßrichtung der Kritik und kritischen pädagogischen Praxis (faktisch) vor allem auf einen Abbau von Ungleichheit und Benachteiligung über Angleichung an einen (impliziten) Maßstab zielte – ein Maßstab, der sich als männlich, heterosexuell, weiß, nicht-behindert, bürgerlich, in einem Wort als privilegiert, erweist. In diesem Sinne argumentiert etwa Messerschmidt, dass die Kritik der Kritischen Bildungstheorie an der Verstrickung von Bildung und Herrschaft zu kurz greife, solange an einem Subjektverständnis festgehalten werde, das die Geschichte der Unterwerfung des und der Anderen ausblende. So werde „kaum die Frage gestellt, aus wessen Perspektive Kritik formuliert wird“ (Messerschmidt 2009: 215, Hervorh. im Orig.). Messerschmidt plädiert deshalb nicht nur dafür, dass die Kritik auch die kritischen PädagogInnen selber umfassen müsse; ebenso müsse auf einer theoretischen Ebene die Geschichte der Unterwerfung des und der Anderen eingeholt werden. Die Unterwerfung des Anderen ist die Folge eines Grundproblems der Pädagogik: Pädagogisches Handeln orientiert sich an Normalitätskonstrukten, die Differenzen hierarchisieren und das Andere abwerten (vgl. Lutz/Wenning 2001: 20).10 Wenn nun aber das Subjekt der Pädagogik nicht mehr universalistisch gedacht werden kann, stellt sich die Frage, wie Pädagogik ihre normalisierende Wirkung einschränken und dem Anderen in seiner Andersheit gerecht werden kann.11 Die Herausforderung für die Pädagogik besteht darin, die in die Differenzen eingelagerten gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu berücksichtigen (vgl. Mecheril/Plößer 2009: 195). Dies leistet eine Perspektive, die pädagogisches Handeln selbst als Reproduktion von Differenzordnungen hinterfragt. Versteht man Differenz aus einer sozialkonstruktivistischen Sicht als Resultat sozialer Handlungen und nicht als etwas schlicht Gegebenes, so greift die pädagogische Vokabel der Anerkennung12 zu kurz, da die Anerkennung von Differenz diese auch (re-)produziert: „Differenzen [sind] nicht dem pädagogischen Handeln

10 So z.B. in dem als emanzipativ verstandenen pädagogischen Angebot der weißen, bürgerlichen Pädagogik an als rückständig wahrgenommene Migrantinnen (vgl. Baquero Torres 2012: 318). 11 Zur Frage nach Gerechtigkeit angesichts des Anderen vgl. Masschelein/Wimmer (1996), Reichenbach (2001). 12 Die bekannteste Vertreterin einer Pädagogik der Anerkennung ist Annedore Prengel mit ihrer Pädagogik der Vielfalt (1993). Im Fokus der Kritik steht hier eine auf den anerkennenden Umgang mit Differenz gerichtete Rezeptionsweise Prengels .

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(schlicht) als gegeben vorauszusetzen, sondern auch als Resultat pädagogischen Handelns zu begreifen, so dass schließlich die pädagogische Praxis selbst als eine Praxis des ‚doing difference‘ auch zu befragen ist“ (Balzer/Ricken 2010: 62). Pädagogisches Handeln ist potenziell genauso bestätigend wie negierend, unterstützend und disziplinierend: Da Pädagogik die Anderen als solche, die sie noch nicht sind adressiert, ist mit dieser Anrufung immer auch ein Ausschluss verbunden. Pädagogisches Handeln zeichnet sich damit nicht nur in der Grundstruktur durch eine Unentschiedenheit zwischen Anerkennung und Anerkennungsverweigerung aus. Im Zusammenwirken mit struktureller Benachteiligung sind die durch pädagogisches Handeln hergestellten Ausschlüsse auch über eine individuelle Ebene hinaus als eine Fest-/Fortschreibung von Ungleichheit zu verstehen. Es gehört also zu pädagogischen Anerkennungsprozessen, Differenz herzustellen und somit Differenzordnungen zu verfestigen (vgl. Mecheril/Plößer 2009: 201). Die Beteiligung pädagogischen Handelns an der Hervorbringung strukturierter Differenz- bzw. Normalitätsordnungen führt laut Ulla Klingovsky jedoch nicht zwangsläufig zu einer Festlegung dieser Ordnungen, wenn man statt einer Strategie der Anerkennung eine Strategie der Dekonstruktion verfolgt (vgl. Klingovsky 2013: 7). Mithilfe der Theorie Judith Butlers kann pädagogisches Handeln auf seinen hervorbringenden Charakter hin befragt und der Fokus auf die möglichen Verschiebungen der Differenzordnungen gelegt werden. Die Subjektkonstitution wird mit Butler lesbar als ein schmerzhafter Verwerfungsprozess, der ein sagbares, erkennbares Innen auf Kosten eines verworfenen Außen herstellt (vgl. Kämpf 2011: 347). Demnach sind Subjekte zwar gezwungen, sich der herrschenden Norm zu unterwerfen, um anerkannt werden zu können und handlungsfähig zu werden; die performative Hervorbringung der Norm gelingt aber immer nur unvollständig. Gerade im Zwang zur ständigen Wiederholung liegt somit die Möglichkeit der Irritation und schließlich Veränderung der Norm. Das kritische Potenzial pädagogischen Handelns läge dann im „Offenhalten der Differenz“ (Klingovsky 2013: 7), um durch die wiederholte (und zwangsläufige) Verschiebung der Normalitätsordnungen einen dekonstruktiven Umgang mit ebendiesen zu ermöglichen. Dies gelingt, wenn pädagogisches Handeln Räume eröffnet, in denen Bedeutungen in Frage gestellt und Festschreibungen unterbrochen werden können (vgl. Klingovsky 2013: 9). In den Blick kommen so die hierarchisierenden Wirkungen von Begriffen und Kategorien und deren Einbettung in „symbolische Ordnungen und Machtverhältnisse“ (Hartmann 2004: 18). Mithilfe einer dekonstruktiven Perspektive ließen sich diese (dichotomen und hierarchisierenden) Ordnungskategorien in Frage stellen und das Ausgeschlossene thematisieren (vgl. Hartmann 2004). Wenn nach den Verbindungen

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zwischen Ausschließungsmechanismen und Gesellschaftsordnung gefragt wird, geht es dabei allerdings nicht um die Anerkennung oder Akzeptanz der Anderen als „Andere“. Vielmehr richten sich dekonstruktive Einsätze auf das Aufgeben der Gewissheit, selbst von einer sicheren Position aus sprechen zu können. Statt sich also mit der Anerkennung des und der Anderen nur der eigenen Normalität zu versichern, ginge es darum, sich selbst fremd zu werden13 und als in die Reproduktion von Ungleichheit involviert zu begreifen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verhältnis von Differenz und Pädagogik unterschiedlichen Bestimmungsversuchen unterliegt, die je eigene Dilemmata hervorbringen. Selbst wenn transformative Umgangsweisen mit Differenz angestrebt werden, lässt sich nicht ausschließen, dass pädagogisches Handeln Differenzen affirmiert und festschreibt (vgl. Mecheril/Plößer 2009: 206). Über die Feststellung der generellen Einbindung der Pädagogik in Machtverhältnisse und über die Suche nach einem anerkennenden Umgang mit Differenz hinaus muss auch die Strategie der Anerkennung auf ihre Wirkungen hin untersucht werden, da sich die Verfestigung von Ungleichheit über Prozesse der Anerkennung nicht ausschließen lässt. Wird im Umgang mit Differenz eine dekonstruktive Strategie gewählt, so wird die Strukturierung der Welt durch eine binäre, dichotome Ordnung auf ihre Notwendigkeit und damit verbundenen Machtwirkungen hin befragt. Angesichts dessen plädieren Paul Mecheril und Melanie Plößer für „eine erfahrungsbezogene Reflexion darauf, wie Differenzen pädagogisch so thematisiert werden, dass als Konsequenz dieser Thematisierung weniger Macht über Andere erforderlich ist“ (Mecheril/Plößer 2009: 206). Aus dem Anspruch einer trotz ihrer Einbindung in Machtverhältnisse noch emanzipatorisch wirkenden pädagogischen Praxis ergibt sich für Messerschmidt die Aufgabe, „vielfältige Analysen von Unfreiheit zu entwickeln und dabei die Erfahrung von Unfreiheit als sozialen Prozess zu begreifen, bei dem es um die eigene Einbindung in Machtverhältnisse geht und darum, wie Macht ausgeübt wird“ (Messerschmidt 2013a: 74). An der je konkreten und subjektiven Erfahrung der Unfreiheit und des Leids anzusetzen könnte schlussendlich zurück zur „frühen Kritischen Theorie“ und der Kritik Adornos am Identitätsdenken führen. So bemerkt Andreas Gruschka, dass sich die „Zueignung postmoderner Kritik am Identitätsdenken“ ohne vorherige Lektüre 13 Allerdings, argumentieren Mecheril/Plößer, kann sich Pädagogik auch nicht nur auf die Auflösung von Identitätskategorien richten, da Identitätspositionen für die Handlungsfähigkeit im Kampf gegen reale Ungleichheitsverhältnisse benötigt werden (vgl. Mecheril/Plößer 2009: 205).

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Adornos nicht verstehen ließe: „Adornos Forderung ‚ohne Angst anders sein zu können‘ stellt den Untergrund für die aktuelle Debatte um Alterität und Differenz dar“ (Gruschka 2011: 141).

5. R esümee : N eupositionierungen

der

K ritik

In den immer neu ansetzenden Problemfassungen des pädagogischen Denkens und Handelns wird deutlich, dass die Widersprüchlichkeit der Pädagogik, auch wenn sie sich als kritische versteht, nicht aufhebbar ist. Pädagogik zeichnet sich vielmehr gerade durch ihre widersprüchliche Grundstruktur aus, die schon Kant mit der Frage auf den Punkt gebracht hat, wie sich die „Freiheit bei dem Zwange“ (Kant 1872: 72) kultivieren lasse. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich gerade in der pädagogischen Praxis nicht umgehen; es muss aber als Aufgabe einer sich als kritisch verstehenden Pädagogik gesehen werden, die ihr inhärenten Spannungsverhältnisse zu entfalten (vgl. Pongratz 2010: 19). Dabei zu Hilfe kommt das „spekulative Moment“ (Pongratz 2010: 10) pädagogischer Theorie – gemeint ist damit das Potenzial pädagogischer Theorien und Begriffe, das faktisch Gegebene zu überschreiten, indem das, was ist, auf das, was sein könnte hin befragt wird. Auf eine Unterbrechung oder Stillstellung der Dynamik von Kritik innerhalb und an der Pädagogik ist nicht zu hoffen – gerade in den Kämpfen um pädagogische Begriffe und ihre Bedeutung zeigen sich Spannungsfelder, mit Pongratz die „sedimentierte Begriffsgeschichte“ (Pongratz 2010: 19). In diesem Sediment finden sich mit der historischen Entwicklung der Disziplin verbundene theoretische Zugänge und Kritikverständnisse – in der Auseinandersetzung dieser Zugänge zeigen sich zu kritisierende Leerstellen von Theorien. Die Frage kann deswegen nicht sein, welche Theorie nun kritisch ist, sondern wogegen sich die Kritik richtet und in welchem Kontext sie steht, was also mit einer theoretischen Perspektive in den Blick gerät und was man aus dem Blick verliert. Versucht man, sich einen Überblick über die kritische Theorieentwicklung in der Pädagogik zu verschaffen, so zeigt sich, dass jüngere kritische Theorien sich nicht mehr eindeutig in Form von „Schulen“ wie die der Kritischen Erziehungswissenschaft oder der Kritischen Bildungstheorie fassen lassen. Lässt die Auseinandersetzung mit der Kritischen Erziehungswissenschaft diese als ambitioniert, jedoch in der Reichweite ihrer Kritik begrenzt erscheinen, so bleibt der Einsatz der Kritischen Bildungstheorie aktuell und anschlussfähig an machtanalytische und gouvernementalitätstheoretische Untersuchungen ebenso wie an dekonstruktive

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Einsätze. Gerade mithilfe der Kritischen Bildungstheorie kann immer wieder Bezug zur historischen Entwicklung der Pädagogik in der bürgerlichen Gesellschaft hergestellt werden; ähnlich motiviert geraten mit dem Theoriewerkzeug Foucaults die „spezifischen Bedingungen“ der Macht in den Blick. In Kenntnis der subjektkonstituierenden Wirkungen pädagogischen Handelns kann keine Befreiungsperspektive entworfen werden, pädagogisches Handeln kann sich mit Klingovsky jedoch die produktive Verschiebung von Normalitätsordnungen im Sinne eines „Offenhalten der Differenz“ zur Aufgabe machen. Kritische Bildungstheorie weist darauf hin, dass die immer wieder neu gefassten Antworten auf die Frage, wie individueller und kollektiver Widerstand denkbar ist, eine Geschichte haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass pädagogische Theoriezugänge, die sich als kritisch verstehen, Verbindungslinien zur Kritischen Theorie und zu poststrukturalistischen Theorien aufweisen. Die Theorieentwicklung außerhalb der Pädagogik gibt dieser den Anstoß, ihre eigenen Theorieeinsätze immer wieder kritisch zu hinterfragen. Der Fokus der Kritik verschiebt sich dabei von der expliziten Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen als Verhinderung emanzipatorischer Bildung in der Kritischen Erziehungswissenschaft und der Kritischen Bildungstheorie mit Foucault und der differenztheoretischen Debatte hin zu einer kritischen Perspektive auf die der Pädagogik selbst inhärenten Machtverhältnisse und ihre normalisierenden Wirkungen. Es lässt sich also eine Verschiebung der Kritik immer tiefer hinein ins Innere der Pädagogik feststellen, die schließlich das scheinbar neutrale Subjekt der Pädagogik dekonstruiert und die Involvierung der pädagogisch Handelnden selbst zum Thema macht. Am produktivsten erscheint hier eine Perspektive, die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen immer auch als Kritik an der Verfasstheit und den Ansprüchen pädagogischer Theorie versteht und die gleichzeitig einen Blick auf die eigene Position pädagogisch Forschender und pädagogisch Handelnder riskiert. Dies findet Ausdruck in der Forderung Messerschmidts, kritische Selbstreflexion mit kritisch-gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung zu verbinden: „Selbstreflexivität ohne Kritik der äußeren Bedingungen läuft leer, und Kritik der Verhältnisse ohne Selbstkritik landet in der Entlarvung des Falschen, das unverbunden mit eigenen Vorstellungen und Handlungsweisen bleibt“ (Messerschmidt 2013b: 59).

Diese doppelte Verortung der Kritik hat zum Ziel, einen Blick dafür zu bekommen, dass es auch die pädagogisch Handelnden und Forschenden selbst sind, die Differenzen festschreiben. Demzufolge geht es darum, die eigene Involviertheit

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und Privilegiertheit zu reflektieren, wenn Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen geübt wird. Wer die machtvollen Strukturen, in die pädagogisches Handeln und pädagogische Institutionen eingelassen sind, in den Blick nimmt und deren Herrschaftseffekte kritisiert, muss in diese Kritik auch miteinbeziehen, welche Position des Sprechens und Gehört-Werdens diese Strukturen wem ermöglichen. Ebenso ist der Bezug zu Theoriedebatten außerhalb der Pädagogik wichtig. Ohne den Blick von außen läuft pädagogische Theorie Gefahr, sich innerhalb der eigenen Grenzen pädagogischen „Illusionen von Autonomie“ (Meyer-Drawe 2000) hinzugeben. Insofern ist mit Sabine Andresen (2007) die Wichtigkeit der Anerkennung der Grenzen der Pädagogik als Wissenschaft wie auch der begrenzten Möglichkeiten pädagogischen Handelns zu betonen. Dieses findet in institutionellen Rahmungen statt, die strukturelle Zwänge erzeugen – gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse sind nicht nur Voraussetzung, sondern auch Ergebnis pädagogischen Handelns. Es bedarf daher der Einsätze kritischer Pädagogik, die den Widerspruch immer wieder ausmacht und einlegt. Die Neuerfindung der Kritik im Sinne einer Neujustierung des kritischen Blicks auf gegenwärtige Problemstellen muss sich genauso der schon beschrittenen Wege bewusst sein wie auch sich immer wieder irritieren lassen.

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Interdisziplinäre Sozialisationsforschung, Globalisierung von Bildungspolitik und das Dispositiv der Regierung von Sozialisation Eine Forschungsperspektive im Anschluss an Michel Foucaults Analytik der Macht LUDWIG GASTEIGER

1. E inleitung Ausgehend von der Feststellung theoretischer Defizite und Forschungsdesiderata im Feld der Sozialisationsforschung wird unter Rekurs auf Michel Foucaults Analytik der Macht eine politisch-soziologische Forschungsperspektive entfaltet, die beansprucht, gegenwärtige Transformationsprozesse der Wissensproduktion über und Regierung von Kindheit und Jugend angemessen in den Blick nehmen und empirisch erforschen zu können. In einem ersten Schritt wird das Sozialisationskonzept als wichtige Klammer für unterschiedliche disziplinäre Perspektiven und Forschungspraxen ausgewiesen, die sich mit Bedingungen, Prozessen und Effekten von Sozialisation beschäftigen (Abschnitt 2.1). Daran anknüpfend werden die sogenannte Empirische Bildungsforschung und das staatliche Qualitätsmanagement als konkurrierende Programmatiken zur interdisziplinären Sozialisationsforschung dargestellt (Abschnitt 2.2). Schließlich werden zentrale Desiderata der interdisziplinären Sozialisationsforschung ausfindig gemacht (Abschnitt 2.3). Ausgehend von der Feststellung einer defizitären politisch-soziologischen Theorie- und Forschungsperspektive auf die gesellschaftliche Gestaltung von Sozialisationsbedingungen wird der Bildungssoziologie und Erziehungswissenschaft schließlich attestiert, dass ihr eine angemessene Berücksichtigung der an Bedeutung gewinnenden inter- bzw. transnationalen Dimension von

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Bildungspolitik und bildungsbezogener Wissensproduktion fehlt. An diese Leerstelle soll eine an die Diskurs- und Dispositivtheorie Foucaults anschließende bildungssoziologische Forschungsprogrammatik treten (Abschnitt 3.1). In Anknüpfung an das Konzept der Gouvernementalität wird anschließend gezeigt (Abschnitt 3.2), dass erstens die Schnittstelle von ExpertInnendiskursen und politischen Entscheidungsinstanzen in den Blick genommen werden muss. Insbesondere hat diese Forschungsperspektive von sich im Zuge von Globalisierungsprozessen verwandelnden Mehr-Ebenen-Strukturen des Politikmachens auszugehen. Diese Transformation der Regeln und Strukturen des Politischen basiert auf einer Pluralität weltgesellschaftlicher Ordnungsinstanzen und resultiert aus konkurrierenden Agenden der Gestaltung von Sozialisation in bevölkerungsgestaltender Absicht. Zweitens muss die Verknüpfung der gesellschaftlichen – nun globalisierten – Regierung von Sozialisation mit der Ebene der alltäglichen Sozialisationspraxis hinreichend erfasst werden. Der hierzu vorgeschlagene Begriff des Sozialisationsdispositivs (Abschnitt 3.3) schließt eine Lücke in der Sozialisationstheorie, indem er Sozialisation als in polyzentrisch angeordnete, miteinander verflochtene Praxisfelder eingebettete Praxis konzipiert. Die Strukturierung von Praxisfeldern und deren funktionale Verflechtung wird gesellschaftlich reguliert, muss aber zugleich unter Handlungsunsicherheit und mit Koordinationsleistungen praktisch realisiert werden. Anschließend an die Feststellung, dass die Empirische Bildungsforschung und insbesondere das staatliche Bildungsmonitoring politisch forciert werden und starke Wertbezüge aufweisen, muss überlegt werden, welchen normativen Standort die interdisziplinäre Sozialisationsforschung einnehmen kann (Abschnitt 4).

