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German Pages [201] Year 2020
Kommunikation im Fokus – Arbeiten zur Angewandten Linguistik
Band 9
Herausgegeben von Rudolf de Cillia und Helmut Gruber Reihe mitbegründet von Florian Menz (†)
Wissenschaftlicher Beirat: Gerd Antos, Christiane Dalton-Puffer, Ursula Doleschal, Reinhard Fiehler, Elisabeth Gülich, Heiko Hausendorf, Manfred Kienpointner, Eva Vetter und Ruth Wodak Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Helmut Gruber / Jürgen Spitzmüller / Rudolf de Cillia (Hg.)
Institutionelle und organisationale Kommunikation Theorie, Methodologie, Empirie und Kritik
Gedenkschrift für Florian Menz Mit 11 Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V& R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt der UniversitÐt Wien. 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1582 ISBN 978-3-7370-1125-9
Florian Menz (1960–2017) (Foto: Prof. Dr. Lutz Becker, Tagung »Narrative + Innovation«, Karlsruhe 2010)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jürgen Spitzmüller / Rudolf de Cillia / Helmut Gruber (Wien) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konrad Ehlich (Berlin/München) Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
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Thomas Spranz-Fogasy (Mannheim) Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen
. . .
Martin Reisigl (Wien) Elemente einer Linguistik des Verstehens – Eine synoptische Annäherung
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Heiko Hausendorf (Zürich) Die Betretbarkeit der Institution – ein vernachlässigter Aspekt der Interaktion in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Luzia Plansky (Diex) Gesprächsanalyse im Kommunikationstraining? Ein Erfahrungsbericht mit einer neuen Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Stephan Habscheid / Christine Hrncal / Felix Carros (Siegen) / Jens Lüssem (Kiel) Professionelle Emotionalität und humanoide Robotik in der institutionellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Bibliographie Florian Menz
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Vorwort
Der vorliegende Band ist unserem Kollegen und Freund Florian Menz gewidmet, der am 30. Juni 2017 nach kurzer schwerer Krankheit viel zu jung verstorben ist. Er versammelt Beiträge von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern, die mit Florian Menz beruflich und vielfach auch privat eng verbunden waren, Beiträge insbesondere zu den Themen, mit denen dieser selbst intensiv befasst und für die er international bekannt war, nämlich institutionelle/ organisationale und medizinische Kommunikation. Der Band geht aus einem Gedenksymposium hervor, das im Juni 2018 anlässlich des ersten Todestags an der Universität Wien veranstaltet wurde. Die Drucklegung wurde aus Mitteln der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien gefördert, die auch die Gedenkveranstaltung möglich gemacht hat. Wir bedanken uns an dieser Stelle für diese Unterstützung. Bedanken möchten wir uns auch bei Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Durchführung der Veranstaltung und bei der Erstellung dieses Bandes unterstützt haben, namentlich bei Andreas Müller, Lutz Becker, Wolfgang Ulrich Dressler, Ruth Wodak, Roswitha Ourednik, Florian Hoidn, Regina Geissler und Laryn McLernon, der Studierendenvertretung des Wiener Instituts für Sprachwissenschaft sowie bei den an dieser Stelle anonym bleibenden sehr geschätzten Kolleginnen und Kollegen, die die Begutachtung der Beiträge übernommen haben. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und dem V& R-Verlag dafür, dass der Band in der von Florian Menz mitbegründeten Reihe Kommunikation im Fokus – Arbeiten zur Angewandten Linguistik erscheinen kann. Ein ganz besonderer Dank gilt der Familie von Florian Menz: seiner Frau Michaela Schwind, Florians Töchtern Mira, Cordelia und Teresa, seinen Eltern sowie seinen Brüdern, von diesen besonders Stefan Menz für seine vielfache Unterstützung. Florian selbst haben wir für vieles zu danken – mehr, als wir an dieser Stelle ausführen könnten. Wir hoffen, dass der Band ihm gefallen hätte. Wien, im November 2019 Rudolf de Cillia, Helmut Gruber, Jürgen Spitzmüller
Jürgen Spitzmüller / Rudolf de Cillia / Helmut Gruber (Wien)
Einleitung
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Zu diesem Band
Im Verlauf der gut vier Jahrzehnte, in dem sich die Angewandte Sprachwissenschaft dem Phänomenbereich intensiver zugewandt hat (vgl. Iedema und Wodak 2005; Müller 2008; Habscheid et al. 2015), hat sich Kommunikation in Institutionen/Organisationen1 zu einem der zentralen Themen des Faches entwickelt. Dies zeigt nicht nur die Prominenz, die das Thema in (jedenfalls deutschsprachigen) Lehr- und Arbeitsbüchern der Angewandten Sprachwissenschaft hat (vgl. etwa Brünner, Fiehler und Kindt 2002 [1999]; Knapp et al. 2006; Meer und Pick 2019), auch die zahlreichen spezialisierten Kompendien, die in den vergangenen Jahren erschienen sind (bspw. Menz und Stahl 2014 [2008]; Candlin und Sarangi 2011; Busch und Spranz-Fogasy 2015; Felder und Vogel 2017; Vine 2017; Habscheid et al. 2018), dokumentieren dies. Mit dem Mediziner und Wissen(schaft)stheoretiker Ludwik Fleck (1980 [1935]: 158), der selbst als wichtige Vorläuferfigur der Organisationsforschung begriffen werden kann, könnte man sagen: die Organisations- und Institutionslinguistik hat sich über eine Zeitschriftenwissenschaft hinaus, die auf der Grundlage von Empirie Theorien und Methodologien vorschlägt, zu einer veritablen Handbuch- und Lehrbuchwissenschaft entwickelt, einer Wissenschaft, die solche Theorien und Methodologien auch kanonisiert und ›curricularisiert‹. Die Organisations- und 1 Es ist hier nicht der Ort, die im Fach (und auch in diesem Band) sehr unterschiedlichen begrifflichen Fassungen auszudifferenzieren. Ob und wie Institution und Organisation (in soziologischer Tradition) unterschieden werden und folglich ob man von organisationaler oder von institutioneller Kommunikation (resp. Kommunikation in Organisationen oder Institutionen) spricht, ist eine Frage der disziplinären Positionierung und Ausrichtung, die wir in dieser Einführung bewusst offen lassen. Die Beiträger*innen des Bandes treffen ihre jeweils begründeten konzeptionellen Entscheidungen. Florian Menz hat seine Arbeiten immer stark in eine (organisations-)soziologische Tradition gestellt und daher organisationale Kommunikation favorisiert – mit einem stark systemtheoretisch inspirierten (vgl. Kneer 2009), das ›Chaos‹ als produktive organisationale Kraft begreifenden Organisationsbegriff (vgl. Menz 2001; Menz 2008).
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Institutionslinguistik hat also alle drei (Fleck’schen) Zyklen der ›Verwissenschaftlichung‹ durchlaufen und sich dabei auch selbst erheblich organisiert und institutionalisiert. Das kann (und sollte man; vgl. dazu Ehlich i. d. Bd.) auch zum Anlass kritischer Selbstreflexion nehmen, sofern man Kritik, wie es dieser Band tut, neben der empirischen Analyse, der Theoriebildung und Methodologiediskussion zu den genuinen Aufgaben der Organisations- und Institutionsforschung rechnet und sofern man, wie es die Kritische Diskursforschung (jedenfalls in der Theorie) fordert, den eigenen Standpunkt in den Skopus der Kritik einschließt (vgl. bspw. Wodak 2001: 9). Doch dies ist nicht die Aufgabe dieses Bandes. Seine Aufgabe ist es auch nicht, einen wie auch immer festgestellten aktuellen Forschungsstand der Institutions- und Organisationslinguistik – bezüglich Theorie, Methodologie, Empirie und Kritik – abzubilden oder zu behaupten. Seine Aufgabe ist es vielmehr, einen Sprachwissenschaftler zu würdigen, der zur oben beschriebenen Etablierung und Konsolidierung der Organisations- und Institutionslinguistik in erheblichem Maß beigetragen hat (dabei jedoch, soviel ist doch noch zu sagen, auch die Notwendigkeit von Kritik niemals aus den Augen verloren hat): Florian Menz. Der Anlass dazu ist leider kein erfreulicher. Florian Menz ist im Juni 2017 viel zu jung, im Alter von nur 56 Jahren, infolge einer kurzen, schweren Krankheit verstorben. Er wurde somit in einer für uns immer noch nicht begreifbaren Plötzlichkeit aus einem ausgesprochen aktiven Forscherleben gerissen. Dieser Band erscheint ihm zu Ehren und zu seinem Andenken. Vorausgegangen ist dem Band ein Gedenksymposium, das im Juni 2018 an der Universität Wien stattgefunden hat. Der Großteil der hier versammelten Beiträge geht aus Vorträgen an diesem Gedenksymposium hervor. Die Beiträgerinnen und Beiträger sind Weggefährten und Forschungsalliierte von Florian Menz, und viele waren mit Florian Menz auch über die Sprachwissenschaft hinaus eng verbunden. Die Beiträge thematisieren somit nicht nur verschiedene institutions- und organisationslinguistische Themen, sie ›kreisen‹, indem sie dies tun, auch alle um Florian Menz’ institutions- und organisationslinguistische Arbeiten – und nicht zuletzt auch um ihn als Person. Der Band bietet dadurch auch Anlass sich wieder einmal darauf zu besinnen, dass Institutionen (wie die Wissenschaft) und Organisationen (wie Hochschulinstitute) nicht nur aus Strukturen und Abläufen, sondern auch aus Menschen bestehen, die diese »gesellschaftliche[n] Apparate« (Ehlich und Rehbein 1994: 318) be-leben. Mit Florian Menz stellen wir einen dieser Menschen, der uns sehr beeindruckt hat, in den Mittelpunkt dieses Bandes.
Einleitung
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Florian Menz (1960–2017)2
Florian Menz wurde 1960 in Bozen, Südtirol, geboren. Als Sohn eines Ärztepaars kam er bereits früh mit der Domäne in Berührung, der er später als Sprachwissenschaftler größtes Interesse widmen sollte: der Medizin. Nach der Matura im Franziskanergymnasium in Bozen, die er mit der höchstmöglichen Punktezahl absolvierte (60 von 60 – ein ganz außerordentliches Ergebnis), studierte Florian Menz Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien und an der Freien Universität Berlin. Schon als Student arbeitete er an wissenschaftlichen Forschungsprojekten mit. Bereits mit seiner 1989 fertiggestellten Dissertationsschrift Der geheime Dialog: Medizinische Ausbildung und institutionalisierte Verschleierungen in der Arzt-Patient-Kommunikation (Menz 1991) legte Florian Menz ein grundlegendes Werk zu dem Themenbereich vor, für den er international und weit über die Grenzen des Fachs hinaus bekannt werden sollte: der organisationalen Kommunikation, spezifisch in der bereits erwähnten medizinischen Domäne. Dabei war er seit Mitte der 1980er-Jahre am Aufbau einiger Teamprojekte beteiligt. Eines dieser Projekte, das Projekt Alltag in der Ambulanz (vgl. Lalouschek, Menz und Wodak 1990), wurde 1989 mit dem renommierten PharmigPreis der Österreichischen Ärztekammer ausgezeichnet. Florian Menz’ zahllosen Arbeiten und die von ihm geleiteten und mit unterschiedlichen Teams durchgeführten interdisziplinären Forschungsprojekte zur Arzt-Patient-Kommunikation, zum Sprechen über Schmerzen, zu Migration und medizinischer Kommunikation, zu Psychiatrie und Kommunikation sind bahnbrechend und beispielgebend für eine praxisorientierte Angewandte Sprachwissenschaft, die dennoch immer stark theoriegeleitet verblieb. Im Jahr 1999 habilitierte Florian Menz sich mit der Schrift »Was soll denn das Chaos?« Selbst- und Fremdorganisation durch Kommunikation in Wirtschaftsunternehmen (publiziert unter dem Titel Selbst- und Fremdorganisation im Diskurs. Interne Kommunikation in Wirtschaftsunternehmen; vgl. Menz 2000). Noch im Jahr der Habilitation wurde Florian Menz zum Außerordentlichen Universitätsprofessor für Angewandte Sprachwissenschaft ernannt. Bis zuletzt arbeitete er in dieser Position am Wiener Institut für Sprachwissenschaft. Im Bereich der organisationalen Kommunikation legte Florian Menz neben der Dissertation und der Habilitationsschrift zahlreiche wegweisende Arbeiten vor, vielfach in interdisziplinärer Zusammenarbeit, darunter das gemeinsam mit Heinz K. Stahl herausgegebene Handbuch Stakeholderkommunikation (Menz 2 Dieser Abschnitt basiert auf einem Nachruf des Wiener Instituts für Sprachwissenschaft, an dem neben den Herausgebern auch Johanna Lalouschek, Eva Vetter und Ruth Wodak mitgearbeitet haben.
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und Stahl 2014 [2008]). Auch wenn die institutionelle bzw. organisationale Kommunikation zweifellos sein wichtigstes Arbeitsfeld war, war es keinesfalls das einzige seiner Interessensgebiete. Ganz im Gegenteil: Florian Menz bearbeitete das Feld der Angewandten Sprachwissenschaft umfassend. Das beeindruckende wissenschaftliche Œuvre, das er hinterlässt, kann hier nicht umfassend dargestellt werden (Florian Menz’ Bibliographie, die wir am Ende dieses Bandes abgedruckt haben, umfasst über 100 wissenschaftliche Publikationen). Viele Arbeiten hat Florian Menz gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen verfasst, denn er war ein Teammensch, viele davon auch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern, denn Interdisziplinarität war ihm mehr als ein schickes Etikett. Die Diplomarbeit von Florian Menz (1984) war der Sprachlehrforschung gewidmet, der soziolinguistischen Analyse von Schüleraufsätzen. Seine zahlreichen kritisch-diskursanalytischen Arbeiten befassen sich unter anderem mit Sprache und Ideologie bzw. mit Sprache und Vorurteil, wobei er gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Wiener Kritischen Diskursanalyse immer wieder den Finger auf neuralgische Punkte des gesellschaftlichen und politischen Diskurses in Österreich gelegt hat. Beispiele hierfür sind Arbeiten zum Diskurs über Kärntner Slowenen (bspw. Menz, Lalouschek und Dressler 1990), zum Nationalismus (bspw. Wodak und Menz 1994), zur diskursiven Konstruktion von Gedenken und Vergangenheit (bspw. Wodak, Menz, Mitten und Stern 1994) sowie zum sprachenpolitischen Umgang mit sog. ›Minderheiten‹ (vgl. bereits Menz 1990), insbesondere der Roma und Sinti (vgl. Halwachs und Menz 1999). Sehr am Herzen lagen Florian Menz stets auch die Methoden einer interdisziplinären angewandten Sprachwissenschaft (vgl. Gruber und Menz 2001), ein Bereich, den er auch in der Lehre stets sehr betonte. Florian Menz war ein engagierter und beliebter Hochschullehrer. Die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, mit denen er sich den Fragen, Ideen und Anliegen der Studierenden widmete, waren außerordentlich. Die Förderung von jungen Nachwuchswissenschafter*innen in seinen Forschungsprojekten, aber auch schon in den Proseminaren und Seminaren, war ihm sehr wichtig. Nicht nur in der Angewandten Sprachwissenschaft hinterlässt Florian Menz eine große Lücke. Wenn er – seinem interdisziplinären Zugang verpflichtet – etwa vor Medizinern und Medizinerinnen oder Juristen und Juristinnen Vorträge hielt, an Tagungen, an Podiumsdiskussionen teilnahm, waren die Menschen beeindruckt nicht nur von seinen Forschungen, sondern auch von seiner überzeugenden und gewinnenden Art, seine Wissenschaft zu vermitteln. Florian Menz war auch ein ganz besonders guter Fort- und Weiterbildner. Gut zwanzig Jahre lang hielt er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einmal im Jahr ein immer ausgebuchtes Wochenseminar für Lehrer*innen und andere Berufsgruppen zum Thema ›Sprache und Macht/Sprache und Politik‹.
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Seit 2014 war Florian Menz Institutsvorstand des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Die umgängliche und professionelle Art, in der er das Institut geleitet hat, immer an Konsens, an flachen Hierarchien und effizientem Umgang mit den Mitteln orientiert, hat uns beeindruckt. Das Institut wurde von ihm nachhaltig geprägt, die Lücke, die er hinterlässt, ist groß. Für uns, die Herausgeber dieses Bandes, war Florian Menz mehr als ein Kollege, der ein bzw. zwei – wörtlich wie bildlich stets offene – Türen weiter saß (hinter einer Tür im 6. Stockwerk des Institutsgebäudes in der Sensengasse 3a übrigens, die noch lange nach seinem Tod, wörtlich wie bildlich, geschlossen blieb). Er war ein Mensch, mit dem wir mit Freude und Gewinn (auch kontroverse) Fachdiskussionen geführt haben (da konnte er durchaus von einer höflichen, aber strengen Unnachgiebigkeit sein), mit dem wir oft und gerne gemeinsam unterrichtet haben, mit dem uns aber auch menschlich viel verbunden hat. Die Zeit dieser Verbindung war unterschiedlich lang – zwei von uns hatten das Glück, Florian Menz seit vier Jahrzehnten zu kennen, einer leider nur vier Jahre –, viel zu kurz war sie aber für uns alle. Dies gilt nicht weniger für die Beiträger*innen zu diesem Band, deren Beiträge wir im Folgenden skizzieren.
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Die Beiträge in diesem Band
Im ersten Beitrag des Bandes diskutiert Konrad Ehlich Notwendigkeit und Bedingungen der Analyse institutioneller Kommunikation. Ausgehend von der Feststellung, dass Institutionalität ein Grundcharakteristikum von Kommunikation darstelle, die Analyse institutioneller Kommunikation mithin ein zentrales Anliegen einer an der kommunikativen Praxis interessierten (»eingreifenden«) Sprachwissenschaft sei, diagnostiziert Ehlich in der Sprachwissenschaft (aber auch in anderen Disziplinen wie der Soziologe) eine folgenreiche Reserviertheit gegenüber Institutionen, deren Gründe er unter anderem in für Forschende schwer zu überwindenden »Empirieschwellen« ausmacht, welche in erheblichem Maß durch die strukturelle Widerständigkeit und Abgeschottetheit der Institutionen selbst bedingt sei. Institutionen, so könnte man eine der zentralen Thesen des Beitrags paraphrasieren, immunisieren sich strategisch gegen Einblicke von außen. Dies führt Ehlich zu seinem zentralen Anliegen, einem Plädoyer für eine linguistische Institutionsanalyse als Institutionskritik – im Geiste der kritischen Diskursforschung, in deren Tradition auch die Arbeiten von Florian Menz stehen. Angewandte Sprachwissenschaft müsse demnach, wenn sie keine »abgewandte Sprachwissenschaft« sein wolle, »im Geist der Aufklärung« Institutionen immer auch kritisch in den Blick nehmen, und dies schließe insbesondere die Analyse institutioneller »Verflechtungen« (intra- und interinstitutioneller Art)
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und, im Sinne des von Florian Menz mitentwickelten diskurshistorischen Ansatzes, auch die Analyse der historischen Genese von Institutionen ein. Sowohl die Verflechtungen als auch die Historizität schlagen sich dabei Ehlich zufolge auf drei Ebenen nieder : in den »Wissensstrukturen«, in den »Handlungserfahrungen« und in der »gesellschaftlichen inneren Strukturorganisation«. Ehlich exemplifiziert dies am Beispielfall Medizin, die er hinsichtlich ihrer Verflechtungen und Veränderungen kritisch diskutiert. Hierbei geraten unter anderem Verwissenschaftlichungs-, Administrierungs- und Ökonomisierungstendenzen im medizinischen Sektor in den Blick, die Ehlich jeweils in den Kontext institutioneller Kommunikation stellt. Der Beitrag mündet in einem vehementen Plädoyer für eine angewandt-sprachwissenschaftliche Institutionenforschung, die die genannten diskursiven Bedingungen systematisch ernst nimmt – wie dies Florian Menz von seinen frühesten Arbeiten an immer wieder eingefordert hat. Thomas Spranz-Fogasy fokussiert in seinem Beitrag das Feld der Psychotherapie. Der Beitrag stellt Ergebnisse eines Forschungsprojektes vor, das sich unter anderem mit der Funktion von Fragen (der Therapeuten) in der Psychotherapie auseinandergesetzt hat. Das ist deswegen ein bemerkenswertes Unterfangen, weil therapeutenseitige Fragen in der psychotherapeutischen Theorie wegen ihrer angeblichen Invasivität als hochgradig problematisch gelten und daher vermieden werden sollen. Demgegenüber zeigt Spranz-Fogasy anhand von zahlreichen Beispielen auf, dass Fragen nicht nur rekurrent vorkommen, sondern dass sie ganz offensichtlich im Therapieprozess auch hochgradig funktional und produktiv sind. Der Autor differenziert verschiedene Fragetypen funktional, vergleicht sie mit (Re-)Formulierungsprozeduren, und zeigt anhand sprachlicher Daten aus Therapiesitzungen jeweils auf, wann und wie sie zum Einsatz kommen. Fragen können dabei, wie der Beitrag ausführt, ähnlich wie (Re-)Formulierungen zur Verständnisaushandlung eingesetzt werden, wenn Teile des Erzählten mittels Fragen fokussiert und damit für thematisch relevant gesetzt werden (»Highlighting-Funktion«), wenn die Therapeut*innen mittels Fragen eine RePerspektivierung von Erzähltem vorschlagen (»Rephrasing-Funktion«) oder wenn Erzähltes auf Nachfrage miteinander verknüpft wird (»Relocating-Funktion«). Darüber hinaus identifiziert Spranz-Fogasy spezifische Fragetypen, die in Therapiegesprächen spezifische Funktionen übernehmen. Dazu zählen Beispiel-Nachfragen (wie Haben Sie da vielleicht mal ein Beispiel für?), die eine Problem-Spezifizierung der Patient*innen zu evozieren versuchen; Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung (Haben Sie selbst eine Idee, woran das liegt?), die dezidiert zur gemeinsamen Ursachenklärung auffordern und Lösungsorientierte Fragen (Wie sollte es denn ihrer Meinung nach weitergehen?), die den Patient*innen im Rahmen der Lösungsfindung Agentivität zusprechen. Wie der
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Autor abschließend festhält, sind Fragen also »ein wichtiges Instrument der Psychotherapie und -diagnostik«. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man Fragen in ihrer Interaktivität begreift, sie also als Anschlusshandlungen auslösende Anschlusshandlungen versteht, und nicht nur als initiierende kommunikative Akte. Gerade an diesem Beispiel zeige sich, wie sich die (interaktions-, gesprächs- oder konversationsanalytischen) Sprachwissenschaft, wie es Florian Menz niemals müde wurde einzufordern, für alle Seiten gewinnbringend mit der institutionellen/organisationalen Praxis austauschen kann. Um Verständigung geht es auch zentral im Beitrag von Martin Reisigl. In einer detaillierten Begriffsreflexion befasst sich der Beitrag mit dem terminologischen Verhältnis von Verstehen, Verständlichkeit, Verständigung, Verständnis, Verständnissicherung und Verständnisförderung. Auf der Grundlage einer kritischen Lektüre vorliegender Arbeiten zu diesem Phänomenbereich (aus ganz unterschiedlichen Teildisziplinen der Angewandten Sprachwissenschaft wie der Konversationsanalyse und der Textverständlichkeitsforschung) differenziert Reisigl diese Konzepte zunächst terminologisch voneinander. Der Autor plädiert dabei für ein approximatives Konzept von Verständigung, in welchem Verstehen und Verständigung interaktiv und konstruktiv verstanden werden und in welchem ›vollständiges Verstehen‹ weder als tatsächlich angenommene noch als heuristisch-ideale Größe eine Rolle spielt. In einem zweiten Schritt verengt Reisigl den Blick auf ›interkulturelle‹ Kommunikation. Der Autor arbeitet in diesem Zusammenhang spezifisch kulturbegründete Probleme der Verständigung heraus. Dabei wird hervorgehoben, dass ›Kultur‹ als semiotisch-interpretativer Rahmen (oder mit George Boole gesprochen: als Diskursuniversum; vgl. Schalk 1998) für das Verstehen von Verständigung und Verständnis einen unerlässlichen Bezugsrahmen darstellt. Dies exemplifiziert der Autor drittens anhand von Befunden aus einem Forschungsprojekt aus dem Bereich der Arzt-Patient-Kommunikation, das Florian Menz geleitet hat und an dem Reisigl selbst beteiligt war. Am Beispiel der Kopfschmerzambulanz eines Wiener Krankenhauses zeigt der Autor hier auf, auf welchen Ebenen Verstehen, Verständlichkeit, Verständigung und Verständnis operiert bzw. scheitern kann, wie komplex und herausfordernd also im institutionellen Bereich der Medizin die Aufgabe der Verständnissicherung und Verständnisförderung ist, zumal dann, wenn – wie dies in diesem wie in den meisten anderen institutionellen Kontexten ja die Regel ist – Kommunikation im Rahmen kultureller Heterogenität stattfindet. Heiko Hausendorf beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einem bislang in der Angewandten Sprachwissenschaft weitgehend unerforschten Bereich institutioneller Kommunikation, nämlich mit der Bedeutung der räumlichen Umgebung für Interaktionen. Er weitet damit das lebenslange Forschungsgebiet von
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Florian Menz – nämlich die Analyse institutioneller Kommunikation – auf kreative Weise auf einen neuen Bereich aus. Hausendorf führt eingangs aus, dass es eigenartig anmute, dass die Bedeutung räumlicher Kontexte als kommunikative Ressource in der Gesprächsanalyse bisher ein ausgesprochenes Nischendasein führte, obwohl die Beschäftigung mit der »Sprechsituation« einer der Ausgangspunkte der linguistischen Pragmatik gewesen sei. Er unterscheidet für seine folgenden Überlegungen drei Aspekte von Räumlichkeit, die für die Face-to-face-Kommunikation von Bedeutung sind: solche, die die Ko-Orientierung der Beteiligten beeinflussen; solche, die sich auf ihre Ko-Ordination und schließlich solche, die sich auf die Ko-Operation auswirken. Damit wird der Interaktionsraum zur konstitutiven (und permanenten) Interaktionsressource, die benutzbar und semiotisch interpretierbar ist und unterschiedliche Formen der Teilhabe der Benutzer*innen ermöglicht. Beispielhaft illustriert werden diese theoretischen Überlegungen anhand einer Analyse (moderner) universitärer Hörsaalarchitektur. Anhand seiner grundlegenden Merkmale (ansteigende Sitzreihen, klappbare Pulte, Podium, Pult und Tafel an einer der Stirnseiten) zeigt Hausendorf, dass ein Hörsaal für die Kommunikation in Großgruppen (›Eine/r-zu-vielen‹-Kommunikation) konzipiert ist, die sich prototypisch im deutschsprachigen Konzept der kommunikativen Gattung der ›Vorlesung‹ manifestiert. Anhand zweier Fallstudien von unterschiedlichen Arten des Vorlesungsbeginns zeigt der Autor dann, wie Vortragende mit den spezifischen Merkmalen der Vorlesungsarchitektur (ihrem »Interaktionsverhinderungscharakter«) umgehen können. Das erste Beispiel zeigt, dass der eigentliche Vorlesungsbeginn nicht mit dem Vortragsbeginn der Dozentin gleichgesetzt werden kann, sondern dass dieser nur der Endpunkt des Beginns ist, der damit anfängt, dass die Studierenden sukzessive die Sitzreihen füllen und sich körperlich so ausrichten, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die Vortragende richten können und dass beide Interaktionsparteien ihre jeweiligen Schreib- und Leseflächen in Betrieb nehmen. Das zweite Fallbeispiel zeigt, dass ein Dozent (zumindest in eingeschränktem Ausmaß) die starren Vorgaben der Hörsaalarchitektur auch unterlaufen kann. Indem ein Dozent zum Beginn der Vorlesung nicht seinen Platz hinter dem Pult (wie das zumindest die Architektur nahelegen würde) einnimmt, sondern zwischen Podium und der ersten Sitzreihe hin und her geht, nutzt er einen ›Zwischen‹-Raum, der keine funktionale Vorprägung durch die Institution hat. Dass dieses Verhalten offenbar kein Zufall ist, zeigt Hausendorf anhand einer detaillierten Analyse des verbalen Vorlesungsbeginns. Der Dozent verwendet eine Begrüßungsform und eine Ereigniskategorisierung, die nahelegen, dass er eine stärker dialogorientierte Lehrveranstaltung plant als die Dozentin aus dem ersten Beispiel. Aus diesen beispielhaften Analysen schließt der Autor, dass die Gattung ›Vorlesung‹ und die moderne
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Hörsaalarchitektur in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Luzia Plansky setzt sich in ihrem Beitrag mit der Anwendbarkeit gesprächsanalytischer Forschungsergebnisse und Konzepte im Rahmen von Kommunikationstrainings auseinander. Damit nimmt sie einen inhaltlichen Schwerpunkt der Forschungen von Florian Menz auf, der sich immer wieder mit Fragen der Anwendung (und Anwendungsorientierung) der Ergebnisse angewandt-linguistischer Forschung in Beratungs- und Trainingskontexten auseinandergesetzt hat. Die Autorin geht dabei auf zwei Problembereiche ein, die sich bei der Konzeption und Durchführung gesprächsanalytisch orientierter Kommunikationstrainings ergeben. Zum einen – wie auch schon in der angewandt-gesprächsanalytischen Literatur diskutiert – erfordert die Anwendung von Konzepten und Methoden der Gesprächsanalyse einen hohen Arbeitsaufwand von Seiten der Kommunikationstrainerin/des Kommunikationstrainers, da es als unabdingbar gilt, dass Gesprächstrainings auf Transkripten authentischer Gespräche beruhen – und solche Transkripte müssen eben von der/dem Trainer*in vorab erstellt werden. Gerade diese Voraussetzung stellt aber auch die beauftragende Institution und die Teilnehmenden vor zusätzliche Anforderungen. Denn die Institution muss dem/der Trainer*in in ausreichend zeitlicher Distanz vorab Zugang (inklusive audiovisueller Aufnahmemöglichkeiten) zu jenen institutionellen Settings ermöglichen, die im Zentrum des geplanten Kommunikationstrainings stehen, und die Teilnehmenden müssen sich Lektürefähigkeiten zum Lesen von gesprächsanalytischen Transkripten aneignen, was erfahrungsgemäß eine große (Motivations-)Hürde darstellen kann. Der zweite Problembereich betrifft den konkreten institutionellen Kontext, in dem die Kommunikationstrainings der Autorin stattfinden. Es handelt sich dabei um von der öffentlichen Hand finanzierte eintägige Kurse für Langzeitarbeitslose. Einer der beiden Kurse ist dabei von anderen Kurstagen gerahmt, in denen es auch um andere Themen der interpersonellen Kommunikation geht, während der andere Kurs Teil eines mehrtägigen Kursprogramms zur individuellen Weiterbildung ist und von Kurstagen zu ganz unterschiedlichen Themen gerahmt wird. Dieses institutionelle Arrangement führt zu einer großen Inhomogenität in der Gruppe der Teilnehmenden und macht es deshalb unmöglich, irgendeine Art von für alle relevanten Kursmaterialien vorzubereiten. Darüber hinaus stellt sich auch das Problem der Teilnehmendenmotivation, das eine Verwendung von Gesprächstranskripten in der Trainingssituation zusätzlich verunmöglicht. Auch Rollenspiele sind in dieser Kurssituation nicht möglich, wie die Autorin ausführt, da es keine Zielvorgaben für die Trainings gibt, d. h. es sollen nicht bestimmte Gesprächstypen, sondern ›Kommunikation‹ im Allgemeinen geübt werden.
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Die Autorin argumentiert, dass trotz dieser institutionellen Vorgaben die gesprächsanalytischen Grundlagen eines Kurskonzepts nicht über Bord geworfen werden müssen, sondern präsentiert ihre kreativen Lösungen, die sie im Rahmen dieses Settings entwickelt hat. In vier Phasen werden die Teilnehmenden zunächst für die Themen Sprache und Sprachverwendung als Thema der Gesprächsanalyse sowie für ihre eigene Sprachbiographie sensibilisiert. In der zweiten Phase wird mit den Teilnehmenden über ihre eigenen Vorstellungen von ›gelungener Kommunikation‹ reflektiert, wobei es auch um individuelle Veränderungspotentiale geht. Diese Reflexionsphase wird durch Übungen unterstützt, die auch in der dritten Phase des Trainings (der ›Aktivierung‹) zentraler Bestandteil des Kurskonzepts sind. In dieser Phase werden den Teilnehmenden zuerst zentrale Konzepte und Ergebnisse der Gesprächsforschung vermittelt, die dann im Rahmen von Übungen ›erlebbar‹ gemacht und deren aktive Beeinflussbarkeit durch die Teilnehmenden abschließend diskutiert werden. In der letzten Phase des Trainings werden den Teilnehmenden schließlich Möglichkeiten einer längerfristigen Anwendung der im Laufe des Kurstages geübten Kommunikationsaspekte vermittelt. Insgesamt zeigt das von Plansky detailliert dargestellte Kursprogramm, wie man trotz widriger institutioneller Rahmenbedingungen durch kreative Kursund Übungskonzeptionen ein gesprächsanalytisch fundiertes Kommunikationstraining für eine inhomogene Teilnehmendengruppe gestalten kann. Stephan Habscheid, Christine Hrncal, Felix Carros und Jens Lüssem beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit einem Thema mit hoher gesellschaftlicher Relevanz, nämlich der Mensch-Roboter-Interaktion (HCI). Sie berichten Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt, das zwei Teams aus Angewandten Linguist*innen und Informatiker*innen der Universitäten Siegen und Kiel gemeinsam durchführen. Im Rahmen dieses Projekts sollen die Akzeptanz eines humanoiden Roboters (›Pepper‹) in verschiedenen institutionellen Kontexten erforscht und verschiedene betroffene Gruppen und unterschiedliche Situationen untersucht werden. Das übergeordnete Ziel dabei ist, langfristiges Vertrauen zwischen (prospektiven) Nutzer*innen, Forscher*innen und Entwickler*innen aufzubauen, um so zu einer dialogischen Orientierung beizutragen und die Fähigkeit zur gegenseitigen Perspektivenübernahme zwischen institutionellen Stakeholdern zu entwickeln. Damit greifen die Autor*innen einen Forschungsstrang auf, für den Florian Menz in seiner Zusammenarbeit mit Hans K. Stahl die Grundlage geschaffen hat. In dem Teilprojekt, über das die Autor*innen im vorliegenden Band berichten, steht die Anwendung von Robotik in der Altenpflege im Mittelpunkt. Dabei sollen die Beteiligten unterschiedliche Anwendungsbereiche eines möglichen Robotereinsatzes in dieser Institution gemeinsam konzipieren. Die Öffentlichkeit und andere relevante gesellschaftliche Bereiche wie Medien, Politik, Recht
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und Wirtschaft werden dabei durch Workshops und öffentliche Präsentationen mit einbezogen. Ein Fokus der Forschung liegt dabei auch auf der Artikulation und Bearbeitung möglicher negativer Emotionen, die dem Einsatz von Robotern in der Altenpflege von verschiedenen Stakeholdergruppen entgegengebracht werden. Zwei Fallbeispiele aus sehr unterschiedlichen Kontexten der HCI illustrieren nicht nur das methodische Vorgehen der Forscher*innen sondern erbringen auch überraschende Ergebnisse. Im ersten Fallbeispiel präsentieren die Autor*innen einen Transkriptausschnitt, in dem eine Bewohnerin eines Altenpflegeheims direkt mit Pepper interagiert. Dabei zeigt sich, dass die Bewohnerin dem Roboter gegenüber keinerlei Berührungsängste hat und ihm gegenüber auch positive Emotionen äußert, obwohl die Kommunikationsaktivitäten des Roboters aufgrund seiner technischen Möglichkeiten eingeschränkt sind. Demgegenüber steht das zweite Fallbeispiel, in dem ein Transkriptausschnitt untersucht wird, der von einer öffentlichen Präsentation des Roboters bei einer Altenpflegemesse stammt. Die dabei anwesende Politikerin zeigt sich dem Roboter gegenüber eher irritiert und distanziert. Die Autor*innen schließen aus den beiden Fallbeispielen in ihrem Fazit, dass die unmittelbar Betroffenen dem Roboter gegenüber durchaus aufgeschlossen agieren (wobei die Frage offen bleibt, wie lange diese Aufgeschlossenheit angesichts der demonstrierten weitgehenden Unfähigkeit des Roboters spontan zu kommunizieren anhalten würde), während es in Gruppen, die weiter vom unmittelbaren Einsatzgebiet des Roboters entfernt sind, auch andere emotionale Reaktionen geben kann, die im Rahmen des Projekts noch bearbeitet werden könnten. Der Band spannt also eine Bandbreite von theoretisch-methodologischen Überlegungen zu Kommunikation in Organisationen/Institutionen über detaillierte empirische Fallstudien bis hin zu (auch macht-)kritischen Perspektiven auf Organisationen/Institutionen und die Rahmenbedingungen, die sie Kommunizierenden setzen. Genau diese Bandbreite charakterisiert auch, wie man auch in den vielfältigen Bezugnahmen der in diesem Band versammelten Beiträge erkennen kann, das Werk von Florian Menz. Man könnte auch sagen: sie ist konstitutiv für dieses Werk, denn für Florian Menz war Angewandte Sprachwissenschaft notwendigermaßen immer zugleich Theorie, Methodologie, Empirie und Kritik. Mit dieser Perspektiventriangulation (auch dies ein für ihn typischer Begriff) hat er die Angewandte Sprachwissenschaft nachhaltig geprägt, und sein Werk wird das Fach weiter prägen.
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Jürgen Spitzmüller / Rudolf de Cillia / Helmut Gruber
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Konrad Ehlich (Berlin/München)
Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
Florian Menz Florian Menz, dessen wir im Anschluss an das Kolloquium im Jahr 2018 zur »institutionellen Kommunikation« mit diesem Band gedenken, hat für verschiedene institutionelle Zusammenhänge in der Entwicklung der noch jungen Forschungsrichtung bedeutende Beiträge geleistet. Die Angewandte Sprachwissenschaft in ihrer Wiener Ausprägung ist mit seinem Namen dauerhaft verbunden. Florian Menz hat zur Wirtschaftskommunikation gearbeitet, zur Politischen Kommunikation, insbesondere in Österreich, und vor allem zur Medizinischen Kommunikation. Es ist wesentlich auch durch seine Arbeit gelungen, Wien im deutschsprachigen Raum zu einem Zentrum gerade für die Analyse Medizinischer Kommunikation zu machen (vgl. neben den Arbeiten von Florian Menz exemplarisch für die Entwicklungen in Wien z. B. Lalouschek 1995 oder Sator 2011). Aspekten der Medizinischen Kommunikation möchte ich die folgenden Überlegungen widmen. So wie die institutionelle Kommunikation insgesamt erst relativ spät zu einem genuinen Arbeitsfeld linguistischer Analyse wurde, stellt sich die Situation für die Kommunikation im weiten Feld der Gesundheit dar.
1
Kommunikationsanalysen
1.1
Empirie und Empirieschwellen
Die Entwicklung von Kommunikationsanalysen pendelt zwischen zwei Extremen: einerseits einer gewissen Beliebigkeit der Themensetzungen, andererseits einer spezifizierten Thematisierung, die sich auf die sprachliche Wirklichkeit in den Interaktionen der Sprechenden tatsächlich einlässt. Deren Kommunikation geschieht weithin in ihrer Institutionalität. Das bedeutet, dass die linguistische Analyse vor einer spezifischen Herausforderung von Empirie steht, einer Em-
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Konrad Ehlich
pirie, deren Anforderungen weit über das hinausgehen, was ältere empirisch orientierte linguistische Arbeiten entwickelt haben, wenn sie z. B. Sprecherurteile über die Richtigkeit sprachlicher Äußerungen einholten oder im Bereich der Dialektologie oder Kulturanthropologie Lexika einzelner sprachlicher Varietäten durch Befragungen und Beobachtungen erhoben haben. Eine Analyse von Kommunikation in Institutionen, die empirisch verfährt, stößt sehr früh auf Empirieschwellen: Zugang zu Institutionen zu gewinnen erweist sich als alles andere als einfach. Diese Institutionen umgibt eine Art von Geheimnis, ein analytisches Arkanum, das zu überwinden, um zu den Zentren der Institution selbst vorzudringen, eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit ist. Verfährt man nicht in einer Art ›Wallraff-Verfahren‹, als ›Undercover-Forscher‹, überwindet man das Arkanum also nicht als seinerseits geheimer, geradezu spionageartig arbeitender Aktant innerhalb der Institution, bedarf es anderer Verfahren, um authentische Sprachdaten überhaupt zu gewinnen. Die Empirieschwellen lassen den Forschenden leicht und schnell die Lust an ihrer eigenen Forschung vergehen. Ersatzdaten treten an die Stelle, z. B. die Ergebnisse von Befragungen, in denen den zu Untersuchenden selbst gleichsam die analytische Arbeit in die Hand gelegt wird. Die Datenresultate tragen dann freilich weithin das Signet des nicht erfolgten, also nicht erfolgreichen Eindringens in die Institution an sich. In der ersten großen Arbeit von Florian Menz (Menz 1991) wird im Titel der hier genannte Aspekt institutioneller medizinischer Kommunikation zum Thema, indem diese als ›geheimer Dialog‹ charakterisiert wird. Das Geheimnis wird explizit angesprochen – und darin wird zugleich deutlich, dass Geheimnisse nicht nur an der Schwelle der Institution, bei den ›Türhütern‹, ihren Ort haben, sondern innerhalb der Kommunikation selbst.
1.2
Eingreifende vs. anschauende Wissenschaft
Wenn Empirie geschieht, so erfolgt sie häufig mit einer Intention direkten Wirkens in dem Feld, das sie beforscht. Sofern dies der Fall ist, ist sie exemplarisch für einen spezifischen Typ von Wissenschaft, dem ein anderer Typ gegenübersteht. Ich nenne letzteren zusammenfassend eine anschauende Wissenschaft. Dieses Anschauen trägt aus der griechischen Wissensentwicklung her den Namen Theorie (vgl. Rehbein 1994). Sie erfreut sich gleichsam an der Beobachtung ihrer Objekte, vor allem aber an der Entwicklung ihrer Theoriegebäude, an deren Aufbau und an deren Vervollständigung. Eingriffe in den Objektbereich liegen ihr fern. Dem steht die zuerst genannte Wissenschaft gegenüber, eine eingreifende Wissenschaft. Sie hat Praxis zum Ziel.
Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
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Die Opposition zwischen eingreifender und anschauender Wissenschaft findet sich scheinbar in der fachdisziplinären Aufteilung als Unterschied zwischen theoretischer (oder allgemeiner) vs. angewandter Sprachwissenschaft wieder. Doch diese Umsetzung täuscht. Denn die angewandte Wissenschaft ist nicht theorielos (vgl. Ehlich 1999/2007). Um eingreifend sein zu können, bedarf es vielmehr theoretischer Fundierungen, die nicht an ihren eigenen Grenzen enden, sondern die vielmehr für Praxis offen sind – die Arbeit von Florian Menz war eine eingreifende Wissenschaft.
2
Institutionen und ihre Kritik
2.1
Institution und Linguistik
›Institutionen‹ sind zunächst einmal keine genuin linguistische Thematik. Besonders dann, wenn Linguistik in einem ganz engen Sinn verstanden wird (so die Tendenz im 20. Jahrhundert), findet sich von ihr – und schon gar für die anschauende Wissenschaft – kein möglicher Übergang zur Thematik ›Institution‹. Dort, wo Linguistik sich immerhin auf andere Wissensgebiete als ihren theoriearbeitsteilig selbstdefinierten Kern einlässt, dort, wo es also zu disziplinären Berührungen kommt z. B. mit der Soziologie oder der Psychologie, hat Linguistik sich weithin entfaltet als Soziolinguistik oder als Psycholinguistik. Diese sogenannten Bindestrichlinguistiken teilen mit der Linguistik die Zurückhaltung, ja die Scheu gegenüber Wirklichkeitsstrukturen wie Institutionen. Vielmehr zeigt sich in ihnen eine starke Tendenz zu einer analytischen Auflösung der Wirklichkeit in der Zahl, also in der qualitativ schwächsten Kategorie. Die eigentlichen konzeptionellen Interaktionen zwischen der Linguistik und Disziplinen wie der Soziologie oder der Psychologie bleiben vergleichsweise unberührt (vgl. demgegenüber Koerfer 1994).
2.2
Soziologie und Institutionsanalyse
In der Disziplin, bei der man Auskünfte über Institutionen am ehesten einholen möchte, der Soziologie (vgl. zum Beispiel Schelsky 1970), wird man freilich auch in einem wesentlich geringeren Umfang fündig, als man vermuten würde (s. Ehlich und Rehbein 1994). Lange hat die neuere Soziologie Institutionen eher nicht zum Thema gehabt. Lange war einer der wenigen der Sozialanthropologe Arnold Gehlen, der sich mit der Institution intensiv und originell beschäftigt hat (s. Gehlen 1956 und den Band 5 der Gesamtausgabe). Bei Gehlens Schüler Rehberg in Dresden hat dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Thematik eine
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Konrad Ehlich
breite Rezeption erfahren (Rehberg 2014). Soziologen wie Münch entwickeln theoretische wie empirische Konzepte (vgl. Münch 2001). In anderen Soziologien hingegen zeigt sich eher eine theoretische Auflösung von Institutionalität in das Konzept der Regel. Wenn Regel zur zentralen Kategorie gemacht wird, verliert eigentlich das Spezifikum der Institution freilich genau seine Spezifizität, bis dahin, dass in einer solchen Konzeptualisierung dann auch die Sprache selbst als ein Beispiel von Institution erscheint. Dies trägt freilich weder zum Verstehen von Sprache noch zum Verstehen von Institution wirklich bei; vielmehr handelt es sich dann weitgehend eher um lediglich metonymische Kategorisierungen. Die Widerständigkeit der institutionellen Wirklichkeit erfordert aber eigene Zugänge, wenn Erkenntnisse über die Kommunikation in ihr gewonnen werden sollen. Eine dermaßen das Arkanum der Institution überwindende Analyse geschieht nicht zuletzt als eine Analyse im Geist der Aufklärung.
2.3
Institutionenkritik
Eine solche Analyse im Geist der Aufklärung ist zugleich und eo ipso eine kritische Analyse. Für das Verhältnis von Institutionen und Interaktionsstrukturen bedeutet das, dass diese Analyse als Institutionenkritik praktiziert wird. Institutionenkritik aber ist etwas, was sich die Institutionen nicht gern bieten lassen. Sie wie die Gesellschaft als ganze verbitten sich den Widerspruch, verbitten sich die Kritik an dem, was sie selber tun, was ihre eigene Praxis ist. Der französische Soziologe Poulantzas (s. Poulantzas 1974) hat Institutionen als gesellschaftliche Apparate analysiert. Sie sind ihm zufolge die Maschinerie, die die Gesellschaften als ganze am Laufen halten. Dies macht die Plausibilität deutlich, nach der Institutionen kritikresistent sind. Kritik ist jener Sand, der sie in ihrem reibungslosen Funktionieren behindert.
2.4
Institutionszwecke
Keine Gesellschaft besteht ohne Institutionalität. Die Institutionen als die gesellschaftlichen Apparate sind auf spezifische gesellschaftliche Zwecke bezogen. Die Zwecke der Institutionen sind Umsetzungen der gesellschaftlichen Zwecke – und zugleich Umsetzungen der gesellschaftlichen Widersprüche – in Praxisfelder, die nur in ihrer institutionellen Verfasstheit eine tatsächliche gesellschaftliche Existenz haben.
Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
3
29
Beispiel Medizin
Am Beispiel der Medizin lassen sich Aspekte der in Abschnitt 2 genannten Strukturmerkmale und einige ihrer Folgen relativ gut ablesen.
3.1
Zweckzentren
Die Medizin stellt in sich einen institutionellen Großraum dar. Er ist gekennzeichnet durch eine Kombinatorik von Zwecken, die unterschiedliche Zweckzentren erkennen lassen, in denen Zwecke gebündelt sind. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den individuellen Zwecken der einzelnen Interaktanten, dem Gruppenerhaltungszweck und dem Gesellschaftszweck als Ganzem. Gesundheit ist als individueller Zweck unmittelbar präsent. Seine gruppenerhaltende Funktion wird nicht zuletzt dort deutlich, wo der individuelle Zweck massenhaft, im Fall z. B. von Epidemien wie der Pest, verfehlt wird und eine Gruppe als ganze gefährdet wird. Solche Dysfunktionalität kann die Gesellschaft nicht nur tangieren, sondern diese Gesellschaft selbst in Frage stellen. Die Zweckkombinatorik setzt sich in mindestens dreierlei Weise um: (a) in den Wissensstrukturen, (b) in den Handlungserfahrungen und (c) in der gesellschaftlichen inneren Strukturorganisation.
3.2
Institutionelle Verflechtungen
Verfolgt man die Institutionen, in unserem Beispielfall der Medizin, durch die Geschichte, so sehen wir, dass sie einem zunehmenden Prozess der Systematisierung unterliegen. Im Verlauf dieses Prozesses kommt es zu interessanten Verflechtungen. Zwei Arten von Verflechtungen sind dabei zu unterscheiden, intrainstitutionelle Verflechtungen und interinstitutionelle Verflechtungen. Ich gruppiere sie der Einfachheit halber in A-Verflechtungen (intrainstitutionell) und B-Verflechtungen (interinstitutionell).
3.3
A-Verflechtungen
Die A-Verflechtungen sind institutionelle Verflechtungen von einem Institutionsbereich in den oder in die anderen. Je komplexer Gesellschaften werden, umso stärker bildet sich eine ebenfalls komplexe Intra-Institutionalität heraus, ein Umstand, der weithin analytisch zu wenig beachtet wird. Diese Intra-Institutionalität hat zum Beispiel in der teleologischen Dimension der Kommunika-
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Konrad Ehlich
tion Konsequenzen in Bezug auf (a) Wissensstrukturen hin zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung. Von der Existenz des Baders im ausgehenden Mittelalter über das hin, was sich in der Frühen Neuzeit (Paracelsus) geradezu exemplarisch auf diesem Gebiet entwickelt hat, lässt sich diese Verwissenschaftlichung bis zur medizinischen Universität heute mit all ihren Spezialisierungen beobachten. Zugleich ist sie als Teil der Systematisierungen Ausdruck veränderter Handlungserfordernisse. Der Prozess der Verwissenschaftlichung zeigt sich als ein Prozess, der bei konkreten Handlungserfahrungen (b) seinen Ausgang nimmt und sich in veränderten Wissensstrukturen (a) niederschlägt. Ein anderes Beispiel bietet das Krankenhaus. Wenn man das mittelalterliche und frühneuzeitliche Hospital als einen Ausgangspunkt nimmt, vollzieht sich von dort her die Veränderung hin zum Krankenhaus und zur ganzen Krankenanstalt. Abzulesen ist die Veränderung bereits an den Gebäudestrukturen, die in sich ein wichtiger Aspekt für das sind, was Institutionen sind (vgl. Hausendorf i. d. Bd.). Das alles erfolgt in der Konsequenz der Systematisierung von Wissensstrukturen (a) und von Handlungserfordernissen (b), bezogen auf die gesellschaftliche Gesamtstruktur (c) und ihre Charakterisierungen. Diese gesellschaftlichen Gesamtstrukturen verändern sich zugleich von einer weitgehend religiös bestimmten Ausgangslage mit entsprechenden religiös fundierten gesellschaftlichen Verpflichtungen hin zu säkularen Substrukturen in der Gesellschaft als ganzer, wobei gerade hier wichtige Übergänge zu beobachten sind, wie sie sich etwa in der Einrichtung der ›Diakonissen-Anstalten‹ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zeigen – bis hin zur heutigen – säkularisierten – ›Schwesternschaft‹. Neben der teleologischen steht die gnoseologische, also die erkenntnisbezogene Dimension. Für die Wissensstrukturen (a) ist dies die Anthropologie, die in der Wissensstrukturorganisation eine Rolle spielt und ihrerseits gekennzeichnet ist durch Prozesse der weitestgehenden Säkularisierung, also der Umsetzung aus dem institutionellen Bereich der Religion (wie es eben schon am Beispiel des Krankenhauses illustriert wurde). Diese Bindung von Heilung an Religion ist z. B. in der jüdischen Welt des Römischen Reiches deutlich zu erkennen. So wird etwa der von Jesus geheilte Leprakranke von ihm entlassen mit der Aufforderung: »Geh hin und zeige dich dem Priester« (Matthäus 8, 4). Der Priester ist derjenige, der bestimmt, wo Lepra noch aktiv oder nicht mehr aktiv ist, der Kranke also gesund geworden ist. Säkulare Instanzen und Institutionen sind an die Stelle des religiösen Verfahrens getreten. Diese Herausnahme aus dem religiösen Bereich betrifft also die Wissensstrukturen (a), die Handlungsanforderungen (b) und die gesellschaftliche Strukturorganisation (c).
Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
3.4
31
B-Verflechtungen
Wenn wir zum kommunitären, also dem gesellschaftsstiftenden Bereich kommen, stoßen wir auf den zweiten Typ von Verflechtungen, auf die interinstitutionellen Verflechtungen. Dies gilt z. B. für die Verrechtlichung: Die medizinischen und die rechtlichen Strukturen greifen ineinander. Genauer : Die rechtlichen Strukturen greifen in die medizinischen ein. Das gilt zunächst auch für den Bereich der Wissensstrukturen, wie zum Beispiel der hippokrateische Eid zeigt, den die Mediziner früher schwören mussten und der jetzt in einer gleichfalls veränderten Gestalt noch immer und weiterhin Gültigkeit hat. Dies ist aber nur ein Aspekt. Betrachten wir die inneren Organisationsstrukturen in Bezug auf die gesellschaftliche Institutionspräsenz (also von b zu c), so zeigt sich in einer gewaltigen, geradezu springflutartigen Entwicklung eine durchgehende Verrechtlichung des medizinischen Bereichs spätestens seit dem 18. Jahrhundert. Diese Verrechtlichung setzt sich in den nächsten institutionellen Sub-Bereich um, nämlich den der Administration. Sie macht das, was rechtlich festgelegt ist, sozusagen dingfest. Die administrativen Organe freilich weisen die Tendenz auf, sich an die Stelle dessen zu setzen, wofür sie eigentlich eingesetzt sind (ein sehr spezieller Fall der bei Hegel in ihrer Widersprüchlichkeit herausgearbeiteten Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft). Die innere Organisation in der institutionellen Struktur (c) schlägt zurück in die Wissenssysteme (a) und in die Realität des kommunikativen alltäglichen Handelns (b), so dass sie dieses Handeln in den konkreten Einzelinstitutionen und -instituten der Medizin zunehmend bestimmt. Diese administrative Verrechtlichungsorganisation wiederum aber ist ein Ausfluss und ein Ausdruck von Institutionen der Politik (c). Sie geschieht nicht primär als innerorganisatorische Tätigkeit von Seiten der medizinischen Einrichtungen, sie wird vielmehr bestimmt durch Vorgaben, durch Rahmensetzungen der Politik. Der Prozess ist gegenwärtig in der BRD am Bereich der Pflege besonders deutlich und in seinem Fortgang zu beobachten. Die B-Verflechtungen lassen sehr deutlich werden, dass wir es hier mit einer Mehrfachverflechtung zu tun haben. Diese Mehrfachverflechtung der Institutionen ist zentral für das, was im ganzen institutionellen Bereich bis in die einzelnen kommunikativen Handlungen hinein das sprachliche Handeln bestimmt.