2. I nterdisziplinäre S ozialisationsforschung ihre D esiderata

und

Das folgende Kapitel spinnt einen Faden von der Genese der Sozialisationsforschung zu ihrer aktuellen Lage (Abschnitt 2.1). Daran anknüpfend wird in Abgrenzung von alternativen Konzeptionen die anhaltende Relevanz des Sozialisationskonzepts erörtert (Abschnitt 2.2). Schließlich werden grundlegende Desiderata der Sozialisationsforschung ausgewiesen (Abschnitt 2.3).

SOZIALISATIONSTHEORIE UND DAS DISPOSITIV DER REGIERUNG VON SOZIALISATION | 255

2.1 Das Feld der Sozialisationsforschung: Genese, Differenzen und Konfliktlinien Ausgehend vom durkheimschen milieu- und wissenssoziologischen Sozialisationsbegriff (vgl. Durkheim 1999: 378) über den Strukturfunktionalismus bis zum Sozialkonstruktivismus wird Sozialisation als gesellschaftlich bedingt und durchdrungen begriffen (vgl. Durkheim 1984: 45). Sozialisation ist folglich die „Entwicklung der Persönlichkeit aufgrund ihrer Interaktion mit einer spezifischen materiellen und sozialen Umwelt.“ (Geulen 2005: 1409) Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte, Regeln und Wissensbestände bildet das Zentrum von Sozialisation (vgl. Tillmann 2006: 35). Der Sozialisationsbegriff impliziert, dass im Kontext sozial organisierter Erziehungs- und Lehrpraxis sowie in nicht primär zum Zwecke der Erziehung erzeugten Erfahrungswelten geplante und ungeplante Lern- und Persönlichkeitsbildungsprozesse stattfinden. An diesen Kern der Sozialisationstheorie und -forschung knüpfen differente theoretische Gewichtungen und unterschiedliche Forschungsperspektiven zur Relevanz des menschlichen Organismus, der menschlichen Psyche, der aktiven Rolle des Subjekts, der Bedeutung symbolischer Interaktion und sozialer Institutionen an. Von Talcott Parsons über Norbert Elias bis zur Kritischen Theorie wird unter Referenz auf Sigmund Freud angenommen, dass Sozialisation nicht nur bewusst-reflexiv, sondern maßgeblich auch unbewusst-präreflexiv verläuft. Elias konzipiert diesen Prozess als langfristigen Zivilisationsprozess, in dem die Soziogenese von Gesellschaften die Psychogenese ihrer Individuen bedingt (vgl. Elias 1999: 323). Zur Einsicht in die Historizität von Kindheit (vgl. Ariés 2007) treten die Erkenntnisse kulturanthropologischer Studien zur kulturellen Bedingtheit von Adoleszenz (vgl. Renner 2002: 165, 170). Die philosophische Anthropologie expliziert in Entsprechung dazu die anthropologischen Ausgangsbedingungen der Instinktarmut und Plastizität des Menschen (vgl. Fischer 2009: 328f). Während viele Forschungsrichtungen spezielle Orte der Sozialisation oder bestimmte Dimensionen (z.B. geschlechtliche oder kognitive) fokussieren, betont der Strukturalismus im Gefolge Ferdinand de Saussures die besondere Bedeutung der gemeinsam geteilten Sprache als Sozialisationsinstanz (vgl. de Saussure 1996: 38). Erich Fromm und Pierre Bourdieu haben besonders die schicht- und milieuspezifische Prägung der Erziehungspraxis und Charakterbildung hervorgehoben (vgl. Wiggershaus 2001: 174; Brake/Büchner 2012: 61). Das Konzept der Generation fokussiert demgegenüber gemeinsame, generationenspezifische Erfahrungsschichtungen (vgl. Mannheim 1928). Zwischen der Orientierung an

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Klassen-/Schicht- und Generationenmodellen ergibt sich folglich eine basale theoretische Konfliktlinie (vgl. Mierendorff/Olk 2010: 122). Hier überkreuzen sich zwei Macht- und Ungleichheitsverhältnisse: Zum einen das Verhältnis der Erwachsenen zu den Heranwachsenden und zum anderen das zwischen Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Lagen und Milieus mit ihren ungleichen Entwicklungs-, Bildungsund Teilhabechancen. Dazu kommen als dritte grundlegende Ungleichheitsdimension das Geschlecht bzw. die damit verbundenen kulturellen Zuschreibungen. Kulturelle Heterogenität als weitere – wiederum eigenständige, aber mit den anderen sich intersektionell überkreuzende – Ungleichheitsdimension wird in Deutschland besonders intensiv seit den späten 1990er Jahren in den Blick genommen (vgl. Wenning 2004). Aus dieser hier nur angerissenen Perspektivenvielfalt ergeben sich vielfältige theoretische Korrespondenzen, Konfliktlinien und eine Konkurrenz um Anerkennung ihrer Relevanz für Bildungspolitik und pädagogisches Handeln. In den Diskursen der 1960er und 1970er Jahre ist der Konflikt zwischen „positivistischen“ Orientierungen, die auf „Effektivität und Optimierung von Lehr-/ Lernprozessen“ (Riedel 2005: 968) zielen, und marxistischen bzw. gesellschaftskritischen Konzeptionen, die besonders an den Gründen und Mechanismen der Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit interessiert sind, für die Sozialisationsforschung und Erziehungswissenschaft basal. Allerdings handelt es sich bei solchen entgegenstellenden Figuren immer auch um Vereinfachungen. So lässt sich beispielsweise die funktionalistisch und konflikttheoretisch fundierte Bildungssoziologie von Randall Collins (2012) nicht einfach in eine solche Dichotomie einordnen. Insbesondere die Entgegensetzung von empirischer Erziehungswissenschaft auf der einen und Kritischer Pädagogik auf der anderen Seite (vgl. Lenzen/Rost 1998: 1317) greift zu kurz. Damit würden nicht nur die normativen Implikationen der strukturfunktionalistisch fundierten Forschung und die reflexive Wendung ihres einseitig auf Ordnungserhalt abstellenden Wertbezugs (vgl. Fend 1980: 377f.) übersehen, sondern auch die erfahrungswissenschaftliche Ausrichtung kritischer Erziehungswissenschaft (vgl. Keckeisen 2006: 493) ausgeblendet. Im Zuge der fortschreitenden Empirisierung der Sozialisationsforschung werden die Qualität der Aufgabenerfüllung von Bildungseinrichtungen ebenso wie der Grad der sozialen Selektivität von Schulsystemen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Geißler 2004) zu empirisch zu beantwortenden Fragen. Die international vergleichende Kompetenzmessung verknüpft schließlich beide Fragestellungen (vgl. Jude/ Klieme 2010: 11ff.). Sie kann gegenwärtig als Hauptstrang der quantitativ operierenden Empirischen Bildungsforschung begriffen werden. Neben dieser stark unterrichts- und schulbezogenen Forschung (z.B. PISA-, IGLU-Studien) stellt die quan-

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titativ ausgerichtete Jugendforschung als Einstellungs- und Werteforschung (vgl. Walper/Tippelt 2002: 196, 198) die zweite dominante Forschungspraxis im Feld der Sozialisationsforschung dar. Hier zeigt sich eine methodologische Konfliktlinie: Obwohl die qualitative Forschung mittlerweile als etablierte Forschungspraxis gelten kann (vgl. Grunert 2002: 241), muss gleichwohl attestiert werden, dass es nach wie vor eine Konkurrenz dieser methodologisch justierten Forschungsstile gibt (vgl. Sadovnik 2012: 50f.). Mit der Forcierung von Schulleistungsuntersuchungen und dem damit verbundenen Fokus auf Unterrichtsoptimierung werden qualitative Ansätze tendenziell eher wieder marginalisiert als integriert. Triangulation von qualitativen und quantitativen Erkenntnispraxen wäre eine wünschenswerte Option (vgl. Sadovnik 2012: 51), die bis dato jedoch die Ausnahme bleibt. Diese kurze Skizze zeigt, dass Interdisziplinarität immer auch theoretische Konfliktlinien, epistemologische Differenzen und damit eine Konkurrenz um Relevanz von Forschungsprogrammen und ihren Ergebnissen impliziert. Die Forderung nach Interdisziplinarität (vgl. Heid 2006: 782) kann daher nur Sinn machen, wenn sie als Forderung nach einem produktiven Umgang mit disziplinären und theoretischen Differenzen verstanden wird. 2.2 Empirische Bildungsforschung und staatliches Bildungsmonitoring als Konkurrenz zur Sozialisationsforschung Das Sozialisationskonzept erscheint mittlerweile als begründungspflichtig, weil das Konzept der Kompetenz im Sinne der Empirischen Bildungsforschung (vgl. Köller 2014), die Bildung als messbare Bildung begreift, mittlerweile so prominent verwendet wird, dass es den Klammerbegriff der Sozialisation zunehmend zu ersetzen droht. Im Folgenden wird beschrieben, dass der Sozialisationsforschung durch die Empirische Bildungsforschung Konkurrenz erwächst und erörtert, warum das Sozialisationskonzept nach wie vor der geeignetere begrifflichtheoretische Bezugsrahmen ist. Insbesondere ist dieser besser geeignet, weil er umfassender ist und aufgrund der theoretischen Perspektivenpluralität in der Sozialisationsforschung vielfältige relevante Dimensionen von gewollten und ungewollten Sozialisationsprozessen erfasst werden können. In den letzten Jahren wird von einer empirischen Wende der Erziehungswissenschaft und der Politikberatung gesprochen (vgl. Buchhaas-Birkholz 2009; Hepp 2011: 91). Während Diskurse um Kindheit, Bildung und Erziehung geschichtlich weit zurückreichen (vgl. Roessler 1978; Herrmann 2005), differenzieren sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geisteswissenschaftlich-pädagogische,

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psychologische, psychoanalytische und soziologische Forschungspraxen aus (vgl. Geulen 2005: 1412). Der theoretischen Pluralisierung folgt eine Empirisierung, die entgegen den heutigen Darstellungen (vgl. Buchhaas-Birkholz 2009) weit vor den 1990er Jahren einsetzt: Der Institutionalisierung der Pädagogik (18. Jahrhundert) und ihrer Differenzierung in Schul-, Sozial- und Heilpädagogik (19. Jahrhundert) folgt die disziplinäre Ausgründung der stärker empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft in den 1970er Jahren. Die Entwicklung hin zur akademischen Forschung wird indes begleitet vom sukzessiven Ausbau der staatlichadministrativen Bildungsstatistik (vgl. Rudloff 2005: 20). Dieser Wandel ist auch getragen von auf differenten Wertbezügen (vgl. GFPF/DIPF 2009: 22, 24, 26) basierenden Hoffnungen, eine wissenschaftlich fundierte Bildungspolitik entwickeln zu können (vgl. GFPF/DIPF 2009: 7, 26). Diese Vision erlebt unter dem Etikett der evidenzbasierten Bildungspolitik bzw. der Evidence Agenda (Burns/Schuller 2007) gegenwärtig eine Renaissance. Im Zentrum der damit verbundenen Bemühungen steht ein enormer Ausbau der quantitativ ausgerichteten und auf Kompetenzmessung fokussierten Empirischen Bildungsforschung, die von entsprechenden, auf Ressortforschung umstellenden Forschungsförderstrategien begleitet wird (vgl. BMBF 2007). Das mit enormen Forschungsmitteln gesteigerte Selbstverständnis der Empirischen Bildungsforschung wird dadurch belegt, dass sie sich institutionell in einer eigenen Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (Gründung der GEBF 2012) formiert und sich explizit nicht mehr „unter dem Dach der Pädagogik/Erziehungswissenschaft verorten kann und will“ (Köller 2014: 104). Dies kann als wissenschaftspolitisch protegierte Abkehr vom Projekt einer interdisziplinären Sozialisationsforschung charakterisiert werden. Diese Entwicklung basiert also nicht auf wissenschaftsimmanenten Gründen, sondern ist in starkem Maße politischen Initiativen zuzurechnen. Eine zentrale Rolle spielt hier die OECD, die mit den international vergleichenden Kompetenzmessungs- und Schulsystemvergleichsstudien, besonders der PISAStudie, das Flaggschiff der Empirischen Bildungsforschung steuert. Groß angelegte Vergleichsuntersuchungen zum Zwecke evidenzbasierter Politik sind allerdings nicht nur Instrumente einer Qualitätsprüfung im Sinne der Kontrolle der Qualifikations-, Allokations- und Selektionsfunktion von Schule, sondern zugleich Teil einer politischen Strategie der Neustrukturierung politisch-administrativer Kontrolle (vgl. Wiseman 2010: 18). Die Agenda der evidenzbasierten Bildungspolitik impliziert eine Fokussierung auf messbare Outputs von schulischen Lernprozessen und schließlich die Intensivierung von Wettbewerb zwischen SchülerInnen, Schulen, Schularten und -systemen. Während die an die Evidence Agenda der OECD anknüpfende schul-

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politische Steuerungsstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK) auf den sogenannten „Dreiklang aus Schulautonomie, Formulierung von Bildungsnormen und Dauerevaluation“ (KMK 2006: 5) setzt, bleibt ungesagt, was „Schulautonomie“ im Kontext der Intensivierung von Messung, Normierung und Kontrolle sein könne. Von pädagogischer Autonomie (vgl. Tenorth 2004), der der Lehrenden und der der Selbst-Lernenden, ist in diesem Zusammenhang ohnehin nicht mehr die Rede: Der Begriff der Autonomie wird auf die Autonomie der Institution reduziert. Diese wiederum ist nun eine Autonomie innerhalb einer neuen Konkurrenzordnung. Indes ist die Adäquatheit der Mittel zur Realisierung der manifesten Zielsetzungen, d.h. der Verbesserung der Schulqualität und des Abbaus von sozialer Ungleichheit, fraglich. Angesichts einer Neujustierung von Bildungsnormen und Normkontrollpraktiken, die Teil einer hybriden Verkoppelung aus vergleichender Kompetenzforschung und output-orientierter Steuerung sind (vgl. KMK 1997; Gasteiger 2013) müsste umfangreicher untersucht werden, welche Nebenwirkungen Dauerevaluationen eigentlich erzeugen (vgl. Bellmann/Weiß 2009), um konsequente Gegenmaßnahmen, z.B. gegen Teaching-to-the-Test-Praktiken, entwickeln zu können. Der mit politischem Rückenwind betriebene Ausbau der Empirischen Bildungsforschung folgt also dem mit hohem Aufwand betriebenen staatlichen Bildungsmanagement. Wegen der engen Verkoppelung von Messung, administrativer Kontrolle und Schulreform weisen insbesondere die internationalen Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA einen enormen und nicht unproblematischen Wert- und Praxisbezug auf. Letztlich wird dadurch ein Teaching-to-the-Test forciert. Andere, nicht-quantifizierbare Bildungsziele werden dadurch tendenziell marginalisiert. Dasselbe gilt für die Erforschung nicht-intendierter Effekte. Die Verengung der Forschungsagenda und die Stärkung des Kontrollregimes stehen dabei im Kontrast zu einer demokratischen Ausgestaltung von Schule und einer Ausweitung lokaler Verhandlungs- und Selbststeuerungskompetenzen. Angesichts dieser Entwicklung ist zu fragen, wie es um die Rolle der Sozialisationsforschung bestellt ist. Mit dem Konzept der Sozialisation sind gegenüber pädagogischen oder psychologischen Ansätzen wesentliche Ausweitungen der Forschungsgegenstände und -themen verbunden gewesen (vgl. Pfaff 2011). Heuristisch ist das Sozialisationskonzept umfassender als Konzepte der Erziehung, des Lernens oder der Entwicklung, weil es sowohl die vielfältigen Entwicklungsaufgaben in den jeweiligen Lebensphasen als auch differente Sozialisationspraxen (Frühförderung, Betreuung, Pflege, etc.) einbezieht. Ferner können auch Praxisfelder (z.B. medizinische Kontexte) in den Blick genommen werden, die durchaus sozialisationsrelevante Funktionen haben. Eine Engführung

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von Forschung auf nur positiv konnotierte Basiskompetenzen, intentional sich vollziehende Erziehung und gezielt gestaltete Bildungs- und Lernprozesse erscheint daher als wenig plausibel. Sozialisation fasst hingegen alle Arten von Ereignissen, Erfahrungen und Sedimentierungen derselben zu Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns, welche die Persönlichkeit miterzeugen. So können nur mit dem Sozialisationskonzept auch nicht-intendierte Wirkungsdimensionen in den Blick genommen werden. Damit ist der zentrale Grund benannt, warum am Begriff der Sozialisation in Differenz zu alternativen begrifflichen Angeboten festgehalten werden sollte. Im Zuge der Differenzierung sozialstaatlicher Angebote und des Ausbaus des Dienstleistungssektors wird das praktische Zusammenspiel der vervielfältigten Sozialisationskontexte und der interinstitutionellen Wechselwirkungen komplexer. Diese neuen Entwicklungen markieren einen Bruch in der bisherigen Modernisierungslogik (vgl. Mierendorff 2013: 48ff.), weil sie die Rationalität der Betrachtung und Bearbeitung singulärer Handlungsfelder für sich in Frage stellen (vgl. Grunert/Wenierski 2008: 10). Analog etabliert sich die Aufgabe eines Schnittstellen- und Übergangsmanagement als neue politische Querschnittsaufgabe. Damit rücken auch Übergänge bzw. Übergangsprobleme verstärkt in den Fokus der Forschung (vgl. Schröer et al. 2013). Auch dies spricht für die Notwendigkeit eines Sozialisationskonzeptes mit dem komplexe interinstitutionelle Wirkungszusammenhänge hinreichend theoretisch gefasst und erforscht werden können. Mit Blick auf diese Entwicklungen erscheint Sozialisation als heuristisch nach wie vor sinnvolles Konzept. Es ist zugleich aktualisierungsbedürftig, weil die Prozesse der gesellschaftlichen Gestaltung, Regelung und Kontrolle von Sozialisationsordnungen theoretisch präziser gefasst werden müssen, um hinreichend empirisch erforscht werden zu können. Die aktuellen Versuche einer Neuordnung von Erziehungswissenschaft als pädagogisch-psychologischer Bildungswissenschaft sind folglich eine Wende zu heuristisch begrenzteren Konzepten. Auch wenn mit dem Sozialisationskonzept keineswegs automatisch eine in normativer Hinsicht distanziert-reflexive Haltung einhergeht (vgl. Geulen 2005: 1409; Tillmann 2006: 131f., 208), wird damit ein angemessenes Verhältnis von wissenschaftlicher Distanz und engagiertem Interesse wenigstens möglich, weil es nicht unmittelbar in eine starke politische Agenda eingebunden ist. Dies bedeutet nicht, dass Wissenschaft ohne Wertbezug sinnvoll sei oder wertneutrale Forschung überhaupt möglich ist. Gerade deshalb muss aber angesichts zunehmender privatwirtschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und insbesondere auch politischer Beauftragung von Bildungsexpertise (vgl. Hepp 2011: 95, 103) genau geprüft werden, wie Forschungsinteressen jus-

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tiert werden und Wissensproduktion zu politischen Zwecken eingesetzt wird. Insbesondere die zunehmende Bedeutung von internationalen bzw. interstaatlichen Organisationen in der Bildungs- und Schulforschung unterwandert die Autonomie der Erziehungswissenschaft und Bildungssoziologie. Sie erzeugt die Gefahr einer zunehmenden „Feudalisierung der Erkenntnispraxis“ (Beck 1986: 274). 2.3 Desiderata der Sozialisationsforschung „Die Bildungssoziologie analysiert die ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen (Erziehung, Sozialisation und Bildung) sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen.“ (Becker 2011: 10) Entlang dieser das multidimensionale Bedingungsund Wirkungsgefüge von Sozialisation umfassenden Definition sollen zuerst basale theoretische, dann auf aktuelle Entwicklungen bezogene forschungspraktische Desiderata der Bildungssoziologie, Erziehungswissenschaft und Sozialisationsforschung identifiziert werden. Sozialisation als Folge der „fundamentale[n] gesellschaftliche[n] Dialektik“, die in ihrer Totalität „nur in der Übernahme der gesellschaftlichen Welt durch eine neue Generation [...] sichtbar wird“ (Berger/Luckmann 2009: 65), vollzieht sich im Kontext historisch konstituierter Realitäten. Während die symbolischinteraktionistische Perspektive ohnehin relevante makro- und mesosoziologische Ebenen der Strukturierung und Normierung von Sozialisationspraxis ausklammert, erarbeiten bei genauerer Betrachtung auch die gesellschaftstheoretisch fundierten Sozialisationstheorien keine hinreichende Perspektive auf die gesellschaftspolitische Gestaltung von Sozialisationsordnungen. Anstatt die Dialektik zwischen Objektivierungsprozessen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Sozialisationspraxis zum Kern des sozialkonstruktivistischen Forschungsprogramms zu machen, bleibt die benannte Dialektik bloßes theoretisches Postulat, weil weder „konkurrierende Richtungen von Expertentum“ noch historisch variable „Apparate“ der Erziehung und Wissensvermittlung oder die interdependenten funktionalen Mechanismen zwischen verschiedenen Sozialisationskontexten in die Forschungsagenda sozialkonstruktivistischer Sozialisationsforschung aufgenommen werden (vgl. Berger/ Luckmann 2009: 83, 75 Fn. 87). Ähnlich verhält es sich mit der strukturfunktionalistischen Perspektive. Mit dem strukturfunktionalistischen Begriff der Sozialisation werden die gesellschaftliche Gebundenheit, Regelung und Kontrolle von öffentlicher Erziehung betont (vgl. Fend 1980: 2). Allerdings werden die gesellschaftlichen Prozesse der Normsetzung und die Institutionalisierung von Werten in Strukturen,

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Regeln und Kontrollmechanismen als gegeben – nämlich als Institutionalisierung des Werts der Chancengleichheit und des Leistungsprinzips (vgl. Parsons 1968: 180) – angenommen, anstatt sie empirisch zu untersuchen. In der Folge hat die empirisch orientierte Sozialisationsforschung dann bestimmte Faktoren (sozialstrukturelle Ungleichheit) und Folgen (soziale Selektivität, Qualifikationsfunktion) fokussiert. Die gesellschaftlich umkämpften Prozesse zur Ziel- und Aufgabenbestimmung von Sozialisationspraxen sind hingegen vernachlässigt worden. Die von Parsons entwickelte Position, dass soziale Handlungen und Handlungskoordination in komplexen Handlungsfeldern nicht hinreichend erklärt werden können, wenn die Dimension der Wertbindung und -verallgemeinerung unberücksichtigt bleibt, verlangt, diskurstheoretisch formuliert, nach einer empirischen Erforschung der Prozesse der Konstruktion von Wirklichkeit, die immer auch wahrheitspolitische und wertbezogene Elemente beinhalten. Erst dann kann entsprechenden Forschungsfragen nachgegangen werden: Entlang welcher Ziele werden institutionelle Strukturen und Mechanismen erfunden? Wie werden diese praktisch implementiert? Stimmen die Folgen mit den zuvor angelegten Zielen überein? Gibt es möglicherweise latente Ziele oder nicht-intendierte Folgen? Eine solche empirischanalytische Forschungsagenda ist weder im Kontext des Strukturfunktionalismus (vgl. Joas/Knöbl 2004: 59) noch in anderen Sozialisationstheorien hinreichend ausformuliert. Dementsprechend muss der Sozialisationsforschung ein mangelndes analytisches Interesse für die Relevanz politischer Gestaltungsprozesse attestiert werden. So bleibt festzuhalten, dass bis heute ein „Mangel an systematischen Anknüpfungspunkten für den theoretischen Einbezug gesellschaftlicher Transformationsprozesse“ (Pfaff 2011: 526) existiert. Weil Bildungspolitik als Länderpolitik auch im Kontext der Politikwissenschaft von nachrangiger Bedeutung ist (vgl. Hepp 2006: 240), hat diese kaum zur Bereicherung der interdisziplinären Sozialisationsforschung beigetragen. „Eine Theorie der Bildungspolitik und spezifische Theorien politikwissenschaftlicher Bildungsforschung liegen nicht vor.“ (Reuter/Sieh 2009: 191, Hervorh. im Orig.) Seit Kürzerem setzen hier die Educational-Governance-Studies an. Allerdings erscheint diesen Bildungspolitik als Problem der „Handlungskoordination“ in MehrEbenen-Systemen (vgl. Kussau/Brüsemeister 2007: 16). Wenn Politik jedoch vornehmlich als Praxis im Modus der „Kooperation“ (Altrichter/Maag Merki 2010: 23) konsenstheoretisch gedacht wird, schwindet die theoretische Sensibilität für latente Zielkonflikte und die zumeist nur latent sich ausdrückende Konkurrenz um hoheitliche Entscheidungskompetenzen. Noch problematischer erscheint diesbezüglich der what-works?-Ansatz, der auf der Suche nach best-practice-Modellen Zielkonflikte

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vollständig ausklammert (vgl. Biesta 2007: 20f.). Es gibt also anwendungsbezogene und politiknahe Forschung, aber verhältnismäßig wenig Grundlagenforschung. Diese Diskurs- und Politikvergessenheit führt zu einem weiteren eklatanten Forschungsdesideratum. Die zentralen Transformationsprozesse der Gegenwart ereignen sich im Gefolge vielschichtiger Prozesse der Globalisierung. Globalisierung als Chiffre für weltgesellschaftlichen Wandel hat unterschiedliche Implikationen für Bildung. Diese sollen kurz skizziert werden, um zentrale Forschungsaufgaben zu benennen. Erstens verwandelt sich dabei der weltgesellschaftliche Kontext und die damit einhergehenden Bedingungen und Herausforderungen von Bildung. Unter Rekurs auf ältere Formulierungen zum Erziehungsstaat kann gesagt werden, dass die Weltgesellschaft durch ihre ganze Verfassung – liberalisiert-deregulierte Wirtschaftsordnung, zunehmende internationale politische Konkurrenz und unzureichende Lösungen für globale Probleme (z.B. Klimawandel) – erzieht. Die sich aus der Globalisierung ergebenden Herausforderungen und Anpassungsprobleme müssten diskursiv konstruiert werden, um auch die Sozialisations- und Bildungspraxis entsprechend auszurichten. „Ein explizit schultheoretischer Diskurs, in dem die Herausforderungen der Globalisierung thematisiert werden, ist [jedoch] nicht erkennbar.“ (Lang-Wojtasik 2009: 34). So bleiben die Problematisierungen der Globalisierung und die Folgerungen für institutionelle Handlungsfelder im akademischen Diskurs weitgehend unreflektiert. Im Zuge der Globalisierung von Bildungspolitik etabliert sich zweitens ein Zusammenspiel von weltgesellschaftlichen (UNO, WTO, EU, OECD) mit nationalstaatlichen politischen Ordnungsinstanzen, so dass auch bildungspolitische Entscheidungsprozesse im engeren Sinn nicht mehr mit Fokus auf die Politik im Nationalstaat hinreichend erfasst werden können. Drittens treten globale politische Ordnungsinstanzen, allen voran die OECD (vgl. Langer 2008), zunehmend als eigenständige Produktionsinstanzen proto-wissenschaftlicher Expertise in Erscheinung. Im Unterschied zum akademischen Diskurs über Bildung und Schule werden in diesen Kontexten die Herausforderungen der Globalisierung thematisiert. Damit verändert sich die in demokratischen Gesellschaften justierte Sphärenverflechtung von Politik und Wissenschaft zu Gunsten politisch betriebener und beauftragter Forschung. Die globalisierte Politik übernimmt also eine zunehmend starke Rolle bei der Justierung von Forschungsagenden. Im Folgenden soll die mangelnde Erforschung der für Bildungspolitik und Bildung relevanten Dimensionen von Globalisierung im akademischen Diskurs belegt werden. In grundlegenden Werken zur Darstellung des erziehungswissenschaftlichen Wissenskanons fehlt der Begriff der Globalisierung vollständig (vgl.

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Lenzen 2005/2006; Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008). Im Handbuch Schule wird Globalisierung nur am Rande und mit Nachweis des Desiderats verhandelt (vgl. Blömeke/Bohl/Haag 2009). Im Handbuch Bildungsforschung werden globale Themen- und Forschungsgebiete wie Bildung in der Entwicklungsarbeit, interkulturelle Bildungsforschung und internationale Schulleistungsvergleichsstudien behandelt. Internationale und suprastaatliche Instanzen als eigenständige player im Feld der Bildungspolitik werden hingegen nicht erörtert (vgl. Tippelt/Schmidt 2009). Demgegenüber gibt es in der englischsprachigen Literatur eine dezidiertere Auseinandersetzung mit dem Thema Globalisierung (vgl. Torres/Antikainen 2003; Lauder et al. 2006a) und einzelnen globalen, bildungspolitisch relevanten Ordnungsinstanzen wie der WTO (vgl. Robertson/Bonal/Dale 2006), der OECD (vgl. Rizvi/Lingard 2006) und anderen globalen politischen Organisationen (vgl. Lauder et al. 2006b: 38f.). So kann der Schluss gezogen werden, dass es sich vornehmlich um eine Globalisierungsvergessenheit der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft und Bildungssoziologie handelt. Überraschend ist dabei, dass sich jener politikinteressierte Forschungsstrang, der sich auf die Governance-Theorie stützt, ebenfalls weitgehend auf einen methodologischen Nationalismus verpflichtet (vgl. Altrichter/ Maag Merki 2010: 20ff.). Wenigstens das Handbuch der Schulforschung thematisiert die These der „Universalisierung von Schule“ der Stanforder Schule um John W. Meyer. Christel Adick betont diesbezüglich die zunehmende Bedeutung globaler Programmatiken, Verhandlungen und Abkommen (vgl. Adick 2008: 1002). Eine Auseinandersetzung mit der Globalisierung von Bildungspolitik im engeren Sinne findet jedoch nicht statt. Im Handwörterbuch Erziehungswissenschaft werden die Begriffe „Europäisierung“ und „Globalisierung“ skizziert. Allerdings wird vorschnell von „Homogenisierungstendenzen [...] auf der Makroebene“ (Forster 2009: 401) ausgegangen und damit wiederum auf Meyers wenig plausibles Modell einer homolog-isomorphen world polity rekurriert (vgl. Meyer 2005: 34). Solche eher geschichtsphilosophischen Theorien verdecken die komplexen Aushandlungs- und Agenda-Setting-Prozesse im Spannungsfeld differenter globaler Ordnungsinstanzen. Die bis dato adäquateste theoretische Modellierung wird im Kontext des Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ entwickelt. Hierbei wird die komplexe, spannungsgeladene Beziehung zwischen nationalstaatlichen und globalen institutionellen Akteuren in den Blick genommen (vgl. Martens/Wolf 2006). Während das Gros der Erziehungswissenschaft also globalisierungsvergessen im methodologischen Nationalismus verharrt, befasst sich immerhin eine zunehmende Zahl an Einzelstudien mit der „Emergenz der globalen Ebene“ (Hartong

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2012: 53). Um hierbei jedoch nicht vorschnell eine hegemoniale Stellung der globalen Ordnungsebene (vgl. Münch 2009: 35; Martens/Wolf 2006: 170) oder eine programmatische Homogenität, wie z.B. neben der world-polity-Theorie auch im Rahmen der Ökonomisierungstheorie behauptet (vgl. Rizvi/Lingard 2006: 259), unterstellen zu müssen, müssten adäquate Modelle entwickelt werden, um die Komplexität globalisierter Politikverflechtungsprozesse erforschen zu können.

3. E ine politisch - soziologische P erspektive : D iskurse und D ispositive der S ozialisation Eine Sozialisationstheorie sollte die Ebene der Produktion von ExpertInnenwissen und die Veränderung der Regeln des Politikmachens sowie die in beiden Dimensionen sich vollziehenden (latenten) Wertkonflikte angemessen theoretisch-begrifflich konzeptualisieren. Sie bedarf einer gesellschaftstheoretischen Fundierung, welche Globalisierung als umgreifenden Prozess sozialen Wandels ebenso fassbar macht wie den unmittelbaren sozialen Wandel von Praxisfeldern. Hierfür bietet sich die poststrukturalistische Gesellschaftstheorie und insbesondere die Diskurs- und Dispositivtheorie im Anschluss an Foucault an. Es gibt mittlerweile eine breite und differenzierte Rezeption der Arbeiten Foucaults in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Foucault wird hierbei oftmals als „Kritiker der pädagogischen Emanzipationserzählung“ gelesen (vgl. Froebus in diesem Band). Jenseits einer solchen theoretischen Machtkritik, die, wie Heinz-Elmar Tenorth anmerkt, allzu häufig von einer verkürzten Perspektive auf vermeintlich einseitige Machtbeziehungen in Sozialisationsfeldern ausgeht (vgl. Tenorth 2006), gibt es eine Rezeption der Analytik Foucaults (vgl. Dreyfus/ Rabinow 1994; Diaz-Bone 2006), die entlang heuristischer Begriffe und methodologischer Positionen eine theoretisch reflektierte, erfahrungswissenschaftliche Diskurs- und Dispositivforschung entwickelt. Diese Rezeption hat das Möglichkeitsspektrum der bildungssoziologischen Forschungspraxis maßgeblich erweitert (vgl. Wrana/Ott/Jergus 2014: 226). Daran anknüpfend wird mit den heuristischen Begriffen des Dispositivs (vgl. Bührmann/Schneider 2010; Traue 2010: 259) und der „Machtausübung im Vollzug“ (Ott/Wrana 2010: 156) der Blick auf die Erforschung von institutionell eingebetteten Alltagspraxen gerichtet. Die im Folgenden entwickelte Position schließt an diese soziologisch orientierte FoucaultRezeption an. Sie ergänzt deren Perspektive, indem der Fokus auf die makrosoziologische Mehr-Ebenen-Problematik und die mesosoziologische Dimension der

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Verflechtung von Sozialisationskontexten gelegt wird. Damit ist zugleich gesagt, dass eine rein mikrosoziologische Adaption des Dispositivkonzepts inadäquat ist, um den Wandel von sozialen Praxisfeldern und die darauf wirkenden Einflüsse hinreichend fassen zu können. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es im Werk Foucaults eine Reihe funktionalistischer Theoreme gibt, die empirisch nicht hinreichend gedeckt sind: Am eindrücklichsten kann dies mit der Metapher des „Räderwerks der panoptischen Maschine“ (Foucault 1977: 278f.) belegt werden – einer These, die zum Theorem der totalen Funktionalität der Disziplinargesellschaft zugespitzt wird (vgl. Foucault 1977: 269). In Überwachen und Strafen werden ebenso wie später in der Vorlesung zur Geschichte der Gouvernementalität Theoreme zur modernen Ordnung von Sozialisation formuliert, die nur bedingt auf einer hinreichenden Analyse von sozialisationsbezogenen Diskursen und pädagogischen Institutionen basieren. Eine erfahrungswissenschaftlich-diskursanalytische Perspektive muss solchen verallgemeinernden Aussagen mit skeptischer Distanz begegnen. Daher werden im Folgenden einige zentrale theoretische und methodologische Prinzipien für eine erfahrungswissenschaftliche Machtanalytik dargelegt (Abschnitt 3.1). In einem zweiten Schritt werden die theoretischen Desiderata Foucaults unter Rückgriff auf die Interdiskurstheorie Jürgen Links behoben. Weil sich aber weder Foucault noch Link hinreichend mit der föderalen Ordnung von politischen Entscheidungsfindungsprozessen auseinandergesetzt haben, bedarf es hier einer theoretischen Ergänzung, um ein hinreichendes Verständnis zur Globalisierung von Wissensproduktion und zur Internationalisierung von Politikverflechtung entwickeln zu können (Abschnitt 3.2). Theoriestrategisch wird also mit und in kritischreflexiver Distanz zu Foucault sowie unter Rückgriff auf andere Theorietraditionen eine relativ eigenständige Theorie des Dispositivs der Weltregierungspraxis und damit der Globalisierung von Bildungspolitik skizziert. An diese Skizze schließt eine knappe Darstellung des Sozialisationsdispositivs an (Abschnitt 3.3). 3.1 Diskurs- und dispositivtheoretische Fundierung einer erfahrungswissenschaftlichen Analytik Das grundlegende theoretische Axiom der Diskursforschung ist die Annahme, dass Diskurse und die darin vollzogenen Aussagen nicht nur Wirklichkeit repräsentieren. Vielmehr wird vermittelt über die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, von Dingen und Menschen/-gruppen (z.B. Kindern, Lernenden) sowie insbesondere auch von sozialen Problemen und Möglichkeiten ihrer institutionellen

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Bearbeitung Wirklichkeit erzeugt (vgl. Foucault 1997: 74). Foucault hat in der Archäologie des Wissens den Begriff der diskursiven Formation geprägt, um zu betonen, dass es darum gehen muss, reflektiert einen Gegenstandsbezug zu entfalten, um dann bestimmte und abgrenzbare Diskurse empirisch untersuchen zu können. Daran knüpft sich die Aufgabe, möglichst konkret zu erfassen, wie spezifische Diskurse und Aussagen Wirksamkeit erlangen. Denn die axiomatische und historisch begründete Annahme der Diskursforschung, dass ExpertInnen-/ Spezialdiskurse, die nur zum Teil wissenschaftlich-akademische Diskurse im engeren Sinne sind, und massenmediale Diskurse eine zentrale Rolle für die Ordnung von Vergesellschaftungsprozessen spielen, darf nicht mit der Behauptung verwechselt werden, dass jegliche diskursive Formation per se Machtwirkungen entfaltet. So ergibt sich ein Erklärungserfordernis. In diskursanalytischen Untersuchungen muss daher eine Antwort auf die folgende Frage erbracht werden: Warum erlangen bestimmte Diskurse, -typen und -niveaus in bestimmten Entwicklungsphasen besondere Bedeutung, während andere relativ bedeutungslos sind oder an Bedeutung verlieren? Neben deskriptiven Befunden zu Diskursverläufen muss also eine plausible These entwickelt werden, die erklärt, wodurch beim untersuchten Fall bestimmte Aussagen und Sprechpositionen wirkmächtig werden. Hierfür bedarf es einer erfahrungswissenschaftlichen Analytik. Diese kann auf theoretische Reflexionen, d.h. auf eine theoretisch informierte Entfaltung von Forschungsfragen, einen spezifischen Gegenstandsbezug und eine angemessene Forschungsstrategie und -methodik, nicht verzichten. Methodologisch ist hierbei entscheidend, dass die theoretischen Grundlagen so formuliert werden, dass sie dem Anliegen einer empirischen Forschung, die für die Entdeckung unerwarteter Zusammenhänge offen ist, möglichst breiten Raum eröffnet. Theoretisch bedarf es für eine solche Erklärungsleistung mehr als einer Theorie der diskursiven Formation, weil sich die Wirksamkeit eines speziellen Diskurses nicht aus dessen Verlauf erschließen lässt. Aus diesem Grund hat Link die foucaultsche Diskurstheorie zu einer Interdiskurstheorie ergänzt (vgl. Link 2006). Link hebt hervor, dass es eine Reihe unterschiedlicher Spezialdiskurse gibt, die zu denselben Gegenständen Aussagen hervorbringen und insofern koexistieren. Dieses Koexistenzverhältnis kann unterschiedlich geartet sein: Diskursive Formationen können sich wechselseitig ignorieren oder ein- bzw. wechselseitig Bezug aufeinander nehmen. Zentrale Aussagen können identisch sein. Dann wären sie kongruent. Zentrale Aussagen können sich als differente Aussagen ergänzen. Dann wären sie als komplementäre Aussagen zu charakterisieren. Aussagen können manifest oder latent unvereinbar sein. In diesem Fall wären sie konkurrierende Darstellungen von