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4
Konrad Ehlich
Die ökonomische Institutionalisierung
Ein Teil der Mehrfachverflechtungen mit besonders drastischen Auswirkungen wird durch die ökonomische Institutionalisierung bestimmt. Sie war keineswegs ein kontinuierliches Element im medizinischen Zusammenhang, entwickelt sich aber mehr und mehr zu einem zentralen Bereich. Ausgangspunkt ist eine Art Subsistenzmittelaustausch zwischen dem Heilenden und dem zu Heilenden. Dies geschah in der uns bekannten westlichen Welt bereits früh in einer systematischen Weise, die im Einzelnen freilich etwas schwer zu rekonstruieren ist. Er erfolgt heute zwischen den Agenten und den Klienten der Institution, prototypisch also zwischen dem Arzt und dem Patienten, in einer Form, die im Zuge der Herausbildung der Geldorganisation dieser subsumiert wurde. Dies ereignet sich in Verfahren, die zunächst einmal der Interaktion innerhalb der Institution Medizin völlig fremd sind. Das Systemfeld der Geldorganisation entwickelt sich seinerseits weiter und weiter, wird im 19. Jahrhundert zu einem ausgearbeiteten System von Versicherungen. Dieses System wiederum wirkt sich unmittelbar bis in die letzte Alltagspraxis eines Allgemeinmediziners oder einer Pflegerin aus. Indem aber Institutionen der Ökonomie sich den institutionellen medizinischen Gesamtzusammenhang subsumiert haben, stellt sich eine neue Herausforderung institutioneller Art: Übersetzungen des erfahrungsbasierten Handlungswissens (b) in seiner verwissenschaftlichen Form (a) sind in eine neue ökonomisierbare Praxis (c) vorzunehmen. Dies ist dann der Ort, an dem Problemlösungen aus anderen Bereichen der Ökonomisierung auch im medizinischen Bereich zum Einsatz kommen, so die Entwicklung der kleinschrittigen Zerlegungen von Ablaufstrukturen und deren Systematisierung, wie sie exemplarisch in den Refa-Verfahren der Industrieproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts (mit Vorformen bereits in der Manufaktur) entwickelt und ökonomisch durchgesetzt wurden. Diese Übertragung von Erfahrungen der materiellen Produktion ins Gesundheitshandeln ergreift immer weitere Bereiche. Wir finden nun eine Reorganisation der Institutionen der Medizin als Institutionen, die solchen Rationalisierungsverfahren der materiellen Produktion unterworfen werden können.
5
Wissensfilter Anthropologie: L’Homme Machine
Für diese Transformation wird aus dem Bereich des Wissens und seiner Systematisierungen (a) etwas relevant, was man Wissensfilter nennen könnte. Dem ist etwas genauer nachzugehen.
Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz
33
In Bezug auf das Bild vom kranken und vom gesunden Menschen erfolgte zunehmend eine Ersetzung älterer Modellierungen durch die Anwendung eines neuen solchen Wissensfilters. Sie legte die Grundlagen für die Übertragung jener Verfahrensweisen der materiellen Produktion in die Medizin. 1748 hat der radikalmaterialistische Aufklärungsphilosoph De la Mettrie ein bahnbrechendes Werk mit dem Titel L’Homme Machine, ›der Mensch eine Maschine‹, geschrieben. Er, ein ›enfant terrible‹ der Aufklärung, wie er seinerzeit charakterisiert wurde, traf mit seiner Idee, dass der Mensch eine Maschine sei, auf ein Menschenbild, das durch diese Ruptur großflächig in die Kritik geriet. Von hier aus kam ein Menschenbild in den ganzen Bereich der Medizin hinein, dem anthropologisch ein Menschenbild gegenübersteht, das man mit Aristoteles charakterisieren kann: ›Der Mensch ein zoon logon echon‹, der Mensch als ein Lebewesen, das Logos, Rede, das Sprache hat. Der Logos, die Rede, kommt im Homme Machine nicht vor. Dieses Maschinen-Modell hat für die Medizin und für ihr Selbstverständnis und ihre handlungsmäßigen Umsetzungen eine fundamentale Bedeutung in der Entwicklung des 19. und dann des 20. Jahrhunderts gewonnen. Auswirkungen machen sich z. B. in einer Metapher wie der des Patientenmaterials bemerkbar. Sicher gehört zu den Auswirkungen auch die Weiterung, die in Bezug auf das ›Menschenmaterial‹ in dessen ›Nutzungen‹ in der faschistischen Medizin der Jahre zwischen 1933 und 1945 den Umschlag einer Metapher in die Barbarei praktizierte und bis heute nicht wirklich aufgearbeitet und durchdacht ist. Die gegenwärtigen Diskussionen um eine gesellschaftliche Verpflichtung zur Organspende lassen in einigen der dabei geäußerten Positionen durchaus Reminiszenzen an diese medizin-›ethischen‹ Diskurse anklingen.
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Gesellschaftsorganisation und Gesundheit
Viele der A-Verflechtungen und der B-Verflechtungen haben im 19. Jahrhundert eine große Dynamik entwickelt. Dieses Jahrhundert ist gesellschaftlich durch die Tendenz zu einem neuen Gesellschaftsmodell charakterisiert, das dem älteren, dynastisch fundierten Gesellschaftsmodell zunehmend die Grundlage entzog. An die Stelle der dynastischen Grundstruktur trat und tritt das ›Projekt Nation‹. Zunächst sind beide Modelle noch miteinander verquickt, indem die Herstellung von Nationen im Gewand dynastischer Innovationen erfolgte. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 setzte sich das Nationenmodell der gesellschaftlichen Organisation in Europa schließlich durch. Die Systematisierung der medizinischen Institutionalität (c) erfolgt wesentlich in großem Rahmen der Nationen. Mit deren Verallgemeinerung kommt es zugleich aber bereits auch zu einer neuen, größeren Kombinatorik, der Inter-
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nationalität. Gerade die a-bezogenen Strukturen, die Formen und Ausprägungen des medizinischen Wissens, verbleiben nicht in einer national verfassten gesellschaftlichen Struktur, sondern die Systematisierung des Wissens wird in eine weltweit agierende internationale Institutionalität transferiert. Deren sichtbarste Erscheinungsweise ist die WHO, die World Health Organization. Die Bestimmung dessen, was Krankheiten sind, ab wann z. B. der Blutdruck als zu hoch anzusehen ist usw., wird in solchen übergreifenden Wissenskatalogen gesetzt. Faktisch freilich ist dieser Prozess der Internationalisierung in Wahrheit vor allem auch die Durchsetzung eines medizinischen Systems, das in der angelsächsischen Welt, besonders in ihren Ausprägungen in Nordamerika (USA und Kanada) die Führung in der medizinischen Weltwissensentwicklung (a) übernommen hat. Die Umsetzungen in definitorische Kataloge spiegelt die tatsächliche Wissensentwicklung wider. Die ökonomischen Bedingungen und die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Gewinnung neuen Wissens sind dort am besten entwickelt. Zunehmend wird das forschende Personal von den dortigen Forschungsinstitutionen geradezu aufgesogen, was zu einer weiteren Multiplikation der Forschungs- und Entwicklungsgewinne führt.
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Interinstitutionalität und ihre Folgen: Verflechtung und Verstetigung
Es findet sich also eine dichte Interaktion verschiedener Organisationen, die in vielfältiger Weise solche A- und B-Verflechtungen herstellen. Das erzeugt im Gesamtergebnis eine außerordentlich leistungsfähige, zugleich freilich auch eine sich selbst schützende Gesamtstruktur. Die Verflechtung hat zunächst eine Verstetigung der daran beteiligten Institutionen zur Folge. Vor allen Dingen aber entwickelt sie als eine spezifische Strukturcharakteristik eine Zähigkeit der Absicherung gegen jedwede Kritik. Die Verflechtung findet weiter ihren Ausdruck in einer Haftungspartikularisierung für die darin beteiligten Aktanten. Die Haftungen werden zerlegt; die schwierigen Fälle von Prozessen wegen sogenannter medizinischer Kunstfehler sind dafür ein manchmal tragisches Beispiel. Hier greifen juristische und medizinische Strukturen ineinander. Die Belehrungspflichten des medizinischen Personals, also der Agenten der jeweiligen medizinischen Institution, gegenüber den Patienten, also den Klienten dieser Institution, sind eine Konsequenz; die für die Klienten im Allgemeinen nicht mehr nachvollziehbaren Beipackzettel zu Medikamenten sind ein weiteres Beispiel. Die verflochtenen Institutionen gewähren sich wechselseitige Stützung in Bezug auf ihre Wissenssysteme (a), in
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Bezug auf ihre Handlungsfolgen (b) und in Bezug auf ihre inneren Strukturorganisationen (c). Unter Verwendung eines Bildes aus der Biologie kann man hier geradezu von einer symbiotischen Strukturkomplexität sprechen. Die verschiedenen Teilbereiche sind zu einer Symbiose verquickt. Das macht den Umgang damit analytisch und praktisch so schwierig. Dies nun ist die Grundlage für das, was ich in einer ironischen Nutzung des gegenwärtig gehypten Ausdrucks Resilienz zur Charakterisierung wesentlicher Aspekte der institutionellen medizinischen Realität bezeichne. Die Institutionen sind extrem widerständig genau gegen jede Infragestellung. Das Geheimnis, das Arkanum, von dem eingangs die Rede war, ist Ausdruck dieser Widerständigkeit. Analysen, die mit dem institutionellen Status quo der Verflechtungen nicht in Übereinstimmung sind, werden von den Institutionen ferngehalten. Zum Teil findet eine solche Resilienz sogar gegen die inneren Zwecke einzelner der in die Verflechtung eingebundenen Institutionen statt. Gerade hier bietet die medizinische Kommunikation ein besonders deutliches Beispiel: Die Krankenkassen müssten, indem sie ihre Zwecke verfolgen, Analysen, wie sie die Linguistik in Bezug auf die Bedeutung der kommunikativen Strukturen in der medizinischen Interaktion herausgearbeitet hat, ihrerseits nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern handlungspraktisch umsetzen. Wenn Unverständnis der Anweisungen, Unverständnis in Bezug auf die medizinischen Informationstexte (Beipackzettel) die compliance der Patienten hinsichtlich der Medikamenteneinnahme in einem Ausmaß negativ beeinflussen und diese geradezu verhindern, wie es zu Recht beklagt wird, so bedeutet das nicht zuletzt Verhinderung der Realisierung von Zwecken, die im Kern der Krankenkassen als Institution liegen. Die Krankenkassen müssten das Modell ›l’homme machine‹ in ihren Leistungsabrechnungen ersetzen durch Verfahren, in denen die therapeutische Arbeit im Gespräch vergleichbarer Stellenabrechnungswerte gewinnen wie z. B. die Durchführung radiologischer Untersuchungen. Interessanterweise artikulieren sich in diesem Zusammenhang jüngsthin zunehmend Teilgruppen des medizinischen Personals selbst (s. Schumm-Draeger 2016; Schumm-Draeger u. a. 2016; Schumm-Draeger 2017; Arbeitsgemeinschaft 2018).1 Eine Analyse der nicht zuletzt ökonomischen Auswirkungen solcher aktueller Zweckverfehlungen für das gesamte System wäre dringend zu wünschen.
1 Ich danke Armin Koerfer für die Hinweise auf diese sich nunmehr ändernde Situation.
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Konrad Ehlich
Institutionsbereich Medizin und Linguistik
Die Medizin ist weithin durch eine Art Verflechtungsblindheit gekennzeichnet. Sie verbindet sich mit einer hohen Perseveranz der einmal (und meist mit guten Gründen) akzeptierten Wissenssysteme. Dies drückt sich in einer strikten Regulierung von Innovation aus – und zugleich durch eine Veränderungsabwehr bis hin zum Leugnen des Offensichtlichen. In mehr als vierzig Jahren seit der ›Pragmatischen Wende‹ in der Linguistik gibt es unterschiedliche Versuche und Herangehensweisen, die der Aufgabe verpflichtet sind, den Stellenwert, die Erscheinungsweisen und insgesamt die Realität von Kommunikation im großen Bereich der Medizin zu erfassen, zu verstehen und in den Einzelheiten und Widersprüchlichkeiten der kommunikativen Praxis zu analysieren. In beeindruckender Weise zeigen – nach älteren Arbeiten wie Köhle und Raspe (1982), Löning und Rehbein (1993), Redder und Wiese (1994), Ehlich et al. (1990) und den oben genannten Wiener Arbeiten – die mehr als 2000 Seiten umfassende editorische Kompilation, die der Linguist Armin Koerfer zusammen mit dem Mediziner Christian Albus unternommen hat (Albus und Koerfer 2018), oder auch das von Albert Busch und Thomas Spranz-Fogasy editierte Handbuch zur Sprache in der Medizin (Busch und Spranz-Fogasy 2015) oder die methodologisch ausgerichteten Analysen in Nowak (2010), um nur einige zu nennen, den erreichten Kenntnisstand. Es zeigt sich freilich auch: Die Entwicklung von Kategorien, die Institutionalität und sprachliche Interaktion gemeinsam zum Gegenstand machen, verhandeln, aufklären – und möglicherweise verändern –, erfordert ein eigenständiges Herangehen (vgl. exemplarisch Rehbein 1986). Medizinisches Handeln als sprachliches Handeln zu sehen ist eine Aufgabe, die nicht zuletzt eine Analyse im Geist der Aufklärung anstrebt. Über der Menge der Detailanalysen sollte dabei nicht vergessen werden, dass – gerade angesichts der institutionellen Resilienz – auch die Linguistik vor einer spezifischen Gefahr steht, der Gefahr nämlich, dass die analytischen Zielsetzungen in aufklärerischer Absicht zwar aufgenommen werden, dass zugleich aber ein Umschlag in eine anschauende Immunisierung des Gegenstandsbereichs geschieht. Angewandte Linguistik wird dann zu einer abgewandten Linguistik. Das innere Funktionieren der Abfolgen, die ›Formschönheit‹ ihrer Strukturen, gerinnt zu einem analytischen Selbstzweck. Demgegenüber ist eine Interinstitutionalität als Institutionsanalyse zweiter Stufe weiterhin eine der zentralen Aufgaben einer sich als eine eingreifend verstehenden Linguistik. Dafür bedarf es der Identifikation von Möglichkeiten eingreifender Analyse unter Einbeziehung der Analyse institutioneller Verflechtungen. Anders – und mit Worten aus Florian Menz’ bahnbrechender ersten großen Untersuchung – gesagt:
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Wenn man die historische Entwicklung bestimmter ›Diskurse‹ in der Analyse berücksichtigt (z. B. den Werdegang der ›Medizinerausbildung im Krankenhaus‹), ergeben sich daraus Erklärungsansätze, die aufgrund eines nur synchronen Querschnittes nicht eruierbar sind. Neben der historischen Dimension ist […] auch eine tiefergreifende institutionelle Analyse notwendig. (Menz 1991: 174).
Ich denke, dieser Satz erfordert – gerade auch – in Bezug auf die Interinstitutionalität eine zweite Anwendung: Nur dadurch können Widersprüche und Paradoxa, die in den Funktionen und Zwecken der Institutionen selbst angelegt sind, selbst aufgedeckt und damit letztendlich auch einmal gelöst oder zumindest gelindert werden. Denn eine Veränderung des sprachlichen Verhaltens allein würde die Lage der PatientInnen nicht verbessern, sondern den Status quo verstärken. Eine Veränderung der sprachlichen Strategien muss immer auch eine Veränderung der latenten Ziele beinhalten, sonst bleibt erstere letztlich erfolglos. (Menz 1991: 174).
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Thomas Spranz-Fogasy (Mannheim)
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen1
1
Einleitung und Überblick
Fragen im psychotherapeutischen Kontext zu untersuchen, ist aus psychotherapeutischer Sicht fragwürdig. Elina Weiste und Anssi Peräkylä, Letzterer einer der führenden konversationsanalytischen Forscher zu psychotherapeutischen Gesprächen und selbst ausgebildeter Therapeut, zitieren aus einer Untersuchung von Elliot et al. aus dem Jahr 1982 folgende Einschätzung: »interpretation and advice are the most helpful and question the least helpful type of therapist intervention« (Weiste und Peräkylä 2015: 2). Dieses Diktum leitet sich her aus der Annahme, Fragen seien durch den mit ihnen verbundenen Antwortzwang in einem so sensiblen Beziehungskontext viel zu invasiv und würden Patienten daher in ihrer Bereitschaft, über ihre seelischen Nöte zu sprechen, eher blockieren. Man könnte hier also eigentlich aufhören, weiter zu forschen. Unterschätzt wird aber in der Forschung zu psychotherapeutischen Gesprächen das interaktionale und kognitive Potenzial von Fragen, das Wilhelm Köller so beschreibt: Fragen leiten hypothetische Vorstellungsprozesse ein, die eine immanente Tendenz haben, in Selbstreflexionsprozesse überzugehen. Fragen helfen uns, Wissensdefizite zu lokalisieren, Wissensbedürfnisse zu thematisieren, Interessen für Ursachen und Funktionen zu artikulieren, Bezüge zur Vergangenheit sowie Zukunft herzustellen […]. Fragen setzen einerseits immer Erfahrungen voraus, sie sind andererseits aber auch dazu bestimmt, neue Erfahrungen zu ermöglichen, weil sie einen Wechsel von Sehepunkten und Wahrnehmungsperspektiven beinhalten. (Köller 2004: 662)
1 Der Beitrag entstammt einer Forschungskooperation des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim) mit der Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik in Heidelberg. Ich danke Professor Christoph Nikendei für die Möglichkeit, den Beitrag auf der Grundlage gemeinsamer Arbeiten publizieren zu können. Im Beitrag wird eine Reihe gemeinsamer Publikationen aufgeführt und für die spezifische Fragestellung genutzt.
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Thomas Spranz-Fogasy
Wie ich später zeigen werde, gibt es auch spezifisch linguistische Gründe, Fragen in psychotherapeutischen Gesprächen mit Erkenntnisgewinn zu untersuchen. Ich möchte zuvor aber noch in gebotener Kürze die Geschichte der linguistischen und gesprächsanalytischen Forschung zu psychotherapeutischen Gesprächen skizzieren, um den Forschungskontext deutlich zu machen. Daran anschließend werden die dem Beitrag zugrundeliegende Daten und die Vorgehensweise dargestellt, bevor die zentralen psychotherapeutischen Sprachhandlungen und ihre Funktionen zunächst allgemein und dann fokussiert auf Fragen vorgestellt werden. Im letzten Abschnitt werden dann die Leistungen der verschiedenen Fragefunktionstypen im Zusammenhang diskutiert.
2
Geschichte und Forschungsstand der linguistischen Psychotherapieforschung2
Als Geburtsstunde der Psychotherapie gelten Freuds und Breuers Studien zur Hysterie von 1895. Die Autoren stellen darin u. a. auch das Aufbrechen von Patientenwiderstand durch gezielte therapeutische Interventionen dar, wodurch Linderung der Krankheitssymptome erzielt werden könne: Man beginnt damit, den Kranken erzählen zu lassen, was er weiß und erinnert, wobei man bereits seine Aufmerksamkeit dirigiert und durch Anwendung der Druckprozedur leichtere Widerstände überwindet. Jedesmal, wenn man durch Drücken einen neuen Weg eröffnet hat, darf man erwarten, dass der Kranke ihn ein Stück weit ohne Widerstand fortsetzen wird. (Freud und Breuer 1895: 257)
Die heilende Wirkung von »sprachlichen Drückhandlungen« ist mittlerweile durch zahlreiche empirische Studien zur psychodynamischen Veränderung nachgewiesen, und es werden darin gezielte therapeutische Sprachhandlungen dafür verantwortlich gemacht (siehe Kabatnik et al. 2019). Sprachliche Intervention gilt dabei als zentrales psychotherapeutisches Behandlungsinstrument. Sprachliche Handlungen und ihre interaktionalen Funktionen sind aber auch der ureigene Gegenstand der Linguistik und insbesondere der linguistischen Gesprächsforschung. Die ersten linguistisch motivierten technischen Aufzeichnungen von Gesprächen galten psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Interviews. 1961 publizierten die Psychiater Pittenger und Daheny zusammen mit dem Linguisten Hockett eine Untersuchung verbaler und paraverbaler Aspekte der ersten fünf Minuten einer psychotherapeutischen Sitzung anhand einer transkribierten Videoaufzeichnung. Zwölf Jahre später stellte Scheflen (1973) bereits multimo2 Ausführlich dazu Peräkylä et al. (2008).
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen
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dale Analysen eines psychotherapeutischen Gesprächs vor, wobei er eine Typologie von neun Körperhaltungen entwickelte, die mit sprachlichen Handlungen wie Erklärung oder Verteidigung einhergehen. Ein gesprächslinguistischer Meilenstein war dann das Buch Therapeutic Discourse: Psychotherapy as Conversation von Labov und Fanshel (1977). Die Autoren untersuchten darin, bezogen auf therapeutische Interventionen, einen 15-minütigen Audioausschnitt eines Gesprächs mit einer Anorexie-Patientin. Mit der Identifikation rekurrenter diskursiver Praktiken oder der Analyse der spezifischen Rollenverteilung schufen sie dabei die Grundlage zur Erforschung psychotherapeutischer Gespräche, aber auch allgemein für Gespräche. Die Unterscheidung von gesprächsweise berichteten events nach epistemischer Autorität der Interaktanten in A- und B- resp. AB-events, mit der Wissensasymmetrien und Wissensabgleich rekonstruierbar werden, besitzt gegenwärtig hohe Relevanz bei der Erforschung von Kognitionen im Gespräch (Deppermann 2018) und hier insbesondere für Analysen zum psychotherapeutischen Gespräch (Weiste et al. 2016). Seit den 1980er Jahren wurden auch im deutschsprachigen Raum psychotherapeutische Gespräche linguistisch-gesprächsanalytisch untersucht. Flader und andere machten dabei Asymmetrien in der Redebeteiligung oder Verstöße gegen Grice’sche Konversationsmaximen in einer von ihnen als »desozialisiert« charakterisierten Kommunikationssituation dingfest (Flader 1978, 1982; Koerfer und Neumann 1982). Diskutiert wurde die Frage, ob Psychotherapiegespräche mit alltagsweltlichen Methoden oder mit systematischen Abweichungen davon geführt werden. Scarvaglieri (2013) geht von Letzterem aus, wenn er faktische Weigerungen, konditionelle Relevanzen wie Antwort-Geben zu erfüllen, Modifikationen des Sprecherwechselmechanismus oder des Agenda-Setting durch den Therapeuten feststellt. Er analysiert anhand von Kurzzeittherapien Handlungen wie das ›Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts‹ und das tiefenpsychologische ›Deuten‹, die der sprachlich vermittelten Wissensumstrukturierung dienen und damit zugleich die Handlungsfähigkeit der Patienten erweitern. Konerding (2015) kritisiert die auf Wissen und sprachliches Handeln beschränkte linguistische Forschung und fordert, auch die emotional-affektive Komponente einzubeziehen. In der Conversation Analysis begann eine systematische Forschung zu psychotherapeutischen Gesprächen mit der Publikation von Conversation Analysis and Psychotherapy von Peräkylä et al. (2008). Darin werden von verschiedenen AutorInnen kommunikative Praktiken der therapeutischen Intervention, die dazu komplementären affirmativen oder widersetzlichen Reaktionen von Patienten oder die Herstellung von Handlungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft untersucht. Bezugspunkt aller Untersuchungen ist dabei eine zentrale Struktureigenschaft von Kommunikation: die grundsätzliche Sequenzialität
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Thomas Spranz-Fogasy
verbaler Interaktion (Deppermann 2008), also die aufeinander bezogene Abfolge von Äußerungen mindestens zweier Sprecher. Sie leistet und garantiert beispielsweise qua konditioneller Relevanz oder wechselseitiger Verstehensdokumentation die Herstellung von Intersubjektivität und bildet auf diese Weise die Grundlage therapeutischer Wirksamkeit (Peräkylä et al. 2008). So zeigen Voutilainen et al. (2018) in einer aktuellen Longitudinalstudie, wie sich Patientenantworten bezüglich einer bestimmten Therapeutenintervention im Muster von adjacency pairs fortlaufend verändern. Dem anfänglichen Widerstand gegen die therapeutische Agenda folgt eine Phase der Ambivalenz, die schließlich zu Zustimmung und Einlassung führt. Veränderung wird demnach erst durch die sequenzielle Organisation im und durch das therapeutische/n Gespräch erzeugt: Sprachhandlungen setzen verbale Reaktionen des Gesprächspartners konditionell relevant, die dann zustimmend oder ablehnend, präferiert oder dispräferiert sein können.3 Weiste und Peräkylä (2015) diskutieren, die konversationsanalytische Forschung zusammenfassend, veränderungsbegünstigende Sprachhandlungen im therapeutischen Diskurs. Veränderungen werden dabei durch den moment-bymoment-Nachvollzug der sprachlichen Interaktion adäquat beschreibbar (siehe auch Voutilainen et al. 2011; Voutilainen et al. 2018; Mack et al. 2016; Kabatnik et al. 2019). Als veränderungsbegünstigende Sprachhandlungen werden vor allem vier grundlegende therapeutische Interventionen unterschieden: – Extensionen, also verstehende und weiterdenkende Fortführungen vollständiger Äußerungen, – Interpretationen als verbalisierte Herstellungen eines umfassenderen Zusammenhangs mit grundlegenden psychischen Mustern und Dispositionen, – formulations i. S. von Reformulierungen von Patientenäußerungen, – und schließlich auch noch Fragen Gemeinsam mit der – zustimmenden oder ablehnenden – Reaktion des Patienten erzeugen diese Sprachhandlungen eine sequenziell konstruierte Sinnbedeutung, die die Grundlage der nachfolgenden Interaktion bildet. Formulations4 sind nach den Beobachtungen von Peräkylä (2013) die meist genutzte Sprachhandlung von Therapeuten in Psychotherapiegesprächen. Es 3 Zum konversationsanalytischen Konzept der Präferenz siehe Pomerantz und Heritage (2013). 4 Die Bezeichnung formulation ist m. E. unglücklich, da es sich nicht um isolierte, unabhängige Sprachhandlungen handelt, sondern vielmehr um Reformulierungen einer bereits verbalisierten Äußerung eines Gesprächspartners. Die begriffliche Problematik wird in der konversationsanalytischen Literatur vielfach und kontrovers diskutiert; vgl. Bilmes (2015: 8); Mack et al. (2016: 38); Scarvaglieri (2013: 36). Hier und bei den nachfolgend dargestellten Typen von formulations werden die englischsprachigen Bezeichnungen belassen, da Übersetzungen nur mit sehr komplexen Ausdrucksbildungen angemessen möglich sind.
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handelt sich um Äußerungen im Deklarativsatzmodus, in denen Therapeuten anzeigen, wie sie die Darstellungen des Patienten verstehen. Die konversationsanalytische Forschung unterscheidet dabei vier Typen von formulations mit jeweils spezifischer psychotherapeutischer Funktion:5 – Highlighting formulations fokussieren emotional bzw. subjektiv erlebensbezogen konnotierte deskriptive Elemente in den Patientenäußerungen. – In rephrasing formulations ersetzt der Therapeut deskriptive Elemente der Patientendarstellung durch Beschreibungen damit verbundenen subjektiven Erlebens und suggeriert dadurch, dass dies der ›eigentliche‹ Gehalt der Patientenäußerung sei. – Relocating formulations bringen verschiedene Darstellungen des Patienten zu verschiedenen Zeiten in einen gemeinsamen, psychologisch bedeutsamen wechselseitigen Erklärungszusammenhang. (Der Unterschied zur therapeutischen Interpretation besteht in der Differenz der Perspektive: Während relocating formulations Äußerungen des Patienten verknüpfen i. S. ›Sie haben gesagt, dass …‹ werden Interpretation aus der Perspektive des Therapeuten formuliert i. S. ›Ich denke, dass …‹.) – Exaggerating formulations schließlich übersteigern Darstellungen des Patienten, um deren Absurdität und Negativität zu verdeutlichen. Der Patient soll damit gezwungen werden, seiner eigenen Darstellung – und ggf. auch Weltwahrnehmung – zu widersprechen; tut er dies nicht, ist auch das ein guter Ausgangspunkt weiterer therapeutischer Diskussion. Zu erkennen ist, in dieser Reihenfolge, an diesen vier Typen von formulations eine ansteigende Beteiligung des Therapeuten, der auswählt, einen nicht genannten Aspekt in den Vordergrund holt, verschiedene Darstellungen verknüpft oder sie gar überspitzt oder, wie es Weiste und Peräkylä formulieren: »In such formulations, the therapist transforms the client’s account and adds some elements that were not originally in the client’s turn« (2013: 306). Und auch die Elizitierungsstrategie der vier Typen von formulations bildet einen Zusammenhang, wobei dieser beim exaggerating durch die präferenzorganisatorische Richtung des Folgebeitrags – nämlich Widerspruch – vorgegeben ist, während highlighting wesentlich offener angelegt ist. Die Vorgabe durch highlighting formulations besteht zunächst nur darin, ›mehr‹ zu dem fokussierten Gegenstand zu äußern, beziehungsweise auf irgendeine noch offene Weise näher auf diesen einzugehen. Rephrasing formulations verändern den Fokus von der sachlichen auf die psychologische Dimension und relocating formulations behaupten einen möglichen musterhaften Zusammenhang, zu dem der Patient im Folgenden Stellung beziehen soll. 5 Siehe dazu Weiste und Peräkylä (2015), Mack et al. (2016).
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Der ausgeprägte Elizitierungscharakter von formulations macht aber auch deutlich, dass die konversationsanalytische Forschung zu Psychotherapiegesprächen deren Fragepotenzial unterschätzt bzw. nicht berücksichtigt. Als Äußerungen im Deklarativsatzmodus werden vergleichbare Sprachhandlungen in anderen Forschungsfeldern als Deklarativsatz-Fragen betrachtet, wie beispielsweise in vielen Untersuchungen zur Arzt-Patient-Kommunikation (Heritage 2010; Spranz-Fogasy 2010). Einen engen Zusammenhang von Fragen und formulations legt auch unsere Studie (Mack et al. 2016) zu therapeutisch funktionalen Typen von semantisch und syntaktisch definierten Fragen nahe, also von W-Fragen und Verb-Erststellungs-Fragen. Es zeigt sich, dass solche Fragen von Therapeuten in ähnlicher Weise wie formulations verwendet werden. Bevor ich im Folgenden die verschiedenen Fragetypen vorstelle und später in ihrem funktionalen Zusammenhang für psychotherapeutische Gespräche diskutiere, sollen aber jetzt erst noch die den Untersuchungen zugrundeliegenden Daten und Methoden vorgestellt werden.
3
Daten und Methode
Das Korpus der Untersuchung enthält 15 audio- und videotechnisch aufgezeichnete psychotherapeutische Diagnosegespräche aus einer Forschungskooperation zwischen dem Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim und der Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik in Heidelberg. TeilnehmerInnen sind fünf TherapeutInnen (1w/4m) und 15 PatientInnen (8w/7m). Die Gesamtdauer der Gespräche beträgt 18 Stunden und 43 Minuten ( = 75 Minuten). Bei den Gesprächen handelt es sich um Erstinterviews, die mit dem Konzept und Manual der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; siehe dazu Arbeitskreis OPD 2014) durchgeführt wurden. Die Gespräche wurden zu Forschungszwecken des OPD-Therapiekonzepts aufgezeichnet, eine weitere Behandlung des Patienten durch den jeweiligen Therapeuten ist nicht vorgesehen.6 Die OPD ist ein vom gleichnamigen Arbeitskreis entwickeltes Diagnostikverfahren, welches dazu dient, die Psychodynamik des Patienten einzuschätzen. Dabei zielt sie auf die Identifikation eines therapeutischen Fokus auf der Grundlage der im Gespräch ermittelten Biografie des Patienten. Die Fokusdefinition bezieht sich auf die hervorstechenden maladaptiven Beziehungsmuster, auf konflikthafte Lebensthemen und persönlichkeitsbezogene Einschränkun6 Die Gespräche wurden also nicht zu Zwecken der linguistisch-gesprächsanalytischen Forschung geführt. Die Ergebnisse der Gespräche wurden den behandelnden Therapeuten für die weitere Behandlung mitgeteilt.
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gen, woraus dann die zentralen therapeutischen Ziele abgeleitet werden. Die therapeutischen Prozesse der nachfolgenden Psychotherapie können dann stets mit den ermittelten Therapiezielen abgeglichen werden, wodurch Veränderungen erkennbar werden. Dabei bezieht sich die OPD auf vier psychodynamische und eine deskriptive Achse (vgl. Arbeitskreis OPD 2014: 35–36): 1. Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen (psychischer, physischer oder sozialer Leidensdruck, Krankheitsverständnis, Behandlungsvoraussetzungen mit Betonung von Erlebensmomenten, Motivationen und vorhandenen Ressourcen, weniger das Krankheitsverhalten) 2. Beziehung (z. B. dysfunktionale Beziehungsmuster, Gegenübertragung) 3. Konflikt (intrapsychische, spannungsreiche Konfliktkonstellationen, lebensbestimmende, verinnerlichte Konflikte, welche interpersonellen Konflikten etc. gegenübergestellt werden können) 4. Struktur (Qualitäten oder Insuffizienzen psychischer Strukturen, strukturelle Bedingungen beim Patienten) 5. Psychische und psychosomatische Störungen nach Kapitel V (F) der ICD-10. Auf den ersten vier Achsen der OPD werden spezifische Charakteristika und die Ausprägung der psychischen Störung, von der der erkrankte Patient betroffen ist, differenziert erfasst und schließlich auf der fünften Achse klassifiziert.7 Das oben dargestellte Korpus wurde hinsichtlich ganz verschiedener linguistisch-interaktionaler Phänomene analysiert. Dazu gehörten beispielsweise vages Sprechen von Patienten (Schedl et al. 2018), Relevanzmarkierungen (Münster 2015) und – in Anlehnung an das Konzept der ›doctorability‹ (Heritage und Robinson 2006; Halkowski 2006) – ›psychotherability‹ in Beschwerdendarstellungen (Fofana 2016), die Verwendung von Modalpartikeln (Fischer 2017) oder kommunikative Praktiken des Widerstands wie ›ich weiß nicht‹Konstruktionen (Stremlau 2017). Alle Untersuchungen wurden mit den Methoden der linguistisch-gesprächsanalytischen Sequenzanalyse (Deppermann 2008) durchgeführt, die Phänomene also als auf der sprachlich-interaktiven Oberfläche sichtbare Untersuchungsgegenstände in ihrem nahen und weiteren Kontext analysiert. Bei diesen Untersuchungen spielten neben formulations immer auch die Fragen des Therapeuten eine besondere Rolle und wurden daher selbst zum Untersuchungsgegenstand. Da formulations einen Fragen vergleichbaren starken elizitierenden Gehalt haben, lag es nahe, zu prüfen, ob die funktionale Typologie, die für formulations entwickelt wurde, auch auf Fragen übertragbar war. Dies wurde durch unsere Studie (Mack et al. 2016) bestätigt, jedoch fanden sich weitere funktionale Fragetypen, die nicht in die Typologie integrierbar waren. 7 Ausführlich dazu siehe auch Mack et al. (2016: 18–25).
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Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Fragetypen vorstellen und sie dann in ihrer Funktionalität für psychotherapeutische/psychodiagnostische Gespräche diskutieren.
4
Fragen im psychotherapeutischen Gespräch
Fragen in der Form von W-Fragen und Verb-Erststellungs-Fragen (V1-Fragen) sollen im psychotherapeutischen Gespräch die Selbstexploration von Patienten anregen. Im Unterschied zu formulations, Extensionen oder Interpretationen, die als responsive actions bezeichnet werden, werden sie als initiatory actions betrachtet (Vehviläinen et al. 2008). Wie schon der initiatorische Aspekt von formulations (und dito von Extensionen und Interpretationen) in der konversationsanalytischen Forschungsliteratur unterschätzt wird (s. o.), wird damit nun der responsive Charakter von Fragen weitgehend ausgeblendet. Dagegen zeigen Boyd und Heritage (2006) oder Spranz-Fogasy (2010), dass Fragen Präsuppositionen enthalten, die dem bisherigen Gespräch entnommen sind bzw. Verstehen dokumentieren, das in vorangegangenen Äußerungen verhandelt wurde. Beide Arbeiten zeigen auch, dass V1-Fragen einen höheren epistemischen Status anzeigen als W-Fragen (und Deklarativsatz-Fragen fast schon Gewissheit des Sprechers dokumentieren). Der Funktionsfokus von Fragen liegt aber natürlich in der Projektionskraft für nachfolgende Reaktionen. In den Reaktionen zeigt sich, wie Fragen verstanden wurden, ob sie typ-gemäß als offene Fragen (i. e. W-Fragen) oder Entscheidungsfragen (i. e. V1-Fragen) bearbeitet werden oder ob sie präferiert oder dispräferiert behandelt werden. Die Reaktionen zeigen also auf, ob der Patient den Agenda-Vorgaben des Therapeuten nachkommt oder ob er sich auf die eine oder andere Weise widersetzt. Solcher Widerstand wird in der psychotherapeutischen Praxis jedoch als produktiver Bestandteil verstanden, eben nicht als zu beseitigendes Hindernis, sondern vielmehr als »part and parcel of the very activity of doing therapy« (Voutilainen und Peräkylä 2016: 549). Jegliches Verhalten, das in Verbindung mit Ablehnung oder Gegenwehr steht, deutet danach auf eine schmerzhafte, aber essenzielle Erfahrung des Patienten und sollte daher zum Ausgangspunkt ausführlicherer Betrachtung gemacht werden. Die Herausforderung des Therapeuten besteht vor diesem Hintergrund nicht zwangsläufig darin, den Widerstand zu überwinden, sondern dessen nutzbringende Funktionen anzuerkennen und den Patienten in der Wahrnehmung seines widerständigen Verhaltens zu unterstützen, es gemeinsam im Gespräch aufzuarbeiten und damit ein beidseitiges Verständnis der ursächlichen Leiden des Patienten zu generieren.
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Gesprächsanalytisch werden hinsichtlich therapeutischer Fragen Antwortvon Nicht-Antwort-Reaktionen unterschieden (answer vs. non-answer responses; siehe MacMartin 2008). MacMartin, die Reaktionen auf optimistische Fragen (optimistic questions) untersucht hat, identifiziert dabei als dritte Gruppe von Antwortreaktionen noch answer-like responses, die Fragen in ihrem Gehalt oder ihrer Agenda retrospektiv modifizieren (refocusing) und damit ihre ursprüngliche Intention verändern.8 Ergänzend zu dieser Einteilung haben wir einen weiteren Typ dispräferierter Patientenreaktionen nachgewiesen (Kabatnik et al. 2019), den wir partiell konforme Antworten nennen. Dabei handelt es sich um einen Mischtyp zwischen dispräferierten und präferierten Reaktionen, der die formalen und inhaltlichen Anforderungen der Frage zwar erfüllt, aber gleichzeitig strukturelle oder formulierungsdynamische Merkmale von Dispräferiertheit aufweist, wie Verzögerungen, Abschwächungen oder Erklärungen.
5
Funktionstypen von Fragen in Therapiegesprächen
Aus sprachhandlungsfunktionaler Perspektive können, wie oben dargestellt, auch Formulations als Deklarativsatz-Fragen betrachtet werden. Für die Entwicklung einer Funktionstypologie von Fragen in Psychotherapiegesprächen lag es daher nahe zu überprüfen, ob sich die funktionale Typologie, die in der konversationsanalytischen Psychotherapieforschung zu formulations entwickelt wurde, auf eigentliche Fragen i. S. von W- und V1-Fragen übertragen lassen. Bei dieser Überprüfung konnten alle vier Typen nachgewiesen werden, die hier in gebotener Kürze zunächst vorgestellt werden sollen (ausführlich siehe dazu Mack et al. 2016).
5.1
Fragen mit Highlighting-Funktion
Fragen werden in Gesprächen im Sinne des Verstehensmanagements vielfach zum Zweck der Klärung einer vorangegangenen Äußerung eingesetzt. In psychotherapeutischen Gesprächen ist es wichtig, bestimmte Themenaspekte eingehender zu beleuchten. Im folgenden Ausschnitt hebt der Therapeut (T) aus den Darstellungen des Patienten (P) einen einzelnen psychologisch relevanten Aspekt hervor :
8 Siehe auch Stivers und Hayashi (2010: 2), die solche Antworten als transformative responses bezeichnen.
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Thomas Spranz-Fogasy
T3_1 (00:39:55)9 415 416 417 418 419
T3
420 421
T3 P
422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432
T3 P
P T3 P T3 P P T3
was machen sie dann? (0.33) an solchen tagen? (2.13) ja versuch ich solchen themen eigentlich aus_m weg zu gehn: hmhm ((Einatmen, ca. 1.5 Sek.)) mich abzulenken h° also gestern abend war_s ganz schlimm hh° da war ich wieder in so_n gedankenkarussell (0.22) und (0.72) hm. ((schmatzt)) sorgen beruf un:d [°hh ] [hm ] (0.66) schuldgefühle irgendwo auch (0.86) was ich (.) ja (.) und dann was für schuld[gefühle? ]
Der Therapeut übernimmt hier zur Identifikation des Fragefokus die Wortwahl des Patienten, gleichzeitig blendet er andere Aspekte in der Darstellung des Patienten aus, die auch von psychotherapeutischem bzw. -diagnostischem Interesse sein könnten wie z. B. hier den Ausdruck gedankenkarussell. Highlighting-Fragen erfolgen in den mir vorliegenden Daten meist in Form einer W-Frage, was anzeigt, dass es um kategoriale Wissenselemente gehen soll. W-Fragen erlauben dabei einen einfachen Zugriff auf das interessierende Element aus der Vorgängeräußerung und machen es so zum Gegenstand einer vertiefenden therapeutischen Exploration.
5.2
Fragen mit Rephrasing-Funktion
Neben der Hervorhebung einzelner Elemente können Fragen in Psychotherapiegesprächen auch dazu dienen, einen Wechsel auf die emotionale Ebene vorzunehmen. Auf diese Weise werden aus sachlichen Berichten mögliche, mit den berichteten Ereignissen verbundene Erlebensweisen erfragt und ggf. als im Bericht implizierter Gehalt suggeriert. Vor dem nachfolgenden Gesprächsaus9 Transkriptausschnitte werden gemäß GAT 2 als Minimaltranskript dargestellt (s. Selting et al. 2009). Die Gespräche werden den Therapeuten zugeordnet (hier T3) und dann den von ihnen aufgezeichneten Gesprächen in der Reihenfolge (hier Gespräch _1). Die Zeitangaben beziehen sich auf den Beginn des Ausschnitts.
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen
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schnitt hatte der Patient berichtet, dass er mit einem Freund Äpfel sehr vorzeitig vom Baum geholt (hier : geruppt für ›gerupft‹) habe, was ihm Ärger mit seinem Vater eingebracht hatte: T3_1 (00:22:36) 395 396 397 398 399 400 401 402
P T3
403 404 405 406 407 408
T3 T3
T3 P P
T3 T3
von meinem vater (.) (hm) (0.41) wissen sie noch was e:r gesagt oder was sie so (1.24) hm ja:: (.) (uns halt) hh° äh (0.59) angemotzt dass die f:: [dass ]wir die viel zu früh geruppt haben dass dass dass man damit nix mehr anfangen kann [hm ] hmhm (1.14) und was hat das bei ihnen für_n gefühl (0.79) hervorgerufen in der situation?
Der Therapeut greift hier nicht, wie bei Highlighting-Fragen, auf das Ausdrucksmaterial des Patienten zurück, sondern bringt initiativ den Aspekt des ›Gefühls‹ ein. Präsupponiert ist dabei, dass eine solche Situation, in der der Patient und sein Freund angemotzt wurden, mit einer erinnerbaren inneren Wahrnehmung von Emotionen einhergeht. Der Patient gibt daraufhin an, ein schlechtes gefühl gehabt zu haben und präzisiert später auf insistierende Nachfrage des Therapeuten, das Gefühl zu benennen, dass er n gefühl von wut – gegen sich selbst und gegen seinen Vater – erlebt habe. Die Rephrasing-Frage erreicht also das Ziel, die subjektive Erlebensebene des Patienten zu fokussieren und ein psychologisch bedeutsames starkes Gefühl auf die interaktionale Oberfläche zu bringen. Bei Rephrasing-Fragen werden W- und V1-Fragen gleichermaßen eingesetzt, neben kategorialen Eigenschaften werden auch attributive Zuschreibungen zu elizitieren gesucht.
5.3
Fragen mit Relocating-Funktion
Therapeutenhandlungen mit Relocating-Funktion zeigen eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem vom Patienten aktuell berichteten Ereignis und einem anderen, zuvor berichteten Erlebnis auf, indem sie beide Patientenerfahrungen verbal miteinander verknüpfen. Das setzt auf der Seite des Therapeuten voraus,
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Thomas Spranz-Fogasy
dass er die verschiedenen Sachverhalte kennt und sie in einen gemeinsamen Zusammenhang stellen kann. Im folgenden Ausschnitt überträgt der Therapeut probatorisch eine Bezeichnung, mit der die Patientin zuvor sich selbst charakterisiert hatte, auf den Lebenspartner der Patientin: T2_4 (00:17:29) 11 12
13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
P
T P T P
T
24 25 26 27
P T P
28 29 30 31
T P
°hh ((schnalzt)) (.) da versuch ich mich natürlich abzuGRE:Nzen (0.57) °hh bei_m FREUND versuch ich_s !AUCH! es is beides en: (.) kraftAKT [heh] [hm:hm] s_is schwierig (.) Hm und dann kommt natürlich jetzt dazu dass ich mir natürlich au=ä:h (0.93) en neuen job wieder such[en muss] [hmmh] (.) °hh (.) ist der freund jetzt (0.68) ne (.) ne zecke (--) wo sie vorher eine waren in beziehungen od (--) also ist der SE:hr abhängig von ihnen ode:r ((Einatmen, 1.07 sek.)) kann man das so nich sagen=
(1.66) °hh [wenn er an ihnen] zieht [pu::h] (1.35) ((Einatmen, 0.56 Sek.)) ABhängig is der net nee
Die Frage des Therapeuten bezieht sich dabei auf eine Passage ca. vier Minuten zuvor: T2_4 (00:13:02) 1
P
2 3
T P
4
T
°hhh (.) ja un hab des dann halt e:ben wie gesagt hab halt versucht in MEInen bezie:hunGEN= =hmhm ((Sprechansatz, 0.82 Sek.)) mir dann so meine EIgene welt zu: (.) zimmern [im wahrsten] sinne des wortes [hmhm]
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen 5
P
6 7
T P
8 9 10
T P
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°hh aber die partner die ich angezogen hab die haben selbst BAUstellen gehabt OHne enDE
°hhh (.)
ich hab die: ja auch so:= =hab mich da so (.) °h wie so ne zecke [im PE:LZ]=ne (.) [ ] °hhh also die waren da höchstwahrscheinlich auch völlig mit überFORdert (.)
Der metaphorisch gebrauchte Ausdruck zecke bzw. die Wendung zecke im PE:LZ kennzeichnet ein bestimmtes Beziehungsverhalten i. S. einer einseitig hergestellten, zwanghaft gesuchten Nähe. Das Beziehungsmuster wird in der Relocating-Frage der Patientin allerdings als passives unterstellt, was diese aber zurückweist. Dennoch hat der Therapeut mit seiner Frage ein potenzielles Muster identifiziert und der Patientin zur Reflexion vorgelegt. Noch einmal fast 40 Minuten später im Gespräch nutzt der Therapeut die Metapher erneut in einer relocating formulation, als die Patientin hypothetisch eine Mutterschaft anspricht: T2_4 (00:56:23) 57
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61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
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T P T
also wenn ich n_KIND hätte=ich wü:rde wahrscheinlich KEINE nacht schlafen (.) hmhm (0.89) a=esch ded verrickt werra glaub ich (.) also (des_s:) (0.49) unvorstellBA:R ((Lachen, 1.16 Sek.)) unvorstellbar [((Lachansatz))] [hmhm] °hhh (.) (.) (0.81) °h so_n kind is ja auch ne zecke gell (1.07) klar (0.91) (also) es saugt sich fest und hh° (0.76) dann (.) is man DRAN
Der Therapeut kann sich hier auf eine Ausdrucksreferenz beschränken, da der Ausdruck zecke offensichtlich ausreichend klar Musterhaftigkeit indiziert. Relocating-Fragen müssen sich aber nicht auf Ausdrucksredundanzen beschrän-
52
Thomas Spranz-Fogasy
ken, es können auch weit komplexere Sachverhaltsdarstellungen in Beziehung gesetzt werden. Relocating-Fragen zielen jedenfalls stets auf Musterhaftigkeit, indem verschiedene Verhaltensweisen oder Situationen miteinander in Verbindung gebracht werden.
5.4
Fragen mit Exaggerating-Funktion
Die übertreibende Funktion des exaggerating lässt sich in Fragen schlecht realisieren, da sie ja mit einer unumstößlichen Behauptung operiert, wodurch der Widerstand des Patienten elizitiert werden soll.10 Dennoch konnte auch eine Frage mit Exaggerating-Funktion im hier zugrundeliegenden Korpus identifiziert werden. Der Patient hatte von seiner Eifersucht im Umgang mit ihm nahen Personen gesprochen und davon, wie schwer es ihm falle, anderen zu vertrauen. Schließlich stellt er als ein persönliches Manko fest, anderen keinen freiraum lassen zu können, womit folgende Aushandlung eröffnet wird: T3_1 (00:48:14) 1
P
2 3
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4 5
P
ähm h° h° (3.0) ja (0.69) vielleicht dem anderen mehr freiraum (0.25) zu lassen (.) das kann ich nich so gut (0.54) ((schmatzt)) wollen sie jemanden ganz für sich allEIne haben wenn sie mit jemandem (0.57) sammen sind (0.56) n nee nich ganz für mich allein aber (.) ähm (0.97) ja irgendwo vielleicht (0.21) schon dass ich (ähm/ihn) (0.8) gern die meiste zeit bei mir hab (1.83) äh (2.02) un auch so (.) den (0.18) freiraum (.) dass ich jemanden (.) gut vertrauen kann::: °hh in der hinsicht dann einfach äh (0.26) auch ohne ängste (ihm/eben) zu verliern oder so des:: is dann auch dann wieder is ja auch [(son) wieder] so des thema angst
Der Therapeut kehrt in seiner Frage die Wendung anderen mehr freiraum (0.25) zu lassen um zu jemanden ganz für sich allEIne haben wollen und bezieht das noch direkt und einschränkend auf eine Partnerbeziehung (wenn sie mit jemandem (0.57) sammen sind). Das Beziehungsmuster wird damit überspitzt und 10 Zu anderen einschränkenden Bedingungen des Datenkorpus wie die Einmaligkeit der hier untersuchten Interviews oder das Konzept der OPD gegenüber anderen Therapiekonzepten vergleiche Mack et al. (2016: 72).
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen
53
verabsolutiert. Der Patient weist dies zwar zunächst – gewissermaßen ›wunschgemäß‹ – zurück, relativiert aber in seinen folgenden Ausführungen diese präferierte Reaktion, beginnend schon mit der Einschränkung bzw. eigentlich einem teilweisen Zugeständnis nich ganz. Das exaggerating zeitigt hier dennoch das erwünschte Ergebnis, eine kritisch-selbstreflexive Exploration beim Patienten zu initiieren. Beim Versuch der Übertragung der Funktionsdifferenzierung von formulations auf Fragen zeigt sich also, dass alle Funktionen auch mithilfe von Fragen realisiert werden können. Es zeigen sich jedoch auch viele Mischformen dieser Funktionen in Fragen (siehe Mack et al. 2016: 75), wobei die Durchsicht von formulations ebenfalls viele Mischformen ergab.11 Darüber hinaus fanden sich aber auch Fragen, die nicht in die hier vorgestellten vier Funktionsmuster eingeordnet werden konnten, und die im Folgenden näher betrachtet werden sollen.
5.5
Weitere Fragetypen
Bei der exhaustiven Durchsuchung des Korpus auf Fragen hin konnten drei weitere Fragetypen ermittelt werden: Kollaborative Erklärungsfindungsfragen, Lösungsorientierte Fragen und Beispiel-Nachfragen. Diese Fragetypen wurden in verschiedenen Arbeiten eingehender analysiert (Mack et al. 2016; Spranz-Fogasy et al. 2019, im Druck; Blöcher 2017; Siebeking-Thompson 2017; Bröcher 2017; Oelschläger 2017; Marciniak 2017; Läpple et al. i. V.), die Ergebnisse sollen hier ebenfalls, jedoch etwas ausführlicher, vorgestellt werden. Dabei wird im Folgenden nicht nur die einzelne Fragehandlung betrachtet, sondern es werden auch der Kontext bzw. sequenzielle Vorlauf und besonders auch die nachfolgenden Äußerungen in die Analysen einbezogen. 5.5.1 Beispiel-Nachfragen12 Beispiel-Nachfragen folgen in psychotherapeutischen Diagnosegesprächen stets auf unklare, vage oder zu allgemeine Darstellungen von Patienten. Es lässt sich zeigen, dass insbesondere das Fehlen einzelner oder mehrerer inhaltlicher Strukturelemente komplexer Sachverhaltsdarstellungen wie Situationsbe11 Mischformen machen bei beiden Sprachhandlungstypen, also Fragen und formulations Sinn, weil sie psychotherapeutisch/-diagnostisch produktiv sind dahingehend, dass Patienten in ihren Reaktionen ihren eigenen Schwerpunkt setzen können und auch dies für den Therapeuten eine wichtige Information sein kann. 12 Ausführlichere Darstellungen zu Beispiel-Nachfragen finden sich in Spranz-Fogasy et al. (2019, im Druck).