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Wirklichkeit, die dann auch unterschiedliche Handlungserfordernisse objektivieren. Von dieser Koexistenz unterschiedlicher Aussagen auf demselben Diskursniveau ist die Relevanz in Bezug auf andere Diskursebenen zu unterscheiden. Wenn ein bestimmter Diskurs bzw. bestimmte Aussagen, z.B. pädagogisch-psychologische Aussagen über die Qualität von Lehre, in anderen Diskursen, z.B. massenmedialen oder politischen Diskursräumen, aufgegriffen werden, können sie als relevant bezeichnet werden. Wenn sie im Verhältnis zu anderen Aussagen und für die Darstellung von Wirklichkeit eine maßgebliche Rolle spielen, können sie als dominante Aussagen eingestuft werden. Wenn ein Spezialdiskurs in Bezug auf politische, massenmediale und alltägliche Diskursebenen einen (nahezu) allgemeingültigen Konsens erzeugt oder ermöglicht, wäre dieser hegemonial. Aufgrund einer gebotenen Skepsis gegen vorschnelle Urteile muss diskurstheoretisch – mit allen Konsequenzen für die Formulierung von Forschungsfragen und die Konstruktion von Forschungsgegenständen – davon ausgegangen werden, dass die Informierung einer Diskursebene, z.B. des politischen Diskurses, durch einen einzelnen (wissenschaftlichen) Spezialdiskurs eher unwahrscheinlich ist. Die Richtung der Wirkung von Aussagen ist selbstverständlich grundsätzlich offen. So kann sich das interdiskursive Aussagengefüge etwa ausgehend von massenmedialen oder politischen Diskursniveaus verändern. Dies kann inkremental, d.h. durch allmähliche Verschiebung von hegemonialen Positionen, oder abrupt, z.B. im Gefolge von Wahlen oder eines Staatsstreichs, geschehen. Wichtig für eine gegenstandsangemessene Diskurstheorie ist also der methodologische Ausgangspunkt, dass nicht vorhersagbar ist, wann welche Diskurse und Aussagen eine Machtwirkung mit dem Effekt der Veränderung des interdiskursiven Gefüges erlangen. Die Interdiskurstheorie macht deutlich, dass es grundsätzlich unterschiedliche Diskurstypen (Spezialdiskurse, massenmediale und politische Diskurse, Alltags- bzw. Elementardiskurse) gibt, die begrifflich-theoretisch hinreichend gefasst und forschungspraktisch berücksichtigt werden müssen, wenn über eine bloße deskriptive Beschreibung eines Diskursverlaufs hinaus eine Erklärung für sozialen Wandel geliefert werden soll. Die Unterscheidung von Diskursen im Kontext von massenmedial erzeugten Öffentlichkeiten oder von Fachöffentlichkeiten auf der einen und politischen Diskursen im engeren Sinne geregelter Diskursräume, wie z.B. Parlamente, auf der anderen Seite eröffnet ein Verständnis, wie und über welche Kanäle Sozialisationspraxis informiert und strukturiert wird. Zum einen nehmen Diskurse über Massenmedien und weitere mediale Formen sowie über alltägliche (Elementar-) Diskurse indirekt Einfluss auf Sozialisationskontexte und ihre AkteurInnen. In

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Differenz zur strukturfunktionalistischen Denktradition wird also davon ausgegangen, dass Rollenerwartungen bzw. Anrufungen an die handelnden Subjekte nicht nur im jeweiligen Handlungssystem erzeugt werden, sondern zugleich über das allgemeine kulturelle System und die Umwelten der Handlungssysteme an die AkteurInnen herangetragen werden. Zum anderen gibt es per Verfassung legal verfasste politische Sagbarkeitsfelder, die, weil sie eben mit einem bestimmten Mandat und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind, auch Machbarkeitsfelder sind. Als politische Diskurse werden hier also im engeren Sinne Debatten in Gremien verstanden, welche mit Entscheidungs- und Verfügungskompetenzen ausgestattet sind. Entsprechend der Entscheidungskompetenzen sind der Zugang zu den institutionellen Positionen und die Verfahren der Entscheidungsfindung in der Regel rechtlich weitgehend geregelt. Im weiteren Sinne gibt es aber auch politische Diskurse bzw. Diskursräume, deren Kompetenzen nicht unbedingt klar geregelt sind. Insbesondere das Verhältnis zwischen politischen Ordnungsinstanzen und die Abgrenzung politischer Kompetenzen kann – ebenso wie in den Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung – diffus sein und damit einen Raum für (metapolitische) Kompetenzkämpfe öffnen. In diesen Machbarkeitsfeldern von Politik und Verwaltung werden die Rahmenbedingungen sozialisationsbezogener Handlungen politisch festgelegt. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Organisationseinheiten und Diskursen, die, obwohl selbst nicht mit politischen Kompetenzen ausgestattet, auf die politischen Entscheidungsprozesse Einfluss auszuüben versuchen. Wenn bei Foucault von Regierung die Rede ist, wird von unterschiedlichen Verständnissen von Politik und damit letztlich von einem weiten Politikbegriff ausgegangen (vgl. Lemke 1997: 143ff.), der insbesondere die unterschiedlichen Formen der Informierung von Politik einschließt. Diese kleine Skizze öffnet den Blick für die vielfältigen Wege und damit auch die multidimensionale Bedingtheit institutioneller Ordnungen. Die poststrukturalistische Theoriebildung weitet den Fokus, wie Anthony Giddens festgestellt hat, auf die unterschiedlichen Arten und Ebenen der Praxis der Strukturierung von Strukturen (vgl. Giddens 1988: 77). Dennoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass in institutionalisierten Handlungssystemen bzw. Praxisfeldern bestimmte Ebenen der Steuerung von Praxis existieren, die über besondere Steuerungsbefugnisse, Kontrollverfahren und Sanktionsmöglichkeiten verfügen. Am Beispiel Schule kann dies verdeutlicht werden. Hier reichen die Steuerungs- und Kontrollpraxen von der alltäglich-kollegialen Ebene, die über Konventionen und den Modus der Nicht-/Anerkennung funktionie-

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ren, über die Schulleitungsebene und die -verwaltung, welche administrative Kontrollmöglichkeiten besitzen, bis hinauf zur Schulpolitik, die über Lehrinhalte, Schulstrukturen, Ein-, Übertritts- und Zertifizierungsverfahren sowie die finanzielle Ausstattung von Bildungseinrichtungen entscheidet. Diese Formen von Macht, Herrschaft und Handlungsregulierung sollten nicht unterschätzt und durch eine diskursanalytische Fokussierung auf andere Diskursarten oder gar im Rahmen einer ethnographisch fokussierten Dispositivforschung ausgeklammert werden. Die poststrukturalistische Weitung des Blicks birgt also auch Gefahren. Diesen kann begegnet werden, indem gezielt die Arten der Kopplung (vgl. Weick 2009: 91) von Diskursen und Regierungspraxen mit den institutionell eingebetteten Alltagspraxen rekonstruiert werden. Entscheidend ist, dass es unterschiedliche Arten und Intensitäten von Kopplung gibt. Kopplung kann von unverbindlicher Anrufung per Überzeugung über kontrollierte und sanktionsbewehrte Handlungsnormierungen bis zur Schaffung von Handlungsbedingungen, die zwar umgedeutet, aber nicht grundlegend verändert werden können, reichen. Unterschiedliche Wirkmechanismen können sich ergänzen. Sie können aber auch in Konkurrenz zueinander koexistieren, wenn sie widersprüchliche Anforderungen und Ziele beinhalten. Macht funktioniert keineswegs immer vereindeutigend und restringierend, sondern kann durchaus Handlungsoffenheit und -unsicherheiten erzeugen, mit denen AkteurInnen in der Praxis kreativ umgehen müssen. Neben der beschriebenen Weitung des Blicks für die komplexen, ineinandergreifenden Prozesse der gesellschaftlichen Ordnung von Sozialisation eröffnet die poststrukturalistische Theorie eine veränderte Sichtweise auf die ordnungstheoretischen Kardinalfragen der Soziologie (vgl. Joas/Knöbl 2004: 37): Was ist Ordnung, wie kommt sie zu Stande und wie entsteht sozialer Wandel? Bezüglich der Ordnung von Praxis darf nicht einfach von deren Geordnetheit ausgegangen werden, sondern es muss auch die Unordnung der Praxis als Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Diese entsteht nicht nur in Folge von zu wenig Ordnungs- und Gestaltungspraxis, sondern auch wegen zu viel Ordnung oder aufgrund konkurrierender Ordnungsagenden. Schließlich können Handlungsunsicherheit oder Realisierungsprobleme zudem dadurch entstehen, dass für bestimmte Ziele nicht die adäquaten Mittel bereitgestellt werden. Diese ordnungstheoretische Konzeption eröffnet also – in Differenz zum Strukturfunktionalismus – einen theoretisch und empirisch sensibilisierten Blick für die Herausforderungen alltäglicher Praxis.

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3.2 Gouvernementalität als Heuristik und die Globalisierung von Bildungspolitik Im Folgenden wird der Aspekt der politischen Aushandlung und Festlegung von Zielen, institutionellen Strukturen und Mechanismen näher betrachtet. Diese heuristische Fokussierung hat Foucault mit dem Konzept der „Gouvernementalität“ auf den Begriff gebracht. Das Konzept der Gouvernementalität kann als Fortführung des Macht-Wissen-Theorems begriffen werden (vgl. Foucault 1977: 39), das nun stärker auf politische Willensbildung und die Entstehung von Staatlichkeit ausgerichtet wird. Es bildet das Zentrum einer genealogischen Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft sowie die Rolle, die staatlich-politische Strukturen dabei einnehmen. Der Staat wird in Die Geburt der Biopolitik als Effekt konkurrierender Diskurse begriffen (vgl. Foucault 2006: 115), die je unterschiedliche Regeln des Politischen und Praktiken der Regierung von Bevölkerungen, Territorien und Praxisfeldern zum Gegenstand ihrer Wissensproduktion machen. Während die Diskursforschung sich zu entscheiden hat, welchen Gegenstand sie angesichts des breiten Spektrums von Diskursarten (Alltags-, Medien-, Spezialdiskurse) auswählen soll, wird mit dem Konzept der Gouvernementalität ein Auswahlkriterium und ein – nach wie vor relativ offener – heuristischer Fokus vorgeschlagen. Indem durch das Konzept der Regierungspraxis das Verständnis von Politik grundlegend ausgeweitet wird und zugleich die Bedeutung von ExpertInnen-/Fachdiskursen für die Entstehung politischer Handlungsfelder hervorgehoben wird, wird das Forschungsinteresse auf die Schnittstellen der unterschiedlichen Diskursniveaus gelenkt: Welches Wissen informiert politisches Denken und Handeln? Welche Regelungen und Wissensformen regieren die institutionelle Administration von Praxis und die AkteurInnen der Praxis? Trotz formaler Kontinuität staatlicher Strukturen können sich die Regeln des Politischen in Folge der Objektivierung anderer Handlungsfelder oder der Konstruktion vermeintlicher Probleme grundlegend ändern. Analog zum Konzept des epistemologischen Bruchs spricht Foucault von Krisen des Dispositivs der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2006: 115) und attestiert schon in der Vorlesung des Jahres 1979 eine solche Krise für seine Gegenwart. Im Folgenden muss allerdings auch eine Schwachstelle des foucaultschen Konzepts diskutiert werden, deren Bearbeitung für eine zeitgemäße politisch-soziologische Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung von zentraler Bedeutung ist. Denn das Gouvernementalitätskonzept berücksichtigt die Apparatur der Politik nicht hinreichend (vgl. Vasilache 2011: 28). Zwar ermöglicht der nicht-staatszentrierte Begriff der Regierungspraxis eine Weitung des Blicks auf Entwicklungen

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jenseits des Nationalstaats. Diese können aber nur angemessen erfasst werden, wenn die Strukturen und Verfahren, in welche die Praxen des Politikmachens eingebettet sind, trotzdem hinreichend theoretisch-begrifflich erfasst werden. So braucht es ein Korrektiv, weil der Staat sowie die Regeln und Strukturen des Politikmachens im weiteren Sinne keineswegs nur beweglicher Effekt von Diskursen über das Regieren sind. Es ist eben nicht so, dass der Staat „keine Innereien“ (Foucault 2006: 115) hätte. Vielmehr erzeugen sowohl die Strukturen als auch die in bestimmten Politikfeldern und Organisationseinheiten, wie Parteien, tradierten Denkmuster relativ stabile und eigengesetzliche Logiken, die von den Handelnden in diesen Feldern wie auch von ExpertInnen berücksichtigt werden müssen. Politik, ihre Instanzen und AkteurInnen sind keineswegs bloßer Effekt von Fachdiskursen. Dieses Korrektiv kann etwa die historisch-soziologische Ordnungstheorie Max Webers mit ihren Begriffen des Rechts, der Verwaltung und der Staatsanstalt bieten (vgl. Weber 2005: 22ff.). In Differenz zum foucaultschen Praxisverständnis hebt Weber die „Eigengesetzlichkeit“ (Weber 1992a: 62) institutioneller Strukturen hervor. Umgekehrt bildet der foucaultsche Regierungsbegriff das Korrektiv für einen allzu statisch gedeuteten Staats- und Institutionenbegriff. Weber war indes – dies überblenden die idealtypisch einseitig gesteigerten Begrifflichkeiten mitunter – besonders sensibel für die Schnittstelle von Fachdiskursen und politischen Instanzen sowie für die Konkurrenz um Entscheidungsmacht zwischen den Ebenen und Instanzen des politischen Prozesses. Um dieses kooperierende und konkurrierende Verhältnis einer Pluralität von Macht- und Herrschaftsinstanzen auf den Begriff zu bringen, soll hier in Anlehnung an Fritz Scharpf der Begriff der „Politikverflechtung“ (Scharpf 1976: 1999) verwendet werden. In diesem Kontext soll derselbe jedoch in einem strikt wertfreien Sinn verstanden werden. Für eine Dispositivtheorie der Regierungspraxis braucht es denselben, weil er als Verbindungsglied beider Staatstheorien fungieren kann und so das sowohl geregelte als auch ungeregelte Zusammenspiel unterschiedlicher politischer Diskursräume, ihrer Entscheidungskompetenzen und die zumeist sich latent vollziehenden metapolitischen Konkurrenzkämpfe um Entscheidungshoheit hervorhebt. Gerade im Zuge der Globalisierung von Politik eröffnen sich Spielräume, Entgrenzungen und eine Deregulierung von ehemals im verfassten Rechtsstaat fixierten Regeln des Politischen (vgl. Beck 2009: 10). Das relativ un-/geregelte Zusammenspiel globaler und nationaler Ordnungsinstanzen, das Spielräume der Macht in ansonsten für sich relativ klar rechtlich definierten Räumen und Verfahren eröffnet, ist gerade für die Analyse von Bildungspolitik in der Gegenwart von zentraler Bedeutung. Denn mit der

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Globalisierung von Bildungspolitik bzw. der zunehmenden Bedeutung inter- und suprastaatlicher Machtinstanzen gerät unweigerlich auch der scheinbar so geregelte und verfestigte deutsche Bildungsföderalismus in Bewegung. Die komplexe Verflechtungsordnung von Macht-/Herrschaftsinstanzen von der globalen bis zur lokalen Ebene befindet sich in einem zukunftsoffenen Transitionsprozess, der besonders gut mit dem Dispositiv- und Interdiskurskonzept gedacht und erforscht werden kann, wenn diese denn erweitert werden um ein adäquateres Verständnis des relativ un-/geregelten Zusammenspiels von politischen Instanzen. Umgekehrt braucht das politikwissenschaftliche Konzept der Politikverflechtung eine begrifflich-theoretische Weitung. So kann mit der Interdiskurstheorie in den Blick genommen werden, welche Rolle spezialdiskursive Wissensproduktion – insbesondere auch solche, die von global-interstaatlichen Instanzen, wie der OECD, betrieben wird – bei der Informierung des bildungspolitischen Agenda-Setting-Prozesses spielt. Erst dann kann auch erschlossen werden, welche Rolle ExpertInnendiskurse bei der metapolitischen Neustrukturierung des bildungspolitischen Feldes spielen. Kurz: Das Dispositiv der biopolitischen Regierung von Bevölkerungen – insbesondere im Register der Schul-, Bildungs- und Jugendpolitik – verwandelt sich im Kontext der Globalisierung von Politikverflechtung grundlegend. Der Dispositivbegriff ist hierbei entscheidend, weil er mit seiner recht unpräzisen Definition – als Ansammlung heterogener Elemente, die ausgehend von Problematisierungen der Wirklichkeit und sozialer Zusammenhänge immer wieder neu vernetzt werden (vgl. Link 2008: 239f.) – die Möglichkeit eröffnet, Regierungspraxis zu denken, ohne von einer fixen Ordnung und einer festen Hierarchie der ordnungsstiftenden Instanzen ausgehen zu müssen. Mit dem Dispositivbegriff wird also erstens der Blick auf die unterschiedlichen diskursiv erzeugten Problembeschreibungen, die differenten Agenden globaler Machtinstanzen und deren Strategien der Neuordnung des Politischen gelenkt. Dispositive sind ferner – trotzdem sich zwischenzeitlich institutionelle Strukturen ausbilden – durchsetzt von „unaufhörlichen Kämpfen“ (Foucault 1983: 93). So wird zweitens die Sensibilität für die Kontingenz und Unbestimmtheit der Un-/Ordnung globaler Politik geschärft. Drittens wird eine globalisierte Struktur der Politik denkbar, die nicht dem Modell eines hierarchisch geordneten, zentralistisch organisierten Nationalstaats folgt. Globalisierte Politik spielt sich vielmehr in einem heterarchischen Dispositiv ab. Als solches ist es ein prozessierendes Gefüge mit mehreren potenziellen hegemonialen Ordnungsinstanzen auf globaler Ebene, die aber nicht einfach der Ebene der Staaten übergeordnet sind. Denn die Nationalstaaten und andere Akteure, wie globale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen,

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haben mehr oder minder weitreichende Machtressourcen, von denen die globalen Ordnungsinstanzen wiederum abhängig sind. Die zentralen globalen Ordnungsinstanzen im Feld der Bildungspolitik sind (aus europäischer Sicht) gegenwärtig die EU, die OECD, die WTO – sowie anderweitige bilaterale Bemühungen zur Neuordnung des Dienstleistungssektors – und die UNO/ UNESCO. Diese entwickeln je eigenständige und daher potenziell miteinander konkurrierende Agenden. Sie reichen von einer Betonung der Bildung als Grundrecht und öffentlichem Gut bis zur Zielstellung einer umfassenden Vermarktwirtschaftlichung des Bildungsbereichs, von Strukturangleichungsstrategien bis zu einer intensivierten staatliche Vermessung und Steuerung bei gleichzeitiger struktureller Heterogenität. Die Entstehung eines Ensembles globaler Ordnungsinstanzen mit ihren je differenten Organisationsstrukturen (vgl. Mann 1997: 116), Agenden und Durchsetzungsstrategien wird begleitet von einer Globalisierung der Produktion von ExpertInnenwissen. Wissensproduktionsstrategien können zum Kern der Agenden globaler Ordnungsinstanzen gehören, wie im Falle der OECD, oder diese nur ergänzen, z.B. in Form von Berichterstattungen. Weil auf globaler Ebene vor allem politische Instanzen zu eigenständigen Akteuren der Produktion bildungsbezogenen Wissens geworden sind, sind Macht- und Wissensproduktionsstrategien eng miteinander verkoppelt. Die strukturelle Neuordnung bildungspolitischer Regierungspraxis vollzieht sich im Zuge eines Ineinandergreifens der Globalisierung von spezialdiskursiven Sagbarkeits- und politischen Machbarkeitsfeldern. Empirisch müsste dabei beleuchtet werden, wie die Vielzahl von Nationalstaaten in potenzieller Konkurrenz zueinander die Agenden, strukturellen Bedingungen und Praxen der globalen Ordnungsinstanzen mitgestalten, um ein angemessenes Verständnis der nach wie vor nicht unerheblichen Bedeutung nationalstaatlicher Instanzen zu bekommen. Es gilt dann zu untersuchen, wie sich vermittelt über globale Agenda-Setting-, Entscheidungs- und/oder Rechtssetzungsprozesse zuerst die Regeln des Politikmachens im nationalstaatlichen Rahmen verändern, um schließlich untersuchen zu können, wie sich die Agenden globaler Ordnungsinstanzen auf die arbeitsteilige und wissensbasierte Ordnung von Praxis in pädagogischen Handlungsfeldern auswirken. Erst im Anschluss an eine solche Erforschung der heteronomen Strukturierung teil-autonomer Praxisspielräume kann eine sozialkonstruktivistisch-alltagsorientierte Forschungspraxis sinnvoll entfaltet werden. Das hier vorgestellte Konzept der Regierung von Praxisfeldern schließt also konstruktive Deutungs- und Praxisspielräume im Lokalen immer ein. AkteurInnen werden im Rahmen einer poststrukturalistisch fundierten Analyseperspektive folglich als disponierte

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Subjekte begriffen (vgl. Link 2008: 238), die unter Handlungsregulierung und -unsicherheit in komplex strukturierten Feldern agieren. Sozialisationstheoretische Perspektiven (vgl. Hurrelmann 1983; Zinnecker/Geulen 2002), welche ausschließlich Aspekte der subjektiven Realitätsverarbeitung, Selbstsozialisation und Partizipation fokussieren, stellen gegenüber einer gesellschaftstheoretisch fundierten Sozialisationstheorie Verkürzungen dar, weil sie die Dimensionen der welt-/ gesellschaftlichen Gestaltung von Handlungsräumen und der Erzeugung von Handlungsschemata nicht erfassen. Erst durch die Rekonstruktion der diskursiven und politischen Strukturierung von Strukturen wird die nötige „Sensibilität für das Lokale und den Vollzug menschlicher Angelegenheiten“ (Knorr Cetina 2008: 70) erarbeitet. 3.3 Biopolitik als Bevölkerungsgestaltung und das Dispositiv der Sozialisation In Anlehnung und Ergänzung der foucaultschen Gouvernementalitätstheorie, welche eine historische Entstehungsgeschichte moderner Biopolitik enthält, kann Sozialisations- und Beschulungspraxis als zentrales Feld der projektiven Gestaltung von Gesellschaft charakterisiert werden. Spätestens seit der Einführung einer umfassenden Bevölkerungsbeschulung lässt sich staatlich organisierte öffentliche Sozialisation als Register von Bevölkerungspolitik ausweisen. Hierbei ist von einer Pluralität von Diskursarten (verwaltungsinterne und akademische Fachdiskurse, anderweitige ExpertInnendiskurse, massenmedial-öffentliche Diskurse) mit je spezifischen thematischen Schwerpunktsetzungen und Logiken der Konstruktion von Erziehungswirklichkeiten auszugehen, die zum einen politische und fachlich-praktische EntscheidungsträgerInnen und zum anderen die Öffentlichkeit im Gesamten informieren. Wissensproduktion impliziert dabei unvermeidlich Wertbezüge: Fokussierung bestimmter Probleme, Dramatisierung der einen und Entdramatisierung anderer Probleme, Nichtbeachtung anderer und damit auch eine Erzeugung von Nicht-Wissen. Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit eröffnet Handlungserfordernisse und zeigt spezifische Lösungen auf. So haben die Reform bestehender sowie die Einführung neuer Handlungsfelder ihren Ausgangspunkt zumeist in Problematisierungen des Kindes, der Jugend, der Eltern oder bestimmter Schichten/Milieus, um sukzessive professionelle und institutionell eingebettete Fachkräfte ins Spiel zu bringen. Aus dieser Perspektive erscheint die Ausbreitung des sogenannten Dienstleistungssektors als ein langfristiger sozialer Wandel, der einsetzend mit der

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Einführung einer flächendeckenden Bevölkerungsbeschulung über den Ausbau von Kinderversorgung und Jugendhilfe zuerst von staatlichen Instanzen angeeignet und dann von diesen forciert worden ist (vgl. Reinhard 1999: 398). So verwandelt und erweitert sich – in Deutschland besonders intensiv seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – das System polyzentrisch zueinander geordneter Sozialisationskontexte. Das Sozialisationsdispositiv ist seither mit länderspezifischen Differenzen weitgehend staatlich-föderal regiert: Direkt im Falle der Schulen, Erziehungsheime und weiterer Maßnahmen der Jugendhilfe; weniger direkt in der Steuerung von Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft (Kommunen, Kirchen, Sozialverbände, Privatwirtschaft etc.); indirekt im Falle des regulierenden Zugriffs auf Familien (Familienrecht, Schulpflicht, Familienpolitik etc.) und der freien Zeit (z.B. Jugendschutzgesetzgebung). Das Sozialisationsdispositiv ist multikontextual strukturiert und zeichnet sich durch eine potenzielle „Konkurrenz der Sozialisationsinstanzen“ (Schweizer 2007: 198) aus. Diese Multikontextualität impliziert weitreichende wechselseitige Effekte zwischen den Sozialisationskontexten. Aufgrund der umfassenden Bedeutung des Sozialisationsdispositivs ist in Folge der Multikontextualität von einer unhintergehbaren Multifunktionalität auszugehen: Politische, soziale, ökonomische, kulturelle und ökologische Funktionen von Sozialisation koexistieren. Sie stehen in Folge der Knappheit an zeitlichen, personellen und materiellen Ressourcen in einer potenziellen Konkurrenz. Aus der Koexistenz vielfältiger Funktionen resultiert, dass eine Abwertung bestimmter Funktionen nicht zu deren Aufhebung, sondern zu einer Verschiebung hin zu latenten, nichtreflektierten oder nicht-intendierten (Neben-)Effekten führen kann. Damit ist auch gesagt, dass Funktionen in soziohistorischen Prozessen bzw. in Umbruchphasen entweder direkt neu funktionalisiert werden oder sich bestehende Funktionen in Folge der Veränderung der Kontexte verwandeln. Die Kernaufgabe der Erforschung von Sozialisationsdispositiven besteht folglich in der Rekonstruktion der geschichtlich-gesellschaftlichen Ordnungsprozesse von Sozialisationspraxen, d.h. der Zielund Funktionsbestimmung und Mitteljustierung, sowie in der Erfassung der gewollten und ungewollten Effekte von Sozialisationspraxen innerhalb einzelner und zwischen unterschiedlichen Sozialisationskontexten. Mit Link kann angenommen werden, dass Sozialisationspraxen Funktionen der Normierung und Normalisierung von Kindheit und Jugend beinhalten (vgl. Link 2006: 122; Kelle/Mierendorff 2013: 8), die maßgeblich über Mechanismen der Deutung und Vermessung funktionieren. Normierungen und Normalisierungen erzeugen sowohl intendierte als auch nichtintendierte Differenzierungseffekte. Die Differenzierungsfunktion kann daher als Schnittstelle der auf das Individuum und der auf die Bevölkerung als Ganzer gerichteten Wirkungen bezeichnet werden.

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Die hier skizzierte politisch-soziologische Forschungsprogrammatik versteht sich als Ergänzung zu Arten der alltags- und berufsnahen Forschung auf der einen und zur ungleichheitsorientierten Bildungssoziologie auf der anderen Seite. Angesichts der zunehmenden „sozialen Polarisierung“ (Bauer/Grundmann 2007: 117) von Lebenslagen gilt es, die Wirkungen der unterschiedlichen steuer-, sozial-, familien-, kinder- und bildungspolitischen Faktoren zur Erzeugung un-/gleicher Ausgangsbedingungen von Heranwachsenden zu berücksichtigen, um die Gründe für die Entstehung von sozialer Selektivität erschließen zu können. Aufgrund des erforderlichen Praxisbezugs der Sozialisationsforschung braucht es aber auch an der Erfahrungswelt der AkteurInnen ansetzende interpretativ-rekonstruktive Forschungspraxen. Die Erforschung der (sich globalisierenden) Regierung des Sozialisationsdispositivs eröffnet für diese das notwendige Hintergrundwissen. So eröffnet die Diskurs- und Dispositivforschung einen gemeinsamen Denk- und Bezugsrahmen für die interdisziplinäre Sozialisationsforschung. Sie wirbt für eine Renaissance einer gesellschaftstheoretisch reflektierten, nun notwendig auch globalisierungs- bzw. weltgesellschaftstheoretisch fundierten, interdisziplinären Sozialisationsforschung.

4. R esümee : D er normative S tandort der S ozialisationsforschung Im vorliegenden Beitrag ist das Feld der Sozialisationsforschung und seine historische Entwicklung skizziert worden. Anschließend an die Identifizierung von Forschungsdesiderata ist eine diskurs- und dispositivtheoretische Forschungsperspektive entfaltet worden, welche die aktuelle Transformation von Bildungspolitik im Zuge ihrer Globalisierung zu erschließen ermöglicht. Zum Abschluss soll ein möglicher Wertbezug von Sozialisationsforschung erörtert werden. Eine machtanalytische Sozialisationsforschung sollte ihr Primat in einer methodologischen Haltung haben, weil eine qualitativ gute Kritik auf einer möglichst adäquaten Beschreibung des Seienden basieren muss (vgl. Weber 1992b: 245). Dies schließt vorgefasste Wertbezüge und pauschalisierende Kritik aus. Dies schließt aber nicht aus, dass Sozialisationsforschung eine Kritik der herrschenden Sozialisationsordnung leisten soll. Die Reflexion des eigenen Wertbezugs ist hierbei jedoch Voraussetzung dafür, dass eine Trennung von Gegenstandsdeutung und Werturteil vollzogen werden kann. Der Wertbezug von Forschung soll zugleich so ausgestaltet sein, dass er nicht-direktiv ist und eine ergebnisoffene Forschung mög-

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lich bleibt. So gilt es, aus dem eigenen Wert- und Praxisbezug Formen der Forschung zu erfinden, welche die Subjekte ermächtigen, sich mit dem Bestehenden aktiv auseinandersetzen und bei der Verbesserung ihrer Handlungskontexte effektiv einbringen zu können. Dieser Standpunkt wendet sich explizit gegen die gegenwärtige Konzeption des Bildungsqualitätsmanagements, welches Steuerung und Kontrolle intensiviert und über eine diffuse Hybridisierung von Wissensproduktions- und Kontrollpraxis die Subjekte entmündigt. Damit wird die in der Diskursforschung post Foucault üblicherweise gezogene Trennungslinie zwischen einem habermasschen und einem foucaultschen Diskursverständnis (vgl. Link 2006: 407) brüchig: Die losen Enden zwischen einer politisch-normativen Diskursphilosophie und einer sozialwissenschaftlich-empirischen Analyse von Diskursen müssen als differente Denkstile wieder verknüpft werden. Letztlich unterliegt der Diskursforschung eine – oftmals jedoch unreflektierte – deliberativ-demokratiepolitische Haltung (vgl. Held 2006: 231ff.), für die besonders Jürgen Habermas steht. Eine derart klar positionierte Diskursforschung würde den Wert einer demokratischen Welt-/Gesellschaftsordnung ins Zentrum ihres Forschungsinteresses stellen. Bezogen auf Sozialisations- und Jugendforschung bietet sie mit dem Eintreten für die Beteiligungs- und Mitspracherechte von Kindern und Jugendlichen eine Alternative zum staatlichen Bildungsmonitoring und der Konzeption einer sogenannten evidenzbasierten Bildungspolitik. Die pädagogisch-psychologische Kompetenzmessung á la PISA geht von weitreichenden funktionalistischen Annahmen aus. Mit dem Konzept der „funktionalen Grundbildung“ (Sälzer/Prenzel 2013: 15) wird letztlich behauptet, man erforsche mit Basiskompentenzen Bildung hinreichend. Damit wird nicht nur die Einschätzung von Jugendlichen, Eltern und Fachkräften, sondern auch das breite Spektrum der Forschungsfragen und -ansätze überflüssig. So müsse beispielsweise auch die Qualität politisch-demokratischer Bildung nicht mehr eigens untersucht werden. Demgegenüber wären deliberativ ausgerichtete – politisch sensible – Forschungsagenden, wie z.B. die Erforschung der Frage, wie Schüler und Schülerinnen die Qualität von Schulen beurteilen und wo sie Verbesserungsbedarf sehen, ein wichtiger Baustein für eine demokratiepolitische Ausweitung von Mitsprache und ein Ausgangspunkt für praktische politische Bildung. In Lehre und Praxistransfer muss der Praxis das Hintergrund- und Methodenwissen vermittelt werden, mit der diese selbst eine rekonstruktiv-forschende Haltung einnehmen kann, um Problemlösungen zusammen mit ihren KlientInnen entwickeln zu können. Sozialisationsforschung soll den Raum des Sagbaren ausweiten und sollte versuchen, sich in Praxis einzumischen, indem sie Forschungspraxen entwickelt, die Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung vereinbart.

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Die Praxis deliberativer Demokratie darf nicht dort ihre Grenzen finden, wo angenommen wird, dass das vernunftbegabte Subjekt noch nicht ausgebildet oder irgendwie beschränkt sei. Genau an diesen Orten und im Dialog mit diesen Subjekten muss sie beginnen. Eine kritisch-reflexive Sozialisationsforschung muss aufzeigen, dass einseitige Problembeschreibungen, Zielsetzungen und Dauerevaluation, die das Subjekt der Sozialisation nur als Objekt begreifen, unzureichend sind. Es gilt, Autonomie unter Rückgriff auf umfassendere Konzepte von Bildung wieder neu zu denken: „Selber-Denken, Selber-Urteilen und Selber-Handeln sind für Bildungsprozesse unerlässlich“ (Benner/Brüggen 2004: 196), wie Dietrich Benner und Friedhelm Brüggen in Anlehnung an Herbarts Pädagogik formulieren. Essentielle Ziele von Bildung – selbstreflexive Wege zum geglückten Leben, die Neugestaltung der Formen des sozialen Zusammenlebens, Lösung der globalen ökologischen Herausforderungen, Inspiration demokratischen Engagements und globaler Solidarität – müssen gegen die Verengung des Bildungsbegriffs in der politisch protegierten Empirischen Bildungsforschung affirmativ behauptet werden. Auch davon wird abhängen, ob den „Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung“ (Habermas 1998) und denen der Globalisierung von Politik hinreichend begegnet werden kann. Das diskursiv konstruierte Modell von Kindheit steht gegenwärtig zur Disposition (vgl. Honig 2002: 310). Die Dispositive seiner Realisierung befinden sich in einem Transformationsprozess, der maßgeblich über die Vereinnahmung von Forschung im Kontext staatlichen Bildungsmanagements auf Verzweckung von Bildung und insbesondere auf eine Verwettbewerblichung von Schule zielt. Einzufordern ist daher, dass es eine Wissenschaft geben soll, die (relativ) frei von unmittelbardirektiven Einflussnahmen durch die Politik agieren kann. Die Anerkennung der normativen Grenzen einer politischen Einflussnahme auf Forschungsagenden ist eine zentrale Voraussetzung für eine demokratische Ordnung von Gesellschaft.

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Ein säkularer Irrtum? Zur Stellung des Individuums in den Menschenrechtsdebatten nach 1945 ANNE RETHMANN „Wir sind dreiundzwanzig politische Gefangene aus dem Gefängnis soundso in Sichuan, wir glauben an den Umsturz des Regimes und die Verwirklichung der Demokratie und hoffen, dass wir draußen nicht vergessen werden. Danke.“ (Wan Baocheng zit. nach Yiwu 2009: 351) „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum NichtMitmachen.“ (Theodor W. Adorno 1970a: 97)

1. E inleitung Nach der Stellung des Individuums in den Menschenrechten nach 1945 zu fragen, scheint auf den ersten Blick überflüssig zu sein. Die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 und die darauffolgenden Menschenrechtskonventionen stellen doch gerade das autonome Individuum in den Mittelpunkt bzw. setzen es voraus. Mit der Gründung der Vereinten Nationen und der UN-Deklaration hat eine Verrechtlichung der Menschenrechte eingesetzt, die wesentlich dazu beiträgt, dass die Vorstellung von den einzelnen Menschen als Rechtssubjekte, d.h. als Träger von individuellen Rechten, globalisiert wird. Dieser Prozess ist jedoch nicht deshalb

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problematisch, weil die damit verbundene Idee des Menschen als ein potenziell für sich selbst denkendes Wesen ihren Ursprung in der Aufklärung hat, also regional entstanden ist und dennoch universelle Geltung beansprucht, sondern weil er blind gegenüber den vom Individuum nicht zu trennenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu sein scheint. Denn zum einen ist vor dem historischen Hintergrund der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, welche sowohl die physische als auch geistige Auslöschbarkeit des Individuellen de facto bewiesen hat, das bruchlose Anknüpfen an aufklärerische Ideale – wie dem vom autonomen Individuum – nicht ohne Weiteres möglich. Nach der Menschheitskatastrophe Auschwitz1 ein moralisches Subjekt und somit ein eigenverantwortlich handelndes Individuum vorauszusetzen, anstatt sein Fehlen zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen, zeugt von einer gewissen Indifferenz gegenüber der Wirklichkeit. Zum anderen ist durch die weltweite Durchsetzung industrieller Massenproduktion ein Netz von Abhängigkeiten geschafft worden, „in dem wir oft vergeblich nach Luft schnappen.“ (Bauer 1955: 182) Es wird einem alles andere als leicht gemacht, selbst den eigenen Lebensinhalt zu bestimmen und Verantwortung zu übernehmen (vgl. Bauer 1955: 182). Und gleichwohl ist wider die empirische Realität das Festhalten an dieser Idee unerlässlich – vor allem in Fragen von Menschenrechten. Denn einerseits ist für die Einzelnen die Vorstellung vom autonomen Individuum eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, sich gegen private und staatliche Willkür wehren zu können, und andererseits ist es allein dadurch erst möglich, Fragen nach Verantwortlichkeit und strafrechtlicher Schuld zu stellen. Die große Bedeutung der Rechtsprechung liegt nach Hannah Arendt dann auch darin, dass „sie ihre Aufmerksamkeit auf die Person des Einzelnen richten muß, und das selbst im Zeitalter der Massengesellschaft, wo jeder der Versuchung unterliegt, sich

1 Detlev Claussen hat in Anlehnung an Adorno darauf hingewiesen, dass es sich bei der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten, für die der Name Auschwitz steht, nicht um eine partikulare Katastrophe handelt, sondern um eine die ganze Menschheit betreffende, die nichts unberührt lässt: „Die Barbarei existiert inmitten der Zivilisation. Auschwitz markiert den äußersten Punkt in der Kette des Barbarischen, das aber nicht mit den Konzentrationslagern verschwunden ist. Es lebt fort in der psychischen Verfassung der Menschen ebenso wie in den gesellschaftlichen Bedingungen, die kaltes Massentöten von Millionen friedlicher unbewaffneter Menschen ermöglichten.“ (Claussen 1987: 7) Zur Problematik wissenschaftlicher Erklärungsversuche und der Bezeichnung dieser „weltgeschichtlichen Katastrophe“ siehe Claussen 1988.