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Thomas Spranz-Fogasy
schreibung, Ereignisketten oder Ereignisträger Beispiel-Nachfragen auslösen.13 Beispiel-Nachfragen dienen also zunächst der Referenzklärung, sind aber auch psychodiagnostisch implikativ, da sie über den exemplarischen Charakter einer geforderten Sachverhaltsdarstellung immer auch auf Musterhaftigkeit zielen. Im zugrundeliegenden Korpus konnten 33 explizite Beispiel-Nachfragen, die den Ausdruck Beispiel enthalten, in zwölf Gesprächen identifiziert werden.14 Beispiel-Nachfragen entstehen im Rahmen von Aushandlungsprozessen. Sie setzen eine bestimmte Reaktion konditionell relevant, nämlich ein Beispiel darzustellen15 und fordern damit immer mehr als eine Ja/nein-Antwort. Beispiel-Nachfragen projizieren also eine Antwort seitens des Patienten sowie daran in der dritten Position anschließend eine darauf bezogene explizite oder implizite Beurteilung durch den Therapeuten.16 Bei Beispiel-Nachfragen handelt es sich zumeist um kurze Äußerungen, die deiktisch auf ihre meist unmittelbar vorangehende Bezugsäußerung referieren. Eine prototypische Formulierung ist Haben Sie vielleicht ein Beispiel dafür?; sie enthält alle relevanten Elemente einer Beispiel-Nachfrage: V1-Stellung (haben), direkte Adressierung (Sie), Modalisierung (vielleicht), Angabe der gewünschten Handlung (Beispiel) und der Referenz (dafür). Im Folgenden soll eine Fallanalyse etwas ausführlicher die sequenzielle Organisation von Beispiel-Nachfragen aufzeigen und ihre psychotherapie- resp. psychodiagnose-spezifischen Leistungen verdeutlichen. Aus Platzgründen und zum leichteren Nachvollzug ist der Gesprächsausschnitt gekürzt: T5_2 (00:09:00) 023
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024 025
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°h ham sie diese anspannung eigentlich schon mal bemerkt wenn sie sich irgendwie geärgert ham oder wenn sie sich sorgen gemacht haben um ne beziehung oder um einen menschen (14.82) °hh h° also ich merk eigentlich dann wenn ich äh (.) streite
13 Zu Strukturelementen von Erzählungen und Beschreibungen vgl. Kallmeyer und Schütze (1977). 14 Es fanden sich in fast allen Gesprächen auch implizite Beispiel-Nachfragen etwa nach einer ›typischen Situation‹. Implizite Formen werden in Blöcher (2017) untersucht, die zeigt, dass die Ausdruckswahl präzise auf den lokalen Kontext zugeschnitten ist. 15 Zu den vielfältigen Formen und Funktionen von Beispieldarstellungen im Deutschen siehe Rettig (2014). 16 Implizite Bewertungen erfolgen vielfach durch den Vollzug weiterführender Handlungen, mit denen signalisiert wird, dass die Reaktion zufriedenstellend war. Zu solcher »Ratifikation qua Vollzug« siehe Spranz-Fogasy (1986: 96).
Fragen und ihre Funktionen in psychotherapeutischen Gesprächen 026 027
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T5
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(0.5) ((schmatzt)) dass dann die körperlichen symptom(.)me schwerer werden (0.26) ((schmatzt)) oder (.) beziehungsweise stärker werden [Auslassung] vor allem bei (.) wie gsagt personen die mir (.) nah stehn eltern freundin ((schnalzt)) (1.33) ähm da fühl ich mich dann schon (.) sehr angespannt un_möchte das ganze eigentlich gern abbrechen un_dann fi kann i nich weider (.) diskutieren (.) weil ich des gefühl habe es schadet mir (0.91) ham sie da ein beispiel für (1.05) pf es gibt so viel dispute (0.32) ((brummt)) (0.43) wenn einfach ähm der partner die eltern mit ner gewissen situation net zufrieden sind (1.4) ich hätte das tun sollen habe es nich gemacht (0.67) oder ähm was auch immer es es jetz ganz (.) ganz zu konkretisieren fällt mir einfach schwer des sin_alltags (.) sachen kleine streitereien sag ich mal aufgrund von (.) °h kleinen gegebenheiten (1.21) ähm m m warum hast du heut nich eingekauft ich war den ganzen tag arbeiten jetz muss ich wieder mit ich würd gern heim lieber jetz was essen jetz muss ich noch einkaufen gehen hab ich kein bock drauf °hhh und so sachen (.) ähm wo man da einfach kleinichkeit streitet [Auslassung] wie geht_s ihnen dabei wenn sie das so zu ihnen sagt
Vor diesem Gesprächsausschnitt hatte der Patient berichtet, dass er aktuell dasselbe Hemd anhabe, das er bei seinem ersten Panikanfall getragen hatte; er formuliert dies in der Weise eines sachbezogenen Berichts. Die Therapeutin schließt eine Frage an, die Rephrasing-Charakter besitzt und mit geärgert und
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Thomas Spranz-Fogasy
sich sorgen gemacht haben die Erlebensebene des Patienten fokussiert (Segment 23). Nach einer ungewöhnlich langen Pause von 14.82 Sekunden beginnt der Patient längere Ausführungen, in denen er eher allgemein und abstrakt Situationen schildert, die für ihn mit Anspannung verbunden sind (S 25–60). Hier schließt dann die Beispiel-Nachfrage der Therapeutin an: ham sie da ein beispiel für (S 62). Der Patient reagiert darauf zunächst in vielfältiger Weise ausweichend dispräferiert: mit dem abwehrenden Antwortmarker pf, der Überverallgemeinerung es gibt so viele dispute, mit mehreren Pausen oder einer erneuten allgemeinen und abstrakten Situationsschilderung wenn einfach ähm der partner die eltern mit ner gewissen situation net zufrieden sind (S 68) und schließlich einer expliziten Ablehnung es jetz ganz (.) ganz zu konkretisieren fällt mir einfach schwer und einer erneuten allgemeinen Darstellung des sin_alltags (.) sachen kleine streitereien sag ich mal aufgrund von (.) 8h kleinen gegebenheiten (S 72). Nach einer weiteren Pause beginnt er dann jedoch eine Beispieldarstellung, wobei er seine Lebenspartnerin wörtlich zitiert (S 74). Nach weiteren Ausführungen zu diesem Vorfall (hier ausgelassen) folgt eine erneute (Rephrasing-)Frage der Therapeutin, mit der sie den Patienten auf sein subjektives Erleben der geschilderten Situation lenkt: wie gehts ihnen dabei wenn sie das so zu ihnen sagt (S 92). Die vom Patienten geschilderte Szene wird auch im Folgenden noch Ausgangspunkt für eine ausführliche gemeinsame Diskussion über das Handeln und Beziehungsverhalten des Patienten sein. Der hier vorgestellte und kurz analysierte Gesprächsausschnitt ist in unseren Daten prototypisch für die sequenzielle Organisation im Umfeld von BeispielNachfragen. Beispiel-Nachfragen etablieren neben der sequenziellen Projektion auch eine retro-sequence i. S. Schegloffs (2007), indem sie die vorangehende Äußerung implizit als ungenügende Reaktion in Bezug auf eine voraufgehende Sprachhandlung des Therapeuten charakterisieren. Diese voraufgehende Sprachhandlung ist dabei in unseren Daten immer eine Darstellungsaufforderung mit Rephrasing-Charakter, zielt also auf die subjektive Erfahrungsebene, die in der Bezugsäußerung des Patienten nicht thematisiert worden war. Die gesamte Sequenz, die durch eine Beispiel-Nachfrage organisiert wird, lautet also zusammengefasst so: 1. Therapeut: Reformulierung oder Frage (rephrasierend) 2. Patient: eigene (ungenügende) Darstellung 3. Therapeut: Beispielnachfrage 4. Patient: Beispieldarstellung, oft erst nach dispräferierter Reaktion und Insistenz des Therapeuten 5. Therapeut: Bewertung der Beispieldarstellung und weitere Bearbeitung
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Der in 4. genannte Widerstand des Patienten als Folge der Beispiel-Nachfrage ist auffällig häufig in den Daten (in 21 von 33 Fällen), er belegt damit auch nachträglich die Reaktion des Patienten auf eine Rephrasing-Aktivität als ausweichend – der Therapeut trifft offensichtlich ein wichtiges und problembehaftetes Thema beim Patienten.17 Beispiel-Nachfragen elizitieren dabei markante Einzelfälle, an denen Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen deutlich hervortreten, auch, weil der Patient sie selbst als paradigmatisch auswählt. Beispieldarstellungen selbst sind dann stets Darstellungen von Einzelfällen eines globaleren Sachverhalts, den (notwendiger Weise) mehrere solcher Einzelfälle konstituieren. Die Erfahrung mehrerer Einzelfälle kann sich bei Patienten zu einem – oft destruktiven – Wahrnehmungs- und Handlungsmuster verselbständigen oder bereits verselbständigt haben und die Wahrnehmung aktueller und künftiger Erfahrungen oder des Handelns beeinträchtigen oder steuern. Beispieldarstellungen decken Strukturelemente des vom Patienten nicht ausreichend dargestellten globaleren Sachverhalts und deren Bezüge zueinander auf. Beispieldarstellungen bedeuten damit ›Arbeit am Detail‹ (i. S. pars pro toto): – Sie erlauben die Feststellung von Voraussetzungen und Gründen am Beispielfall; – sie leisten die Aufdeckung der Beteiligung des Patienten am berichteten Geschehen (seine Wahrnehmung, sein Handeln); – und sie ermöglichen die Durcharbeitung von Alternativen. Die Auseinandersetzung mit Beispielen kann destruktive Wahrnehmungsmuster und darauf bezogenes destruktives Handeln (bzw. Handlungsmuster) am übersichtlicheren und oft auch klareren Einzelfall aufdecken und bearbeitbar machen (Reflexion) und günstigenfalls auch positiv beeinflussen (Veränderung). Für Reflexion bedeutsam ist die Möglichkeit, globalere und konkretere Beschreibungen wechselseitig und in mehreren Runden aufeinander beziehen und dabei alternative Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Beispiel-Nachfragen zeigen damit paradigmatisch ein in höchstem Maße produktives psychotherapeutisch-diagnostisches Vorgehen durch: – sequenziell direkten Anschluss an Patienten-Darstellungen – spezifische Verarbeitung von – ausweichenden – Patienten-Darstellungen – Turnübergabe mit einer spezifischen Aufgabenstellung 17 Die Ausführungen gelten nicht für die Verwendung von Beispiel-Nachfragen in anderen Interaktionssettings. Anders ist dies bspw. im Kontext von Führungskräfte-Coachings. Hier thematisiert der Klient initiativ die subjektive Erlebensebene und gibt auch bereitwillig Beispieldarstellungen. Vgl. hierzu Spranz-Fogasy et al. (2019). Zu Fragen im Coaching allgemein siehe Graf und Spranz-Fogasy (2018).
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– Aufforderung zur Aufdeckung exemplarischer, tieferliegender Erlebens- und Handlungseigenschaften – Reflexionsanregung und Erzeugung von Veränderungspotenzialen Die in der Forschung propagierte therapeutische Wirksamkeit sequenzieller Strukturen findet also gerade in Beispiel-Nachfragen ihr Muster-Beispiel.
5.5.2 Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung Ein zentrales Ziel von Psychotherapie ist die Entwicklung eines Verständnisses der Probleme des Patienten. Im Unterschied zum körpermedizinischen ArztPatient-Gespräch, in dem die Arbeit an der Erklärungsfindung überwiegend beim Arzt liegt, darf und soll der Patient sich im psychotherapeutischen Gespräch an der Verstehensarbeit beteiligen. Er soll selbst ein Verständnis seiner Probleme entwickeln, um sich für ihn bis dato undurchschaubare Prozesse, Strukturen und Muster bewusst machen zu können und sich durch einen bewussten, reflektierten Umgang damit neue Gestaltungsmöglichkeiten seines Denkens und Handelns zu erschließen. Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung wie beispielsweise ham sie selber ne hm theoRIE warum das für SIE so schwER is dienen der Initiierung gemeinsamer Ursachenklärung, wobei damit vom Therapeuten en passant auch Wahrnehmungs- und Erlebensmuster des Patienten ermittelt werden können. Bei der Untersuchung dieses Fragetyps stehen wir noch am Anfang, sicher ist nur, dass viele Patienten darauf erst einmal keine Antwort haben, also dispräferiert reagieren, und Therapeuten nur mit Insistieren relevante Informationen elizitieren. Im Datenkorpus fanden sich insgesamt 57 Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung. Sie finden sich regelmäßig gegen Ende von Aushandlungen zu einzelnen Problemkomplexen, entweder, wenn ein Verhalten oder eine Denkweise des Patienten besonders prominent erscheint oder wenn für den Therapeuten ein Muster erkennbar geworden ist. Mit kollaborativen Erklärungsfindungs-Fragen wird der Patient dann direkt angesprochen und die Aufgabe der Suche nach einer Erklärung wird mit einem Ausdruck aus dem Wortfeld ›Erklärung‹/›Theorie‹ auch sprachlich als solche gekennzeichnet. Vor dem folgenden Ausschnitt dreht sich das Gespräch thematisch fast ausschließlich um die Themen ›Ausbildung‹ und ›Beruf‹, und der Patient berichtet, dass er seine Ausbildung als schwierig erlebt und häufig wiederkehrende Ängste erfahren hat, nicht mit den anderen mithalten zu können. Nach eigener Einschätzung würden in seiner Selbstwahrnehmung stets seine Schwächen zu stark
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betont. Der Therapeut kommentiert dies mittels einer rephrasing formulation und fragt dann nach: T3_1 (00:10:31) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
T T T P
T T T
da sin sie ganz schön (1.04) hart mit sich (0.46) [(+++) ] [ja ] (4.5) ham sie ne ahnung womit diese härte (0.58) sich selbst gegenüber (.) zusammenhängen mag (1.84) irgendne vermutunk
In seiner formulation verallgemeinert und pointiert der Therapeut den in Rede stehenden Problemkomplex als hart mit sich selbst. Der Patient bestätigt dies zwar, nimmt aber den ihm damit eröffneten Slot zur Redeübernahme nicht wahr (erkennbar an der Pause von 4.5 Sekunden). Die anschließende (V1-)Frage des Therapeuten ist in mehreren Hinsichten durch eine zögerliche Formulierungsdynamik gekennzeichnet: Der Patient wird mit den Ausdrücken ahnung und vermutunk nach seinem intuitiven Zugang zu einer möglichen Ursache gefragt, die auch nur als Zusammenhang bezeichnet wird. Der Therapeut spricht langsam und mit Pausen, wobei die längere Pause von 1.84 Sekunden auch einen transition relevance place, also einen Redeübergabe relevanten Ort darstellt, den der Patient aber wiederum nicht wahrnimmt. Der Konjunktiv mag wie auch das vage Indefinitpronomen irgendne verweisen ebenfalls auf eine vorsichtige Nachfrage. Dem Patienten wird dennoch schon allein durch die Frage selbst die epistemisch-kognitive Kompetenz zugeschrieben, sich am Erklärungsfindungsprozess beteiligen zu können. Im Fallbeispiel kommt es auch schließlich nach dispräferierter Reaktion des Patienten und längeren Ausführungen dazu, dass der Patient die mangelnde Aufmerksamkeit seines Vaters ihm gegenüber als möglichen Zusammenhang identifiziert. Einen Zusammenhang oder gar eine Ursache zu identifizieren, gelingt nicht in allen Fällen der gemeinsamen Bearbeitung einer Frage zur kollaborativen Erklärungsfindung. Dies ist nicht verwunderlich, kommt der Patient ja in der Regel in die Therapie, weil er keine Erklärung für seine psychischen oder somatischen Beschwerden hat und genau dafür professionelle Hilfe sucht. Nichtsdestotrotz ist der Patient immer auch derjenige, der seine Symptome und Probleme am besten kennt und der Zugang für ihn zwar verschüttet sein mag, aber nicht prinzipiell unzugänglich ist. Zudem ist, gerade in einem psychodiagnostischen Erstinter-
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view, auch die Ausprägung der Erklärungskompetenz von Patienten ein wichtiges Element der Diagnostik und des darauf aufbauenden Therapiefokus. 5.5.3 Lösungsorientierte Fragen Mit Hilfe von Lösungsorientierten Fragen sollen im geschützten Raum des therapeutischen Settings Lösungen für Probleme und Konflikte des Patienten sowie Potenziale der Veränderung gesucht werden (Mack et al. 2016: 81; Spranz-Fogasy et al. 2018; Kabatnik et al. 2019). Gemeint sind Fragen wie wo soll_s denn hingehn in der zukunft, was möchten sie denn machen oder wie hätten sie_s denn gerne. Solche Fragen sind prospektiv und hypothetisch, da die zu diskutierenden Lösungsmöglichkeiten auf die Zukunft bezogen und erst noch zu realisieren sind. In zwölf von fünfzehn Gesprächen des untersuchten Korpus von psychodiagnostischen Erstinterviews konnten 27 Lösungsorientierte Fragen identifiziert werden.18 Lösungsorientierte Fragen finden sich in diesen Gesprächen meist gegen Gesprächsende (18/27) oder zumindest am Ende komplexerer Themenbehandlung (9/27). Ihnen geht stets die Darstellung niedriger agency19 voraus, also der Thematisierung geringer Handlungsfähigkeit des Patienten in Bezug auf ein Problem oder einen Konflikt. Daran knüpfen Lösungsorientierte Fragen an und erschaffen gesprächslokal einen Spekulationsraum – gekennzeichnet durch konjunktivische und modale Ausdrücke sowie emotive, kognitive und volitionale Prädikate –, der einen mentalen wie verbalen Reflexionsprozess zu vorhandenen Lösungsvorstellungen ermöglicht. W- und V1-Frage-Format und die darin enthaltenen thematischen Vorgaben fokussieren das Problem, und der spezifische Adressatenzuschnitt von Lösungsorientierten Fragen – die stets explizite Adressierung trotz dyadischen Settings – setzen dem zuvor als handlungseingeschränkt charakterisierten Patienten implizit ein handlungsmächtiges Selbstbild entgegen. Mit einer Lösungsorientierten Frage sucht der Therapeut dann tatsächliche Lösungen aus der Sicht des Patienten zu ermitteln, und er kann zudem dessen Fähigkeit oder Unfähigkeit, Lösungen zu entwickeln, beobachten. Zugleich wird mit Lösungsorientierten Fragen aber auch Verantwortung an den Patienten übertragen, d. h., deutlich gemacht, dass nur er selbst für die Lösung
18 In zwei der Gespräche ohne Lösungsorientierte Fragen wurden Lösungsthemen auf andere Weise angesprochen, z. B. durch Spekulationen des Therapeuten oder auch von Patienten selbst. In einem anderen Gespräch verzichtet der Therapeut aufgrund der schweren Traumatisierung der Patientin und der Einmaligkeit des OPD-Interviews auf stärker interventive Handlungen. 19 Zu agency siehe Kook (2015), zu agency in Lösungsorientierten Fragen siehe Marciniak (2017).
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seiner Probleme und Konflikte die notwendige epistemische Autorität und Handlungsmacht besitzt. Hier ein exemplarischer Ausschnitt dazu:20 T3_2 (00:56:03) 1274
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das heißt sie wissen_s gar nich eigentlich wie man sich auch gut streiten kann (0.38) nee (1.82) hmhm (2.32) ((schmatzt)) gut streiten (0.75) hmhm (1.87) hm (1.26) hätten sie des vorstellen können (.) wie des (.) so aussehen könnte oder wie sie_s gerne hätten (0.95) mhmh (0.31) wüsst ich gar nich (.) hmhm (.) ja (0.6) und wenn sie_n bisschen fantasieren würden (2.15) äh gut streiten (0.25) hmhm (2.24) ja ich denk gut streiten is einfach ähm (.) °h (0.24) sachlich zu bleiben einfach (.) [äh in ner] gewissen tonlage zu bleiben und da nich hinauszugehen und einfach (.) °h des auszudiskutieren [hmhm ] (0.46) und dann natürlich_n nenner zu finden
Vor dem hier zitierten Ausschnitt hatte die Patientin berichtet, dass sie aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit Auseinandersetzungen ihrer Eltern Konfliktsi20 Der Ausschnitt wird ausführlicher analysiert in Marciniak (2017), Reinicke (2018), SpranzFogasy et al. (2018), Kabatnik et al. (2019).
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tuationen mit ihr Nahestehenden meidet. Der Therapeut fasst diese Darstellung dann mittels einer rephrasing formulation: das heißt sie wissen_s gar nich eigentlich wie man sich auch gut streiten kann als Unfähigkeit der Patientin, zu streiten, zusammen. Dies bestätigt die Patientin, übernimmt aber nicht das Rederecht zu weiteren Ausführungen. Die folgende Lösungsorientierte Frage des Therapeuten fragt zunächst auf der kognitiven Ebene nach ›Vorstellungen‹ der Patientin über gutes Streiten und unmittelbar daran anschließend auf der emotionalen Ebene nach ihren Wünschen dazu (oder wie sie_s gerne hätten). Die dispräferierte, generalisiert abwehrende Reaktion der Patientin (wüsst ich gar nicht [S 1290]) sucht der Therapeut dann mit einer insistierenden Lösungsorientierten Frage (und wenn sie n bisschen fantasieren würden [S 1294]) aufzubrechen, was ihm auch tatsächlich gelingt: Die Patientin ist im Folgenden erkennbar in der Lage, ein sehr elaboriertes Konzept von gutem Streiten darzustellen. Auf Lösungsorientierte Fragen folgen in unseren Daten immer dispräferierte Reaktionen, was mit der vorausgehenden Darstellung reduzierter agency zusammenhängen mag. Insistenz des Therapeuten führt dann aber regelmäßig zu optimierten Antworten, in denen doch Vorstellungen des Patienten zu seiner Zukunft, zu Therapiezielen oder zu Problem- und Konfliktlösungen deutlich werden. Läpple et al. (under review) haben drei Typen des Widerstandsmanagements von Therapeuten infolge dispräferierter Reaktionen auf Lösungsorientierte Fragen identifiziert: Die Aufforderung an den Patienten, seine Antwort zu elaborieren (Expansionsinitiierung), die Qualifizierung der Patientenreaktion als problematisch oder unzureichend (Reparaturinitiierung) und den Themenwechsel. Abgesehen vom Typus Themenwechsel gestaltet sich dann ein weiterer Sequenzschritt so, dass der Patient seine Darstellungen expandiert, dem Therapeuten zustimmt oder ihm widerspricht (was zu einer weiteren Runde führt) oder, in den meisten Fällen, eine optimierte Antwort liefert. Die gesamte Sequenz gestaltet sich dann so: Anknüpfungspunkte: Darstellungen niedriger agency (durch P oder T) Lösungsorientierte Frage (T) Bearbeitung der Lösungsorientierten Frage: präferiert/dispräferiert (P) (non-answer, answer-like, partiell konform) 3-Position Expansionsinitiierung/Reparaturinitiierung/Themenwechsel (T) (4-Position Zustimmung/Expansion/Widerstand/optimierte Antwort (P))
0-Position 1-Position 2-Position
Abbildung 1: Sequenzorganisationsmodell der Lösungsorientierten Fragen nach Läpple et al. (under review).
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Diese bisherigen Analysen Lösungsorientierter Fragen lassen darauf schließen, dass kommunikativer Widerstand nach Lösungsorientierten Fragen in den meisten Fällen konstruktiv aufgegriffen wird und Therapeuten auf abweichende Relevanzsetzungen und Agenden vorzugsweise in neutraler oder affiliativer Art und Weise reagieren, um die Gesprächsprogression sowie die therapeutische Allianz aufrechtzuerhalten. Die Lösungsorientierten Fragen selbst sind bereits in therapeutischer Hinsicht wirksam, als sie Möglichkeiten aufzeigen, handlungsmächtig zu werden und den Patienten zwingen, Verantwortung für sich zu übernehmen.
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Diskussion
Fragen sind ein wichtiges Instrument der Psychotherapie und -diagnostik. Ihre grundlegenden und allgemeinen Funktionen sind Referenzklärung, Themenwechsel, direkte Ansprache und Agenda-Setting (siehe Mack et al. 2016: 50). Fragen elizitieren Information, sie stoßen Reflexion und damit auch Veränderungsprozesse an, sie sind ein wesentlicher Bestandteil therapeutischer Wirksamkeit, die auf sequenziellen Zwängen beruht, die beide Partner einbindet – ihre Antwortverpflichtung stellt einen wichtigen Baustein zur Konstitution von Intersubjektivität dar, auf deren Grundlage sich therapeutische Agenden und Foki erst entwickeln lassen. Die hier vorgestellten Frage-Funktionstypen bilden in ihrer Gesamtheit ein breites Instrumentarium, mit dem nicht nur Wissen elizitiert werden kann, sondern auch Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erkennbar werden und Beziehungen hergestellt und vertieft werden können. Sie bilden zusammen eine aufbauende und Gerüst gebende innere Systematik i. S. von scaffolding practices (Muntigl und Horvath 2008). Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf die Diskussion der zuletzt aufgeführten drei Frage-Funktionstypen. Die zuvor dargestellten vier Fragetypen, die qua Übertragung der in der konversationsanalytischen Forschung identifizierten Funktionstypen von formulations ermittelt wurden, dienen, wie formulations auch, vor allem der Exploration der Symptome und der Biografie des Patienten. Dabei fokussiert der Therapeut immer die subjektive Erlebensebene, die in den Darstellungen des Patienten impliziert oder auch explizit formuliert ist und steigert mit den genannten Fragetypen seine eigene Beteiligung von hervorhebend/ausblendend (highlighting questions) über die Interpretation (ggf. nur vermeintlicher) Implikationen (rephrasing questions) und die Verknüpfung von Darstellungen zu einem potenziellen (Wahrneh-
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mungs-/Handlungs)Muster (relocating questions) bis zur Übersteigerung von Patientendarstellungen (exaggerating questions).21 Die drei Fragetypen, die ich hier ausführlicher behandelt habe, also BeispielNachfragen, Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung und Lösungsorientierte Fragen, geben einen Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang. Sie zielen auf das gegenwärtige Erleben des Patienten und seine Wahrnehmungsund Handlungsmuster, auf deren Herkunft aus vergangenen Ereignissen und Erfahrungen und auf seine Möglichkeiten, sich auf Zukunft zu entwerfen. Beim gemeinsamen Durcharbeiten dieser die ganze Zeitlichkeit um- und erschließenden Fragen wird es möglich, alternative Sicht- und Handlungsweisen zu entwickeln und Wege zu ermitteln, um sie in das Leben des Patienten zu integrieren. Die Voraussetzungen bzw. die Kontexte, in denen die drei Fragetypen virulent werden, sind dabei jeweils andere. Für Beispiel-Nachfragen sind es defizitäre, weil nur sachliche Beschreibungen psycho-implikativer Ereignisse und das Ausweichen auf unklare, vage oder zu allgemeine Darstellungen nach erfolgter Fokussierung auf die Erlebensebene durch eine Aufforderung mit RephrasingCharakter. Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung folgen auf eine erfolgreiche bzw. mindestens ausreichende Identifikation von für den Patienten musterhaften Problemkomplexen bzgl. seines Situationshandelns und -erlebens. Und für Lösungsorientierte Fragen ist der Ausgangspunkt stets die Thematisierung niedriger agency des Patienten. Bei Beispiel-Nachfragen befinden sich die Beteiligten noch in der Aushandlung eines Problems oder Konflikts, bei Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung und Lösungsorientierten Fragen ist diese Aushandlung jeweils an einen (möglicherweise auch nur vorläufigen) Endpunkt gelangt. Beispiel-Nachfragen dienen dann der Aufklärung von Problemen und Konflikten, Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung suchen eine Erklärung dafür und Lösungsorientierte Fragen eine Lösung. Diese therapeutischen Handlungen gehen also über das bloße Ermitteln von Symptomen und Problemen hinaus. Die Bearbeitung der Fragen macht den Patienten dann zum Aufklärer und vielfach auch ausdrücklich zum (Mit-)Behandler seiner selbst. Außerdem bieten die Reaktionen von Patienten dem Therapeuten Zugriff auf biografische Informationen, aber auch auf erzählte und in der Interaktion zum Ausdruck kommende Wahrnehmungs-, Handlungs- und Beziehungsmuster. Die vielfältigen widerständigen Reaktionen von Patienten auf die genannten drei Fragetypen sind dabei auffällig. Bei Beispiel-Nachfragen, die in ca. zwei 21 Vertiefende Darstellungen zu den genannten Funktionstypen finden sich in Mack et al. (2016); darin und in der dort zitierten Literatur auch zu den äquivalenten Funktionstypen von formulations.
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Drittel ihres Vorkommens dispräferierte Reaktionen des Patienten nach sich ziehen, ist die voraufgehende ausschließliche Sachbezogenheit und die Vagheit des Patienten ein Hinweis darauf, dass problematische Themen verhandelt werden, denen sich der Patient lieber nicht nähern möchte. Hinzukommen können aber natürlich auch Erinnerungs- und damit verbundene Formulierungsschwierigkeiten. Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung folgen in etwa der Hälfte der Fälle dispräferierte Reaktionen. Hier spielt sicher eine Grundvoraussetzung von Psychotherapie eine wichtige Rolle: Der Patient ist ja in Behandlung, weil er Leidensdruck hat und sich die Gründe dafür nicht erklären kann – das hypothetisch-offene Interaktions-Setting erlaubt demgegenüber aber doch auch Freiheiten zu ungeschützten Spekulationen. Bei Lösungsorientierten Fragen, denen in allen Fällen unseres Korpus dispräferiert begegnet wird, bildet die Thematisierung niedriger agency des Patienten (wie auch insbesondere das Krankheitsbild der Depression) im Vorfeld einen starken Auslöser dafür, dass Patienten zunächst gar keine Perspektiven entwickeln können. Der Therapeut hatte aber bei allen drei Fragetypen die Möglichkeit, durch Insistieren doch noch eine optimierte Antwortreaktion zu erreichen. Die eingangs zitierten Erkenntnisse Köllers (2004: 662) hinsichtlich der interaktiven und kognitiven Potenziale von Fragen werden insbesondere bei den drei hier fokussierten Frage-Funktionstypen sichtbar. Die Einleitung »hypothetischer Vorstellungsprozesse« ist in besonderer Weise adäquat für die sensible Interaktionssituation psychotherapeutischer Gespräche, und der »immanente[n] Tendenz […] in Selbstreflexionsprozesse überzugehen« entspricht der mit den Fragen einhergehende Handlungsauftrag an den Patienten. Wissensdefizite auch vergessener, verborgener und gar unbewusster Natur können lokalisiert und behoben werden, Wissensbedürfnisse thematisiert und »Ursachen und Funktionen« fokussiert werden, indem »Bezüge zur Vergangenheit sowie Zukunft« hergestellt werden. Die in Fragen enthaltenen Erfahrungen bieten dann auch die Grundlage für neue Erfahrungen, weil sie »einen Wechsel von Sehepunkten und Wahrnehmungsperspektiven«, beispielsweise vom Symptom zur Ursache bei Fragen zur kollaborativen Erklärungsfindung oder von der Gegenwart und Vergangenheit zur Zukunft wie bei Lösungsorientierten Fragen, beinhalten. Sehepunkte und Wahrnehmungsperspektiven zu wechseln oder wechseln zu lernen ist geradezu die interaktionale Rationale psychotherapeutischer Gespräche, und Fragen sind dazu das Mittel par excellence.
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Martin Reisigl (Wien)
Elemente einer Linguistik des Verstehens – Eine synoptische Annäherung
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Einleitung
Im folgenden Beitrag wird ein unerledigtes Thema aufgegriffen. Es trieb mich um, als ich das Glück hatte, in dem von Florian Menz geleiteten Forschungsprojekt mitzuarbeiten, das wir zwischen 2008 und 2010 durchführten (siehe dazu Sator 2011; Reisigl 2011; Menz 2013).1 Ich konnte die Thematik damals weniger vertiefen, als ich es mir gewünscht hätte, denn es verschlug mich im Herbst 2009 für ein Jahr an die Universität Hamburg und anschließend für sechseinhalb Jahre an die Universität Bern, wo andere Forschungsschwerpunkte in den Vordergrund rückten. Das Thema hat mich gleichwohl bis heute nicht losgelassen: die Frage nämlich, ob wir in der Linguistik mit einem angemessenen, das heißt realistischen Begriff des Verstehens arbeiten. Mit dieser Frage will ich mich hier auseinandersetzen, und gleich vorweg sei eingestanden, dass die Frage in dem Rahmen, der mir zur Verfügung steht, nicht umfassend beantwortet werden kann. Die Frage des Verstehens stellt sich in vielen Bereichen der linguistischen Forschung – als Kardinalfrage. Besonders akut ist sie in der Forschung zu interkultureller Kommunikation. Mit Florian Menz habe ich anregende Diskussionen über das Thema geführt, und gerne hätte ich die Thematik mit ihm in einem gemeinsamen Forschungsprojekt genauer behandelt; am liebsten in einem Projekt, in dem es um die mehrsprachige und interkulturelle Kommunikation in einem Bozner Krankenhaus in Südtirol gegangen wäre. Leider ist kein gemeinsames Projekt mehr möglich. Die Brisanz des Themas bleibt jedoch bestehen und hat sich vielfach zugespitzt – denken wir an das hochaktuelle Flüchtlings- und Migrationsthema in Europa. Es stellt die europäischen Ein1 Finanziert wurde das Projekt vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (Projektnummer P20283-G03). Geleitet wurde es von Florian Menz, mitgearbeitet haben Johanna Lalouschek, Marlene Sator und ich. Die Transkriptionsarbeit übernahmen Lisa Blasch, Elke Brandner und Ina Pick.
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Martin Reisigl
wanderungsländer vor große kommunikative Herausforderungen. Mit ihnen muss sich Angewandte Linguistik befassen, idealerweise so, dass sie einen Beitrag zur Verbesserung der Kommunikationsverhältnisse in den vielfältigen institutionellen und organisationalen Zusammenhängen zu leisten versucht, in denen interkulturelle und mehrsprachige Kommunikation praktiziert werden. Konkret verfolge ich in meinem Beitrag zwei theoretische und ein empirisches Ziel. In theoretischer Hinsicht soll erstens ein terminologischer Vorschlag unterbreitet werden, der in der verwirrenden Vielfalt an Konzepten, die um die Frage des Verstehens von Sprache und sprachlichem Handeln kreisen, begrifflich Orientierung zu bieten trachtet. Zweitens möge zumindest ansatzweise deutlich werden, wie ein integrativer, holistischer Zugang zu einer ›linguistischen Theorie des Verstehens‹ aussehen könnte. Was das empirische Ziel betrifft, so sei am Beispiel unseres damaligen Forschungsprojekts, also am Beispiel von interkulturellen Gesprächen auf einer Kopfschmerzambulanz in einem Wiener Krankenhaus, umrissen, welche verstehensrelevanten Elemente in diesem Gesprächskorpus zentral sind und welche Verfahren der Verständnisförderung von ärztlicher Seite angewandt werden, wenn es zu Schwierigkeiten in der interkulturellen Kommunikation kommt. Diese Ziele verfolge ich, ehe am Ende des Textes ein Fazit gezogen wird. Eine einschränkende Vormerkung ist angezeigt: Eine holistisch orientierte linguistische Theorie des Verstehens strebt danach, möglichst viel relevantes linguistisches Wissen aus unterschiedlichen Subdisziplinen der Sprachwissenschaft kohärent zu verknüpfen. Gleichwohl muss eine solche Theorie immer auch trans- bzw. interdisziplinär ausgerichtet sein. Das liegt an der komplexen Natur des Untersuchungsgegenstands. Da Verstehen ein soziales Phänomen ist, hat beispielsweise auch die Soziologie sehr viel zu dem Thema beizutragen. Da Verstehen ein hochgradig psychisches Phänomen ist, treten die Kognitionswissenschaft und insbesondere die Kognitionspsychologie rasch als wissenschaftliche Zugänge hervor, wenn es darum geht, die psychischen Prozesse und Verfahren des Verstehens angemessen zu begreifen (siehe dazu z. B. schon Groeben 1982, der bereits die begriffliche Triade von Verstehen, Verständlichkeit und Verständnis erörtert, und siehe u. a. van Dijk und Kintsch 1983 sowie Kintsch 1998). Auch die Kommunikationswissenschaft ist bemüht, einen integrativen Ansatz auszuarbeiten. Er soll vor allem im angewandten Bereich nutzbar sein. Hierzu hat jüngst der angewandte Kommunikationswissenschaftler Steffen-Peter Ballstaedt ein interdisziplinär fundiertes und praktisch orientiertes Lehrbuch veröffentlicht (Ballstaedt 2019). Zudem setzt sich die Forschung zu künstlicher Intelligenz schon lange mit Fragen des Verstehens auseinander und versucht sie, maschinelle ›sprachverstehende‹ Rechensysteme zu entwickeln, die immer öfter auch translatorische Funktionen übernehmen (siehe zur übersetzungswissenschaftlichen Forschung über Verstehen u. a.
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Kußmaul 2015; Göpferich 2008 und Göpferich 2018). Die technische Entwicklung von Chatbots und virtuellen digitalen ›Assistent*innen‹ wie Amazon Alexa oder Google Assistant, also von textbasierten maschinellen Dialogsystemen, welche ähnlich wie Volltextsuchmaschinen funktionieren und es Menschen ermöglichen, mit Maschinen sprachlich zu interagieren, als würden Mensch und Maschine ein Pseudogespräch führen, werfen interessante theoretische und praktische Fragen dazu auf, was es denn alles bedeuten könne, Sprache zu ›verstehen‹ und was dagegen lediglich eine maschinelle Simulation von Verstehensprozessen ist. Diese vielen über das Gebiet der Sprachwissenschaft hinausweisenden Perspektiven auf Verstehen können im gegebenen Rahmen nicht zufriedenstellend berücksichtigt werden. Idealerweise sollte eine linguistische Theorie des Verstehens aber an sie anschließen. Solches wäre in einer Monographie zu leisten, kann in einem Artikel, selbst wenn er wie der vorliegende eine beträchtliche Länge aufweist, aber nicht erbracht werden. Ein vorbildliches Beispiel für einen transdisziplinären Zugang, wie er mir vorschwebt, stellen die Forschungen von Benedikt Lutz dar (siehe Lutz 2015). Sie lassen deutlich werden, dass eine exklusiv sprachwissenschaftliche Theorie des Verstehens strictu sensu nicht möglich ist, wenn es darum geht, ein problemorientiertes Modell zu entwickeln, das von praktischer Relevanz sein möchte.2
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Verstehen als linguistische Grundfrage
Die Frage nach dem Verstehen von Kommunikation und Interaktion ist eine Grundfrage der Sprachwissenschaft oder sollte es sein. Wo sich Interaktionsteilnehmer*innen nicht verstehen, misslingt Kommunikation oder ist sie beeinträchtigt. In vielen linguistischen Forschungsbereichen werden Fragen des Verstehens in den Blick genommen – zumeist selektiv. Wir können auf eine lange textlinguistisch-hermeneutische Tradition der Beschäftigung mit dem Verstehen von Texten blicken (z. B. Gadamer 1990 [1960]; Gadamer 1984; Schnotz 2001; Adamzik 2016: 20–27) und auf eine lange funktional-pragmatische Auseinandersetzung mit dem Thema zurückschauen (z. B. Rehbein 1977: 190–193; Ehlich und Rehbein 1986: 101–107, 127–130; Rehbein 1987; Bührig und ten Thije 2006; Kamayama 2004; Porila und ten Thije 2008; Rehbein und Romaniuk 2014). Seit geraumer Zeit bestehen ein kognitivlinguistisches, ein psycholinguistisches und ein patholinguistisches Interesse an Prozessen der mentalen Sprachverarbeitung, die zu Verstehen führen (z. B. Schank und Abelson 1977; van Dijk und Kintsch 1983; Altmann 1990; Rickeit 2 Für sehr hilfreiche Anregungen möchte ich dem oder der anonymen Reviewer*in und den Herausgebern des Bandes herzlich danken.
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und Strohner 1993). Seit fast vier Jahrzehnten befasst sich die stark von John Gumperz geprägte interaktionale Soziolinguistik mit dem Verstehen und insbesondere dem Missverstehen in interkulturellen Zusammenhängen (z. B. Gumperz 1982) und in der Kommunikation zwischen Geschlechtern (z. B. Tannen 1990). Außerdem wird in der Forschung zur Diskurssemantik von Dietrich Busse schon seit den 1980er Jahren über so genanntes verstehensrelevantes Wissen theoretisch reflektiert (z. B. Busse 1987; Busse 2012 usw.). Auch hat die gesprächsanalytische Forschung das Thema längst für sich entdeckt (Wenzel 1984; Selting 2013 [1987]; Deppermann 2008, 2009; Imo 2009, 2013; SpranzFogasy 2010). Das mag im ersten Moment überraschen, weil sich Gesprächsanalyse – in der Tradition der Konversationsanalyse – tendenziell durch eine antikognitivistische Mentalität auszeichnet. Die Überraschung legt sich, vergegenwärtigen wir uns, dass die gesprächsanalytische Perspektive auf Verstehen eine ist, bei der kognitive Prozesse und damit auch das Verstehen unter dem Gesichtspunkt des Primats der Interaktion betrachtet werden (Gülich und Mondada 2008: 18). Das heißt: Gesprächsanalytiker*innen und interaktionale Linguist*innen wie Elisabeth Gülich, Lorenza Mondada, Margret Selting, Arnulf Deppermann, Thomas Spranz-Fogasy und Wolfgang Imo heben hervor, dass das Verstehen eine Kategorie darstellt, die am besten auch als interaktionale Kategorie begriffen wird. Verstehen wird nämlich im intersubjektiven Austausch – während der Interaktion – angezeigt, dokumentiert, organisiert, bearbeitet, ausgehandelt, abgesichert und problematisiert (z. B. Deppermann 2008; Deppermann 2009; Deppermann 2013; Deppermann und Schmitt 2008; Deppermann, Reitemeier, Schmitt und Spranz-Fogasy 2010; Imo 2009; Imo 2011; Imo 2013). Sowohl die Pragmatik als auch die interaktionale Linguistik weisen darauf hin, dass es erhebliche Unterschiede zwischen dem Verstehen von schriftlich konstituierten Texten und dem Verstehen in Gesprächen gibt (Deppermann 2008: 227–229). Diese Differenz beruht unter anderem darauf, dass Gespräche ein flüchtiges diskursives Geschehen darstellen, dass sie unmittelbare Interaktivität und damit in der Regel sofortige Rückfragen erlauben, dass sie im sinnlichen Wahrnehmungsraum situational verankert werden und dass sie multimodaler sind als schriftsprachliche Kommunikation (siehe auch Schnotz 2001). Die interaktionale Soziolinguistik und manche Varianten der Diskursanalyse ebenso wie der Pragmatik betonen, dass in der Kommunikation häufig von einer kognitiven Divergenz oder kulturellen Differenz der Interagierenden auszugehen ist (z. B. Brown 1996; Gumperz 1982: 167–171). Daher besteht eine kommunikative Hauptaufgabe in Gesprächen und schriftlichen Texten darin, durch entsprechende Verständigungsarbeit die Wahrscheinlichkeit einer kognitiven Konvergenz zu erhöhen und die Häufigkeit von Verstehensdefiziten oder Missverständnissen zu reduzieren. Diese Verständigungsarbeit beruht auf dem
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Einsatz einer Reihe von Verfahren der Verständnisförderung und Verständnissicherung. Auf sie soll in Abschnitt 5 näher eingegangen werden. Die linguistische Konzeptualisierung der auf besseres Verstehen ausgerichteten Verfahren baut manchmal auf unrealistischen, weil zu optimistischen und epistemisch zu starken, das heißt zu wenig modalisierten Begriffen des Verstehens und der Verständnissicherung auf. Der Begriff Verständnissicherung wird auch in Zusammenhängen verwendet, in denen keine Gewissheit darüber besteht, dass Verständigung nachweislich sichergestellt werden konnte. Dies betrifft auch Forschungen zu mehrsprachiger und interkultureller Kommunikation. Hier gilt es, der Sache angemessenere Begriffe zu verwenden, die in den Rahmen einer Theorie des Verstehens eingebettet werden. Eine solche Theorie wird das Verstehen konstruktivistisch und evolutionär als eine Frage der kognitiven Approximation auffassen. In diesem Sinne handelt es sich – mit Alfred Schütz (1981: 43, 49) gesagt – beim Verstehen um einen pragmatisch fundierten Grenzbegriff, einen Limesbegriff, der sich auf intersubjektive Annäherung im Bereich des Mentalen bezieht – eine Annäherung, die unter Verwendung unterschiedlichster interaktionaler Mittel vollzogen und gefördert wird oder werden soll (vgl. zur Frage der graduellen kognitiven Annäherung auch Bublitz 2001: 1331). Für Schütz bleibt der zu erschließende »fremde ,gemeinte Sinn‹«, den es für die Forscher*innen, aber auch für die an der Interaktion selbst Beteiligten, aus der Binnenperspektive der in der Sozialwelt verwurzelten Akteur*innen zu rekonstruieren gilt, auch bei optimaler Deutung ein Grenzbegriff, der »pragmatisch bedingt« wird, also von interessengeleiteten handlungspraktischen Faktoren abhängt: »Wir brechen […] im täglichen Leben unsere Bemühungen um die Sinndeutung des Partners auf jener Klarheitsstufe ab, deren Erreichung durch unsere Interessenlage bedingt ist, oder mit anderen Worten, die für die Orientierung unseres Verhaltens gerade noch relevant ist« (Schütz 1981: 49). Dies gilt es, sich in der Forschung zu institutioneller und interkultureller Kommunikation stets vor Augen zu halten, aber etwa auch in der Sprachlehrund Sprachlernforschung. Wenn von Approximation die Rede ist, dann sei damit kein Schnittmengenmodell nahegelegt, dem zufolge Verstehen bedeuten würde, dass es in den mentalen Bereichen der Interagierenden möglichst zu einer hundertprozentigen Überlappung der in Frage stehenden Wissenselemente kommt oder kommen sollte. Auch ein Transportmodell der Kommunikation wäre höchst unangemessen, welches das Verstehen als Beförderung der zur Diskussion stehenden Wissenselemente aus dem mentalen Bereich der Person A in den mentalen Bereich der Person B metaphorisieren würde. Unpassend erscheint auch ein simples abbildtheoretisches Widerspiegelungsmodell, das die Spiegelmetapher mit der Vorstellung einer 1:1-Abbildung verknüpfen würde. Dagegen halte ich ein pragmatisches Konvergenzmodell für fruchtbar, das Verstehen als Annäherung
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im komplexen Zusammenspiel von intentio auctoris, intentio lectoris und intentio operis konzeptualisiert – um eine Unterscheidung aus Umberto Ecos Buch Die Grenzen der Interpretation aufzugreifen (Eco 1992 [1990]: 19–20, 35–40).3 Verstehen hat in diesem Sinne viel mit dem Erzielen eines perlokutionären Effekts zu tun, der unter anderem darin besteht, wenigstens in groben Zügen die Intention der Sprecherin und des Sprechers zu rekonstruieren, die im illokutionären Akt kundgegeben wird, zudem aber auch den propositionalen Gehalt einer Sprechhandlung zu erfassen – auf der Basis der Wahrnehmung des Äußerungsaktes. Darüber hinaus hegen Hörer*innen ihre eigenen Intentionen, und zudem führt das gesprochene und geschriebene Wort selbst oft ein gewisses ›Eigenleben‹, weshalb Eco metaphorisch von einer intentio operis spricht. Ein solch pragmatisches Modell verabschiedet den Begriff der Intentionalität nicht, sondern vervielfältigt ihn. Dabei stellt die intentio auctoris einen sehr wichtigen Fluchtpunkt in den rekonstruktiven Verstehensbemühungen der meisten Hörer*innen und Leser*innen dar. In dieser Hinsicht sind den Interpretationen von Äußerungen oder Texten in vielen Fällen sinnvolle und pragmatische Grenzen gesetzt. Beim Verstehen geht es in den allermeisten lebenspraktischen Interaktionszusammenhängen nämlich nicht um ein beliebiges und unabschließbares dekonstruktivisches Deutungsspiel, sondern manchmal einfach auch um das nackte Überleben – denken wir etwa an den medizinischen Bereich und konkret an die Warnung einer Ärztin, der Patient möge sofort aufhören zu rauchen, wenn er nicht riskieren wolle, bald schon schwer krank zu werden oder gar zu sterben. Wenn von Verstehen die Rede ist, können wir mehrere begriffliche Unterscheidungen treffen, darunter in Bezug auf verstehensrelevante Faktoren und in Bezug auf Stufen des Verstehens. Mindestens acht verstehensrelevante Faktoren lassen sich grundlegend unterscheiden. (1) Erstens hängt Verstehen von den Subjekten des Verstehens ab, das heißt von den interagierenden Akteur*innen, namentlich den Sprecher*innen und Hörer*innen oder Schreiber*innen und Leser*innen, die in einer spezifischen Verständigungssituation individuelle mentale und sprachliche Voraussetzungen respektive Kompetenzen, ein je spezifisches Hintergrundwissen, je spezifische Interessen und Absichten und eine bestimmte Tagesverfassung mitbringen. (2) Zweitens gilt es, den Gegenstand des Verstehens zu differenzieren, in all seinen vielfältigen Dimensionen und Aspekten. Im gegebenen Rahmen
3 Eine in eine ganz ähnliche Richtung gehende begriffliche Differenzierung findet sich in der einschlägigen Forschung zu Verstehen und Verständlichkeit in der Unterscheidung zwischen author representation, reader representation und text representation (siehe dazu z. B. Göpferich 2018: 233).
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stehen Prozesse des Verstehens und das sprachliche Handeln als zwei komplexe Verstehensgegenstände im Zentrum. Drittens haben wir es bei Verstehen mit komplexen Prozessen der Semiose, also der perzeptiven und kognitiven Verarbeitung von Zeichen zu tun, die multimodal verbunden sind. Die Semiose schließt verbale, bildliche, akustische, mentale, interaktionale und andere sinnlich wahrnehmbare Elemente mit ein. Viertens müssen wir uns fragen, was das Ergebnis, genauer die Effekte und Folgen des Verstehensprozesses sind, semiotisch betrachtet, die emotionalen, dynamisch-aktionalen und ›logischen‹ (kognitiv-sprachlichen, inferentiellen, argumentativen) Interpretanten (siehe Reisigl 2017: 24–26). Fünftens ist es eine zentrale Aufgabe der Linguistik, die semiotischen Mittel bzw. Strategien und Verfahren des Verstehens im Feld zu identifizieren und zu rekonstruieren, also z. B. Verfahren der Verständnisförderung, von denen in Abschnitt 5 noch ausführlicher zu sprechen sein wird (siehe auch Kindt und Rittgeroth 2009). Sechstens richtet sich die analytische Aufmerksamkeit auf grundlegende allgemeine Voraussetzungen des Verstehens. Zu ihnen zählen unter anderem die basalen perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten und ein allgemeines verstehensrelevantes Vorwissen, die als Minimalanforderungen gegeben sein müssen, damit konkrete Äußerungen verstanden werden können. Diese allgemeinen Minimalanforderungen umfassen sprachliches Wissen einschließlich Wissen über Frames, Muster, Wissensstrukturen, sprachliche Varietäten, epistemische Hintergründe, kulturelle Hintergründe, mit dem Sprachwissen verknüpftes allgemeines Weltwissen sowie prozedurales Wissen bzw. Handlungswissen. Wird Verstehen – wie hier – als liminaler Begriff aufgefasst, dann liegt es nahe, Grade des Verstehens zu unterscheiden. Schließlich sollten wir uns vor Augen halten, dass es unterschiedliche Arten des Verstehens gibt. Diesbezüglich können wir unter anderem zwischen punktuell-analytischem, synthetisch-holistischem, kursorischem, emotional-empathischem, rationalem und intuitivem Verstehen unterscheiden.
Hinsichtlich der Stufen des Verstehens werden im handlungstheoretisch fundierten und diskursbasierten Modell der funktionalen Pragmatik sechs Schritte des Verstehens differenziert (Rehbein und C ¸ elikkol 2018: 32).4 Dabei wird Ver4 Im gegebenen Kontext stehen linguistische Stufenmodelle des Verstehens im Zentrum. Auch in der Kognitionswissenchaft und in der Pädagogik werden im Rahmen unterschiedlicher Modelle ›Ebenen‹ des Verstehens unterschieden, darunter z. B. die subsemantische, die semantisch-syntaktische, die elaborativ-inferentielle und die reduktive Ebene (die letztge-
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stehen als spezifische Modifikation, also Veränderung im mentalen Bereich von Hörer*innen verstanden (siehe dazu schon Ehlich und Rehbein 1986: 121). Diese Stufen sind nicht strikt sequentiell organisiert und werden nicht zwingend vollständig abgearbeitet (die sechs Stufen beziehen sich hier auf das Verstehen in Gesprächen, nicht auf die lesende Verarbeitung schriftlicher Texte): (1) Die erste Stufe des Verstehens besteht darin, dass die Hörer*innen (z. B. Patient*innen) die Situation bzw. den Zweck der Gesamthandlung einschätzen, also z. B. den Zweck eines Erstgesprächs mit dem Arzt oder der Ärztin und den Zweck der einzelnen funktionalen Gesprächsabschnitte (also von Pragmemen wie der Anamnese, der körperlichen Untersuchung, der Diagnose, des Therapievorschlags und der nächsten Terminvereinbarung). (2) Die zweite Stufe des Verstehens besteht darin, dass Hörer*innen eine generelle Erwartung an das sprachliche Handeln der Sprecherin oder des Sprechers ausformen, dass sie z. B. in einem Erstgespräch mit dem Arzt oder der Ärztin die Erwartung ausbilden, dass das ärztliche Personal ihnen zuhört und dann hilft, dass es eine angemessene Diagnose stellt und einen Therapievorschlag macht, der die gesundheitlichen Probleme beseitigt oder zumindest lindert. (3) Die dritte Stufe des Verstehens bildet die Perzeption der drei typischen Teilakte einer jeden Sprechhandlung, also die Perzeption des Äußerungsaktes und seiner phonetisch-phonologischen sowie prosodischen, morphologischen und syntaktischen Elemente, die Perzeption des propositionalen Aktes und die Perzeption des illokutiven Aktes. Die Elemente dieser drei Akte werden selektiv verarbeitet. (4) Die vierte Stufe besteht darin, dass der oder die Hörer*in einen Plan ausbildet. Er enthält einen Handlungsfokus, ein Handlungsschema und die Rekonstruktion des Plans der Sprecherin oder des Sprechers. (5) In der fünften Stufe des Verstehens ›übernimmt‹ die Hörerin oder der Hörer laut Rehbein und C ¸ elikkol (2018: 32) den Plan der Sprecherin oder des Sprechers und insbesondere die illokutive Rolle einer geäußerten Sprechhandlung. Die Rede von der ›Übernahme‹ bedarf meines Erachtens einer Erläuterung. Übernahme mag zwar prototypisch bedeuten, dass jemand das, was ihr oder ihm sprachlich angetragen wurde, annimmt und sich damit einverstanden zeigt, die mit der Übernahme verknüpfte Aufgabe zu erledigen oder zu erfüllen, also z. B. einer Aufforderung Folge zu leisten. Es scheint diese Bedeutung von Übernahme gemeint zu sein, wenn in der nannte ›Ebene‹ zielt auf das Erfassen von Makrostrukturen und Makropropositionen ab). Siehe zu solchen kognitionswissenschaftlichen Modellen schon Groeben (1982: 15–57). Siehe dazu auch Göpferich (2018: 238–240) und Ballstaedt (2019: 105–164).