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nur als ein Rädchen in einer Art von Maschinensystem zu sehen“ (Arendt 2007: 21). Das Abwälzen von Verantwortung komme daher im Moment des Betretens des Gerichtssaales zum Stillstand (vgl. Arendt 2007: 21). Nicht für seine Gesinnung, sondern für seine Taten wird er zur Rechenschaft gezogen. Demzufolge ist es nicht bloß eine rechtstheoretische Angelegenheit, sondern von gesellschaftlicher Relevanz, das Individuum als ein potenziell zum Selbstzweifel und zur Selbstkritik fähiges Wesen zu denken. Nicht affirmativ, sondern deskriptiv betrachtet, bleibt in der gegenwärtigen Welt der Kampf um Freiheit ein Kampf um Rechte, genauer gesagt, um die Stellung des Individuums in diesen. Dass Letzteres nicht selbstverständlich ist, zeigen die seit den 1990er Jahren verstärkt geführten Debatten um Gruppenrechte als Menschenrechte2, die sich gegen die Idee des Individuums als alleiniges Menschenrechtssubjekt stellen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Fokus auf die Unterscheidung von Politik und Recht einerseits und Sozialem andererseits gelegt werden, um die Möglichkeiten, aber eben auch Grenzen der Menschenrechte bewusst zu machen und nicht zuletzt auch fragen zu können, ob kollektivrechtlich konzipierte Menschenrechte überhaupt noch als Menschenrechte zu bezeichnen sind.3 Ziel dieses Aufsatzes ist allerdings nicht, die verschiedenen Positionen zu Gruppenrechten als Menschenrechte und die damit einhergehenden kulturrelativistischen Legitimationsversuche im Detail darzulegen.4 Vielmehr soll auf die praktischen Konsequenzen einer Übertragung von Identitätspolitiken auf Rechtsfragen reflektiert werden. Um nachvollziehbar zu machen, warum das Festhalten an der Idee eines autonomen Individuums die Menschenrechte nicht zu einem eurozentristischen „Pseudo-Konzept“ (MacIntyre 1981: 258) macht, werde ich die Kritische

2 Gruppenrechte und Kollektivrechte werden in dem Aufsatz synonym verwendet (korporative Rechte wie die von Vereinen oder Unternehmen spielen hier keine Rolle). Davon zu unterscheiden sind gruppenbezogene Rechte, bei denen weiterhin das Individuum Rechtsträger ist (vgl. Jones 2010, Bisaz 2012: 8f.). Es ist wichtig, diesen kategorialen Unterschied zur Kenntnis zu nehmen. 3 Vgl. dazu auch Donnelly (2002), der Gruppenrechte nicht per se verneint. Allerdings betont er, dass diese dann eben keine Menschenrechte sind. 4 Dies wurde in den wissenschaftlichen Debatten der letzten zwei Dekaden ausführlich diskutiert. Zur Kritik am Kulturrelativismus in Menschenrechtsfragen z.B.: Donnelly 2007, Galanos 2010, Kukathas 1992.

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Theorie der sogenannten ersten Generation mit Hannah Arendt in einen Dialog bringen, sozusagen ihre „Affinität wider Willen“ (Weissberg 2011) aufzeigen. In einem ersten Schritt soll zunächst der Gemeinschaftsbegriff problematisiert werden, da er einen breiten Widerhall bei den gegenwärtigen Diskussionen um Gruppenrechte findet. Ein Blick in die jüngere Menschenrechtsgeschichte kann dann aufklären, warum diese 1948 individualrechtlich konzipiert worden sind. Dadurch wird nicht nur die universelle Geltung der Menschenrechte begreifbar, sondern zudem auch sichtbar, dass schon damals das Verhältnis von individuellen Menschenrechten und nationalem, d.h. kollektivem Selbstbestimmungsrecht zentraler Gegenstand der Diskussionen war. Diese Frage, d.h. die Frage nach dem Rechtssubjekt und den Bedingungen von Menschenrechten wird im vierten Abschnitt aufgegriffen. Die von Franz Neumann formulierte Dialektik von staatlicher Souveränität und individueller Freiheit und Hannah Arendts Überlegungen zum Zusammenhang von nationalem Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten können auf diese Frage zwar keine eindeutige, aber dafür eine differenzierte, am Individuum orientierte Antwort geben. Zuletzt werden die Möglichkeiten und Grenzen der Kritik an den Menschenrechten nochmals zusammengefasst. Insbesondere die letzten beiden Abschnitte vermögen an das übergreifende Thema dieses Sammelbandes anzuknüpfen, welcher danach fragt, inwiefern interdisziplinäres Arbeiten möglich und notwendig ist. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen interdisziplinären Arbeitens deutlich, die immer dann zum Vorschein kommen, wenn es um die Frage des Maßstabes von Kritik geht. Letzteres – insbesondere in diesem Kontext bestimmt durch die konsequente Orientierung am Individuum – ist sozusagen interdisziplinäres Arbeiten ermöglichendes, aber gegebenenfalls auch dessen begrenzendes Moment.

2. R echt

auf

G emeinschaft

oder

R echt

auf

D istanz

Es lohnt sich, einen kleinen Umweg über Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ von 1924 zu machen. Sein darin formuliertes Recht auf Distanz ist insofern relevant für heutige Menschenrechtsdiskussionen, als es daran erinnert, dass nicht etwa die Freiheit einzelner Gruppen, sondern die Freiheit der einzelnen Menschen von zentraler Bedeutung ist. So heißt es bei ihm: „Mit der gesinnungsmäßigen Preisgabe eines Rechts auf Distanz zwischen Menschen im Ideal gemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung ist der Mensch selbst bedroht.“ (Plessner 2001: 29) Plessner verstand das aufkommende Bedürfnis

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nach Gemeinschaft als Ausdruck einer allgemeinen Zivilisationsmüdigkeit und er versuchte mit seiner Denkfigur einer „Sehnsucht nach den Masken“ den Begriff der Gesellschaft und das Gesetz des Abstandes gegen die Gemeinschaftsutopien jener Zeit zu retten. Nicht nur Siegfried Krakauer lobte seine „Kritik des sozialen Radikalismus“, die ernste Beachtung verdiene, „da sie sich wider weit verbreitete Stimmungen wendet und bloße Schwärmerei an Besinnung gemahnen möchte.“ (Krakauer 2002: 359) Auch Theodor W. Adorno bezog sich indirekt auf die Kritik Plessners, als er 1952 in seinem Aufsatz Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung die von dem Soziologen Ferdinand Tönnies etablierte Einteilung sozialer Verhältnisse in Gesellschaft und Gemeinschaft kritisierte. Tönnies habe nicht nur ein „partielles Moment zum alleinherrschenden erhoben, sondern dem Unfug Tür und Tor geöffnet.“ (Adorno 2003c: 481) Mit Unfug meinte Adorno die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus, der Tönnies mit seiner Gegenüberstellung von schlechter Gesellschaft und guter Gemeinschaft ungewollt eine Legitimationsgrundlage verschaffte. Das, was Adorno jedoch in seinem Aufsatz kritisierte, ist nicht lediglich die Einteilung von Tönnies, sondern vor allem die kritiklose Übernahme dieser Dichotomie und Denkweise durch die Soziologie nach 1945. Die Relevanz dieser Kritik für die heutigen Diskussionen um Menschenrechte wird im Rekurs auf die Genese ihrer widerspruchsvollen jüngeren Geschichte deutlich. Denn im Gegensatz zu den ersten Jahren nach der UN-Menschenrechtsdeklaration werden seit den 1970er Jahren die Menschenrechte nicht nur vermehrt als eurozentristisches Konzept wahrgenommen oder gleich als zwar schöne, aber dennoch „reine Fiktion“ (MacIntyre 1981: 70) ad acta gelegt, sondern seitdem werden Kollektivrechte als Menschenrechte sowohl im akademischen als auch außerakademischen Bereich diskutiert.5 Um die Menschenrechte zu aktualisieren, d.h. sie an

5 Aufsatzsammlung zu Gruppenrechten: Jones 2009. Zum Verhältnis Gruppenrechte und Menschenrechte allgemein: s. Jones 1999, Bisaz 2012: 153-154. Dafür sprechen sich aus: Taylor 2001; Kymlicka 1989; 2001; Shapiro und Kymlicka 1997; dagegen: Waldron 2002; Tamir 1999; Okin 2002; Donnelly 2002. Zwar gibt es nicht immer einen unmittelbaren Zusammenhang von akademischen und außerakademischen Debatten, aber gerade anhand der Begriffe wie Identität und Würde wird deutlich, dass diese nicht in einem luftleeren Raum stattfinden. Da diese zentral für die Ausgestaltung von Rechtsinstrumenten sind, ist die Verantwortlichkeit der Wissenschaft daher implizit zu verstehen. Eine unkritische Verwendung von Identitätskategorien ist vor diesem Hintergrund jedenfalls als verantwortungslos zu bezeichnen.

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die gegenwärtigen Bedingungen anzupassen, sei es unerlässlich, sie weiterzuentwickeln hin zu den sogenannten Menschenrechten der dritten Generation6, die nicht mehr die Einzelnen als Rechtssubjekte vorsehen, sondern eine Gruppe (Casals 2006; Felice 1996; Kymlicka 2001). Die Abkehr von der Idee des Individuums als alleiniges Menschenrechtssubjekt zeichnet sich – zumindest auf globaler Ebene – zwar weniger in den Rechtstexten ab; zu problematisieren wäre allerdings die Tatsache, dass Gruppenrechte im Rahmen von Menschenrechten überhaupt diskutiert werden, und dies, obwohl die Rechtsgeschichte daran erinnert, dass „der Begriff der ‚Gemeinschaft‘ in Deutschland einmal eine prominente Rolle bei der Ausarbeitung einer totalitären Rechtstheorie gespielt hat.“ (Gutmann 1996: 9)7 Zwar beschäftigen sich liberale Kommunitaristen wie Will Kymlicka und Charles Taylor (2001) nicht nur mit dem Verhältnis der Gemeinschaft zum Staat, sondern auch mit der Frage, wie die Einzelnen zur Gemeinschaft stehen. Sie orientieren sich dabei aber an einem sozialen Begriff von Gemeinschaft, der in einer romantischen Tradition steht und zum Ausgangspunkt eine durch Sprache und Kultur geprägte Herkunftsgemeinschaft hat.8 Wenn im Folgenden also der Gemeinschaftsbegriff verwendet wird, diskutiere ich ihn im Zusammenhang mit einer Denkweise, die als Ausgangspunkt durchaus die einzelnen Menschen haben kann, diese aber letztendlich der Gemeinschaft unterordnet und somit verdoppelt, was an den realen Verhältnissen zu kritisieren wäre: Zwang zur Anpassung und Angleichung individueller Unterschiede. Helmuth Plessners Gesetz des

6 Dazu zählt in erste Linie das Recht auf Selbstbestimmung der Völker, welches in den Menschenrechtspakten von 1966 bereits aufgenommen worden ist (siehe Abschnitt 4). Die Rechte auf Entwicklung, Frieden und sauberes Wasser, um nur einige der kollektiven Solidaritätsrechte zu nennen, wurden erst in den 1990er Jahren explizit formuliert. Diese sind streng genommen keine juridischen Rechte, sondern moralpolitische Forderungen. Von dem 1966 geschlossenen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der die Gewährleistung von materiellen und kulturellen Standards sichern soll, unterscheidet sich die verstärkte Aufmerksamkeit, die dem Stellenwert der Kultur in der Konzeption der Menschenrechte seit den letzten zwei Dekaden eingeräumt wird, insofern, als hierbei Rechte kollektivrechtlich konzipiert werden. 7 Zum nationalsozialistischen Verständnis vom Menschen siehe Abschnitt 3. 8 Ein an aufklärerische Ideen anknüpfender Ansatz würde dagegen Gemeinschaft im politischen Sinne verstehen und wäre mit seiner Orientierung an Individualrechten an die Zukunft gerichtet. Dazu bspw. Arendts Aufsatz Freiheit und Politik von 1958 (2012).

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Abstandes kann somit auch heute noch als klarer Einspruch gegen „das Streben nach Angleichung aller Unterschiede“ (2001: 29) verstanden werden und wendet sich zudem gegen die arglose Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs.9 Vor allem die regional entstandenen Rechtsinstrumente, die den Terminus Gemeinschaft juridisch rehabilitiert haben, verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht lediglich um eine akademische Herausforderung für die Menschenrechte handelt, sondern um eine realpolitische. So erklärte 1981 die Banjul-Charta, die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, die Gruppe zum Menschenrechtssubjekt und setzte dies rechtverbindlich durch. Weitere Deklarationen, die ebenfalls eine Gruppe als Menschenrechtssubjekt anerkennen, haben zwar keine Rechtsverbindlichkeit, sind aber politisch, insbesondere innenpolitisch in den jeweiligen Ländern von Bedeutung. Zu nennen wären die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, die Charta der Menschenrechte der Arabischen Liga von 1994, die 2004 überarbeitet wurde, und schließlich die 2007 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Deklaration der Rechte indigener Völker.10

9 Samuel Moyn weist jedoch darauf hin, dass die UN-Deklaration zwar individualrechtlich, aber entgegen weitverbreiteter Annahme nicht individualistisch im Sinne der Aufklärung ausgerichtet ist (vgl. Moyn 2010: 71). Stattdessen hat sie an personalistische Rechtsauffassungen und deren positiv formuliertes Naturrecht angeknüpft. Damit habe die Deklaration Gemeinschaft gerade nicht ausgeschlossen (vgl. Moyn 2010: 90), sondern sie bietet die Andockstelle für die später folgenden Einwände gegen die individualrechtliche Ausrichtung der Menschenrechte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Naturrechtsideen per se zu verwerfen seien. Denn der bis 1945 dominierende Rechtspositivismus konnte dem gesetzlichen Unrecht im nationalsozialistischen Deutschland (vgl. Radbruch 1946; Bauer 1955: 179f.) wenig bzw. nichts entgegensetzen. Fritz Bauer ließ am Frankfurter Justizgebäude die Worte anbringen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dies – so Claussen – sollten wir allerdings nicht als positivistische Tatsachenbehauptung verstehen, sondern negativ im Sinne von Adornos kategorischem Imperativ (vgl. Claussen 2013b: 117), „Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ (Adorno 2003b: 358) 10 Die Kairoer Erklärung wurde von der Organisation Islamische Konferenz verfasst und beruht auf der Scharia als alleiniger Grundlage. Die Charta der Arabischen Liga wurde als Antwort auf die Kairoer Erklärung verfasst und bestätigt sowohl die Kairoer Erklärung als auch die UN-Deklaration. Damit wird allerdings die UN-Deklaration mit ihrem individualrechtlichen Ansatz ad absurdum geführt.

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Was heißt das nun, wenn diese Form der Identitätslogik auf (Menschen-) Rechtsfragen übertragen wird? Abgesehen von den viel diskutierten (nichtexistenten) Frauenrechten der Scharia lässt sich die Problematik in der Auseinandersetzung um Landrechtsfragen aufzeigen. Ein Schauplatz dieser Entwicklung ist insbesondere der Bereich indigener Rechte. So werden Menschen heute regelrecht dazu gedrängt, sich zu einem Kollektiv zu formieren, weil erst ihre proklamierte kulturelle Besonderheit ihnen erlaubt, überhaupt Rechtsansprüche wie die auf Wasser oder Nahrung stellen zu können. Das Problem, welches mit dieser Identitätslogik von Individuum und Gruppe einhergeht, beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass die Einzelnen mit der Gruppe identisch gesetzt werden, sondern dass all jene Menschen, die keinem Kollektiv zugeordnet werden, aus dem Rahmen rechtlicher Möglichkeiten herausfallen.11 Dies trifft beispielsweise heute in Kolumbien auf die Gruppe der Kleinbauern zu, die im Gegensatz zur indigenen oder afrokolumbianischen Bevölkerung nicht über die entsprechenden Anerkennungsmechanismen verfügt. Wie solche auf Identitätslogiken beruhenden Ausschlüsse zudem auf legalem Weg vollzogen werden, zeigt der Beschluss der Cherokee aus dem Jahr 2007. Diese haben der eigenen schwarzen Bevölkerung die Mitgliedschaft aufgekündigt und dadurch nicht nur die eigene Verstrickung mit dem Sklavenhandel im 19. Jahrhundert ausgeblendet, sondern auch die 1866 in dem Vertrag mit der US-Regierung festgehaltene Zuerkennung gleicher Rechte für ihre ehemaligen schwarze Sklaven zurückgenommen.12 Diese Entwicklungen zeigen, dass die Einzelnen somit nicht nur dazu gezwungen werden, sich zu einer kollektiven Identität zu bekennen, sondern dass sie sich außerdem in einem dauerhaften Kampf um Anerkennung befinden, der mit der Identitätslogik zwangsläufig einhergeht. Mit diesen Beispielen soll jedoch nicht die Existenz von gruppenbezogener Diskriminierung per se in Frage gestellt werden. Nur kann die Lösung für die materielle Ungleichheit nicht die rechtliche Ungleichheit sein (vgl. Salzborn 2005: 142). Das Recht kommt hier an seine Grenzen und es bedarf einer gesellschaftspolitischen Antwort. Denn auch wenn gruppenrechtlich verfasste Menschenrechte auf eine Verbesserung der Lebensumstände zielen mögen, laufen sie stets Gefahr bzw. ist es ihnen inhärent, neue Ausgrenzungslinien zu 11 Wie sich in einem wohl bemerkt rechtsfreien Raum diese Identitätslogik in eine mörderische Großoffensive entwickeln kann, führen uns aktuell Anhänger des Islamischen Staates im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen. 12 Vgl. Artikel 9 der Treaty with the Cherokee, 1866: (http://digital.library.okstate.edu/ kappler/Vol2/treaties/che0942.htm, Datum des Zugriffs 01.11.2014)

ZUR STELLUNG DES INDIVIDUUMS IN DEN MENSCHENRECHTSDEBATTEN NACH 1945 | 297

produzieren, indem sie diejenigen gewaltsam ausschließen, die nicht zur Gruppe hinzugezählt werden. Gegenwärtige FürsprecherInnen von Kollektivrechten, die den Gemeinschaftsbegriff in Menschenrechtsfragen zu etablieren versuchen, sehen sich daher mit dem Einwand konfrontiert, dass sie sowohl die realpolitischen Verhältnisse der Gegenwart als auch den historischen Entstehungskontext der Deklaration zu ignorieren scheinen oder zumindest nur als zweitrangig betrachten.

3. Z ur

jüngeren

M enschenrechtsgeschichte

Vor nun mehr als 65 Jahren wurde die UN-Menschenrechtsdeklaration von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit 48 Zustimmungen und acht Enthaltungen angenommen und am 10. Dezember 1948 feierlich in Paris verkündet.13 Sie ist das Ergebnis von zwei Jahre andauernden Verhandlungen und Debatten in der UN-Menschenrechtskommission, die 1946 als Fachkommission des UNWirtschafts- und Sozialrates gegründet und mittlerweile vom UN-Menschenrechtsrat abgelöst worden ist. Anfang 1947 hatte die aus 18 ExpertInnen bestehende Kommission unter der Leitung von Eleanor Roosevelt ihre Arbeit aufgenommen, deren Hauptaufgabe darin bestand, einen internationalen Menschenrechtskatalog auszuarbeiten. Die Sowjetunion, Chile, Thailand, Liberia, die Philippinen, Pakistan, Saudi Arabien, Südafrika, Australien, Großbritannien und Belgien schickten Delegierte in die Kommission, die jeweils ihre Einwände und Anträge auf Veränderungen einbrachten (vgl. Morsink 1999). Bereits 1947 erhielt die UN-Menschenrechtskommission ein Statement on Human Rights, welches vom US-amerikanischen Ethnologen Melville Herskovits im Namen der American Anthropological Association (AAA) verfasst wurde. Darin warnte Herskovits, dass der individualrechtliche Fokus der Deklaration lediglich den Respekt vor dem Individuum als Individuum ausdrücke und damit verkenne, dass die Einzelnen stets auch als Mitglied einer sozialen Gruppe zu verstehen seien:

13 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte zu diesem Zeitpunkt 58 Mitgliedstaaten; 48 Staaten stimmten mit Ja, darunter auch stark muslimisch geprägte Länder wie Pakistan, Iran, Irak oder Ägypten. Zwei Länder (Honduras und Jemen) waren nicht anwesend.