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funktionalen Pragmatik von ›übernehmen‹ die Rede ist. In diesem Sinne wird übernehmen mit akzeptieren, zustimmen und befolgen kurzgeschlossen. Allerdings kann es auch sein, dass mit der ›Übernahme‹ nicht automatisch auch ein willfähriges Einverständnis verbunden ist. Es besteht die Möglichkeit, dass die Übernahme in einer kognitiven Entgegen- oder Aufnahme besteht, die nicht gleichzeitig auch mit der Bereitschaft verbunden wird, das Zugemutete oder Aufgetragene zu akzeptieren. In diesem schwächeren Sinne kann übernehmen einfach nur erfassen oder begreifen bedeuten, ohne dass daraus die vom Sprecher oder von der Sprecherin gewünschten Taten folgen. Dieser Fall scheint im funktional-pragmatischen Verstehensmodell nicht explizit genug berücksichtigt zu werden. Soll heißen: Verstehen bedeutet nicht zwangsläufig auch schon ein Akzeptieren. Der perlokutionäre Effekt muss nicht der von den Sprecher*innen intendierten Illokution entsprechen. Die Wirkung einer Sprechhandlung kann auch ein Widerstand gegenüber dem Geäußerten sein, also ein von der Sprecherin oder vom Sprecher nicht erwünschter perlokutionärer Effekt. (6) Gibt es beim Hörer oder bei der Hörerin die Akzeptanz, dann besteht Stufe 6 des Verstehens darin, dass er oder sie eine Folgehandlung setzt, die dem Plan der Sprecherin oder des Sprechers entspricht. In einem solchen Fall glaubt die Hörerin oder der Hörer, dass eine Assertion wahr ist oder dass ein Versprechen aufrichtig gemeint wurde und eingehalten wird. In diesem Fall gibt ein*e Hörer*in auf eine Frage eine der Frage angemessene Antwort oder kommt er oder sie einer Aufforderung durch ein entsprechendes Handeln nach. Die sechs hier unterschiedenen Stufen des Verstehens werden nicht immer alle erreicht, weil Hörer*innen hinsichtlich der einzelnen Stufen oft etwas nicht verstehen. Rehbein und Romaniuk (2014: 138) sowie Rehbein und C ¸ elikkol (2018: 33) unterscheiden auf der Grundlage ihrer Forschungen zu rezeptiver Mehrsprachigkeit zwischen fünf Kategorien problematischen Verstehens oder Nicht-Verstehens, nämlich zwischen (1) komplettem Nicht-Verstehen, bei dem keine einzige der sechs Stufen durchschritten wird, (2) partiellem Verstehen, bei dem nur einige der sechs Stufen erreicht werden, (3) bloßem Vermuten bzw. Hypothetisieren, bei dem Hörer*innen unsicher sind hinsichtlich des Plans der Sprecher*innen oder hinsichtlich der Illokution einer geäußerten Sprechhandlung. (4) Zudem kann ein*e Hörer*in glauben, etwas richtig zu verstehen, ohne vom Sprecher oder von der Sprecherin eine rückkoppelnde Bestätigung zu erhalten (Zu-verstehen-Glauben). (5) Schließlich kann es auf Stufe 3 zum Missverstehen des Äußerungsaktes, des propositionalen Aktes oder des illokutionären Aktes kommen, ohne dass den Hörer*innen bewusst wäre, dass sie einen oder mehrere dieser Akte missverstanden haben, weshalb sie dann auf einer
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falschen Wissensgrundlage fortfahren und die Stufen 4 bis 6 weiter durchlaufen. Diese fünf Kategorien eines problematischen Verstehens können bei intensiverer Forschung im Bereich der mehrsprachigen Kommunikation laut Rehbein und C ¸ elikkol (2018: 33) weiter ausdifferenziert werden. Sobald auch die interkulturelle Dimension von Kommunikation systematisch einbezogen wird, lässt sich die hier vorgestellte Typologie des Nicht-Verstehens noch stärker auffächern.
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Noch mehr Arbeit am Begriff
Wenn wir uns auf der Basis des bisher Gesagten dem sprachlichen Handeln als Verstehensgegenstand genauer zuwenden, dann stellen wir fest, dass es viele sprachliche Elemente gibt, die zum Gegenstand des Verstehens werden. Einige von ihnen kamen in Abschnitt 2 bereits zur Sprache. Sie sollen in die folgende Liste integriert werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich mindestens sechs Gruppen von verstehensrelevanten Elementen hervorheben. Sie schließen sich wechselseitig nicht strikt aus. (1) Das Verstehen des Äußerungsaktes im verbalen ebenso wie im körpersprachlichen Bereich ist der erste Schritt bei jedem Versuch, sprachliches Handeln zu begreifen. Vorgelagert ist ihm allerdings eine wenigstens grobe Einschätzung der Interaktionskonstellation und der mit ihr verbundenen Erwartungen der Interagierenden (siehe dazu oben die funktional-pragmatischen Stufen des Verstehens). Das Verstehen des Äußerungsaktes betrifft zuallererst die akustisch-phonetische und phonologische Dimension. Ich muss in der Lage sein, eine Lautkette sinnlich wahrzunehmen und die Lautkette in kleinste bedeutungstragende Einheiten, also Phoneme, zu gliedern und sequentiell zu sinntragenden Einheiten (Morphemen und Wörtern) zu bündeln. Ist das an mein Ohr dringende akustische Material teilweise ›beeinträchtigt‹, also nicht verständlich, dann werde ich versuchen, nach dem von Bühler (1982 [1934]: 24–33) so genannten semiotischen Prinzip der apperzeptiven Ergänzung den ›defizitären‹ Lautkörper unter Rückgriff auf mein sprachliches und sonstiges Hintergrundwissen zu ergänzen. Zum Verstehen des Äußerungsaktes gehört es auch, dass ich in der Lage bin, die einmaligen Schallereignisse als akustische Tokens (Sinzeichen) semiotischen Typen (Legizeichen) zuzuordnen. Gleiches gilt für körpersprachliche Zeichen, die ich wahrnehme, seien es Zeichen aus den Bereichen der Gestik, Mimik, Augenkommunikation, Körperhaltung oder Positionierung im Raum. (2) Zweite Grundbedingung eines jeden Verstehens ist das Verstehen des propositionalen Aktes und der mit ihm verknüpften kognitiven Einheiten. Hier geht es also um das Verstehen des Äußerungsinhalts, insbesondere des
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Aktes der sprachlichen Bezugnahme auf Objekte der inneren und äußeren Wirklichkeit (also des Referierens) und des sprachlichen Aktes des Prädizierens. Zu den komplexeren kognitiven Einheiten, die es zu verstehen gilt, gehören – je nach Theorierahmen – unter anderem Konzepte, Kategorien, Schemata, Frames und Wissensstrukturtypen sowie mentale Modelle. Drittens richten sich die Bemühungen, sprachliches Handeln zu verstehen, auf syntaktische Einheiten von unterschiedlicher Komplexität, das heißt von Phrasen über Teilsätze bis hin zu Sätzen und komplexen Satzverknüpfungen. Viertens hängt mit dem Erfassen des propositionalen Aktes das Verstehen morphosemantischer und lexikalischer Einheiten sehr eng zusammen, also das Verstehen von Morphemen, Wörtern, Phraseologismen bzw. Idiomen und Satzinhalten. Fünftens setzt gelingende Kommunikation das Verstehen vieler weiterer pragmatischer Handlungseinheiten von unterschiedlicher Komplexität voraus. Zu ihnen gehören deiktische Verfahren, durch die eine pragmatische Verankerung in Raum und Zeit, in Bezug auf Personen und in Bezug auf Objekte und ihre Aspekte sowie in Bezug auf soziale Beziehungen ermöglicht wird. Deiktische Prozeduren sind bereits für den unter Punkt 2 genannten Akt des Referierens unerlässlich. Zentrale pragmatische Einheiten, die es in der Kommunikation zu verstehen gilt, sind darüber hinaus die hinsichtlich ihrer illokutionären Funktion unterscheidbaren Typen von Sprechhandlungen, also Assertionen, Deklarativa, Quaestiva, Direktiva, Kommissiva und Expressiva. Mit Blick auf diese illokutionären Grundfunktionen gilt es, auch den Unterschied zwischen direkten und indirekten Sprechhandlungen zu berücksichtigen und zu begreifen. Noch komplexere pragmatische Handlungseinheiten, die als Funktions-Form-Inhaltszusammenhänge ebenfalls kognitiv verarbeitet werden müssen, sind unter anderem sprachliche Handlungsmuster, Diskurs- und Textarten und grundlegende Muster der Vertextung und Diskursivierung wie z. B. Beschreiben, Erklären, Begründen, Erzählen und Instruieren. Zu linguistischen Elementen des Verstehens gehören sechstens die Text- und Gesprächsorganisation selbst und die Prozessierung des sprachlichen Handelns. Es muss also auch der Verstehensprozess selbst verstanden werden. Sprecher*innen müssen begreifen, was sie selbst verstanden haben und in actu verstehen, auch mit Blick auf die Frage, was ihre Zuhörer*innen jeweils verstanden haben und verstehen und was sie dagegen noch nicht begriffen haben oder gerade nicht begreifen. Wer nicht Bedacht nimmt auf den jeweiligen Kenntnis- und Verstehensstand der Zuhörenden, setzt den Verständigungserfolg aufs Spiel.
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Die Aufzählung ist nicht strikt disjunktiv, sondern schwerpunkthaft organisiert. Sie ließe sich um weitere Elemente ergänzen und subspezifizieren. Eine solche Erweiterung kann im vorliegenden Beitrag nicht geleistet werden. Was es im Folgenden begrifflich grundlegend zu differenzieren gilt, das sind sechs sinnverwandte Termini: Verstehen, Verständlichkeit, Verständigung, Verständnis, Verständnissicherung und Verständnisförderung. Diese Begriffe sind in der einschlägigen Literatur nicht immer gut auseinanderzuhalten. Daher möchte ich einen klärenden terminologischen Vorschlag unterbreiten.
3.1
Verstehen
Zum Begriff des Verstehens sei zusätzlich zu den bisherigen Ausführungen hervorgehoben, dass er sich primär auf den Prozess und in zweiter Linie auch auf das Ergebnis des Prozesses der erfolgreichen kognitiven Verarbeitung bezieht. Verstehen bedeutet, dass jemand etwas oder jemanden mit dem Verstand begreift. Als interaktionsabhängige Kategorie ist Verstehen stark rezeptionsbezogen, und zwar in einem zweifachen Sinn: (1.) Die Rezipient*innen agieren als eigenständige psycho-physische Instanzen. Ihre Rezeptionsaktivitäten entfalten ein Eigenleben, das von den jeweiligen Sprecher*innen nicht strikt ›kontrolliert‹ und ›beherrscht‹ werden kann, auch wenn die Idealvorstellung von Verstehen für gewöhnlich eine ist, bei der es zu einer möglichst starken kognitiven Approximation zwischen Sprecher*in und Hörer*in kommt. (2.) Auch die Sprecher*innen selbst rezipieren den Verständigungsprozess fortlaufend und bauen ihr weiteres sprachliches Handeln in der Regel auf diesem kontinuierlichen Rezeptionsprozess auf. Zuweilen wird in der Literatur (z. B. in der funktional-pragmatischen Literatur; siehe dazu oben die fünfte Stufe des Verstehens) davon ausgegangen, dass das Verstehen gleichbedeutend mit dem Akzeptieren des Verstandenen sei. Hier gilt es – noch einmal – zu betonen, dass Verstehen nicht automatisch auch ein Zustimmen, Einwilligen und entsprechendes Befolgen bedeutet. Dass Verstehen mit dem Zustimmen nicht in eins fällt, zeigt sich nicht zuletzt auch im Bereich der sprachlichen Marker, die Erkenntnisprozesse indizieren, also bei einer Interjektion wie mhm, die in der Funktionalen Pragmatik als expeditive Prozedur bestimmt wird und die in der Gesprächsanalyse zu den so genannten Verstehensmanifestationen gezählt wird. Wer als Zuhörerin oder Zuhörer ein mhm mit fallend-steigender Intonation verwendet, gibt zunächst einmal nur kund, dass er oder sie dem Gesagten folgen kann, nicht aber zwangsläufig, dass er oder sie sich zum Gesagten zustimmend positioniert. Bei den in der Gesprächsanalyse so genannten Verstehensthematisierungen ist dieses Missverständnis weniger naheliegend, weil Verstehensthematisierungen explizite sprachliche Kundgaben
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des Verstehens sind, also z. B. Äußerungen wie ich verstehe. Drei Gegenbegriffe zu Verstehen, die in der linguistischen Literatur verwendet werden, sind NichtVerstehen, Missverstehen und Verstehensdefizit. In der Gesprächsanalyse gibt es eine Reihe von Termini, die gebraucht werden, um die in einer Interaktion relevanten Typen von Verstehenskundgaben zu bezeichnen. Diese Termini werden nicht immer konsistent und schlüssig gebraucht. Ihre typologische Gliederung und Einordnung ist daher zum Teil etwas verwirrend. Deshalb gestalten sich auch die nachfolgenden Erläuterungen kompliziert, trotz aller Bemühungen um eine übersichtliche zusammenfassende Visualisierung. Ich werde nach den referierenden Darlegungen eine Rekonzeptualisierung der gesprächsanalytischen Typen von Verstehenskundgaben vorschlagen, die ich für begrifflich konsistenter halte. Unter den Oberbegriff der Verstehensdokumentation sind in der Gesprächsanalyse die beiden Begriffe der Verstehensthematisierung und der Verstehensmanifestation subsumiert. Unter Verstehensdokumentation fasst Deppermann (2008: 230) »jegliche beobachtbare Aktivität, die in Bezug auf eine andere anzeigt bzw. erschließen lässt, wie diese verstanden wurde bzw. zu verstehen ist. Verstehensdokumentationen können explizit oder implizit sein«. Deppermann und Schmitt (2008: 228) versuchen die so genannten Verstehensdokumentationen typologisch genauer zu spezifizieren und dabei insgesamt wie folgt zu unterteilen: Verstehensdokumentationen
Thematisierungen
explizite Manifestationen
kodierte Manifestationen
indexikalische Manifestationen
Manifestationen
implizite Manifestationen
präsuppositionale Manifestationen
Abbildung 1: Semiotische Typen von Verstehensdokumentationen (zit. nach Deppermann und Schmitt 2008: 229, ergänzt)
Diese Unterteilung gliedern Deppermann und Schmitt (2008: 228–230) in drei Bereiche. Die drei hervorgehobenen Bereiche folgen leider nicht klar der binären Einteilung in der Veranschaulichung in Abbildung 1. (1) Den ersten Bereich bilden Thematisierungen des Verstehens. Verstehensthematisierungen sind explizit metakommunikativ und beinhalten unter ande-
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rem Verben des Denkens, Meinens und Glaubens (z. B. ich verstehe) und prädikative Attributionen (z. B. mir ist nicht klar/begreiflich, weshalb …). (2) Der zweite Bereich umfasst explizite und implizite Verstehensmanifestationen, bei denen Prozesse des Verstehens ausgedrückt oder problematisiert und Verstehensprobleme angezeigt oder korrigiert werden. Explizite Manifestationen beruhen z. B. darauf, dass Verstehen entweder ausdrücklich formuliert wird (als Beispiel hierfür führen Deppermann und Schmitt 2008: 229 die Äußerung ich hab noch net gesacht an) oder dass Intentionen zugeschrieben werden (z. B. durch eine Äußerung wie das detail wollt ihr ja noch oder ich wollte noch erklären …). Implizite Verstehensmanifestationen werden von den beiden Gesprächsanalytikern – je nach semiotischer Realisierung – in drei Gruppen unterteilt, nämlich in (a) indexikalische Verstehensmanifestationen, (b) präsuppositionale Verstehensmanifestationen und (c) kodierte Verstehensmanifestationen. Allerdings behandeln Deppermann und Schmitt nur die kodierten Verstehensmanifestationen im zweiten Bereich der Verstehensdokumentationen, während sie die indexikalischen sowie präsuppositionalen Verstehensmanifestationen als eigenen, nämlich dritten Bereich der Verstehensdokumentationen ausweisen, was in der Übersicht nicht klar wird (siehe Punkt 3). Zu den kodierten Verstehensmanifestationen zählen Deppermann und Schmitt (2008: 229) zum einen Erkenntnisprozessmarker bzw. Interjektionen wie aha, ach so und okay, zum anderen Modal- bzw. Abtönungspartikeln wie ja. Kodierte implizite Verstehensmanifestationen seien laut Deppermann und Schmitt (2008: 229) auf die Behandlung von Verstehensfragen gerichtet. (3) Drittens nehmen Deppermann und Schmitt (2008: 229) eine Gruppe von impliziten Verstehensmanifestationen an, die auf Prozesse des Verstehens schließen lassen, ohne dass sie Verstehen thematisieren oder auf die Behandlung von Verstehensfragen gerichtet sind. Dieser Bereich bildet also einen Teil des unter Punkt 2 genannten Teilbereichs der impliziten Verstehensmanifestationen. Dem dritten Bereich ordnen Deppermann und Schmitt so genannte indexikalische Manifestationen und präsuppositionale Manifestationen zu. Beide Manifestationstypen lassen implizit erkennen, dass das vorangegangene sprachliche Handeln der Interaktionspartnerin oder des Interaktionspartners auf spezifische Weise als Grundlage und Bezugspunkt für das eigene Handeln dient. Indexikalische Verstehensmanifestationen fassen Deppermann und Schmitt als strikt kontextabhängige Realisierungen auf, die z. B. mit Hilfe deiktischer Ausdrücke umgesetzt werden (man beachte das auf den Vordiskurs verweisende das in einer Frage wie bei welcher Gelegenheit ist das denn gewesen?; Deppermann und Schmitt 2008: 238). Präsuppositionale Verstehensmanifestationen seien dagegen über das adäquate (sprachliche) Anschlusshandeln erschließbar,
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das über Erwartbarkeitsbeziehungen organisiert wird und dem Prinzip der konditionellen Relevanz Genüge tut, etwa wenn jemand durch eine Antwort zu verstehen gebe, dass er oder sie den vorangegangenen Turn als Frage verstanden habe, oder wenn jemand durch eine abwehrende Zurückweisung oder Rechtfertigung kundgebe, dass das Vorangegangene als Vorwurf aufgefasst wurde (Deppermann und Schmitt 2008: 229; siehe hierzu auch schon Selting 2013 [1987]: 43, 84). Ziemlich sicher sind auch die von Deppermann (2008: 257) genannten Formulierungsaufnahmen, Turnvervollständigungen und Turnfortführungen, Reformulierungen und Inferenzformulierungen sowie Selbst- und Fremdkorrekturen diesem dritten Bereich zuzuweisen, es wäre aber noch zu ergründen, welcher dieser Phänomenkomplexe jeweils zu den indexikalischen und welcher zu den präsuppositionalen Verstehensdokumentationen gerechnet werden kann. Aus diskurssemiotischer Perspektive steht für mich zu vermuten, dass sie allesamt einen indexikalischen Charakter tragen. Dieser typologische gesprächsanalytische Differenzierungsversuch ist für mich, wie gesagt, nicht wirklich schlüssig. Er fordert mich deshalb an mindestens sechs Punkten zu kritischen Überlegungen heraus:5 (1) Der Begriff der Verstehensdokumentation ist meines Erachtens nicht glücklich gewählt – auch wenn er ethnomethodologisch (siehe Garfinkel 2008 [1967]: 77–79) und wissenssoziologisch (siehe Mannheim 1964 [1921/ 1922]: 108–109) inspiriert sein mag. Eine Dokumentation ist für gewöhnlich eine nachträgliche Zusammenstellung und Archivierung sprachlicher Produkte, die später, das heißt nach dem sprachlichen Handeln, genutzt werden, um etwas nachzuweisen, zu belegen oder anschaulich zu bezeugen.6 Vor 5 Ein*e Gutachter*in fragte sich angesichts meiner Erläuterungen zum Modells von Deppermann und Schmitt, ob die Unterscheidung zwischen Verstehensthematisierung und Verstehensmanifestation mit Goffmans (1988 [1959]: 6) Unterscheidung zwischen kommunikativen Inhalten, die von den Einzelnen intentional »zum Ausdruck gebracht werden«, und solchen, die unwillentlich »zum Ausdruck kommen«, also ungewollt von den Einzelnen ›ausgestrahlt werden‹, zusammenhänge oder erklärt werden könne oder eben nicht zusammen hänge. Ein Zusammenhang zwischen dem gesprächsanalytischen Modell und Goffmans Differenzierung zwischen den zwei besagten Arten von Zeichengebung ist für mich nicht gegeben, geht es Goffman in seiner Unterscheidung doch um die Frage der Ausdruckskontrolle im Rahmen des dramaturgischen Alltagshandelns von Interaktionsteilnehmer*innen, während Deppermanns und Schmitts unterschiedliche semiotische Typen von Verstehensdokumentationen allesamt mit der willentlichen Kundgabe von Verstehensprozessierungen in der Interaktion zu tun haben, also mit der ersten von Goffman unterschiedenen Art der Zeichengebung. 6 Dokumentation ist hier als Resultatsnomen verstanden. Als Prozessnomen kann sich das Wort zwar auch auf den Akt des Dokumentierens selbst beziehen, also auf das Aufzeichnen und Mitprotokollieren eines kommunikativen Geschehens in actu, doch auch dieses z. B. stenographische Protokollieren oder audioviduelle Registrieren während der Kommunikation oder
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allem in Bezug auf so genannte Verstehensmanifestationen leuchtet die metaphorische Rede von der ›Dokumentation‹ nicht ein, denn sie lässt sich auf flüchtiges mündliches Sprachhandeln, mit dem sich Gesprächsanalyse bevorzugt beschäftigt, nicht überzeugend beziehen. Der Ausdruck Dokumentation leitet sich von lat. documentum im Sinne eines ›beweisenden Schriftstücks‹ her, und documentum ist wiederum von lat. docere im Sinne von ›dozieren, (be)lehren‹ abgeleitet. Da Dokumentieren prototypisch auf das post hoc erfolgende Erfassen und Zusammenstellen beweiskräftiger textueller Verdauerungen oder textuell überlieferter Belege bezogen ist, gelingt es nicht, mit diesem Sprachbild den prozessualen und handlungsgebundenen Charakter von Interaktionen begrifflich angemessen einzufangen, am allerwenigsten von Interjektionen wie mhm, die während einer Interaktion geäußert werden, um einen direkten kommunikativen Draht zwischen Sprecher*in und Hörer*in herzustellen. Dokumentation ist keine Binnenkategorie der Diskursteilnehmer*innen, sondern viel eher eine interaktionsexterne schriftzentrierte Kategorie aus der Perspektive der Forschenden. Vielleicht wäre Verstehenskundgabe ein passenderer Überbegriff, allerdings nur, wenn Kundgabe allgemein und nicht im Sinne der spezifischen sprachlichen Kundegabefunktion (so nannte Bühler seine Ausdrucksfunktion zuerst; siehe dazu Reisigl 1999: 35–37) verstanden wird. (2) Auch Verstehensmanifestation ist ein Begriff, der – so wie Dokumentation – als Terminus meines Erachtens eigentlich keine Binnenkategorie der Diskursteilnehmer*innen darstellt, sondern vielmehr als Bezeichnung fungiert, der tendenziell eine analytische Rezeptionsperspektive eingeschrieben ist. Manifestation ist in erster Linie das Sichtbar-, Offenbar- oder ErkennbarWerden. Etwas zeigt sich für eine Beobachterin oder einen Beobachter, entweder für eine*n Interaktionsteilnehmer*in oder für den oder die forschende*n Gesprächsanalytiker*in. Auch dieser Begriff scheint von der Interaktion und vom sprachlichen Handeln – der Tendenz nach – abgelöst zu sein. Legt man die konventionelle reflexive Hauptbedeutung zugrunde (etwas manifestiert sich), dann weicht Manifestation von den beiden anderen Hauptbegriffen der gesprächsanalytischen Typologie dahingehend ab, dass er prototypisch eine agensabgewandte Optik nahelegt, während die beiden anderen prototypisch Praktiken bezeichnen. Das wird erkennbar, wenn wir die drei Nominalisierungen auf ihre Verben zurückführen: Handelnde, also Sprecher*innen und Hörer*innen, dokumentieren das VersteInteraktion dient nur dazu, das Kommunikationsereignis bzw. Kommunizierte für die Nachwelt zu verdauern und zu überliefern. Zudem ist der Akt des Dokumentierens selbst oft ein erst nachträglich vorgenommenes Zusammenstellen, Ordnen, Verwahren und Verwalten von vorhandenen Sprachdaten, die nicht von Vornherein zum Zweck der Überlieferung hervorgebracht wurden.
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hen oder thematisieren es, während sich das Verstehen oder ein Verstehensproblem in sprachlichen Handlungen manifestiert. Insofern kontrastiert die reflexiv konzipierte Manifestation zu den aktiv konzipierten Nominalisierungen der Dokumentation und Thematisierung. Dieser Einwand gilt nur unter der Voraussetzung, dass die seltene bildungssprachliche Verwendungsweise ausgeklammert wird, der zufolge z. B. gesagt werden kann, dass eine Malerin in ihren Bildern das soziale Elend manifestiert. Ich vermute, dass diese seltene transitive Gebrauchsweise des Verbs mit Akkusativobjekt (jemand manifestiert etwas durch/mit etwas) den meisten Verwendungen des Begriffs nicht als Konstruktionsgrundlage zugrunde liegt. Allerdings könnte die aktive transitive Gebrauchsform bei der Prägung des Begriffs der Verstehensmanifestation von Relevanz gewesen sein, denn in Selting 2013 [1987] finden sich zahlreiche Tokens des transitiv gebrauchten Verbs (bereits auf den ersten 100 Seiten des Werks lassen sich auf 24 Seiten entsprechende Belege finden). Nun wäre mit Blick auf Selting (2013 [1987]) zu erwarten, dass der recht ungewöhnliche transitive Gebrauch von manifestieren und Manifestation auf jene Fälle begrenzt bleibt, in denen es um explizite Kundgaben von Verstehen oder Nicht-Verstehen geht, da die transitive Verwendung des Verbs ein gezieltes intentionales Handgreiflich-Machen (von lat. manifestus) oder Sichtbar-Machen impliziert. Allerdings spricht Selting auch von »impliziter« Manifestation des Verstehens (z. B. Selting 2013 [1987]: 56–57), was in Bezug auf das transitive Gebrauchsmuster wie eine contradictio in adjecto anmutet. (3) Das Kriterium der Explizitheit ist in der Einteilung von Deppermann und Schmitt an zwei verschiedenen Stellen relevant, wird aber nur einmal ausdrücklich angeführt. Explizit können nämlich nicht nur Verstehensmanifestationen sein. Auch Verstehensthematisierungen sind explizit, werden in diesem Bereich doch Prozesse des Verstehens ausdrücklich zur Sprache gebracht. Daher ist zu fragen, ob die Begriffsarchitektur nicht stringenter wäre, wenn Verstehensdokumentationen auf der obersten Einteilungsstufe in explizite und implizite unterteilt würden, das Ordnungskriterium der Explizitheit und Implizitheit also nicht erst im Bereich der Manifestationen explizit genannt würde. (4) Der Bereich der impliziten Verstehensmanifestationen umfasst meines Erachtens dermaßen heterogene Phänomenkomplexe, dass mich die begriffsstrukturelle und geometrische Gleichbehandlung von kodierten, indexikalischen und präsuppositionalen Verstehensmanifestationen auf einund derselben Stufe nicht überzeugt. Vielmehr würde ich anregen, die so genannten kodierten Verstehensmanifestationen als eigene Kategorie zu behandeln. Dies vor allem auch deshalb, weil die Phänomenkomplexe, die dieser Kategorie zugeordnet sind (Interjektionen und Modalpartikeln), aus
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meiner Sicht eher explizite als implizite Manifestationsmittel darstellen – auch wenn ihre Explizitheit teilweise von anderer, nämlich holistischerer Art ist als die sprachlich gegliederten expliziten Formulierungen. (5) Bei der Kennzeichnung so genannter präsuppositionaler Verstehensdokumentationen wird nicht klar, ob präsuppositional terminologisch mit dem pragmatischen Begriff der Präsupposition verbunden ist oder ob das Adjektiv von Deppermann und Schmitt vorwiegend in einem allgemeineren alltagswissenschaftlichen Sinn gebraucht wird. Letzteres scheint eher der Fall zu sein, weil z. B. auch eine Modalpartikel wie ja einer lexikalischen Präsuppositionenanalyse unterzogen werden kann, also Element einer präsuppositionalen Verstehenskundgabe ist, steckt im ja doch die Präsupposition der Selbstverständlichkeit. (6) Schließlich bedürfte der Begriff der indexikalischen Verstehensdokumentation einer näheren Erläuterung, da nicht klar ist, was indexikalisch im gegebenen Zusammenhang genau bedeutet – außer dass mit dem Begriff auf die Kontextabhängigkeit bzw. kontextuelle Bezüglichkeit der Bedeutungserschließung hingewiesen wird. Es steht außer Zweifel, dass auch ein interjektionaler Erkenntnismarker wie aha eine indexikalische Funktion erfüllt. Es steht zu vermuten, dass indexikalisch hier nicht im Sinne von Charles Sanders Peirce, der den Begriff in die Semiotik und Erkenntnistheorie eingeführt hat (vgl. Reisigl 2017: 8–9, 17, 20, 22–23), sondern recht unspezifisch verwendet wird – wobei die Begriffstradition der Ethnomethodologie für die Gesprächsanalyse von großer Bedeutung ist. Zwar scheint der Begriff in der hier zur Diskussion stehenden gesprächsanalytischen Literatur mit deiktischen Verfahren verbunden zu werden – vor allem mit objektdeiktischen Verweisen. Und in der Tat ist Deixis ein ganz zentraler Teilbereich der indexikalischer Zeichenprozesse, der sich auf das Herstellen von räumlichen, zeitlichen, personalen, objektbezogenen, aspektbezogenen, performativen und (symmetrischen oder asymmetrischen) sozialen Relationen bezieht. Zu den indexikalischen Sprachphänomenen zählen darüber hinaus aber auch prosodische bzw. intonatorische Elemente, die etwas über die dialektale oder soziale Herkunft oder über die momentane psychische (emotionale) Verfassung einer Sprecherin verraten, und außerdem Überschriften, Fuß- bzw. Endnoten, Literaturverweise, Interpunktionszeichen, Zeigegesten, mimische Gesten und verschiedene weitere intertextuelle Bezüge in der geschriebenen ebenso wie gesprochenen Sprache. Grundsätzlich gilt, dass keine kontextualisierte Äußerung ohne irgendeine Form von Indexikalität auskommen kann. Allerdings bleibt der gesprächsanalytisch gebrauchte Indexikalitätsbegriff theoretisch (einschließlich semiotisch) unbestimmt. Er eignet sich daher nicht, um eine spezifische Differenz zu identifizieren, die etwa ›indexikalische Verste-
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hensdokumentationen‹ von ›kodierten‹ Verstehenskundgaben gut abzugrenzen erlauben würde, denn beispielsweise sind auch Deiktika kodierte Ausdrücke. Aus diskurssemiotischer Perspektive wäre es zudem unbefriedigend, lediglich den Begriff der Indexikalität mit dem Konzept der Verstehenskundgabe zu verknüpfen, aber nicht auch die semiotischen Begriffe der Ikonizität und der Symbolizität analytisch ins Spiel zu bringen. Es ist hier nicht der Platz, auch diese beiden Peirce’schen Grundbegriffe stringent in das typologische Modell der Verstehenskundgaben einzuführen, aber im Grunde wären sie ebenfalls erhellende Konzepte, die zur Differenzierung des Modells beitragen können. Werden diese Anmerkungen beherzigt, dann liegt es nahe, die Einteilung von Deppermann und Schmitt (2008: 229) zu überdenken und teilweise zu reorganisieren. Dabei können die Begriffe der Verstehensdokumentation und Verstehensmanifestation meines Erachtens ersetzt werden. Ich schlage vor, Verstehenskundgabe als allgemeinen Oberbegriff aufzufassen und sodann zwischen expliziten und impliziten Verstehenskundgaben zu differenzieren. Die expliziten Verstehenskundgaben sind entweder artikuliert, also in sprachliche Einheiten gegliedert, und stehen primär im Dienst der sprachlichen Darstellungsfunktion im Sinne Bühlers. Oder sie sind unmittelbar lenkend (technisch gesprochen: expeditiv, wie z. B. Interjektionen wie mhm und aha mit entsprechenden Intonationsmustern) oder modal-operativ (wie z. B. der Selbstverständlichkeitsmarker ja, der die lexikalische Präsupposition der Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt). Da der terminologische Bezug zum pragmatischen Konzept der Präsupposition in Deppermanns und Schmitts Typisierung der Verstehensdokumentationen ungeklärt ist, spreche ich statt von präsuppositionalen Verstehenskundgaben lieber von Verstehenskundgaben, die sprachliches bzw. generisches Musterwissen voraussetzen, also ein die Erwartungen der Interagierenden beeinflussendes Wissen um die sequentielle Organisation von Gesprächen, Gesprächsphasen, Gesprächssequenzen und Gesprächsschritten bzw. sprachlichen Handlungsmustern. Bei diesem Typ geht es um implizite musterbzw. genrebezogene Verstehenskundgabe, genauer gesagt, um die implizite Kundgabe des Musterverstehens durch muster- bzw. genreadäquates Anschlusshandeln (durch eine Antwort gebe ich zu verstehen, dass die vorangegangene Sprechhandlung eine Frage war). Schließlich schlage ich vor, das weite Konzept der Indexikalität für die vorliegende Typologie zu spezifizieren, weil Indexikalität an sich auch für die anderen der hier genannten Typen von Verstehenskundgaben relevant ist, und zwar beispielsweise nicht nur für Interjektionen, sondern auch für kodierte deiktische Ausdrücke, die im Rahmen artikulierter Thematisierungen verwendet werden, um pragmatische Bezüge zu Wahrnehmungs-, Text-, Rede- und Vorstellungsräumen herzustellen. Proviso-
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risch schlage ich vor, für implizite Verstehenskundgaben, die auf lokaler kontextgebundener indexikalischer Semiose beruhen, den Begriff der symptomatischen Verstehenskundgaben zu verwenden. Verstehenskundgaben
explizite Verstehenskundgaben
thematisierend
modal-operativ
expeditiv
implizite Verstehenskundgaben
symptomatisch
Musterwissen vorausse!end
Abbildung 2: Typen von Verstehenskundgaben – Überarbeitung der Typologie von Deppermann und Schmitt (2008)
3.2
Verständlichkeit
Zum Begriff der Verständlichkeit sei festgehalten, dass er der Tendenz nach vom Prozess der kognitiven Verarbeitung abstrahiert und primär eine Eigenschaft bezeichnet, die eine Äußerung oder ein Text als Produkt sprachlichen Handelns besitzt. Der Begriff bezieht sich – das wird auf den folgenden Seiten deutlich – prototypisch auf schriftliche Texte und üblicherweise kaum auf mündliche Äußerungen. Dies hat damit zu tun, dass der Begriff der Verständlichkeit in irgendeiner Weise die Dauerhaftigkeit dessen impliziert, von dem Verständlichkeit behauptet wird, während mündliche Äußerungen flüchtig sind – es sei denn, sie werden erinnert und damit verdauert, in welchem Falle auch über sie Verständlichkeitsbehauptungen möglich sind. Lutz und Wodak (1987: 36) grenzen den Begriff der Verständlichkeit von jenem des Verstehens dahingehend ab, dass sie Verständlichkeit als statische Größe bestimmen, die sich auf textinhärente Merkmale (und wir können hinzufügen: oder äußerungsinhärente Merkmale) bezieht, während Verstehen einen dynamischen Vorgang bezeichne, der die kognitiven und emotionalen Prozesse in jeder Text- oder Äußerungsrezipientin mit einschließe. Gegenbegriffe zum Begriff der Verständlichkeit sind die Begriffe Unverständlichkeit, Schwerverständlichkeit und Missverständlichkeit. Der Fokus des Begriffs auf die Eigenschaft sprachlicher Hervorbringungen führt dazu, dass der Ausdruck Verständlichkeit in der Forschung – wie gesagt – prototypisch für den Bereich der Schriftsprache verwendet wird. Insofern geht es bei Verständlichkeit in erster Linie um Textverständlichkeit.
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Benedikt Lutz (2015: 237–243) befasst sich bereits seit den 1980er Jahren mit Fragen der Verständlichkeit von mündlicher und schriftlicher Kommunikation (Lutz und Wodak 1987). Er hat ein sehr transdisziplinäres und stark anwendungsorientiertes Modell erarbeitet. Er hat sich grundlegend und weiterführend mit dem instruktionspsychologischen Hamburger Verständlichkeitskonzept, dem ebenfalls instruktionspsychologischen interaktionalen Modell Groebens, dem integrativen kommunikationsorientierten Karlsruher Modell von Göpferich (2002) und etlichen weiteren thematisch relevanten Ansätzen auseinandergesetzt. Textverständlichkeit ist Lutz zufolge abhängig (1) von den kommunikativen Zielen der Sprachproduzent*innen ebenso wie der Sprachrezipient*innen, (2) von der konkreten Situation der Textproduktion und Textrezeption, (3) vom semiotischen Modus (z. B. vom Charakter der Schriftsprache, der mündlichen Sprache, der Typographie, des Bildes, des Tones und des Zusammenspiels dieser Modi in multimodalen Kommunikationsformaten), (4) vom Medium (Lesen am Bildschirm verleitet z. B. oberflächlicherem Lesen als das Lesen des gleichen gedruckten Textes), (5) von der Textart und ihrer generischen Struktur, (6) von der Terminologie bzw. Fachsprachlichkeit, (7) von der Sprachkompetenz und (8) vom Vorwissen und den jeweiligen kognitiven Voraussetzungen der Diskursteilnehmer*innen (z. B. der Gedächtniskapazität). Für die geschriebene Sprache hat Benedikt Lutz (2015: 243–261) in seiner Habilitationsschrift eine Reihe von Kriterien bzw. Dimensionen der Verständlichkeit ausdifferenziert. Sie hängen mit den eben erwähnten kommunikativen Grundfaktoren eng zusammen und sind nicht strikt disjunktiv aufzufassen, sondern weisen Überschneidungen auf. (1) Zu den Dimensionen von Verständlichkeit gehört erstens die inhaltliche Komplexität. Es ist eine große kommunikative Herausforderung, komplizierte Sachverhalte (z. B. wissenschaftlich untersuchte Gegenstände, etwa in der Medizin) in der Wissensvermittlung so zu vereinfachen, dass auch Zielgruppen mit fehlendem Vor- und Fachwissen oder eingeschränkter Sprachkompetenz gut erreicht werden (also z. B. Patient*innen). (2) Zweitens wird die Verständlichkeit von der Kompliziertheit des Layouts mitbestimmt, also von der äußeren (kompositorischen, graphischen, typographischen usw.) Gestaltung eines Textes. Eine unübersichtliche und umständliche Gestaltung ist schwerer verständlich als eine übersichtliche, einfache und klare Gestaltung, lange Sätze sind schwerer zu verarbeiten als kürzere, eine optisch gut wahrnehmbare Textgliederung ist leichter zu verarbeiten als ein langer Fließtext ohne Absatzstruktur, anschauliche Visualisierungen (Tabellen und Abbildungen) fördern die Verständlichkeit und sind einprägsamer als reiner Schrifttext. (3) Die Kürze, die als brevitas bereits in der antiken Rhetorik ein stilistisches Organisationsprinzip der rhetorischen Bearbeitungsphase der elocutio war,
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gilt Benedikt Lutz als weiteres wichtiges Verständlichkeitskriterium. Redundanz und weitschweifige Themenentfaltungen (langatmige Umschreibungen und zu viele Exkurse) beeinträchtigen die Verständlichkeit, knappe und prägnante Formulierungen fördern sie. Zu knappe und dichte Verbalisierungen, die noch dazu auf anschauliche Beispiele verzichten, können die Verständlichkeit andererseits aber auch beeinträchtigen. Insofern gilt es, mit Bedacht auf das Textualitätskriterium der Informativität situationsangemessen und zielgruppenadäquat eine je passende Textlänge zu bestimmen. (4) Viertens trägt die innere thematische Gliederung entscheidend dazu bei, dass ein Text verständlich ist. In der Textlinguistik wird die Frage der verständlichen inneren Gliederung unter anderem mit Hilfe von Modellen der thematischen Progression und Thema-Rhema-Gliederung, aber auch des Konzepts der Kohärenz im Zusammenspiel mit Kohäsion erörtert. Diese Modelle versuchen, die Textartendependenz und die Abhängigkeit von der jeweiligen Wissenschaftskultur zu berücksichtigen. Am besten sollte die innere Gliederung durch Kohäsionsmittel (wie z. B. Kon- und Subjunktionen) und eine entsprechende äußere Gliederung gestützt werden, z. B. durch Überschriften, Nummerierungen, Inhaltsverzeichnisse, Kopfzeilen, Fußnoten, Darstellungen, Verlinkungen usw. (Lutz 2015: 249). (5) Deutlichkeit führt Lutz (2015: 251–253) als fünfte Dimension der Verständlichkeit an. Diese Dimension bezieht sich auf die semiotische Reliefgebung durch die Organisation von Vorder- und Hintergrund in einem Text oder einer mündlichen Äußerung: Sie betrifft Fragen der semiotischen Salienz. Salienz kann über Hervorhebungen im (typo)graphischen Bereich und durch prosodische Akzentierungen erreicht werden. Deutlichkeit ist nicht zuletzt das Ergebnis einer spezifischen multimodalen und multimedialen Gestaltung des Layouts, wird von Lutz (2015: 252) aber auch mit einer verbalen Ausgestaltung verbunden, die unter anderem mit Mitteln der Emphase, mit Wiederholungen, mit Zusammenfassungen und mit sprachlichen Vereinfachungen operiert. Blicken wir auf alle diese Elemente, dann wird schnell offenbar, dass die Dimension der Deutlichkeit kaum von den drei bisher genannten Dimensionen abgegrenzt werden kann. Nicht außer Acht bleiben sollte, dass Deutlichkeit ein relatives Konzept ist, das an die jeweiligen Rezipient*innen angebunden bleibt: etwas ist deutlich für die einen, aber vielleicht nicht so deutlich für die anderen. Diese Relationalität gilt auch in besonderem Maße für die nächste Dimension. (6) Textgenerierte Motivation steigert die Aufmerksamkeit, was sich in der Regel positiv auf das kognitive Verarbeiten des Textes auswirkt. Motivierende Texte tragen insofern zur Verständlichkeit bei. Und es verhält sich auch umgekehrt: Gut verständliche Texte sind meist motivierender als
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schwer verständliche Texte. Motivierend wirken laut Lutz (2015: 253) anschauliche Beispiele, Geschichten, Scherze bzw. Witze, Metaphern, Reime, Onomatopoetika, direkte Anreden, Überraschungen, Hinweise auf Auffälligkeiten, originelle Formulierungen und vieles mehr. (7) Die Gebrauchstauglichkeit oder Anwendbarkeit (usability) bestimmt Lutz (2015: 253) als siebte Dimension der Verständlichkeit. Sie sei besonders für instruktive Texte von unmittelbarer Relevanz, die zum Vollzug einer Handlung oder zur Verwendung eines Gerätes anleiten sollen. Das jeweilige Vorwissen und die jeweilige Sprach- sowie Medienkompetenz entscheiden über die Gebrauchstauglichkeit mit. Insofern gilt es, einen instruktiven Text jeweils auf die Adressat*innen hin zu orientieren. (8) Auch wenn sprachliche Korrektheit nicht in jedem Fall eine unerlässliche Voraussetzung für Verständlichkeit ist, weil in etlichen Kontexten auch sprachlich nicht korrekt formulierte Texte oder Äußerungen angemessen verstanden werden können, so steht doch außer Zweifel, dass es Gebrauchskontexte gibt (beispielsweise fachsprachliche bzw. wissenschaftliche), in denen nicht korrekt formulierte Texte oder Äußerungen zu Unklarheit und in der Folge auch zu Schwer- oder Unverständlichkeit führen (siehe zum Kriterium der Korrektheit u. a. auch Göpferich 2002: 163–186). Unter inhaltlichen Unrichtigkeiten, inkorrekten pragmatischen (z. B. deiktischen) Bezügen, Grammatikfehlern oder auch ungenauen Formulierungen kann die Verständlichkeit von Texten empfindlich leiden, und zudem wird sie in manchen sozialen Feldern (z. B. im wissenschaftlichen und literarischen Feld) die Autorität der Autor*innen untergraben. Auch Steffen-Peter Ballstaedt (2019: 165–280) befasst sich in seinem Lehrwerk eingehend mit Fragen der Verständlichkeit. In seinen Darlegungen unterscheidet er zwischen grammatischer Verständlichkeit (sie gliedert er in lexikalische und syntaktische Verständlichkeit) und pragmatischer Textverständlichkeit. In Bezug auf lexikalische Verständlichkeit will er unter anderem das Bewusstsein dafür schärfen, dass ungebräuchliche Wörter, Fremdwörter, Fachwörter bzw. Termini, Kurzwörter, Komposita, Nominalisierungen, Abstrakta und mehrdeutige Wörter das Verständnis eines Textes erschweren können. Sie lassen sich in vielen Kommunikationssituationen nicht völlig vermeiden, sollten aber stets mit Bedacht auf den zu erwartenden Kenntnisstand der jeweiligen Adressat*innen verwendet und bei vermutetem Bedarf stets erklärt werden (Ballstaedt 2019: 170–182). Zur Frage der syntaktischen Verständlichkeit resümiert Ballstaedt (2019: 182–218), dass sie beeinträchtigt werden kann, wenn regressive Konstruktionen7, Passivkonstruktionen, Verneinungen, Klammerkonstruktionen, 7 Bei regressiven Konstruktionen wird – im Unterschied zu progressiven Konstruktionen – das
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Einbettungen sowie Schachtelsätze, Nominalstil, mehrdeutige Konstruktionen, unübersichtliche Abfolgen sowie Aufzählungen und mit Füllwörtern aufgeblähte Sätze gebildet werden. Die Textverständlichkeit kann laut Ballstaedt (2019: 202–221) unter anderem leiden, wenn schwierige Koreferenzen gebildet, unklare Bezüge bei Proformen (Anaphern und Kataphern, Proverben, Proadjektiven und Proadverbien) gebildet, Kohärenzlücken gelassen und schwer nachvollziehbare Textgliederungen (etwa auch durch inhaltsleere Überschriften) vorgenommen werden. Pragmatische Textverständlichkeit ist zudem auch stark davon abhängig, ob mehrdeutige oder indirekte Sprechhandlungen vollzogen werden und ob es Abweichungen bei den konventionellen Vertextungsmustern der Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen, Erzählungen und Instruktionen gibt (Ballstaedt 2019: 223–279). Sowohl Benedikt Lutz’ reichhaltige Erläuterungen zu den Kriterien und Dimensionen der Textverständlichkeit als auch Steffen-Peter Ballstaedts Übersicht über grammatische (lexikalische sowie syntaktische) und pragmatische Textverständlichkeit sind von großer praktischer Relevanz für den Versuch, Verfahren der Verständnisförderung und Verständnissicherung auszudifferenzieren, die sich didaktisch vermittelt lassen, unter anderem in institutionellen Kontexten, in denen die Agent*innen der jeweiligen Institution durch entsprechende Anleitungen dazu befähigt werden sollen, alltäglich zu erwartende kommunikative Herausforderungen besser zu meistern, die komplexe Verstehensanforderungen an die Klient*innen der Institution stellen (siehe dazu Abschnitt 5). Allerdings sind viele der von Lutz und Ballstaedt herausgearbeiteten Hilfestellungen stärker auf schriftliche Texte als auf Gespräche zugeschnitten, da das Konzept der Verständlichkeit, wie gesagt, prototypisch auf geschriebene Sprache fokussiert. Daher bedarf es für die mündliche Kommunikation teilweise einer analytischen, begrifflichen und didaktischen Ergänzung, die z. B. aus der Perspektive der Gesprächsanalyse und der funktionalen Pragmatik erfolgen kann. Eben diese beiden subdisziplinären Zugänge werden in den folgenden beiden Abschnitt vermehrt im Zentrum stehen, auch wenn vieles vom bisher Gesagten bei entsprechender Rücksicht auf die Besonderheiten des mündlichen Kommunikationsmodus auch auf die Begriffe der Verständigung und des Verständnisses (sowie der Verständnisförderung und Verständnissicherung) übertragen werden kann. Dabei gilt es zu beachten, dass Verständlichkeit immer, also sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen, eine relative Angelegenheit ist (siehe dazu auch Göpferich 2018: 230–231) und dass sich der Grad an VerUnbekannte vor dem Bekannten bzw. das zentrale Bezugswort erst nach der auf es bezogenen Prädikation genannt wird; vgl. z. B. ein heller, blauer Mantel (wo das Bezugsnomen Mantel erst nach den beiden Attributen hell und blau genannt wird) oder Mit dem Nachzug fuhr Max nach Berlin (statt der unmarkierten Wortstellung Max fuhr mit dem Nachzug nach Berlin; Ballstaedt 2019: 183–184).
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ständlichkeit stets erhöhen lässt, je eher eine egozentrische Kommunikationsperspektive einer zielgruppenspezifischen kommunikativen Sensibilität weicht (siehe dazu auch Göpferich 2018: 232–234).
3.3
Verständigung
Der Begriff der Verständigung bezieht sich in der einschlägigen Forschung primär auf den Prozess des wechselseitigen kommunikativen Austausches über eine Thematik oder Problematik, der zu einem wechselseitigen Sich-Verstehen führt: jemand verständigt sich mit jemandem über etwas. Diese Bedeutung des Wortes inkludiert zum einen oft das Ergebnis des sprachlichen Handelns und z. T. sogar dessen Nachgeschichte (in welchem Fall etwa auch davon die Rede ist, dass sich jemand mit jemandem auf etwas verständigt habe), zum anderen auch die Voraussetzung für das Ergebnis selbst, also das spezifische kommunikative Handeln, das zum Ergebnis führt (siehe dazu auch Kamayama 2004: 84). Insofern enthält der Ausdruck eine resultative Bedeutungskomponente, gibt er also an, dass ein bestimmtes kommunikatives Ziel erreicht wurde. Das Ergebnis kann zum Beispiel eine Klärung, eine Einigung, ein Einverständnis, eine Entscheidungsfindung, eine konsensuelle Lösung, eine Kompromissbildung oder eine gelungene Handlungskoordination sein. Einem solchen eng mit Argumentation verknüpften Verständigungsbegriff stellen Kindt und Rittgeroth (2009: 232) in gesprächsanalytischer Tradition einen nicht auf Argumentation (im Sinne der rationalen Bearbeitung strittiger Geltungsansprüche) bezogenen Begriff der Verständigung gegenüber. Die Bedeutung von Verständigung geht über die Bedeutung von Verständlichkeit und Verständnis hinaus. Verständigung schließt nämlich die Verständlichkeit und das Verständnis des Geäußerten oder Geschriebenen mit ein, inkludiert zusätzlich aber auch die Prozesse der Interaktion zwischen den Interagierenden, die zum Verständnis auf der Grundlage von Verständlichkeit führen. Weniger relevant ist in der linguistischen Forschung die zweite alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs, die sich auf eine unidirektionale Mitteilung bezieht, bei der das Verb also transitiv verwendet wird: jemand verständigt jemanden über etwas. Das Gegenteil von Verständigung stellt die missglückte oder misslungene Verständigung dar, für die das bis jetzt wenig gebräuchliche Wort Missverständigung als Terminus eingeführt werden könnte. Zu ihr wird in der interaktionalen Soziolinguistik viel geforscht, v. a. mit Blick auf interkulturelle Kommunikation (z. B. Gumperz 1982) und die Kommunikation zwischen Frauen und Männern bzw. Buben und Mädchen. Im Unterschied zu Verständlichkeit rückt der Begriff der Verständigung die interaktionale Dimension in den Vordergrund. Daher wird er in der Ge-
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sprächsanalyse und interaktionalen Linguistik bevorzugt. Verständigung ist zielgerichtete Interaktionsarbeit. Ihr können sich verschiedenste Verständigungsprobleme ›lokaler‹ und ›globaler‹ Art in den Weg stellen (siehe zu ihnen z. B. Selting 2013 [1987]; Fiehler 1998 und Kindt/Rittgeroth 2009). Um sie zu bearbeiten, werden der einschlägigen Fachliteratur zufolge verschiedene Verständigungsstrategien angewandt, darunter explizite Verfahren der Verständigungssicherung, die entweder prospektiv oder retrospektiv ausgerichtet sind (Selting 2013 [1987]: 46–49). Kindt und Rittgeroth (2009: 77–229) knüpfen an Seltings Modell (2013 [1987]) an und schlagen eine Typologie von Verständigungsstrategien vor, die zwischen drei Typen unterscheidet: (1) Prospektive Problemvermeidungsstrategien können global (makrostrukturell) oder lokal (meso- oder mikrostrukturell) ausgerichtet sein. Globale Strategien bestehen etwa darin, den Kommunikationsbeginn zu markieren, Kommunikationspartner*innen direkt anzusprechen, vorgreifende oder rückgreifende Verdeutlichungen vorzunehmen, die kommunikative Gesamtaufgabe in Teilaufgaben zu unterteilen, Einfaches zuerst zu thematisieren und sich in sprachlichen Darstellungen oder Instruktionen am ordo naturalis von Ereignisfolgen zu orientieren (die Abfolgen sind gegebenenfalls auch visualisiert, z. B. in Gebrauchsanweisungen oder Bauplänen). Lokale Strategien der prospektiven Problemvermeidung schließen den Versuch mit ein, die Aufmerksamkeit der Hörer*innen durch namentliche Anreden oder imperativische attention getters wie pass auf! zu steigern, wichtige Bezugspunkte deiktisch zu etablieren und durch Benennung zu identifizieren, instruktive Handlungen in Teilschritte zu gliedern, Informationen in einer kohärenten thematischen Progression zu reihen, Aufforderungen höflich zu formulieren, einfache syntaktische Konstruktionen zu bilden und gegenstandadäquate Beschreibungskategorien zu wählen (Kindt und Rittgeroth 2009: 78–106).8 (2) Strategien der Verstehensabsicherung werden laut Kindt und Rittgeroth dagegen retrospektiv und äußerungsbegleitend angewandt, um Verstehensresultate sicherzustellen oder zu überprüfen. Zu ihnen zählen Kindt und Rittgeroth unter anderem bestätigende Rückmeldesignale und Wiederholungen, Reformulierungen, Inferenzangebote, Verneinungen, Erläuterungen, gedächtnisorientierte Ad-hoc-Bildungen, Erinnerungen an gemeinsame Aushandlungen, Analogien und Rückfragen (Kindt und Rittgeroth 2009: 106–131). 8 Manche der unter dem ersten Typ genannten Substrategien lassen sich mit den von Lutz (2015) für schriftliche Texte genannten Verständlichkeitskriterien verknüpfen, darunter z. B. das Zerteilen komplexer kommunikativer Gesamtaufgaben in Teilaufgaben und Teilschritte, das Thematisieren vom Einfachem zuerst, die Einhaltung der ordo naturalis und die Bevorzugung einfacher syntaktischer Konstruktionen.