298 | ANNE RETHMANN „In a world order, however, respect for the cultures of differing human groups is equally important. […] Yet if the essence of the Declaration is to be, as it must, a statement in which the right of the individual to develop his personality to the fullest is to be stressed, then this must be based on a recognition of the fact that the personality of the individual can develop only in terms of the culture of his society.“ (Herskovits 1947: 439f)

Der Einwand von Herskovits mag auf den ersten Blick berechtigt sein, wollte er doch zum Ausdruck bringen, dass Menschen eben nicht als voneinander isolierte Monaden, sondern als soziale Wesen zu begreifen sind. Dennoch zeigt sich hier ein bis heute andauerndes Missverständnis in Bezug auf die Frage, was die Menschenrechte leisten können und was nicht. Denn die Menschenrechte haben nicht Differenz, sondern Gleichheit, und zwar die abstrakte Gleichheit von Menschen, zum Ausgangspunkt. Wenn in der ersten These der AAA-Erklärung also betont wird, dass das Individuum seine Persönlichkeit erst durch seine Kultur realisiere und dies dann erfordere, kulturelle Differenzen zu respektieren (vgl. Herskovits 1947: 541) und letztendlich entsprechende Rechtsinstrumente einzurichten, ist dies insofern doppelt falsch, als damit erstens soziale und rechtliche Fragen vermischt werden bzw. das Recht kulturalisiert14 wird und zweitens behauptet wird, dass die individuelle Persönlichkeit sich ausschließlich in der Kultur der jeweiligen Gesellschaft entwickeln könne. Kultur wird damit nicht nur verabsolutiert, d.h. mit den Einzelnen identisch gesetzt, sondern es kann auch nicht mehr gefragt werden, inwiefern gerade diese Kultur individuelle Persönlichkeitsentwicklung verhindert.15 Die Stellungnahme verwies folglich auf den Pluralismus nicht zwischen den einzelnen Menschen, sondern zwischen Menschengruppen:

14 Unter Kulturalisierung der Menschenrechte verstehe ich die Berufung auf kulturelle Besonderheiten einer Menschengruppe und die damit einhergehende Abkehr von der Idee, dass jeder Mensch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung mit gleichen individuellen Rechten ausgestattet sei. Vielmehr wird bei diesem Absolutsetzen des Kulturellen von einem moralischen Pluralismus ausgegangen, der sich nicht auf individuelle, sondern kollektive Unterschiede stützt. 15 Hier wäre unter anderem das Recht auf Glaubensfreiheit und das Recht auf freie Eheschließung zu nennen, die im Namen von Kultur und Tradition oftmals Frauen vorenthalten werden (siehe weiter unten: Saudi-Arabiens Enthaltung bei der Abstimmung zur Menschenrechtsdeklaration). Zudem ist der Begriff der Kultur in der Stellungnahme unpräzise. Er mutiert, wie Claussen in Bezug auf den Nationenbegriff festhält, zu einem leeren Container, der nichts mehr zu bezeichnen vermag (vgl. Claussen 2013a).

ZUR STELLUNG DES INDIVIDUUMS IN DEN MENSCHENRECHTSDEBATTEN NACH 1945 | 299 „Ideas of right and wrong, good and evil are found in all societies, though they differ in their expression among the peoples. What is held to be a human right in one society may be regarded as anti-social by another people, or by the same people in a different period of their history.“ (Herskovits 1947: 542)

Diese Feststellung ist in erster Linie banal. Denn das Vorhandensein von unterschiedlichen Moralvorstellungen wurde von den Verfassern der Deklaration keineswegs bestritten. Die AAA nimmt hingegen selbst eine Homogenisierung vor, indem sie davon ausgeht, dass Werte einer bestimmten Gruppe umstandslos von allen Mitgliedern geteilt werden. Neben der Übertünchung von internen Unterdrückungsverhältnissen führt dies dazu, dass Denk- und Handlungsweisen nur noch beschrieben oder funktional erklärt werden können; sie einer Kritik zu unterziehen, wird dagegen unmöglich. Der aus positivistischen Überlegungen motivierte Kulturrelativismus16 bleibt allerdings bei der simplen Feststellung von oberflächlichen regionalen Unterschieden nicht stehen, sondern er hat eine politisch-praktische Seite mit folgenschweren Implikationen für die Einzelnen, insbesondere dann, wenn diese interne Widersacher sind. Dies wird jedoch nicht bedacht, sondern in dem Statement wird die Kommission vielmehr darauf hingewiesen, dass sogenannte westliche Werte kaum universelle Geltung beanspruchen könnten (vgl. Herskovits 1947: 539). Darüber hinaus kommt in dem Statement die drastische Verkennung des historischen Kontextes zum Ausdruck: die Deklaration entstand drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der fast vollständigen Vernichtung der europäischen Juden. Mit ihrem expliziten Fokus auf das Individuum sollte sie zukünftig die Einzelnen vor unmittelbaren Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen schützen. Damit stellte sie sich zugleich gegen die völkische Umdefinierung der Menschenrechte durch den Nationalsozialismus, der das Kollektiv zum Rechtssubjekt erklärt hatte. Adolf Hitler hatte in Mein Kampf diese Umdeutung bereits vorweggenommen, wenn er darin schreibt, dass Menschenrecht Staatsrecht breche (Hitler 1925/1933: 105) und dem voranstellt, dass Staatsautorität als Selbstzweck zu verneinen sei,

16 Zweite und dritte These der AAA-Erklärung: „2. Respect for differences between cultures is validated by the scientific fact that no technique of qualitatively evaluating cultures has been discovered. […] 3. Standards and values are relative to the culture from which they derive so that any attempt to formulate postulates that grow out of the beliefs or moral codes of one culture must to that extent detract from the applicability of any Declaration of Human Rights to mankind as a whole.“ (Herskovits 1947: 542)

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„da in diesem Falle jede Tyrannei auf dieser Welt unangreifbar und geheiligt wäre.“ (Hitler 1925/1933: 104) Neumann kritisierte 1944 in Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 die Idee der Volksgruppen, weil bei dieser die Abstammung Vorrang bekomme vor der Staatsangehörigkeit (vgl. 1984: 206-207). Nicht nur konterkariere die Übersetzung dieser Idee ins Recht das Recht selbst, sondern Neumann zeigt, dass dies ganz konkrete politische, rechtliche, bis hin zu existenziellen Konsequenzen für diejenigen hat, die sich in keiner dieser „normalisierten Fiktionen“ (vgl. Salzborn 2005: 53) namens Volksgruppe einordnen lassen. Es muss demnach Pflicht sein, genau hinzuhören, wenn von Menschenrechten, Freiheit, Selbstbestimmung, aber auch von Staatskritik damals wie heute die Rede ist. So bestand bei der Entstehung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 nicht nur Konsens darüber, dass das vorherige völkerrechtliche System gescheitert war, sondern die Uminterpretation des Minderheitenrechts der Weimarer Republik in ein Volksgruppenrecht wurde mitgedacht. Es wurde also gerade keine auf Kollektive ausgerichtete Identitätspolitik, sondern das System eines individuellen Menschenrechtsschutzes konzipiert. Es greift allerdings zu kurz, die Deklaration allein und ausschließlich als Reaktion auf den Nationalsozialismus zu verstehen. Fast alle 30 Artikel reflektieren auf die von den Deutschen verübten Gräueltaten, aber in der Charta sind auch Forderungen wie die nach der Gleichstellung der Frau und der kolonisierten Bevölkerung enthalten, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg artikuliert worden sind (vgl. Morsink 1999: 37). Ihnen Eurozentrismus vorzuwerfen und die Charta als Extension kolonialer Politik zu verstehen, die unter der Doktrin der „white man’s burden“ (Herskovits 1947: 540) zu fassen sei, geht an den historischen Fakten vorbei. So sprachen sich in den 1950er Jahren im Schatten des Ost-West-Konflikts und im Kontext der Unabhängigkeitskämpfe der damaligen Kolonien gerade Delegierte aus Ländern wie Indien, Irak, Pakistan oder Ägypten für die Universalität der Menschenrechte aus (vgl. Burke 2010: 147), wie die folgende Stellungnahme der irakischen Delegierten und Frauenrechtlerin Bedia Afnan vor dem Hauptausschuss 3 der Generalversammlung im Jahr 1950 verdeutlicht: „Difference of culture and tradition were no obstacle whatever to the universal application of the provisions of the covenant […] nowadays it could no longer be claimed that some civilizations were essentially different from others.“ (zitiert nach Burke 2010: 112)

Im Gegensatz zu heute waren es damals allen voran europäische Staaten, vor allem jene Länder, die noch Kolonialmächte waren, die in der Debatte kulturrelati-

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vistische Positionen vertraten (vgl. Burke 2010: 114). Die Stellungnahme der AAA zeugt also von einer erstaunlichen Blindheit gegenüber den damaligen politischen Verhältnissen. Während die VerfasserInnen der Deklaration die Stellungnahme ignorierten, scheint das Memorandum der AAA jedoch gerade dann an Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn es darum geht, die Menschenrechte in Misskredit zu bringen (vgl. Morsink 1999: x). Mit Berufung auf die eigene Andersartigkeit wandte sich beispielsweise Saudi Arabien gegen die Formulierung im Artikel 16, die sich auf gleiche Heiratsrechte von Frauen und Männern bezieht, und lehnte die Klausel in Artikel 18 ab, die das Recht auf Religions- und Glaubenswechsel vorsieht (vgl. Morsink 1999: 24). Saudi Arabien war neben Südafrika, der Sowjetunion und den Ostblockstaaten eines der acht Länder, das sich bei der Abstimmung über die Deklaration enthielt, wobei aber Saudi Arabien als einziges Land kulturalistisch argumentierte. Die positive Haltung gegenüber der Universalität der Menschenrechte seitens nicht-westlicher Länder in den 1950er Jahren sollte sich dann im Zuge der Dekolonisierungsprozesse ändern. Der koloniale Kulturrelativismus, wie Roland Burke die Haltung der damaligen europäischen Kolonialmächte in Menschenrechtsfragen bezeichnet (vgl. Burke 2010: 119), wurde von den Regierungen postkolonialer Staaten aufgegriffen und ging über in einen radikalen Kulturrelativismus, der den Fokus auf das Individuum als eurozentristische Fiktion verwarf. Gleichzeitig wurde das Recht auf nationale Selbstbestimmung nicht als Mittel zum Zweck, als notwendige Bedingung zur Durchsetzung der Menschenrechte, sondern in dezisionistischer Manier als Zweck an sich betrachtet. In Anbetracht der Verwendung kulturrelativistischer Argumente durch politische Akteure postkolonialer Staaten mit dem einzigen Zweck, ihr brutales Vorgehen gegen Oppositionelle im eigenen Land zu verteidigen, haben viele EthnologInnen die Haltung der AAA zur Menschenrechtsdeklaration im Nachhinein kritischer gesehen (Engle 2001: 536). Umso mehr verwundert es, dass im akademischen Betrieb nach wie vor an dem Kultur- und Identitätsbegriff affirmativ festgehalten wird. Zwar gehen gegenwärtige Auffassungen von Ethnizität und Kultur nicht mehr zwangsläufig mit biologistischen Rechtfertigungsstrategien und/oder einem expliziten Verweis auf eine vermeintlich unveränderliche territoriale Bindung einher, aber weiterhin wird dem Kulturellen gegenüber dem Individuum Vorrang eingeräumt. Kultur wird in diesem postmodernen Verständnis zwar nicht mehr starr, aber dafür höchst dynamisch gedacht, und dies weniger, um das Veränderungspotenzial von Kultur zu betonen, sondern um ihre vermeintlich ständige Veränderung und

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grenzenlose Flexibilität zu beschreiben. Hier wird Flexibilität behauptet, wo gesellschaftlichen Zwänge diese verneinen.17 Es stellt sich erneut die Frage: Wie kann dann noch der Mensch als ein potenziell für sich selbst denkendes, zu sich selbst in Distanz tretendes und somit zur Einbildungs- und Urteilskraft fähiges Wesen gedacht werden? Um diese und um mit ihr verwandte Problemstellungen kreisen die letzten beiden Abschnitte. Zunächst werden Hannah Arendts Überlegungen zum Zusammenhang vom nationalem Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten als auch Neumanns Kritik dezisionistischer Rechtsauffassungen in die Analyse mit einbezogen.18

17 Eine paradigmatische Auffassung solch postmoderner Kultur und Identität findet sich bei Homi K. Bhabha in The Location of Culture (1994). Der Fokus liegt bei diesen hybriden Kultur- und Identitätskonzepten weniger auf den wie auch immer akzentuierten kulturellen Besonderheiten verschiedener Gruppen, sondern auf der Existenz unendlicher kultureller Identitäten im Individuum selbst. Dass es sich hierbei um eine Verdoppelung bzw. Potenzierung handelt, nicht aber um ein Ausbrechen aus der Identitätslogik, wie dies Adorno insbesondere in seiner Negativen Dialektik fordert, wird nicht erkannt. 18 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob Menschenrechte als juridische Rechte gelten. Denn nur dann macht es Sinn, Neumann mit in die Diskussion zu nehmen. Ihr Anspruch, allen Menschen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit die gleichen Rechte zukommen zu lassen, ist nach wie vor keine Beschreibung des Ist-Zustandes. Dennoch werden zwei wesentliche Entwicklungen seit der UN-Deklaration verkannt, wenn die Menschenrechte heute lediglich als rein normative Idee verstanden werden. Zum einen werden sie verstärkt in Form von Grundrechten in einzelstaatliche Verfassungen aufgenommen, sind daher rechtlich bindend und auf nationaler, zum Teil auch auf supranationaler Ebene einklagbar (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte und Afrikanischer Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker). Zum anderen ist mit der Aufnahme der ständigen Tätigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag im Jahr 2002 ein Faktum geschaffen worden, durch das sich Individuen vor einer unabhängigen internationalen richterlichen Institution verantworten müssen, falls sie wegen folgender Straftatbestände angeklagt werden: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und/oder zukünftig auch wegen Verbrechen der Aggression. In einzelnen Staaten ist es zudem möglich, wie beispielsweise in Deutschland seit 2002 durch das Völkerstrafgesetzbuch, unabhängig von internationalen Abkommen in Fällen von völkerstrafrechtlichen Taten, Anklage gegen Einzelpersonen zu erheben. Weder Tatort noch Täter oder Opfer müssen hierbei einen Bezug zum Inland haben.

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4. M enschenrechte und das R echt auf S elbstbestimmung In den 1950er-Jahren begann die UN-Menschenrechtskommission mit der Ausarbeitung rechtsverbindlicher Konventionen der Menschenrechte. Die beiden Konventionen, der sogenannte Zivil- und Sozialpakt, wurden als die ersten umfassenden UNMenschenrechtskonventionen 1966 ratifiziert und traten 10 Jahre später in Kraft. Die Rolle des nationalen Selbstbestimmungsrechts nahm bei den Verhandlungen einen zentralen Stellenwert ein und wurde schließlich als Menschenrecht jeweils im Artikel 1 der Pakte kodifiziert. Die Verknüpfung von Menschenrechten und nationalem Selbstbestimmungsrecht erfolgte insbesondere auf der ersten Afrikanisch-Asiatischen Konferenz in Bandung (Indonesien) im Jahre 1955. Es zeigte sich schnell, wie postkoloniale Diktatoren dadurch ihre Herrschaft im Namen der Menschenrechte sichern und gegen DissidentInnen im eigenen Land vorgehen konnten. Der im Exil lebende Ägypter Mahmoud Aboul Fath, dessen Zeitung unter Präsident Gamal Abdel Nasser verboten worden war, wandte sich daher an die Delegierten der Bandung-Konferenz mit der Aufforderung, die Menschenrechte nicht im Kampf um nationale Selbstbestimmung zu vergessen: „The violation of human rights is certainly bad and intolerable when committed by imperialists against peoples on whom they force their authority but it is also worse and more obnoxious [when]committed by a few nationals against their own people.“ (zit. nach Burke 2010: 18)

Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist jedoch kein Produkt der Diskussionen um die Menschenrechte nach 1945. Es wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Woodrow Wilson im Westen und von Wladimir I. Lenin im Osten formuliert und war bereits zu diesem Zeitpunkt nicht unproblematisch. Kritiklos, d.h. ohne die dialektische Beziehung zwischen diesen beiden Rechten zu beachten, wurde davon ausgegangen, dass „the rights of man could only be attained through the prior winning the right of national emancipation, however much one tried to prove that this could be a fool’s paradise.“ (Fine 2012: 158)

An den Missbrauch19 des Selbstbestimmungsrechts durch den Nationalsozia19 Von Missbrauch ist dann zu sprechen, wenn das Selbstbestimmungsrecht als Selbstzweck verstanden und durchgesetzt wird. Hier liegt dann auch der fundamentale Unterschied zwischen einem dezisionistischen Staats- und Rechtsverständnis, wie es von Carl Schmitt und heute u.a. von Giorgio Agamben (2005) vertreten wird, und einer Auffassung, die sich, weil sie sich am Individuum orientiert, gegen diese schmittianische Bestimmung

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lismus gemahnten in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren dann auch verschiedene Gegner der Etablierung des nationalen Selbstbestimmungsrechts als Menschenrecht. Der Brite Gerard Corley Smith wies auf die fatalen Konsequenzen hin, falls das Selbstbestimmungsrecht der Völker Artikel 1 der beiden Menschenrechtspakte werden würde: „There could be no doubt […] that the crimes of the Hitlerite regime would have found their justification in an article such as that“ (zitiert nach. Burke 2010: 37). Auch René Cassin und John Humphrey waren aus ähnlichen Gründen strikte Gegner der Bestrebungen, welche die nationale Selbstbestimmung als ein Menschenrecht zu erklären versuchten. Nun scheint Arendt jenen, die das nationale Selbstbestimmungsrecht als Menschenrecht festschreiben wollten, zuzustimmen, wenn sie den Vorwurf erhebt, die UN-Deklaration weise einen auffälligen Mangel an Wirklichkeitssinn auf (vgl. 1949: 769) und festhält, dass es nur ein Menschenrecht geben könne: das Recht, Rechte zu haben (vgl. Arendt 1949: 760). Allerdings hält Arendt nicht bedingungslos am Selbstbestimmungsrecht fest. Denn sie geht von der Idee des Nationalstaates aus, der sich am republikanischen Ideal orientiert (vgl. Fine 2012: 158), bei dem die öffentliche Sphäre auf Gleichheit beruht, die private und soziale auf Verschiedenheit; bei dem nationale Selbstbestimmung nicht als Selbstzweck funktioniert, sondern dem Einzelnen einen politischen Rahmen ermöglicht, in dem er nach seinen Handlungen und Meinungen, nicht aber etwa nach seiner Gesinnung und privaten Vorlieben beurteilt wird (vgl. Arendt 1949: 760). Das Recht zu einer in diesem Sinne organisierten politischen Gemeinschaft zu gehören, ist deswegen für den Einzelnen lebenswichtig, da wir aufgrund der Aufteilung der Welt in Staaten paradoxerweise begonnen haben, in „Einer Welt“ (Arendt 1949: 761) zu leben. Vor diesem Hintergrund ist nicht der Verlust der Heimat das Problem, aber sehr wohl die Unmöglichkeit, eine neue zu finden, weil dies gleichbedeutend ist mit der „Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt“ (Arendt 1949: 761). Denn dieser Verlust „zieht den Verlust der Relevanz und damit der Realität der Sprache nach sich“ (Arendt 1949: 761). So

wendet. Schmitt, der im Ausnahmezustand das politische Moment zu erkennen glaubte, brachte das 1922 in seinem viel zitierten Satz zum Ausdruck: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (Schmitt 1996: 13) Agamben affirmiert zwar nicht den Ausnahmezustand. Er ist jedoch in seinem Mangel an notwendiger Differenzierung zu kritisieren, wenn er behauptet, der Ausnahmezustand wäre heute ubiquitär, die Norm. Paradigmatisch für die schmittianische Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht und seine theoretische Untermauerung des NS-Volksgruppenpolitik steht sein Aufsatz Nationalsozialismus und Völkerrecht von 1934.

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könne zwar eine Person ohne Staatsangehörigkeit in einem demokratischen Land größere Meinungsfreiheit haben als die BürgerInnen eines despotischen Staates, aber sie bleibe, wie Arendt betont, allein auf das Wohlwollen angewiesen und die „Meinungsfreiheit erweist sich als eine Narrenfreiheit, weil das, was sie denken, für nichts und niemand mehr von Belang ist.“ (Arendt 1949: 760)20 Der Verlust der Staatsangehörigkeit hat unweigerlich also den Verlust der Menschenrechte zur Konsequenz und so konnten die Menschenrechte, „wie das Exempel des Staates Israel beweist, bisher nur durch die Etablierung der nationalen Rechte wiederhergestellt werden“ (Arendt 1949: 762).21 Der Verlust von einzelnen Rechten hat daher nicht zwangsläufig die absolute Rechtlosigkeit zur Folge, die Staatenlosigkeit hingegen schon. Arendts Recht auf Rechte setzt sich aber insofern von Edmund Burkes im Jahre 1790 formulierten Recht des Engländers ab, welches er der französischen Erklärung der Menschenrechte entgegen hielt, als Arendt dieses Recht nicht von der Nation ableitet und somit nicht von der nationalen Garantie abhängig macht. Indem sie es negativ formuliert als ein Recht, „niemals seiner Staatsangehörigkeit beraubt zu werden“ (Arendt 1949: 768), überschreitet es die Staatsbürgerrechte. Und hieran macht Arendt dann auch das Kriterium für die Grenzen der staatlichen Souveränität und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung fest: „Sowjetrußlands aggressive und imperialistische Außenpolitik hat sich Verbrechen gegen viele Völker zuschulden kommen lassen, und das ist gewiß eine Angelegenheit, die die ganze Welt angeht; dennoch bleibt die Sache Gegenstand gewöhnlicher Außenpolitik im internationalen Maßstabe und kann nicht zur Sorge der Menschheit als solcher, nicht zum Gegenstand eines möglichen Rechts über den Nationen werden. Die Konzentrationslager totalitärer Staaten dagegen, in denen Millionen von Menschen sogar der zweifelhaften Vorteile der Gesetze ihres eigenen Landes beraubt sind, könnten und sollten zum Gegenstand einer Aktion werden, die die Rechte und Regeln der Souveränität nicht mehr respektiert.“ (Arendt 1949: 769) 20 Die zahlreichen papierlosen Flüchtlinge in Europa sind trauriger Beleg dafür. 21 Heute dagegen ist es der israelische Staat, der von dem UN-Menschenrechtsrat überproportional wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird. Diese Schieflage beruht nicht nur auf einem Ausblenden von Fakten zum gegenwärtigen Nahost-Konflikt, sondern auch auf einer überhistorischen Kritik am Staat Israel. Eine Idee der Aufteilung in vermeintlich authentische Gruppen im Namen eines menschenrechtlich formulierten Selbstbestimmungsrechts wird dabei vorangetrieben und es ist dann diese gruppentheoretische Umdeutung, die das Selbstbestimmungsrecht dem Staat Israel, der als künstliches Konstrukt mit imperialistischen Interessen dargestellt wird, verneint.

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Wenn dagegen gruppenrechtliche Ansätze heute ethnische und kulturelle Konzepte in eine Menschenrechtssprache kleiden, um somit diese Konzepte rechtlich in Form von Sonderrechten für Kollektive zu positivieren, wenden sie sich gegen die von Arendt stark gemachte Idee der Menschenrechte. Erklären jene das ethnisch Partikulare zur menschlichen Universalie (vgl. Salzborn 2005: 142), betont Arendt die Gleichheit aller vor dem Gesetz. In ihrem Festhalten an einem rechtsstaatlichen Ideal und der Orientierung am Individuum steht Arendt in intellektueller Nähe zu Neumanns Auffassung von staatlicher Souveränität und individueller Freiheit. So betont Neumann, dass erst die abstrakte Gleichheit der Menschen und die Allgemeinheit des Gesetzes nicht nur kapitalistische Berechenbarkeit ermöglichen, sondern auch ein Minimum an Freiheit für den Schwachen schaffen (vgl. Neumann 1937: 594). Der moderne Staat basiert sowohl auf einem Gewaltmonopol als auch auf Gesetzen, er bedeutet gleichzeitig Souveränität des Staates und Mindestmaß an Freiheit für das Individuum (vgl. Neumann 1937: 542). Dies ist zwar nicht mit Freiheit gleichzusetzen, aber die Einzelnen werden dadurch in eine Lage versetzt, in der sie sich gegen unmittelbare und willkürliche Gewalt wehren können. Als individualrechtlicher Schutzanspruch, der die Achtung vor dem anderen, insbesondere vor seiner körperlichen Unversehrtheit, zum zentralen Gegenstand hat, formulieren die Menschenrechte daher lediglich einen Minimalstandard menschlicher Handlungsfreiheit, der ermöglichen soll, dass die Einzelnen sich gegen das ihnen zugefügte Leid wehren und die ohnehin immer viel zu engen Grenzen ihrer Herkunft gegebenenfalls verlassen können.22 Eine Rechtstheorie, die sich ausschließlich auf voluntas, auf den Willen eines Souveräns und/oder den einer Gemeinschaft bezieht, wird von Neumann als dezisionistisch bezeichnet (vgl. Neumann 1984: 522). Gegen diese Theorie, für die jede Maßnahme des Souveräns Gesetz ist, setzt er den rationalen Gesetzesbegriff. Dieser

22 Adorno hat den Zustand, in dem unmittelbare Gewaltverhältnisse herrschen, als Barbarei bezeichnet. Sie liege dort vor, „wo ein Rückfall in primitive physische Gewalt stattfindet, ohne daß er in einer durchsichtigen Beziehung zu vernünftigen Zwecken der Gesellschaft steht. […] Während Gewalt dort, wo sie in einem transparenten Zusammenhang zu der Herbeiführung menschenwürdigerer Zustände auch in ganz eingeengten Situationen führt, nicht ohne weiteres als Barbarei verurteilt werden kann.“ (Adorno 1970: 130). Die Menschenrechte können als Einspruch gegen die Form der unmittelbaren Gewalt verstanden werden und daher ist eine Gesellschaft, die auf Menschenrechte angewiesen ist, noch keine zivilisierte.

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ist durch seinen Inhalt23, nicht durch seinen Ursprung bestimmt und enthält insofern ein ethisches Postulat, als er sich an der Verteidigung des Individuums orientiert (vgl. Neumann 1937: 546f.). Diese letztgenannte Dimension ist somit zugleich souveränitätsbegrenzendes Moment. Wie die Aufklärung sowohl den Kern der Barbarei in sich trägt als auch zugleich die Mittel (der Vernunft) dagegen, nicht Befreiung selbst ist, sondern eine Dialektik von Befreiung und Zwang birgt (vgl. Claussen 2005: 102), so sind auch der Staat und das Recht von dieser ambivalenten Konstellation durchzogen. Der Rechtsstaat ist also weder das verwirklichte Reich der Freiheit, noch, wie die pauschalisierende Staatskritik meint, bloß Zwangsinstrument. Der Blick muss stets der empirischen Realität zugewandt sein, um kenntlich zu machen, wann Kritik notwendig ist und wann diese in ihr Gegenteil kippt. Die Dialektik der Aufklärung ist als eine Dialektik der formalen Gleichheit zu verstehen. Und in diesem Sinne zwingt das uneingelöste Versprechen der Menschenrechte auf ein gutes Leben frei von Furcht und Grausamkeit zum Aufzeigen ihrer Grenzen.

5. F reiheit in der U nfreiheit – D ie materielle N otwendigkeit der M enschenrechte Die Menschenrechte haben die Aufgabe, die Einzelnen vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen und auch religiöse Vorstellungen zu achten. Sie haben aber nicht die Aufgabe, ethnische und kulturelle Identitätspolitik zu fördern und noch weniger, Menschen dazu zu zwingen, sich Kollektiven zuzuordnen. Verstanden als individualrechtlicher Schutzanspruch können die Menschenrechte zwar nicht unmittelbar vor Willkür und Gewalt schützen, aber sie helfen, diese Willkür und das dadurch produzierte Leid der Einzelnen in Sprache zu fassen, mitteilbar zu machen. Ohne dies wären zudem Fragen nach individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Rechtsprechung nicht möglich. Max Horkheimer kommt 1950 dann auch zu dem vorsichtigen Schluss, dass das Recht unter bestimmten Umständen zur einzigen Zuflucht werden könne, „in der uns noch zu atmen erlaubt ist. Was verdinglicht, institutionell scheint, kann zur einzigen Rettung gerade des 23 Neumann wendet sich damit auch gegen die „relativistische Wertlehre“ von Hans Kelsens Reine Rechtslehre (1934). Die Idee, eine Rechtsnorm könne unabhängig vom Inhalt Geltung haben, wird von ihm zurückgewiesen.

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Menschlichen werden.“ (1985: 46) Und jede Art von vernünftigen Rechtsgarantien – so fährt er fort – tritt aus dem Bereich der Ideologie heraus und „wird zur, fast könnte man sagen, materiellen Notwendigkeit.“ (Horkheimer 1985: 47). Für Arendt besteht hierin kein Zweifel. Das Problem ist nach ihr nicht dieser große abstrakte „Gleichmacher aller Unterschiede“ (1949: 765) namens Recht, sondern vielmehr der soziale Gleichmacher namens Identität. Denn je mehr dieses Identitätsdenken auf Politik- und Rechtsfragen übergreift, desto stärker werden Differenzen mit Ressentiments belegt (vgl. Arendt 1959: 47). Mit dem Aufzeigen der Geschichtsvergessenheit, die sich in gegenwärtigen Debatten um Kollektivrechte ausdrückt, habe ich versucht, die Notwendigkeit der individualrechtlichen Konzeption der Menschenrechte darzulegen. Dies ist wichtig, um einer politischen Instrumentalisierung entgegenwirken zu können, die darauf abzielt, das nationale Selbstbestimmungsrecht auf Kosten der Rechte der Einzelnen absolut zu setzen. Denn diese Vermischung von Bedingungen und Subjekten der Menschenrechte mündet in einen dezisionistischen Begriff der Menschenrechte. Darüber hinaus geben sie den Opfern eine Sprache, die trotz der damit einhergehenden Restriktionen den Einzelnen ermöglichen, ihr Leid auszudrücken24: „Im Verlust der Menschenrechte liegt das Paradox, daß der Moment ihres Verlustes zusammenfällt damit, daß ein Mensch sowohl zu einem abstrakten Menschenwesen überhaupt wird […] als auch zu einem abstrakten Unterschiedenen überhaupt, der nicht mehr darstellt als seine eigene, absolut einzigartige Individualität, die aber jegliche Bedeutung verloren hat, weil sie in keine gemeinsame Welt mehr hineinhandeln oder sich in ihr zum Ausdruck bringen kann.“ (Arendt 1949: 765)

Und schließlich können die Menschenrechte, deren Sprache eine Leidenssprache ist (vgl. Diner 2005: 161), eine Erinnerungsfunktion übernehmen, wenn – und das ist wichtig – ihre Grenzen reflektiert werden. Sie können dann den erbärmlichen gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand, der auf Menschenrechte angewiesen ist und individuelle Selbstbestimmung verhindert, sichtbar machen, ohne diesen dabei als unabänderlich hinzustellen.

24 Vor diesem Hintergrund lassen sich Adornos Forderung, sich dem zu widmen, was der Begriff ausschließt und seine gleichzeitige Betonung, dass das Ausgeschlossene – das Nichtidentische – sprachlich, d.h. mit Begriffen auszudrücken ist (vgl. Adorno 2003b: 21), zwar als eine Kritik am Recht lesen, aber nicht als eine, die das Kind mit dem Bade ausschüttet.

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Das bedeutet also, dass nicht obwohl, sondern gerade weil sie im Widerspruch zur gesellschaftlichen Verfasstheit stehen, die Menschenrechte mit ihrem Fokus auf das Individuum nicht als säkularer, idealistischer Irrtum zu verstehen sind, sondern als eine alle Menschen betreffende Notwendigkeit.25 Arendt und Neumann halten deswegen am abstrakten Recht fest, weil das Postulat der Gleichheit überhaupt erst Individualität unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen ermöglicht: Umstände, die keinem ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und deswegen Leiden bei den Einzelnen verursachen.26 Die Errichtung menschenwürdiger Verhältnisse, in denen jeder sich selbst und dadurch den anderen achten kann, steht noch aus, damit so etwas wie die marxsche Idee der freien Assoziation freier Individuen, Adornos opferlose Nichtidentität (Adorno 2003b: 277) und Arendts Pluralität möglich sein kann. Das Recht bleibt zwar stets Ausdruck von Unfreiheit. Gleichzeitig zeugt aber eine überhistorische und vor allem gesellschaftsblinde Kritik am Recht von schlechter Abstraktion. Mit Karl Krauss ist daher zu betonen, dass eine Lossagung von Recht in Anbetracht einer von Eigentum besessenen Gesellschaft unheilvoll ist (Kraus 1987: 147). Von Bedeutung ist allerdings die Frage nach den Rechtsgütern. Die Frage, was das Recht schützen kann, verweist auf seine eigenen Grenzen. Die Beschränkung auf das Individuum ist daher nicht einfach Produkt moralischer Überlegungen, sondern lässt sich rechtstheoretisch und als gesellschaftliche Notwendigkeit begründen. Menschenrechte bergen notwendigerweise den Widerspruch von Zwang und Freiheit. Indem aber dieser Widerspruch und die Grenzen der Menschenrechte nicht durch eine Pseudoweiterentwicklung hin zu Kollektivrechten übertüncht, sondern bewusst gemacht werden, ist Urteilskraft, moralisches Handeln und Solidarität mit Anderen überhaupt erst möglich. „Wir können nicht sagen, was der Mensch ist oder das Menschliche, aber wir wissen ganz genau, was das Unmenschliche ist“ – so Adorno (1963: 262) in seiner letzten Vorlesung zu den Problemen der Moralphilosophie im Sommersemester 1963. Er endet mit der Überlegung, dass die Frage nach Moral heute übergehe zur Frage nach der Einrichtung der Welt. Es „wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden 25 Der irrationale Ist-Zustand wird somit auch nicht einem rein abstrakten Soll-Zustand gegenübergestellt (vgl. Fine 2012: 167). 26 Die Benennung von Unterschieden wird dadurch jedoch nicht obsolet. Denn es macht einen qualitativen Unterschied aus, ob ich beispielsweise als Frau in Deutschland lebe oder etwa im Iran.

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gelegen wäre.“ (Adorno 1963: 262) Nicht nur dem Leid Gehör zu verschaffen, sondern es abzuschaffen, muss daher Ziel einer solchen Politik sein. Zu überlegen wäre also nicht nur, ob im Prozess der Verrechtlichung der Menschenrechte und somit in der Herstellung der Rechtspersönlichkeit27 die Bedingungen zur Rettung des Individuums gegeben sind, sondern auch wie diese Herstellung überhaupt möglich ist, wenn erstens die materiellen und sozialen Voraussetzungen fehlen28 und zweitens gerade das Festhalten am Individuum zunehmend als das eigentliche Problem betrachtet wird. Für ersteres gibt es durchaus politische Wege, letzteres stellt allerdings ein ernstes Problem dar. Das Beunruhigende an den Diskussionen über die Kollektivrechte ist der affirmative Bezug auf diese, der viel über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft verrät: Die Unmündigkeit der Einzelnen wird hier in menschenrechtlicher Rhetorik besiegelt. Festzuhalten wäre, dass historisches Wissen wichtig ist, entscheidend bleibt allerdings, dass sich im Menschen ein Widerwille regt, „wenn der Einzelne, wer er auch sei, nicht als vernünftiges Wesen geachtet wird.“ (Horkheimer 1985: 174) Und so erinnern die Worte des von der chinesischen Regierung als Konterrevolutionär verurteilten Baocheng daran, dass nach wie vor die Menschenrechte für viele eine konkrete Utopie darstellen. Diese Stimmen nicht zu vergessen, ist Movens des Artikels gewesen.

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27 Siehe Artikel 6 der UN-Menschenrechtsdeklaration: „Everyone has the right to recognition everywhere as a person before the law.“ 28 Dazu Arendt: „So if we talk about equality, the question always is: how much have we to change the private lives of the poor? […] Education is very nice, but the real thing is money.“ (Arendt 1977: 106)

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Autorinnen und Autoren

Katarina Froebus, M.A., lehrt und forscht am Institut für Pädagogische Professionalisierung der Universität Graz zu Subjektkritik und machtkritischer Professionalisierung. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit „dem un-toten Subjekt der Pädagogik“. Ludwig Gasteiger, M.A. Soziologie, lehrt an der Universität Augsburg, ist freischaffender Sozialwissenschaftler und arbeitet als stellvertretender Geschäftsführer beim Kreisjugendring Dachau. Seine Schwerpunkte sind Empirische Sozialforschung, insbesondere Diskurs- und Dispositivforschung, sowie Bildungssoziologie und Soziologie der Globalisierung. In seiner Promotion beschäftigt er sich mit der Transformation des bildungspolitischen Feldes durch das Konzept der evidenzbasierten Bildungspolitik. Marc Grimm, Dipl.-Pol., Studium der Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Augsburg, der University of British Columbia und der Universität Wien. Promotion zur Genese der Rechtsextremismusforschung in der BRD. Letzte Veröffentlichung: Die Begriffsgeschichte des Philosemitismus, in: Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Band 22, Metropol Verlag, 2013. Dr. Sebastian Huhnholz, Wissenschaftlicher Assistent für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München und u.a. kooptiertes Mitglied des Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“. Tina Jung, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Feministische und Kritische Theorie, Kritik, Demokratie, Politik der Geschlechterverhältnisse.

316 | THEORIE UND KRITIK

Aktuelle Veröffentlichungen: Kritik als demokratische Praxis. Kritik und Politik in Kritischer und feministischer Theorie, Westfälisches Dampfboot, 2015. Jung/ Lieb/Reusch/Scheele/Schoppengerd: In Arbeit: Emanzipation. Feministischer Eigensinn in Wissenschaft und Politik, Westfälisches Dampfboot, 2014. Cornelia Möser, Wissenschaftlerin am Centre nationale de la recherche scientifique in Paris und assoziierte Forscherin am Berliner Centre Marc Bloch. Aktuell forscht sie zu Begriffen von Sexualität im feministischen und queeren Denken in Frankreich, Deutschland und den USA seit den 1960er Jahren in Bezug auf moderne Subjektkonstruktionen. Ihre Doktorarbeit wurde in der Pariser Edition des archives contemporaines 2013 unter dem Titel Féminismes en traductions. Théories voyageuses et traductions culturelles veröffentlicht. Dr. phil. Alexander Neupert-Doppler, Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte, wurde 2013 in Osnabrück mit einer Arbeit zum Staatsfetischismus promoviert und hat gerade ein Buch zum Thema Utopiebewusstsein im Schmetterlingsverlag veröffentlicht. Martin Proißl, Dr. phil., lehrt an der Universität Augsburg und leitet eine Jugendhilfeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Seine Dissertation ist unter dem Titel Adorno und Bourdieu. Ein Theorievergleich (Springer VS, 2014) erschienen. Anne Rethmann hat Ethnologie, Politologie und Internationales Recht an der LMU München studiert. Zurzeit promoviert sie in der Soziologie zur Stellung des Individuums in den Menschenrechten nach 1945. Ihre Forschungsinteressen liegen u.a. im Bereich der Kritischen Theorie, der politischen Theorie von Hannah Arendt, in der jüngeren Menschenrechtsgeschichte und im Konzept der ZeugInnenschaft im Film. Eva Seidlmayer studierte Philosophie und Alte Geschichte in Hannover, Paris und Frankfurt. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit der Bedeutung erkenntnistheoretischer Konzepte für praktisches Handeln. Sie verfolgt dabei einen systematischen Ansatz, der den gefundenen Zusammenhang für unterschiedliche Kontexte anschließbar macht.

AUTORINNEN UND AUTOREN | 317

Barbara Umrath studierte Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Augsburg und der New School for Social Research, New York. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit der Entwicklung unterschiedlicher kritischer Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft. Marco Walter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Deutungsmuster von Macht und Ordnung“ des Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in antiker und moderner politischer Theorie mit einem speziellen Fokus auf unterschiedlichen Konzeptionen des Politischen.

Sozialtheorie Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Die Welt der Commons Muster gemeinsamen Handelns Oktober 2015, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3245-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis Juni 2015, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7

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Sozialtheorie Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven Dezember 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Dezember 2015, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen November 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung November 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven Oktober 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur

Maria Dammayr, Doris Graß, Barbara Rothmüller (Hg.) Legitimität Gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Bruchlinien der Rechtfertigung Juli 2015, 366 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3181-4

Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hg.) Dominanzkultur reloaded Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen Juni 2015, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3061-9

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Was ist der Mensch? Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1 März 2015, 112 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3032-9

Diego Compagna Postnukleare Handlungstheorie Ein soziologisches Akteurmodell für Cyborgs Januar 2015, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2845-6

Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung 2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3

Oktober 2015, ca. 440 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

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