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(3) Strategien der Problembehandlung inkludieren unter anderem Reparaturen, die Identifikation und Kenntlich-Machung von Problemen und verschiedene Strategien zur Lösung von Formulierungs- und Verstehensproblemen (Kindt und Rittgeroth 2009: 131–216). Die doppelte Nominalisierung Verständigungssicherung ist ein morphologisch komplexer Begriff, der von den Interagierenden gleich zweifach abstrahiert. Das wird deutlich, wenn man die Argumentstellen der beiden Verben verständigen und sichern in Erinnerung ruft: jemand stellt (in der Interaktion) mit jemand anderem durch Verfahren x sicher, dass die Verständigung zwischen ihr oder ihm (oder einer dritten bzw. n-ten Person, falls mehrere miteinander interagieren) gelingt. Inhaltlich weniger komplex ist dagegen der Begriff der Verständnissicherung, dem wir uns im Folgenden zuwenden, nachdem wir den Begriff des Verständnisses einer näheren Betrachtung unterzogen haben.
3.4
Verständnis, Verständnissicherung, Verständnisförderung
Der in der linguistischen Forschung ebenfalls kursierende polyseme Begriff des Verständnisses bezieht sich entweder (1) auf das Ergebnis des Verstehens9 oder (2) auf die Fähigkeit zu verstehen oder (3) auf das Vermögen, sich in jemanden einzufühlen, das heißt, für jemanden Verständnis aufzubringen. Schließlich kann der Begriff (4) auch synonym mit Auffassung sein. Missverständnis und Unverständnis sind die beiden resultatsbezogenen Gegenbegriffe zum Begriff des Verständnisses. Verständnis ist ein statischerer Begriff als Verstehen und Verständigung. Vom Begriff der Verständlichkeit unterscheidet sich Verständnis dahingehend, dass dieser die Beschaffenheit bzw. Eigenschaft einer sprachlichen Hervorbringung in den Fokus rückt, also stark text- bzw. äußerungsbezogen ist, während Verständnis in einen Subkategorisierungsrahmen eingebettet ist, der einerseits an ein denkendes Subjekt zurückgebunden ist und andererseits das Objekt des Verstehens einbindet. Bei Verständnis geht es also um mein, dein, ihr, sein, euer 9 Da der Begriff des Verstehens nicht nur eine prozessuale, sondern auch eine resultative Bedeutung aufweist, kommt es in den nachfolgenden Erläuterungen zu dem ebenfalls ergebnisbezogenen Begriff des Verständnisses teilweise zu inhaltlichen Überschneidungen mit Abschnitt 3.1. Im Unterschied zu Verstehen ist Verständnis aber semantisch eindeutiger, weil die prozessuale Dimension der kognitiven Verarbeitung eben nicht inkludiert ist. Die prozessuale Dimension kommt dann stärker ins Spiel, wenn Verständnis zu einem Determinatum in Komposita wie Verständnissicherung und Verständnisförderung wird. Der Fokus auf das Prozessuale wird in diesen Komposita allerdings durch die determinierenden deverbalen Substantive Sicherung und Förderung etabliert, nicht durch das Nomen Verständnis selbst.
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oder ihr Verständnis einer bestimmten Sache. Die Sache selbst kann vielfältiger Natur sein. Sie kann sich auf Inhalte beziehen, auf sprachliche Hervorbringungen sowie deren einzelne Elemente und Dimensionen und auf das sprachliche bzw. interaktionale Handeln selbst. Dadurch, dass die Bedeutung des Ausdrucks oft das Ergebnis des Verstehens fokussiert, wird das Wort gerne in Komposita wie Verständnissicherung und Verständnisförderung integriert. Die beiden Komposita denotieren, dass durch sprachliches Handeln auf ein bestimmtes Ergebnis abgezielt wird, nämlich auf die Sicherstellung oder Förderung des Verständnisses einer bestimmten Sache, beispielsweise eines Textes oder einer Äußerung. Der Begriff der Verständnissicherung wurde laut Kamayama (2004: 67) erstmals 1976 von Dieter Wunderlich (1976: 351–373) verwendet. Sowohl Wunderlich (1976: 352) als auch Bublitz (2001: 1331) beziehen sich mit dem Begriff auf einen interaktionalen Prozess. Für Wunderlich (1976: 362) zählen zu den Prozeduren der Verständnissicherung unter anderem die Bestätigung, Wiederholung, Paraphrasierung, Präzisierung, Zusammenfassung und Rückbestätigung. Bublitz zufolge betrifft der Begriff zuallererst die inhaltliche Ebene (Bublitz 2001: 1331), er beruht aber auf einem gemeinsamen kooperativen Handeln der Gesprächsteilnehmer*innen, das drei Teilaktivitäten umfasst. Die Hörer*innen sind erstens bemüht, im Gespräch fortlaufend das Verstandene mit dem eigenen Wissenstand abzugleichen und diesen entsprechend zu modifizieren (Bublitz 2001: 1331). Die Sprecher*innen versuchen ihrerseits, die Prozesse der kognitiven Verarbeitung bei den Hörer*innen zweitens so zu steuern, dass sie zu Verständnis führen, und drittens versuchen die Sprecher*innen zu kontrollieren, ob sich das Verständnis auch tatsächlich einstellt (Bublitz 2001: 1331–1332). Um erkennbar werdende Verständnisdiskrepanzen zu bearbeiten, kommen Bublitz zufolge unter anderem die metasprachlichen Verfahren des Erläuterns, Paraphrasierens und Exemplifizierens zum Einsatz. Zu verstehen gelte es die Wortbedeutung, Satzbedeutung, Äußerungsbedeutung, den semantischen Rahmen (frame), die Textart und ihre Themenentfaltung sowie die Textorganisation mit den textinternen Bezügen (seien sie retrospektiv oder prospektiv) und das Funktionieren der Konversationsmaximen im fortlaufenden Gespräch (Bublitz 2001: 1332–1339). Ein hohes Maß an Redundanz, also von Wiederholungen unterschiedlichster Art, ist für Bublitz (2001: 1339) wesentlicher Bestandteil der Verständnissicherung im Gespräch. An der Konzeption von Bublitz kritisiert Kamayama aus funktional-pragmatischer Perspektive, dass sie so weit gefasst sei, dass sich nicht klar sagen lasse, welche sprachlichen Formen denn genau als Verständnissicherungen angesehen werden könnten. Demgegenüber will Kamayama (2004: 69–70) Verständnissicherung als jenen spezifischen Typ von Verständigungsprozess begreifen, bei dem hörer*innenseitig eine Störung in der kognitiven Verarbeitung einer vor-
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herigen Bezugsäußerung erfolgt ist, die mittels sprachlicher Bearbeitung aufgehoben werden soll, auf dass Verständigung erreicht werde. Kamayama betrachtet verständnissicherndes Handeln also als besondere Form sprachlichen Handelns, die dem Zweck der Verständigung dient: »Es dient im Rahmen der Verständigung speziell der reparativen Bearbeitung hörerseitiger Verarbeitungsstörungen (Rezeptionsdefizite)« (Kamayama 2004: 119; Kursivierung im Original). Diese Begriffsbestimmung ist meines Erachtens zu eng, weil sie die prospektive Anwendung von Verfahren, die einer lediglich als Möglichkeit antizipierten Störung vorbauen sollen, nicht unter sich subsumiert. Zudem halte ich den konversationsanalytischen Terminus der Reparatur ob seiner technizistisch-mechanistischen und hypostasierenden Metaphorik für ungeeignet, um das vielfältige Verbesserungshandeln im Gespräch angemessen zu bezeichnen. Ein Gespräch ist kein technischer Apparat mit einer Mechanik, die repariert wird, wenn sie nicht mehr richtig funktioniert. Verständnissicherung ist für Kamayama (2004: 146–151) einer von insgesamt vier grundlegenden Verständigungsprozessen. Der erste grundlegende Verständigungsprozess besteht in der Steuerung von Sprecher*in und Hörer*in. Zu den für diesen Prozess eingesetzten sprachlichen Formen zählt Kamayama einerseits die von den Sprecher*innen verwendeten vorgeschalteten Sprechhandlungsaugmente (weißt du?), nachgeschalteten Sprechhandlungsaugmente (ne?) und Sprechhandlungsankündigungen (jetzt pass auf!). Anderseits steuern Hörer*innen die Verständigung durch Versprachlichungen ihres Plans, durch Rephrasierungen, durch die Kundgabe von Planungsstörungen (hm/) und durch Bearbeitungsanforderungen (hm?). Die drei weiteren Verständigungsprozesse sind laut Kamayama (2004: 150) die sprachlichen Handlungsmuster oder Hilfsverfahren der kontrollierenden Verständnisabfrage, der »reparativen« Verständnissicherung und der »reparativen« Verständniskorrektur. Kamayama zufolge beruht die Verständnissicherung sprecher*innenseitig unter anderem auf Bearbeitungen (Repetieren, Umformulieren, Erläutern usw.), Bestätigungen (ja.) und negierenden Ausschlüssen (nein.). Hörer*innenseitig realisiere sich Verständnissicherung in der Exothese von Planungsstörungen, in Bearbeitungsanforderungen (wie bitte?, wie meinst du das?), in Vergewisserungen (meinst du x?) und in Verstehensexothesen (ah, ach, ach so). Schließlich erfolgen Verständniskorrekturen gemäß Kamayama (2004: 150) sprecher*innenseitig durch Aberrationshinweise (so meinte ich das nicht.) und hörer*innenseitig durch Korrekturexothesen (ach so). Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Komposita der Verständnissicherung und Verständnisförderung ist der, dass Verständnissicherung suggeriert, bestimmte Verfahren würden zu einem vollkommenen, hundertprozentigen Verständnis ohne Restunsicherheit oder Restungewissenheit führen, während der Begriff der Verständnisförderung besser zu dem approximativen
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Verstehensmodell passt, für das ich im Anschluss an Schütz und andere optiere. Ich bevorzuge für viele Kommunikations- und Analysezusammenhänge den Begriff der Verständnisförderung, da er nicht mit einem maximalen epistemischen Ergebnisanspruch verbunden ist, und plädiere dafür, den Begriff der Verständnissicherung nur zu verwenden, wenn empirisch, also in den Gesprächs- und Interaktionsdaten, nachweisbar ist, dass das Verständnis einer Sache sichergestellt wurde, wenn ich das Verständnis als perlokutiven Effekt auf die rezipierenden Interaktionsteilnehmer*innen auch in der Analyse aufzeigen kann. Mit dieser terminologischen Festlegung kommt die theoretische Arbeit an den Begriffen im gegebenen Zusammenhang zu einem Ende. In der Hoffnung, die zwei eingangs formulierten theoretischen Ziele erreicht zu haben – also umrissen zu haben, welche zentralen Termini für eine ›linguistische Theorie des Verstehens‹ relevant sind und festgelegt werden können und wie sich ein integrativer linguistischer Zugang der Frage des Verstehens grundsätzlich annähern kann –, wende ich mich nun der Frage nach dem Verstehen in der interkulturellen Kommunikation zu. Sie ist für eine holistisch orientierte Angewandte Sprachwissenschaft, die – zumal in der Forschung zu institutioneller bzw. organisationaler Kommunikation – einen Beitrag zur Lösung von Verstehens- und Verständigungsproblemen leisten will, von erheblicher Bedeutung. Ich nähere mich der Frage in zwei Schritten. Erstens sollen – wenngleich kursorisch – wichtige verstehensrelevante Bereiche angesprochen werden, die in der interkulturellen Kommunikation zentral sind, weil sie zu Quellen des Missverstehens und der Missverständigung werden können, und zweitens soll ein selektiver Überblick über Verfahren der Verständnisförderung gegeben werden, die ich im Rahmen des Forschungsprojekts identifiziert habe, das wir zwischen 2008 und 2010 durchführten. Es versteht sich, dass es mir im gegebenen Rahmen nicht möglich ist, auch noch den Kulturbegriff zufriedenstellend zu explizieren, auf dem das Konzept der interkulturellen Kommunikation aufbaut. Der Begriff der Kultur ist dermaßen vielfältig, historisch variabel und schillernd, dass sich seine polyseme Semantik hier nicht kurz und bündig auf den Punkt bringen lässt. Daher müssen fünf Thesen ausreichen, die für meine Auffassung von Kultur und damit für den folgenden Textabschnitt relevant sind: Erstens sind Kulturen antiessentialistisch als ins sich heterogene und historisch veränderliche Gebilde zu begreifen, die sich bei genauerem Hinsehen im Grunde alle als Interkulturen entpuppen und unscharfe Ränder aufweisen. Damit hängt zweitens zusammen, dass der häufig behauptete Gegensatz von Kultur und Natur nicht zu halten ist, weil auch die Art, wie wir Menschen Natur erfassen, semiotisch repräsentieren, perspektivieren, inszenieren und durch unser Handeln kultivieren, verändern, zerstören und zu schützen versuchen, kulturelle Handlungen sind. Drittens beruht die Vielfalt
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und Heterogenität der Kulturbegriffe darauf, dass sie sehr mannigfaltige Bezüge zu ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Kunst oder so genannter ›Hochkultur‹ (darunter Malerei, Skulptur, Musik, Literatur, Theater, Architektur, Film, Photographie und Tanz), Wissenschaft, Technik, Handwerk, Philosophie, Alltagskultur (darunter Essen, Trinken und Kleidung), Sport, sozialem Geschlecht, Bildung, Politik, Mentalitäten und vielem mehr herstellen. Viertens lässt sich diese konkrete Vielfalt kultureller Phänomene abstrakt bündeln, indem Kultur als Ensemble von Handlungsressourcen, als Konglomerat von sozialisatorisch erworbenen Verhaltens- bzw. Handlungsmustern, Dispositionen sowie Sprachund Kommunikationsformen gefasst wird und – mit dem Soziologen Bourdieu – als modus operandi und opus operatum, die beide einer bestimmten Gruppe von Menschen mehr oder weniger gemeinsam sind. Fünftens ist Kultur in wissenschaftlichen, politischen und medialen Diskursen insgesamt ein häufig konfliktträchtiger und zumeist ideologisch gefärbter askriptiver Begriff, also ein Begriff der Zuschreibung. Er ist ein diskursives Konstrukt, dem explikative und rechtfertigende Funktionen zukommen und der auf Generalisierungen, Grenzziehungen, Schließungen (In- und Exklusionen) und häufig Auto- und Heterostereotypen beruht, die handlungsbeeinflussende Kraft entfalten (siehe auch Spitzmüller 2017, der den Kulturbegriff in der Angewandten Linguistik reflektiert; siehe zudem Redder und Rehbein 1987). Die Leser*innen mögen diese begrifflichen Umrisse des Kulturbegriffs im Hinterkopf zu behalten, wenn im Folgenden die interkulturelle Kommunikation in den Blick genommen wird.
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Verstehensrelevantes Wissen über interkulturelle Kommunikation
Alle bisher genannten Momente, Stufen, Dimensionen und Aspekte von Verstehen, Verständlichkeit, Verständigung, Verständnis sowie Verständnissicherung und Verständnisförderung sind auch für interkulturelle Kommunikation grundlegend. Zudem stellt interkulturelle Kommunikation die involvierten Interaktionsteilnehmer*innen in vielen Bereichen vor spezifische Verstehensherausforderungen, die auf Besonderheiten der kulturellen Sozialisation beruhen. Diese Besonderheiten werden den Interagierenden oft nicht bewusst. In der Folge kommt es zu Missverständnissen und Konflikten. Sie sind vermeidbar oder werden zumindest bearbeitbar, wenn das Wissen über die kulturellen Unterschiede den Interagierenden zugänglich ist oder gemacht wird. Ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit und längenmäßiger Ausgewogenheit (jeder der Punkte könnte inhaltlich viel gründlicher und ausführlicher behandelt werden) seien im Folgenden 13 verstehensrelevante Phänomenbe-
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reiche angesprochen, die für interkulturelle Kommunikation bedeutsam sind, weil sie – so sie nicht mitreflektiert werden – ein beträchtliches Konfliktpotential in sich bergen. (1) Da ist zuerst der Bereich der kulturellen Normen, Werte bzw. Kulturstandards (Lüsebrink 2005: 18–29; Broszinsky-Schwabe 2017: 197–209) zu nennen. Er bezieht sich z. B. auf das Verhältnis zwischen Religion und Staat, also etwa darauf, ob Religion in einer Kultur als Privatangelegenheit gilt oder ob sich ein politisches Gemeinwesen auf eine bestimmte Staatsreligion oder auf mehrere dominante Religionen festlegt oder ob Religion insgesamt eine sehr untergeordnete Rolle spielt, weil die Kultur stark laizistisch ausgerichtet ist. Kulturelle Normen und Werte regeln auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ganz entscheidend mit. Es macht einen Unterschied, ob die Interagierenden Mitglieder einer Kultur sind, die Geschlechterverhältnisse strikt binär, heteronormativ, heterosexuell, homophob und hierarchisch-patriarchal organisiert oder ob sie eine liberale und pluralistische Perspektive auf Geschlecht wirft und Geschlechtervielfalt jenseits der Binarität explizit anerkennt. Kulturell vorgeprägt ist auch, ob sich eine Gesellschaft stärker an Normen und Werten des Individualismus oder des Kollektivismus orientiert – man vergleiche z. B. stark individualistisch geprägte westliche Industriestaaten mit stärker kollektivistisch ausgerichteten asiatischen Kulturen. In den verschiedenen Kulturen gibt es manchmal auch eine unterschiedliche Bereitschaft, Machtund Distanzunterschiede zu akzeptieren. Oft gelten in Kulturen unterschiedliche Normen der Zeitplanung, nimmt also z. B. Pünktlichkeit einen veränderlichen Stellenwert ein und ist die Kurz- und Langfristorientierung unterschiedlich stark ausgeprägt (siehe Broszinsky-Schwabe 2017: 162–177). Damit zusammenhängend gilt es in manchen Kulturen, Unsicherheiten tunlichst zu vermeiden, indem man z. B. durch eine entsprechende Lebensführung und ein entsprechendes Versicherungs-, Sozialund Pensionssystem möglichst vielen potenziellen Unsicherheiten langfristig vorzubauen versucht, während in anderen Kulturen potenzielle Unsicherheiten durchschnittlich weniger verunsichern. Von kulturellen Standards ist es auch abhängig, inwieweit die Kundgabe von Emotionen erwünscht oder unerwünscht ist und welche Auffassungen von Ehre oder Familie jeweils gepflogen werden (Broszinsky-Schwabe 2017: 198–202, 205–207). Für die Studie zur interkulturellen Kommunikation auf der Kopfschmerzambulanz eines Wiener Krankenhauses war die Frage sehr relevant, welche Normen den Umgang mit Krankheit in einer Kultur jeweils prägen, ob sich Kranke also z. B. während des Genesungsprozesses tendenziell lieber aus der Gesellschaft zurückziehen oder ob sie – was in der Türkei prototypisch der Fall zu sein scheint – lieber von ihren Angehörigen
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›umringt‹ sein wollen (siehe Leyer 1987, 1990). Auch Metaphern zur Bezeichnung bestimmter psychischer Krankheiten sind z. T. kulturabhängig, denken wir etwa an die Metapher vom ›gefallenen Nabel‹, die im Türkischen einen Prozess beschreibt, bei dem jemand aus dem psychischen Gleichgewicht gerät oder niedergeschlagen bis depressiv ist. Sind den Interagierenden all diese unterschiedlichen kulturellen Normen, Werte und Kulturstandards nicht bekannt, dann kommt es in interkulturellen Gesprächen leicht zu Missverständnissen, zu Nicht-Verstehen und zu Verständnislosigkeit. Zweitens ist es für das Verstehen von interkultureller Kommunikation wichtig zu reflektieren, welches Modell eines interkulturellen Zusammenlebens in einer Gesellschaft jeweils vorherrscht. Es macht einen großen Unterschied, ob in einer Kultur ein (a) assimilatorisches Modell den Ton angibt, das nach kultureller Angleichung verlangt, oder ob ein (b) Apartheid-Modell wie z. B. in Südafrika bis 1994 vorherrscht, das die strikte Trennung und Ghettoisierung kultureller Minderheiten für die Lösung hält, oder ob (c) ein polyzentrisches Modell befürwortet wird, das – wie es etwa in der Schweiz, in Belgien und in Kanada der Fall ist oder zu sein scheint – ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Kulturen und ihrer Angehörigen in einer Gesellschaft für die beste Option hält (Leggewie 1993, zitiert nach Lüsenbrink 2009: 17). Drittens ist es für das Verstehen von interkultureller Kommunikation bedeutsam, zu wissen, welche spezifischen Tabuthemen es in einer Kultur gibt, inwiefern die Tabus von Kultur zu Kultur divergieren und wie mit Tabubrüchen jeweils umgegangen wird (vgl. Hess-Lüttich 2013). Wird also beispielsweise der Verstoß gegen ein religiöses Tabu sanktioniert oder nicht? Wie wird etwa das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung einschließlich der Polemik gegen eine Religion oder gegen ein religiöses Tabu gegenüber dem Recht auf Religionsfreiheit gewichtet – erinnern wir uns z. B. an den heftigen und z. T. sehr gewalttägigen interkulturellen Streit über die so genannten Mohammed-Karikaturen? Viertens versteht es sich von selbst, dass das Übersetzen und Dolmetschen in der interkulturellen Kommunikation von größter Verstehensrelevanz ist. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob die Sprachmittlung – z. B. im medizinischen Bereich – von professionellen Dolmetscher*innen oder nicht-professionellen Dolmetscher*innen (z. B. Pflegepersonal oder Familienangehörigen) geleistet wird und ob face to face gedolmetscht wird oder telefonisch oder via Video (siehe z. B. Meyer 2002; Sator 2013; Sator und Gülich 2013; Menz 2013; Havelka 2015; siehe dazu auch unten, Abschnitt 5).
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Fünftens tragen das Code-Switching und andere Phänomene des Sprachkontakts viel zum Verständnis von interkultureller Kommunikation bei, vor allem auch, wenn es unter dem Gesichtspunkt seiner vielen Funktionen betrachtet wird. Der Wechsel eines Codes kann beispielsweise eine explikative metasprachliche Funktion erfüllen. Sie besteht z. B. darin, durch den Wechsel der Varietät oder Sprache verständlicher zu werden für das interaktionale Gegenüber, das gerade Verstehensprobleme hatte. Der Wechsel des Codes kann der Sprecherin oder dem Sprecher auch dabei helfen, sich verständlicher auszudrücken. Code-Switching erfüllt oft auch eine expressive Funktion. Das ist dann der Fall, wenn durch den Wechsel eine bestimmte Identität markiert wird. Sechstens sind die Kenntnis der Höflichkeitsstandards in einer bestimmten Kultur und damit verbunden die Frage der Direktheit und Indirektheit gesichtsbedrohender Sprechhandlungen von großer Bedeutung, um z. B. die kulturabhängige Formulierung von Dissens, von Kritik oder von Aufforderungen angemessen interpretieren zu können. In manchen Communities ist Direktheit eher verpönt, in anderen Communities wird Direktheit als Ausdruck von Ehrlichkeit wertgeschätzt. Siebtens divergiert die Organisation von Argumentationen zum Teil von Sprach- und Wissenschaftskultur zu Sprach- und Wissenschaftskultur, das sieht man schon im Vergleich englischer und deutscher Texte in der Wissenschaft. Die Argumentationen in englischen Wissenschaftstexten werden in der Regel einfacher und linearer aufgebaut als Argumentationen in deutschen Wissenschaftstexten. Das Wissen über derartige Unterschiede ist für den internationalen interkulturellen Austausch im wissenschaftlichen Feld wichtig. Achtens werden Kenntnisse von kulturabhängigen Techniken und Präferenzen bei der Organisation des Turntaking verstehensrelevant, etwa mit Blick auf gleichzeitiges Sprechen, auf Unterbrechungen oder Unterbrechungsversuche, auf Pausen und auf das Schweigen. Schweigen, das unter anderem bei Turnwechsel, innerhalb eines Turns oder anstatt eines Turns auftritt, wird in Kulturen teilweise unterschiedlich bewertet und praktiziert. Finn*innen, westliche Apach*innen und Japaner*innen messen dem Schweigen z. B. einen höheren Stellenwert bei als Menschen vieler anderer Kulturen. Sie werden während eines Gesprächs daher öfter für eine gewisse Zeit auf das Sprechen verzichten als Angehörige anderer Kulturen – aus Gründen der höflichen Zurückhaltung, des Mitgefühls (etwa wenn jemand traurig ist), der Bescheidenheit, der Nachgiebigkeit oder (wie beispielsweise in Japan) der sprachlichen Ästhetik (siehe Basso 1990: 84–90; Bellebaum 1992: 141; Nakane 2007: 22).
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Neuntens liegt ein Blick auf kulturspezifische Rituale nahe, wenn es darum geht, verstehensrelevantes Wissen über interkulturelle Kommunikation zu gewinnen, also z. B. Wissen über Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, Trauerrituale und Rituale der Gastfreundschaft (siehe z. B. Broszinsky-Schwabe 2017: 179–195). Zehntens wird die Körpersprache immer wieder zu einer Quelle von interkultureller Missverständigung, sei es im Bereich der Augenkommunikation, der Gestik, der Mimik oder der Proxemik (siehe z. B. Hall 1966; Leyer 1987; Argyle 2013; Teßendorf 2013; Molinsky et al. 2005; BroszinskySchwabe 2017: 133–162). Wer wen in welcher Situation wie lange anblickt oder nicht anblickt bzw. anblicken sollte, ist zum Teil kulturell vorgeprägt. Wie intensiv und emphatisch jemand gestikuliert oder ob sich jemand beim Gestikulieren eher zurückhält, ist zum Teil kulturabhängig. Manchmal bedeutet ein und dieselbe emblematische Geste in verschiedenen Kulturen etwas Unterschiedliches. Ob jemand die eigene Mimik – als jenen semiotischen Modus, über den Gefühle wesentlich ausgedrückt werden – stark zu kontrollieren versucht oder nicht, wird in Kulturen unterschiedlich vorgeprägt. Dass es im Bereich des Territorialverhaltens und der Proxemik z. T. kulturabhängige interpersonale Distanzen gibt, es also kulturell unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was etwa als intime Distanz, persönliche Distanz, soziale Distanz oder öffentliche Distanz eingestuft wird, hat der Anthropologe Hall, wenngleich noch ziemlich stereotyp, bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten begonnen. Zu den so genannten Xenismen hat Konrad Ehlich gearbeitet (Ehlich 1986). Xenismen sind sprachliche Zeichen, an denen Fremde erkannt werden, die eine Fremdsprache auf sehr hohem Niveau bis hin zur Near-Native-Stufe sprechen oder schreiben. Solche Xenismen können phonologisch als ›Akzent‹ oder spezifische Aussprache in Erscheinung treten, morphologisch als falscher Artikel, syntaktisch als abweichende Wortstellung, lexikalisch als falscher Freund (z. B. als interferentiell abweichende Begriffsumfänge, etwa bei der Verwendung des Wortes Blüte für Blume aufgrund der französischen Bedeutung von fleur), idiomatisch als Dekomposition idiomatischer Wendungen oder pragmatisch als Verwendung unangemessener Höflichkeitsformeln. Erhellend und kommunikationsprägend ist auch das Wissen darüber, wie mit Xenismen in einer Kultur umgegangen wird, ob ihnen gegenüber z. B. Fehlertoleranz gepflogen wird, ob sie tendenziell überhört, mehr oder weniger permanent korrigiert oder exotisiert werden (Ehlich 1986). Den letzten Bereich, der hier erwähnt sei, weil dessen Kenntnis von großer Verstehensrelevanz ist, bildet der Bereich der kulturellen Auto- und He-
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terostereotype. Interkulturelle Kommunikation ist nämlich stark von Stereotypen geprägt (siehe z. B. Broszinsky-Schwabe 2017: 225–231). Stereotype sind kulturell vorkonstruiert und oft erfahrungsunabhängig. Sie beruhen auf schematischer Vereinfachung, Verallgemeinerung, karikierender Verzerrung und Vorurteilen, sind habitualisiert, emotional getönt, mit negativer oder positiver Bewertung verknüpft und zumeist nur schwer revidierbar. Ihre Funktionen bewegen sich zwischen verfestigter Denkökonomie, sprachlichem Schematismus und gefährlicher Handlungsdetermination (Reisigl 2008 und 2009). Viele Schwierigkeiten in der interkulturellen Kommunikation resultieren aus der Zuschreibung stereotyper kultureller Eigenschaften. Die Analyse von interkultureller Kommunikation sollte daher ein Augenmerk auf kulturelle Auto- und Heterostereotype richten – nicht zuletzt auch, um als Analytiker*in nicht selbst Opfer stereotyper Kategorisierung zu werden. Verfüge ich über ein metapragmatisches Wissen zu kulturbezogenen Stereotypen, dann kann ich ein mit ihnen verbundenes kommunikatives Konfliktpotential besser nachvollziehen und zum Teil auch entschärfen. Etliche der gerade kursorisch genannten Bereiche von potenzieller kultureller Divergenz haben auch die interkulturellen Gespräche mitgeprägt, die wir in unserem Forschungsprojekt vor einem Jahrzehnt untersucht haben – darunter etwa abweichende kulturelle Normen im Umgang mit Krankheit, der Umgang mit Tabus (als Sprachbarriere), die Problematik des Dolmetschens durch Familienangehörige, das Code-Switching und die negative Zuschreibung kultureller Heterostereotype. Eben deshalb ist es wichtig, dass diese Bereiche als verstehensrelevantes Wissen den interkulturell agierenden Vertreter*innen der medizinischen Institution systematisch zugänglich gemacht werden, beispielsweise durch Schulungen in der Aus- oder Weiterbildung, am besten im Zusammenhang mit erfolgversprechenden Verfahren der Verständnisförderung.
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Verfahren der Verständnisförderung in interkulturellen Gesprächen auf einer Kopfschmerzambulanz
Diese Verfahren der Verständnisförderung sind in interkulturellen Gesprächen von besonderer Relevanz. Das zeigte sich auch in dem zwischen 2008 und 2010 durchgeführten Forschungsprojekt auf der Kopfschmerzambulanz eines Wiener Krankenhauses. Die Datenbasis bildeten in dieser Untersuchung insgesamt 56 Gesprächsaufnahmen. Davon waren 24 Erstgespräche und 32 Kontrollgespräche. 36 dieser Gespräche fanden ohne dolmetschende Vermittlung zwischen öster-
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reichischen Ärzten und Ärztinnen sowie Patient*innen mit sehr eingeschränkten Deutschkenntnissen statt. In 15 Gesprächen engagierten sich Familienangehörige als Dolmetscher*innen. In fünf Gesprächen war eine professionelle Dolmetscherin für Deutsch-Türkisch anwesend (genauere Hintergrundinformationen finden sich in Reisigl 2011: 105–107). Ein wichtiges Ergebnis der Fallstudie zu den interkulturellen Gesprächen auf der Kopfschmerzambulanz ist in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Der selektive Überblick versammelt elf Verfahren der Verständnisförderung (eine ältere Synopsis findet sich in Reisigl 2011: 108–109; teilweise geht die Zusammenschau über die damaligen Forschungsergebnisse hinaus). So gut wie alle Verfahren lassen sich mit den Strategien, Dimensionen und Stufen des Verstehens verknüpfen, die in den Abschnitten unter Punkt 3 thematisiert wurden. Ich spreche hier von Verständnis, weil ich auf das ergebnis- bzw. produktorientierte sprachliche Handeln fokussiere und von den Interaktionsteilnehmer*innen tendenziell abstrahiere. Ich spreche von Förderung statt von Sicherung, weil in etlichen Gesprächen oder Gesprächspassagen, die wir untersucht haben, keine letzte Gewissheit darüber bestand bzw. analytisch nachgewiesen werden könnte, dass eine Äußerung verstanden wurde. Einige der angegebenen Verfahren sind auch in der Gesprächsfibel für interkulturelle Kommunikation in Behörden thematisiert, die Porila und ten Thije (2008) zusammengestellt haben. 1. Sprachmittlung durch Übersetzen und Dolmetschen – Bevorzugung einer professionellen Dolmetschung gegenüber einer Dolmetschung durch Familienangehörige – Bevorzugung des Videodolmetschens gegenüber dem Telefondolmetschen – Augenmerk auf die ungleiche Länge einer Gesprächseinheit und ihrer Übersetzung durch den oder die Dolmetscher*in (auch ad 9.) 2. Verständnisfördernde Gestaltung des Äußerungsakts – Verlangsamung der Sprechgeschwindigkeit, Verlängerung oder Vermehrung der Pausen – Steigerung der Lautstärke – deutlichere Artikulation (weniger Lauttilgungen, Kontaktassimilationen) – klare Betonungen als Hervorhebungen von Relevantem – Wechsel von der dialektalen Varietät zur Standardvarietät, gegebenenfalls auch umgekehrt, wenn es adressat*innenspezifisch nahegelegt wird (z. B. in der deutschsprachigen Schweiz, falls Patient*innen eher Schweizerdeutsch als Standarddeutsch gelernt haben) – Vermeidung von markierter Prosodie (bei bestimmten Satzmodi / Sprechhandlungstypen)
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Verständnisfördernde Organisation des turn taking und des Erkenntnisprozesses – Unterbrechung bei Nicht-Verstehen – ›Reparatur‹, Korrektur – Hörer*innensignale: Interjektion, Responsiv usw. – Rückversicherungsfrage Verständnisfördernde Verfahren der verbalen Deixis – Vermeidung unklarer Bezüge, vor allem bei der Objektdeixis (z. B. beim Verweis auf Medikamente oder auf schmerzende Körperteile) – temporal-, raum- und objekt- sowie aspektdeiktische Konkretion bzw. Verankerung – persönliche Adressierung (Anrede) am Beginn von Instruktionen Syntaktische Verfahren der Verständnisförderung – Vermeidung unklarer ana- und kataphorischer Verweise – Verwendung syntaktisch einfacher Konstruktionen (aber : Vermeidung von Baby Talk bzw. Foreigner Talk!) – Vermeidung von komplizierten Einbettungen und Schachtelsätzen, von Klammerkonstruktionen, von syntaktisch mehrdeutigen Konstruktionen, von mit Füllwörtern überladenen Sätzen und von unübersichtlichen Abfolgen bzw. Aufzählungen – Bevorzugung aktiver gegenüber passiven Konstruktionen – Vermeidung komplizierter Verneinungen (doppelter Negationen usw.) – Paraphrase bzw. Reformulierung und wörtliche Wiederholung – Verwendung einer festen und Vermeidung einer markierten Wortstellung (die die Identifikation des Sprechhandlungstyps erschwert) bzw. Vermeidung unnötiger regressiver Konstruktionen – Vereindeutigung oder syntaktische Fokussierung durch Ellipsen (z. B. bei Komparation) – Vermeidung von Nominalisierungen (auch ad 6.) Semantische Verfahren der Verständnisförderung – Vermeidung schwieriger und ungebräuchlicher Wörter, also z. B. von Fremdwörtern, Fachwörtern, Kurzwörtern, Komposita, Nominalisierungen, Abstrakta und mehrdeutigen Ausdrücken – Veranschaulichung und Konkretion durch Metaphern, Metonymien, Vergleiche, Analogien – einfache Thema-Rhema-Organisation (Synchronisation des Themenfokus von Sprecher*in und Hörer*in) – Wiederholung wichtiger Wörter oder Formulierungen – inhaltliche Präzisierung
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Verständnisfördernde Gestaltung der illokutiven Gesprächsstruktur und der für Erst- und Kontrollgespräche konstitutiven Handlungseinheiten (Pragmeme) – Frage/Nachfrage bei Nicht-Verstehen, Kontrollfrage bei Ungewissheit über den Status des Verstehensprozesses – Assertion des Nicht-Verstehens – direktive Bitte an den oder die Dolmetscher*in, zu übersetzen – klare Trennung der Gesprächsphasen bzw. Pragmeme: – Erstgespräch: Anamnese, körperliche Untersuchung, Diagnose, Therapievorschlag, Terminvereinbarung – Kontrollgespräch: Erfolgskontrolle (gegebenenfalls einschließlich körperlicher Untersuchung), Therapievorschlag, Terminvereinbarung – Vermeidung von Pragmemmischungen und Vermeidung ablenkender Nebensequenzen – Gebrauch von Sprechhandlungen, die metakommunikativ vororientieren (auch mit Blick auf institutionelle Verfahren und auf den sequentiellen Gesprächsverlauf) – Einbau einer Erklärung als textuelles oder diskursives Grundmuster (auch mit Blick auf institutionelle Ordnungsstrukturen und Abläufe; auch ad 9.) 8. Verständnisfördernder Umgang mit dem Kooperationsprinzip und den konversationellen Implikaturen – Orientierung am mutmaßlichen Wissenstand und Sprachniveau des Gegenübers – Streben nach einer präsuppositional voraussetzungsärmeren Kommunikation 9. Verständnisfördernder Einsatz metasprachlicher Mittel – metasprachliche Gesprächsorganisation – Kundgabe des (Nicht-)Verstehens (auch körpersprachlich: explizit durch eine Verneinungsgeste, implizit durch Stirnrunzeln, gehobene Augenbrauen usw.) – Erklärung/Erläuterung, unter anderem auch in Verbindung mit CodeSwitching (auch ad 7), Nachfrage bzw. Rückfrage – Augenmerk auf die ungleiche Länge einer Gesprächseinheit und ihrer Übersetzung durch den oder die Dolmetscher*in (auch ad 1.) 10. Verständnisfördernde Körpersprache – Verdeutlichung durch gestische Illustratoren – Veranschaulichung durch gestische Embleme, also z. B. metaphorische und metonymische Beschreibungen der Schmerzqualität (vgl. dazu Reisigl 2010: 76–84) – genaue Lokalisierung durch Zeigegesten (räumliche Deixis)
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– Fokus auf Blickkommunikation, die Verständnisschwierigkeiten oder kognitive Verstehensanstrengungen kundgibt (wie z. B. das deliberative Wegblicken oder das Zu-Boden-Blicken bzw. fehlender Augenkontakt) – Augenmerk auf Mimik, die eine kognitive Verstehensanstrengung oder ein Nichtverstehen kundgibt (z. B. Stirnrunzeln) – Augenmerk auf Körperhaltung, die Nichtverstehen oder Verständnisschwierigkeiten kundgibt (z. B. durch hängende Schultern in Verbindung mit Blick zum Boden) 11. Visuelle Hilfsmittel der Verständnisförderung – Zeichnen zwecks Visualisierung von Objekten, Tageszeiten usw. – Hinzuziehen von vorgedrucktem bildlichem Material – Einsatz visueller Materialisierungen und ›symphysische Anheftung von Sprache‹ und visuellen Symbolen an Objekte (z. B. Medikamentenschachteln) Viele der einzelnen Verfahren der Verständnisförderung, die in der Synopsis zusammengefasst sind, werden in Reisigl 2011 (108–126) näher erläutert und an Beispielen dokumentiert. Es würde den vorgegebenen Textrahmen sprengen, würden sie hier eingehender besprochen. Daher sei hier nur auf das erste der genannten Verfahren eingegangen. Für den institutionellen respektive organisationalen Makrobereich ist – etwa in interkulturellen Gesprächen in Krankenhäusern und ärztlichen Praxen – die Einrichtung eines professionellen Dolmetschdienstes als grundlegendes Verfahren der Verständnisförderung von größter Wichtigkeit und Dringlichkeit, und zwar auch aus volkswirtschaftlichen Gründen, weil Fehlbehandlungen infolge von Verständigungsschwierigkeiten teuer zu stehen kommen. Ein solches Verfahren der Verständnisförderung gibt es in dem von uns untersuchten Wiener Krankenhaus bis heute – also auch ein Jahrzehnt nach unserer Studie – noch immer nur sehr eingeschränkt, d. h. in erster Linie in der gynäkologischen Abteilung für Türkisch und Serbisch-Kroatisch-Bosnisch. Wir haben es hier also mit einer enormen Verstehenshürde und kommunikativen Herausforderung zu tun, umso mehr, als sich in unserem Forschungsprojekt klar gezeigt hat, dass das Dolmetschen durch Familienangehörige oft schlecht funktioniert und zu Missverständnissen führt, die den Ärtz*innen nicht bewusst werden, selbst wenn sie sich sehr um Verständigung bemühen. Eines der markantesten Beispiele für misslungene Verständigung aus unserem Gesprächskorpus ist jenes, bei dem ein österreichischer Arzt und die Tochter einer türkischen Patientin, die laut der ärztlichen Diagnose sowohl an einer Migräne ohne Aura als auch an einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz litt, über den Kopf der Patientin hinweg einen zweiwöchigen stationären Aufenthalt der Patientin im Krankenhaus vereinbarten und vororganisierten,
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welcher der Patientin helfen sollte, den durch Medikamente verursachten Kopfschmerz zu heilen. Dabei hatte die Patientin ihrer Tochter auf Türkisch klar mitgeteilt, dass sie eine ambulante und keine stationäre Behandlung wünschte – eine eindeutige Präferenzbekundung, die von der sprachmittelnden Familienangehörigen dem Arzt aber nie mitgeteilt wurde. Der Arzt erging sich später, als sich gezeigt hatte, dass die Patientin zu dem über ihren Kopf hinweg vereinbarten Termin auf der Station nicht erschienen war, gegenüber den Forscher*innen in negativen kulturellen Stereotypen über türkische Patient*innen, obwohl es für die non-compliance der Patientin, also für die Nicht-Befolgung des ärztlichen Therapievorschlags, nachvollziehbare Gründe gab, die nicht nachweislich mit divergenten Kulturstandards in Österreich und der Türkei zu tun hatten. Das wurde in einem nachfolgenden Kontrollgespräch deutlich, an dem eine professionelle Dolmetscherin mitwirkte. Die Patientin hatte nämlich unter anderem befürchtet, dass sie wegen des ärztlich empfohlenen Analgetikaentzugs auf einer Station mit Suchtkranken (und z. B. Alkoholiker*innen) stationär zu liegen kommen würde, und das wollte sie unbedingt vermeiden (eine detaillierte Analyse des Erstgesprächs und der Kontrollgespräche mit der Patientin findet sich in Sator 2013: 65–82). In Zukunft wird in vielen Organisationen des Gesundheitswesens ein professionelles Videodolmetschen immer wichtiger werden, wenn es darum geht, interkulturelle und interlinguale Kommunikation effizient zu organisieren. Bis jetzt gibt es in Österreich erst wenige Pilotprojekte, in denen Videodolmetschen bei ärztlichen Konsultationen zum Einsatz kommt. Die diskursanalytische Auswertung solcher Pilotprojekte fördert zutage, dass das Videodolmetschen die Qualität der medizinischen Kommunikation erheblich verbessern kann, dass dieses Videodolmetschen aber noch vor großen Herausforderungen steht (siehe Havelka 2015). Das auf Abruf erfolgende Dolmetschen aus der Ferne im so genannten Remote Interpreting Modus verlangt den Dolmetschenden angesichts der fehlenden Möglichkeit, sich vorzubereiten, viel ab. Sie müssen sofort verfügbar sein und sehr spontan agieren können. Die selektive Bild- und Tonübertragung und die räumliche Distanz zu dem Ort, an dem das ärztliche Personal und die Patient*innen direkt interagieren, führt bei den Dolmetschenden zum teilweisen Verlust der Kontrolle über das sprachliche, nonverbale und interaktionale Geschehen vor Ort, zu erhöhtem Stress und in der Folge auch zu schnellerer Ermüdung (Havelka 2015: 144). Die räumliche und situative Distanz der Dolmetschenden zum Ort der Interaktion zwischen den Ärzt*innen und Patient*innen kann zudem psychische Distanz und letztlich ein Entfremdungsgefühl zur Folge haben (Havelka 2015: 145–151). Mit solchen Schwierigkeiten gilt es umzugehen, wenn das Videodolmetschen in Zukunft in immer mehr Zusammenhängen der organisationalen Kommunikation zur Anwendung kommt.
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Fazit
Damit komme ich zu meinem zweiteiligen Fazit. Vieles von dem, was eine linguistische Theorie des Verstehens zu beherzigen hat, konnte im Vorangegangenen nur angedeutet werden. Zumindest drei allgemeine Punkte wollte ich deutlich machen. Erstens plädiere ich für einen ganzheitlichen Zugang, der die verschiedenen linguistischen Subdisziplinen verbindet, die für Fragen des Verstehens, der Verständigung, der Verständlichkeit und des Verständnisses wichtig sind – wenngleich darüber hinaus immer auch transdisziplinäre Anknüpfungspunkte zu suchen sind. Zweitens ist ein differenzierter Verstehensbegriff für eine Angewandte Linguistik zielführend, die sich mit institutioneller bzw. organisationaler Kommunikation befasst und dabei auch praktische Absichten verfolgt. Ein solcher Verstehensbegriff wird konstruktivistisch, stark rezeptionsorientiert und interaktional ausgerichtet sein und Verstehen als approximative Größe bestimmen. Ein solcher Verstehensbegriff ergänzt den epistemisch starken Begriff der Verständnissicherung mit dem weniger starken Begriff der Verständnisförderung. Drittens sei betont, dass eine (transdisziplinär orientierte) Linguistik des Verstehens besonders in der gegenwärtigen Zeit, in der Millionen von Flüchtlingen vor kriegerischen Auseinandersetzungen nach Europa geflüchtet sind und auch in Zukunft flüchten werden, für die verschiedensten Bereiche der institutionellen und interkulturellen Kommunikation von großer gesellschaftlicher Relevanz sind, nicht nur für interkulturelle Kommunikation im medizinischen Bereich. Zum konkreten Fallbeispiel sei ebenfalls ein Fazit gezogen. Die Studie auf der Kopfschmerzambulanz führte erstens zum Befund, dass interkulturelle Kommunikation ohne professionelles Dolmetschen trotz der starken ärztlichen Bemühungen um Verständnisförderung zu großen Verständigungsproblemen führt. Zweitens ist zu diesen Schwierigkeiten festzustellen, dass die Verantwortung für ihre Bearbeitung nicht lediglich auf der Seite der Migrant*innen liegt, sondern sehr wesentlich auch auf der Seite der politischen Entscheidungsträger*innen und der Institutionen des Landes, das die Migrant*innen aufgenommen hat. Drittens kommt an diesem Punkt die Angewandte Sprachwissenschaft zentral ins Spiel. Sie kann und sollte es sich zur Aufgabe machen, Ärzt*innen zur stärkeren Reflexion ihres eigenen Kommunikationsverhaltens zu bewegen. Sie sollte die Ärzt*innen für die besonderen Herausforderungen sensibilisieren, die sich in Gesprächen ergeben, in denen Familienangehörige dolmetschen. Angewandte Sprachwissenschaft sollte im Rahmen ärztlicher Schulungen und der ärztlichen Ausbildung ein solides Wissen über Techniken der Verständnisförderung vermitteln. Sie hat bei ihren Schulungen auch ein Augenmerk auf das Pflegepersonal zu richten. Schließlich ist es von größter Wichtigkeit, dass die politisch und medizinisch Verantwortlichen zur Erkennt-
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nis gelangen, dass die systematische Institutionalisierung eines professionellen Dolmetschdienstes, realistischerweise eines Videodolmetschdienstes, für alle involvierten Parteien eine enorme Entlastung und Hilfe darstellt. Viele dieser praktischen Forderungen waren jahrzehntelang auch zentrale berufliche Anliegen von Florian Menz. Er hat Angewandte Linguistik im besten Sinne und höchst erfolgreich betrieben. Wie gerne hätte ich in einem gemeinsamen Forschungsprojekt noch so Vieles von ihm gelernt und mit ihm erforscht! Die Lücke, die er hinterlässt, kann nicht geschlossen werden.
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Martin Reisigl
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Heiko Hausendorf (Zürich)
Die Betretbarkeit der Institution – ein vernachlässigter Aspekt der Interaktion in Organisationen1
1
Einführung
Im vorliegenden Beitrag geht es um ein Thema, das in den letzten Jahren mit dem Aufkommen und der Verbreitung der Videoaufzeichnung als Ausgangsdokument der Interaktionsanalyse vermehrt in den Fokus gerückt worden ist und unmittelbar anschliesst an die linguistische Analyse institutioneller Kommunikation. Gemeint ist die Rolle, die Räume und die räumliche Umgebung für Kommunikation und das Sprechen und Zuhören spielen. Im Gegensatz zu früheren Forschungen aus den 60er und 70er Jahren (die interdisziplinär mit Stichworten wie »environmental psychology«, »ecological psychology« oder »proxemics« verbunden sind: vgl. z. B. Barker 1968; Hall 1969; Gibson 1979; Mehrabian 1976; Scheflen und Ashcraft 1976) wird der Raum dabei nicht als eine externe Variable der Kommunikation modelliert, sondern als eine Ressource der Interaktion, die ungeachtet ihrer (vor)strukturierenden Kraft (LeBaron und Streeck 1997) als interaktive Hervorbringung gedacht werden muss. Dafür steht u. a. der in der Konversationsanalyse in den letzten Jahren oftmals gebrauchte Ausdruck »Interaktionsraum« (vgl. dazu z. B. Mondada 2007; Hausendorf 2013). Die Rolle, die Raum und Räumlichkeit für die Interaktion spielen, wird in der institutionellen Kommunikation vielleicht so greifbar wie nirgends sonst – das ist das Thema des vorliegenden Beitrags.2
1 Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Wiener Symposions für wertvolle Anregungen und Hinweise. Für Kommentare und Überarbeitungsvorschläge zu einer ersten Fassung des Manuskriptes danke ich Andi Gredig vom Deutschen Seminar der Universität Zürich. Die Arbeit an diesem Beitrag wurde massgeblich durch den Universitären Forschungsschwerpunkt Sprache und Raum der Universität Zürich unterstützt. 2 Ein geplantes Treffen mit Florian Menz, bei dem wir uns über unsere aktuellen Forschungsinteressen austauschen wollten, hat für mich den Anstoss zu dieser Thematik gegeben. Zu diesem Treffen ist es nicht mehr gekommen. Als Helmut Gruber mich für das Gedenkkolloquium angefragt hat, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist, lag es für mich nahe, an diesen thematischen Ausgangspunkt anzuknüpfen.
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Heiko Hausendorf
Der allgemeine Sachverhalt, um den es geht, erscheint fast trivial: Das, was wir institutionelle Kommunikation nennen und prototypisch etwa mit der Kommunikation im Gesundheitswesen, mit ›medizinischer Kommunikation‹, verbinden und in der Gesprächsforschung seit vielen Jahren untersuchen (vgl. dazu z. B. den Überblick bei Nowak 2010), findet in sehr vielen Fällen innerhalb eines für die Zwecke genau dieser Kommunikation gebauten und gestalteten Raumes, eines Gebäudes, statt. Im Falle des Gesundheitswesens, der Medizin, ist das das im Deutschen so genannte ›Krankenhaus‹ bzw. ›Spital‹. Die gebaute Welt ist voll von solchen Gebäuden, in denen Institutionen – im Sinne moderner Funktionssysteme der Gesellschaft – ein gebautes Zuhause entwickelt und gefunden haben: das Recht im Gericht, die Wissenschaft in der Universität, die Politik im Parlament, die Kunst im Museum, die Religion im Kirchenraum. Institutionen sind also wohl nicht zufällig in ihren prototypischen Ausprägungen in unserer modernen Gesellschaft im Wortsinn betretbar : Man kann in sie hineingehen und findet dort architektonisch hochgradig ausdifferenzierte Plätze vor, so dass die räumliche Positionierung in vielen Fällen einer sozial-kommunikativen Positionierung schon gleichkommt – ohne dass dazu ein Wort gesprochen und gehört werden muss (vgl. dazu Hausendorf und Schmitt 2017). Dieser Sachverhalt berührt einen grundlegenden Punkt: nämlich die Frage, wie überhaupt Gesellschaft hörbar und sichtbar, greifbar und zugänglich, in einem umfassenden Sinn: sinnlich wahrnehmbar und erfassbar wird. Die Betretbarkeit der Institution liegt derartig auf der Hand, dass wir sie bis heute oft nicht weiter berücksichtigt haben. Mindestens gilt das für weite Teile der linguistischen Analyse institutioneller Kommunikation, mit der ich vor allem die Interaktion in den Organisationssystemen der Gesellschaft verbinde, wie sie in der funktionalen Pragmatik und speziell innerhalb der Wiener Kritischen Diskursanalyse immer wieder zum Thema einer »Angewandten Diskursforschung« gemacht worden ist (vgl. dazu Brünner et al. 1999 und als aktuellen Überblick z. B. Del Percio und Reisigl 2014).3 Für diese weitgehende Nicht-Beachtung der architektonischen Manifestationen institutioneller Wirklichkeit gibt es eine Reihe von Gründen. Hier sollen zwei herausgegriffen werden, die methodologisch von besonderem Interesse sind. Sie gelten insbesondere für die Konversationsanalyse der institutionellen Kommunikation, die bekanntlich 3 Die theoretische Reflexion des Gegenstandsbereichs ›institutionelle Kommunikation‹ hat trotz einer Reihe von Bemühungen (vgl. z. B. die Monographien von M. Giesecke und A. Koerfer : Giesecke 1988 und Koerfer 1994) mit der empirischen Reichhaltigkeit der Forschungsergebnisse nicht mithalten können. Man sieht das auch daran, dass die organisationstheoretischen Ansätze aus den Sozialwissenschaften erst vergleichsweise spät und auch nur vereinzelt in der Linguistik angekommen sind (vgl. dazu z. B. Menz 2000 und Habscheid 2008 und die Beiträge in Menz und Müller 2008; einen aktuellen Überblick bieten Habscheid et al. 2018).
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eine Weile gebraucht hat, bis sie überhaupt diesen Bereich von Interaktion für die Analyse zugelassen hat (vgl. dazu die Hinweise in Hausendorf 1992: 32–35). Der eine Grund für die Vernachlässigung architektonischer Manifestationen institutioneller Kommunikation ist methodischer Natur, und er entbehrt nicht einer disziplinären Pointe: Solange das Datum der linguistischen Forschung durch die Audioaufzeichnung und die aus ihr hervorgehende Transkription bestimmt war, blieb die gebaute Institution im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. Sie blieb damit auch weitgehend unanalysierbar und ausserhalb der Reichweite einer sich auf gesprochen-gehörte Kommunikation konzentrierenden Forschungsdisziplin. Man konnte nicht – und man wollte wohl auch nicht. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung der Videoaufzeichnung als Primärdokument der Interaktionsanalyse beginnt sich diese Zurückhaltung aufzulösen: Die Institution wird auch in ihrer gebauten Wirklichkeit im Datum mehr und mehr sichtbar (vgl. dazu die Beiträge in Hausendorf et al. 2016). Der andere Grund für die Vernachlässigung ist ein methodologischer, und er gilt speziell für die Konversationsanalyse: Das Gebäude einer Institution, also im Fall der medizinischen Kommunikation das Krankenhaus mit seinen Fluren und Stockwerken, seinen Empfangsräumen, Sprech- und Behandlungszimmern, seinen Stationen und seinen Betten, ist als ›gegebenes Datum‹ problematisch für einen Ansatz, der davon ausgeht, dass die soziale Wirklichkeit in und mit Interaktion in jedem Augenblick (wieder-)hergestellt werden muss. Allzu leicht liesse sich dieses methodologische Postulat mit dem Hinweis auf die gebaute Institution als Faktum unterlaufen und alles, was darin passiert, als mehr oder weniger vor- und zweckbestimmt abtun. Die Konversationsanalyse hat deshalb bis heute ein prekäres Verhältnis zum gebauten Raum: In seiner Materialität und relativen Dauerhaftigkeit steht er gleichsam quer zur Flüchtigkeit des gesprochen-gehörten Wortes, an dem man die momenthafte Qualität der sozialen Wirklichkeit so anschaulich machen kann. Wenn der gebaute Raum relevant werden soll, muss er eben, so könnte man postulieren, durch das Nadelöhr der Interaktion hindurch, wobei man dabei i. d. R. mitgemeint hat: durch das Nadelöhr der verbalen Interaktion! So würde der Raum dann schliesslich doch auch in der Transkription selbst hörbar und sichtbar gemacht – durch die Beteiligten selbst. Auf dieses Argument, das weder ganz falsch noch ganz richtig ist, soll hier nicht näher eingegangen werden (vgl. aber Hausendorf und Schmitt 2018). Man sieht vielleicht auch so, dass die Betretbarkeit unserer modernen Institutionen (konversations-)analytisch alles andere als trivial ist. Wir wissen nicht genau, was wir empirisch (zumal als LinguistInnen) an dieser Stelle überhaupt zu sehen und zu entdecken hätten. Wir wissen nicht genau, was wir methodisch und methodologisch damit anfangen sollen, und schliesslich wissen wir auch nicht, ob wir theoretisch dieser Herausforderung im disziplinären Rahmen der Lin-
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guistik gewachsen sind. An diese losen Enden knüpft der vorliegende Beitrag an. Ich beginne mit Überlegungen zu der Art von Theorie, die es braucht, um die Analyse gesprochener Sprache mit der Analyse des gebauten Raumes zu verbinden. Hier tut sich eine grundlegende Problematik auf, die nicht nur die institutionelle Kommunikation, sondern jedwede Form von Interaktion betrifft (s. Abschnitt 2). Ich gehe sodann auf das methodologische Konzept der Interaktionsarchitektur ein, mit dem man architektonische Erscheinungsformen des gebauten Raumes in die Analyse integrieren kann. Es bewährt sich nicht nur, aber insbesondere in der Analyse institutioneller Kommunikation (s. Abschnitt 3). Im Anschluss werde ich dann zu illustrieren versuchen, was man mit einer solchen Methodologie empirisch zu sehen bekommen kann. Dazu werde ich auf Kommunikation im Wissenschaftssystem, konkret: auf die Vorlesung im Hörsaal eingehen und diese Konkretisierung der Problemstellung mit einem Exkurs zur Hörsaalarchitektur beginnen (Abschnitt 4). Diese Vorgehensweise ist unüblich in der linguistischen Analyse institutioneller Kommunikation, erfolgt aber zwingend aus dem hier vertretenen Konzept der Interaktionsarchitektur. Im Anschluss werde ich dann anhand ausgewählter Beispiele auf den Beginn von Vorlesungen eingehen und damit zur Interaktionsanalyse kommen (Abschnitt 5). Die Auswahl des Phänomenbereiches der Vorlesung im Hörsaal ist nicht beliebig, aber doch exemplarisch. Man könnte das, was ich zeigen und veranschaulichen möchte, auch an anderen Erscheinungsformen institutioneller Kommunikation vorführen. Heuristisch ist das Beispiel aber besonders gut geeignet: Der Hörsaal ist als gebauter Raum gleichermassen bekannt und berüchtigt in seiner Wirkung auf das, was in ihm als Interaktion vom Typ ›Vorlesung‹ stattfindet. Ein kurzes Fazit beschliesst den Beitrag (Abschnitt 6).
2
Raum als Ressource und Hervorbringung der Interaktion
Innerhalb der Linguistik ist das Verhältnis von Sprache und Raum immer wieder und auf vielfältige Weise zum Thema gemacht worden (vgl. dazu z. B. die Beiträge in Auer et al. 2013). Das reicht, grob gesagt, von der Beobachtung der Verteilung sprachlicher Merkmale im Raum (›Sprache im Raum‹) über die Ausprägung räumlicher Verhältnisse im Lexikon und der Grammatik natürlicher Sprachen (›Raum in der Sprache‹) bis zu den vielfältigen Diskursen der Thematisierung des Raumes (›Sprache über Raum‹). Keine dieser Traditionen ist für unsere Frage nach der Relevanz des gebauten Raumes für die institutionelle Kommunikation unmittelbar weiterführend. Einen anderen Ausgangspunkt liefert die Behandlung der Sprechsituation in der linguistischen Pragmatik. In dieser Tradition gehört die räumliche Umgebung als Aspekt des Sprechortes, des ›hier‹ der Anwesenden, zu den Parametern der Sprechsituation, die beim Verständnis
Die Betretbarkeit der Institution
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sprachlicher Äusserungen zu berücksichtigen sind. Besonders prominent und folgenreich ist diese Vorstellung mit dem von Bühler eingeführten »Zeigfeld der Sprache« geworden, in dessen Mittelpunkt als »Origo« die Trias von »hier«, »jetzt« und »ich« steht (Bühler 1982 [1934]: 102–120). In der Auseinandersetzung mit diesem Modell, das in den bis heute fortgesetzten Bemühungen um eine angemessene Theorie der sprachlichen Deixis zum Ausdruck kommt, sind allerdings auch die problematischen Implikationen dieses Ansatzes deutlich geworden. Dazu gehört insbesondere der ›Ego-Zentrismus‹ des Bühler’schen Entwurfes (Hanks 1990), mit dem die Interaktion zwischen den Beteiligten nicht angemessen erfasst werden kann. Eine solche Konzeption entspricht dem »correlational drive« der frühen Soziolinguistik (Goffman 1964), insofern sie die Sprechsituation als ein der Interaktion äusserliches, gleichsam unabhängiges Variablenbündel von räumlichen, zeitlichen und sozialen Faktoren modelliert und die Face-to-face-Interaktion, aus der heraus die Sprechsituation erst hervorgeht, in ihrer Eigenständigkeit nicht zu erfassen vermag (vgl. dazu Hausendorf 2003). Entsprechend kann es bei der Beschäftigung mit der Architektur institutioneller Gebäude nicht darum gehen, diese als ein gegebenes Datum den sprachlichen Äusserungen, die innerhalb solcher Gebäude auftreten, gleichsam an die Seite zu stellen bzw. erklärend auf diese zu verweisen. Vielmehr müssen sowohl die Architektur als auch die sprachlichen Erscheinungsformen als Facetten der Interaktion selbst zur Geltung gebracht werden. Das Problem, um das es hier geht, ist also nicht ein Problem des Verständnisses sprachlicher Äusserungen in Institutionen, sondern ein Problem der Hervorbringung der Institution(en) in und mit Interaktion. Deshalb wählen wir für unsere folgenden Ausführungen einen dezidiert interaktionstheoretischen Ausgangspunkt, wie er in der Tradition der Konversationsanalyse gepflegt wird. Zu fragen ist dann, wie Raum und Räumlichkeit so modelliert werden können, dass die Architektur der Interaktion nicht als gegebenes Datum mehr oder weniger äusserlich bleibt, sondern als Teil und Ressource davon in Erscheinung treten kann. Vor dem Hintergrund einer solchen Theorie des ›Interaktionsraums‹ wäre dann die Besonderheit von Raum und Räumlichkeit in der institutionellen Kommunikation hervorzuheben. Der Vorschlag, der dazu im Folgenden unterbreitet werden soll, geht mit der Konversationsanalyse davon aus, dass Interaktion als ein Multitasking-System betrachtet werden kann, in dem stets mehrere Aufgaben gleichzeitig bearbeitet und ›gelöst‹ werden, die für das Zustandekommen von Interaktion konstitutiv sind.4 Zu diesen Aufgaben gehören unbestritten die Gesprächseröffnung und -beendigung (Wann geht’s los? Wann hört’s auf ?), der Sprecherwechsel (Wer 4 Ich folge hier einem schon an anderer Stelle publizierten Gedankengang (Hausendorf 2013) unter dem Aspekt der Betretbarkeit der Institution.
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kommt als Nächste/r?) und die Themenorganisation (Was kommt als Nächstes?). Mein Vorschlag besteht darin, neben den weiteren Aufgaben der Rahmung (Was geht hier vor?) und der Selbst- und Fremddarstellung (Wer sind wir?) eine weitere Aufgabe vorzusehen, die sich auf die Herstellung des Interaktionsraums bezieht: Wo sind wir? Diese Aufgabe wird Situierung genannt und bezieht sich darauf, dass in jeder x-beliebigen Interaktion das Problem praktisch gelöst werden muss, das ›hier‹ der Anwesenden für die anstehende Interaktion soweit festzulegen und abzugrenzen, wie es für das, was getan werden soll, praktisch notwendig und hinreichend ist. Die Bearbeitung dieser Aufgabe kann weitgehend im Hintergrund der Interaktion, entsprechend unauffällig und weitgehend unbemerkt von den Anwesenden vermittels z. B. der Körperausrichtung und des Blickkontakts geschehen. Sie kann aber auch im Vordergrund der Interaktion stattfinden und mithilfe expliziter Instruktionen thematisiert werden, wenn es die Situation erfordert (z. B. im Rahmen einer Stadtführung mit wechselnden Wahrnehmungsfoki). Mit der Aufgabe der Situierung bekommen Raum und Räumlichkeit eine systematische Relevanz für die Interaktion: Als ›Interaktionsraum‹ gehören sie zu dem, was für Interaktion konstitutiv ist und deshalb fortlaufend (wieder-)hergestellt werden muss. Dabei sind mindestens drei Aspekte von Räumlichkeit zu unterscheiden, die für die Herstellung des Interaktionsraums wesentlich sind und die der Trias von Wahrnehmung, Bewegung und Handlung folgen. Der Interaktionsraum ist als Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsraum zu modellieren, so dass die Aufgabe der Situierung die Unteraufgaben der Ko-Orientierung der Wahrnehmungen, der Ko-Ordination der Bewegungen und der Ko-Operation der Handlungen umfasst. Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation sind in aufsteigender Reihe voraussetzungsreich: Ko-Ordination impliziert Ko-Orientierung, und Ko-Operation impliziert Ko-Ordination und Ko-Orientierung. In vielen Fällen gehen die fraglichen Prozesse Hand in Hand, es gibt aber auch Fälle, in denen sich die Interaktion auf Ko-Orientierung der Wahrnehmungen oder Ko-Ordination der Bewegungen beschränkt, ohne dass es zur Ko-Operation im Sinne der Abstimmung weitergehender Handlungen kommt. Von der Sache her sind die hier in den Blick kommenden Phänomene immer wieder gesehen, aber je nach Tradition begrifflich anders verpackt worden.5 Mit dem Postulat der Situierung ist sichergestellt, dass der Interaktionsraum in seinen relevanten Facetten im strikten Sinn als eine interaktive Hervorbringung (»interactional achievement«, Schegloff 1982) gelten kann.
5 Vgl. zur Ko-Orientierung schon Kendon 1990a [1973]; zur Ko-Ordination die Hinweise bei Deppermann und Schmitt 2007; zur Trias von Wahrnehmung, Bewegung und Handlung Kruse und Graumann 1978; vgl. auch die weiterführenden Hinweise bei Hausendorf 2013.
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Auf die theoretischen Implikationen der Situierung und ihrer Unteraufgaben soll hier nicht weiter eingegangen werden, weil es zu weit weg führt vom Thema des vorliegenden Beitrags.6 Wichtig und für unsere Thematik unmittelbar einschlägig ist aber die Annahme, dass die Aufgabe der Situierung und mit ihr die der Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation nie voraussetzungslos bearbeitet und gelöst werden. Der Interaktionsraum ist (auch als interaktive Hervorbringung) keine creatio ex nihilo. Das Gegenteil ist der Fall: Die Situierung der Interaktion kann auf Ressourcen zurückgreifen, die der Interaktion zur Verfügung stehen, ohne dass sie in und mit Interaktion geschaffen werden müssen. Wenn man es abstrakt genug angeht, zählen zu den grundlegenden Ressourcen der Situierung der Mensch mit seiner humanspezifischen Ausstattung als intelligenter und mobiler Sensor der Interaktion (Sensorik, Motorik, Raumkognition), die natürliche Sprache mit der Lexikalisierung, Semantisierung und Grammatikalisierung von Raum und die Architektur mit ihrer Vielfalt an gebauten und gestalteten Benutzbarkeitshinweisen. Diese Ressourcen sind in ihrer Ressourcenqualität unterschiedlich gut erforscht. In der Linguistik wissen wir naturgemäss am meisten über den sprachlichen Beitrag zur Situierung. Hierhin gehört vor allem die sprachübergreifende Untersuchung der deiktischen Systeme natürlicher Sprachen (s. dazu schon oben). Ebenfalls vielfach untersucht worden sind die stärker menschbezogenen Ressourcen der Situierung, allen voran Aspekte der Raumkognition (vgl. z. B. Herrmann und Schweizer 1998; Levinson und Wilkins 2006) und in den letzten Jahren vermehrt auch die Rolle der Sensorik und Motorik bei der Herstellung von Interaktionsräumen (Stichwort ›embodiment‹, vgl. z. B. Streeck et al. 2011). Nach wie vor wenig untersucht ist dagegen die Architektur als Ressource der Situierung – obwohl man die These wagen könnte, dass die Architektur als Ressource für die Situierung in vielen Fällen eine viel stärkere Bedeutung hat als etwa die Sprache. Tatsächlich gibt es in der Soziologie schon mit den Arbeiten von Simmel und Elias eine gewichtige Tradition der Theoretisierung des Raums (vgl. dazu die Hinweise bei Schroer 2007; S. Steets 2010). Und noch näher am Thema der baulichen Manifestationen von Institutionen sind die eingangs bereits genannten Arbeiten aus der ›environmental‹ bzw. ›ecological psychology‹7 sowie 6 Es sei nur darauf verwiesen, dass die Situierung im Gegensatz zu den anderen Aufgaben der Interaktion bis heute kaum systematisch untersucht worden ist. Das dürfte damit zu tun haben, dass der Raum in der Interaktionsanalyse viel weniger thematisiert worden ist als etwa die Zeit, so dass insbesondere die Aufgabe des Sprecherwechsels (turn taking) bis heute die konversationsanalytische Literatur dominiert (vgl. Hausendorf 2010). 7 Vgl. dazu auch die Versuche der Integration dieser verschiedenen Ansätze z. B. bei Heft 2001, insbesondere 123–135 (zu Gibsons Konzept der »affordances«) und 252–258 (zu Barkers Konzept des »behavior setting«), und bei Schoggen (1989: 302–322).
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verwandte Arbeiten aus der ›anthropology of space‹ (vgl. z. B. Low 2000), in denen die Rolle architektonischer Arrangements für die Interaktion immer wieder hervorgehoben worden ist. In der stark sprachbezogenen und transkriptionsorientierten neueren Interaktionsforschung sind diese Vorarbeiten dann allerdings wieder mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten Jahren rückt die Architektur als Ressource der Interaktion inter- und transdisziplinär wieder mehr in den Vordergrund, so dass sich hier zwischen Interaktionslinguistik, Raum- und Architektursoziologie (vgl. z. B. Fischer und Delitz 2009; Delitz 2010; Schäfers 2010) und Sozialgeographie (vgl. z. B. Weichhart 2010; Werlen 2010) ein neues und vielversprechendes Forschungsfeld auftut. Speziell die Konversationsanalyse tut sich allerdings nach wie vor schwer mit der Anerkennung der Architektur als eigenständig analysierbarer Ressource der Interaktion. Das mag damit zu tun haben, dass uns der gebaute und gestaltete Raum – anders als etwa die gesprochen-gehörte Sprache – sofort ein konstitutives Ressourcenmerkmal vor Augen führt: Offenkundig ist die Architektur nicht ›flüchtig‹, sondern ›dauerhaft‹, wenn schon nicht gleich ›zeitlos‹, so doch in ihrer Materialität mit einem unübersehbaren ›durativen‹ Eigenwert ausgestattet, der die engen Grenzen der Interaktion überschreitet, wenn man nur etwa an die Haltbarkeit von Stein denkt.8 Gerade deshalb provoziert die Architektur die Frage, wie man ihre Ressourcenqualität explizieren kann, ohne doch wieder auf die naive Vorstellung einer gegebenen räumlichen Struktur zurückfallen zu müssen. Wir sind damit bei den methodologischen Konzepten.
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Interaktionsarchitektur und Benutzbarkeit
Architektur wird dem hier vertretenen Ansatz zufolge für die Interaktionsanalyse in dem Masse interessant, in dem es gelingt, ihre Erscheinungsformen auf Kommunikation zu beziehen, genau gesagt: architektonische Erscheinungsformen als Erscheinungsformen einer eigenständigen Form von Kommunikation zu verstehen. Es ginge also um so etwas wie Kommunikation mit und durch Architektur, also um ein genuin soziales Phänomen. Anders als die Face-to-faceInteraktion, die davon lebt, dass sich Personen wechselseitig als anwesend wahrnehmen, ist die Kommunikation mit und durch Architektur nicht auf Anwesenheit als Kommunikationsbedingung angewiesen. Ihre kommunikative Relevanz liegt – wie im Fall der Textkommunikation (Hausendorf et al. 2017) – in der Bereitstellung von Anknüpfungsmöglichkeiten und Anschlussfähigkeit, also im Angebot und der Zumutung einer Kommunikation, die unter neuartigen 8 Architektursoziologen sprechen deshalb mit Bezug auf die Architektur auch gerne von einem ›schweren‹ Medium (vgl. Fischer 2009).
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Bedingungen steht, die indifferent sind gegenüber der Anwesenheit von Sprecher und Hörer und stattdessen das Annehmen und die Aktualisierung von Kommunikationsangeboten und -zumutungen wahrscheinlich werden lassen. Das kann, muss aber nicht unter Anwesenden (also als Interaktion) realisiert werden. Die Lektüre von Texten vollzieht sich zumindest für uns Heutige in der Regel als einsamer Prozess. Jedenfalls wäre es absurd, als Kommunikationsbedingung für solche Lektüren die Anwesenheit des Autors oder der Autorin zu postulieren. Ähnlich muss man sich die Nutzung von Architektur als einen Prozess vorstellen, der sich als Interaktion vollziehen kann (und in vielen Fällen auch vollziehen soll), aber auch ohne Interaktion in Form individueller Verhaltensweisen alltäglich realisiert wird. Auch dafür ist die Anwesenheit der Architekten und Architektinnen nicht erforderlich, wohl aber eine architektonische Erscheinungsform, an die während der Nutzung angeknüpft und angeschlossen werden kann. Wenn man diese Vorstellung ernst nimmt, die sich an die Kommunikationstheorie der neueren soziologischen Systemtheorie anlehnt (Luhmann 1984; Hausendorf und Kesselheim 2016), besteht die methodologische Herausforderung darin, architektonische Erscheinungsformen in ihrer Angebots- und Zumutungscharakteristik zu explizieren. Es geht dann darum, die gebauten, gestalteten und sonstwie architektonisch manifesten Hinweise zu rekonstruieren, an die mit und in Interaktion angeknüpft werden kann. Das ist im Kern die Idee einer »Interaktionsarchitektur« (Hausendorf und Schmitt 2016). Sie soll hier mit Verweis auf unterschiedliche Typen von Hinweisen weiter konturiert werden. Zunächst ist in einem basalen Sinn von Hinweisen auf Benutzbarkeit auszugehen. Architekturen machen Räume sichtbar, begreifbar und begehbar – und betretbar. Die Architektur der Institutionen sorgt in diesem Sinne dafür, dass institutionelle Kommunikation in vielen Fällen auf Betretbarkeit angewiesen ist und dass mit dieser Betretbarkeit weiterreichende architektonische Hinweise zur Verfügung stehen. Benutzbarkeitshinweise sind vergleichsweise wenig voraussetzungsreich, aber natürlich an die humanspezifische Sensorik und Motorik gebunden. Sie kommen dem nahe, was unter dem viel zitierten Stichwort der ›affordances‹ beschrieben worden ist (vgl. Gibson 1977, s. auch oben Anm. 7). In einem weitergehenden Sinn enthält Architektur Hinweise auf Lektüren: Türen, Fenster, Zimmer, Stufen, Treppen, Tische und Stühle liefern nicht nur Hinweise auf Benutzbarkeit, sondern sind darüber hinaus auch semiotisch aufgeladen: Sie stehen für etwas, indem sie ihre Nutzbarkeit als »FunktionsZeichen« (Barthes 1983: 35) selbst schon »symbolisieren«. In diesem Sinn gibt es bekanntlich eine eigene Architektursemiotik, von der jedes »Wörterbuch der Architektur« Zeugnis ablegt (vgl. etwa Freigang 2015; vgl. dazu z. B. auch den Topos von der »Lesbarkeit des Raumes« und die diesbezüglichen Hinweise bei Hausendorf und Kesselheim 2016).
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Schliesslich sind diese Lektürehinweise selbst eingebunden in weiterreichende Hinweise auf die Teilhabe an einer bestimmten sozialen Praxis, so dass ein eingerichteter Raum nicht nur ›benutzt‹ und ›gelesen‹, sondern auch ›verstanden‹ wird als Schauplatz einer bestimmten sozialen Praxis. Im Gegensatz zu den Benutzbarkeitshinweisen und in einem voraussetzungsreicheren Sinn als die Lektürehinweise sind Teilhabehinweise stark vertrautheits- und wissensabhängig. Ihre Wahrnehmung und Aktualisierung erfordern deshalb in der Regel eine zumindest rudimentäre Sozialisation in die entsprechende soziale Praxis. So lernt man z. B. wie selbstverständlich mit, wo und wie man sich während eines Gottesdienstes im Kirchenraum bewegt, d. h. hinsetzt, aufsteht und geht. Die Hinweise werden also von oben nach unten immer vertrautheitsabhängiger und damit immer kulturspezifischer. Sie reichen bis in die Verästelungen hochgradig ausdifferenzierter sozialer Praktiken und ihrer Schauplätze. Deshalb ist die Betretbarkeit der modernen Institutionen unserer Gesellschaft heuristisch ein besonders ergiebiger Fall für die Analyse der Interaktionsarchitektur. Das soll gleich am Beispiel der Hörsaalarchitektur erläutert werden. Um Missverständnissen vorzubeugen, sind aber vorab noch Bemerkungen zum Status der Interaktionsarchitektur und zu den aus ihr hervorgehenden Hinweisen auf Benutzbarkeit, Lektüre und Teilhabe notwendig. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die genannten Hinweise nicht flüchtiger, sondern dauerhafter Natur sind. Anders als das gesprochene Wort vergehen sie nicht mit ihrer Hervorbringung (und Rezeption), sondern sind im Gegenteil darauf angelegt, den Moment der Hervorbringung (und Nutzung) zu überdauern. Wie das geschriebene Wort sind die Erscheinungsformen der Interaktionsarchitektur deshalb als solche analysierbar, d. h. unter Absehung von den konkreten Prozessen ihrer Hervorbringung und Nutzung. Die Interaktionsarchitektur eines Raumes, z. B. eines institutionellen Gebäudes, kann man deshalb auf der Basis von Daten rekonstruieren, die die Architektur dokumentieren, ohne dass dabei auch Personen zu sehen sind (z. B. also anhand von Fotos oder Standbildern leerer Räume). Gleichwohl darf man die Architektur, wie schon mehrfach betont, nicht als gegebenes Datum verdinglichen (›reifizieren‹). Als Interaktionsarchitektur ist die Architektur keine objektive Wirklichkeit (wie das noch bei Barker für das von ihm in den Mittelpunkt gerückte »behavior setting« postuliert wurde: Barker 1968), sondern in einem strikten Sinn sozial emergent. Die oben genannten Hinweise auf Benutzbarkeit, Lektüre und Teilhabe sind nicht gegeben, sondern abhängig vom Moment ihrer Aktualisierung, in dem sie sich entfalten und zur Geltung kommen – oder eben auch nicht zur Geltung kommen. Auch wenn sich die Interaktionsarchitektur niemals in den Situationen ihrer konkreten Nutzung erschöpft (so wenig, wie sich die Sinnstruktur eines Textes in seinen konkreten Lektüren erschöpft), ist sie doch immer nur vor dem Hintergrund solcher Nutzungsprozesse denkbar, mit denen konkrete
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Nutzer und Nutzerinnen ins Spiel kommen. Das kommt anschaulich in der Vertrautheitsabhängigkeit der Lektüre- und besonders der Teilhabehinweise zum Ausdruck; es manifestiert sich aber z. B. auch schon darin, dass selbst die Benutzbarkeitshinweise immer von einer Art unterstellten Normalfall nicht speziell eingeschränkter humanspezifischer Sensorik und Motorik abhängig sind. Schon für ein (Klein-)Kind ergeben sich deshalb in vielen Fällen andere Benutzbarkeitshinweise als für einen Erwachsenen (vgl. dazu die Analysen von Kesselheim zur Art und Weise, wie Kinder einen Ausstellungsraum ›nutzen‹, Kesselheim 2016).9 Schliesslich fällt die Interaktionsarchitektur nicht vom Himmel. Vielmehr ist sie das Ergebnis von Evolution, ist also nicht zeitlos, sondern evolviert mit der Evolution der Gesellschaft und ihren Kommunikationsformen. Anders wäre nicht zu erklären, woher der kommunikative Anknüpfungs- und Anschlusswert (die kommunikative ›Valenz‹: vgl. Kruse und Graumann 1978) der Architektur kommt; indem architektonische Erscheinungsformen als Lösungen für genuin kommunikative Probleme entstehen, weisen sie auf Kommunikation zurück und werden als Formerstarrungen (wie die Sprache) hochgradig sozial implikativ (in der Regel ohne dass das den Nutzern und Nutzerinnen im Moment der Aktualisierung bewusst ist). In diesem Sinne ist die Architektur (wie die Sprache) ein Sediment, in und mit dem eine bestimmte Lösung für ein bestimmtes kommunikatives Problem eine dauerhafte Form gefunden hat, die auf diese Weise die Momente ihrer Nutzung (darunter : der Interaktion) überdauert und (vor-)strukturiert. Sie ist nicht gleich zeitlos, aber eben auch längst nicht mehr flüchtig und kann genau damit massgeblich zum Aufbau immer voraussetzungsreicherer Kommunikationsprozesse beitragen. Auch dafür ist die institutionelle Kommunikation ein herausragendes Beispiel, fungiert die Architektur institutioneller Gebäude doch als eine Art Stein gewordener Ausdruck von Erwartungen und Erwartungserwartungen (Luhmann 1969) an die Art von Interaktion, die in diesem Gebäude stattfinden soll. Wir wollen diesen Gedankengang im Folgenden mit einem Exkurs zur Hörsaalarchitektur illustrieren.
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Hörsaalarchitektur auf den ersten Blick
Es ist hier nicht der Ort, systematisch auf die Architektur des Hörsaals einzugehen. Wie ein auch nur kursorischer Blick in die Fachliteratur zeigt, tut sich an dieser Stelle ein komplexes und anspruchsvolles Feld baulicher und gestalterischer Entscheidungen auf, mit dem sich Architekten und Architektinnen aus9 Einen ähnlichen Punkt hebt Hutchby in seiner Kritik am Konzept der ›affordances‹ hervor (Hutchby 2001).
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führlich beschäftigt haben (vgl. dazu die ältere Arbeit von Gellinek 1933 und die Darstellungen in Aschoff 1971 und Haase und Senf 1995). Anstatt diese und weitere Literatur systematisch für die interaktionstheoretische Fragestellung aufzubereiten (vgl. dazu Ansätze in Hausendorf 2012), soll im Folgenden ein abkürzender phänomenologischer Zugang über einige auf der Hand liegende bauliche Besonderheiten des Hörsaals gewählt werden, der eine gewisse Primafacie-Evidenz in Anspruch nehmen kann. Es geht also, wie es im Titel heisst, um eine Hörsaalarchitektur auf den ersten Blick, die keine architekturwissenschaftliche Expertise für den Bau und die Gestaltung solcher Gebäude, sondern Sensibilität für die Aufgaben und Probleme der Interaktion erfordert, die innerhalb solcher Gebäude erwartbar gemacht wird. Dafür greife ich auf eigene Abbildungen eines Hörsaals der Universität Zürich zurück.10 Diese Abbildungen dienen lediglich der Illustrierung. Die relevanten Phänomene lassen sich leicht durch eigene Beobachtungen vertiefen und in unzähligen Variationen auf weiteren Hörsaalabbildungen studieren, wie sie im Internet mehr oder weniger unsystematisch zur Verfügung stehen, wenn man eine entsprechende Suchanfrage startet. Zu dem, was man auf solchen Hörsaalabbildungen auf den ersten Blick sehen kann, gehören immer wieder anzutreffende ansteigende Sitzreihen (s. Abb.1). Wie die folgende Abb. 2 zeigt, ist dabei ein wichtiges Detail zu beachten: Es handelt sich um ansteigende Sitzreihen mit auf- bzw. ausklappbaren Schreibund Ablageflächen. Ein weiteres markantes Ausstattungsmerkmal ist das Podium mit Ablage und Demonstrationsflächen, oft auch mit einem (mobilen) Rednerpult (s. Abb. 3). Mit dem Podium gerät zugleich ein weiteres Charakteristikum der Hörsaalarchitektur in den Blick: die Ausgestaltung der rückwärtigen Stirnwand des Hörsaals als Schreib- und Projektionsfläche. Auch dieses Charakteristikum lässt sich in unzähligen Variationen nachweisen (s. Abb. 4). Die Abbildungen geben einen stark ausschnitthaften Eindruck von drei auffälligen Merkmalen gegenwärtiger Hörsaalarchitektur, wie sie an den modernen Universitäten bei allem Variantenreichtum mehr oder weniger ähnlich anzutreffen ist. Offensichtlich handelt es sich um bewährte bauliche Lösungen für wiederkehrende Probleme eines Spezialtyps von Interaktion, für den Räume wie diese gebaut worden sind. Die Frage ist also, was genau sich in den illustrierten Grundelementen der Hörsaalarchitektur als Interaktionsproblem ›sedimentiert‹ hat. Welches sind die genuinen Interaktionsprobleme, auf die diese Architektur eine Antwort ist und die sie zum natürlichen Zuhause des Interaktionstyps ›Vorlesung‹ gemacht haben? 10 Es handelt sich um den Hörsaal SOD-1–101 am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Alle Fotos vom Autor.
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Abbildung 1: Ansteigende Sitzreihen im Hörsaal (eigene Datensammlung)
Abbildung 2: Ansteigende Sitzreihen mit Schreibflächen (eigene Datensammlung)
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Abbildung 3a und 3b: Podium mit Pult, Tischen und Projektionstechnik (eigene Datensammlung)
Abbildung 4: Stirnwand mit Projektionsfläche (eigene Datensammlung)
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Die ansteigenden Sitzreihen (s. oben Abb. 1) machen in erster Annäherung auf Probleme der Hör- und Sichtbarkeit unter Anwesenden in einer unüberschaubar grossen Gruppe von Personen aufmerksam, in der das, was eine/r sagt und zeigt, nicht (mehr) mühelos alle erreicht, die zuhören und zusehen wollen. Die Grenze für eine durch Anwesenheit mühelos erreichbare Kommunikation in einer durch Möblierung und Räumlichkeit nicht unterstützten Face-to-faceKonstellation (»F-Formation« i. S. v. Kendon 1990b) dürfte bei einer kleinen zweistelligen Anzahl von Personen liegen. Für die Kommunikation in Grossgruppen (›Massen‹) reichen die Bordmittel der Interaktion offenkundig nicht aus. Hör- und Sichtbarkeit mit All-Inklusion erweist sich dann als eine anspruchsvolle Herausforderung schon für die Aufgaben der Ko-Orientierung und der Ko-Ordination. Auf diese Spezialprobleme der Interaktion unter Bedingungen von ›Massenandrang‹ (Gellinek 1933) sind die ansteigenden Sitzreihen offensichtlich eine bauliche Antwort. Sie lassen die Interaktion vom Typ ›Vorlesung‹ als spezifische Form einer ›Versammlungsöffentlichkeit‹ (vgl. Gerhards und Neidhardt 1990) hervortreten. Das Podium mit seiner Ausstattung eines Sprech- und Zeigplatzes (s. oben Abb. 3a und 3b) macht in erster Annäherung auf ein Problem asymmetrischer Aufmerksamkeitsausrichtung mit einer asymmetrischen Verteilung von Sprecher- und Zuhörer- bzw. Zuschauerrollen aufmerksam, in der viele etwas mitbekommen sollen von dem, was eine/r sagt und zeigt. Dem dient die Schaffung einer bühnenähnlichen »fokalen Zone« (Streeck 1983), die dem Raum ein intrinsisches ›Vorne‹ und ›Hinten‹ verleiht mit sozial-räumlichen Positionen für ein ›Publikum‹ und einen oder mehrere, die als ›Schauspieler‹ auf der ›Bühne‹ oder neutraler gesagt: als ›Fokuspersonen‹ (Schmitt und Deppermann 2007) agieren. Damit tritt die Interaktion vom Typ ›Vorlesung‹ als eine asymmetrischmonologische ›Einwegkommunikation‹ hervor. Die Stirnwand mit Projektionsflächen (und Schreibflächen: ›Tafeln‹) macht in erster Annäherung auf ein Problem der Wissens- und Stoffvermittlung aufmerksam, bei der das, was gesagt wird, auch auf besondere Weise zu visualisieren ist, so dass das Gesagte nicht nur hörbar, sondern (in relevanten Anteilen) auch ›lesbar‹ und ›betrachtbar‹ wird. Dem dient die Herstellung von Lesbarkeit und Betrachtbarkeit auch unter Bedingungen grösserer Entfernung und Distanz durch sehr grosse Leseflächen. Die Entsprechung finden diese Leseflächen in den aufklappbaren Schreibflächen in den Sitzreihen (s. oben Abb. 2), die es erlauben, das Gehörte in irgendeiner Form mitzuschreiben (vgl. zur Textsorte der Mitschrift A. Steets 2003). Projektions- und Schreibflächen machen den ›Hörsaal‹ zum ›Seh-‹, ›Lese-‹ und ›Schreibsaal‹. Damit erscheint die Interaktion vom Typ ›Vorlesung‹ als eine Interaktion, die dem gesprochenen Wort misstraut und Mündlichkeit massiv durch Schriftlichkeit ergänzt und unterstützt und, abstrakter formuliert, Anwesenheit als Kommunikationsbedingung durch ›Les-
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barkeit‹ (Hausendorf et al. 2017) relativiert. Im deutschen Wort ›Vorlesung‹ kommt diese Fokussierung auf Schrift- und Schriftlichkeit bereits zum Ausdruck. Wenn man die Interaktion vom Typ ›Vorlesung‹ auf diese Weise aus ihrer Interaktionsarchitektur heraus rekonstruiert, rückt sie wohl nicht zufällig in die Nähe der Massenkommunikation im Sinne einer durch spezielle Massenmedien erreichten Überwindung der Grenzen von Anwesenheit durch Schrift, Druck und Funk. Dazu passt der Aspekt der (Versammlungs-)Öffentlichkeit einer Masse von Zuhörenden und Zuschauenden, der Aspekt der monologischen Einwegkommunikation und natürlich auch der zuletzt genannte Aspekt der Relativierung von Anwesenheit durch Lesbarkeit. Entsprechend erscheint die Interaktionsarchitektur des Hörsaals, etwas zugespitzt formuliert, schon fast als Interaktionsverhinderungsarchitektur, mit der das schon fast ausgeschlossen wird, was für Prototypen konzeptioneller Mündlichkeit gerne postuliert wird: Informalität, Intimität und Dialogizität der Interaktion. Tatsächlich dürfte diese Charakteristik massgeblich zum schlechten Ruf beigetragen haben, der dem Hörsaal als räumliche Manifestation einer interaktionsfernen universitären Lehre bis heute anhaftet. Aber darauf kommt es an dieser Stelle nicht an. Und selbstverständlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir es bei der Vorlesung im Hörsaal mit Interaktion zu tun haben. Allerdings zeigt uns der flüchtige Blick auf seine Architektur, mit welchen Anforderungen an einen Spezialtyp von Interaktion wir es hier zu tun haben. In umgekehrter Blickrichtung ist die Interaktionsarchitektur des Hörsaals ein starker Motor zur Erzeugung von Erwartungen und Erwartungserwartungen an das, was in diesem Raum stattfinden wird, an die sozialen Positionen, die mit den etablierten räumlichen Positionen verbunden sind und an den Typ von ›Institutionalisierung‹, der mit diesen Positionen fest verbunden ist. Genau in diesem Sinn ist der Hörsaal, auch wenn niemand darin verweilt, voll von Hinweisen auf Benutzbarkeit, Lesbarkeit und Teilhabe an einer bestimmten Praxis vom Typ ›Vorlesung‹. Wie diese Hinweise konkret (aus-)genutzt werden können, wollen wir im Folgenden auf exemplarische Weise am Beispiel des Beginns von Vorlesungen vor Augen führen. Ich komme damit in einem engeren Sinn zum empirischen Teil dieses Beitrags.
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Der Beginn der Vorlesung im Hörsaal
Die Daten, auf die ich mich im Folgenden stütze, stammen von einem Server einer deutschen Universität, auf dem Mitschnitte von Vorlesungen ohne weitere Zugangsbeschränkung zur Verfügung gestellt werden.11 Es handelt sich also um ›Fremdmaterial‹ (i. S. v. Mondada und Schmitt 2010), woraus sich einige Besonderheiten ergeben. Zum Beispiel setzen die Video-Aufnahmen typischerweise erst mit den ersten Worten der Dozierenden ein und suggerieren damit, dass die für das Ereignis ›Vorlesung‹ relevanten Ereignisse erst an dieser Stelle beginnen. Wir werden stattdessen zu zeigen versuchen, dass tatsächlich schon vieles entschieden ist, wenn die Vorlesung mit den ersten Worten der Dozierenden einsetzt, und können dazu inzwischen auch auf Aufnahmen zurückgreifen, in denen dokumentiert ist, wie sich ein Hörsaal allmählich füllt (s. unten Abschnitt 5.1). Vorlesungen sind für das Thema der institutionellen Kommunikation speziell interessant, weil die Vorlesung historisch als der Prototyp akademisch-universitärer Lehre gelten kann (vgl. Stichweh 1994; Dusini und Miklautsch 2007): Keine Universität ohne Hörsäle! Schon früh ist entsprechend gesehen worden, dass sich in der Vorlesung im Hörsaal die Institution auf eine sehr massive (und fast unentrinnbare) Weise in der Kommunikation bemerkbar macht.12 Das gilt – auch und gerade – für den Beginn der Vorlesung. Das soll im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt werden, die sich durch einen Kontrast auszeichnen: Im ersten Fall nutzt die Dozentin die Ressourcen der Interaktionsarchitektur voll umfänglich aus (s. unten Abschnitt 5.1), im zweiten Fall setzt sich der Dozent im Gegenteil über markante architektonische Elemente des Hörsaals hinweg (s. unten Abschnitt 5.2). Beide Fälle sind für institutionelle Kommunikation gleichermassen aussagekräftig.
11 Ich verdanke diese Daten und wertvolle Anregungen zur Beschäftigung mit Vorlesungen Peter Münte, mit dem ich im HS 2010 eine Lehrveranstaltung an der UZH zum Thema »LehrLern-Kommunikation: Linguistische und soziologische Perspektiven« durchgeführt habe. Erste Ergebnisse der Analyse dieser Daten sind in Hausendorf 2012 veröffentlicht. Im Folgenden orientierte ich mich an dieser Darstellung unter dem Fokus der institutionellen Kommunikation. 12 Interaktionsanalytische empirische Untersuchungen zum Interaktionstyp »Vorlesung« sind gleichwohl eine Seltenheit. Auch die Rolle der Vorlesung im Kontext der Wissenschaftskommunikation ist nur vereinzelt empirisch untersucht worden (vgl. z. B. Grütz 2002 und die Hinweise bei Fandrych 2018).
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Wenn die Vorlesung beginnt: Auf dem Podium
Der folgende Ausschnitt zeigt – ganz klassisch – den Wortlaut der Eröffnung einer Vorlesung in transkribierter Form (in Anlehnung an GAT): Ausschnitt 1: Beginn einer Soziologie-Vorlesung13
DZ: AS: PL:
Dozentin Assistentin Plenum
01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
DZ:
AS: DZ:
ALso (.) ich_h° (.) darf sie herzlich beGRÜSsen? (.) °h ZUR (.) vorlesung EINführung [in die soziologie, (.) °h das ist (-) Ihre (-) LAUter? (-) [Erste] [((unverständlich, ca. 1 Sek.))] (-) ist ihr in der REgel Erstes semesTER, (.) °h und jetzt habe ich eiNE: (.) irritatiOn; (--) ANgemeldet sind hUndertdreiundneunzig; (1.4) DIES hier sind mEhr. (.) [((DZ lacht)) ] [((PL lacht)) °h] ALso_ÄH:- (.) es ist kein proBLEM? wir haben KEInerleiZUlassungsbegrenzung in der vorlesung- (.) ich habe hier auch schon mit DREIhundert mit- (.) glaub ich VIERhundert gesEssendas war aber sehr viel UNgemütlicher, (.) [°hh ] [((PL lacht))]
Offensichtlich handelt es sich um eine mehr oder weniger typische Eröffnung mit Begrüssung, wobei es ein kleines Hörbarkeitsproblem zu geben scheint, das offenbar mit dem speziellen Ort des Sprechens zu tun hat (Z. 03–05). Danach kommt schon gleich eine »Irritation«, die etwas mit der Organisation des Ereignisses zu tun hat: der ›Anmeldung‹ zur Vorlesung und der für die Dozentin offensichtlichen Abweichung der Anzahl Hörerinnen und Hörer. Dabei kommt es zu einer markanten Um-Adressierung der Anwesenden: von »Sie« und »ihr/e« (in Z. 01, 03 und 06) zu »dies hier« (in Z. 09), mit der die Angesprochenen zu einer »Masse« von Anwesenden werden, über die gesprochen wird. Offensichtlich ist hier ›etwas‹ dabei zu beginnen. Zumindest suggeriert die Sprecherin, dass gerade etwas beginnt: Sie begrüsst nicht nur die Anwesenden, sondern sie sagt auch, dass sie sie begrüsst bzw. genauer gesagt: begrüssen darf (Z. 01–02). Performative Wendungen wie diese sind hoch funktional für die rituelle Situationseröffnung institutioneller Kommunikation, weil sie den Akt 13 Transkription: Heiko Hausendorf; Korrektur und Überarbeitung: Adriano Sabini und Nicolas Wiedmer.
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der Begrüssung eigens hervorheben. Interessant ist, dass schon dabei die soziale Situation ›Vorlesung‹ offenbar als bekannt und eingeführt vorausgesetzt wird: In der Juxtaposition »Vorlesung Einführung in die Soziologie« (Z. 02) ist die »Einführung in die Soziologie« das Neue und Relevante – nicht aber die »Vorlesung«, die bereits als bekannt und eingeführt behandelt wird. Wir wollen darin einen kleinen, aber feinen Beleg dafür sehen, dass und wie sich in diesem Moment das Sprechen bis in die Grammatik des Gesprochenen in die bereits eingerichtete soziale Situation einfügt. Wir haben damit genügend Indizien, dass das Ereignis, um das es hier geht, womöglich in einem interaktionstheoretischen Sinn schon längst begonnen hat, wenn die Dozierende das Wort ergreift. Die Transkription ist diesbezüglich ein stummes Dokument, weil sie ganz auf die ersten (mit Anspruch auf All-Inklusion) gesprochenen Worte fokussiert. Die Videoaufzeichnung erlaubt dagegen einen Einblick in das, was diesen Worten vorausgegangen sein muss, wie das folgende Standbild sichtbar macht, das die Dozentin im Moment der Begrüssung zeigt:
Abbildung 5: Moment der Begrüssung (»… eine Irritation …«)
Das Standbild macht anschaulich, dass es offenbar einen Vorlauf gibt: Die Beteiligten haben bereits ihre Plätze eingenommen, so dass es zu einer typisch »späten Verbalität« (Mondada und Schmitt 2010) kommt, wie das oft in Situa-
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tionseröffnungen innerhalb der institutionellen Kommunikation zu beobachten ist (s. noch unten). Das Sprechen beginnt erst, wenn die Situation bereits eingerichtet ist, d. h., wenn die relevanten sozial-räumlichen Positionierungen bereits erfolgt sind. Das ist nicht trivial; die Bearbeitung der Aufgabe der Situierung im Interaktionsraum (s. oben Abschnitt 2.) ist tatsächlich schon weitgehend abgeschlossen mit der Ausnutzung der architektonischen Benutzbarkeitshinweise durch das Einnehmen bestimmter Plätze: das Sich-Hinsetzen in den Bankreihen und die Positionierung auf dem Podium. In der im Internet zur Verfügung gestellten Videoaufzeichnung ist dieser ›Vorlauf‹ nicht dokumentiert (s. schon oben). Wir haben das zum Anlass genommen, die allmähliche Inanspruchnahme und ›Besetzung‹ eines Hörsaals in einer Reihe von Fällen zu dokumentieren. Die folgende Standbildfolge stammt aus einer Vorlesung an der Universität Zürich und zeigt Ausschnitte aus den letzten ca. 15 Minuten vor Einsetzen der ersten Worte des Dozenten. Zwischen den Standbildern einer Zeile vergehen jeweils ca. fünf Minuten (s. Abb. 6a–6f).
Abbildung 6a–6f: Standbilder zum Betreten des Hörsaals ›vor‹ der Vorlesung (Aufnahme: Nicolas Wiedmer)
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Offensichtlich dokumentieren diese Standbilder Momente einer Interaktion, in der die Beteiligten wahrnehmen können, dass sie sich wahrnehmen, so sehr diese wechselseitige Wahrnehmung sich auf Prozesse blosser Ko-Orientierung beschränken mag (s. oben Abschnitt 2), wiewohl die Bilder auch Prozesse von KoOrdination und Ko-Operation (z. B. beim gemeinsamen Betreten von Bankreihen) dokumentieren. Das im Einzelnen nachzuzeichnen, liefe schnell auf eine Studie eigener Art hinaus (die es meines Wissens noch nicht gibt). Hier kommt es darauf an zu sehen, dass sich die Beteiligten in einem Zug räumlich und sozial positionieren: Indem sie wie selbstverständlich die architektonischen Schlüsselelemente des Hörsaals in Kraft setzen (Sitzreihen vs. Podium), positionieren sie sich als Zuhörer (Studierende in zunehmender Anzahl) und Sprecher (Dozent – ab Standbild 6e im Bild). Kommt hinzu, dass auf dem letzten Standbild (6f) bereits zu sehen ist, dass der Dozent die Projektionsfläche für seinen Vortrag aktiviert hat (wie auch die Dozentin im vorausgegangenen Beispiel: s. oben Abb. 5) und die Studierenden ihrerseits die Schreib- und Leseflächen (wie das auf Abb. 5 ebenfalls zu erkennen ist). Damit sind die wesentlichen Elemente der Hörsaalarchitektur in Kraft gesetzt. Es ist also ein sehr voraussetzungsreiches soziales Geschehen, das in diesen rund 15 Minuten (der viel zitierten ›akademischen Viertelstunde‹) bereits in Gang gekommen ist, noch bevor die ersten Worte mit Anspruch auf All-Inklusion gesprochen werden. Darin zeigt sich in universitärer Ausprägung die für institutionelle Kommunikation typisch ›späte Verbalität‹ (s. oben), die dazu beiträgt, der Interaktionseröffnung ein spezielles Flair zu verleihen. Die ersten Worte sind bereits vorbereitet: Sie füllen einen Slot, der nicht durch verbale Interaktion vorbereitet ist, sondern durch die Aktivierung der architektonischen Benutzbarkeits-, Lesbarkeits- und Teilhabehinweise. Etwas interaktionstechnischer gesagt: Die Aufgabe der Situierung ist bereits weitgehend erledigt, wenn die ersten Worte erscheinen. Es hängt dann mit dieser bereits angelaufenen Situierung zusammen, dass die Eröffnung der Vorlesung auch mit ihren scheinbar so banalen Worten an dem partizipieren kann, was Roland Barthes (im Anschluss an Marcel Mauss) die »große soziologische Bewegkraft der Erwartung« genannt hat, wie sie für Zeremonien charakteristisch ist und von ihm am Beispiel des Auftritts eines Predigers im Pariser Sportpalast beschrieben worden ist: »… andere Intermezzi verlängern noch das Warten, heizen den Saal ein, geben im Voraus dieser Botschaft eine prophetische Bedeutung, die nach besten Schauspiel-Traditionen damit anfängt, sich begehren zu lassen, um schließlich desto leichter zu bestehen« (Barthes 1964, S. 11f.). Natürlich lässt sich das Aufheizen eines Saales nicht mit dem Warten auf den Beginn der Vorlesung gleichsetzen. Aber dass die Erwartung an den sich nahenden Beginn und mit ihr eine spezifische Spannung mit dem Sich-Füllen zumal eines grossen Hörsaals durch ein Massenpublikum studentischer Zuhö-
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rerinnen und Zuhörer immer mehr zunimmt, ist nicht von der Hand zu weisen. Einen wie immer abgeschwächten Sprachhandlungsausdruck davon finden wir noch in der performativen Begrüssung (»ich darf sie herzlich …«, s. oben Ausschnitt 1, Z. 01). Freigestellt von der Aufgabe der Situierung können die sprachlichen Ressourcen bereits für die zeremonielle Rahmung des anlaufenden Ereignisses genutzt werden. Darin u. a. liegt die Funktionalität der gebauten Institution für die in ihr ablaufende ›institutionelle‹ Kommunikation. Erving Goffman hatte solche Ergänzungsverhältnisse zwischen den Ressourcen der Interaktion wohl durchaus schon im Blick, wenn er formuliert hat, dass das natürliche Zuhause der Sprache eines sei, in dem die Sprache nicht immer zu Gast sein muss (vgl. Goffman 1964). Die ›späte Verbalität‹ ist beredter Beleg dieses Ergänzungsverhältnisses und deshalb kein Versehen, sondern eine höchst funktionale Erscheinungsform institutioneller Kommunikation.
5.2
Wenn die Vorlesung beginnt: Vor dem Podium
Abschliessend soll kurz eine Art Gegenbeispiel angeführt werden. Zum einen lässt sich auf diese Weise zeigen, dass die Interaktionsarchitektur des Hörsaals kein Zwangsmechanismus ist, der den Anwesenden keine Wahl lässt. So sehr die Interaktionsarchitektur (gerade des Hörsaals) ein Motor für das Aufkommen höchst robuster Erwartungen und Erwartungserwartungen ist, so wenig kann sie determinieren, was unter diesen baulichen Bedingungen als Interaktion tatsächlich in Gang kommt – und verhindern, dass Anwesende Positionen einnehmen, die von der Architektur her nicht vorgesehen sind. Zum anderen lässt sich zeigen, dass mit einem solchen Abweichen von und Ausser-Kraft-Setzen der baulich manifestierten Erwartungen diese selbst nicht gleich aus der sozialen Welt sind. Vielmehr bieten sie einen Hintergrund, vor dem das offenkundige Auslassen eines Benutzbarkeitshinweises als solches besonders markant hervortreten kann. Die folgende Standbildfolge setzt in dem Moment ein, in dem die ersten Worte gesprochen werden. Die hinzugefügte Grafik veranschaulicht den Bewegungsablauf. Es handelt sich um den Beginn einer Mathematikvorlesung:
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Die Betretbarkeit der Institution
hh8 guten TAG meine damen und herren- (.) ich begrüsse sie sehr HERZlich, (-)
8h es ist ((unverständlich, ca. 0.1 Sek.)) (-) ein SPANnender moment-
h8_8h für MICH (.) jedes mal wieder, 8hh ANfänger- zu unterrIchten (.) anfänger unterrichten zu DÜRfen?
8h ich beMÜhe mich- so verständlich wie möglich zu SEIN? (.)
8h aber das viel tollere ist ja eigentlich für !SIE!, (–)
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Abbildung 7a–g: Begrüssung vor dem Podium mit Bewegungsablauf (Darstellung und Layout: Andi Gredig)
Wenn man sich anhand der Skizze die Laufbewegungen des Dozenten vor dem Podium veranschaulicht, wird deutlich, dass der Verzicht auf die Positionierung auf dem Podium mit einem vermehrten Einsatz körperlicher Ressourcen einhergeht. Während die Dozentin hinter dem Rednerpult mehr oder weniger auf Gestik und Mimik und Stimme reduziert wird, erscheint der Dozent in diesem Beispiel als eine Art beweglicher Ganzkörper, der mit dem Wechsel der Geh- und Blickrichtungen (in der Graphik durch die Spitzen angezeigt) eine weitere Ressource ins Spiel bringt. Zunächst fällt natürlich auf, dass der Dozent für das, was er macht, nicht die architektursemiotischen Vorgaben des Hörsaals nutzt (die Kathedra auf dem Podium), sondern einen Zwischenbereich ausfüllt, der zwar betretbar ist, aber in der Hörsaal-Architektur dafür nicht vorgesehen ist: der Raum zwischen dem Podium und der ersten Bankreihe, der in gewisser Weise einen »Nicht-Ort« (Aug8 1994) darstellt, der offensichtlich nicht zum Verweilen gedacht ist, aber den Dozenten in seinem Bewegungsverhalten besonders exponiert und den Studierenden nahe kommen lässt. Dazu passt, dass der Dozierende die Studierenden zunächst nicht performativ, sondern tendenziell reziprok begrüsst (»Guten Tag meine Damen und Herren«) und anschliessend nicht von der »Vorlesung«, sondern von »unterrichten« spricht. Er wählt also eine stark dialogund interaktionsorientierte Semantik, und er verkörpert genau diese Botschaft, indem er sich in den Nicht-Ort zwischen Podium und erster Bankreihe begibt, dort auf und abgeht und sich damit über die Interaktionsverhinderungsarchitektur des Hörsaals (s. oben Abschnitt 4) in gewisser Weise hinwegsetzt. Die Darstellung lebt deshalb in ihren verkörperten und ihren sprachlichen Anteilen vom Kontrast zur Vorlesung, ohne dass dieser Interaktionstyp, der durch die Architektur des Hörsaals in seinen interaktionsfeindlichen Ausprägungen allgegenwärtig ist, eigens benannt werden muss. Auch hier zeigt sich also, dass und wie auch in diesem Fall die Interaktionsarchitektur als Ressource genutzt werden kann, die die sprachliche Interaktion von der Aufgabe der Situierung entlastet und für weitergehende Aufgabenbearbeitungen (z. B. im Sinne der Rahmung, s. oben Abschnitt 2) verfügbar macht. Diese Art von Multimodalität wäre ohne die
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143
Interaktionsarchitektur des Hörsaals nicht denkbar – gerade auch in dem Moment, in dem sie lokal ausser Kraft gesetzt wird. Wie immer man diese kurzen Fallbemerkungen weiterführen könnte, zeigt sich vielleicht auch so, wie unangebracht es wäre, die Interaktionsarchitektur in ihrer materialen Gestalt gegen den Interaktionsraum in seiner augenblicksbezogen-flüchtigen Erscheinung auszuspielen. Die Interaktionsarchitektur- und die Interaktionsraumanalyse begründen jeweils Analysen eigener Art. Beide sind wichtig und sinnvoll, wenn wir das, was die Kommunikation in Institutionen ausmacht, in ihrer Charakteristik erfassen wollen.
6
Fazit: Interaktionsarchitektur als Zugang zur Institutionalisierung der Kommunikation
Im vorliegenden Beitrag wurde am Beispiel der Vorlesung im Hörsaal, einem prototypischen Fall institutioneller Kommunikation, zu zeigen versucht, wofür das im Titel verwendete Stichwort der Betretbarkeit der Institution steht und wie die sich aus dieser Betretbarkeit entfaltende Interaktionsarchitektur der jeweiligen Institution einen naturgemäss sprachorientierten linguistischen Zugriff auf den Gegenstand der institutionellen Kommunikation bereichern könnte. Dazu wurde ein Konzept von Interaktionsarchitektur eingeführt, das in den architektonischen Erscheinungsformen des gebauten und gestalteten Raumes materiale Sedimente eingespielter Routinelösungen für genuin interaktive Probleme sieht, also im Hörsaal die Lösung von Problemen des Interaktionstyps ›Vorlesung‹. Architektur erscheint dann als anschaulich, begreifbar, begeh- und betretbar gewordene Form der Lösung von Kommunikationsproblemen. Für dieses Verständnis ist der Fall der institutionellen Kommunikation besonders aufschlussreich: In dem Masse, in dem kommunikative Problemlösungen routinehaft institutionalisiert werden, scheint die Lösung dieser Probleme mehr und mehr auch in der Form ›Architektur‹ zu erfolgen. Es ist deshalb kein Zufall, dass, wie am Anfang erwähnt, die modernen Funktionssysteme der Gesellschaft typischerweise eine Stein gewordene Manifestation angenommen haben und damit betretbar geworden sind. Die Interaktionsarchitektur unserer modernen Institutionen könnte insofern wichtige Beiträge liefern für eine Einsicht in die Art von Problemen, die darin alltäglich und hoch routinisiert gelöst werden. In diesem Sinn haben wir versucht, anzudeuten, wie man die ›Vorlesung‹ in ihrer Spezifik als Interaktionsereignis nicht nur – wie wir das bis heute gewohnt sind – aus ihrer aktuellen Vollzugswirklichkeit, sondern auch und gerade aus der Interaktionsarchitektur des ›Hörsaals‹, also aus ihrer gebauten Wirklichkeit, herauslesen könnte. Das wäre die Perspektive einer Archäologie der Interaktion, wie
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sie sich besonders am Gegenstand der institutionellen Kommunikation auf anschauliche Weise bewähren dürfte.
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Luzia Plansky (Diex)
Gesprächsanalyse im Kommunikationstraining? Ein Erfahrungsbericht mit einer neuen Zielgruppe
1
Einleitung
Die Frage der praktischen Anwendbarkeit von Gesprächsanalyse im Trainingskontext beschäftigt GesprächsanalytikerInnen mittlerweile seit vielen Jahrzehnten (Fiehler und Sucharowski 1992; Meer und Spiegel 2009) und wird mit jedem neuen institutionellen Setting, das beforscht wird, wieder aktuell. Werden nicht konkret institutionelle Zusammenhänge beforscht und trainiert, so sind es konkrete kommunikative Probleme, für die die Gesprächsanalyse im Trainingskontext Lösungen zu erarbeiten versucht. Wie zum Beispiel die in Meer und Spiegel (2009) veröffentlichten Trainingskonzepte zeigen, gibt es gute Gründe, gesprächsanalytische Forschungsergebnisse jenen Menschen zugänglich zu machen, die sich ›beforschen‹ und ihr kommunikatives Verhalten analysieren lassen: gesprächsanalytische Trainings verbessern die Gesprächsqualität und erhöhen den ›institutionellen Output‹, die Handelnden in den Institutionen werden zufriedener und selbstbewusster in ihren Aufgaben. Die Gesprächsanalyse verfügt also über umfassendes, empirisch gesichertes Wissen und viel Erfahrung in der Konzeption und Durchführung von Kommunikationstrainings. Dennoch findet sich auf dem ›freien Trainingsmarkt‹ sehr wenig linguistische Kompetenz (Fiehler und Schmitt 2007: 342). Dieser Artikel soll eine neue Möglichkeit des Transfers von linguistischem Wissen aufzeigen, welche einen Schritt über die Transkriptarbeit hinaus geht und versucht, allgemeingültigere Trainingsinhalte zu schaffen mit dem Ziel, gesprächsanalytisch fundierte Trainings auf dem freien Markt niederschwellig, berufsunabhängig und thematisch offen zu positionieren. Nach einigen theoretischen Vorüberlegungen (Abschnitt 2) werden in Abschnitt 3 die allgemeinen Vorbedingungen erläutert, die zu dieser neuen Trainingskonzeption geführt haben. Abschnitt 4 zeigt exemplarisch einzelne Aspekte der Trainingskonzeption auf. Abschließend werden in Abschnitt 5 die Konsequenzen dieser Neudefinition für die Rolle einer/eines GesprächsanalytikerIn als TrainerIn diskutiert.
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Luzia Plansky
Vorüberlegungen
Aus mehreren Gründen sind gesprächsanalytisch fundierte Trainings in ihrer derzeitigen Form als sehr hochschwelliges Angebot einzustufen. Ihr Entstehungszusammenhang ist stark institutionell geprägt. Auf der einen Seite sind gesprächsanalytische Trainings der Abschluss von Gesprächsforschung in der Institution, d. h. ein Training ist als Feedback an die beforschte Institution zu sehen. Auf der anderen Seite äußern VertreterInnen einer Institution den Wunsch nach Trainings, wodurch diese als Resultat von Auftragsforschung entstehen. Unter diesen Voraussetzungen sind gesprächsanalytische Trainings auch immer zielorientiert, d. h. durch das Training sollen bestimmte Ziele (effizientere Gesprächsführung, stärkere Kundenorientierung etc.) erreicht werden. Unabhängig vom Entstehungszusammenhang der Trainings werden diese immer für die AgentInnen der Institution konzipiert. Inhaltlich stehen also das Erlernen und die Veränderung institutioneller Gesprächsaufgaben im Vordergrund. Dies bedeutet umgekehrt, dass Personen, die unabhängig von ihrer beruflichen Situation den Wunsch nach Veränderung ihrer Kommunikation haben, kaum auf gesprächsanalytische Trainingskonzepte aufmerksam werden können. Auch das inzwischen als Standard zu definierende Design gesprächsanalytischer Trainingskonzepte (u. a. Fiehler und Schmitt 2007; Fiehler 2009; BeckerMrotzek und Brünner 2002) trägt für viele mögliche Zielgruppen zur geringen Attraktivität bei. Die notwendigen Vorarbeiten der Datenaufzeichnung und Analyse sowie der schleifenhafte Charakter mit eingeplanten Erprobungsphasen bedeuten einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand für die AuftraggeberInnen. Während eine Institution diesen Aufwand leisten kann und auch sicherstellt, dass die Datenerhebung gelingen kann, ist dies für interessierte Einzelpersonen ein unter vielen Umständen kaum durchführbares und leistbares Design. Neben dem hohen finanziellen Aufwand scheint vor allem die Frage der Erhebung authentischen Materials ein unlösbares Problem zu sein. Durch die hohe institutionelle Spezifität wird hochwertige Trainingsarbeit möglich, andererseits verunmöglicht es gerade die starke situations- und gesprächsspezifische Arbeit mit Transkripten, verallgemeinerbare Aussagen entwickeln zu können. Für die Trainings selbst bedeutet dies, dass sie für diese spezifische Trainingssituation Gültigkeit haben, Trainingsempfehlungen aus einem Setting aber nicht unbedingt auf Trainings in anderen Settings übertragbar sind. Für GesprächsanalytikerInnen als TrainerInnen bedeutet dies nochmals einen immensen Zeit- und Arbeitsaufwand, da für jedes neue Training neue Inhalte produziert und ›trainierbar‹ gemacht werden müssen.
Gesprächsanalyse im Kommunikationstraining?
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Es sind also genau jene Aspekte, die ein gesprächsanalytisches Training einzigartig machen, die einer weiteren Verbreitung auf dem Trainingssektor im Weg stehen. Trainingskonzepte aus anderen Wissenschaftsbereichen mit anderen Grundannahmen und Zielsetzungen schaffen es besser die Anforderung zu erfüllen, effiziente, leistbare und damit niederschwellige Angebote zu konzipieren. In den weiteren Abschnitten möchte ich nun zeigen, wie die Notwendigkeit, ein Trainingskonzept für eine sehr heterogene Zielgruppe zu entwickeln, mir Möglichkeiten aufgezeigt hat, gesprächsanalytische Inhalte niederschwellig und wesentlich weniger zeit- und kostenintensiv aufzubereiten. Ziel war es dabei, wissenschaftlich fundierte Trainingsinhalte zu gestalten, die ein sprach- und gesprächssensibles Training ermöglichen. Dazu war es notwendig, einige Vorannahmen gesprächsanalytischer Trainings zu überdenken: 1. Trainings müssen nicht immer einen konkreten institutionellen Auftrag erfüllen, es kann in Trainings auch ›nur‹ darum gehen, die Sensibilität für die eigene Gesprächsführung zu erhöhen und das Bewusstsein für Kommunikationsprozesse unabhängig von Gesprächstypen und -situationen auf verschiedenen Ebenen (Kallmeyer 1997) zu schärfen. 2. Trainings müssen zwar auf empirischen Erkenntnissen gestützt sein, es muss aber nicht immer die Gesprächsanalytikerin/der Gesprächsanalytiker sein, der diese Ergebnisse präsentiert – haben TeilnehmerInnen die Möglichkeit, sich Erkenntnisse selbst zu erarbeiten, ist der Lernerfolg erfahrungsgemäß größer. 3. Es reicht nicht aus, gesprächsanalytische Trainings mit Trainingsmethoden aus anderen Bereichen zu ergänzen; eine Verflechtung gesprächsanalytischen Wissens mit Methoden der Erwachsenenbildung macht ein intensiveres Erleben von Gesprächsführung möglich und führt so zu langfristigen, nachhaltigen Lerneffekten.
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Zielgruppen und Trainingskontext
Die von mir konzipierten Trainingsinhalte haben ihr aktuelles Design vor allem der Zielgruppe und dem Trainingskontext zu verdanken, weshalb ich diese beide Faktoren beschreiben möchte, bevor ich auf die Trainingsphasen und -methoden eingehe. Konkret gestalte ich je einen Trainingstag zum Thema ›Kommunikation‹ in zwei unterschiedlichen Kursdesigns (im Folgenden als Kurs A und Kurs B bezeichnet), die von der öffentlichen Hand finanziert und von zwei unterschiedlichen Erwachsenenbildungseinrichtungen in Kärnten umgesetzt werden. Ziel beider Kurse ist der Wiedereinstieg der als langzeitarbeitslos eingestuften TeilnehmerInnen in den Arbeitsmarkt.
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Während in Kurs A der Fokus auf die Stabilisierung und Weiterbildung der TeilnehmerInnen gelegt wird, steht in Kurs B die persönliche Weiterentwicklung und die Erarbeitung eines beruflichen Ziels im Vordergrund. In Kurs A ist der Trainingstag zum Thema ›Kommunikation‹ nicht in einen thematisch entsprechenden Kontext eingebunden, d. h. die TeilnehmerInnen bekommen davor und danach gänzlich andere Trainingsinhalte vermittelt. In Kurs B ist der von mir gestaltete Trainingstag zwar auch durch andere Themen gerahmt, findet jedoch seine Fortsetzung in weiteren Kommunikationsthemen (Körpersprache, Stimmbildung), die von anderen TrainerInnen abgedeckt werden. Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung können gewisse Gemeinsamkeiten festgehalten werden, die maßgeblich das Trainingsdesign beeinflussen: 1. In beiden Kurskonzeptionen werden globale Trainingsziele für den gesamten Kursverlauf vorgegeben. Das bedeutet, dass die TeilnehmerInnen das Thema ›Gesprächsführung und Kommunikation‹ nicht freiwillig wählen können und beinahe jeden Tag mit einem anderen thematischen Schwerpunkt konfrontiert sind. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit gebotenen Inhalten oder eine weitere Trainingseinheit zum selben Thema sind in beiden Kurskonzeptionen nicht vorgesehen. Eine Evaluation des Lernerfolges fehlt ebenfalls. 2. Im Training befinden sich TeilnehmerInnen, die sehr unterschiedliche Berufs- und Lernbiografien und daher ganz unterschiedliche Erfahrungen, Einstellungen, Wissensstände und Bewertungen zu den Themen Kommunikation, Gesprächsführung und Schulung von Gesprächskompetenz mitbringen. Resultat dieser Heterogenität in der Kommunikationspraxis (Fiehler und Schmitt 2007) ist eine individuell sehr stark variierende Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen. Die Trainingstage finden vormittags statt und dauern maximal sechs Stunden.
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Umsetzung
Vor dem bisher beschriebenen Hintergrund stellt sich die Frage, welche Ziele ein Kommunikationstraining erreichen kann. Wenn es nicht darum geht, spezifische Gesprächsaufgaben oder -typen zu erarbeiten und zu trainieren, wenn das Interesse der TeilnehmerInnen nicht selbstverständlich ist und zudem noch die Zeit für ein Training sehr knapp bemessen ist, was kann ein gesprächsanalytisches Training dann bieten? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Einfachheit. Ziel der Trainingstage ist es für mich, bei den TeilnehmerInnen eine Sensibilisierung für Kommunikation und Gesprächsführung zu erreichen und ihnen Mittel und Wege aufzuzeigen, wie sie das eigene Gesprächsverhalten – aber auch das ihrer GesprächspartnerIn-
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nen – reflektieren und differenzieren können, um in einem nächsten Schritt neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln und anwenden zu können.
4.1
Einschränkungen
Die Spezifik der Zielgruppe begründet dabei zwei Entscheidungen: Auf Rollenspiele wird verzichtet, da es keine Zielvorgaben für das Training gibt. Die Auswahlmöglichkeiten an trainierbaren Gesprächssituationen wäre also viel zu groß, um hier eine für alle TeilnehmerInnen sinnvolle Auswahl treffen zu können. Unter den oben genannten Voraussetzungen ist auch anzunehmen, dass die Bereitschaft, sich auf ein Rollenspiel einzulassen, nur sehr gering wäre – die Wahrscheinlichkeit, dass die Beteiligung am Rollenspiel lediglich dem Ziel dienen würde, das sekundäre Ziel »Rollenspielveranstaltung« (Bliesener 1994: 15) zu erreichen, wäre sehr hoch. Ziel kann es also nicht sein, bestimmte Gesprächsformen oder -typen zu trainieren, vielmehr liegt der Fokus auf einer breiten Auseinandersetzung mit dem Thema ›Kommunikation‹. Zusätzlich können Rollenspiele eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst fordern (Fokus inneres Erleben nach Bliesener 1994). Da jedoch nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht, könnten die durch Rollenspiele entstehenden (v. a. psychologisch relevanten) Themen nicht oder nur ansatzweise bearbeitet werden und würden so mehr Problematisches als Hilfreiches hinterlassen. Die Arbeit mit Transkripten als Kernelement gesprächsanalytischer Arbeit wird stark reduziert, indem Gesprächsausschnitte nur zu spezifischen Themen und in vereinfachter Form vorgestellt werden (Anschauungstranskripte nach Meer 2009: 22). Die Eindeutigkeit und gute Lesbarkeit sowie die Verständlichkeit stehen hier im Vordergrund. Details und Hintergrundwissen werden bei Nachfragen als Zusatzinformationen vermittelt. Diese Entscheidung ist mit der kurzen Trainingszeit zu begründen. Ein Transkript lesen zu lernen, egal mit welchem System es erstellt wurde, ist eine intensive Lernerfahrung, die viel Zeit und Lernaufwand bedeutet. Da nicht auf ein bestimmtes Trainingsziel hingearbeitet wird und es nicht um die Weiterentwicklung bestimmter Gesprächsaufgaben oder die bessere Gestaltung von Gesprächsbeiträgen (Fiehler 2009: 2390) geht, ist eine solch intensive Auseinandersetzung mit Gesprächsdetails nicht zielführend. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die gesprächsanalytische Grundlage der Arbeit mit Transkripten verloren geht. Vielmehr entsteht durch die Reduktion ein Ansatz, der die analytische Arbeit in den Hintergrund stellt, jedoch das spielerische Erleben von Kommunikationsphänomenen und die gemeinsame Suche nach Lösungen betont. Da die Arbeit mit Transkripten auch mir nicht dazu geeignet scheint, kommunikative Handlungsalternativen zu entwickeln, zu
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erproben und zu festigen (Lepschy 2002: 62), muss diese Anforderung an ein Training durch andere Methoden erfüllt werden. Diese Überlegung bedeutet für die Arbeit als Trainerin natürlich auch bereit zu sein, Methoden und Arbeitsweisen aus anderen Trainingsansätzen zu integrieren und sich nicht immer auf gesprächsanalytisch basiertem Terrain zu bewegen.
4.2
Trainingsphasen und praktisches Handeln
Ein Trainingstag gliedert sich in vier Phasen, die auf einander aufbauen. Die Abfolge hat das Ziel, das Bewusstsein für Sprache und Sprachverwendung zu stärken, indem die eigenen Ressourcen im Gespräch aktiviert werden. Es soll geübt werden, bewusst und fokussiert Gesprächsgeschehen zu beobachten, damit Kommunikationsprobleme erkannt und vermieden werden können (Fiehler 2009). Dazu werden verschiedenste Methoden eingesetzt, die – wie von Lepschy (2002: 62) unterschieden – mehr oder weniger stark analytische und reflexive Anteile aufweisen. Ihnen allen ist das Ziel gemeinsam, den TeilnehmerInnen die Entwicklung von Handlungsalternativen zu ermöglichen, die ihren eigenen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Vorstellungen von gelungener Gesprächsführung möglichst entsprechen. Im Folgenden werden die vier Phasen eines Trainingstages dargestellt. Die vorgestellten Methoden wurden willkürlich ausgewählt und stellen keinen vollständigen Trainingstag dar. Phase 1: Sensibilisierung Der Trainingstag beginnt mit der Sensibilisierungsphase, weshalb ihr besondere Aufmerksamkeit zukommt. Hier wird nicht nur der Grundstein für die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesprächsführung gelegt, sondern auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in der Gruppe gefördert. Neben organisatorischen Aspekten (Pausenzeiten etc.) werden wichtige Regeln zur Zusammenarbeit festgelegt. Da meist kaum Erfahrungen mit Kommunikationsseminaren vorhanden sind, dient die Sensibilisierungsphase vor allem der Hinführung zu den Themen ›Sprache‹ und ›Sprachverwendung‹ sowie der Konkretisierung von Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen der TeilnehmerInnen. In diese Phase fällt auch die Vorstellung der Gesprächsanalyse als Teil der Sprachwissenschaft. Meine Erfahrungen in diesem Trainingssetting haben gezeigt, dass es bei den TeilnehmerInnen sehr wenig Bewusstsein für die eigene Sprachbiografie und Sprachverwendung gibt, weshalb es hier vorrangig darum geht, unbewusste und
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halb-bewusste Einstellungen zu Sprache, implizite Normen und Haltungen sowie die Vielfalt eigener Sprachverwendung ins Bewusstsein zu rücken. Durch Einstiegsfragen nach den individuellen Sprachbiografien (Erstsprache, mögliche Zweitsprachen, Fremdsprachen, längere Auslandsaufenthalte) aber auch nach besonderen kommunikativen Erlebnissen wird die Wichtigkeit der sprachlichen Identität fokussiert. Im weiteren Diskussionsverlauf sehe ich es als Aufgabe der Gesprächsanalytikerin in der Rolle als Trainerin, laienhafte Vorstellungen von Sprachverwendung und stark alltagsweltlich geprägte Interpretationen durch differenzierende Informationen zu re-interpretieren und neue Sichtweisen anzubieten. In diese frühe Phase des Trainingstages fällt auch die Aufgabe, die Gesprächsanalyse als eigenständige, wissenschaftlich fundierte Perspektive auf Gesprächsverhalten einzuführen und damit ein für die meisten TeilnehmerInnen völlig neues Konzept zu positionieren. Wie auch Fiehler und Schmitt (2007: 342) bemerken, sind es hauptsächlich psychologische oder nachrichtentechnische Kommunikationsmodelle, die den TeilnehmerInnen bekannt sind, das umfangreiche Wissen der Sprachwissenschaft und ihrer Teildisziplinen fehlt. Phase 2: Reflexion In dieser Phase des Trainings lege ich den Fokus darauf, eigene Vorstellungen von ›gelungener Kommunikation‹ zu erarbeiten (Zieldefinition) und ganz bewusst die Wahrnehmung für das eigene sprachliche Verhalten zu schärfen. In einem mehrstufigen Reflexionsprozess versuchen die TeilnehmerInnen, Antworten auf folgende Fragen zu finden: – Was ist für mich gelungene und nicht-gelungene Kommunikation? – Welche für mich guten und schlechten Verhaltensweisen zeige ich in Gesprächen? – Was erwarte ich mir im Gespräch von meinem Gegenüber? – Was könnte ich anders machen? Was will ich anders machen? Da die Gesprächsanalyse keinen Ansatzpunkt bietet, ohne Transkriptarbeit die Reflexion über Sprache und Sprachverwendung anzuregen, muss in dieser Phase auf Methoden aus anderen Trainingsbereichen zurückgegriffen werden. Ich möchte kurz auf zwei Methoden eingehen, die dem Bereich des kooperativen Lernens (Konrad 2010; Huber 2004) entnommen sind. Ausgangspunkt ist das freie Assoziieren, welches Vorerfahrungen aktualisieren soll und diese zur Grundlage einer Gruppendiskussion macht. Damit wird das Lernen in Gruppen gefördert und es werden Anregungen gegeben, eigene Wissens- und Erfahrungsstände zu überdenken und gegebenenfalls um zusätzliche Informationen und Gedanken zu erweitern.
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Übung 1: Reflexion der Sprecher- und Hörerrolle Ablauf: Mit der bewusst sehr allgemein gehaltenen Fragenbatterie ›Was machen gute/schlechte SprecherInnen? Welches Gesprächsverhalten ist Ihnen schon positiv/negativ aufgefallen?‹ bzw. ›Was machen gute/schlechte ZuhörerInnen? Welches Verhalten ist Ihnen schon positiv/negativ aufgefallen?‹ erarbeiten die TeilnehmerInnen in Einzelarbeit eine Sammlung an positiven wie negativen Aspekten der beiden Rollen. Danach werden alle Ideen gemeinsam auf einem Flipchart gesammelt. In einem zweiten Schritt werden die TeilnehmerInnen dazu aufgefordert, durch das Aufkleben von Stickern zu markieren, welche der genannten Aspekte sie auch persönlich betreffen, nach dem Schema ›Ich sehe mich als gute Sprecherin/als guten Sprecher, weil …‹ Abschließend werden die genannten Aspekte von mir nach folgenden Leitfragen strukturiert: – Welche Aspekte sind überhaupt (von mir) beeinflussbar? – Welche Aspekte sind Themen der Gesprächsanalyse, welche Aspekte sind Thema anderer Wissenschaftsdisziplinen? Die Flipcharts werden dann gut sichtbar im Seminarraum angebracht, um als Erinnerungshilfe für den gesamten Trainingstag zur Verfügung zu stehen. Ziel: Diese Übung dient vor allem dazu, den TeilnehmerInnen zu zeigen, wie vielfältig die Verwendung von Sprache ist, welche unterschiedlichen Perspektiven es auf das Thema geben kann und natürlich im Besonderen – auf die Trainingssituation bezogen – welche Themen und Aspekte in der Gruppe wichtig und besprechenswert sind. Auch zeigt dieses Vorgehen sehr deutlich, wo individuell Stärken und Schwächen wahrgenommen werden. Besonders spannend ist in dieser ersten Übungsphase die Frage, was die TeilnehmerInnen als kompetentes Gesprächsverhalten wahrnehmen und wo sie selbst Problemlagen sehen (vorwissenschaftliches Verständnis). Für mich als Trainerin wird bereits in dieser Phase deutlich, welche Gesprächsebenen die TeilnehmerInnen besonders bewusst wahrnehmen und welche Aspekte von Gesprächsführung kaum wahrgenommen werden. Damit kann ich bereits an dieser Stelle des Trainingstages Entscheidungen treffen, in welche Richtung weitergearbeitet werden sollte. Übung 2: placemat »gute Gespräche« Der Ablauf gestaltet sich folgendermaßen: In Vierergruppen bekommen die TeilnehmerInnen ein großes Blatt Papier, das in vier Sektoren unterteilt ist. Pro Sektor hat jedeR TeilnehmerIn 30 Sekunden Zeit, eigene Assoziationen, Ideen etc. zu einem vorgegebenen Thema (›Gute Gespräche sind…‹ oder ›Gute Gespräche führen‹) zu verschriften. Danach wird das Blatt weitergedreht, sodass jedeR TeilnehmerIn vor dem Sektor einer anderen Person sitzt. Nun haben die
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TeilnehmerInnen wieder 30 Sekunden Zeit, zu den Vorgaben neue Assoziationen zu entwickeln und eigene Gedanken dazu zu verschriften. Der Ablauf wiederholt sich, bis wieder jede Person vor dem ›eigenen‹ Sektor sitzt. Ziel dieser Methode ist es, das Vorwissen der TeilnehmerInnen zu aktivieren, persönliche Normen und Einstellungen abzurufen, eine Vielfalt an Assoziationen zu aktivieren und durch die Zusammenarbeit einen Reflexionsprozess anzuregen. Neben diesen beiden Übungen kommen je nach Gruppeninteresse, Gruppenzusammensetzung und Vorwissen noch andere Übungen zum Einsatz, die jedoch alle dem Ziel dienen, das Thema einzuführen, Reflexion anzuregen und eine Arbeitsbasis in der Gruppe zu entwickeln, die für diesen Trainingstag von allen TeilnehmerInnen und der Trainerin als Grundlage akzeptiert werden kann (z. B. sprachbiografische Arbeit nach Busch 2011; Partnerinterviews, freies Schreiben etc.). Die Sensibilisierungs- und Reflexionsphase haben keinen streng getrennten Verlauf. Aus den Vorgaben wird bereits deutlich, dass beide Aspekte in allen Übungen relevant sind. Interessant ist hier vor allem das aus den Übungen resultierende Bild. Von besonderem Interesse ist hier die starke Differenz in den Vorstellungen zu Sprache und Sprachverwendung im Vergleich mit anderen Zielgruppen, für die die Gesprächsanalyse bereits Trainings entwickelt hat. Während in vielen Berufen häufig die Vorstellung anzutreffen ist, Sprache sei ein Instrument, das nur ›richtig‹ eingesetzt werden müsse, um Ziele zu erreichen, findet sich diese Vorstellung in dieser heterogenen Zielgruppe kaum. Vielmehr berichten mir TeilnehmerInnen häufig, sie würden von anderen Personen durch deren Sprachverwendung und Gesprächsverhalten manipuliert werden und hätten selbst keine Chance, zu ihrem Vorteil zu handeln. Der Gedanke, Sprache selbst als ›Instrument‹ zu verwenden, ist nicht präsent. Paradoxerweise treffe ich ebenfalls sehr häufig auf ein klares Eins-zu-EinsDenken nach dem Schema ›Wenn ich das mache, dann macht er/sie das…‹ oder ›Wenn er/sie das macht, dann mache ich das…‹. Diese Widersprüchlichkeit erklärt sich meines Erachtens nach daraus, dass es kaum Bewusstheit für die Vielschichtigkeit von Kommunikation gibt, weshalb viele Phänomene des gemeinsamen sprachlichen Handelns für die TeilnehmerInnen nicht erklärbar sind und damit als ganzheitliche, nachträgliche Erinnerung rein auf der Beziehungsebene re-interpretiert werden und dort zu negativen Erinnerungen und Gefühlen umdefiniert werden. Die fehlende Differenzierung verschiedener Ebenen von Kommunikation (Kallmeyer 1977) führt auch dazu, dass sich die TeilnehmerInnen subjektive Eindrücke nicht nachvollziehbar erklären können und damit häufig ratlos aus missglückten Kommunikationssituationen hinausgehen.
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Ein weiteres Paradoxon wird in diesen ersten Phasen deutlich: Die eigene Wirkung in Gesprächen wird durchwegs unterschätzt, während den GesprächspartnerInnen jeweils sehr große Wirkung und auch Macht in den Gesprächen zugesprochen wird. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der TeilnehmerInnen ist sich der eigenen Wirkung und der eigenen Wirkmöglichkeiten bewusst und kann diese auch gezielt einsetzen. In diesen Zusammenhang fällt die Beobachtung, dass die TeilnehmerInnen kaum über eine ›Online-Kompetenz‹ verfügen, d. h. sie sind kaum dazu in der Lage, das eigene Gesprächsverhalten in der aktuellen Situation zu beobachten, zu reflektieren und spontan andere Strategien einzusetzen. Nach Ausschluss der nicht als gesprächsanalytisch fassbar zu machenden Themenbereiche, ergibt sich häufig ein vielfältiges Bild an bearbeitbaren Themen. Von Interesse sind meist: – körpersprachliche Aspekte (Blickkontakt, Haltung) – der Umgang mit Unterbrechungen und Störungen – Formulierungs-/Ausdrucksschwierigkeiten – (Fach-)wortschatz – Entstehen und Bearbeiten von Missverständnissen – Gestaltung von Beziehungsarbeit – Verständnissicherung Phase 3: Aktivierung Die Aktivierungsphase möchte die TeilnehmerInnen im Handeln verschiedene Aspekte von Gesprächsführung erleben lassen, nachdem sie theoretischen Input zu einzelnen Schwerpunkten erhalten haben. Nach einer theoretischen Einführung (Wissensvermittlung) wird in Form von Übungen das Wissen erlebbar gemacht, bevor in einem dritten Schritt die Übertragung des neuen Wissens und der neuen Erfahrungen in den kommunikativen Alltag angeleitet wird. Anders als von Bendel (2004: 68) kritisiert geht es hier also nicht darum, deskriptiv gewonnene Einsichten als normatives Regelwerk in das Training einzubringen. Die gesprächsanalytischen Einsichten über das Funktionieren von Gesprächen sollen bewusst erleb- und erfahrbar gemacht werden, bevor sie in einen Transformationsprozess übergeleitet werden. Ziel dieses Prozesses ist es, die TeilnehmerInnen in die Lage zu versetzen, ihr Erleben und ihre Erfahrungen mit den eigenen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verändern. Schritt 1: Wissensvermittlung Ziel der Wissensvermittlung ist es, den TeilnehmerInnen einen Einblick in die analytische Arbeit mit Gesprächsdaten zu geben und ihnen gleichzeitig ein umfassendes Beschreibungsinstrumentarium für Gesprächsphänomene zu lie-
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fern. Hier werden also gesprächsanalytische Analysekonzepte und -resultate vorgestellt, die für die weitere Arbeit notwendig erscheinen. Die Art und Weise der Präsentation und die Gestaltung von Übungselementen sollte hier so gewählt werden, dass je ein Aspekt einer Gesprächsebene im Vordergrund steht. Erst in einer den Trainingstag abschließenden Zusammenführung sollte es dann darum gehen, die erfahrenen und erlebten Teilaspekte zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Schritt 2: Erleben Ziel ist es, die TeilnehmerInnen ganz bewusst sprachliches Verhalten wahrnehmen, analysieren und interpretieren zu lassen. Um den Fokus in den Übungen möglichst auf den gewünschten Punkt zu lenken, wurden von mir Übungen entwickelt, die je einen Aspekt von Interaktion besonders hervorheben. Damit wird zwar der Detailgenauigkeit und Komplexität von Interaktion nicht Rechnung getragen, für die TeilnehmerInnen werden damit jedoch genau jene Aspekte sichtbar und erlebbar, die in dieser Trainingsphase wichtig sind. Im Folgenden werden verschiedenste Übungen vorgestellt, welche die praktische Relevanz der in Schritt 1 eingeführten theoretischen Konzepte erfahrbar machen und den TeilnehmerInnen im sicheren Rahmen des Trainings ein neues Erleben von Gesprächsführung ermöglichen. Schritt 3: Transformation Die Transformation des in den Übungen Erlebten und Gelernten lenkt den Fokus verstärkt auf die Umsetzbarkeit in der eigenen kommunikativen Praxis. Der in den Übungen beginnende Reflexionsprozess soll weitergeführt werden mit einem Fokus auf den eigenen kommunikativen Alltag. In diesem Schritt geht es darum, gemeinsam Einsatzmöglichkeiten der vorgestellten Methoden zu überlegen und praktische Handlungsmuster zu entwickeln. Im Folgenden möchte ich einige Übungen vorstellen, die in diese drei Schritte der Aktivierungsphase eingebettet werden. Die hier gewählte Reihenfolge entspricht jedoch nicht der Abfolge in einem tatsächlichen Trainingsverlauf. Vielmehr geht es mir darum, exemplarisch besonders gut erprobte Übungen vorzustellen, die durch viele positive Rückmeldungen von TeilnehmerInnen auch als besonders wirksam eingestuft werden können. Übung 3: Weghören Diese Übung entstand vor dem Hintergrund, dass viele TeilnehmerInnen von einer gefühlten ›Machtlosigkeit‹ in Gesprächen berichten und das Handeln ihrer GesprächspartnerInnen als ›übermächtig‹ empfinden. Gleichzeitig erlebe ich sehr oft, dass das Zuhören als wenig oder gar nicht wichtig eingestuft wird und
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dass es kein Bewusstsein über die Vielschichtigkeit der Handlungsmöglichkeiten und Funktionen in dieser Rolle gibt. Ziel dieser Übung ist es, den TeilnehmerInnen deutlich zu machen, wie sehr SprecherIn und HörerIn in einem Gespräch als voneinander abhängige Rollen definiert sind und in ihrer Kooperation durch laufende Wechsel gemeinsam Kommunikation herstellen (das Gespräch als gemeinsame Hervorbringung) und damit auch gemeinsam Verantwortung für den Gesprächsverlauf tragen. Es geht hier darum, mit dem häufigen Mythos aufzuräumen, dass ZuhörerInnen passive EmpfängerInnen von Informationen sind und keinerlei Einfluss auf das Gegenüber haben. Ein weiteres Ziel ist die Sensibilisierung für die Vielschichtigkeit des eigenen sprachlichen Handelns. Die TeilnehmerInnen sollen erleben, wie sehr sie mit ihrem Körper, ihrer Stimme und natürlich auch ihrer Sprache (Was formuliere ich wie?) auf ihr Gegenüber orientiert sind und in ihrem Handeln abhängig vom Gegenüber sind. In einem kurzen theoretischen Block spreche ich über die Wichtigkeit der Hörerrolle in Gesprächen. Dabei erkläre ich die Konzepte Rederecht und Sprecherwechsel und gebe Beispiele für verbales und nonverbales Zuhör-Verhalten bevor anhand von Anschauungstranskripten verschiedene Typen von Sprecherwechsel diskutiert werden. So vorbereitet gehen die TeilnehmerInnen in die Übung. Ablauf: Es werden Dreiergruppen gebildet, in denen jeweils drei Rollen realisiert werden müssen (SprecherIn, HörerIn und BeobachterIn), die so lange wechseln, bis jede Person einmal in jeder Rolle war. Die Aufgabe lautet nun, dass der/die aktuelle SprecherIn circa zwei bis drei Minuten über ein beliebiges Thema spricht, während der/die aktuelle HörerIn in dieser Zeit versucht, dem/ der SprecherIn möglichst nicht zuzuhören. Der/die BeobachterIn hat die Aufgabe, diese Gesprächssituation zu beobachten und Auffälligkeiten für eine spätere Diskussion zu dokumentieren. Vorbereitend biete ich eine breite Palette an möglichen Themen in Form von Themenkärtchen an. Diese umfassen typische Smalltalk-Themen, die sich gut eignen, die Gesprächszeit zu füllen, jedoch nicht zu persönlich werden, z. B. Hobbys und Interessen, Alltagsthemen wie ›Kochen‹ und ›Autofahren‹, aber auch typische biografische Themen, die häufig als einprägsam empfunden werden: ›meine Schulzeit‹, ›mein erster Urlaub‹ etc. In der abschließenden Besprechung der Übung im Plenum zeigen die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen regelmäßig, dass durch diese Übung das Lernziel erreicht werden kann: Sie erleben, wie wichtig Blickkontakt und Hörersignale auf verbaler und nonverbaler Ebene sowie die körperliche Koordination im Gesprächsraum sind.
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– SprecherInnen brechen ihren Redebeitrag ab, weil sie nicht sprechen können, wenn ihnen niemand zuhört. – BeobachterInnen werden zu ZuhörerInnen gemacht, weil sie Blickkontakt anbieten. – SprecherInnen beginnen auf verbaler und nonverbaler Ebene intensiv, Rückmeldungen einzufordern. – Das bewusste Unterdrücken von Hörerverhalten wird als sehr schwierig erlebt und zeigt, wie sehr wir in Gesprächen konventionalisiert und automatisiert handeln. In einer abschließenden Besprechung im Plenum wird erarbeitet, wie die TeilnehmerInnen die HörerInnenrolle nach dieser Übung neu definieren könnten und welche Implikationen diese Neudefinition für den kommunikativen Alltag hat. Ganz im Sinne des kooperativen Lernens steht auch hier die individuelle Lernerfahrung im Vordergrund. Aufgabe der Gesprächsanalyse kann es hier nur sein, von den TeilnehmerInnen selbst beobachtete Phänomene in einen größeren analytischen Kontext einzuordnen und eventuell notwendiges Hintergrundwissen zu liefern, um bestimmte beobachtete Phänomene besser erklären zu können (z. B. Welche Strategien gibt es, die Zuhörverhalten einfordern? Wie koordinieren GesprächsteilnehmerInnen die Teilhabe am Gesprächsraum miteinander? Welche Formen und Funktionen können Hörerrückmeldungen haben?)
Übung 4: ›Blinde Kuh‹ Ziel: Mit dieser Übung soll eine Sensibilisierung erreicht werden für die Frage, wie sehr wir alle unsere Sinneskanäle einsetzen, um miteinander zu kommunizieren bzw. wie sehr ›Störungen‹ eines Kanals die Kommunikation erschweren können. Gleichzeitig soll durch diese Übung deutlich werden, wie eng verschiedene Ebenen der Gesprächsführung miteinander verwoben sind und in Abhängigkeit zu einander stehen. Diese Übung ist die erste in einer Übungsreihe, die sich mit der Frage beschäftigt, wie vielfältig Perspektiven auf Kommunikation sein können. Die Übung bereitet den Weg für eine Diskussion über Vorstellungen von Kommunikation und Informationsfluss, wie sie in unterschiedlichen Kommunikationsmodellen (v. a. werden von den TeilnehmerInnen das Vier-Ohren-Modell [Schulz von Thun 1981], die Kommunikationsaxiome von Watzlawick [vgl. Watzlawik, Beavin & Jackson 1961: 53–70] und verschiedene Varianten des Sender-Empfänger-Modells [Shannon und Weaver 1949] genannt) transportiert werden. Ziel ist die Annäherung an eine gesprächsanalytische Herangehens-
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weise, die auf der Beobachtung authentischer Gespräche basiert und zuerst beschreibend das tatsächliche Geschehen fassbar macht. Der Ablauf sieht folgendermaßen aus: Zwei TeilnehmerInnen stellen sich entweder mit dem Rücken zueinander auf oder werden durch eine Pinnwand voneinander getrennt, damit sie sich nicht gegenseitig sehen können. Nun bekommt einE TeilnehmerIn die Aufgabe, der/dem Anderen eine komplexe Aufgabe anzuleiten, z. B. einen Krawattenknoten zu binden. Je nach Bereitschaft und Interesse der TeilnehmerInnen kann hier die Komplexität der Aufgabe erhöht oder reduziert werden. Eine zweite Variationsmöglichkeit ist die weitere Beschränkung der Interaktionssituation: Darf der/die AnweisungsempfängerIn Rückfragen stellen oder nicht? Die anderen TeilnehmerInnen werden auch hier als BeobachterInnen eingesetzt. Sie müssen je nach bisher bearbeiteten Themen unterschiedliche Aspekte dokumentieren: Versuchen die Interagierenden, sich körperlich einander zuzuwenden? Wie häufig kommen Hörersignale vor? Wie entwickelt sich der Gesprächsverlauf, wenn es zu Missverständnissen/Komplikationen kommt? Verändert sich die Stimmlage/das Sprechtempo? Woran wird erkennbar, dass beide an einer gemeinsamen Lösung arbeiten (Kooperation wahrnehmen)? Auch hier möchte ich eine Reihe von regelmäßig wiederkehrenden Rückmeldungen zusammenfassen, die zeigen, dass durch das aktive Erleben und Beobachten ein Reflexionsprozess über Sprache angeregt wird. Sind Rückfragen erlaubt, zeigt sich häufig folgendes Bild: – Die TeilnehmerInnen wiederholen gleiche oder ähnliche Formulierungen immer wieder (schleifenhafter Charakter). – Die anleitenden TeilnehmerInnen entwickeln sehr rasch Strategien um Rückmeldung einzufordern. – Die ausführenden TeilnehmerInnen entwickeln sehr schnell Strategien, um den Informationsfluss zu strukturieren (Bitte um Pause, Wiederholung, Reformulierung). – Mit zunehmender Komplexität der Aufgabe steigt die Intensität der Interaktion. Ist kein Rückmeldeverhalten erlaubt, kann die Aufgabe meist nicht erfüllt werden. – Demonstrativpronomen, Lokalangaben etc. werden missverstanden bzw. nicht verstanden. – Koordinierungsleistungen können nicht erfolgen (Pausen, Wiederholungen etc.). – Häufig können die anleitenden Personen keine konsistente, strukturierte Erklärung geben.
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– Der Versuch, die Aufgabe zu erfüllen, wird häufig abgebrochen, weil die Situation für die TeilnehmerInnen nicht erfüllbar erscheint. Abhängig von den Beobachtungen der TeilnehmerInnen und der anschließenden Diskussion wird die Übungsreihe je nach thematischer Entwicklung fortgesetzt. So kommen in weiterer Folge Übungen zu den Themen Frage-AntwortSequenzen, Klärung von Missverständnissen und Verständnissicherung, Formulierungsübungen für mehr Eindeutigkeit etc. zum Einsatz. Am Ende der Übungsreihe stehen nochmals die Fragen, welche Aspekte und Ebenen die TeilnehmerInnen nun differenzierter wahrnehmen, welche Aspekte als veränderbar wahrgenommen werden und welche Resultate der Übungen für den Transfer in den kommunikativen Alltag geeignet erscheinen. Den Übungen 3 und 4 ist gemeinsam, dass sie eine ›paradoxe Intervention‹ darstellen, d. h. das sprachliche Verhalten, das zuvor theoretisch besprochen und fallweise durch Anschauungstranskripte illustriert wurde, wird in den Übungen vermieden, unterdrückt bzw. verhindert. Genau dadurch gelingt eine Sensibilisierung für jene Aspekte, die durch die Arbeit mit Transkripten nicht erreicht werden kann: Die Vielschichtigkeit sprachlichen Handelns wird deutlich, das Kooperationsprinzip aller Beteiligten wird erlebt, das Fehlen bestimmter Aspekte betont deren Wichtigkeit für gelungene Kommunikation. Während diese Übungen noch auf einer sehr allgemeinen Ebene von Gesprächsführung angesiedelt sind, geht es im nächsten Übungsblock darum, einzelne von den TeilnehmerInnen häufig genannte Problemlagen zu thematisieren. Eines der am häufigsten genannten Kommunikationsprobleme ist das Gefühl der eigenen Sprachlosigkeit und damit einhergehender Schwierigkeiten, Gemeintes auch tatsächlich ausdrücken zu können. Während gesprächsanalytische Trainings diesem Problem häufig mit der Diskussion von ›Good-practice‹Beispielen entgegentreten (u. a. Menz et al 2008), besteht im hier beschriebenen, ergebnisoffenen Trainingskontext die Gefahr, einen stark normierenden und reglementierenden Effekt zu erzeugen. Deshalb arbeite ich in dieser Übungsreihe grundsätzlich mit Assoziationsmethoden, die an das mindmapping und cognitive mapping angelehnt sind, weil diese an den individuellen Ressourcen anknüpfen und situationsunspezifische Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. Abschließend soll eine Übung vorgestellt werden, die den Beginn der Übungsreihe zu diesem Themenschwerpunkt darstellt. Ähnlich verschiedenen Methoden im Fremdsprachenunterricht geht es hier darum, zuerst den Umfang des eigenen Wortschatzes sichtbar zu machen, bevor in einem nächsten Schritt der Wortschatz erweitert wird.
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Übung 5: Wortschatz Assoziationen Ziel dieser Übung ist es, den TeilnehmerInnen Methoden zu vermitteln, wie sie an ihrem eigenen Wortschatz arbeiten können mit der Absicht, durch einen spielerischen Zugang zu Sprache den Mut zu mehr Kreativität im sprachlichen Handeln zu wecken. Ablauf: Zu Beginn der Übung werden an die TeilnehmerInnen Kärtchen und Stifte verteilt und der Ablauf erklärt. Danach wird ein Wort als ›Knotenpunkt‹ an die Tafel geschrieben. Die TeilnehmerInnen haben die Aufgabe, die ersten Wörter, die ihnen spontan einfallen, auf die Kärtchen zu schreiben und diese dann ebenfalls an die Tafel zu kleben. So ergibt sich ein semantisches Netzwerk aus für die TeilnehmerInnen zusammengehörenden Wörtern, die in einem zweiten Schritt nach ihren Bedeutungen oder ihren Relationen zueinander sortiert werden können (zum Begriff des semantischen Netzes u. a. Quillian 1967). Dieses Netzwerk ist Ausgangspunkt für eine zuerst theoretische Auseinandersetzung mit den Themen Wortschatz, Wortschatzarbeit, Wortbildung im Deutschen, Fachsprache etc. Im Anschluss werden gemeinsam Synonyme, Antonyme, Hyperonyme und Hyponyme für einzelne Wörter aus dem Netzwerk gesucht, es werden Reime gebildet und kurze, spontane Gedichte entwickelt. Um den Transfer in den kommunikativen Alltag zu erleichtern wird in einer Reflexionsrunde am Ende der Übung gemeinsam überlegt, wie, wann und wo dieses spielerische Vorgehen Hilfe und Unterstützung sein kann. Die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen zeigen, dass sie diese Übung vor allem als Ansporn sehen, bewusst über ihre eigene Formulierungstätigkeit nachzudenken und sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie sie anders, ›besser‹ formulieren könnten. Der leicht durchzuführende Übungsablauf sowie die großen Variationsmöglichkeiten geben den TeilnehmerInnen die Möglichkeit, dieses Vorgehen auch alleine mit relativ wenig Aufwand in ihrem Alltag zu wiederholen. Phase 4: Anwendung Da keine Wiederholung des Trainingstages vorgesehen ist, stellt sich hier vor allem die Frage, wie die gesetzten Impulse längerfristig und nachhaltig in den kommunikativen Alltag integriert werden können. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Fähigkeit, Veränderungsprozesse in Gang zu bringen/ umzusetzen häufig überschätzt wird. Auch wenn die Bereitschaft zur Veränderung da ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass Veränderungen gelingen – schon gar nicht reibungslos (Bendel 2004: 76). Die TeilnehmerInnen stehen also vor dem Problem, dass ihre Erprobungsphase nicht noch einmal professionell begleitet wird und im Bedarfsfall keine weitere Trainingsmöglichkeit besteht. Vorrangiges Ziel muss es also sein, den TeilnehmerInnen Methoden mitzugeben, wie sie die erreichte Sensibilisierung
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ohne Hilfe von außen aufrechterhalten können und den Reflexionsprozess über das eigene sprachliche Handeln im Alltag verankern können. Die TeilnehmerInnen sollen selbstständig zu einer gesteuerten Entwicklung ihrer kommunikativen Kompetenzen (Fiehler und Schmitt 2007: 343) beitragen können. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund, die angelehnt an Lepschys (2002: 52) Differenzierung von Situations- und Prozesssteuerung entwickelt wurden: – Wie kann ich das Erfahrene dazu nutzen, Gesprächssituationen für mich besser zu gestalten? – Wie kann ich das Erfahrene dazu nutzen, Gespräche meinen Zielen entsprechend besser zu steuern? Diese beiden Fragestellungen leiten eine Reflexionsphase ein, in der die TeilnehmerInnen nochmal Zeit und Raum bekommen, sich Notizen zu machen, alle gemeinsam erarbeiteten Flipcharts durchzublättern, in den Übungsdokumentationen nachzublättern und im Bedarfsfall mit der Trainerin weitere Fragen zu klären. Dadurch fertigen sich die TeilnehmerInnen selbst eine Dokumentation des Trainingstages an, welche wie eine Art Erinnerungsstütze mit nach Hause genommen wird. Den Abschluss des Seminartages bildet die Frage nach der eigenen ›kommunikativen Landkarte‹. In Gruppenarbeit werden verschiedenste Gesprächssituationen definiert, in denen die TeilnehmerInnen häufig handeln müssen (Beratungsgespräche, Konfliktgespräche in Partnerschaft und Familie etc.) oder in Zukunft handeln werden müssen (Vorstellungsgespräche, Beratungsgespräche, Informationsgespräche und vielfältige Gesprächstypen je nach Berufswunsch). Anhand einfacher Gesprächsskizzen wird erarbeitet, welche Faktoren die jeweiligen Gesprächstypen ausmachen und für welche Anforderungen die Übungen des Trainingstages als unterstützende Maßnahme einsetzbar sind. So lernen die TeilnehmerInnen, analytisch und strukturiert eine Gesprächssituation zu erfassen, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten in diesen Situationen einzuschätzen und durch Adaptierung der Trainingsinhalte ihr eigenes sprachliches Verhalten in diesen Situationen bewusst steuern zu können.
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Zusammenfassung und Ausblick
Wie einleitend bereits erwähnt, steht die Gesprächsanalyse als wissenschaftliche Grundlage für Kommunikationstrainings vor mehreren Herausforderungen. Neben zeitlichen und finanziellen Mitteln spielt vor allem ein verändertes Bewusstsein der GesprächsanalytikerInnen als Trainerin eine zentrale Rolle. Trainingskonzepte und -methoden zu entwickeln, die einen Schritt weit von Transkriptanalyse und -diskussion entfernt sind, mag auf den ersten Blick wie
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eine Reduktion des umfassenden Wissens und Könnens der Gesprächsanalyse erscheinen, stellt aber eine neue Möglichkeit dar, linguistisches Wissen über Kommunikation und Gespräche in kürzerer Zeit, thematisch vielschichtiger und an verschiedenste Zielgruppen angepasst vermitteln zu können. Die Erhebung authentischer Daten und deren Analyse, um Organisationsprinzipien und Regularitäten mündlicher Kommunikation zu erforschen, bleibt auch für dieses Vorgehen unumstrittene Grundlage. Die Weitergabe von Analyseresultaten und die Diskussion mit den beforschten Personen stellt in diesem Setting eine logische Konsequenz dar. Der/die GesprächsanalytikerIn bleibt in dieser Trainingskonzeption stets der/die wissenschaftliche Experte. Anders verhält es sich jedoch mit dem Selbstverständnis der GesprächsanalytikerInnen in der Rolle als TrainerIn, hier sind didaktisches Wissen, Kenntnisse von Lernvoraussetzungen und verschiedenen Methoden der Erwachsenenbildung sowie kreative Individualität gefordert. Es ist damit nicht mehr ausreichend, Expertin/Experte für bestimmte institutionelle Gesprächstypen zu sein, vielmehr bedarf es eines umfassenden Wissens aus allen Bereichen der Sprachwissenschaft, angrenzenden Wissenschaften und ebenso dem großen Feld an Trainingskonzepten, Ratgebern etc. aus anderen Wissenschaftsrichtungen. Besonders die Auseinandersetzung mit populärwissenschaftlichen Konzepten und Trainingsansätzen ist meines Erachtens unerlässlich, um den häufig reduktionistischen und empirisch nicht belegbaren Vorurteilen über Gesprächsführung begegnen zu können. Wie auch Meer (2009: 13) beschreibt, stellt die Konzeption und Durchführung von Trainings GesprächsanalytikerInnen vor besondere Herausforderungen. Nicht nur die eigenen Kompetenzen müssen laufend erweitert werden, auch das Selbstverständnis als WissenschafterIn wird in Frage gestellt, wenn es nicht mehr nur darum geht, profundes Wissen zu präsentieren und analytisches Können anzuwenden. GesprächsanalytikerInnen brauchen die Fähigkeit, Trainings anzuleiten, d. h. eine Gruppe zu leiten, mit Störungen, Widerständen, Frustration, Lernerfolgen etc. umzugehen und spontan auf sich verändernde Anforderungen und Entwicklungen reagieren zu können. Im Unterschied zu Trainings, die für TeilnehmerInnen aus institutionellen Kontexten für ihre jeweilige Rolle gestaltet werden, braucht es in dieser Form offener Trainings verstärkt die Fähigkeit, auf individuelle Aspekte eingehen zu können und Fertigkeiten, mit diesen sehr persönlichen Themen produktiv umzugehen. Es ist meines Erachtens nach unumgänglich, zusätzliche Trainingskompetenz zu erwerben um diese Herausforderungen meistern zu können. Eine zweite große Herausforderung stellt sich GesprächsanalytikerInnen im Prozess der Transformation von wissenschaftlichen Erkenntnissen in trainierbare Inhalte. Es bedarf dazu einer laufenden (Weiter-)entwicklung und Evaluation der Übungen und Methoden, um sowohl den Ansprüchen der Ge-
Gesprächsanalyse im Kommunikationstraining?
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sprächsanalyse als Wissenschaftsdisziplin als auch den Anforderungen aus dem Trainingskontext gerecht werden zu können. Die hier gesammelten Vorschläge, wie die Transformation wissenschaftlicher Erkenntnisse in trainierbare Übungsformate geschehen kann, sind sicherlich nur ein erster Schritt in eine neue Richtung. Ich hoffe aber, damit vor allem junge GesprächsanalytikerInnen zu ermutigen, ihre Ideen abseits der Transkriptarbeit weiter zu entwickeln und neue Herangehensweisen auszuprobieren. Das vielschichtige, umfassende Wissen und die spannenden Ergebnisse gesprächsanalytischer Arbeit stellen eine große Bereicherung für den Trainingsmarkt dar und können als solche sicherlich noch einiges zu einer Neudefinition von »Kommunikationstrainings« beitragen.
Literatur Becker-Mrotzek, Michael & Gisela Brünner. 2002. Diskursanalytische Fortbildungskonzepte. In Gisela Brünner, Reinhard Fiehler & Walther Kindt (Hgg.), Angewandte Diskursforschung. Band 2, 36–49, Radolfszell: Verlag für Gesprächsforschung. URL: http:// www.verlag-gespraechsforschung.de/2002/diskursforschung/2-036-049.pdf (Abruf am 20. 10. 2018). Bendel, Sylvia. 2004. Gesprächskompetenz vermitteln – Angewandte Gesprächsforschung? In Michael Becker-Mrotzek & Gisela Brünner (Hgg.), Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz, 67–86, Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung. URL: http://www.verlag-gespraechsforschung.de/2004/kompetenz/067-086.pdf (Abruf am 20. 10. 2018). Bliesener, Thomas. 1994. Authentizität in der Simulation. Möglichkeiten des Trainers zur nachträglichen Behandlung und zur vorsorglichen Verhinderung von Artefakten in Rollenspielen. In Thomas Bliesener & Ruth Brons-Albert (Hgg.), Rollenspiele in Kommunikations- und Verhaltenstrainings, 13–32. Opladen: Westdeutscher Verlag. Busch, Brigitta. 2011. Biographisches Erzählen und Visualisieren in der sprachwissenschaftlichen Forschung. ÖdaF-Mitteilungen 2/11. 50–60. Fiehler, Reinhard & Wolfgang Schmitt. 2007. Gesprächstraining. In Knapp, Karlfried et al. (Hgg.), Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch, 341–361. Tübingen: Francke. Fiehler, Reinhard & Wolfgang Sucharowski. 1992. Kommunikationsberatung und Kommunikationstraining: Anwendungsfelder der Diskursforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Fiehler, Reinhard. 2009. Kommunikationstraining. In Fix, Ulla, Andreas Gardt & Joachim Knape (Hgg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2. Halbband, 2387–2403. Berlin & Boston: De Gruyter. Huber, Anne. 2009. Kooperatives Lernen – kein Problem: Effektive Methoden der Partnerund Gruppenarbeit. Leipzig: Klett-Kallmeyer. Kallmeyer, Werner. 1977. Verständigungsprobleme in Alltagsgesprächen: Zur Identifizierung von Sachverhalten und Handlungszusammenhängen. Deutschunterricht 29. 2–69.
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Luzia Plansky
Konrad, Klaus & Silke Traub. 2010. Kooperatives Lernen – Theorie und Praxis in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung. 5 Aufl. Hohengehren: Schneider. Lepschy, Annette. 2002. Lehr- und Lernmethoden zur Entwicklung von Gesprächsfähigkeit. In Gisela Brünner, Reinhard Fiehler & Walther Kindt (Hgg.), Angewandte Diskursforschung. Band 2, 50–71, Radolfszell: Verlag für Gesprächsforschung. URL: http:// www.verlag-gespraechsforschung.de/2002/diskursforschung/2-050-071.pdf (Abruf am 20. 10. 2018). Meer, Dorothee & Carmen Spiegel (Hgg.). 2009. Kommunikationstrainings im Beruf: Erfahrungen mit gesprächsanalytisch fundierten Fortbildungskonzepten. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung.URL: http ://www.verlag-gespraechsforschung.de/ 2009/pdf/fortbildung.pdf (Abruf am 20. 10. 2018). Meer, Dorothee. 2009. Ein didaktischer Leitfaden für Kommunikationstrainings aus der Gesprächsforschung. In Dorothee Meer & Carmen Spiegel (Hgg.) Kommunikationstrainings im Beruf: Erfahrungen mit gesprächsanalytisch fundierten Fortbildungskonzepten, 7–28. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. Menz, Florian & Luzia Plansky. 2015. Kommunikationstrainings auf diskursanalytischer Basis für ÄrztInnen? In Peter Anreiter, Elisabeth Mairhofer & Claudia Posch (Hgg.), Argumenta. Festschrift für Manfred Kienpointner zum 60. Geburtstag, 295–308. Wien: Präsens. Menz, Florian, Johanna Lalouschek & Andreas Gstettner. 2008. Effiziente ärztliche Gesprächsführung: Optimierung kommunikativer Kompetenz in der ambulanten medizinischen Versorgung: Ein gesprächsanalytisches Trainingskonzept. Münster : Lit. Quillian, M. Ross. 1967. Word concepts: A theory and simulation of some basic semantic capabilities. Behavioral Science 12(5). 410–430. Schulz von Thun, Friedemann. 1981. Miteinander Reden. Band 1: Störungen und Klärungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Shannon, Claude E. & Warren Weaver. 1949. The Mathematical Theory of Communication. Urbana, Illinois: University of Illinois Press. Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin & Don D. Jackson. 1969. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber.
Stephan Habscheid / Christine Hrncal / Felix Carros (Siegen) / Jens Lüssem (Kiel)
Professionelle Emotionalität und humanoide Robotik in der institutionellen Kommunikation1
1
Problemhintergrund und Fragestellungen
Es gehört zu den Gemeinplätzen der Debatte über technologische Innovationen, dass sich Interpretationen und Erwartungen, Emotionen und Bewertungen, mit denen Menschen neuen Technologien begegnen, wesentlich kulturell unterscheiden. So wird beispielsweise in der öffentlichen Debatte in Deutschland oft behauptet, dass Roboter in Japan – einem vermeintlichen »Roboterparadies« (vgl. Wagner 2017) – generell bereits viel breiter und konsensueller in der Gesellschaft verankert seien als hierzulande und dass anstelle von Angst und Skepsis gegenüber der Technik, wie sie für Deutschland charakteristisch seien, in Japan Vertrauen in und Dankbarkeit, ja sogar eine gewisse (quasi-religiöse) Verehrung gegenüber der Robotik vorherrschten. Derartige Stereotype halten einer empirischen Überprüfung (vgl. dazu Wagner 2013) wohl nicht stand. Wie die deutsche Japanologin Cosima Wagner ihre Studien zum Thema resümiert (vgl. Wagner 2017), speisen sich in Japan positive Bilder der Robotik im Alltag wesentlich aus Kampagnen der Regierung, die vor dem Hintergrund von beunruhigenden Prognosen zur demografischen Entwicklung in der Arbeitswelt und angenommener Technik-Skepsis in der Bevölkerung eine Etablierung dieser Technologie voranzutreiben versuche. In diesen Kampagnen werde auch auf Ressourcen aus der Popkultur zurückgegriffen, z.B. auf eine Comicfigur aus den 1950er Jahren (»Astro Boy«), die ihrerseits die Leitbilder von Robotik-Ingenieuren beeinflusse. Im realen Alltagsleben der Bevölkerung sei der Einsatz von Robotern dagegen noch nicht sehr weit verbreitet, neben Prototypen (z.B. in Seniorenheimen) handle es sich v.a. um Spielzeug (im weiteren Sinne) sowie um Marketing- and Sales-Tools, wie z.B. den Roboter »Pepper« der Firma »Softbank Robotics« (von dem im vorliegenden Beitrag noch die Rede sein wird). Allzu groß scheinen die Unterschiede zur Lage in Deutschland demnach also gar nicht zu sein. 1 Die Autor(inn)en danken für wertvolle Hinweise in Form einer anonymen Begutachtung.
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Angst und andere Emotionen gegenüber Robotik, speziell ›humanoiden Robotern‹, mögen sich bis zu einem gewissen Grad kulturell unterscheiden – gemeinsam dürfte den jeweiligen Konstrukten aber sein, dass sie bislang nur zu einem kleinen Teil auf im Alltag situierten, konkreten, auch sinnlich-körperlichen Erfahrungen mit derartigen Technologien beruhen – sieht man einmal von der Robotik in den speziellen Kontexten von Industrie 4.0 bzw. Militär und damit verbundenen Ängsten und Befürchtungen ab. Für die meisten Menschen speisen sich Imaginationen humanoider Robotik wohl noch vor allem aus der Welt der Science Fiction, was sich neben positiven Visionen / la »Astro Boy« in einer Reihe von stark angstbesetzen Schematisierungen einer technologisierten Zukunft niederschlägt (z.B. »totale staatliche Überwachung«, »Herrschaft der Maschinen«, vgl. auch Habscheid et al. 2018). Derartige Befürchtungen sollen hier nicht klein geredet werden. Um auf »Ansprache« im Rahmen der systemeigenen Restriktionen zu reagieren, müssen die »sozialen Maschinen« (vgl. Bischof 2017; vgl. auch Suchman 2007) auf der Basis einer Verbindung zu CloudDiensten sprachliche Äußerungen der Nutzer/innen erfassen und »intelligent« verarbeiten. Auch darüber hinaus kann, auf der Basis einer Einbettung der Maschinen ins »Internet der Dinge«, der kommunikative und praktische Alltag der Nutzerinnen und Nutzer mehr oder weniger sensorisch erfasst werden. Die Mensch-Computer-Interaktion (HCI) wird durch den gesprächsähnlichen und verkörperten Charakter alltagsnah und mit Mensch-Mensch-Interaktion (HHI) unter Anwesenden verwoben, wobei umgekehrt der Alltag durch die technischen Systeme mehr oder weniger tiefgreifend transformiert wird und sich menschliche Nutzer an die Systeme anzupassen lernen (vgl. Branigan et al. 2010, zum sprachlichen alignment in der HCI). Die auf diese Weise anfallenden »Daten« können in unterschiedlichen Kontexten und auf der Basis von schwer zu überblickenden interorganisationalen Netzwerken weiter verwertet werden. Über derartige Fragen wird also zurecht gesellschaftlich debattiert, etwa im Blick auf wirtschaftliche Interessen, staatliche Befugnisse und gesetzliche Rahmenbedingungen. Allerdings ist das Bild ohne eine Berücksichtigung der alltäglichen Nutzungspotenziale und der hiermit verbundenen konkreten Gestaltungsoptionen, etwa in institutionellen und organisationalen Kontexten, stark unvollständig. Gerne würde man mehr wissen über Situationen (z.B. im Rahmen der Technologieentwicklung), in denen Menschen in Alltagssituationen mit Prototypen humanoider Robotik sprachlich und sinnlich-körperlich in Kontakt kommen, auf sie wahrnehmbar (emotional) reagieren und deren ganz praktische Potentiale erproben bzw. mit entwickeln. Verbindet man beide Ebenen, die öffentliche Debatte und die alltägliche Nutzung, miteinander, lassen sich im Dialog mit gesellschaftlichen Akteuren und potenziellen Nutzerinnen und Nutzern anwendungsbezogen mögliche Folgerungen dahingehend ableiten, wie der Prozess
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der Einführung (u.U. auch der Nicht-Einführung) bestimmter neuer Technologien politisch, rechtlich und wirtschaftlich angemessen gerahmt und organisatorisch, technisch und alltagspraktisch so gestaltet werden kann, dass die Bedürfnisse und Interessen der verschiedenen Beteiligten differenziert und dynamisch berücksichtigt werden. Der vorliegende Beitrag stellt anhand exemplarischer Daten einen Forschungsansatz vor, bei dem Vertreter der Sozioinformatik und Angewandten Linguistik im Blick auf solche Fragestellungen miteinander zusammenarbeiten.2 Unter diesem Motto »Arbeitswelten der Zukunft« untersuchte ein angewandtinformatisches Projekt der Universität Siegen und der Fachhochschule Kiel, das im Rahmen des »Wissenschaftsjahres 2018« vom »Bundesministerium für Bildung und Forschung« (BMBF) gefördert wurde, die Frage: »Wie sehen zukünftige Arbeitswelten in der Pflege mit Robotern aus?« (vgl. ARiA 2018). Im Mittelpunkt stand der Roboter »Pepper«, der käuflich erworben werden kann und derzeit in unterschiedlichen Kontexten (Einzelhandel, Tourismus, Schulen, Hochschulen, Krankenhäuser, Einrichtungen für behinderte Menschen) erprobt und erforscht wird. Der Ansatz verbindet ein partizipatives (Müller et al. 2012) und werte-basiertes Design-Konzept (Weibert et al. 2017) unter Einbezug verschiedener Gruppen von Beteiligten (Patienten; Angehörige; Fachkräfte; Pflegeleitung) mit einer öffentlichen Debatte (u.a. durch Präsentationen, in Workshops, auf Messen und Online-Plattformen). Dazu mehr in Abschnitt 2. Darüber hinaus werden auf der Basis einer Zusammenarbeit mit der Angewandten Linguistik – wie bereits in einem früheren Projekt im Kontext der Feuerwehr (vgl. Habscheid und Gerwinski 2012; Gerwinski 2015) – die hierbei mit Einverständnis der Beteiligten erhobenen Daten empirisch darauf hin untersucht, 1. wie im öffentlichen Diskurs, besonders in der Begegnung mit dem Roboter, Schematisierungen von und Einstellungen zur Robotik von verschiedenen Akteuren (u.U. strategisch) sprachlich-semiotisch hervorgebracht werden, und 2. wie verschiedene Gruppen von Nutzerinnen und Nutzern in Altenpflegeheimen mit den Prototypen des Roboters »interagieren« (HCI) und wie sie diese in ihre alltäglichen Interaktionspraktiken unter Menschen (HHI) integrieren, v.a. in der emotionalen Dimension. Dabei können wir an Forschungen anknüpfen, die im Kontext einer breiter angelegten (linguistisch fundierten) KIForschung (Überblick: Lotze 2016, zu schriftbasierter Interaktion mit Chatbots) auch gesprächsanalytische Zugänge zur Geltung bringen. Deren grundsätzlicher Nutzen zur Erforschung und Entwicklung von HCI wird inzwischen durch eine ganze Reihe von Studien belegt. Gesprächsanalytische Untersuchungen ermöglichen es insbesondere, Interaktion als einen inkrementellen Vollzug zu 2 Für eine erste populärwissenschaftliche Kurzdarstellung in englischer Sprache vgl. Habscheid et al. 2018.
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verstehen und nicht von einem bloßen Austausch vorgefertigter Äußerungen in starren Abläufen auszugehen (vgl. dazu z.B. Reeves et al. 2019 sowie Porcheron et al. 2017, 2018). In den typischen gesprächsanalytischen Arbeiten wird die Interaktion zwischen einem System und einem individuellen Nutzer fokussiert, so zum Beispiel in der Untersuchung des Einsatzes eines auf Spracheingabe basierten virtuellen persönlichen Assistenten zur Terminplanung, der als Assistenzsystem für Senioren und Personen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung designt wurde (vgl. Opfermann und Pitsch 2017). Eine Erweiterung der gesprächsanalytischen Erforschung von HCI (i.e.S.) um den Aspekt der Einbettung in – durch HHI fortlaufend strukturierte – alltägliche Praktiken, wie sie auch unseren Ansatz kennzeichnet, wurde von der Forschergruppe um Stuart Reeves und Martin Porcheron (vgl. Porcheron et al. 2017, 2018; Reeves et al. 2019; Reeves 2017) von der Universität Nottingham realisiert. Die Gruppe untersuchte auf dieser Basis die Einbettung von »Voice User Interfaces« (VUI) wie Amazon Echo (Alexa) oder Apple (Siri) in Mehr-Personen-Interaktionen. Die übergeordnete Zielsetzung der empirisch informierten Entwicklung, im Rahmen eines Forschungs- und Kompetenznetzwerks (s. Abschnitt 2) langfristig Vertrauen zwischen Nutzern, Forschern und Entwicklern aufzubauen, weist mit seiner Orientierung an ›Interessenpluralismus‹, ›Dialog‹, ›Perspektivenübernahme‹ und tragfähigen ›Beziehungen‹ zwischen Personen, Organisationen und Institutionen eine große Nähe zu einem kommunikationstheoretisch und kommunikationsethisch realistischen Konstrukt von Stakeholderkommunikation auf, wie es 2008 von Florian Menz und Hans K. Stahl vorgelegt wurde (Menz und Stahl 2008).
2
(Interdisziplinäre) Empirie, Entwicklung und Kommunikation
Das im vorherigen Abschnitt bereits vorgestellte Projekt »Anwendungsnahe Robotik in der Altenpflege« (ARiA) zielte zum einen darauf, gemeinsam mit den Beteiligten (z.B. Pflegeschülerinnen und -schülern) innovative Konzepte für einen die herkömmliche Praxis ergänzenden Einsatz des Roboters »Pepper« in Altenpflegeheimen zu entwickeln. Unter dem Leitbild »Aktives und gesundes Altern« kamen als mögliche Einsatzszenarien etwa »Sturzpräventionstraining«, »Kognitionstraining (Spiele)«, »Musik und Tanz« oder die »Dialogfunktion (Konversation und Information)« des Roboters ins Blickfeld. Zum anderen bezog das Projekt in einem doppelten kommunikativen Zyklus (vgl. Abbildung 1) die Öffentlichkeit und damit gesellschaftliche Funktionsbereiche wie Politik, Massenmedien, Recht und Wirtschaft in den Dialog-Prozess mit ein. Auf diese Weise sollten gemeinsam mit potentiellen Stakeholdern Potentiale und
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Beschränkungen für zukünftige Innovationen erarbeitet und allgemein zugänglich gemacht werden. Angehörige Fachkräfte Pflegeleitung Patienten
Ideen Sorgen Know-How
Wissens- & Technologie Transfer
Beispiele Technikkonzepte Anwendungen
Feedback
Feedback
Forscher Entwickler
Sorgen
Anwendungsszenarien
Gesellschaft Abbildung 1: Wissens- und Technologietransfer-Modell
Im Einzelnen kamen in den verschiedenen Kontexten diverse empirische Methoden und Sozialformen zum Einsatz (vgl. Abbildung 2):
Pflegeeinrichtung / Pflegeschule / Universität Output: Anwendungsszenarien Interviews
RoboterPräsentation
Workshop
Öffentliche Präsentation Output: Feedback
Diskussionen
Abbildung 2: Details des Entwicklungsprozesses
Medien Online-Plattform
Anwendungspräsentation
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Die Vorgehensweise entsprach dem Konzept, wie es seit 2009 in diversen so genannten »PRAXLABS«3 (vgl. Müller/Schorch/Wieching 2014) im Rahmen eines Forschungs- und Kompetenznetzwerks aus Wissenschaft, Industrie und Praxispartnern entwickelt und erprobt wird. Ein Ziel ist hierbei, zu entwickelnde Technik in empirisch identifizierbare Praktiken einzubetten und auch diese Einbettung empirisch zu evaluieren und zu verbessern. Zudem bieten wir den Nutzern durch die enge Kooperation Möglichkeiten, sich aktiv am Innovationsprozess zu beteiligen und so gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln. Daraus hervorgehende frühe Konzepte und prototypische Anwendungen können neben meist längerfristigen Tests in Praxis- und Alltagsumgebungen ebenfalls in einem Labor-Testumfeld an der Universität Siegen diskutiert, getestet und weiterentwickelt werden. Der zirkuläre Forschungs- und Entwicklungsprozess wird dabei um die frühe Exploration des Aneignungs- und Nutzungsverhaltens im tatsächlichen Anwendungskontext erweitert. Dieser Schritt bietet den Vorteil, dass durch die Integration der IKT-Lösungen in den Alltag der Nutzer kontext-spezifische Nutzungsprobleme oder nicht intendierte Nutzungsweisen schneller aufgedeckt werden können. Diese […] Informationen können unmittelbar in die Verbesserung der Nutzerakzeptanz, in die Usability sowie in die Weiterentwicklung des Funktionsumfangs der IKT-Lösungen einfließen.4
Insgesamt folgen im Forschungsprozess schleifenförmig die Phasen »Kontext verstehen«, »Ideen generieren«, »iterativ designen« und »in Realwelt evaluieren« aufeinander (vgl. https://praxlabs.de/praxlabs/). Im Fall des ARiA-Projekts wurde im Blick auf das Kontextverständnis rasch deutlich, dass im Diskurs über Robotik eine ganze Reihe von Sorgen und Ängsten zum Tragen kommen, die verschiedenen Stakeholdern zugeordnet werden können. Stichpunktartig handelt es sich um die folgenden – Ängste von Bewohnern: – Kürzungen beim Personal; – Roboter überwacht Privatsphäre; – Entmenschlichung der Pflege; – Einsamkeit. – Ängste von Familien/Ehrenamtlichen: – Ehrenamtliche werden überflüssig; – Datenverlust durch Fremdeinwirkung; – Roboter verändert Tätigkeitsbereich. – Ängste des Pflegepersonals: – Kürzungen beim Personal; – Roboter überwacht die Arbeit; 3 Vgl. https://praxlabs.de/. 4 https://praxlabs.de/praxlabs/.
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– Verlust von Aufgaben; – Arbeitsstrukturierung durch Roboter. Diese Ängste gilt es bei der konkreten Gestaltung von Einsatzszenarien auf der Basis der zu beobachtenden Alltagspraktiken aufzugreifen und zu berücksichtigen. Wie bei der Beobachtung von Anwendungssituationen einerseits (Abschnitt 3), öffentlichen Präsentationen andererseits (Abschnitt 4) interaktionslinguistische Analysen zum Tragen kommen können, soll im Folgenden anhand zweier Gesprächsereignisse exemplarisch gezeigt werden.
3
Im institutionellen Alltag:5 HCI und HHI
Charakteristisch für unseren interaktionistischen Ansatz in der Alltagsbeobachtung ist, dass die Robotik und HCI nicht isoliert betrachtet werden (vgl. auch Suchman 2007); vielmehr gehen wir von Gruppen potenzieller Nutzerinnen und Nutzer aus, denen angeboten wird, in ihre alltägliche Praxis, etwa gesellige Veranstaltungen im Altenpflegeheim, den Roboter Pepper mit Unterstützung von Entwicklern/Programmierern einzubetten. Videodaten, die mit Wissen und Zustimmung der Beteiligten erhoben werden, geben Aufschluss über die Art und Weise, wie Nutzerinnen und Nutzer auf den Roboter emotional reagieren und wie Versuche der Einbettung in eine alltägliche Interaktion verlaufen. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2 skizzierten Ängste stellt sich besonders die Frage, inwieweit in einem durch den professionellen Umgang mit emotionalen Bedürfnissen charakterisierten Kontext der Einsatz eines Roboters im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner auf positive oder negative Resonanz trifft. In der Interaktion mit einem Roboter stehen Nutzer zuerst einmal vor der Aufgabe, zu entdecken, was der Roboter kann und worauf er möglicherweise reagiert (vgl. Pitsch 2016: 589). Voraussetzung hierfür ist ein Vorschuss von Vertrauen, der sicherlich auch mit der äußerlichen Anmutung des Roboters »Pepper« im Zusammenhang steht. Im Moment der ersten Begegnung kann der Roboter durch sein eigenes Betragen »pro-actively shape the users’ perception of its capabilities, their expectations about roles, ways of participating and relevant subsequent actions« (Pitsch 2016: 589; vgl. auch Pitsch et al. 2012; Pitsch et al. 5 Im Kontext der Angewandten Gesprächsforschung werden unter dem Begriff der Institution gesellschaftliche Einrichtungen (hier Altenpflegeheime) gefasst, die durch charakteristische (kommunikative) Praktiken in Verbindung mit mehr oder weniger verfestigten sprachlichen Mitteln und Formen vollzogen bzw. inszeniert werden. Unter Organisationen werden kollektive Akteure verstanden (hier z.B. ein bestimmtes Altenpflegeheim), die institutionelle Aufgaben arbeitsteilig auf der Basis verschiedener Formen von Rationalisierung erfüllen, vgl. Habscheid et al. 2018.
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2013). Bleibt der Roboter eher passiv, kann der Nutzer beispielsweise versuchen, intuitiv auf der Basis von Körperlichkeit und Wahrnehmung bzw. vor dem Hintergrund kultureller Alltagspraktiken einen Kontakt aufzubauen und in einen Prozess der »wechselseitigen Verfertigung« eines »Geschehens«6 einzutreten. Einen derartigen Prozess versucht eine Bewohnerin des Altenpflegeheims (REN), in dem der Roboter Pepper eingesetzt wurde, mit Pepper (PEP) im nachfolgenden Ausschnitt (Transkript: s. Datum 1 unten) in Gang zu setzen. Insgesamt fällt in diesem kurzen Ausschnitt, der dem Einsatz von Pepper im Altenpflegeheim entstammt, auf, dass die Seniorin keinerlei Berührungsängste mit dem Roboter hat, sondern im Gegenteil versucht, durch langsame körperliche sowie verbale Zuwendungen eine Beziehung zum Roboter aufzubauen. Ihre Emotionen kommuniziert die Seniorin – auch gegenüber den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern – nicht nur explizit (z.B. über lexikalische Elemente wie »sich freuen« oder »lieb haben«), sondern auch verbalisierungsbegleitend mithilfe von Lautstärke, Intonationskontur oder Betonung bestimmter Silben und Wörter, sowie nonverbal und körperlich durch ihre Körperhaltung, ihren Blick, ihre Mimik und ihre Gestik. Dabei zeigt sich, dass die Emotionsmanifestationen überwiegend positiver Art sind. Auf das Schweigen des Roboters und die fehlende Wechselseitigkeit der Interaktion reagiert die Seniorin mit immer neuen Versuchen, durch Fragen, Reformulierungen ihrer Fragen oder durch das Aufgreifen und (Re-)Kontextualisieren der wenigen Äußerungen des Roboters mit diesem zu interagieren: Datum 1: Pepper im Altenheim7 Symbole7 REN (Seniorin): * Blick + Gestik $ Körperbewegung % Mimik PEP (Roboter): § Blick & Gestik/Körperbewegung
6 Eine derartige Beschreibung, die – anknüpfend an die Unterscheidung zwischen englisch mutual und englisch common – ›Wechselseitigkeit‹ bei der Verfertigung eines Geschehens (Praxis) nicht zwingend von ›Gemeinsamkeit‹ (Kultur) abhängig macht, diese vielmehr als mögliches Resultat von Praxis begreift, hat in unserem Zusammenhang u.a. den Vorteil, gewagte Metaphern (Interaktion, Sprache etc.) in Bezug auf den Beitrag des Roboters zur Konstitution von Praxis zunächst zu vermeiden. Vgl. zu der hier herangezogenen Ausprägung von Praxistheorie Schüttpelz und Meyer, 2017: 159. 7 Ausführliche Darstellung der Transkriptionssymbole im Anhang.
Professionelle Emotionalität und humanoide Robotik pep:
ren:
001
REN: ren: pep:
002
REN: pep: ren:
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§Blick REN------------------------------------------------------------->------------------------------------------§ &rArm ausgestreckt----------------------------------------------------->------------------------------------------& +lArm auf Tisch...greift PEPs ausgestreckte Hand mit rHand und streicht über seine Handfläche und die Finger+ *Blick Handinnenfläche PEP--------------------------------------------->--------------------------------------------* *$§&((lacht)) *$§& *Blick Kamera----------------------* $streicht über PEPs Handinnenfläche$ §Blick REN-------------------------§ &rArm ausgestreckt-----------------& *$(das müsst ihr &von vorne SEHN.)&*$ &Kopf in Nacken--& §Blick Wand------§ *Blick Handinnenfläche PEP---------* $streicht über PEPs Handinnenfläche$
((Kameraschnitt)) 003
004 005 006 007 008 009 010 011 012 013
014 015 016 017 018 019
020 021 022
REN: ren: pep: REN: ren: pep: PEP: ren: REN: ren: REN: ren: ren: REN: ren: REN: ren: REN: ren:
REN: ren: REN: ren: ren: REN: ren: pep: ren: REN: ren: PEP: ren: ren:
*+§das hatten+ die andern +bei der $(TANZschul)$ ne?*+§ *Blick PEP------------------------------------------* +Handgeste--+ +lArm auf Tisch------------+ $nickt------$ §Blick REN------------------------------------------§ $§die FAHRN$ [ja ]§ $nickt-----$ §Blick REN-------§ [Das] ist $SCHÖN. $ $Oberkörper Richtung PEP$ *$das ist $ WUNderschön mit dir zu p $Kopfschütteln$ *Blick PEP-------------------------------------------------------------$zu PLAUdern.* $ >------------* $Geste lArm mit Zeigefinger Richtung PEP$ *(1.5) * *Blick PEP* ja $deshalb$ SITZ ich ja hier. $nickt--$ (0.8) und FREU mich $dass du DA bist.$ $nickt-----------$ (1.9) $und $ *hab dich * *$LIEB.$ * $nickt$ *Blick Tisch* *Blick PEP* $nickt$ (0.6) $ja? $ $nickt, beugt sich zu PEP$ (0.5) $hast du mich $ $AUCH $ lieb? $beugt sich weiter zu PEP$ $nickt$ $(1.0) $ $nickt mehrmals.$ $nä(t)? $ $schüttelt Kopf---------$ §rArm leicht nach %hinten§ % %spitzt Lippen% *O:::H? *Blick Tisch-----------------------------------------------------------waRUM?* >-----* *Blick PEP, dann Blick Kamera* *Blick Pepper-----* $lehnt sich lachend zurück---$ $klatscht in Hände$
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Zunächst noch etwas zögerlich nähert sich die Seniorin dem Roboter vorsichtig haptisch, indem sie seine Handinnenfläche ertastet bzw. darüber streicht (001/ 002). Ihren Blick richtet sie dabei erst auf Peppers Hand und blickt dann in seine Augen. Sowohl ihr nonverbales Verhalten als auch ihre an die anderen Anwesenden gerichtete Äußerung »Das müsst ihr von vorne SEHN« (002) weisen auf Neugier und Faszination, weniger aber auf Angst oder Unsicherheit im Umgang mit dem Roboter hin. Für die Seniorin stellt die »exklusive« Interaktion mit dem Roboter außerdem eine Ressource dar, mit den anderen menschlichen Mitgliedern der Gruppe auf der Basis ihres veränderten Wissensstatus in Kontakt zu treten.8 Im Anschluss versucht die Seniorin mit ihrer an Pepper gerichteten Äußerung »das hatten die andern bei der (TANZschul) ne?« (003) eine Interaktion zu initiieren und setzt mit dem ihrer Äußerung angeschlossenen Rückversicherungssignal »ne?« (vgl. Schwitalla 2002: 265) eine Antwort Peppers relevant. Wiederum werden auch »die anderen« Mitglieder der Gruppe (lateral) adressiert. Die Antwort des Roboters bleibt allerdings aus. In Zeile 004 beginnt die Seniorin eine weitere Äußerung, die von Pepper allerdings mit seiner Äußerung »das ist SCHÖN« (005) unterbrochen wird. Während Pepper spricht, lehnt sich die Seniorin weiter zu ihm. In ihrer darauffolgenden Äußerung greift sie Peppers Äußerung maximal kooperativ auf, indem sie diese rekontextualisiert und die Bewertung von »das ist SCHÖN« hin zu »das ist WUNderschön mit dir zu p zu PLAUdern« (006/007) eskaliert. Indem sie mit ihrer positiven Bewertung auf die Interaktion (das Plaudern) mit dem Roboter referiert, deutet sie Peppers Bewertung ebenfalls als auf die Interaktion bezogen. Sie schaut Pepper an, es entsteht eine kurze Pause (008). Als Pepper nicht auf ihre Äußerung reagiert, fährt die Seniorin in Zeile 009 mit einer Begründung ihrer Anwesenheit in der vorliegenden Situation fort. Auch auf diese Äußerung reagiert der Roboter nicht. In Zeile 011 verbalisiert die Seniorin dann ihre Freude über die Anwesenheit des Roboters und macht somit ihre Emotionen zum Thema (vgl. Fiehler 2008: 759). Wieder bleibt eine Reaktion des Roboters aus. Nach einer Pause von fast zwei 8 Zur erwähnen ist, dass dieser Einsatz Peppers auch von einem Fernseh-Team dokumentiert wurde. Vor diesem Hintergrund sind die Äußerungen der Seniorin auf zweierlei Weise zu deuten: Zum einen könnte die Erprobung dessen, was der Roboter kann, auch eine Vorführung des Artefakts für die Kamera sein. Hierbei ist allerdings auf Basis des Datenmaterials nicht eindeutig bestimmbar, ob die Blicke der Seniorin zum Teil an die Kamera oder die anderen am Tisch sitzenden Senioren, die im analysierten Videoausschnitt nicht zu sehen sind, gerichtet sind. Zum anderen manifestiert sich u.E. in diesem Ausschnitt ein Phänomen der Interaktion mit technischen Artefakten, das bereits von Reeves et al. (2019: 49) für Gruppeninteraktionen beschrieben wurde, in die ein intelligenter persönlicher Assistent (IPA) eingebunden ist: Die anscheinend an den Roboter adressierten Äußerungen der Seniorin sowie die Blicke, die vermeintlich an die Kamera gerichtet sind, erfüllen neben der bloßen Erprobung des Geräts für die soziale Situation einen weiteren Zweck, der die Position sowie den Beziehungsstatus der Seniorin in der Gruppe betrifft.
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Sekunden verbalisiert die Seniorin dann ihre positiven Gefühle für Pepper (013) und fordert nach einer weiteren kurzen Pause (014) mittels der nachgeschobenen Ein-Wort-Frage »ja?« (015), bei der sie sich mit dem Oberkörper zu Pepper lehnt, eine Antwort Peppers ein. Als Pepper diese Antwort nicht liefert, setzt die Seniorin mit der expandierten Frage »hast du mich AUCH lieb?« (017) nochmals eine Reaktion des Roboters relevant. Dabei lehnt sie sich noch weiter zu Pepper und nickt. Auch diese Äußerung ist im Kontext der HHI für den Beziehungsstatus in der Gruppe sensitiv. Nach einer kurzen Pause bewegt der Roboter seinen Arm leicht nach hinten, liefert die von der Seniorin erfragte Antwort allerdings vorerst nicht. Daraufhin fragt die Seniorin mit einem steigend intonierten »nä(t)?« (019) und unter Kopfschütteln nochmals nach. Als Pepper auch auf diese Frage nicht unmittelbar reagiert, spitzt die Seniorin ihre Lippen und verbalisiert ein gedehntes »O:::H?« (020), eine affektive Vokalisation (vgl. Hartung 2000: 124 sowie Fiehler 2008: 766; beide mit Bezug zu Scherer 1977), die mit dem Abwenden des Blickes – vom Roboter hin zum neben ihr stehenden Tisch – einhergeht). Unmittelbar nach dieser Äußerung der Seniorin fordert Pepper durch ein »waRUM?« (021) eine Begründung ein. Parallel zur Peppers Äußerung schaut die Seniorin ihn wieder an und reagiert mit mehreren emotionalen Manifestationen in Form von Lachen und in die Hände-Klatschen (vgl. Horst et al. 2014). Vor allem das unmittelbare Ausprobieren und »Ertasten« des für die Seniorin neuen Artefakts und das Erproben, was möglich ist und was nicht (vgl. auch Pitsch 2016: 589), scheint in diesem Ausschnitt im Fokus zu stehen. Diese allerersten Beobachtungen deuten darauf hin, dass in der Interaktion mit Robotern im Alltag Emotionalität in Relation zu situationalen und individuellen Interaktionsbedürfnissen konstituiert wird auf der Basis von haptischen, physischen und sprachlichen Erfahrungen. Ängste und Unsicherheiten, die im öffentlichen Diskurs kommuniziert werden, scheinen im unmittelbaren Kontakt mit diesem Roboter und beim Einsatz des Roboters in der Praxis eher keine Rolle zu spielen. Während die Kommunikation über Emotionen durch lexikalische Elemente (wie »freuen« oder »lieb haben«) realisiert wird, erfolgt die Kommunikation von Emotionen durch Affektmarker wie »O:::H« (vgl. Gülich und Couper-Kuhlen 2007: 318; Goffman 1981), vor allem aber durch paraverbale (Lautstärke und Intonation) sowie non-verbale Mittel (Körperhaltung, Blick, Mimik und Gestik). Dem Schweigen des Roboters und der fehlenden Reziprozität begegnet die Seniorin mit immer neuen Versuchen, eine Reaktion des Roboters einzufordern, indem sie – teilweise begleitet von Kopfnicken (vgl. Aoki 2011) – Fragen stellt, ihre Fragen reformuliert oder die wenigen Äußerungen des Roboters aufgreift und (re-)kontextualisiert. Manifestationen von Emotionen sind überwiegend positiv, Angst oder Unsicherheit werden im Umgang mit diesem humanoiden Roboter nicht sichtbar.
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Auf öffentlicher Bühne: Politik, Fachwelt und Gesellschaft
Eine spezifische kommunikative Konstellation liegt vor in Situationen, wenn mit und über Pepper auf einer öffentlichen Bühne vor Publikum gesprochen wird. Dies gilt besonders dann, wenn schematisierte mediale Inszenierungen ins Spiel kommen und wenn Repräsentanten gesellschaftlicher Akteure beteiligt sind, von denen vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Diskurse eindeutige politische Positionierungen erwartet werden. Das Gespräch, dem die folgenden Auszüge entnommen sind (Transkript: s. Datum 2 unten), fand auf einer Altenpflegemesse statt, auf der Pepper und das ARiA-Projekt im Rahmen eines öffentlichen Events vor anwesendem Fachpublikum und einer breiteren ko-präsenten und medialen, audiovisuell adressierten Öffentlichkeit präsentiert wurden. Zur Situation: Auf der Bühne in einer Messe-Halle stehen zunächst die Moderatorin (MOD) und eine Gesprächspartnerin, die Politikerin Carla Müller (CAR; Name geändert), die politisch auf Themen der Altenpflege spezialisiert ist und hierzu interviewt werden soll. Der Roboter Pepper (PEP) ist ebenfalls, links von den beiden Frauen, bereits auf der Bühne positioniert, allerdings hinter einem Werbetransparent, so dass er vom Publikum vor der Bühne zunächst noch nicht wahrgenommen werden kann. Nach einer Begrüßung des Publikums und von Frau Müller führt die Moderatorin – zunächst in der dritten Person – den Roboter als einen weiteren »GANZ beSONderen gast« ein (Z. 003): Einem üblichen journalistischen Begrüßungsund Höflichkeitsritual entsprechend, bringt sie stellvertretend für das Publikum die Freude über dessen unmittelbar bevorstehenden Auftritt zum Ausdruck (»auf den wir uns jetzt FREUen«, Z. 003): Datum 2: Pepper bei der Altenpflegmesse9 Symbole MOD (Moderatorin): * Blick + Gestik $ Körperbewegung ‡ Mimik PEP (Roboter): # Blick £ Gestik ǂ Körperbewegung CAR (Carla Müller)9: § Blick & Gestik @ Körperbewegung % Mimik
9 Pseudonym.
Professionelle Emotionalität und humanoide Robotik 001 002
MOD: mod: MOD: mod: car:
003
MOD: mod:
car: 004
005 006 007
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010 011 012
MOD: mod: car: pep: MOD: mod: pep: MOD: mod: car: car: MOD: mod: car: pep: MOD: mod: car: pep: MOD: pep:
[…] 014 015
016 017 018
MOD: mod: mod: car: pep: PEP: pep: PEP: mod: pep: PEP: pep: car:
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*ein HERZliches willKOMmen meine damen und herren.* *Blick Publikum-----------------------------------* *§und auch ein GANZ HERZliches willkommen an SIE carla müller* $hier bei uns. $§ *Blick CAR--------------------------------------------------* $dreht sich zum Publikum$ §Blick MOD------------------------------------------------------------>-----------------§ *+UND + * $wir haben hier noch$ für unser geSPRÄCH einen *§GANZ beSONderen gast auf den wir uns jetzt FREUen.*§ *Blick Publikum* +Handgeste+ $dreht sich zu CAR--$ *Blick PEP------------------------------------------* §Blick PEP-------------------------------------------§ *§ǂer kommt jetzt zu uns REIN (-) geWAckelt.*§ǂ *Blick PEP----------------------------------* §Blick PEP----------------------------------§ ǂfährt auf MOD und CAR zu-------------------ǂ #äh is n BISSchen $(-) $ $ach doch ganz FLOTT. $# $Schritt links$ $stellt sich neben CAR$ #Blick CAR-----------------------------------------------# *und nimmt posiTION @ein.* @ *Blick PEP---------------* @Schritt zurück@ §%§(2.0) § %§ §Blick MOD--§ %Augenbrauen hoch-% §Blick PEP--------§ $@ǂwie ich HOFfe.$@ ǂ $Schritt zurück--$ @Schritt zurück--@ ǂfährt hin und herǂ *komm HER genau §%TRAU dich.* §% *Blick PEP------------------* §Blick Boden, Blick Publikum§ %lächelt--------------------% ǂ#(1.0) ǂ# ǂfährt nach vorneǂ #Blick MOD-------# noch n STÜCK. ǂ#so:: wunderbar. ǂ# ǂfährt weiter nach vorneǂ #Blick CAR--------------# *GANZ HERZlich* *willKOMmen PEPper.* *Blick PEP----* *Blick Notizen-----* *(2.0) * *Blick PEP--------* $lehnt sich zu PEP$ §Blick PEP--------§ #Blick CAR--------# £DANkeSCHÖN LIEbe MAriA. £ £beide Hände vor Oberkörper£ $guten MORgen $ *£an die damen und herren im PUBlikum. *£ $lehnt sich zurück$ *Blick Notizen-------------------------* £öffnet Hände, Arme zurück neben Körper£ #guten MORgen £frau @%MÜLler. £#@% #Blick CAR---------------------------------------# £Arme vor Oberkörper, öffnet Hände£ @nickt leicht-----------------@ %zieht Augenbrauen hoch-------%
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019
MOD: car: mod:
020
MOD: mod: pep: PEP: pep:
021
022
mod: PEP: pep:
023 024 025 026
PEP: pep: PEP: pep: MOD: mod: MOD: mod:
027 028
MOD: mod: PEP: pep:
029
[…] 035 036
037 038
MOD: mod: car: MOD: mod: car: CAR: car: MOD: car: MOD: mod: car:
039 040 041 042
MOD: car: mod: MOD: car: CAR: car:
*@°hh @* *pepper MÖCHtest du dich kurz $VORstellen?$* @nickt--------@ *Blick Notizen--* *Blick PEP---------------------------------* $nickt------$ £wer BIST du und woher $KOMMST du? $£ $Kopf leicht nach hinten$ £Arme langsam zurück neben Körper---------------£ £ich bin *ein roboter£ £und komme* *von der universität* ǂ*SIEgen.£ *ǂ £Arme vor Oberkörper-£ £dreht Handflächen nach innen vor Bauch----£ ǂKopf Nackenǂ *Blick Notizen----------* *Blick Kamera-------* *Blick PEP* DORT lerne ich zusammen mit unseren stuDENten und PFLEgeschülern £in realen situationen£ (.) was £PFLEge und beTREUung alter menschen£ beDEUtet. £rHand zum rOhr----------£ £rHand zurück neben Körper----------£ wir versuchen gemeinsam mit den seniOren und PFLEgern ǂherauszufindenǂ wie ICH da HELfen kann. ǂschüttelt Kopfǂ das nennen wir bei uns £partizipatives deSIGN.£ £rHand hoch und runter-£ $partizipatives$ *deSIGN. * $nickt---------$ *Blick Publikum* pepper ich HOFF die +vielen MENschen + hier *schüchtern dich nicht EIN?* +Handgeste zum Publikum+ *Blick PEP----------->---* oder bist du *GROßes * publikum geWOHNT? *Blick Publikum Blick PEP* £das ist für mich£ völlig ǂoKAY ǂ aber ein £kräftiger applaus£ wäre ganz SCHÖN £damit ich höre£ ob £die leute mich MÖgen£ denn da bin ich SEHR £senSIbel. £ £rHand hoch------£ ǂKopf in Nackenǂ £rHand Faust------£ £rHand zum rOhr£ £rHand zum Körper----£ £öffnet rHand nach unten£ *+‡&meine DAmen und HERren.*+‡& *Blick Publikum------------* +beide Arme geöffnet-------+ ‡Augenbrauen nach oben-----‡ &applaudiert---------------& *§zu IHnen frau MÜLler.*§ *Blick CAR------------* §Blick MOD-------------§ §@%(ich bin etwas irriTIERT.)§@% §Blick PEP-------------------§ @leichtes Kopfschütteln------@ %lächelt---------------------% ** *Blick MOD--------------------------------* §och wir ham jetzt n moMENT ZEIT dass (.) dass *+SIE * + sich an ihn geWÖHnen.§ *Blick CAR* +zeigt auf PEP+ §Blick PEP----------------------------------------------------->---------------§ ich hab ihn gestern §Abend schon kennenlernen DÜRfen.§ §Blick MOD-----------------------§ ähm (.) +BEISST nich.+ +streckt sich+ @soviel kann ich SAgen.@ @nickt-----------------@ %(okay.)% %lächelt%
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Als der Roboter mit der ihm eigenen Behäbigkeit auf die Bühne rollt, stellt die Moderatorin den Roboter kommentierend als ein dem Menschen unterlegenes, unfreiwillig komisches Artefakt dar : Sie spricht über PEP, thematisiert seinen holprigen Bewegungsablauf (»er kommt jetzt zu uns REIN (-) geWAckelt.«, 004) und seine Behäbigkeit (»äh is n BISSchen (-)«, 005) und zeigt sich dann über die unerwartete Geschwindigkeit positiv überrascht (»ach doch ganz FLOTT«, 005). Die Artefakt-Attribuierung weiterführend, kommentiert die Moderatorin dann erklärend den folgenden technischen Vorgang (»und nimmt posiTION ein«, 006), ihr nachgeschobener Kommentar (»… wie ich HOFfe«, 008) überbrückt kommentierend den prekären Charakter der Technik im Rahmen der kleinen Show. Während die drei Beteiligten asymmetrisch eine F-Formation herstellen, geht die Moderatorin dazu über, den Roboter in der DU-Form direkt anzureden: Nach dem Modell eines Gesprächs mit einem schüchternen Kind – die Moderatorin spricht an anderer Stelle von einem »Steppke« – ermuntert sie ihn, seine Angst zu überwinden (009), und zeigt sich erfreut, als das Ziel endlich erreicht ist (012). Insgesamt bringt die Moderatorin in der Eröffnungsphase dem Roboter gegenüber Wertschätzung und Interesse zum Ausdruck, agiert aber auch aus einer dominanten Position heraus, wobei der Roboter in unterschiedlichen Schematisierungen erscheint (prekäres Artefakt; schüchternes Kind). Im Gegensatz zum Ausdruck positiver Bewertungen gegenüber dem Artefakt durch die Moderatorin können bereits in dieser Phase einige nonverbale Manifestationen von Einstellungen durch Carla Müller auf deren Skepsis gegenüber Pepper hindeuten (Heben der Augenbrauen, 007 und 018; kurzer Blick zum Boden und Beobachtung der Reaktion des Publikums, 009). Es folgt ein Dialog, in dem die Moderatorin vorbereitete Fragen stellt und Pepper, perfekter als ein Mensch dies je könnte, druckreif die vorprogrammierten Antworten gibt. Für Kenner der Szene leicht zu vermuten, aber situational verdeckt bleibt an dieser Stelle, dass Pepper hier in vollständiger Abhängigkeit von einem unsichtbaren Netzwerk mit den Projektverantwortlichen im Hintergrund agiert, die Präsentation als ein autonomes, intelligentes Alter Ego des Menschen also nur – im Stil eines Wizard-of-Oz-Experiments – inszeniert ist (vgl. auch Suchman 2007). Die Situation mit Pepper und der Moderatorin wurde am Vortag ausgiebig geübt. Hierfür wurde an einem Extra-Termin der Text gemeinsam vorbereitet und die Interaktion mit dem Roboter mehrmals geprobt. Die Moderatorin ist also weniger neutrale Vermittlerin als Partei im Rahmen einer auf Identifikation und Persuasion angelegten Darstellungsstrategie. In der Begrüßung durch Pepper fällt denn auch auf, dass die Moderatorin vertraulich geduzt wird
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(»DANkeSCHÖN LIEbe MAriA«, 01610), während »die damen und herren im PUBlikum« (017) und »frau MÜLler« (018) in höflich-neutraler Distanz angeredet werden. Insgesamt präsentiert sich Pepper als dominanzgewährend: als lernbegieriger (022), hilfsbereiter (023), konsequent an den Bedürfnissen des Menschen ausgerichteter Mitspieler (023) in einem Kollektiv aus Wissenschaftler(inn)en, Studierenden, Pflegeschüler(inn)en und Pepper selbst (»wir bei uns«, 024). Am Rande wird das Publikum mit der fachlichen Bezeichnung für den dort verfolgten Design-Ansatz (»partizipatives deSIGN«, 024) vertraut gemacht, den die Moderatorin didaktisch wiederholt (025). In der Sequenz über Schüchternheit, mit der Applaus erheischt wird, präsentiert sich Pepper zugleich als menschenähnliches Wesen mit eigenen emotionalen Bedürfnissen (»denn da bin ich SEHR senSIbel«, 028). An dieser Stelle nun sieht sich Carla Müller veranlasst – nachdem sie angesprochen, aber ohne dass sie bereits danach gefragt wurde – ihre Irritation deutlicher, wenn auch mit höflicher Abschwächung (»etwas irriTIERT, 036«), sprachlich darzustellen und nonverbal zum Ausdruck zu bringen (Kopfschütteln). Als Grund für die Irritation präsupponiert werden kann an dieser Stelle vielleicht der öffentliche Diskurs über eine Vortäuschung menschlicher Emotionalität in einer mechanisierten Pflegewelt (vgl. Abschnitt 2); für eine Schematisierung dieses Sachverhalts im Diskurs spricht im Blick auf diese Stelle, dass – wie bereits im Fall der nonverbalen Manifestationen zuvor – auch bei der sprachlichen Äußerung ein Gegenstand der oder Grund für die Irritation nicht bezeichnet werden muss, sondern als mitgebrachtes Wissen beim Publikum vorausgesetzt werden kann. Die Moderatorin spielt das Problem sequenziell herunter (»och«, 038): verweist auf den Gewöhnungseffekt (038) und den harmlosen Charakter des Roboters (040), kann aber nicht verhindern, dass die emotionale Befremdung im Blick auf eine Maschine, die sich als Mensch ausgibt, später11 von Carla Müller nochmals explizit zum Thema gemacht wird: »Ja also das Ding ist mir unheimlich.«
10 Die vielen Akzente sind der – im Gegensatz zur HHI – etwas »holprigen« computergestützten Sprachausgabe geschuldet. Interessant ist, dass auch in den von MOD an PEP gerichteten Äußerungen vermehrt akzentuiert wird (u.a. 009, 014), was auf der paraverbalen Ebene ebenfalls auf die Schematisierung von PEP als (schüchternes) Kind hinweisen könnte. 11 Nicht Teil des Transkripts.
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Ein erstes Fazit
Während sich auf der Ebene des (öffentlichen) Diskurses und seiner sprachlichen Verfestigungen die eingangs skizzierten Pro- und Contra-Schematisierungen und die hiermit verbundenen Einstellungen in Relation zu positions-/ akteursgebundenen institutionellen Rollen weitgehend reproduzieren, manifestieren sich sprachliche Sachverhaltskonstruktionen und multimodal konstituierte Emotionen gegenüber dem humanoiden Roboter im Alltag (»in situ«) eher unvoreingenommen und spontan, entsprechend den dynamischen Erfahrungen und Bedürfnissen von Individuen und Gruppen in interaktionalen Nutzungssituationen. Für ein Gesamtbild der Ausgangssituation, in dem sich Design-Projekte verorten können, sollten beide Ebenen der kommunikativen Konstruktion humanoider Roboter Berücksichtigung finden und sich in konkreten Gestaltungsvorschlägen niederschlagen (vgl. auch Habscheid et al. 2018). Bei näherer Betrachtung erscheint auf beiden Ebenen vor allem eine differenzierte Attribution von Rollen bzw. Funktionen für den Roboter – in Relation zu den jeweiligen Stakeholdern – als eine zentrale Herausforderung: So stellt z.B. der Roboter für das Personal im Idealfall ein Assistenzsystem dar, das vom Menschen flexibel konfiguriert und jederzeit kontrolliert werden kann, für (manche) Bewohner dagegen einen quasi-autonomen Interaktionspartner, der im Zusammenspiel mit menschlichen Gruppen elementare emotionale Bedürfnisse befriedigen hilft (vgl. Habscheid et al. 2018). Solche verschiedenen, vielleicht sogar widersprüchlichen Perspektiven können durchaus nebeneinander bestehen bleiben, denn der Dialog, wie ihn das Modell der Stakeholderkommunikation konzipiert, »strebt […] keinen Konsens an« (Menz und Stahl 2008: 71): Eine Konvergenz der Meinungen ist nicht das erste Ziel […]. Unter den Bedingungen des Interessenpluralismus wird die Auseinandersetzung in Form des Dialogs geradezu herausgefordert. Mit ihm sollen die Beteiligten ermutigt werden, bestehende Perspektiven zu erweitern und neue einzunehmen.
Eine angewandt-linguistisch fundierte Reflexion der sprachlichen Konstitution von Perspektiven kann einen partizipativen Design-Prozess in dieser Hinsicht fruchtbar erweitern.
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Anhang Transkriptionskonventionen für multimodale Transkripte (Mondada 2014) * * + + ∆ ∆ *---> ---->* ric fig #
Gestures and descriptions of embodied actions are delimited between two identical symbols (one symbol per participant) and are synchronized with correspondent stretches of talk. The action described continues across subsequent lines until the same symbol is reached. Participant doing the embodied action is identified when (s)he is not the speaker. The exact moment at which a screen shot has been taken is indicated with a specific sign showing its position within turn at talk.
GAT 2 Transkriptionskonventionen (Selting et al. 2009) [ ] °hh / hh° (0.5)
Überlappungen und Simultansprechen Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer gemessene Pausen von ca. 0.5 bzw. 2.0 Sek. Dauer Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite vermuteter Wortlaut Dehnung, Längung, um ca. 0.8-1.0 Sek. Fokusakzent hoch steigende Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase tief fallende Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase
Bibliographie Florian Menz
1
Qualifikationsschriften
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2
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3 [7]
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190
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Aufsätze und Kapitel (Alleinautorschaft)
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Weitere Bände dieser Reihe Band 8: Larissa Semiramis Schedel
Band 5: Mi-Cha Flubacher
Sprache, politische Ökonomie und Legitimität
Integration durch Sprache – die Sprache der Integration
Vermarktung, Management und Inszenierung von Zweisprachigkeit in der Tourismusindustrie an der deutsch-französischen Sprachgrenze in der Schweiz 2018. 346 Seiten, gebunden € 45,– D / € 47,– A / Open Access ISBN 978-3-8471-0885-6
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Eine kritische Diskursanalyse zur Rolle der Sprache in der Schweizer und Basler Integrationspolitik 1998–2008 2014. 291 Seiten, gebunden € 50,– D / € 52,– A / € 39,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0203-8
Band 4: Birgit Huemer
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Der non-native discourse in Linguistik und Sprachphilosophie
2014. 315 Seiten, gebunden € 50,– D / € 52,– A ISBN 978-3-8471-0175-8
2018. 308 Seiten, gebunden € 45,– D / € 47,– A / € 37,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0865-8
Band 3: Niku Dorostkar
Band 6: Benedikt Lutz
Verständlichkeitsforschung transdisziplinär Plädoyer für eine anwenderfreundliche Wissensgesellschaft 2015. 406 Seiten, gebunden € 60,– D / € 62,– A / € 49,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0453-7
(Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus Die diskursive Konstruktion von Sprache im Kontext nationaler und supranationaler Sprachenpolitik am Beispiel Österreichs 2013. 417 Seiten, gebunden € 65,– D / € 67,– A / € 54,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0163-5
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